(D)
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015 11203
(A) (C)
(B)
Anlagen zum Stenografischen Bericht
(D)
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Amtsberg, Luise BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
02.07.2015
Baerbock, Annalena BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
02.07.2015
Becker, Dirk SPD 02.07.2015
Dr. Böhmer, Maria CDU/CSU 02.07.2015
Dröge, Katharina BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
02.07.2015
Fuchtel, Hans-Joachim CDU/CSU 02.07.2015
Groneberg, Gabriele SPD 02.07.2015
Hagedorn, Bettina SPD 02.07.2015
Hartmann (Wackernheim),
Michael
SPD 02.07.2015
Ilgen, Matthias SPD 02.07.2015
Karawanskij, Susanna DIE LINKE 02.07.2015
Kiziltepe, Cansel SPD 02.07.2015
Koenigs, Tom BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
02.07.2015
Mißfelder, Philipp CDU/CSU 02.07.2015
Neu, Dr. Alexander S. DIE LINKE 02.07.2015
Schlecht, Michael DIE LINKE 02.07.2015
Dr. Steinmeier, Frank-
Walter
SPD 02.07.2015
Wöhrl, Dagmar G. CDU/CSU 02.07.2015
Anlage 2
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung
der Selbsttötung (Tagesordnungspunkt 4)
Heike Brehmer (CDU/CSU): Gott ist der Schöpfer
allen Lebens – dieses Verständnis bildet die Grundlage
unseres christlichen Menschenbildes. Dieses Menschen-
bild ist die Basis für die Würde und Rechte eines jeden
Einzelnen, auch für das Recht auf Leben.
Durch den medizinischen Fortschritt und die demo-
grafische Entwicklung steigt die Lebenserwartung in un-
serer heutigen Gesellschaft stetig an. Das ist eine posi-
tive Entwicklung, mit der sich jedoch nicht nur die
Hoffnung auf ein langes Leben verbindet – auch die
Frage, wie wir mit dem Ende unseres Lebens umgehen,
gewinnt immer mehr an Bedeutung.
Im Plenum dieses Hohen Hauses befassen wir uns
deshalb mit dem wichtigen Thema der Sterbebegleitung.
Die Gruppenanträge, die wir heute in erster Lesung bera-
ten, befassen sich intensiv mit diesem hochemotionalen
Thema und spiegeln die Bandbreite der Diskussion in
unserer Gesellschaft wider.
Dabei geht es um Menschenwürde, Lebensschutz und
das Recht auf Selbstbestimmung. Dies wird im Grup-
penantrag meiner Kollegen Thomas Dörflinger und
Dr. Patrick Sensburg, den ich persönlich unterstütze, be-
sonders deutlich.
Laut einer Umfrage des Sozialwissenschaftlichen In-
stituts der Evangelischen Kirche in Deutschland sinkt
die Zahl derjenigen, die sich für die Möglichkeit eines
ärztlich assistierten Suizids aussprechen. Viele Men-
schen fürchten sich vor dem Gedanken, vor dem Sterben
den medizinischen Möglichkeiten der Lebenserhaltung
ausgeliefert zu sein. Der Gesetzentwurf, der am 19. Mai
2015 von Thomas Dörflinger und Dr. Patrick Sensburg
vorgestellt wurde, will mithilfe eines neuen § 217 Straf-
gesetzbuch die Beihilfe zur Selbsttötung verbieten.
Die Gefahr, dass jemand mit dem Leid und der Ver-
zweiflung von Menschen sein Geld verdient, ist mit der
Unantastbarkeit der Menschenwürde nicht vereinbar. In
Artikel 1 unseres Grundgesetzes ist festgehalten: „Die
Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und
zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“
Diese Schutzwürdigkeit gilt vom Anfang bis zum Ende
des Lebens. Sie gehört zu den Kernaufgaben unseres de-
mokratischen Gemeinwesens. Deshalb dürfen wir die
Möglichkeit, dass das Sterben eines Menschen mit ei-
nem Geschäft in Zusammenhang gebracht wird, nicht
zulassen.
Das Verbot der Beihilfe zur Selbsttötung hängt un-
trennbar mit dem Ausbau der Hospiz- und Palliativ-
versorgung zusammen. Die Palliativmedizin ist eine
vergleichsweise junge Wissenschaft. Die Beratungsan-
gebote in Deutschland sind vielen Menschen bisher noch
nicht ausreichend bekannt oder sehr unterschiedlich aus-
gebaut. In Zukunft wird es wichtig sein, in den einzelnen
Bundesländern die Beratungsangebote und notwendigen
Hilfestellungen für die Betroffenen und ihre Angehöri-
gen weiter auszubauen. Nur so können wir die Würde
des Menschen im Kreise seiner Familie bis zum Lebens-
ende schützen und bewahren.
Die Abwägung zwischen Werten wie Freiheit, Würde
und Selbstbestimmung bewegt sich häufig auf einem
Anlagen
11204 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015
(A) (C)
(D)(B)
schmalen Grat zwischen Emotionen und Rechtspre-
chung. Der Gruppenantrag von Thomas Dörflinger und
Dr. Patrick Sensburg behandelt das Thema Sterbehilfe
mit der notwendigen Verantwortung vor Gott und den
Menschen und schafft eine wichtige Klarheit im Straf-
recht.
Jeder Mensch hat das Recht auf ein menschenwürdi-
ges Leben und ein ebenso menschenwürdiges Lebens-
ende. Wenn wir diesen Grundsatz beherzigen, werden
wir den Menschen in unserem Land gemeinsam mit
Hospizen, Familie und medizinischem Fachpersonal ein
Lebensende in Würde und Geborgenheit bieten können.
Ansgar Heveling (CDU/CSU): Weniger als zwei
Monate vor seinem eigenen Tod schrieb Franz Kardinal
König, der beliebte Alterzbischof von Wien sowie sei-
nerzeit wesentlicher Denker und Lenker des Zweiten Va-
tikanischen Konzils, im Januar 2004 in einem Brief an
den österreichischen Verfassungskonvent zu Fragen der
Sterbehilfe: „Menschen sollen an der Hand eines ande-
ren Menschen sterben und nicht durch die Hand eines
anderen Menschen.“ Damit hat Kardinal König jenseits
aller juristischen Kategorien sehr griffig und unmissver-
ständlich auf den Punkt gebracht, wo die ethische Grenz-
linie im Umgang mit dem Sterben für die Gesellschaft
liegt.
Die Unantastbarkeit der Würde des Menschen ist ein
fundamentales Gebot auch im säkularen Verfassungs-
staat. Sie zu achten und zu schützen, ist Aufgabe aller
staatlichen Gewalt. Dessen sollten wir uns sehr deutlich
bewusst sein. Es mögen unabhängige Begründungswur-
zeln sein – dennoch: In diesem Verständnis sind sich das
christliche und das humanistische Menschenbild im Üb-
rigen einig. Bei beiden steht der einzelne Mensch im
Mittelpunkt; seine Würde ist es, um die es geht.
Natürlich hat der autonome Wunsch des Einzelnen,
über sein Leben zu entscheiden, Respekt verdient. Auf
die Gesellschaft als Ganzes bezogen ist es indessen ein
Indiz des gesellschaftlichen Versagens: Wie ist es um die
Würde des Menschen im Sterben bestellt, wenn bei dem
Einzelnen der Wunsch entsteht, seinem Leben ein Ende
zu setzen?
Kardinal König spricht in diesem Zusammenhang
von einer „Kultur des Lebens“, um die es gehe und zu
der auch eine „Kultur des Sterbens“ gehöre. Dabei for-
muliert er so: „Das Leben des Menschen ist mehr als
eine beliebige biologische Tatsache unter anderen.“
Auch dessen sollten wir uns als Richtschnur bewusst
sein.
Das Strafrecht kann dabei zwangsläufig nicht das
erste Mittel sein, ethischen Aufträgen an die Gesell-
schaft gerecht zu werden. Behutsamkeit, Verständnis für
die körperlichen und psychischen Veränderungen, die
etwa das Alter mit sich bringt, Sensibilität – alles das
kann nicht der Staatsanwalt bescheren. Aber das Straf-
recht ist dann gefordert, wenn es darum geht, den beson-
deren Schutz der Würde des Menschen durchzusetzen.
Gegen Entwicklungen, die dem zuwiderlaufen.
Nach einer intensiven Orientierungsdebatte im No-
vember des vergangenen Jahres und dem Zusammenfin-
den verschiedener Gruppen beraten wir heute in erster
Lesung vier unterschiedliche Gesetzentwürfe, die sich
mit dem Umgang mit der Suizidbeihilfe und dem „assis-
tierten Suizid“ befassen.
Ich unterstütze den mit Michael Brand, Kerstin
Griese, Kathrin Vogler, Dr. Harald Terpe, Michael
Frieser, Dr. Eva Högl, Halina Wawzyniak, Elisabeth
Scharfenberg und Dr. Claudia Lücking-Michel gemein-
sam eingebrachten Gesetzentwurf, der vorsieht, die ge-
schäftsmäßige Suizidbeihilfe – und nur diese – in einem
§ 217 StGB strafbewehrt zu verbieten. Ich halte diesen
Ansatz für richtig und die begrenzte strafrechtliche Er-
fassung der geschäftsmäßigen Suizidbeihilfe für einen
behutsamen und zurückhaltenden Weg, um mit dem Mit-
tel des Strafrechts auf Fehlentwicklungen zu reagieren.
So griffig die eingangs zitierte Formel von Kardinal
König auch zunächst einmal ist – macht sie doch deut-
lich, dass es eine strenge Grenzlinie zwischen Tötung
auf Verlangen und Hilfe beim Sterben gibt –, so unscharf
ist sie, wenn es um die Selbsttötung geht.
Der historische Gesetzgeber des Strafgesetzbuches im
19. Jahrhundert hat sich bewusst – und im Übrigen vor
der Geltung eines Grundrechtskataloges – entschieden,
den Suizid, den versuchten Suizid und dementsprechend
auch Anstiftung und Beihilfe zum Suizid nicht unter
Strafe zu stellen. Diese Wertentscheidung des Gesetzge-
bers hat nun über 100 Jahre Bestand und wird in der Ge-
sellschaft anerkannt.
Über eine lange Zeit hat es auch nur wenig Probleme
bei der Handhabung gegeben. Lange Zeit bestand hierzu
auch kaum ein Anlass. Die Frage nach strafrechtlicher
Verantwortung stellte sich im Wesentlichen in Einzelfäl-
len mit besonderen Konstellationen, die allesamt Aus-
druck innerer Konflikte im zwischenmenschlichen Nah-
bereich sind.
Davon haben wir uns indessen mittlerweile weit ent-
fernt. Aus dem individuellen Konflikt ist durch das Auf-
treten von Sterbehilfevereinen die Diskussion um ein
Dienstleistungsangebot geworden. Es geht um All-inclu-
sive-Pakete in den Tod. Das ist eine Entwicklung, der
wir nicht tatenlos zusehen dürfen.
Wie der Gesetzentwurf festhält, nehmen auch in
Deutschland die Fälle zu, in denen Personen auftreten,
deren Anliegen es ist, einer Vielzahl von Menschen in
Form einer Dienstleistung eine schnelle und effiziente
Möglichkeit für einen Suizid anzubieten. Dies geschieht
beispielsweise durch das Verschaffen eines tödlich wir-
kenden Mittels und das Anbieten einer Räumlichkeit, in
der das Gift durch die suizidwillige Person eingenom-
men werden kann.
Zu denken ist aber auch an Fälle, in denen von
Deutschland aus die Gelegenheit vermittelt wird, im
Ausland die für eine Selbsttötung notwendigen Mittel
und Räumlichkeiten zu erhalten. Im Vordergrund solcher
Handlungen steht dabei nicht ein Beratungsangebot mit
primär lebensbejahenden Perspektiven, sondern die ra-
sche und sichere Abwicklung des Selbsttötungsent-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015 11205
(A) (C)
(D)(B)
schlusses. Diese Entwicklung lässt befürchten, dass die
Hilfe zum Suizid als eine normale Dienstleistung ange-
sehen wird und sich Menschen zur Selbsttötung verleiten
lassen, die dies ohne ein solches Angebot nicht tun wür-
den.
Der Gesetzentwurf, der sich für die Einführung der
Strafbarkeit der Förderung der geschäftsmäßigen Suizid-
beihilfe einsetzt, wird einerseits dem Respekt vor der in
der Vergangenheit nie bestrittenen Grundentscheidung
des historischen Gesetzgebers gerecht, der sich gegen
eine Strafbarkeit des Suizids und der Teilnahme daran
entschieden hatte, und greift andererseits korrigierend
ein, um neuen Entwicklungen entgegenzutreten. Damit
wird eine behutsame strafrechtliche Korrektur vorge-
nommen. Die Grundentscheidung zur Straflosigkeit des
Suizids und der Teilnahme daran wird nicht angetastet.
Vielmehr wird durch das Abstellen auf die Geschäftsmä-
ßigkeit als eigenständigem Tatbestand deutlich gemacht,
dass es um die strafrechtliche Bewertung eines eigenen
Unwerts geht. In der Geschäftsmäßigkeit der Suizidhilfe
liegt der eigenständige Grund für die Strafbarkeit.
Ich halte diesen Weg für richtig, auch wenn daraus ein
rechtssystematisches Problem erwächst, das der Gesetz-
entwurf mit einer Abwägungsentscheidung löst. Die Ge-
schäftsmäßigkeit ist ein sogenanntes persönliches Merk-
mal im Sinne von § 28 Absatz 1 StGB. Nach dieser
Vorschrift verhält es sich aber so, dass ein Teilnehmer
– also jemand, der an der geschäftsmäßigen Beihilfe
zum Suizid in irgendeiner Form teilnimmt – selbst nicht
das Merkmal der Geschäftsmäßigkeit erfüllen muss, um
unter die Strafbarkeit des § 217 neu StGB zu fallen – als
Teilnehmer. Dies kann insbesondere für Angehörige und
nahe stehende Personen relevant werden.
Hier haben wir abgewogen und sind zu dem Schluss
gekommen, dass das Näheverhältnis Vorrang vor straf-
rechtlichen Untersuchungen haben sollte. Daher ist für
Angehörige und nahestehende Personen ein persönlicher
Strafausschließungsgrund in § 217 Absatz 2 StGB nor-
miert. Angehörige und nahestehende Personen werden
mithin von § 217 StGB nicht erfasst.
Auch wir als Parlament haben einen klaren Verfas-
sungsauftrag. Es ist auch unsere Aufgabe, die Würde des
Menschen zu schützen. Diesem umfassenden Schutzauf-
trag müssen wir sorgfältig gerecht werden. Gerade die
Regelung von Lebenssachverhalten, die sich mit dem
Beginn und dem Ende des Lebens befassen, bedarf dabei
einer besonderen Sensibilität. Das sind die Punkte, an
denen, um nochmals Kardinal König zu zitieren, „das
Leben in besonderer Weise gefährdet, ja ‚zerbrechlich‘
ist, wo die Gefahr droht, dass der Mensch ganz über den
Menschen verfügt“. Dort liegt unser besonderer Schutz-
auftrag. Dort geht es nicht mehr um den Vorrang der in-
dividuellen Selbstbestimmung, sondern um das ethische
Fundament einer ganzen Gesellschaft.
Folgen wir der Maxime „Menschen sollen an der
Hand eines anderen Menschen sterben und nicht durch
die Hand eines anderen Menschen“. Übersetzen wir
diese klare menschliche Grundregel in das juristisch
Mögliche!
Michaela Noll (CDU/CSU): Heute kommen wir er-
neut zusammen, um darüber zu sprechen, wie wir das
Thema Sterbebegleitung gesetzlich regeln wollen. Nach
einer sehr bedachten Debatte im November des letzten
Jahres und sehr intensiven Gesprächen sowohl hier im
parlamentarischen Raum als auch bei Veranstaltungen in
meinem Wahlkreis habe ich mich dazu entschieden, den
Gruppenantrag „Entwurf eines Gesetzes zur Strafbarkeit
der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung“ des
Kollegen Michael Brand zu unterstützen.
Aus meiner heutigen Sicht ist dieses Gesetzesvorha-
ben der richtige Weg und zusammen mit den Vorhaben
unseres Bundesgesundheitsministers, Hermann Gröhe,
die Hospiz- und Palliativversorgung zu verbessern, ein
wichtiger Schritt, um bestmögliche Voraussetzungen für
eine menschenwürdige Sterbebegleitung zu schaffen.
Dies ist jedoch meine sehr persönliche Sicht, und mir ist
bewusst, dass man sich als gesunder Menschen nur
schwer in den Gefühlszustand eines Sterbenskranken hi-
neinversetzen kann.
In den vergangenen Monaten habe ich mich mit vielen
Ärzten, Mitarbeitern von Hospizeinrichtungen, Angehö-
rigen schwerkranker Menschen und Theologen unterhal-
ten. Ich habe Veranstaltungen organisiert, um verunsi-
cherten Bürgern die Möglichkeit zu geben, Fragen zu
stellen und Sorgen zu erläutern. Die eine Veranstaltung
trug den Titel „Lebenshilfe statt Sterbehilfe“ und die an-
dere „Erfülltes Leben – in Würde sterben“. Beide Titel re-
gen sehr zum Nachdenken an und sind auch meine An-
satzpunkte in dieser Debatte.
Sehr deutlich wurde in all diesen Gesprächen, dass
das Thema Sterben ein Tabuthema ist und es erschre-
ckend viele Menschen gibt, die Angst haben, eines Tages
schwerstkrank und einsam sterben zu müssen. Deshalb
möchte ich den Schwerpunkt dieser Debatte nicht allein
auf ein Für oder Wider hinsichtlich der ärztlichen Sui-
zidassistenz legen. Ich bin der Meinung, dass die Angst
vor dem sozialen Tod, der Einsamkeit am Lebensende,
eine besonders große Aufgabe für unsere Gesellschaft
ist. Hier geht es darum, alle Ressourcen zu mobilisieren,
damit die Würde des Menschen geschützt ist. Hier darf
niemand wegschauen, und wir sind alle gefragt, schwä-
cheren und älteren Menschen zu helfen.
Ein weiterer wichtiger Punkt in meinen Gesprächen
war die große Angst davor, dass ein organisiertes Ange-
bot ärztlicher Hilfe beim Suizid ältere und schwächere
Menschen in den Tod drängen könnte.
Dazu möchte ich heute sagen: Es darf nicht sein, dass
wir als Gesetzgeber Türen öffnen, durch die verzweifelte
oder schwerkranke Menschen hindurchgehen oder sogar
gedrängt werden. Ein Angebot organisierter Suizidassis-
tenz könnte Entscheidungen hin zum Suizid fördern. Bei
Fachgesprächen auch hier im Bundestag haben wir aber
erfahren, dass ein Wunsch nach Suizid durch psycho-
logische, medizinische und letztendlich einfühlsame
menschliche Hilfe sich wieder in einen Wunsch, zu le-
ben, ändern kann. Viele Menschen, die die Absicht ha-
ben, sich selbst zu töten, leiden Studien zufolge an De-
pressionen. Wenn ein Mensch erfährt, welche konkrete
Hilfe er bekommen kann, und sich ernst genommen fühlt
11206 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015
(A) (C)
(D)(B)
in seiner Not und Angst, sind die Aussichten gut, dass er
vom Wunsch, zu sterben, Abstand nimmt.
Wenn wir nun diese sehr persönlichen Lebenssituatio-
nen und die rechtliche Lage in Deutschland verknüpfen,
können wir Folgendes festhalten: Regelungsbedarf er-
gibt sich bei der organisierten Beihilfe zum Suizid. Es
darf keine Sterbehilfevereine und andere organisierte
Formen der Förderung der Selbsttötung geben.
Ich wünsche mir für unsere Gesellschaft ein mensch-
liches Begleiten der Sterbenden statt ein aktives Been-
den des Lebens. Deshalb sage ich auch, dass es keine ge-
setzlichen Sonderregelungen für Ärzte geben soll. Ich
denke, hier sollten wir auf die ethischen Grundsätze ärzt-
licher Sterbebegleitung vertrauen. Hier geht es darum,
Leiden zu lindern und Sterbenden bis zum Tod auch mit
den Möglichkeiten der Palliativmedizin beizustehen.
Eine Sonderregelung für Ärzte birgt für mich die Gefahr,
dass ärztlich assistierter Suizid als eine „Behandlungsop-
tion“ gesehen werden könnte. Wenn wir hier ansetzen
würden, wäre es bis zum Töten auf Verlangen nicht mehr
weit. Eine Sonderreglung für Ärzte wäre somit eine Öff-
nungsklausel, die wir dann nicht mehr schließen könn-
ten.
Die Ärzte, mit denen ich in Fachgesprächen hier in
Berlin und auch bei mir im Wahlkreis gesprochen habe,
sehen es als ihren Grundsatz, dass jeder Mensch das
Recht hat, an einer helfenden Hand statt durch eine Hand
zu sterben. Auch sie sprechen sich alle für eine weitrei-
chende Verbesserung der Palliativ- und Hospizversor-
gung aus.
Als Schirmherrin des Franziskus-Hospizes Hochdahl
in meinem Wahlkreis begleite ich diese wichtige und
wertvolle Arbeit schon sehr lange. Ich möchte mich
ausdrücklich dafür aussprechen, dass wir einen massiven
und raschen Ausbau der palliativmedizinischen und -pfle-
gerischen Begleitung von Schwerstkranken und Sterben-
den vorantreiben. Besonders wichtig erscheint es mir,
dass wir neben den sterbenskranken Menschen auch An-
gehörigen, Freunden und Pflegenden mehr Unterstüt-
zung zukommen lassen.
Niemand soll schwerstkrank, verzweifelt und alleine
sterben müssen. Ich hoffe sehr, dass wir durch das Ge-
setz, das unser Bundesgesundheitsminister auf den Weg
gebracht hat, die professionelle palliative und psychoso-
ziale Begleitung sterbender Menschen schnellstmöglich
flächendeckend ausbauen können.
Ich wünsche mir, dass wir mit unserem Antrag und
dem Ausbau der Hospiz- und Palliativversorgung die
Möglichkeiten für eine humane Sterbebegleitung aufzei-
gen können und so letztlich die Kultur der Lebensbeja-
hung fördern.
Johannes Selle (CDU/CSU): Wir kommen mit dem
Gesetzesvorhaben, bei dem die letzte Lebensphase in
den Mittelpunkt gestellt wird, an eine ethische Grenze.
Wir tangieren ganz elementare Überzeugungen der ein-
zelnen Kollegen. Die unausgesprochene Frage „Bin ich
nach dem Tod noch verantwortlich?“ schwingt mit.
Deshalb verlaufen die Textvorschläge ja auch nicht
entlang von Parteilinien.
Als ein zentraler Begriff erweist sich in der Debatte
die Selbstbestimmung über das eigene Leben. Das ist
ziemlich einsichtig und heißt für mich, jeder sollte nur
für sich selbst verantwortlich sein. Ich habe erlebt, wie
Menschen kein Wasser und keine Nahrung mehr annah-
men, als für sie die Zeit erfüllt war.
Für mich bedeutet das ebenfalls, dass ich nicht per
Gesetz Handlungen, hier die aktive Hilfe zum Tod, als
verantwortlich und unbedenklich bezeichnen möchte,
die möglicherweise zu verantworten sind. Wir kommen
durch die moderne Medizin in diese Grenzbereiche, aber
wir können durch die moderne Medizin auch sicherstel-
len, dass Schmerzen verhindert werden können. Mir ge-
fällt die Aussage, dass unsere mitmenschliche Verpflich-
tung darin besteht, beim Sterben zur Seite zu stehen und
nicht zum Sterben zu verhelfen.
Bei meinen Besuchen im Hospiz und an Sterbebetten
erlebte ich, wie dankbar Nähe angenommen wird und
wie schwierig eine zusammenhängende Kommunikation
werden kann. Den Hinweis auf die und die Diskussion
der Möglichkeit des assistierten Suizids kann ich mir in
diesen Situationen nicht vorstellen und empfinde ich als
unwürdig.
Bei der Zulassung der Beihilfe zum Tod befürchte ich
auch ein Aufweichen des Unrechtsbewusstseins und ein
schleichendes Ausweiten auf Fälle, die heute wie selbst-
verständlich ausgeschlossen werden. Das ist unsere viel-
fache menschliche Erfahrung.
Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): Zur ersten Lesung
der Gruppenanträge zur Sterbebegleitung möchte ich ei-
nige kurze Gedanken skizzieren, die mir für die anste-
henden Beratungen wichtig erscheinen.
Sterbebegleitung, so der Titel der Debatte, bedeutet
Begleitung eines Menschen am Ende seines Lebens.
Auch wenn Sterben das Leben beendet, so steht der Ster-
beprozess im Leben und ist Teil des Lebens. Wir haben
daher eine Entscheidung in Bezug auf uns selbst und un-
sere Vorstellung vom Leben zu treffen. Nicht der Tod
darf für die Debatte bestimmend sein, sondern die Mo-
mente des Lebens in seinen letzten Augenblicken.
Zugrunde liegt die Frage: Gibt es rechtliche und ethi-
sche Konstanten, die zu allen Phasen des Lebens in sei-
nen unterschiedlichen Aspekten gleichermaßen gelten?
Die Antwort darauf kann nur lauten, dass es diese
Konstante gibt. Es ist die Idee von der unteilbaren
Würde des Menschen, aus der sich die aufgeworfene
Frage von selbst beantwortet.
Der Text unseres Grundgesetzes beginnt mit zwei
grundlegenden Wertentscheidungen: einmal in der Prä-
ambel. Diese setzt unsere Verfassung in einen verant-
wortlichen Bezugsrahmen zu Gott und den Menschen.
Die andere Wertentscheidung findet sich in Artikel 1:
„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten
und zu schützen ist Auftrag aller staatlichen Gewalt.“
Dieser Anspruch ist absolut. Nicht in einem religiös zu
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015 11207
(A) (C)
(D)(B)
verstehendem Sinne, sondern vielmehr als eine bewusste
Orientierung des Verfassungsgebers an Werten, die eine
freiheitliche und ethische Ordnung erst gewährleisten,
ohne sie aus sich selbst heraus begründen zu können.
Der absolute Wert des menschlichen Lebens und un-
sere Menschlichkeit werden zu einem immerwährenden
und nicht abdingbaren Dogma erhoben, weil wir sonst
nicht leben könnten. Der Mensch kann die Begründung
für das Menschsein nicht schaffen oder gar definieren.
Sie ist einfach gegeben. Weil wir Menschen sind.
Daraus erwächst für die staatliche Ordnung die
Pflicht, Leben zu schützen. Das gilt aber gleichermaßen
für den Einzelnen. Die staatliche Ordnung lebt durch das
Handeln der Menschen. Sie ist davon nicht getrennt,
sondern ergibt sich erst daraus. Leben mit ethischen und
solidarischen Regeln ist das Band, das die Menschen zu-
sammenhält. Deswegen trennt dieses Band, wer das Le-
ben eines anderen beendet oder dies gezielt fördert. Er
stellt sich somit außerhalb des notwendigen und akzepta-
blen Grundkonsenses. Der Philosoph Robert Spaemann
spricht daher zu Recht von einer „ungeheuerlichen Zu-
mutung“, wenn von Menschen verlangt würde, an der
Beendigung des Lebens behilflich zu sein. Es würde sich
am Ende gegen die Leidenden und somit auch gegen uns
selbst richten.
Andererseits muss die Frage erlaubt sein, welches
Leid und welche Linderung wir den Menschen zumuten
dürfen oder gestatten müssen. Von der Erduldung von
Leid zu sprechen, fällt leichter, wenn man davon nicht
betroffen ist. Es ändert aber nichts an der Realität des
Schmerzes. Daher gibt es die Situationen, in denen Le-
ben nicht mehr ertragbar erscheint. Darauf muss eine
Antwort geben, wer Leben schützen und bewahren
möchte. Dies ist die Stunde für richtige und mitfühlende
Palliativ- und Hospizmedizin.
Die Antwort auf Aspekte des Leids darf nicht in der
aktiven Hilfe zum Sterben liegen. Erst recht nicht, wenn
diese Hilfe zum Sterben als Teil des Lebens kommerzia-
lisiert oder regelmäßig wäre. Dies würde eine ethische
Entwicklung aufzeigen, die entgrenzt und kaum zu be-
herrschen wäre. Wird ein Aspekt des Lebens zur Dispo-
sition gestellt und ihm daher weniger Würde zugeschrie-
ben, dann ist es nicht völlig fernliegend, dass auch
Menschen in anderen Lebenslagen infrage gestellt oder
gar unter Gesichtspunkten der Nützlichkeit betrachtet
werden.
Diesen Weg wollen und dürfen wir niemals beschrei-
ten. Nicht allein aus historischen Gründen oder wegen
der konzeptionellen Idee der Würde des Menschen, son-
dern auch aus einem einfachen und einleuchtenden
Grund: wegen uns selbst.
Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Die Dis-
kussion über das Thema „Sterbebegleitung“ in unserer
Gesellschaft und bei uns im Bundestag ist von großem
Ernst und hohem Verantwortungsbewusstsein geprägt.
Begonnen haben wir die Beratungen im Parlament
bereits im vergangenen Jahr mit einer sogenannten
Orientierungsdebatte. Ich hoffe, dass wir zusammen auf
einem guten Weg sind, dieses Thema in einem großen
parlamentarischen und gesellschaftlichen Konsens zu
entscheiden. Sowohl hier im Deutschen Bundestag als
auch in zahlreichen öffentlichen Veranstaltungen und
Diskussionen ist zu spüren, dass der Respekt vor der an-
deren Meinung prägend für diese Diskussion ist.
Es ist gut, dass wir in dieser Frage einzig und allein
unserem Gewissen folgen. Die fraktionsübergreifenden
Anträge, die uns heute vorliegen, sind bereits jetzt Aus-
druck einer lebendigen Debattenkultur.
Was mir Sorge bereitet, ist, dass in den vergangenen
Jahren die Aktivität von Vereinen und Einzelpersonen
zugenommen hat, die Sterbewilligen Hilfsdienste beim
Suizid anbieten. Tödliche Substanzen werden besorgt,
Hinweise zur Einnahme gegeben, und gelegentlich sind
sogenannte Helfer sogar bei der Selbsttötung zugegen.
Einige von ihnen betrachten diese Tat als reine Dienst-
leistung, für die eine Rechnung ausgestellt wird. Andere
wiederum legen Wert darauf, lediglich ehrenamtlich zu
handeln. Bisher ist es in Deutschland nicht eindeutig ge-
regelt gewesen, ob sie mit ihrem Handeln gegen gelten-
des Recht verstoßen haben oder auch nicht. Das Ziel ei-
ner gesetzlichen Regelung zur Sterbebegleitung muss
daher sein, einen Rechtsrahmen zu setzen, der in Zu-
kunft für Klarheit sorgt.
Die Begleitung Sterbender stellt grundsätzliche Fra-
gen an jeden von uns selbst. Jeder geht daher mit seinem
ganz eigenen Blickwinkel in diese Debatte über die Ster-
bebegleitung hinein. Orientierungspunkte können der
Glaube und die eigenen religiösen Überzeugungen sein,
auch persönliche Erfahrungen, Erlebnisse und Schick-
sale. Für Christen, aber auch für Angehörige anderer Re-
ligionsgemeinschaften ist das Leben zuallererst ein Ge-
schenk Gottes.
Der Tod ist eine oft verdrängte Tatsache im Leben.
Viele sind unsicher, wie sie mit der Situation des Ster-
bens umgehen sollen. Der Abschied von einem geliebten
Menschen ist oftmals gerade auch für die Angehörigen
und für Freunde eine starke emotionale Belastung. Rein
rational betrachtet wissen wir, dass die Geburt, das Le-
ben und der Tod untrennbar zu unserem Wesen als Men-
schen gehören. Schließlich ist uns die Endlichkeit unse-
res eigenen irdischen Daseins mit unserer Geburt
vorherbestimmt.
Während wir jedoch die Geburt und auch das Leben
insgesamt als Geschenk und Glück empfinden, ist unsere
letzte Lebensphase oftmals geprägt durch das Gefühl
von Unsicherheit und Einsamkeit, von Leid und
Schmerz, von Belastung und Hilfsbedürftigkeit. In man-
chen Menschen erwächst vor dem Hintergrund der Er-
wartungen an einen möglicherweise leidvollen Sterbe-
prozess der Wunsch, den Zeitpunkt des eigenen Todes
selbst bestimmen zu können. Die Würde des Menschen
drücke sich auch in der Selbstbestimmung des Zeitpunk-
tes des Todes aus, so eine häufig vorgebrachte Argumen-
tation.
Ich persönlich kann diese Argumentation nicht teilen.
Ich bin der Auffassung, dass sich die Würde des Men-
schen im gesellschaftlichen Umgang mit Schwerkran-
11208 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015
(A) (C)
(D)(B)
ken, Alten und Schwachen und in ihrer Sterbebegleitung
widerspiegelt. Mein Standpunkt ist, dass jedes Leben
von Gott gewollt ist und wir das Leben tatsächlich als
Gabe, für die wir Verantwortung tragen, verstehen soll-
ten. Es ist deshalb unsere Aufgabe, jedes Leben als Teil
unserer Gesellschaft zu betrachten und jeden Menschen
mit seinen Begabungen, Fähigkeiten und Schwächen in
unsere Gesellschaft zu integrieren.
Die Evangelische Kirche in Deutschland, EKD, hat
über das Forschungsinstitut Emnid eine bundesweite
Studie zum Thema Sterbehilfe in Auftrag gegeben.
61 Prozent der Befragten glauben demnach, dass bei ei-
ner Legalisierung der ärztlichen Hilfe zum Freitod Men-
schen vermehrt um todbringende Medikamente bitten
würden – um Belastungen der Familie zu vermeiden.
Das menschliche Leben darf sich jedoch nicht nach
seiner Leistung und Nützlichkeit für die Gesellschaft er-
messen. Eine Gesellschaft, die nur auf Aktivität und
Leistung setzt, wird unmenschlich. Deshalb ist es Auf-
gabe einer humanen Gesellschaft, den Menschen die
Ängste, Sorgen und Nöte beim Sterben zu nehmen und
für sie auch in den schwersten Stunden da zu sein. Es ist
als Gesellschaft unsere Aufgabe, den Menschen beizu-
stehen und ihnen Trost zu spenden. Es ist unsere gemein-
same Aufgabe, die Menschen in der letzten Phase ihres
Lebens zu begleiten, ihre Schmerzen zu lindern und ih-
nen das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit zu ge-
ben.
Als Gesellschaft sollten wir daher lieber darüber
nachdenken, wie Menschen würdevoll auf ihrem letzten
Weg begleitet werden können, statt ihnen einen schnel-
len und selbst herbeigeführten Tod am Lebensende zu
ermöglichen. Schwerkranken und alten Menschen darf
nicht das Gefühl gegeben werden, eine Last zu sein.
Ich lehne daher jede Form der kommerziellen oder ei-
ner auf Wiederholung angelegten Sterbehilfe ab. Sterbe-
hilfe soll kein Geschäft wie jedes andere auch sein. Ich
bin gegen eine Dienstleistungsbranche „Tod“ aus den
Gelben Seiten. Ich möchte nicht, dass wir in Deutsch-
land in eine Spirale geraten, in der Menschen – insbe-
sondere alte Menschen – das Gefühl bekommen, eine
Belastung für ihre Angehörigen und die Gesellschaft zu
sein, und sich aus diesem Gedanken heraus zu einem
schnellen und aktiv herbeigeführten Tod entschließen.
Ebenso ist eine zweite Sache wichtig. Wir sollten das
Arzt-Patienten-Verhältnis – ein ganz besonderes Vertrau-
ensverhältnis – nicht verändern. Wenn ein Patient leidet,
ist es Aufgabe des Arztes, ihm die Schmerzen zu neh-
men und nicht das Leben. Suizidbeihilfe ist im Regelfall
keine ärztliche Aufgabe. Trotz aller Fortschritte in der
Palliativmedizin und bester Versorgung wird es dennoch
immer Menschen geben, deren letzte Lebensphase nicht
ohne Leid verläuft. Diese Fälle machen gerade auch
Ärzte betroffen und manchmal auch ratlos. Dennoch
müssen wir uns davor hüten, Einzelfälle zum Maßstab
allgemeiner Regelungen zu machen.
Ich halte es für ein zentrales Anliegen, dass wir eine
gute und humane Kultur des Sterbens entwickeln, die
nicht von Angst geleitet ist, sondern in der Liebe und
Barmherzigkeit Raum gewinnt. Daher brauchen wir zum
einen eine qualitativ hochwertige und von menschlicher
Hingabe geprägte Pflege. Zum anderen brauchen wir
eine Hospiz- und Palliativversorgung, die auch in der al-
lerletzten Lebensphase der Menschen die Würde des
Einzelnen bewahrt. Eine Hospiz- und Palliativversor-
gung, die Schmerzen und nicht das Leben nimmt, die
Menschen in den letzten Stunden ihres Lebens nicht al-
leinlässt, sondern Begleitung ermöglicht.
Deshalb werbe ich dafür, dem Gesetzentwurf zur
Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbst-
tötung, der von 210 Abgeordnetenkolleginnen und -kol-
legen eingebracht wurde, zuzustimmen.
Dagmar G. Wöhrl (CDU/CSU): Bei der Debatte über
das Thema Sterbehilfe gibt es kein Richtig oder Falsch.
Es gibt keinen Anspruch auf absolute Wahrheit. Das
Wertvollste an der Diskussion heute aber ist, dass sie
stattfindet. Dass wir über elementare Fragen zwischen
Leben und Tod sprechen. Dass wir Parameter abstecken,
zwischen juristischen, medizinischen, philosophischen,
theologischen, ethischen Fragen. Ruhig, sachlich, nach-
denklich, aber nicht ideologisch oder gar parteipolitisch.
Unser Grundgesetz gibt es vor: Die Würde des Men-
schen ist unantastbar. Daraus leiten wir ab, dass wir ein
selbstbestimmtes Leben führen können müssen. Daraus
muss sich aber auch ableiten lassen, dass man selbstbe-
stimmt sterben darf.
Dies jedoch nicht um jeden Preis. Wir dürfen keine
Ökonomisierung des Sterbens in Deutschland zulassen,
das heißt, ein an den Maßstäben der Wettbewerbsfähig-
keit und Gewinnmaximierung orientierter Markt für
Suizidbeihilfeleistungen darf nicht entstehen. Deshalb
lehne ich persönlich gewerbliche und organisierte Unter-
stützung zum Suizid ab. Eine Hilfestellung bei der
selbstvollzogenen Lebensbeendigung sollte nur auf der
Grundlage ärztlicher Fachkenntnis und in medizinischer
Begleitung erfolgen. Nicht sollte die Verantwortung al-
lein auf enge Angehörige übertragen werden.
Unsere Verantwortung gebietet es, alles in unserer
Macht Stehende zu tun, um kranken Menschen durch die
bestmögliche medizinische und menschliche Begleitung
ein Ja zum Leben zu ermöglichen.
Dazu gehören eine konsequente Inanspruchnahme
und Fortentwicklung palliativmedizinischer Möglichkei-
ten und ein Ausbau des Hospizwesens. Der medizinische
Fortschritt ermöglicht es, dass Menschen besser und län-
ger leben können. Dies ist ein großer zivilisatorischer
Fortschritt. Zugleich führt die medizinisch ermöglichte
Lebensverlängerung zu neuen Herausforderungen in der
Behandlung eines krankheitsbedingten Leidens in der
Sterbephase. In den Fällen, in denen auch die Palliativ-
medizin bei zum sicheren Tod führenden Erkrankungen
für den Patienten nicht infrage kommt, leiden schwerst-
kranke Menschen oftmals eine große Not. Das körperli-
che und psychische Leiden ihrer Patienten stellt auch für
die Ärzte eine äußerst belastende Situation dar.
Während die Hilfestellung zum Suizid gesetzlich
straflos ist, untersagen einige Ärztekammern in Deutsch-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015 11209
(A) (C)
(D)(B)
land jede Form der Hilfestellung zur selbstvollzogenen
Lebensbeendigung ihrer Patienten. Dies sowie eine in
Bezug auf Grenzfälle komplizierte Rechtslage führen
zur Rechtsunsicherheit bei Ärzten und Patienten. Men-
schen in auswegloser Lage werden hierdurch zusätzlich
belastet. Gerade auch durch die zahlreichen Grauberei-
che, die es im momentanen Regelungskonstrukt gibt.
Derzeit ist es so, dass die 17 Landesärztekammern in
Deutschland unterschiedlich in ihrem jeweiligen Stan-
desrecht regeln, ob Ärzte ihren Patienten bei der Selbst-
tötung assistieren dürfen. Es kann aber nicht sein, dass
wir in Deutschland 17 verschiedene Wege zum Sterben
haben. Und erst recht möchten wir einem möglichen
„Sterbetourismus innerhalb und außerhalb Deutsch-
lands“ vorbeugen.
Deshalb möchte ich an dieser Stelle auf die Bayeri-
sche Landesärztekammer verweisen. In der Berufsord-
nung für bayerische Ärzte steht, dass sie Sterbenden un-
ter Wahrung ihrer Würde und ihres Willens beizustehen
haben. Die Unterstützung von Sterbenden führt also
nicht zu einem möglichen Berufsverbot. Auf diese Ge-
wissensfreiheit, die bayerische Ärzte genießen, sollen
sich alle Ärzte in Deutschland berufen können.
Wir haben Regelungen für ein menschenwürdiges Le-
ben. Wir benötigen aber auch Normen für ein menschen-
würdiges Sterben. Eine solche Regelung, wie ich sie un-
ter anderem mit meinen Kollegen Peter Hintze,
Katherina Reiche, Dr. Carola Reimann, Professor
Dr. Karl Lauterbach und Burkhard Lischka vorgestellt
habe, sollte es volljährigen und einsichtsfähigen Men-
schen ermöglichen, die freiwillige Hilfe eines Arztes bei
der selbstvollzogenen Lebensbeendigung in Anspruch
zu nehmen, wenn feststeht, dass eine unheilbare Erkran-
kung unumkehrbar zum Tod führt, der Patient objektiv
schwer an einer organischen Krankheit leidet, eine um-
fassende Beratung des Patienten bezüglich anderer, ins-
besondere palliativer Behandlungsmöglichkeiten stattge-
funden hat und die ärztliche Diagnose von einem
anderen Arzt bestätigt wurde.
Bei unserem Entwurf steht also ein umfassendes und
lebensbejahendes Gespräch zwischen Patient und Arzt
im Mittelpunkt. Die Ermutigung zum Leben sowie eine
umfassende Aufklärung über die palliativmedizinischen
Möglichkeiten müssen dabei immer Vorrang haben. Al-
lein das sichere Wissen, im Falle einer aussichtslosen
Lebenssituation auf die Möglichkeit einer ärztlichen
Hilfe zur Beendigung ihres Lebens zurückgreifen zu
können, hilft schwer leidenden Menschen, von einer tat-
sächlichen Inanspruchnahme dieser Möglichkeit abzuse-
hen.
Aus Sterbehilfe wird somit Lebenshilfe.
Auch wenn wir hier über das Ende der menschlichen
Existenz sprechen, dürfen wir nie vergessen, dass das
Leben unser wertvollstes Geschenk ist.
Dr. Eva Högl (SPD): Unser Gruppenentwurf wurde
bereits umfänglich vorgestellt; das möchte ich in meinen
fünf Minuten Redezeit nicht alles wiederholen. Ich
möchte mich auf ein wichtiges Thema konzentrieren: die
Rolle der Ärztinnen und Ärzte und des ärztlichen Stan-
desrechts.
Wir werden mit unserem Entwurf kein Sonderrecht
für Ärztinnen und Ärzte schaffen, weder ein Sonderstraf-
recht noch einen Sondererlaubnistatbestand.
Das hat einen guten Grund: Wir wollen gerade nicht,
dass der ärztlich assistierte Suizid ein „normales Be-
handlungsangebot“ wird, ein Dienstleistungsangebot,
das man am Lebensende als eine von mehreren Optionen
wählen kann. Schon gar nicht soll diese Form der Sui-
zidbeihilfe eine medizinische Versorgungsleistung mit
quasi-staatlichem Gütesiegel werden.
Wir wollen durch gesetzliche Regelungen auch kei-
nen Rechtsanspruch konstruieren. Das Ende des Lebens
sollte unter Einbeziehung der Menschen aus dem Um-
feld des Sterbenden, der Ärzte/Ärztinnen und Pflegerin-
nen und Pfleger unter ethischen Gesichtspunkten indivi-
duell gestaltet werden.
Wir wollen nicht, dass alte oder kranke Menschen
sich direkt oder indirekt gedrängt fühlen, diesen – dann
gesetzlich aufgezeigten – Weg auch gehen zu müssen!
Was wir aber auch auf gar keinen Fall wollen, ist die
Einschränkung der ärztlichen Behandlungsfreiheit. Ärz-
tinnen und Ärzten muss erlaubt bleiben, in individuellen
Situationen individuelle Entscheidungen zu treffen.
Unser Entwurf ändert nichts an den bisher bestehen-
den ärztlichen Möglichkeiten. Die sogenannte passive
Sterbehilfe, also die Nichtaufnahme oder der Abbruch
einer lebenserhaltenden Behandlung im Einklang mit
dem Patientenwillen, wird weiterhin straflos möglich
sein. Gleiches gilt für die indirekte Sterbehilfe, also die
Gabe von schmerzstillenden Medikamenten unter In-
kaufnahme einer Lebensverkürzung. Ebenso werden die
palliativmedizinischen Möglichkeiten in keiner Weise
eingeschränkt.
Ärzte sollen eben nur keine geschäftsmäßige Suizid-
beihilfe leisten dürfen. Sie sollen die Suizidbeihilfe nicht
zum Mittelpunkt ihres Behandlungsangebots machen,
sie nicht wiederholt, in der Absicht, die Selbsttötung ei-
nes Patienten zu fördern, anbieten.
Ärzte sollen als Allererstes und vorrangig Helfer zum
Leben sein – nicht Helfer zum Sterben. Das sieht der
Großteil der Ärzteschaft übrigens genauso. Sie möchten
nicht beim Sterben helfen.
Nach einer aktuellen Umfrage des Instituts für Demo-
skopie Allensbach können sich nur 37 Prozent aller
Ärzte überhaupt vorstellen, die Beihilfe zum Suizid un-
ter bestimmten Bedingungen zu leisten. 61 Prozent hin-
gegen lehnen die Suizidbeihilfe strikt ab.
Bevor wir vorschnell nach Sterbehilfe als Mittel der
Wahl rufen, sollten wir uns fragen, warum die Menschen
einen Sterbewunsch äußern. Oft geschieht dies aus Ein-
samkeit, aus Angst vor dem Alleinsein, aus Angst davor,
anderen zur Last zu fallen.
Hierfür muss die Gesellschaft jedoch andere Lösun-
gen finden als den schnellen, ärztlich verordneten Tod.
11210 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015
(A) (C)
(D)(B)
Oft ist es aber auch die Angst vor Krankheit, vor
Schmerzen, vor unendlichem Leid. Diese Angst müssen
wir den Menschen nehmen. Mit den heute bestehenden
Möglichkeiten der Palliativmedizin können Schmerzen
gut behandelt werden.
In den wenigen Fällen, in denen trotzdem das Leid
und die Schmerzen zu groß sind, darf der Arzt nach un-
serem Gesetzentwurf auch weiterhin individuelle Ent-
scheidungen treffen. Da wollen wir nichts verbieten,
nichts einschränken, nicht bestimmen, in welchen Fällen
er helfen darf und in welchen nicht, wie beispielsweise
der Hintze/Lauterbach/Reimann-Entwurf es vorsieht.
Ein großes Problem bereitet an dieser Stelle zugege-
benermaßen das ärztliche Standesrecht. Seit 2011 die
Musterberufsordnung dahin gehend geändert wurde,
dass Ärzte „keine Beihilfe zum Suizid mehr leisten dür-
fen“, herrscht standesrechtliches Chaos und ein bundes-
weiter Flickenteppich.
10 von 17 Ärztekammern haben diese Regelung in
ihre verbindlichen Berufsordnungen aufgenommen. Die
anderen Kammern haben die Formulierung gar nicht
oder nur in abgeschwächter Form übernommen.
Im Ergebnis hängt die Frage, ob ein Arzt Suizidbei-
hilfe leisten darf, jetzt davon ab, in welchem Kammer-
bezirk er Mitglied ist. Es ist aber in erster Linie an der
Ärzteschaft selbst – daher an dieser Stelle auch mein
dringender Appell –, dieses Chaos zu beseitigen und
eine einheitliche Regelung zu finden. Es wäre gut, wenn
sie wieder zu der alten Beschlusslage zurückfänden, dass
Ärzte „keine Beihilfe zum Suizid leisten sollen“. So
bleibt es dann jedem Arzt überlassen, in Einzelfällen
eine Gewissensentscheidung zu treffen.
Im Zweifel müssten die Landesgesetzgeber eingreifen
und eine – im besten Fall einheitliche – Regelung in ih-
ren jeweiligen Kammer- oder Heilberufegesetzen be-
schließen. Diese bilden schließlich die Grundlage der
ärztlichen Berufsordnungen; hier können verbindliche
Vorgaben gemacht werden.
Auf gar keinen Fall kann der Bundesgesetzgeber tätig
werden. Es liegt ganz einfach nicht in unserem Kompe-
tenzbereich. In unserem föderalen System gilt nun mal
nach Artikel 70 Grundgesetz die grundsätzliche Gesetz-
gebungszuständigkeit der Länder, sofern das Grundge-
setz keine gegenteiligen Regelungen trifft.
Der Bundesgesetzgeber ist nach Artikel 74 Absatz 1
Nummer 19 Grundgesetz nur für die Zulassung zu ärztli-
chen und anderen Heilberufen und zum Heilgewerbe zu-
ständig, nicht aber für die Berufsausübung. Das obliegt
ganz allein den Ländern.
Da kommen wir auch nicht weiter mit einer Regelung
im BGB oder einem eigenen Gesetz, das berufsständi-
sche Regelungen für unzulässig erklären will. In diesem
Fall bricht auch Bundesrecht nicht Landesrecht, da nur
kompetenzgemäß erlassenes Bundesrecht überhaupt im
Konfliktfall die Anwendungshoheit für sich beanspru-
chen kann.
Daher ist beispielsweise – wenn man es genau nimmt –
der Entwurf von Renate Künast gleich in doppelter Hin-
sicht eine Mogelpackung. Zum einen steht drauf: „Ge-
setz über die Straffreiheit der Hilfe zur Selbsttötung“,
obwohl mehr strafrechtliche Regelungen drin sind als in
allen anderen Entwürfen. Zum anderen kann dieses Ge-
setz nichts an den bestehenden standesrechtlichen Rege-
lungen ändern. Der Bundesgesetzgeber hat schlicht
keine Gesetzgebungskompetenz.
Auch der Reimann/Hintze/Lauterbach-Entwurf ver-
spricht, was er nicht halten kann: Rechtssicherheit für
Ärztinnen und Ärzte. Auch dieser Entwurf kann kompe-
tenzrechtlich gar keine Rechtssicherheit bieten, er
schränkt lediglich die ärztlichen Handlungsmöglichkei-
ten am Ende des Lebens ein.
Wenn wir eine strafrechtliche Regelung treffen, haben
wir hierfür die Gesetzgebungskompetenz, und auch das
Standesrecht hat sich daran zu halten. Was strafrechtlich
verboten ist, kann das Standesrecht nicht erlauben. Um-
gekehrt kann das Standesrecht auch grundsätzlich Dinge
verbieten, die das Strafrecht erlaubt bzw. nicht verbietet.
In diesem Fall bin ich jedoch der Ansicht, dass das aus-
nahmslose Verbot der ärztlichen Suizidbeihilfe im ärztli-
chen Standesrecht nicht verfassungsgemäß ist.
Das hat auch das Verwaltungsgericht Berlin so gese-
hen. Bisher hat kein Arzt berufsrechtliche Konsequen-
zen davongetragen. Mir ist zumindest kein Fall bekannt.
Falls dies doch mal passieren würde und der betreffende
Arzt oder die betreffende Ärztin dies bis zum Bundes-
verfassungsgericht durchfechten würde, stünden die
Chancen gut, dass das BVerfG die Regelung kippt.
Halina Wawzyniak (DIE LINKE): Wir debattieren
heute über verschiedene Gruppenanträge zum Thema
Sterbebegleitung. Ich selbst habe den Antrag der Gruppe
Griese, Brand und andere mit eingereicht. Lassen Sie
mich zunächst sagen, dass mir die Arbeit an einem
Gruppenantrag viel Spaß bereitet hat. Es ging endlich
einmal darum, in der Sache zu streiten und gemeinsame
Positionen zu finden. Es war eine Debatte, in der allein
das Argument zählte. Ich wünsche mir mehr solcher De-
batten.
Zum Zeitpunkt der Orientierungsdebatte im Bundes-
tag wusste ich noch nicht, welche der Positionen ich un-
terstütze. Ich habe also lange überlegt, wie ich mich in
dieser Frage positioniere.
Jede und jeder von uns hat einen anderen Zugang zum
Thema Sterbebegleitung. Mein Zugang ist die personale
Autonomie. Ich finde, jede und jeder hat das Recht,
selbst zu entscheiden, ob er bzw. sie weiterleben will –
im Übrigen unabhängig vom Vorliegen einer nicht mehr
therapierbaren, organischen und zugleich irreversibel
tödlich verlaufenden Erkrankung. Das Recht, selbst zu
entscheiden, wann der Zeitpunkt zu gehen da ist, setzt
aber gerade personale Autonomie voraus. Eine Gesell-
schaft trägt dafür Verantwortung, dass diese individuelle
personale Autonomie auch gegeben ist. Eine Gesell-
schaft, in der die Verwertung von allem und jedem eine
herausgehobene Stellung hat, trägt eine besondere Ver-
antwortung. In meinen Augen ist diese personale Auto-
nomie dann gefährdet, wenn ein gesellschaftlicher
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015 11211
(A) (C)
(D)(B)
Druck entsteht, der eine Handlung als „normal“ ansieht.
Die „Normalisierung“ einer Dienstleistung der ge-
schäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung einer ande-
ren Person gefährdet in meinen Augen die personale Au-
tonomie.
Ich hätte mir gewünscht, dass eine Regelung, mit der
eine „Normalisierung“ der Dienstleistung der Förderung
der Selbsttötung einer anderen Person durch geschäfts-
mäßige Gewährung, Verschaffung oder Vermittlung der
Gelegenheit dazu einhergeht, jenseits des Strafrechts
möglich gewesen wäre. Ich habe gedacht, das geht über
das Vereins- oder Gewerberecht. Meine Recherchen ha-
ben ergeben, dass es nicht geht. Die Vereine, um die es
mir vor allem geht, unterfallen aber dem Vereinsrecht.
Und das hat glücklicherweise einen hohen Stellenwert.
Ein Vereinsverbot kann nach § 3 Absatz 1 Vereinsgesetz
eben nur stattfinden, wenn die Zwecke und Tätigkeiten
des Vereins den Strafgesetzen zuwiderlaufen, sich gegen
die verfassungsmäßige Ordnung oder den Gedanken der
Völkerverständigung richten. Deshalb muss – zu mei-
nem großen Bedauern – auf das Strafrecht zurückgegrif-
fen werden, obwohl ich sonst bei Strafrechtsverschärfun-
gen Pickel bekomme und schreiend wegrenne. Für mich
ist das vorwiegend geschützte Rechtsgut in dem von mir
unterzeichneten Gruppenantrag die personale Autono-
mie. Gegen deren Gefährdung richtet sich der vom Ge-
setzentwurf vorgeschlagene Straftatbestand vor allem.
Es geht mit dem Gesetzentwurf ausdrücklich nur um
die Strafbarkeit der Förderung der Selbsttötung einer an-
deren Person durch eine geschäftsmäßige Gewährung,
Verschaffung oder Vermittlung der Gelegenheit dazu.
Nur eine solche geschäftsmäßige Förderung rechtfertigt
einen Straftatbestand, da Strafrecht Ultima Ratio ist und
nicht jede gesellschaftlich unerwünschte Handlung unter
Strafe gestellt werden soll und darf. Mit dem Gesetzent-
wurf soll die Straflosigkeit des eigenverantwortlichen
Suizid – und Suizidversuchs –, wie sie im deutschen
Strafrecht existiert, nicht infrage gestellt werden. Da das
deutsche Strafrecht einen Teilnehmer einer Tat (Gehilfen
oder Anstifter) nur bestrafen kann, wenn auch eine straf-
bare Haupttat vorliegt, bleibt mit dem Gesetzentwurf
auch die Suizidbeihilfe, also die physische oder psychi-
sche Hilfeleistung zum eigenständig durchgeführten,
freiverantwortlichen Suizid, straffrei. Und das ist gut so.
Der Gesetzentwurf – und damit die Strafbarkeit – soll
sich allein auf diejenigen beziehen, die einen Suizid ei-
ner anderen Person fördern, indem sie geschäftsmäßig
dazu Gelegenheit gewähren, verschaffen oder vermit-
teln. Der Gesetzentwurf soll sich also an diejenigen rich-
ten, die dieses Gewähren, Verschaffen oder Vermitteln
von Gelegenheiten zum Suizid wiederholt anbieten und
sie zum dauernden und wiederkehrenden Bestandteil ih-
rer Tätigkeit machen. Auf eine Gewinnerzielungsabsicht
kommt es nicht an. Der Gesetzentwurf soll also nur die-
jenigen treffen, die wiederholt und damit dauernd und
wiederkehrend äußere Umstände herbeiführen, die ge-
eignet sind, den Suizid zu ermöglichen oder wesentlich
zu erleichtern. Es geht dabei um Sachen wie die Überlas-
sung von Räumlichkeiten oder die Überlassung von Mit-
teln zum Suizid (-gewähren) oder die Vermittlung eines
konkreten Kontaktes zwischen einer suizidwilligen Per-
son und jemandem, der geschäftsmäßig die Gelegenheit
zum Suizid einer anderen Person gewährt. Der Gesetz-
entwurf soll diejenigen treffen, die all dies mit Absicht,
also zweck- und zielgerichtet, tun. Er soll also diejenigen
treffen, die wissen, dass sie – wiederholt und als dauern-
der und wiederkehrender Bestandteil ihrer Tätigkeit –
eine Gelegenheit zum Suizid einer anderen Person an-
bieten und dies auch so wollen.
Das deutsche Strafrecht ist kompliziert. Da der Ge-
setzentwurf diejenigen bestrafen soll, die geschäftsmä-
ßig den Suizid einer anderen Person fördern, sind auch
diejenigen als Teilnehmer strafbar, die selbst nicht ge-
schäftsmäßig handeln. Bei der geschäftsmäßigen Hand-
lung handelt es sich um ein sogenanntes besonderes per-
sönliches Merkmal (§ 14 Absatz 1 StGB, „Umstand“).
Die Strafe für einen solchen Teilnehmer – das sind An-
stifter und Gehilfen – ist aber zu mildern (§ 28 Absatz 1
StGB). Das hat – theoretisch – Auswirkungen auf Ange-
hörige und nahestehende Personen des Suizidwilligen.
Der Gesetzentwurf will diese, soweit sie nicht selbst ge-
schäftsmäßig handeln, aber explizit von der Strafbarkeit
ausnehmen. Deswegen wollen wir für diese Personen-
gruppe einen sogenannten persönlichen Strafausschlie-
ßungsgrund schaffen. Diese Personen sind damit dann
nicht strafbar. Um es noch deutlicher zu sagen: Der An-
gehörige, der eine suizidwillige Person zu jemandem
fährt, der geschäftsmäßig Gelegenheiten zum eigenver-
antwortlichen Suizid gewährt, verschafft oder vermittelt,
ist nicht strafbar. Was Angehörige und nahestehende
Personen sind, ist bereits im Gesetz geregelt (§ 11 Ab-
satz 1 Nummer 1 StGB) oder in der Kommentarliteratur
völlig unstreitig im Hinblick auf andere Straftatbestände,
sodass darauf zurückgegriffen werden kann. (§ 35 Ab-
satz 1, § 238 Absatz 1 Nummer 4, § 238 Absatz 2 und 3
und § 241 Absatz 1 StGB).
Ich glaube, dieser Gesetzentwurf sichert angemessen
die personale Autonomie. Deshalb bitte ich um Ihre Zu-
stimmung.
Matthias Gastel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Viele von uns befinden sich noch in einem intensiven
Meinungsbildungsprozess – oder haben diesen bereits
abgeschlossen. Nicht eine Fraktionsmeinung ist gefragt,
sondern die eigene. Die eigene Meinung, die sich bildet
aus persönlichen Erfahrungen im Umgang mit Sterben-
den und dem Tod sowie aus eigenen Wertvorstellungen.
Bei vielen von uns sind diese Wertevorstellungen zusätz-
lich religiös geprägt. Hinzu kommen die – widerstreben-
den – Erwartungen aus der Gesellschaft. Letztlich geht
es insbesondere um die Frage, welche Rolle der Mensch
spielen darf – oder auch muss –, wenn es um das Ende
eines Lebens geht.
Ich selber habe in den letzten sieben Monaten einen
intensiven Meinungsbildungsprozess betrieben durch die
Lektüre von Fachartikeln und zahlreichen Gesprächen
mit Bürgerinnen und Bürgern, Hospizhelfern, Fachkräf-
ten aus der Palliativversorgung, Beratungsstellen sowie
Kirchenvertreterinnen und Kirchenvertretern. Dazu habe
ich in meinem Wahlkreis zu Gesprächen geladen. Zu
vielen Aspekten konnte ich mir eine klare Meinung bil-
11212 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015
(A) (C)
(D)(B)
den. In einigen Fragen bin ich mir nach wie vor unsicher,
ob es überhaupt einer gesetzlichen Regelung bedarf und
wenn ja, wie diese konkret gefasst werden kann.
Inzwischen habe ich mich für einen Gesetzentwurf
entschieden, den ich unterschrieben habe. Dieser wurde
von Renate Künast und Kai Gehring (Bündnis 90/Grüne)
sowie Petra Sitte (Die Linke) ausgearbeitet und wird in-
zwischen von Abgeordneten aus drei Fraktionen unter-
stützt.
Es handelt sich um den Entwurf eines „Gesetzes über
die Straffreiheit der Hilfe zur Selbsttötung“. Dieser Ge-
setzentwurf belässt die Rechtslage im Wesentlichen so,
wie sie derzeit ist. Die Hilfe zur Selbsttötung bleibt dem-
nach straffrei. Es handelt sich um ein eigenständiges,
neues Gesetz und nicht die Änderung eines bestehenden
Gesetzes. Zweck dieses Gesetzes ist die Festlegung der
Voraussetzungen für die Hilfe zur Selbsttötung.
Zu den Inhalten dieses Gesetzes:
Die Selbsttötung wie die Hilfe dazu bleiben wie bis-
her straffrei.
Dem entgegenstehende berufsständische Regelungen
der Ärzteschaft werden unwirksam.
Wer in organisierter oder geschäftsmäßiger Form
(Ärzte) Hilfe zum Suizid leistet, muss vorher ein Bera-
tungsgespräch geführt haben. Dabei sind Alternativen
zur Selbsttötung zu besprechen. Zwischen dem Bera-
tungsgespräch und der Hilfeleistung zum Suizid müssen
mindestens 14 Tage vergangen sein.
Die gewerbsmäßig (das heißt auf fortlaufende Ge-
winnerzielung) ausgerichtete Hilfe zur Selbsttötung ist
untersagt und wird mit einer Freiheitsstrafe von bis zu
zwei Jahren bestraft.
Das Gesetz schafft die Voraussetzung für ein Werbe-
verbot für Hilfeleistungen zu Selbsttötungen.
Das Gesetz wird alle vier Jahre evaluiert.
Weshalb ich diesen Gesetzentwurf unterstütze: Der
Suizid ist straffrei und auch die Hilfe dazu. An Ersterem
will niemand rütteln. Wie kann etwas straffrei sein, die
Hilfe dazu aber nicht? Und ist es nicht so, dass, wenn
sich jemand Hilfe holt, sie oder er durch die andere, be-
ratende Person vielleicht noch Alternativen aufgezeigt
bekommen kann und dadurch vom Vorhaben, aus eige-
ner Hand das Leben zu beenden, abgehalten wird? Wer
nicht auf Hilfe setzen kann, wird mit größerer Wahr-
scheinlichkeit einen einsamen Tod sterben. Und wer
nicht auf Hilfe setzen kann, wird mit größerer Wahr-
scheinlichkeit eine brutalere Methode wählen, um aus
dem Leben zu scheiden. Solche Methoden belasten häu-
fig für lange Zeit andere, unfreiwillig beteiligte Men-
schen. Man denke an die vielen Suizide auf den Gleisen
der Bahn und denke dabei auch daran, welches Leid dies
bei den Lokführern auslöst.
Ich finde, dass niemand das Recht hat, den Entschluss
eines des Lebens überdrüssigen Menschen zu bewerten
oder gar zu verurteilen. Es sollten aber alle Wege für Ge-
spräche und Beratungen offengehalten werden. Ein Ver-
bot der Assistenz würde diese Wege weitgehend ver-
schließen. Denn weshalb sollte eine sterbewillige Person
einen Arzt aufsuchen, wenn dieser ihm unter keinen
Umständen das ersehnte Medikament bereitstellen darf?
Das Beratungsgespräch bietet die Chance, dass sich der
Betreffende doch noch anders, nämlich für sein Leben,
entscheidet. Der Verzicht auf ein Hilfeverbot wirkt damit
suizidpräventiv. Es ist gut, dass dies von den Autoren
mehrerer Gesetzentwürfe so gesehen wird.
Was mir am oben skizzierten Gesetzentwurf gut ge-
fällt, ist die Bedenkzeit. Damit wird das Risiko verrin-
gert, dass es zu fatalen Kurzschlussentscheidungen
kommt. Dem Festhalten am Leben wird ebenso eine
Chance eingeräumt, wie der feste Wunsch eines Sterbe-
willigen ernst genommen wird.
Wichtig ist mir, dass die Ärzteschaft auf Grundlage
eines bundesweit einheitlichen Rechtsprinzips arbeitet.
Dass einige Standesvertretungen ihren Mitgliedern et-
was verbieten, was der Gesetzgeber nicht verboten hat,
ist nicht hinnehmbar und führt zu einem kaum durch-
schaubaren Flickenteppich an unterschiedlichen Regeln
und fördert noch dazu einen Sterbehilfetourismus.
Selbstverständlich sind Ärzte ihrem Gewissen unterwor-
fen und werden zu nichts gezwungen, was ihrem ethi-
schen Gewissen widerspricht.
Ich bin nicht mit allem, was der beschriebene Gesetz-
entwurf enthält, vollständig einverstanden. So halte ich
beispielsweise zur Vermeidung von Missverständnissen
eine auch für juristische Laien eindeutige Klarstellung
für notwendig, dass die Hilfe zum Freitod unter den ge-
nannten Bedingungen ausschließlich für Menschen ge-
währt werden darf, die an einer unheilbaren, zum Tode
führenden Krankheit leiden. Insoweit hoffe ich, dass sich
im Laufe des weiteren Prozesses Abgeordnete für Ände-
rungen zusammenfinden und dann auf noch breiterer
Grundlage eine Mehrheit zusammenfindet. Und ich
hoffe, dass sich im Nachgang Mehrheiten für Verbesse-
rungen der Beratungs- und Therapieangebote für Men-
schen mit psychischen Erkrankungen finden. Dies fehlt
mir gänzlich in der bisherigen Debatte. Das ist fatal.
Denn die meisten Suizide werden von Menschen mit
psychischen Erkrankungen begangen. Ziel unserer Be-
mühungen muss sein, dass weniger Menschen für sich
im Suizid die Lösung sehen.
Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir hö-
ren heute zweieinhalb Stunden lang Redebeiträge, die al-
lesamt für eine Gesetzesänderung hinsichtlich der Ster-
behilfe in Deutschland plädieren.
Was wir leider nicht hören können, ist die Gegenrede
zu sämtlichen dieser Gesetzentwürfe. Und deswegen ist
es mir persönlich wichtig, dass Sie diese Rede wenigs-
tens lesen können.
Denn eines macht jemandem wie mir, die, wenn man
den Umfragen Glauben schenken kann, die Mehrheit der
Bevölkerung vertritt, Hoffnung: Am Ende müssen alle
diese Gesetzentwürfe – und zwar jeder für sich – eine
Mehrheit in diesem Parlament finden.
Die aktuelle Rechtslage hat zwar leider keinen Für-
sprecher in dieser Debatte; sie steht aber dennoch zur
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015 11213
(A) (C)
(D)(B)
Abstimmung. Sie alle können sich entscheiden, gegen
jeden dieser Gesetzentwürfe zu stimmen, und die
Gründe dafür will ich Ihnen hier so knapp wie möglich
darlegen:
Am kürzesten geht dies beim Entwurf des Kollegen
Sensburg und andere. Für diesen Entwurf können Sie
stimmen, wenn Sie alle Angehörigen, alle Ärzte und alle
sonstigen Helfer, die einem zum Suizid entschlossenen
Menschen, aus welchen Gründen auch immer und in
welcher Form auch immer, darin unterstützen, diesen
Weg zu gehen, hinter Schloss und Riegel bringen wol-
len. Dieser Entwurf hat gegenüber allen anderen den
Vorteil, dass er in sich konsequent und widerspruchsfrei
ist. In diesem Fall brauchen Sie diese Rede auch nicht
weiterzulesen.
Der Entwurf von Brand, Griese und anderen will die
geschäftsmäßige, das heißt jede organisierte Form der
Sterbehilfe, unter Strafe stellen. Das bedeutet im Ergeb-
nis, dass nur Personen im Einzelfall, wie beispielsweise
Angehörige, die Hilfeleistung erbringen dürfen, ohne
mit einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren rechnen
zu müssen. Vereine sind ebenso strafbar wie Ärzte, auch
wenn die Unterzeichner des Entwurfs das teilweise be-
streiten.
Jeder Arzt handelt im Hinblick auf seine Patienten
immer geschäftsmäßig im Rahmen seiner Berufsaus-
übung und würde sich damit immer – und zwar auch
schon durch eine ergebnisoffene Beratung – einem straf-
rechtlichen Ermittlungsverfahren aussetzen. Der erbwil-
lige Neffe dagegen, der seiner reichen Großtante Mut
zuspricht, doch endlich diesen letzten Weg zu gehen,
wäre nach diesem Entwurf der Einzige, der von jedem
Straftatverdacht befreit wäre.
Wer also Ärzten und Vereinen jede Tätigkeit im Zu-
sammenhang mit Sterbehilfe untersagen will, kann für
diesen Entwurf stimmen und kann jetzt aufhören zu le-
sen.
Als Nächstes hätten wir den Gesetzentwurf mit der
Überschrift: „Gesetz über die Straffreiheit der Hilfe zur
Selbsttötung“ von Künast & Co. Dieser Entwurf enthält
leider entgegen der Überschrift zwei neue Straftatbe-
stände, womit bereits die erste Widersprüchlichkeit of-
fenbar wird. Danach riskiert jeder, der gewerbsmäßige
Sterbehilfe leistet, bis zu drei Jahren Gefängnis, ebenso
wie jeder, der einem Suizidwilligen ein tödliches Mittel
verschafft.
Gewerbsmäßig ist alles, was zur Erzielung von regel-
mäßigen Einkünften erfolgt. Jede Ärztin und jeder Arzt
trifft auf seine Patienten im Rahmen seiner Berufsaus-
übung. Diesen Beruf üben Ärzte nicht ehrenamtlich aus,
sondern zur Erzielung von Einkünften. Es kommt mithin
nicht darauf an, ob für die ergebnisoffene Beratung oder
Hilfeleistung für einen Suizidwilligen ein eigener Ge-
bührentatbestand abgerechnet werden kann. Auch wenn
keine gesonderte Gebühr anfällt, handeln die Ärzte
selbstverständlich immer im Rahmen ihrer Berufstätig-
keit, mit der sie ihren Lebensunterhalt verdienen.
Die weiteren Regelungen in diesem Entwurf, die den
ärztlich assistierten Suizid näher regeln, sind daher in
sich völlig widersprüchlich. Aus anwaltlicher Sicht kann
keinem Arzt empfohlen werden, sich in Anbetracht einer
solch widersprüchlichen Rechtslage der Gefahr eines
strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens auszusetzen.
Für die nichtärztlichen Sterbehelfer wäre die Lage bei
diesem Gesetz noch viel gefährlicher. Sie müssten un-
verzüglich einen Arzt hinzuziehen, bevor sie sich auf ein
Gespräch mit einem suizidwilligen Patienten einlassen.
Alles andere würde den Staatsanwalt auf den Plan rufen.
Wenn Sie bis hierhin gelesen haben, lohnt sich der
Rest auch noch.
Denn ganz zuletzt gibt es den scheinbar liberalen Ge-
setzentwurf von Hintze, Reimann und anderen. Danach
soll eine Gesetzesänderung im Vierten Buch des BGB
– Familienrecht – klarstellen, dass die Ärztekammern ih-
ren Mitgliedern die Sterbehilfe unter bestimmten Um-
ständen nicht berufsrechtlich untersagen können sollen.
Rein formal stellt sich dabei schon das Problem, dass
wir als Bundesgesetzgeber leider keine Gesetzgebungs-
kompetenz in dem Bereich des ärztlichen Berufsrechts
haben. Und selbst wenn wir sie hätten, wäre das BGB si-
cherlich nicht der richtige Ort, dieses zu regeln.
Aber auch inhaltlich müssen wir feststellen, dass zum
einen die Voraussetzungen dieser ärztlichen Sterbehilfe
auffallend eng und dabei auch noch unbestimmt gefasst
sind. Wer soll denn die „Wahrscheinlichkeit des Todes“
medizinisch feststellen? Zum anderen können wir der
Gesetzesbegründung außerdem entnehmen, dass ganz
bewusst nur und ausschließlich die Ärzte vor Sanktionen
geschützt werden sollen. Die Verfasser dieses Entwurfs
wollen ausdrücklich keine Sterbehilfevereine zulassen
und stellen implizit in Aussicht, dass ihr Gesetzentwurf
doch durchaus mit anderen Entwürfen, die weitere Ver-
bote enthalten, kombiniert werden könne.
Die Flexibilität ist in der Tat vorhanden. Man müsste
entscheiden, ob man diese Restriktionen mittragen will.
Wer sich am Ende entscheidet, gegen all diese Ent-
würfe zu stimmen, verteidigt damit die aktuelle Rechts-
lage, die auch im internationalen Bereich nicht die
schlechteste ist. Die Tötung auf Verlangen – aktive Ster-
behilfe –, wie sie in Belgien und den Niederlanden teil-
weise praktiziert wird, ist und bleibt eine Straftat nach
deutschem Recht, und das halte ich auch für richtig. Wer
die Grenzen zur Tatherrschaft überschreitet, wie die Ju-
risten das nennen, wird wegen eines Tötungsdeliktes zur
Verantwortung gezogen. Das erfährt auch gerade der
Herr Kusch, der den Anlass für diese ganze Debatte ge-
geben hat.
Auch das restriktive Arzneimittelrecht verhindert,
dass effektive tödliche Mittel in Deutschland unmittelbar
verschrieben werden können. Das ist der eigentliche
Grund, warum Menschen zum Suizid in die Schweiz
reisen. Nicht das Strafrecht macht den Unterschied, son-
dern das Arzneimittelrecht. Ich finde es durchaus überle-
genswert, ob nicht auch deutsche Ärzte das entspre-
chende Mittel nach professioneller Prüfung verschreiben
können sollten. Aber das steht hier heute nicht zur De-
batte.
11214 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015
(A) (C)
(D)(B)
Menschen, die sich, aus welchen Gründen auch im-
mer, mit dem Gedanken tragen, ihr Leben selbst zu be-
enden, sollten uneingeschränkt Zugang zu ergebnisoffe-
ner Beratung und Unterstützung haben. Auf diesem
Wege können sie möglicherweise auch wieder von ihrem
Vorhaben Abstand nehmen. Ob diese Menschen sich ih-
ren Angehörigen oder dem Arzt ihres Vertrauens zuwen-
den oder aber einem unabhängigen Sterbehilfeverein,
sollte ihre Entscheidung bleiben und nicht vom Gesetz-
geber vorgeschrieben werden.
Müssten die Ärzte oder Vereine im Zusammenhang
mit ihrer Tätigkeit Sorgen haben, sich strafbar zu ma-
chen, würde den Betroffenen dieser Weg versperrt und
sie würden andere Wege finden – im Zweifel grausamere
Wege.
Selbst die ärztliche, ergebnisoffene Beratung an sich
kann unter den Rechtsbegriff der Beihilfe fallen. Auch
die gewerbsmäßige Hilfeleistung muss daher im Sinne
der Betroffenen straffrei bleiben. Unseriöse Angebote
verhindert man am besten durch Sicherstellung profes-
sioneller Angebote und nicht durch die strafrechtliche
Ahndung derselben.
Deswegen plädiere ich dafür, gegen alle vorgelegten
Gesetzentwürfe zu stimmen.
Vielen Dank, dass Sie diese Rede bis zum Ende gele-
sen haben.
Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Freiheit ist in unserer Gesellschaft einer der höchsten
Werte. Selbstbestimmung, die Möglichkeit, frei ent-
scheiden zu können, zwischen Alternativen wählen zu
können, ist in nahezu allen Lebensbereichen heute fast
selbstverständlich. Unser Grundgesetz hat Entschei-
dungsfreiheiten festgelegt, andere wurden von mutigen
Frauen und Männern in Parlament und Gesellschaft er-
kämpft.
Am Ende des Lebens ändert sich das. Wir dürfen
nicht frei entscheiden, wann und wie wir sterben wollen.
Viele Menschen müssen durch eine manchmal lange Zeit
der Qualen und der immer größeren Abhängigkeit bis
zum bitteren Ende durchhalten. Für tief religiöse Men-
schen mag das richtig sein. Von Menschen, die nicht an
ein Leben nach dem Tod glauben, kann es als absolut
sinnlos empfunden werden.
Nach derzeitiger Rechtslage ist die aktive Sterbehilfe
unter Strafe gestellt, die passive Sterbehilfe und die Bei-
hilfe zum Suizid dagegen nicht. Trotzdem kann es in der
Realität für einen sterbewilligen Menschen schwer bis
unmöglich sein, Hilfe zu bekommen. Er hat kein ver-
brieftes Recht auf die Hilfe, er kann nur darum bitten.
Den Weg zu einem Sterbehilfeverein kennt nicht jeder.
Der Bundestag will die Beihilfe zum Suizid nun neu
regeln. Es gibt vier Gruppenanträge. In der Tendenz geht
es aber leider nicht darum, mehr Selbstbestimmung zu
ermöglichen, sondern darum, Sterbehilfe restriktiver zu
regeln:
Der Antrag der CDU-Politiker Sensburg und
Dörflinger will Beihilfe zum Suizid ohne Ausnahme
strafrechtlich bewehrt verbieten.
Der fraktionsübergreifende Antrag der Gruppe Griese/
Brand/Terpe/Vogler will lediglich „geschäftsmäßige“
Sterbehilfe unter Strafe stellen – gemeint sind Sterbever-
eine. Es stellt sich aber die Frage, ob nicht auch ein Arzt
dem Patienten gegenüber grundsätzlich geschäftsmäßig
handelt, da er für seine Tätigkeit ja bezahlt wird. Die
schon heute ungeklärte Situation eines Arztes, der sei-
nem Patienten ein Mittel überlässt, mit dem dieser sich
auf eigenen Wunsch töten kann, verschärft sich also.
Den Arzt als Helfer, auch beim Wunsch nach Suizid,
wollen Hintze und Lauterbach dagegen mit ihrem An-
trag rechtlich absichern. Sie wollen den ärztlich assis-
tierten Suizid im Bürgerlichen Gesetzbuch verankern
und damit die in 10 (von 17) Landesärztekammern be-
stehenden Verbotsvorschriften im ärztlichen Standes-
recht überwinden. Der Patient kann die Sterbehilfe vom
Arzt allerdings nicht fordern; sie unterliegt der Freiwil-
ligkeit. Und die Beihilfe zum Suizid ist an strenge Be-
dingungen geknüpft. So muss eine unumkehrbar zum
Tode führende Krankheit vorliegen.
Aus der Opposition – Künast/Gehring/Sitte – kommt
der Antrag, für die Beihilfe zum Suizid eindeutige Be-
dingungen festzulegen und lediglich die gewerbsmäßige
Hilfe zur Selbsttötung zu verbieten. Auch er wirft die
Frage auf, was das Verbot der „gewerbsmäßigen“ Ster-
behilfe für den Arzt als Suizidhelfer bedeutet.
Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages befas-
sen sich mit großer Ernsthaftigkeit mit der Thematik
Sterbehilfe. Die Anträge spiegeln unterschiedliche Hal-
tungen dem Thema Sterben und Tod gegenüber wider.
Ich finde mich in keinem der Anträge bisher wieder. Die
komplexe Gesamtlage, in der der Deutsche Bundestag
zu einer Entscheidung kommen muss, ist mir bewusst.
Da ist die Sorge, alte, kranke Menschen könnten subtil
zur Inanspruchnahme von Sterbehilfe gedrängt werden.
Oder es könnte nach außen so aussehen, dass das Land,
das in seiner dunklen Geschichte neben vielen anderen
Verbrechen auch Verbrechen im Namen der Euthanasie
beging, die Lehre aus diesen Verbrechen anfange zu ver-
gessen. Da sind die Ärzte, deren erster Auftrag ist, Le-
ben zu erhalten, und die zu nicht unbeträchtlichen Teilen
Suizidbeihilfe ablehnen.
Und doch steht der Mensch mit seinem Recht auf
Selbstbestimmung für mich im Zentrum. Der Mensch,
den wir mit unserem politischen Bemühen um beste ge-
sellschaftliche Rahmenbedingungen zu einem mündi-
gen, selbstbewussten, entscheidungsfähigen Individuum
aufwachsen lassen wollen. Das Selbstbestimmungsrecht
am Ende des Lebens kommt mir in allen Anträgen noch
zu kurz. Eine Bedingung für das Recht auf Beihilfe zum
Suizid kann für mich nicht das Leiden an einer unwei-
gerlich zum Tode führenden Krankheit sein. Wenn Men-
schen ihr Dasein für sich als entwürdigend empfinden,
weil sie schmerzgequält, entstellt und/oder vollkommen
abhängig sind, dann müssen sie das Recht haben, zu ge-
hen. Und wenn sie dazu Hilfe benötigen, müssen Sie
diese Hilfe bekommen. Mir ist bewusst, wie schwer die
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015 11215
(A) (C)
(D)(B)
Verhinderung von Missbrauch ist und dass aktive Sterbe-
hilfe in unserer Gesellschaft ein Tabu ist. Und doch ist
mein Anspruch an uns als den Deutschen Bundestag,
dem Menschen an seinem Lebensende Selbstbestim-
mung zu ermöglichen. Niemand hat das Recht, zu defi-
nieren, was die Würde eines anderen Menschen aus-
macht. Das kann jeder Mensch nur für sich selbst.
Den Anspruch auf Selbstbestimmung erfüllt keiner
der vorliegenden Anträge. Deshalb bin ich zu diesem
Zeitpunkt der Debatte der Meinung, es sei besser, keinen
der Anträge zu beschließen, um uns die Chance auf eine
vielleicht bessere Lösung zu lassen – das mag sich aber
bis November noch ändern.
Anlage 3
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Kersten Steinke, Dr. Dietmar
Bartsch, Matthias W. Birkwald, Kerstin
Kassner, Cornelia Möhring und Birgit Wöllert
(alle DIE LINKE) zu den Abstimmungen über
die Beschlussempfehlungen des Petitionsaus-
schusses: Sammelübersichten 215 und 217 zu
Petitionen (Drucksachen 18/5394, 18/5396) (Zu-
satztagesordnungspunkte 4 g und 4 i)
Dem ablehnenden Abschluss aller folgenden Petitio-
nen können wir nicht zustimmen, da diese Ungerechtig-
keiten, die mit der Rentenüberleitung 1991 ins bundes-
deutsche Recht entstanden sind, besser heute als nie
hätten beseitigt werden sollen. Viele der Betroffenen in
den neuen Bundesländern sehen heute genauer, wie an-
ders, wie finanziell besser doch Personen mit gleichen
Erwerbsbiografien oder ähnlichen Lebenswegen in den
alten Bundesländern ihren Lebensabend verbringen kön-
nen.
Gerade die Geschiedenen hätten eine Lösung benö-
tigt. Nach einer oft aufopferungsvollen Lebensphase für
die Versorgung der Familie, damit der Mann ungestört
seinen beruflichen Aufgaben nachgehen konnte, stehen
fast alle ohne Versorgungsausgleich da. In der DDR hat-
ten sie über eine Mindestrente einen gewissen Schutz,
heute zählt nur, was aus eigener Erwerbstätigkeit an An-
sprüchen entstanden ist. Das ist häufig sehr wenig und
die – zumeist – Frauen sind auf Grundsicherung im Alter
angewiesen – für fast alle eine entwürdigende Situation.
Diese Probleme, die sich aus dem Wechsel der Siche-
rungssysteme, Renten- und Familienrecht, ergeben, wur-
den im Einigungsprozess vollständig übersehen. Es ist
unerträglich, dass die Bundesregierung diesen Fakt als
Argument dafür nutzt, eine Lösung des Problems nicht
anzugehen.
Die Professorinnen und Professoren wurden bei der
Rentenüberleitung 1991 zwar mit einem gesonderten
Gesetz, dem Anspruchs- und Anwartschaftsüberfüh-
rungsgesetz, AAÜG, behandelt, doch das Ergebnis ist
unbefriedigend: Sie wurden alle in die gesetzliche Ren-
tenversicherung überführt. Als Kronzeuge muss hier der
Einigungsvertrag herhalten, der besagt, dass auch diese
Versorgung in die GRV zu überführen ist. Vergessen
wird immer der nachfolgende Halbsatz, der besagt, dass
dabei keine Besserstellung gegenüber vergleichbaren öf-
fentlichen Versorgungssystemen erfolgen darf. Dieser
Nachsatz war dem Umstand geschuldet, dass das 1. Ren-
tenangleichungsgesetz der letzten Volkskammer vom
Juni 1990 vorgesehen hatte, dass in einem 2. Anglei-
chungsgesetz diese Personengruppe so gestellt werden
sollte, als hätten sie über das gesamte Einkommen ent-
sprechende Beiträge gezahlt. Das war übrigens bei vie-
len der Zusatz- und Sonderversorgungssystemen auch
tatsächlich der Fall. Durch die Dynamik des Einigungs-
prozesses im Sommer 1990 ist es zu dieser Gesetzge-
bung nicht mehr gekommen. Und gerade deshalb hätte
dieser Halbsatz des Einigungsvertrages für eine Korrek-
tur der Gesetzgebung von 1991 heutzutage wieder auf-
gegriffen werden müssen.
Die Sammelpetition von rund 75 Tausend Petenten,
die sich dagegen wehren, dass bei bestimmten in den
Führungsebenen der DDR Beschäftigten bzw. denen, die
beim MfS beschäftigt waren, noch immer in die Renten-
formel eingegriffen wird, einfach mit einem Urteil des
Bundesverfassungsgerichts abzutun, zeugt nur von nicht
vorhandenem Willen, etwas für diese Betroffenengrup-
pen zu tun. Das Bundesverfassungsgericht hat in dem zi-
tierten Urteil von 1999 festgestellt, dass das durch-
schnittliche Einkommen der Bevölkerung keinesfalls
unterschritten werden darf, was bis dahin mit der Aner-
kennung von 70 Prozent geschah. Im Umkehrschluss
ließe die Formulierung des Bundesverfassungsgerichts
aber auch zu, höhere Einkommensanteile als den Durch-
schnitt für die Rente anzuerkennen. Müssen wir uns
denn mit der neuen, derzeit anhängigen Beschwerde
wieder erst vom Bundesverfassungsgericht die Richtung
zeigen lassen, wie Unrecht zu beseitigen und die Wert-
neutralität des Rentenrechts endlich herzustellen ist?
Einzig schwierig zu erfüllen ist die Petition, die be-
gehrt, die Jahresendprämie auch ohne handfesten Nach-
weis anzuerkennen. Das würde den Bundestag als Ge-
setzgeber aber nicht daran hindern, endlich dafür zu
sorgen, dass auch bei normalen Renten und nicht nur bei
solchen, die aus den vormaligen Zusatzversorgungssys-
temen entstanden sind, nachweisbare Zahlungen an Jah-
resendprämien und sonstigen einmaligen Zulagen, die es
bei Polizei, Zoll und Armee gab, als rentenwirksame
Leistungen anerkannt werden.
Sozial untragbar ist auch, für diejenigen, die verant-
wortungsvolle und schwere Tätigkeiten im Gesundheits-
und Sozialwesen der DDR verrichteten, den Vertrauens-
schutz nicht zu wahren. Ja, die DDR-Regelung für diese
Personen, in der Rente einen Hochwertungsfaktor zu ge-
währen, war ein Wechsel auf die Zukunft. Doch was
können diese, zumeist Frauen dafür, dass ihr Lebens-
abend in einem anderen Rechtssystem stattfindet? Hier
eine angemessene Lösung zu suchen, zeugte von Huma-
nität unseres Handelns.
Warum konnte der Petitionsausschuss nicht dem Geist
des zitieren Urteils des Bundessozialgerichts folgen und
bei der Altersversorgung der technischen Intelligenz die
Instrumentalisierung von Versorgungszusagen zu DDR-
Zeiten auch für politische Zwecke korrigieren. Das
11216 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015
(A) (C)
(D)(B)
brächte nur die Anerkennung des damals erzielten Ein-
kommens bis zur Beitragsbemessungsgrenze, die vielen
der Betroffenen aber eine einigermaßen anständige
Rente bringen würde und nicht eine, die nach geltender
Rechtslage über fast 20 Jahre – von 1972 bis 1991 –
nicht einmal auf einem Entgeltpunkt basiert. Gerade für
diejenigen, die derzeit erst in Rente gehen, die folglich
nach der Einheit fachlich anerkannt mit Kollegen aus
den Altbundesländern gearbeitet haben, ist die derzeitige
rentenrechtliche Bewertung der DDR-Zeit demütigend.
Generell sollten wir endlich den Schritt gehen und in
der DDR gelebtes Leben anerkennen.
Mit Nichtstun wird kein sozialer Friede zwischen Ost
und West hergestellt werden.
25 Jahre deutsche Einheit wären ein guter Anlass ge-
wesen, hier endlich zu handeln. Der negative Abschluss
aller Petitionen stellt eine vertane Chance dar.
Anlage 4
Erklärung nach § 31 GO
des Abgeordneten Volker Beck (Köln) (BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN) zur Abstimmung über
den Wahlvorschlag auf Drucksache 18/5365
(Tagesordnungspunkt 7)
Da die Zusammensetzung des Stiftungsrates nicht re-
präsentativ für die Gesellschaft ist und beispielsweise
die Opposition gar nicht repräsentiert wird, stimme ich
mit Nein. Dies ist keine Aussage über die vorgeschlage-
nen Personen und Wahlvorschläge.
Anlage 5
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Marco Bülow, Dr. Lars
Castellucci, Christina Kampmann, Kirsten
Lühmann, Andreas Rimkus, Gülistan Yüksel
(alle SPD) zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines
Gesetzes zur Neubestimmung des Bleiberechts
und der Aufenthaltsbeendigung (Tagesord-
nungspunkt 13 a)
Erstens. In den Verhandlungen haben wir ursprüng-
lich ebenfalls eine Aufenthaltserlaubnis nach dem Vor-
bild des Bundesrates gefordert. Als Kompromiss mit der
Union konnten wir nur einen klarstellenden Duldungs-
grund durchsetzen. Wenngleich wir mehr wollten, glau-
ben wir, dass auch damit ein Fortschritt erreicht ist: Wir
haben eine gesetzliche Klarstellung bewirkt, wonach die
Aufnahme einer qualifizierten Berufsausbildung für Ju-
gendliche und Heranwachsende ausdrücklich als Dul-
dungsgrund gelten kann. Das gibt Rechtssicherheit. Ar-
beitgeber wissen, dass ihr Auszubildender nicht
abgeschoben wird, wenn sie einem Geduldeten oder ei-
nem Asylbewerber mit offenem Verfahrensausgang ei-
nen Ausbildungsvertrag geben. Der junge Asylbewerber
oder Geduldete weiß, dass er die Ausbildung sicher be-
enden kann. Und für die Zeit danach gilt schon jetzt:
Wer eine Ausbildung beendet, kann eine Aufenthaltser-
laubnis bekommen.
Außerdem enthält die Neuregelung keine zwingende
Beschränkung auf Personen unter 21, wie es der Ände-
rungsantrag von Bündnis 90/Die Grünen (Drucksache
18/5423) suggeriert. Richtig ist, dass die Norm insbeson-
dere auf Personen dieser Altersgruppe zielt. Die Formu-
lierung „insbesondere“ und der lediglich klarstellende
Charakter der Neuregelung eröffnen aber die Möglich-
keit, in atypischen Einzelfällen auch in anderen Fällen
einen dringenden persönlichen Grund anzunehmen, der
die Duldung begründet. Im Übrigen ist sie auch nach
Vollendung des 21. Lebensjahres anwendbar, wenn die
Ausbildung vor dem 21. Lebensjahr begonnen wurde.
Zweitens. Der Änderungsantrag von Bündnis 90/Die
Grünen (Drucksache 18/5424) ist auf die Abschaffung
des viertägigen Ausreisegewahrsams gerichtet. Wir hät-
ten ihn auch lieber vermieden. Aber ohne diesen hätte
die Union das Gesetz als Ganzes nicht mitgetragen. Im
Rahmen eines Gesamtkompromisses, der auch viele für
uns positive Regelungen enthält, haben wir uns bereit er-
klärt, die Einführung dieses Rechtsinstituts zu akzeptie-
ren.
Im Übrigen ist die Behauptung im Antrag nicht zu-
treffend, wonach Haft „ohne Vorliegen eines Haftgrun-
des verhängt werden können soll“. Auch hier ist es nach
§ 62 b Absatz 1 Nummer 2 des Entwurfs erforderlich,
dass der Ausländer „ein Verhalten gezeigt hat, das er-
warten lässt, dass er die Abschiebung erschweren oder
vereiteln wird, indem er fortgesetzt seine gesetzlichen
Mitwirkungspflichten verletzt hat oder über seine Identi-
tät oder Staatsangehörigkeit getäuscht hat“.
Drittens. Der Änderungsantrag von Bündnis 90/Die
Grünen (Drucksache 18/5424) zielt darauf, das Sprach-
erfordernis vor Einreise beim Ehegattennachzug abzu-
schaffen. Wir haben auf Drängen der Union bei den
Sprachkenntnissen vor Einreise beim Ehegattennachzug
die Aufnahme einer Härtefallregelung ins Gesetz akzep-
tiert. Wir hätten die Regelung lieber ganz abgeschafft.
Das war aber gegenüber der Union erwartungsgemäß
nicht durchsetzbar. Zumindest können nun Härten im
Einzelfall berücksichtigt werden.
Anlage 6
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Dr. Ute Finckh-Krämer und
Hilde Mattheis (beide SPD) zur Abstimmung
über den von der Bundesregierung eingebrach-
ten Entwurf eines Gesetzes zur Neubestimmung
des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendi-
gung (Tagesordnungspunkt 13 a)
In den Verhandlungen haben wir ursprünglich eben-
falls eine Aufenthaltserlaubnis nach dem Vorbild des
Bundesrates gefordert. Als Kompromiss mit der Union
konnten wir nur einen klarstellenden Duldungsgrund
durchsetzen. Wenngleich wir mehr wollten, glauben wir,
dass auch damit ein Fortschritt erreicht ist: Wir haben
eine gesetzliche Klarstellung bewirkt, wonach die Auf-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015 11217
(A) (C)
(D)(B)
nahme einer qualifizierten Berufsausbildung für Jugend-
liche und Heranwachsende ausdrücklich als Duldungs-
grund gelten kann. Das gibt Rechtssicherheit.
Arbeitgeber wissen, dass ihr Auszubildender nicht abge-
schoben wird, wenn sie einem Geduldeten oder einem
Asylbewerber mit offenem Verfahrensausgang einen
Ausbildungsvertrag geben. Der junge Asylbewerber
oder Geduldete weiß, dass er die Ausbildung sicher be-
enden kann. Und für die Zeit danach gilt schon jetzt:
Wer eine Ausbildung beendet, kann eine Aufenthaltser-
laubnis bekommen.
Außerdem enthält die Neuregelung keine zwingende
Beschränkung auf Personen unter 21, wie es der Ände-
rungsantrag von Bündnis 90/Die Grünen (Drucksache
18/5423) suggeriert. Richtig ist, dass die Norm „insbe-
sondere“ auf Personen dieser Altersgruppe zielt. Die
Formulierung „insbesondere" und der lediglich klarstel-
lende Charakter der Neuregelung eröffnen aber die Mög-
lichkeit, in atypischen Einzelfällen auch in anderen Fäl-
len einen dringenden persönlichen Grund anzunehmen,
der die Duldung begründet. Im Übrigen ist sie auch nach
Vollendung des 21. Lebensjahres anwendbar, wenn die
Ausbildung vor dem 21. Lebensjahr begonnen wurde.
Anlage 7
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Klaus Mindrup und
Mechthild Rawert (beide SPD) zur Abstimmung
über den von der Bundesregierung eingebrach-
ten Entwurf eines Gesetzes zur Neubestimmung
des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung
(Tagesordnungspunkt 13 a)
Die Zahl von Flüchtlingen, die in der europäischen
Staatengemeinschaft und in Deutschland Schutz suchen,
steigt. Die SPD steht uneingeschränkt zum Grundrecht
auf Asyl für politisch Verfolgte und den Regelungen des
Flüchtlingsschutzes. Wir Sozialdemokratinnen und So-
zialdemokraten wollen Flüchtlingen und Migrantinnen
und Migranten eine Teilhabe am Leben in unserer Ge-
sellschaft ermöglichen, wollen allen Flüchtlingen so früh
wie möglich den barrierefreien Zugang zu Arbeit und
Beschäftigung, zu Sprachkursen und Bildungsange-
boten, einschließlich der beruflichen Bildung, eröffnen.
Wir gehen den Weg weiter, der von negativen und de-
fizitorientierten Ansätzen wegführt hin zu Wertschät-
zung und Anerkennung von gesellschaftlicher Vielfalt
und zu den Potenzialen, Chancen und Ressourcen von
Einwanderung. Wir wollen eine gesellschaftliche Will-
kommenskultur nachhaltig etablieren. Wir wollen das er-
neute Entstehen von Rassismus bekämpfen. Vorausset-
zung ist, dass die Bevölkerung unseren Weg weiterhin so
unterstützt, wie dies derzeit in unzähligen Hilfsangebo-
ten und Initiativen aus der Zivilgesellschaft geschieht.
Schon im Vorfeld der Mitgliederabstimmung zum
Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD 2013
haben wir festgestellt, dass der Koalitionsvertrag viel
Licht und viel Schatten enthält – und zwar in nahezu je-
dem einzelnen Politikbereich. Dennoch waren und sind
wir überzeugt: Die SPD hat hart und gut verhandelt.
Gesetzentwurf zur Neubestimmung des Bleiberechts
und der Aufenthaltsbeendigung: Am 2. Juli 2015 haben
wir im Deutschen Bundestag den Gesetzentwurf zur
Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthalts-
beendigung – Drucksachen 18/4097, 18/4199 – in 2.
und 3. Lesung beschlossen. Auch dieser Gesetzentwurf
enthält Licht und Schatten, er ist ein „klassischer Kom-
promiss“ der Großen Koalition. Ohne Hinnahme von
Verschärfung repressiver Maßnahmen der Aufenthalts-
beendigung sind die Verbesserungen beim Bleiberecht
zu unserem sehr großen Leidwesen nicht durchsetzbar
gewesen.
Mit diesem Gesetz werden wichtige humanitäre Vor-
haben aus dem SPD-Regierungsprogramm und dem
Koalitionsvertrag umgesetzt. Vor allem schaffen wir
endlich ein stichtagsunabhängiges Bleiberecht für lang-
jährig Geduldete bei nachhaltiger Integration. Dieses
Ziel haben wir zusammen mit vielen gesellschaftlichen
Kräften, wie Kirchen, Flüchtlingsorganisationen und den
Gewerkschaften, seit Beginn der Verhandlungen zum
Zuwanderungsgesetz vor über einem Jahrzehnt kontinu-
ierlich verfolgt. Die im Gesetz getroffenen Regelungen
zum Bleiberecht werden von Pro Asyl oder dem
UNHCR begrüßt.
Wir unterstützen die wegweisenden Verbesserungen
beim Bleiberecht. Sie tragen dazu bei, den nötigen Para-
digmenwechsel zu schaffen, weg vom alten ordnungs-
politischen Repressionsdenken hin zu einer Willkom-
menskultur, in der geflüchtete Menschen hier bleiben
können und sollen. Die durchgesetzten Verbesserungen
des Bleiberechts ergänzen insofern die bisherigen Er-
folge der SPD: die Abschaffung der Residenzpflicht, die
Abschaffung des Sachleistungsprinzips und die Eröff-
nung erleichterter Arbeitsaufnahme.
Verbesserungen beim Bleiberecht:
Einführung einer allgemeinen alters- und stichtagsunab-
hängigen Bleiberechtsregelung für langjährige Gedul-
dete bei nachhaltiger Integration (neuer §25b).
Erweitertes Bleiberecht für gut integrierte Jugendliche
(§25a und §60a).
Verbesserungen für Resettlement-Flüchtlinge.
Verbesserungen für Opfer von Menschenhandel.
Schaffung einer neuen Aufenthaltserlaubnis zur Aner-
kennung eines ausländischen Abschlusses.
Verfestigung humanitärer Aufenthaltstitel.
Nach Angaben von Pro Asyl leben mehr als
75 000 Menschen seit sechs Jahren oder länger ohne
Aufenthaltsrecht in Deutschland. Das sind mehr als
75 000 Menschen, die seit Jahren gezwungen sind, ein
Leben auf Abruf zu führen. Eine Rückkehr in ihr Her-
kunftsland ist für die allermeisten von ihnen undenkbar,
und in Deutschland sind sie nur befristet geduldet. Im-
mer wieder droht ihnen die Abschiebung. Sie alle kön-
nen ihre Zukunft nicht gestalten, weil sie in Deutschland
keine sichere Lebensperspektive haben.
11218 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015
(A) (C)
(D)(B)
Bleiberecht bei nachhaltiger Integration: Mit dem er-
weiterten Bleiberecht für gut integrierte Jugendliche
schaffen wir eine deutliche Verbesserung. Für junge
Flüchtlinge bis zum 21. Lebensjahr genügt nunmehr ein
vierjähriger Voraufenthalt. Die SPD hat sich dafür einge-
setzt, dass die im Referentenentwurf vorgesehene Alters-
grenze bei 27 Jahren bleibt, um auch den 17-jährigen
Minderjährigen die Bleiberechtsperspektive nach vier
Jahren zu ermöglichen. Dies war mit der CDU/CSU
leider nicht möglich. Dafür konnten wir im Laufe der
Verhandlungen durchsetzen, dass Ausbildung ausdrück-
lich als Duldungsgrund verankert wird. Dies schafft
Rechtssicherheit auch für Arbeitgeber und wird zu mehr
Ausbildungsstellen für Menschen mit offenem Verfah-
rensausgang führen.
Voraussetzung für die Bleiberechtsregelung ist für Al-
leinstehende ein mindestens achtjähriger Voraufenthalt.
Für Eltern minderjähriger Kinder reichen sechs Jahre.
Dabei haben wir durchgesetzt, dass die Betroffenen
keine volle Lebensunterhaltssicherung nachweisen müs-
sen, wie sie im Aufenthaltsrecht sonst üblich ist, sondern
nur eine überwiegende. Das betrifft insbesondere An-
tragsteller, die im Niedriglohnsektor tätig und auf aufsto-
ckende SGB-II-Leistungen angewiesen sind. Auch diese
bekommen jetzt eine dauerhafte Perspektive in unserem
Land.
Ergänzend schaffen wir eine noch günstigere Rege-
lung für Jugendliche und Heranwachsende bis zum
21. Lebensjahr. Hier reicht ein vierjähriger Voraufent-
halt.
Aufenthalt während der Berufsausbildung: Wir haben
eine gesetzliche Klarstellung bewirkt, wonach die
Aufnahme einer qualifizierten Berufsausbildung für
Jugendliche und Heranwachsende ausdrücklich als
Duldungsgrund gelten kann. Das gibt Rechtssicherheit.
Arbeitgeber wissen, dass ihre Auszubildenden nicht ab-
geschoben werden, wenn sie einem Geduldeten oder
Asylsuchenden mit offenem Verfahrensausgang einen
Ausbildungsvertrag geben. Die jungen Asylsuchenden
und Geduldeten wissen nun, dass sie die Ausbildung si-
cher beenden können. Und für die Zeit danach gilt schon
jetzt: Wer eine Ausbildung beendet, kann eine Aufent-
haltserlaubnis bekommen.
Resettlement-Verfahren: Es wird, wie auf unser Drän-
gen im Koalitionsvertrag verankert, eine Rechtsgrund-
lage für das Resettlement-Verfahren geschaffen. Das ist
die Aufnahme besonders schutzbedürftiger Flüchtlinge
aus dem Ausland. Sie werden beim Familiennachzug
und dem schnelleren Zugang zur Niederlassungserlaub-
nis – unbefristetes Aufenthaltsrecht – nach nur drei Jah-
ren mit Asylberechtigten und Flüchtlingen nach der
Genfer Flüchtlingskonvention gleichgestellt und sind au-
ßerdem BAföG-berechtigt.
Familiennachzug für subsidiär Geschützte: Subsidiär
Geschützte (EU) sind Personen, die von Menschen-
rechtsverletzungen bedroht sind, ohne dass ein Diskrimi-
nierungsgrund wie bei Asylberechtigung oder Genfer
Flüchtlingskonvention vorliegt. Sie unterlagen beim
Familiennachzug bisher einer sehr restriktiven Ausnah-
meregelung. Nun werden sie Asylberechtigten und
Flüchtlingen nach der Genfer Flüchtlingskonvention
gleichgestellt. Das ist ein bedeutender menschenrechtli-
cher Fortschritt für Zehntausende hier lebende Men-
schen.
Schutz für Opfer von Menschenhandel: Der Entwurf
enthält Verbesserungen für Opfer von Menschenhandel.
Die Aufenthaltserlaubnis soll künftig erteilt werden. Zu-
vor war dies nur eine Kannregelung, die im reinen Er-
messen der Behörde stand. Statt auf sechs Monate soll
sie künftig auf ein bis zwei Jahre befristet werden. Fami-
liennachzug ist möglich. Es besteht ein erhöhter Auswei-
sungsschutz. Bei Verlängerung des Aufenthaltstitels
nach einem Strafverfahren besteht Anspruch auf einen
Integrationskurs. Dies alles verbessert die Situation der
Opfer in erheblichem Umfang.
Niederlassungserlaubnis bei humanitären Aufent-
haltstiteln: Bei humanitären Aufenthaltstiteln, die nicht
Asylberechtigung, Flüchtlingseigenschaft nach der Gen-
fer Flüchtlingskonvention oder subsidiärer Schutz sind,
wird die bisherige Schlechterstellung bei der Niederlas-
sungserlaubnis – also dem unbefristeten Aufenthalts-
recht – aufgehoben, zum Beispiel für Begünstigte der
Bleiberechtsregelung. Die Wartefrist wird von bisher
sieben Jahren auf die für andere Titel geltenden fünf
Jahre abgesenkt.
Anerkennung ausländischer Abschlüsse: Es wird eine
neue Aufenthaltserlaubnis zur Durchführung einer
Anpassungsqualifizierung zwecks Anerkennung eines
ausländischen Abschlusses geschaffen.
Neuregelungen bei der Aufenthaltsbeendigung: Die
Verschärfungen der repressiven Maßnahmen zur Aufent-
haltsbeendigung machen mir die Zustimmung zum Ge-
setzentwurf zur Neubestimmung des Bleiberechts und
der Aufenthaltsbeendigung sehr schwer. Die Kritik von
Flüchtlingsorganisationen, Verbänden und des SPD-
Landesverbandes Berlin an diesem Teil des Gesetzes ist
berechtigt – obwohl anzuerkennen ist, dass es der SPD-
Bundestagsfraktion gelungen ist, im parlamentarischen
Verfahren den Repressionscharakter einiger Regelungen
zu entschärfen.
Neuregelung der Abschiebungshaft: Die Neuregelung
der Abschiebungshaft hat viel Kritik erfahren. NGOs
und Verbände fürchten eine Ausweitung der Inhaftie-
rung. Ich hätte mir eine andere Reglung gewünscht.
Allerdings kodifiziert die Neuregelung bisheriges
Richterrecht und stellt damit keine Verschärfung der bis-
herigen Praxis dar. Einen Automatismus zur Inhaft-
nahme gibt es nicht, es muss stets eine Einzelfallprüfung
erfolgen. Um hier Verbesserungen für die Geflüchteten
zu erreichen, haben wir der CDU/CSU eine erhöhte Dar-
legungs- und Begründungslast für die Behörden abge-
rungen. Somit soll sichergestellt werden, dass die Inhaft-
nahme wegen Fluchtgefahr auch weiterhin nur in
Einzelfällen erfolgt. Die schon jetzt als Anhaltspunkt für
Fluchtgefahr gewertete Zahlung von Geldbeträgen an
Schleuser wurde durch unsere Intervention insofern ge-
genüber der geltenden Rechtslage entschärft, als nun-
mehr nur „erhebliche“ Geldbeträge in Betracht kommen.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015 11219
(A) (C)
(D)(B)
Ich vertrete auch weiterhin die Position, dass den
Menschen auf der Flucht legale Einreisewege eröffnet
werden müssen. Dies sollte in gesonderten Gesetz-
gebungsverfahren eingeleitet werden, um die Regelung
von Anhaltspunkten der Fluchtgefahr auf diejenigen zu
begrenzen, die trotzdem illegale Einreisewege nutzen.
Klarstellung bei der Dublin-Haft: Europarechtlich
sind wir verpflichtet, Anhaltspunkte für Fluchtgefahr
auch für Rücküberstellungen nach der Dublin-III-Ver-
ordnung gesetzlich zu bestimmen. Das tun wir mit dem
Gesetzentwurf. In diesen Fällen reicht aber keine einfa-
che Fluchtgefahr. Der Richter muss eine erhebliche
Fluchtgefahr feststellen. Das ist eine besonders hohe
Hürde. Diese hohe Hürde war aus dem Regierungsent-
wurf nicht unmittelbar ersichtlich. Deshalb haben wir ei-
nen klarstellenden Verweis auf die VO aufgenommen,
die die Erheblichkeit ausdrücklich benennt.
Ausreisegewahrsam: Es wird ein viertägiger Ausrei-
segewahrsam geschaffen. Das ist sehr problematisch. In
den Verhandlungen mit der Union hat sich leider heraus-
gestellt, dass die CDU/CSU ohne diese Regelung das
Gesetz als Ganzes nicht mitgetragen hätte.
Einreise- und Aufenthaltsverbote: Wir kritisieren die
Neueinführung von Einreise- und Aufenthaltsverboten.
Der SPD ist es immerhin gelungen, den Anwendungs-
bereich der Verbote auf Menschen aus sicheren Her-
kunftsstaaten, deren zweiter Asylfolgeantrag abgelehnt
wurde, zu begrenzen. Zudem sollen die Verbote bei un-
verschuldeten Duldungsgründen nicht verhängt und bei
Vorliegen der Voraussetzungen für Bleiberecht oder hu-
manitären Aufenthalt aufgehoben werden.
Neuordnung des Ausweisungsrechts: Das Auswei-
sungsrecht wird neu geregelt. Das war wegen der Recht-
sprechung des Europäischen Gerichtshofes für Men-
schenrechte, des Europäischen Gerichtshofes und des
Bundesverwaltungsgerichtes erforderlich. Das Gesetz
war längst nicht mehr europarechtskonform. Dabei
werden auf Drängen der Union die Ausweisungsgründe
teilweise verschärft. Das war ein Zugeständnis aus dem
Koalitionsvertrag.
Zugleich werden aber Verbesserungen beim Auswei-
sungsschutz, unter anderem für Minderjährige und Opfer
von Menschenhandel, eingeführt. Zudem ist der Rechts-
schutz verbessert: Die Abwägung zwischen Bleibe- und
Ausweisungsinteresse ist künftig durch Gerichte in je-
dem Einzelfall voll überprüfbar.
Auslesen von Datenträgern: Datenträger – insbeson-
dere Mobiltelefone und Smartphones – können zur Iden-
titätsfeststellung ausgewertet werden, wie es jetzt schon
bei Urkunden möglich ist. Diesen Eingriff in das Recht
auf informationelle Selbstbestimmung halten wir für
problematisch. Wir haben, um effektiven Datenschutz zu
gewährleisten, für eine bereichsspezifische Löschungs-
vorschrift für nicht mehr erforderliche Daten gesorgt.
Zulassungsfreie Rechtsbeschwerde auch für Behör-
den: Bei der Abschiebungshaft wollte die Union die
zulassungsfreie Rechtsbeschwerde der Betroffenen in
Abschiebungshaftsachen abschaffen. Wir haben uns ge-
gen diese Verschlechterung des Rechtsschutzes gewehrt.
Stattdessen haben wir akzeptiert, dass die zulassungs-
freie Rechtsbeschwerde auch für die Behörde zugelassen
wird.
Härtefallregelung für Sprachkenntnisse beim Ehegat-
tennachzug: Auf Drängen der Union haben wir bei den
Sprachkenntnissen vor Einreise beim Ehegattennachzug
die Aufnahme einer Härtefallregelung ins Gesetz akzep-
tiert. Wir hätten die Regelung lieber ganz abgeschafft.
Das war aber gegenüber der Union erwartungsgemäß
nicht durchsetzbar. Zumindest können nun Härten im
Einzelfall berücksichtigt werden.
Wie bereits ausgeführt, enthält der Gesetzentwurf zur
Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthalts-
beendigung viel Licht und viel Schatten. Nach sorg-
fältiger Abwägung überwiegen aus unserer Sicht die
erreichten Verbesserungen beim Bleiberecht die Ver-
schärfungen von repressiven Maßnahmen der Aufent-
haltsbeendigung. Deswegen stimmen wir dem Gesetz zu
und lehnen die oben genannten Anträge ab.
Anlage 8
Erklärungen nach § 31 GO
zur Abstimmung über den von der Bundesregie-
rung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Neubestimmung des Bleiberechts und der Auf-
enthaltsbeendigung (Tagesordnungspunkt 13 a)
Bärbel Bas (SPD): Ich werde dem Gesetzentwurf
zustimmen, weil mit diesem Gesetz substanzielle Ver-
besserungen für die Betroffenen geschaffen werden.
Mit einem Bleiberecht für langjährig Geduldete be-
gegnen wir der langjährigen Praxis der Kettenduldung.
Viele Geduldete bekommen nun endlich eine Perspek-
tive in Deutschland. Voraussetzung für die Bleiberechts-
regelung ist für Alleinstehende ein mindestens achtjähri-
ger Voraufenthalt. Für Eltern minderjähriger Kinder
reichen sechs Jahre. Dabei hat die SPD-Bundestagsfrak-
tion durchgesetzt, dass die Betroffenen keine volle Le-
bensunterhaltssicherung nachweisen müssen, sondern
nur eine überwiegende. Das betrifft insbesondere An-
tragsteller, die im Niedriglohnsektor tätig und auf aufsto-
ckende SGB-II-Leistungen angewiesen sind. Ergänzend
schaffen wir eine noch günstigere Regelung für Jugend-
liche und Heranwachsende bis zum 21. Lebensjahr. Hier
reicht ein vierjähriger Voraufenthalt.
Außerdem wird eine Rechtsgrundlage für das Resett-
lement-Verfahren geschaffen, um besonders schutzbe-
dürftige Flüchtlinge aus dem Ausland aufzunehmen. Sie
werden beim Familiennachzug und dem schnelleren
Zugang zur Niederlassungserlaubnis – unbefristetes
Aufenthaltsrecht – nach nur drei Jahren mit Asylbe-
rechtigten und Flüchtlingen nach der Genfer Flücht-
lingskonvention gleichgestellt und sind außerdem
BAföG-berechtigt.
Wir geben jungen Asylbewerbern und Geduldeten
ebenso wie deren Arbeitgebern Rechtssicherheit. Wir
haben eine gesetzliche Klarstellung bewirkt, wonach die
11220 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015
(A) (C)
(D)(B)
Aufnahme einer qualifizierten Berufsausbildung für Ju-
gendliche und Heranwachsende ausdrücklich als Dul-
dungsgrund gelten kann. Und für die Zeit danach gilt
schon jetzt: Wer eine Ausbildung beendet, kann eine
Aufenthaltserlaubnis bekommen.
Wir stellen subsidiär Schutzberechtigte endlich beim
Familiennachzug mit anderen anerkannten Flüchtlingen
gleich. Und wir verbessern die aufenthaltsrechtliche Si-
tuation für Opfer von Menschenhandel.
Wir setzen bei der Inhaftierung in Dublin-Fällen eine
europarechtliche Verpflichtung um: Nach der Verord-
nung müssen wir Anhaltspunkte für Fluchtgefahr auch
für Rücküberstellungen nach der Dublin-III-Verordnung
gesetzlich bestimmen. Das tun wir mit dem Gesetzent-
wurf. In diesen Fällen reicht aber keine einfache Flucht-
gefahr. Der Richter muss eine erhebliche Fluchtgefahr
feststellen. Diese besonders hohe Hürde haben wir im
Gesetzgebungsverfahren noch einmal ausdrücklich klar-
gestellt.
Das Ausweisungsrecht wird neu geregelt. Das war
wegen der Rechtsprechung des Europäischen Gerichts-
hofes für Menschenrechte, des Europäischen Gerichts-
hofes und des Bundesverwaltungsgerichtes erforderlich.
Das Gesetz war längst nicht mehr europarechtskonform.
Auf Drängen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion wurden
die Ausweisungsgründe zwar teilweise verschärft. Zu-
gleich werden aber Verbesserungen beim Ausweisungs-
schutz, unter anderem für Minderjährige und Opfer von
Menschenhandel, eingeführt. Zudem ist der Rechts-
schutz verbessert: Die Abwägung zwischen Bleibe- und
Ausweisungsinteresse ist künftig durch Gerichte in je-
dem Einzelfall voll überprüfbar.
Auch gibt es keine Ausweitung von Abschiebungs-
haft. Die Rechtsgrundlage bleibt unverändert. Mit fünf
der sechs Anhaltspunkte – der sechste ist ein Auffangtat-
bestand – wird nur das ins Gesetz geschrieben, was die
Rechtsprechung seit Jahren urteilt. Das ist keine Aus-
weitung gegenüber dem Istzustand für die Betroffenen.
Und die Neuregelung nennt nur Anhaltspunkte für
Fluchtgefahr. Es gibt keinen Automatismus, jeder Ein-
zelfall muss gewürdigt werden. Bei der Abschiebungs-
haft wollte die CDU/CSU-Bundestagsfraktion die zu-
lassungsfreie Rechtsbeschwerde der Betroffenen in
Abschiebungshaftsachen abschaffen. Wir haben uns ge-
gen diese Verschlechterung des Rechtsschutzes gewehrt.
Stattdessen haben wir akzeptiert, dass die zulassungs-
freie Rechtsbeschwerde auch für die Behörde zugelassen
wird.
Auf Drängen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion ha-
ben wir bei den Sprachkenntnissen vor Einreise beim
Ehegattennachzug die Aufnahme einer Härtefallrege-
lung ins Gesetz akzeptiert. Wir hätten die Regelung lie-
ber ganz abgeschafft. Das war aber gegenüber der CDU/
CSU-Bundestagsfraktion erwartungsgemäß nicht durch-
setzbar. Zumindest können nun Härten im Einzelfall be-
rücksichtigt werden.
Auch wenn wir einige Zugeständnisse an den Koali-
tionspartner machen mussten, werden mit diesem Ge-
setzentwurf humanitäre Verbesserungen eingeführt, die
viele Menschenrechtsorganisationen seit Jahren fordern.
Daher werde ich dem Gesetzentwurf zustimmen und die
Änderungsanträge der Grünen sowie den Entschlie-
ßungsantrag der Linken ablehnen.
Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD): Die SPD hat eine
Aufenthaltserlaubnis nach dem Vorschlag des Bundesra-
tes gefordert. Leider war mit der Union nur ein klarstel-
lender Duldungsgrund durchsetzbar. Wenngleich wir
auch mehr wollten, bin ich mir sicher, dass auch damit
ein großer Fortschritt erreicht ist:
Die gesetzliche Klarstellung bewirkt, dass die Auf-
nahme einer qualifizierten Berufsausbildung für Jugendli-
che und Heranwachsende ausdrücklich als Duldungsgrund
gelten kann. Das gibt Rechtssicherheit. Arbeitgeber wis-
sen, dass ihr Auszubildender nicht abgeschoben wird,
wenn sie einem Geduldeten oder einem Asylbewerber
mit offenem Verfahrensausgang einen Ausbildungsver-
trag geben. Der junge Asylbewerber oder Geduldete
weiß, dass er die Ausbildung sicher beenden kann. Und
für die Zeit danach gilt schon jetzt: Wer eine Ausbildung
beendet, kann eine Aufenthaltserlaubnis bekommen.
Es wird neu geregelt, dass es keine zwingende Be-
schränkung auf unter 21-jährige Personen gibt, wie es
der Änderungsantrag suggeriert. Richtig ist, dass die
Norm „insbesondere“ auf Personen dieser Altersgruppe
zielt. Die Formulierung „insbesondere“ und der lediglich
klarstellende Charakter der Neuregelung eröffnen aber
die Möglichkeit, in atypischen Einzelfällen auch in an-
deren Fällen einen dringenden persönlichen Grund anzu-
nehmen, der die Duldung begründet.
Es wird klargestellt dass die Regelungen auch nach
Vollendung des 21. Lebensjahres anwendbar sind, wenn
die Ausbildung vor dem 21. Lebensjahr begonnen
wurde. Das schafft Planungssicherheit.
Leider war die Abschaffung des viertägigen Ausreise-
gewahrsams, der de facto unbescholtene Menschen in
Haft nimmt, mit dem Koalitionspartner nicht durchsetz-
bar. Da jedoch dieses Gesetz deutliche Verbesserungen
zur augenblicklichen Rechtslage enthält, wäre es für
mich unverantwortbar, dem Gesetz die Zustimmung zu
verweigern.
Dr. Karamba Diaby (SPD): Bei Abstimmungen mit
erheblicher Reichweite oder auch bei Gewissensfragen
nehme ich für mich das Recht eines jeden Abgeordneten
nach Artikel 38 (1) des Grundgesetzes in Anspruch. In
Abwägung der getroffenen Verbesserungen und Ver-
schärfungen bei der Neubestimmung des Bleiberechts
und der Aufenthaltsbeendigung stimme ich dem Gesetz-
entwurf der Bundesregierung nicht zu. Den oben ge-
nannten Änderungsanträgen stimme ich zu.
Erstens. Derzeit sind nach Schätzungen des UNHCR
60 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht. Dies ist
die höchste Zahl, die jemals von UNHCR verzeichnet
wurde, und sie wächst weiterhin rasant. In dieser globa-
len Flüchtlingskrise sehe ich sowohl die Europäische
Union als auch die Bundesrepublik Deutschland in der
Verantwortung für eine solidarische und humane Asyl-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015 11221
(A) (C)
(D)(B)
politik. Hierzu erachte ich eine Modernisierung des
Asylrechts als erforderlich, im Sinne beispielsweise le-
galer Wege nach Europa für Asylsuchende und im Sinne
einer menschenrechtsbasierten Asylpraxis in der Euro-
päischen Union und der Bundesrepublik Deutschland.
Hierzu zählen für mich ebenfalls Maßnahmen wie einen
Zweckwechsel für Asylsuchende zu ermöglichen. Als
Sozialdemokrat lehne ich grundsätzlich Verschärfungen
ab, die einer menschenrechtsbasierten Asylpraxis entge-
genstehen.
Zweitens. In folgenden wesentlichen Punkten sehe
ich deutliche Verbesserungen für die Rechtsstellung, der
in Deutschland lebenden Asylsuchenden und Einwan-
dernder:
a. Es wird eine neue Möglichkeit geschaffen, zum
Zwecke der Anerkennung einer ausländischen Qualifi-
kation nach Deutschland einzureisen, für die Dauer von
bis zu 18 Monaten. Dies begrüße ich, damit mehr Men-
schen den Weg nach Deutschland finden können, um
hier zu leben und zu arbeiten.
b. Bleiberecht bei nachhaltiger Integration – nach die-
sem Prinzip wird eine deutliche Verbesserung für die
Menschen geschaffen, die seit vielen Jahren in Dul-
dungsketten in Deutschland leben. Sie erhalten nun end-
lich Rechtssicherheit und eine Zukunftsperspektive für
Leben hier in Deutschland. Insbesondere die Neureglung
für Jugendliche ist aus menschenrechtlicher Sicht zu be-
grüßen.
c. Resettlement-Verfahren – mit der Neuregelung
wird das Resettlement-Verfahren endlich endlich gesetz-
lich verankert, ein guter Schritt im Sinne einer verant-
wortlichen Asylpolitik.
Drittens. Hingegen sind folgende Neuregelungen im
Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Inhaftierung
und Ausweisung für mich aus menschenrechtlichen Er-
wägungen heraus und aus dem Anspruch heraus, dass
Flucht nach Deutschland möglich sein muss, nicht zu-
stimmungsfähig. Insofern finden die oben genannten
Änderungsanträge von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
meine Zustimmung.
a. Die Neuregelung der Abschiebungshaft kommt ei-
ner Verschärfung gleich. Schätzungsweise weniger als
einhundert Menschen befanden sich im letzten Jahr in Ab-
schiebungshaft in Deutschland. Davon waren die meisten
sogenannte Dublin-Fälle. Nach der Grundsatzentschei-
dung des Bundesgerichtshofs, BGH, von Juli 2014 wur-
den jedoch die meisten „Dublin-Fälle“ freigelassen. Die
Neuregelung sieht für einreisende Asylsuchende neue
Haftgründe vor, die es einfacher machen, Menschen zu
inhaftieren, die abgeschoben werden sollen.
b. Verschärfung des Ausweisungsrechtes: Es werden
neue Einreise- und Aufenthaltsverbote geschaffen. Sie
sind aus meiner Sicht ebenfalls kritikwürdig.
c. Bleibeperspektive bei Berufsausbildung – hier
braucht es eine gesetzliche Klarstellung in Form eines
neuen § 25 c, damit Jugendlichen in Berufsausbildung
und ihren Ausbildern Rechtssicherheit geboten wird.
Und für die Zeit danach gilt schon jetzt: Wer eine Aus-
bildung beendet, kann eine Aufenthaltserlaubnis bekom-
men.
d. Die Familienzusammenführung muss menschen-
rechtlich ausgestaltet werden. Insofern lehne ich unter
anderem den Sprachnachweis vor Ehegattennachzug ab.
Swen Schulz (Spandau) (SPD): Der Gesetzentwurf
zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufent-
haltsbeendigung enthält Verbesserungen, für die sich
viele Engagierte jahrelang eingesetzt haben. Ich begrüße
das ausdrücklich. Insbesondere das stichtagsunabhän-
gige Bleiberecht für langjährig Geduldete ist ein wesent-
licher Fortschritt.
Allerdings enthält das Gesetz auch massive Ver-
schlechterungen, vor allem die Neuregelung der Ab-
schiebungshaft, das neue Ausreisegewahrsam und neue
Einreise- und Aufenthaltsverbote.
Ich erkenne an, dass in den parlamentarischen Bera-
tungen der Gesetzentwurf der Bundesregierung an
verschiedenen Stellen „entschärft“ wurde. Gleichwohl
komme ich in der Abwägung von positiven und negati-
ven Bestandteilen des nun zur Abstimmung stehenden
Gesetzentwurfs zu dem Ergebnis, dass ich nicht zustim-
men kann, weil er den Ansprüchen an ein modernes, pro-
blemadäquates und humanes Bleiberecht nicht gerecht
wird.
Frank Schwabe (SPD): Das vorliegende Gesetz ent-
hält für mich nicht nachvollziehbare neue Kriterien für
die Abschiebehaft und für den Abschiebegewahrsam.
Ich würde gern glauben, dass die Argumente stimmen,
dass sich praktisch an der Vollzugspraxis nichts ändern
wird, bin davon aber nicht überzeugt.
Ich begrüße es sehr, dass mit dem Gesetz zwei neue
gesetzliche Gründe für die Erteilung einer Aufenthaltser-
laubnis geschaffen werden: die Anerkennung ausländi-
scher Berufsqualifikationen nach § 17 a AufenthG und
die Aufenthaltsgewährung bei nachhaltiger Integration.
Dies sind gute Gesetzesänderungen, die dazu beitra-
gen werden, dass langjährig geduldeten Ausländerinnen
und Ausländern ein Bleiberecht erteilt werden kann. Au-
ßerdem ermöglicht der Gesetzentwurf es, die berufliche
Integration von Ausländerinnen und Ausländern zu för-
dern.
Da ich jedoch einer Gesetzesänderung nicht zustim-
men will, bei der auch nur eine Wahrscheinlichkeit be-
steht, dass unschuldige Flüchtlinge zusätzlich in Ab-
schiebehaft genommen werden, enthalte ich mich der
Stimme.
Stefan Schwartze (SPD): Bei der Abstimmung über
das Gesetz zur Neubestimmung des Bleiberechts und der
Aufenthaltsbeendigung habe ich mich aus folgenden
Gründen enthalten:
Ich begrüße sehr, dass mit dem Gesetz zwei neue ge-
setzliche Gründe für die Erteilung einer Aufenthaltser-
laubnis geschaffen werden: die Anerkennung ausländi-
11222 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015
(A) (C)
(D)(B)
scher Berufsqualifikationen nach § 17 a AufenthG und
die Aufenthaltsgewährung bei nachhaltiger Integration.
Dies sind gute Gesetzesänderungen, die dazu beitra-
gen werden, dass langjährig geduldeten Ausländerinnen
und Ausländern ein Bleiberecht erteilt werden kann.
Außerdem ermöglicht es der Gesetzentwurf, die berufli-
che Integration von Ausländerinnen und Ausländern zu
fördern.
Allerdings kann ich die nun gesetzlich verankerten
Gründe für eine Abschiebehaft und für den Abschiebe-
gewahrsam nicht unterstützen. Insbesondere sehe ich die
Gefahr, dass damit der Rechtsschutz der Schutzsuchen-
den praktisch erheblich eingeschränkt wird. Die Be-
schleunigung der Asylverfahren führt inzwischen dazu,
dass bereits innerhalb weniger Wochen eine rechtskräf-
tige Entscheidung und sehr häufig eine vollziehbare
Abschiebungsentscheidung vorliegt. Eine gründliche
rechtliche Prüfung ist praktisch nicht möglich.
Die neu formulierten konkreten Anhaltspunkte für
eine Abschiebehaft liegen bei den allermeisten Auslän-
derinnen und Ausländern vor, insbesondere was die
Unterdrückung von Ausweispapieren betrifft. Vielen
Ausländern werden während ihrer gefährlichen Reise
aus Krisen-, Kriegs- und Hungergebieten die Ausweis-
papiere sogar abgenommen. Insofern sind potenziell na-
hezu alle vollziehbar abschiebepflichtigen Ausländer
von einer Abschiebehaft bedroht.
Rainer Spiering (SPD): Dem vorliegenden Gesetz-
entwurf kann ich nicht zustimmen und enthalte mich.
Trotz der Umsetzung wichtiger, im Rahmen des
Koalitionsvertrages mit der SPD vereinbarter Forderun-
gen, wie etwa der alters- und stichtagsunabhängigen
Bleiberechtsregelung für langjährig Geduldete bei nach-
haltiger Integration, kann ich diesen Gesetzentwurf nicht
mittragen. Die Verabschiedung des Gesetzes würde eine
massive Kriminalisierung der Flüchtlinge verursachen
und damit eine Beschneidung des aktuell bestehenden
Asylrechts darstellen.
Besonders kritisch sehe ich die Regelungen bezüglich
minderjähriger Geflüchteter, die Ausweitung von Haft-
gründen sowie die starke Diskriminierung von Schutz-
suchenden aus den sogenannten sicheren Herkunftsstaa-
ten des Westbalkans. Die deutliche Verschlechterung der
weltweiten Menschenrechtslage, insbesondere durch
zahlreiche bewaffnete Konflikte in der unmittelbaren eu-
ropäischen Umgebung, erfordert von Deutschland ein
deutliches Bekenntnis zu einer Asylpolitik, die die
Betroffenen im Zentrum sieht. Trotz der humanitären
Verbesserungen, die die SPD-Bundestagsfraktion im
Gesetzgebungsverfahren durchsetzen konnte, überwie-
gen jedoch weiterhin die negativen Auswirkungen des
Gesetzes.
Sonja Steffen (SPD): Der Deutsche Bundestag
stimmt heute über den Gesetzentwurf zur Neubestim-
mung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung
ab. Bei der Abstimmung habe ich mich aus folgenden
Gründen enthalten:
Ich begrüße es sehr, dass mit dem Gesetz zwei neue
gesetzliche Gründe für die Erteilung einer Aufenthaltser-
laubnis geschaffen werden: die Anerkennung ausländi-
scher Berufsqualifikationen nach § 17 a AufenthG und
die Aufenthaltsgewährung bei nachhaltiger Integration.
Dies sind gute Gesetzesänderungen, die dazu beitra-
gen werden, dass langjährig geduldeten Ausländerinnen
und Ausländern ein Bleiberecht erteilt werden kann. Au-
ßerdem ermöglicht der Gesetzentwurf es, die berufliche
Integration von Ausländerinnen und Ausländern zu för-
dern.
Allerdings kann ich die nun gesetzlich verankerten
Gründe für eine Abschiebehaft und für den Abschiebe-
gewahrsam nicht unterstützen. Insbesondere sehe ich die
Gefahr, dass damit der Rechtsschutz der Schutzsuchen-
den praktisch erheblich eingeschränkt wird. Die Be-
schleunigung der Asylverfahren führt inzwischen dazu,
dass bereits innerhalb weniger Wochen eine rechtskräf-
tige Entscheidung und sehr häufig eine vollziehbare
Abschiebungsentscheidung vorliegen. Eine gründliche
rechtliche Prüfung ist praktisch nicht möglich.
Die neu formulierten konkreten Anhaltspunkte für
eine Abschiebehaft liegen bei vielen Ausländerinnen
und Ausländern vor, insbesondere, was die Unterdrü-
ckung von Ausweispapieren betrifft. Manchen Flüchtlin-
gen werden während ihrer gefährlichen Reise aus Kri-
sen-, Kriegs- und Hungergebieten die Ausweispapiere
sogar abgenommen. Insofern sind potenziell nahezu alle
vollziehbar abschiebepflichtigen Ausländer von einer
Abschiebehaft bedroht.
Christoph Strässer (SPD): Das vorliegende Gesetz
enthält für mich nicht nachvollziehbare neue Kriterien
für die Abschiebehaft und für den Abschiebegewahrsam.
Ich würde gern glauben, dass die Argumente stimmen,
dass sich praktisch an der Vollzugspraxis nichts ändern
wird, bin davon aber nicht überzeugt, obwohl ich unse-
rem Berichterstatter, Rüdiger Veit, voll vertraue.
Ich begrüße es sehr, dass mit dem Gesetz zwei neue
gesetzliche Gründe für die Erteilung einer Aufenthalts-
erlaubnis geschaffen werden: die Anerkennung ausländi-
scher Berufsqualifikationen nach § 17 a AufenthG und
die Aufenthaltsgewährung bei nachhaltiger Integration.
Dies sind gute Gesetzesänderungen, die dazu beitra-
gen werden, dass langjährig geduldeten Ausländerinnen
und Ausländern ein Bleiberecht erteilt werden kann.
Außerdem ermöglicht der Gesetzentwurf es, die berufli-
che Integration von Ausländerinnen und Ausländern zu
fördern.
Da ich jedoch einer Gesetzesänderung nicht zustim-
men will, bei der auch nur eine Wahrscheinlichkeit
besteht, dass unschuldige Flüchtlinge zusätzlich in
Abschiebehaft genommen werden, enthalte ich/mich der
Stimme.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015 11223
(A) (C)
(D)(B)
Anlage 9
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Sevim Dağdelen (DIE
LINKE) zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN zu der dritten Beratung des von der
Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Neubestimmung des Bleiberechts
und der Aufenthaltsbeendigung (Tagesord-
nungspunkt 13 a)
Zu dem Entschließungsantrag und teilweise den Än-
derungsanträgen von Bündnis90/Die Grünen ist keine
Zustimmung, sondern nur eine Enthaltung möglich.
Die vorgeschlagene Aufenthaltsregelung für gedul-
dete Jugendliche in Ausbildung wurde vom Bundesrat
übernommen und enthält unnötige Ausschlussgründe
und Anforderungen (etwa zum Niveau von Deutsch-
kenntnissen, ein Bekenntnis zur freiheitlich demokrati-
schen Grundordnung, eine unbestimmte Ausschluss-
klausel bei Bezügen zu extremistischen oder
terroristischen Organisationen und bei fehlender Mitwir-
kung bei der eigenen Abschiebung).
Die Dauer der Abschiebungshaft von maximal 28 Ta-
gen, wie von den Grünen vorgeschlagen, ist eindeutig zu
lang, selbst wenn man dies als einen realpolitischen Vor-
schlag auf dem Weg zur Abschaffung der Abschiebungs-
haft, wie sie Die Linke fordert, versteht, wie es die Grü-
nen in der Begründung darlegen. Flüchtlinge sind keine
Kriminellen und gehören nicht in Haft.
Beim Ausweisungsrecht tragen die Grünen im Ergeb-
nis die Verschärfung mit, wonach künftig bereits ab ei-
ner einjährigen Freiheitsstrafe von einem schwerwiegen-
den Ausweisungsinteresse ausgegangen werden soll.
Das ist abzulehnen.
Im Entschließungsantrag zu den Integrationskursen
gehen die Forderungen zwar in eine richtige Richtung
und werden von der Linken weitgehend geteilt, aller-
dings wird das derzeitige Integrationskurssystem zu un-
kritisch dargestellt, es fehlen insbesondere Feststellun-
gen und Forderungen zu Zwangsmitteln und Sanktionen
im derzeitigen Integrationskurssystem. So kann der Inte-
grationskursbesuch nach geltendem Recht mit Mitteln
des Zwangs durchgesetzt werden, Versäumnisse können
zu sozial- und aufenthaltsrechtlichen Sanktionen bis hin
zur Aufenthaltsbeendigung und zur kompletten Einstel-
lung sozialer Unterstützungsleistungen führen. Seit
Mitte 2011 wird sogar sanktioniert, wenn Betroffene das
geforderte Sprachniveau (B1) nicht erreichen – so lange
erhalten sie nur eine auf längstens ein Jahr befristete
Aufenthaltserlaubnis. Diese soziale Diskriminierung und
Integration mit Zwangsmitteln ist abzulehnen und för-
dert bzw. fußt auf irrigen und populistischen Vorurteilen,
wonach Einwanderinnen und Einwanderer sich angeb-
lich nicht integrieren wollen.
Im Entschließungsantrag wird verschwiegen, dass die
Einführung der Integrationskurse in der rot-grünen Re-
gierungszeit im Jahr 2005 zu einer deutlichen Verschlech-
terung der ohnehin niedrigen Honorare der Lehrkräfte im
Sprachkursbereich führte. Wenn es in der Begründung
heißt, dass die grüne Bundestagsfraktion „immer wieder“
Anträge für „adäquate Arbeitsbedingungen im Rahmen
von Festanstellungen oder auf der Basis angemessener
Honorare“ eingebracht habe, ist dies irreführend: So for-
derten die Grünen noch Ende 2011 in einem Antrag
– Bundestagsdrucksache 17/7639 – eine Mindestvergü-
tung in Höhe von nur 24 Euro die Stunde für Lehrkräfte
im Integrationskursbereich und wies dabei ausdrücklich
damalige Forderungen der Lehrkräfte bzw. der GEW
nach einer Mindestvergütung in Höhe von 30 Euro zu-
rück. Die Linke unterstützte hingegen bereits damals
eine solche Mindestvergütung in Höhe von 30 Euro;
grundsätzlich streben wir jedoch gut bezahlte, sozialver-
sicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse für die
Lehrkräfte an, die eine so wichtige und hochqualifizierte
Arbeit leisten.
In dem Antrag wird der Eindruck erweckt, als sei das
deutsche Integrationskurssystem international Maßstäbe
setzend, es besitze „auch im Ausland hohe Anerken-
nung“. Dabei gibt es zum Beispiel in Schweden seit
1970 ein kostenloses Sprachkurssystem für Einwande-
rinnen und Einwanderer, das an den Vorkenntnissen und
dem Bildungsstand der Betroffenen anknüpft und ent-
sprechend individuell angepasste Ziele setzt; die Lehr-
kräfte erhalten ein angemessenes Gehalt. Im deutschen
System wird hingegen im Grundsatz von allen Einwan-
derinnen und Einwanderern – ausgenommen werden be-
zeichnenderweise zum Beispiel Hochqualifizierte – das-
selbe Sprachniveau (B1) gefordert, und ursprünglich
mussten auch alle dieses Ziel in derselben Zeit erreichen
(600 Stunden). Trotz einiger Verbesserungen in den letz-
ten Jahren hinsichtlich eines differenzierteren Kursange-
bots bedarf es grundlegender Änderungen am deutschen
Integrationskurssystem, wozu die Linke Vorschläge un-
terbreiten wird.
In der Begründung des Entschließungsantrags heißt
es schließlich, dass die Haushaltsmittel für Integrations-
kurse „auf Druck“ der grünen Bundestagsfraktion erhöht
worden seien. Das ist eine groteske Selbstüberschätzung,
die man nicht noch durch Zustimmung nähren sollte.
Anlage 10
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Marco Bülow, Dr. Lars
Castellucci, Dr. Ute Finckh-Krämer, Christina
Kampmann, Kirsten Lühmann, Andreas
Rimkus und Gülistan Yüksel (alle SPD) zur na-
mentlichen Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion DIE LINKE zu der
dritten Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Neubestimmung des Bleiberechts und der Auf-
enthaltsbeendigung (Tagesordnungspunkt 13 a)
Mit dem Antrag der Fraktion Die Linke werden eine
„umfassende humanitäre Bleiberechtsregelung, ein
wirksames Nachzugsrecht für Familienangehörige, das
nicht von Sprach- oder Einkommensnachweisen abhän-
11224 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015
(A) (C)
(D)(B)
gig ist, und eine Beendigung der Abschiebungshaft, statt
ihrer Ausweitung“ gefordert.
Die erste Forderung erfüllen wir mit dem Gesetzent-
wurf in der Fassung der Änderungsanträge der Koali-
tion. Voraussetzung für die Bleiberechtsregelung ist für
Alleinstehende ein mindestens achtjähriger Voraufent-
halt. Für Eltern minderjähriger Kinder reichen sechs
Jahre. Dabei haben wir durchgesetzt, dass die Betroffe-
nen keine volle Lebensunterhaltssicherung nachweisen
müssen, wie sie im Aufenthaltsrecht sonst üblich ist,
sondern nur eine überwiegende. Das betrifft insbeson-
dere Antragsteller, die im Niedriglohnsektor tätig und
auf aufstockende SGB-II-Leistungen angewiesen sind.
Auch diese bekommen jetzt eine dauerhafte Perspektive
in unserem Land.
Ergänzend schaffen wir eine noch günstigere Rege-
lung für Jugendliche und Heranwachsende bis zum
21. Lebensjahr. Hier reicht ein vierjähriger Voraufent-
halt.
Zur Forderung nach einem wirksamen Nachzugsrecht
für Familienangehörige, das nicht von Sprach- oder Ein-
kommensnachweisen abhängig ist: Auf Drängen der
Union haben wir bei den Sprachkenntnissen vor Einreise
beim Ehegattennachzug die Aufnahme einer Härtefall-
regelung ins Gesetz akzeptiert. Wir hätten die Regelung
lieber ganz abgeschafft. Das war aber gegenüber der
Union erwartungsgemäß nicht durchsetzbar. Zumindest
können nun Härten im Einzelfall berücksichtigt werden.
Einen generellen Verzicht auf Einkommensnachweise
beim Ehegattennachzug unterstützen wir nicht.
Zur Forderung nach einer Beendigung der Abschie-
bungshaft statt ihrer Ausweitung: Die SPD-Fraktion
setzt sich nicht für eine generelle Abschaffung der Ab-
schiebungshaft ein, sondern für ihre Einschränkung. Im
Übrigen sagen wir hierzu:
Erstens bestand die Rechtsgrundlage – Fluchtgefahr –
zuvor und bleibt unverändert. Mit fünf der sechs An-
haltspunkte – der sechste ist ein Auffangtatbestand –
wird nur das ins Gesetz geschrieben, was die Rechtspre-
chung seit Jahren urteilt. Das ist keine Ausweitung ge-
genüber dem Istzustand für die Betroffenen.
Zweitens gibt die Neuregelung nur Anhaltspunkte für
Fluchtgefahr. Es gibt keinen Automatismus, jeder Ein-
zelfall muss gewürdigt werden.
Drittens haben wir durchgesetzt, dass die schon in der
Vergangenheit bestehende Möglichkeit der Inhaftierung,
wenn jemand erhebliche Geldbeträge für einen Schleu-
ser ausgegeben hat, entschärft wird. Bisher hat die
Rechtsprechung dies nur oberflächlich begründet. Wir
haben die Darlegungs- und Begründungslast für Behör-
den und Gerichte erhöht. So wird der Anwendungs-
bereich gegenüber der bisherigen Rechtsprechung einge-
engt. Ursprünglich hatten wir in den Verhandlungen eine
vollständige Streichung dieser Passage gefordert, konn-
ten dies aber nicht durchsetzen.
Anlage 11
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Ulrike Bahr, Dr. Matthias
Bartke, Bärbel Bas, Uwe Beckmeyer, Dr. Karl-
Heinz Brunner, Dr. Lars Castellucci, Elvira
Drobinski-Weiß, Michaela Engelmeier, Saskia
Esken, Ulrike Gottschalck, Ulrich Hampel,
Dirk Heidenblut, Gabriela Heinrich, Frank
Junge, Ralf Kapschack, Gabriele Katzmarek,
Ulrich Kelber, Dr. Bärbel Kofler, Daniela
Kolbe, Birgit Kömpel, Christine Lambrecht,
Steffen-Claudio Lemme, Hiltrud Lotze, Kirsten
Lühmann, Dr. Birgit Malecha-Nissen,
Dr. Matthias Miersch, Susanne Mittag, Markus
Paschke, Detlev Pilger, Sabine Poschmann,
Dr. Simone Raatz, Mechthild Rawert, Gerold
Reichenbach, Andreas Rimkus, Susann Rüthrich,
Bernd Rützel, Johann Saathoff, Annette
Sawade, Dr. Hans-Joachim Schabedoth,
Dr. Nina Scheer, Dr. Dorothee Schlegel, Swen
Schulz (Spandau), Norbert Spinrath, Svenja
Stadler, Kerstin Tack, Michael Thews,
Dr. Karin Thissen, Carsten Träger, Gabi Weber
und Gülistan Yüksel (alle SPD) zu den nament-
lichen Abstimmungen über die Beschlussemp-
fehlung des Ausschusses für Wirtschaft und
Energie
– zu dem Antrag der Fraktion DIE LINKE:
Aktiv gegen Subventionen für den Neubau
von Atomkraftwerken in der EU
– zu dem Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN: Subventionen für britisches
Atomkraftwerk Hinkley Point C stoppen
und rechtliche Schritte einlegen
(Tagesordnungspunkt 18)
Wenn Deutschland nicht gegen die Entscheidung der
EU-Kommission zur Genehmigung der Beihilfe für
Hinkley Point C klagt, ist darin keine Unterstützung von
Atomenergie zu sehen. Genauso liegt in der Ablehnung
entsprechender Bundestagsanträge keine Abwendung
vom notwendigen Atomausstieg vor.
Der Atomausstieg in Deutschland ist für uns unum-
kehrbar. Mit der SPD setzen wir uns sowohl national als
auch europäisch und international für den Ausstieg aus
der Atomenergie, den Umstieg auf erneuerbare Energien
sowie für mehr Energieeffizienz ein. Der europäische
Atomausstieg ist insofern eine politische Aufgabe, die
nicht über einen beihilferechtlichen Klageweg auf den
EuGH abgewälzt werden kann und sollte.
Im Einzelnen zu den genannten Bundestagsanträgen:
Ende 2014 hat die EU-Kommission die nationalen
Beihilfen, die die britische Regierung für Hinkley Point
C vorsieht, genehmigt. Mit den genannten Anträgen
wird Deutschland aufgefordert, gegen die Entscheidung
der EU-Kommission beim EuGH zu klagen.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015 11225
(A) (C)
(D)(B)
Die von der britischen Regierung für Hinkley Point C
vorgesehene Förderung ist unbestritten eine Beihilfe.
Das EU-Beihilferecht gesteht der EU-Kommission über
Artikel 107 AEUV weite Ermessensspielräume für die
Genehmigung von Beihilfen zu. Die Beihilfegenehmi-
gung der EU-Kommission ist nach Einschätzung der
vonseiten der SPD im Rahmen der öffentlichen Anhö-
rung des Ausschusses für Wirtschaft und Energie am
17. Juni 2015 benannten Sachverständigen nicht offen-
kundig rechtsfehlerhaft. Diese Einschätzung wird auch
von der Bundesregierung geteilt.
Eine Klage gegen die Entscheidung der EU-Kommis-
sion erhielte insbesondere vor diesem Hintergrund eine
politische Dimension, zumal hiermit auf die britische
Entscheidung über die Ausgestaltung ihres Energiemi-
xes eingegangen wird. Nach Artikel 194 AEUV ist es
das Recht der Mitgliedstaaten, über ihren Energiemix zu
entscheiden. Deutschland hat bei der Förderung erneuer-
barer Energien stets – zu Recht – die nationale energie-
politische Entscheidungskompetenz betont. Dieser
Maßstab sollte auch für den Umgang mit den Energie-
politiken anderer Mitgliedstaaten gelten. Mit der Beihil-
feentscheidung zu Hinkley Point C hat die EU-Kommis-
sion einen weiter gehenden Förderrahmen erlaubt, als sie
etwa für erneuerbare Energien in den – für die Mitglied-
staaten nicht verbindlichen – Energie-Beihilfeleitlinien
vorgesehen sind. Vor diesem Hintergrund und auch, weil
sich die EU gemeinsam auf den Ausbau erneuerbarer
Energien verständigt hat, muss zukünftig erst recht ein
breiterer Handlungsspielraum bei der Gestaltung von
Fördersystemen für erneuerbare Energien möglich sein.
Klar ist aber auch, dass es eine europäische Förderung
für den Neubau von Atomkraftwerken aus öffentlichen
Geldern nicht geben darf. In den Beratungen zum Euro-
päischen Fonds für strategische Investitionen, EFSI,
haben sich zuerst Bundesminister Sigmar Gabriel und
dann auch die gesamte Bundesregierung explizit gegen
eine Aufnahme der Förderung von Kernkraftwerken aus-
gesprochen. Die Bundesregierung hat erklärt, dass sie
auch im Rahmen weiterer Diskussionen zu den Einzel-
bausteinen der Energieunion eine EU-Förderung oder
gar einen europäischen Förderrahmen für Kernkraft-
werke entschieden ablehnen wird.
Aus diesen Gründen lehnen wir die oben angegebe-
nen Anträge ab.
Anlage 12
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Lothar Binding (Heidelberg)
und Josip Juratovic (beide SPD) zu den na-
mentlichen Abstimmungen über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und
Energie
– zu dem Antrag der Fraktion DIE LINKE:
Aktiv gegen Subventionen für den Neubau
von Atomkraftwerken in der EU
– zu dem Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN: Subventionen für britisches
Atomkraftwerk Hinkley Point C stoppen
und rechtliche Schritte einlegen
(Tagesordnungspunkt 18)
Klagen gegen Atomstrom. Klingt gut – ist aber falsch.
Greenpeace Energy hat einen Massenbrief entworfen.
Wer sich seine Meinung nicht bilden möchte, sondern
klicken, nimmt seine Maus in die Hand und in etwa
30 Sekunden wird folgender Text an das Parlament ge-
schickt, der von einer selbst geschriebenen Mail nicht
unterscheidbar ist:
Die EU-Kommission hat im Herbst 2014 staatliche
Beihilfen für den britischen Reaktorneubau Hinkley
Point C genehmigt. Mit der Veröffentlichung im EU-
Amtsblatt ist diese Genehmigung seit Ende April recht-
lich verbindlich.
Damit darf die britische Regierung das geplante
Atomkraftwerk mit Staatsgarantien und einer hohen Ein-
speisevergütung fördern. Insgesamt sollen umgerechnet
mehr als 20 Milliarden Euro an öffentlichen Geldern in
das Projekt fließen. Die Atomenergie in Europa erhält
damit auf Jahrzehnte einen privilegierten Status, der ei-
nen freien und fairen Stromhandel auf dem europäischen
Energie-Binnenmarkt beschädigt und die erneuerbaren
Energien schwächt.
Durch den grenzüberschreitenden Stromhandel in der
EU hätte ein hochsubventioniertes Hinkley Point C ei-
nen direkten und messbaren Einfluss auf den deutschen
Strommarkt. Zudem könnte das Beihilfe-Modell für
Hinkley Point C Schule machen und für andere, derzeit
geplante Reaktorbauten in Polen oder Tschechien über-
nommen werden. Dies würde den Wettbewerb auf dem
deutschen Strommarkt weiter verzerren.
Der Ökostromanbieter Greenpeace Energy, zahlreiche
weitere Energiemarkt-Akteure sowie die Staaten Öster-
reich und Luxemburg wollen deshalb gegen die Beihil-
fen für Hinkley Point C vor Gericht ziehen. Ich halte es
für dringend geboten, dass auch die deutsche Bundesre-
gierung mit konkreten rechtlichen Schritten gegen über-
zogene Subventionen für die riskante und unzeitgemäße
Atomtechnologie vorgeht. Ich bitte Sie daher, sich ent-
sprechend Ihrer Möglichkeiten als Parlamentarier dafür
einzusetzen.“
Soweit der Standardtext, den einige Bürgerinnen und
Bürger schicken.
Die Aufforderung, die Bundesregierung zu rechtli-
chen Schritten gegen diese Genehmigung zu bewegen,
klingt gut, denn Investitionen in Atomenergie sind un-
verantwortlich. Wir denken an die bittere Erfahrung,
dass es auch in Deutschland erst Fukushimas bedurfte,
damit die CDU/CSU ihren Wiedereinstieg in die Atom-
stromversorgung rückgängig machte. Hoffentlich bedarf
es nun nicht für jeden kleinen Erkenntnisschritt eines Fu-
kushima. Wir kennen die Risiken und das Problem der
Atommülllagerung.
Alle Folgekosten eingeschlossen, ist Atomenergie die
teuerste Energieerzeugung, die wir kennen – und unver-
hältnismäßig viel teurer als erneuerbare, auf der Sonnen-
11226 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015
(A) (C)
(D)(B)
energie basierende Energieversorgung. Deswegen ist es
rückwärtsgewandt und falsch, dass Großbritannien und
andere EU-Staaten an der Atomenergie festhalten und
diese sogar ausbauen wollen.
Greenpeace Energy verkennt, dass Hinkley Point C
nur vordergründig ein rechtliches Problem ist. Vielmehr
handelt es sich um ein politisches Problem, denn wir
werden die Atomenergie in Europa nicht beenden, wenn
wir die Entscheidung der EU-Kommission über den Weg
einer Klage angreifen.
Stattdessen brauchen wir eine gesellschaftliche Mehr-
heit in ganz Europa für den Atomausstieg, damit jene
Parteien, die weiterhin für die Atomkraft eintreten, ihre
Mehrheiten verlieren.
Das Problem ist also nicht, dass die Europäische
Union die staatliche Förderung des Reaktorneubaus ge-
nehmigt, sondern dass Großbritannien überhaupt einen
Atomreaktor neu bauen und mit Steuergeldern subven-
tionieren will. Die Genehmigung durch die EU-Kom-
mission erfolgt nach Artikel 194 EUV: Danach hat die
Europäische Union keinen Einfluss auf den Energiemix
der einzelnen Mitgliedstaaten. Diese rechtliche Rege-
lung ist in speziellen Einzelfällen extrem ärgerlich –
manchmal aber auch die Rettung der Energiewende in
Richtung solarbasierter nicht fossiler Energieversor-
gung. Ich denke natürlich an das EEG in Deutschland.
Das Energieeinspeisegesetz ist die Basis für eine ökolo-
gische Energieversorgung in Deutschland. Würden wir
durch eine Klage allerdings erreichen, dass künftig der
Energiemix der Entscheidungskompetenz der einzelnen
Mitgliedstaaten entzogen würde – der deutsche Weg
wäre extrem gefährdet. Denn Deutschland könnte erneu-
erbare Energien durch das Erneuerbare-Energien-Ge-
setz nicht „im Alleingang“ fördern – und die Wirtschaft-
lichkeit der erneuerbaren Energien unter Beweis stellen.
Geht Deutschland diese Möglichkeit verloren, gerät
eine technologische Entwicklung in der Energieversor-
gung – ohne Atomkraft, ohne fossile Energieträger – un-
ter Druck und zukünftig notwendige Technologien wä-
ren nicht verfügbar. Technologie und Technik, die genau
dann gebraucht werden, wenn England oder Frankreich
– hoffentlich ohne ein Fukushima – die Zukunftsfähig-
keit der Sonne erkannt haben werden.
So schrecklich es ist. Polen und Energie heißt Kohle
bzw. Kohlendioxyd. England und Energie heißt Atom-
strom und Radioaktivität. Deutschland und Energie heißt
Solartechnik, Sicherheit und Zukunftsfähigkeit. Wenn
wir diese Entscheidungskompetenz der einzelnen Mit-
gliedstaaten zur Disposition stellen, gefährden wir die
ökologische Erneuerung Deutschlands – ohne in anderen
Ländern bzw. ganz Europa Kohle- und Atomstrom zu-
rückdrängen zu können.
Das Ziel von Greenpeace Energy, der Atomausstieg,
wird von der gesamten SPD-Fraktion geteilt und unter-
stützt – die Klage gegen die Beihilfe anderer Länder ge-
fährdet den Einstieg in alternative Technologien.
Manchmal ist der Rechtsweg eben doch schlechter als
gute Politik. Machen wir gute Politik in Europa.
Anlage 13
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Dr. Ute Finckh-Krämer und
Hilde Mattheis (beide SPD) zu den namentli-
chen Abstimmungen über die Beschlussempfeh-
lung des Ausschusses für Wirtschaft und Ener-
gie
– zu dem Antrag der Fraktion DIE LINKE:
Aktiv gegen Subventionen für den Neubau
von Atomkraftwerken in der EU
– zu dem Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN: Subventionen für britisches
Atomkraftwerk Hinkley Point C stoppen
und rechtliche Schritte einlegen
(Tagesordnungspunkt 18)
Wenn Deutschland nicht gegen die Entscheidung der
EU-Kommission zur Genehmigung der Beihilfe für Hin-
kley Point C klagt, ist darin keine Unterstützung von
Atomenergie zu sehen. Genauso liegt in der Ablehnung
entsprechender Bundestagsanträge keine Abwendung
vom notwendigen Atomausstieg vor.
Der Atomausstieg in Deutschland ist für uns unum-
kehrbar. Mit der SPD setzen wir uns sowohl national als
auch europäisch und international für den Ausstieg aus
der Atomenergie, den Umstieg auf erneuerbare Energien
sowie für mehr Energieeffizienz ein. Der europäische
Atomausstieg ist insofern eine politische Aufgabe, die
nicht über einen beihilferechtlichen Klageweg auf den
EuGH abgewälzt werden kann und sollte.
Im Einzelnen zu den genannten Bundestagsanträgen:
Ende 2014 hat die EU-Kommission die nationalen Bei-
hilfen, die die britische Regierung für Hinkley Point C
vorsieht, genehmigt. Mit den genannten Anträgen wird
Deutschland aufgefordert, gegen die Entscheidung der
EU-Kommission beim EuGH zu klagen.
Die von der britischen Regierung für Hinkley Point C
vorgesehene Förderung ist unbestritten eine Beihilfe.
Das EU-Beihilferecht gesteht der EU-Kommission über
Artikel 107 AEUV weite Ermessensspielräume für die
Genehmigung von Beihilfen zu. Die Beihilfegenehmi-
gung der EU-Kommission ist nach Einschätzung der
vonseiten der SPD im Rahmen der öffentlichen Anhö-
rung des Ausschusses für Wirtschaft und Energie am
17. Juni 2015 benannten Sachverständigen nicht offen-
kundig rechtsfehlerhaft. Diese Einschätzung wird auch
von der Bundesregierung geteilt.
Eine deutsche Klage gegen die Entscheidung der EU-
Kommission erhielte insbesondere vor diesem Hinter-
grund eine politische Dimension, zumal hiermit auf die
britische Entscheidung über die Ausgestaltung ihres
Energiemixes eingegangen wird. Nach Artikel 194
AEUV ist es das Recht der Mitgliedstaaten, über ihren
Energiemix zu entscheiden. Deutschland hat bei der För-
derung erneuerbarer Energien stets – zu Recht – die na-
tionale energiepolitische Entscheidungskompetenz be-
tont. Dieser Maßstab sollte auch für den Umgang mit
den Energiepolitiken anderer Mitgliedstaaten gelten. Mit
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015 11227
(A) (C)
(D)(B)
der Beihilfeentscheidung zu Hinkley Point C hat die EU-
Kommission einen weiter gehenden Förderrahmen er-
laubt, als sie etwa für erneuerbare Energien in den – für
die Mitgliedstaaten nichtverbindlichen – Energie-Bei-
hilfeleitlinien vorgesehen sind. Vor diesem Hintergrund
und auch, weil sich die EU gemeinsam auf den Ausbau
erneuerbarer Energien verständigt hat, muss zukünftig
erst recht ein breiterer Handlungsspielraum bei der Ge-
staltung von Fördersystemen für erneuerbare Energien
möglich sein.
Klar ist aber auch, dass es eine europäische Förderung
für den Neubau von Atomkraftwerken aus öffentlichen
Geldern nicht geben darf. In den Beratungen zum Euro-
päischen Fonds für strategische Investitionen, EFSI, ha-
ben sich zuerst Bundesminister Sigmar Gabriel und dann
auch die gesamte Bundesregierung explizit gegen eine
Aufnahme der Förderung von Kernkraftwerken ausge-
sprochen. Die Bundesregierung hat erklärt, dass sie auch
im Rahmen weiterer Diskussionen zu den Einzelbaustei-
nen der Energieunion eine EU-Förderung oder gar einen
europäischen Förderrahmen für Kernkraftwerke ent-
schieden ablehnen wird.
Aus diesen Gründen lehnen wir die oben angegebe-
nen Anträge ab.
Anlage 14
Erklärungen nach § 31 GO
zu den namentlichen Abstimmungen über die
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirt-
schaft und Energie
– zu dem Antrag der Fraktion DIE LINKE:
Aktiv gegen Subventionen für den Neubau
von Atomkraftwerken in der EU
– zu dem Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN: Subventionen für britisches
Atomkraftwerk Hinkley Point C stoppen
und rechtliche Schritte einlegen
(Tagesordnungspunkt 18)
Heike Baehrens (SPD): Die Entscheidung der briti-
schen Regierung zum Bau eines neuen Atomkraftwerks
am Standort Hinkley Point sowie die Entscheidung der
EU-Kommission, die Beihilfen für diesen Bau zu geneh-
migen, senden ein falsches Signal aus. Aufgrund der Ge-
fahr, die von Atomkraftwerken ausgeht, der nach wie
vor ungelösten Entsorgungsfrage und der immens hohen
Kosten hat die Atomenergie keine Zukunft mehr. Anstatt
sich auf einen europaweiten Atomausstieg zuzubewe-
gen, wird bei einer tatsächlichen Realisierung des Pro-
jekts Hinkley Point C, welches für eine Laufzeit von
60 Jahren geplant wird, das Atomzeitalter in Europa um
viele Jahre verlängert. Viele weitere Jahre, in denen die
Menschen in Großbritannien und Europa der Gefahr ei-
nes AKW-Unfalls ausgesetzt sind. Viele weitere Jahre,
in denen zusätzlicher hochstrahlender Atommüll produ-
ziert wird.
Unflexible Großkraftwerke wie in Hinkley Point pas-
sen auch nicht zur Systemumstellung auf eine Energie-
produktion auf Basis erneuerbarer Energien. Der Volati-
lität von zum Beispiel Wind- und Sonnenenergie muss
mit flexiblen Kraftwerken begegnet werden. Statt den
Systemumbau durch die Förderung zukunftsträchtiger
Technologien zu unterstützen, müssen die britischen
Stromkunden und Steuerzahler mit Milliardensummen
eine Technologie fördern, die es in sechs Jahrzehnten
nicht geschafft hat, ohne Subventionen so profitabel zu
sein, dass sie sich frei am Markt finanzieren lässt. Wäh-
rend die Vergütungssätze der erneuerbaren Energien de-
gressiv sind, diese also immer günstiger werden, garan-
tiert der sogenannte Contract for Difference den
Betreibern von Hinkley Point C beispielsweise eine hö-
here Vergütung als hierzulande aktuell Strom aus Wind-
krafträdern. Dieser über 35 Jahre (!) garantierte Atom-
strompreis ist aber nicht degressiv, sondern soll sich
inflationsbedingt sogar noch erhöhen. Zudem gibt die
britische Regierung dem Betreiberkonsortium eine Kre-
ditgarantie über 22 Milliarden Euro und garantiert Aus-
fallzahlungen, sollten sich durch politische Entscheidun-
gen Rahmenbedingungen für die Atomenergieproduktion
verschlechtern.
Im Gegensatz zur Förderung der erneuerbaren Ener-
gien richtet sich die geplante Unterstützung auch nicht
an eine Vielzahl konkurrierender Anbieter, sondern an
einen einzigen Betreiber. Diese einseitige Atomenergie-
förderung wird aber aller Wahrscheinlichkeit nach Nach-
teile für Erneuerbare-Energien-Anbieter nicht nur in
Großbritannien, sondern auch in anderen EU-Ländern
haben, vor allem wenn die Stromtrassen zwischen Eng-
land und Resteuropa ausgebaut werden. Schließlich
kann der in Hinkley Point C produzierte Strom durch die
hohe Förderung besonders günstig angeboten werden
und sogar bei negativen Marktpreisen Gewinne erzielen.
Zu bedenken ist weiterhin, dass andere EU-Länder,
die den Bau von Atomkraftwerken planen oder in Erwä-
gung ziehen, von der Entscheidung der EU-Kommission
eher in ihrem Vorhaben bestärkt als abgeschreckt wer-
den. Hinkley Point C kann so zum Präzedenzfall werden.
Die beiden weiteren schon im Bau befindlichen AKW-
Projekte in Finnland und Frankreich haben aufgrund der
Vielzahl der Probleme – zum Beispiel beim Reaktor-
druckbehälter im französischen Flamanvilley – der aus-
ufernden Kosten und der sich immer weiter nach hinten
verschiebenden Inbetriebnahme sicher keinen starken
Anreizcharakter.
Aufgrund der aufgeführten Argumente und meines
langjährigen Engagements gegen Kernenergie bin ich
ausdrücklich gegen den Reaktorneubau Hinkley Point C.
Daher habe ich Verständnis für die Motivation, die hinter
den Anträgen der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/
Die Grünen steht. Beide wollen damit versuchen, das
Projekt doch noch zu verhindern. Allerdings muss an
dieser Stelle auch gesagt werden, dass die heutige Ab-
stimmung im Deutschen Bundestag nicht über die Reali-
sierung oder Nichtrealisierung von Hinkley Point C ent-
scheidet. Auch eine Entscheidung für eine Klage ändert
nichts an dem Vorhaben.
11228 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015
(A) (C)
(D)(B)
Es ist auch nicht eindeutig klar, wie die Aussicht auf
Erfolg bei einer Nichtigkeitsklage ist und welche Folgen
eine solche Klage für das weitere Handeln der EU be-
züglich der deutschen Erneuerbare-Energien-Förderung
haben wird. Die Experten der Anhörung im Wirtschafts-
ausschuss kamen hier nicht zu einer eindeutigen Mei-
nung. Die Kommission hat bei Beihilferechtsfragen
schließlich einen großen Ermessensspielraum. Eine Kla-
geniederlage würde die Präzedenzwirkung der Kommis-
sionsentscheidung noch weiter festigen.
Viel wichtiger als den beihilferechtlichen Klageweg
gegen ein AKW-Projekt anzustrengen, ist es, sich auf
politischer Ebene innerhalb der EU gezielt für einen eu-
ropäischen Atomausstieg zu engagieren, das heißt EU-
Partner zu überzeugen, dass Atomenergie keine Zukunft
hat.
Aus diesen Gründen enthalte ich mich bei der Ab-
stimmung.
Marco Bülow (SPD): Die Entscheidung der briti-
schen Regierung zum Bau eines neuen Atomkraftwerks
am Standort Hinkley Point sowie die Entscheidung der
EU-Kommission, die Beihilfen für diesen Bau zu geneh-
migen, senden ein absolut falsches Signal aus. Aufgrund
der immensen Gefahr, die von Atomkraftwerken aus-
geht, aufgrund der nach wie vor ungelösten Entsor-
gungsfrage und aufgrund der immens hohen Kosten hat
die Atomenergie keine Zukunft mehr. Anstatt sich auf
einen europaweiten Atomausstieg zuzubewegen, wird
bei einer tatsächlichen Realisierung des Projekts Hinkley
Point C, welches für eine Laufzeit von 60 Jahren geplant
wird, das Atomzeitalter in Europa um viele Jahre verlän-
gert. Viele weitere Jahre, in denen die Menschen in
Großbritannien und Europa der Gefahr eines AKW-
Unfalls ausgesetzt sind. Viele weitere Jahre, in denen zu-
sätzlicher, hochstrahlender Atommüll produziert wird.
Unflexible Großkraftwerke wie die Atomkraftwerke
in Hinkley Point passen auch nicht zur Systemumstel-
lung auf eine Energieproduktion auf Basis erneuerbarer
Energien. Der Volatilität von zum Beispiel Wind- und
Sonnenenergie muss mit flexiblen Kraftwerken begegnet
werden. Statt den Systemumbau durch die Förderung zu-
kunftsträchtiger Technologien zu unterstützen, müssen
die britischen Stromkunden und Steuerzahler mit Milli-
ardensummen eine Technologie fördern, die es in sechs
Jahrzehnten nicht geschafft hat, ohne Subventionen so
profitabel zu sein, dass sie sich frei am Markt finanzie-
ren lässt. Während die Vergütungssätze der erneuerbaren
Energien degressiv sind, diese also immer günstiger
werden, garantiert der sogenannte Contract for Diffe-
rence den Betreibern von Hinkley Point C beispielsweise
eine höhere Vergütung als hierzulande aktuell Strom aus
Windkrafträdern. Dieser über 35 Jahre garantierte Atom-
strompreis ist aber nicht degressiv, sondern soll sich
inflationsbedingt sogar noch erhöhen. Zudem gibt die
britische Regierung dem Betreiberkonsortium eine
Kreditgarantie über 22 Milliarden Euro und garantiert
Ausfallzahlungen, sollten sich durch politische Entschei-
dungen Rahmenbedingungen für die Atomenergiepro-
duktion verschlechtern. Angesichts des offensichtlich
nötigen gigantischen Ausmaßes des Förderpakets für
eine solch alte Technologie kann man klar feststellen,
dass hier kein Versagen des britischen Strommarkts vor-
liegt, sondern ein Technologieversagen.
Im Gegensatz zur Förderung der erneuerbaren Ener-
gien richtet sich die geplante Unterstützung auch nicht
an eine Vielzahl konkurrierender Anbieter, sondern an
einen einzigen Betreiber. Diese einseitige Atomenergie-
förderung wird aber aller Wahrscheinlichkeit nach Nach-
teile für Erneuerbare-Energien-Anbieter nicht nur in
Großbritannien, sondern auch in anderen EU-Ländern
haben, vor allem wenn die Stromtrassen zwischen
England und Resteuropa ausgebaut werden. Schließlich
kann der in Hinkley Point C produzierte Strom durch die
hohe Förderung besonders günstig angeboten werden
und sogar bei negativen Marktpreisen Gewinne erzielen.
Zu bedenken ist weiterhin, dass andere EU-Länder,
die den Bau von Atomkraftwerken planen oder in Erwä-
gung ziehen, von der Entscheidung der EU-Kommission
eher in ihrem Vorhaben bestärkt als abgeschreckt wer-
den. Hinkley Point C kann so zum Präzedenzfall werden.
Die beiden weiteren schon im Bau befindlichen AKW-
Projekte in Finnland und Frankreich haben aufgrund der
Vielzahl der Probleme – zum Beispiel beim Reaktor-
druckbehälter im französischen Flamanville –, der
explodierenden Kosten und der sich immer weiter nach
hinten verschiebenden Inbetriebnahme sicher keinen
starken Anreizcharakter.
Aufgrund der aufgeführten Argumente und meines
langjährigen Engagements gegen Atomenergie bin ich
ein entschiedener Gegner des Reaktorneubaus Hinkley
Point C. Aus meiner Sicht handelt es sich um eine fatale
Entscheidung. Daher habe ich Verständnis für die Moti-
vation, die hinter den Anträgen der Fraktionen Die Linke
und Bündnis 90/Die Grünen steht. Beide wollen damit
versuchen, das Projekt doch noch zu verhindern. Ich
kann daher nicht gegen diese Anträge bzw. für die Be-
schlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und
Energie stimmen. Allerdings muss an dieser Stelle auch
gesagt werden, dass die heutige Abstimmung im Deut-
schen Bundestag nicht über die Realisierung oder Nicht-
realisierung von Hinkley Point C entscheidet. Auch eine
Entscheidung für eine Klage ändert nichts an dem Vor-
haben.
Es ist auch nicht eindeutig klar, wie die Aussicht auf
Erfolg bei einer Nichtigkeitsklage ist und welche Folgen
eine solche Klage für das weitere Handeln der EU be-
züglich der deutschen Erneuerbare-Energien-Förderung
haben wird. Die Experten der Anhörung im Wirtschafts-
ausschuss kamen hier nicht zu einer eindeutigen
Meinung. Die Kommission hat bei Beihilferechtsfragen
schließlich einen großen Ermessensspielraum. Eine
Klageniederlage würde die Präzedenzwirkung der Kom-
missionsentscheidung noch weiter festigen.
Viel wichtiger als den beihilferechtlichen Klageweg
gegen ein AKW-Projekt anzustrengen, ist es, sich auf
politischer Ebene innerhalb der EU gezielt für einen
europäischen Atomausstieg zu engagieren, das heißt
EU-Partner zu überzeugen, dass Atomenergie keine Zu-
kunft hat.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015 11229
(A) (C)
(D)(B)
Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Atomenergie ist der
falsche Weg. Subventionen dafür sind rückwärtsge-
wandt. Ziel muss ein europäischer Ausstieg aus der
Atomenergie sein. Die vorliegenden Anträge fordern
aber aus meiner Sicht, gegen geltendes europäisches
Recht zu klagen. Der Europäische Gerichtshof ist hierfür
der falsche Adressat. Wenn wir gesetzliche Regelungen
ändern wollen und müssen, dann ist die gesetzgebende
Ebene gefragt, nicht die rechtsprechende Ebene.
Ende 2014 hat die EU-Kommission die nationalen
Beihilfen genehmigt, die die britische Regierung für
Hinkley Point C vorsieht. Deutschland wird in den vor-
liegenden Anträgen aufgefordert, gegen die Entschei-
dung der EU-Kommission beim EuGH zu klagen.
Die von der britischen Regierung für Hinkley Point C
vorgesehene Förderung ist eine Beihilfe. Das EU-Beihil-
ferecht gesteht der EU-Kommission über Artikel 107
AEUV weite Ermessensspielräume für die Genehmi-
gung von Beihilfen zu. Die Beihilfegenehmigung der
EU-Kommission ist nach Einschätzung der vonseiten
der SPD im Rahmen der öffentlichen Anhörung des
Ausschusses für Wirtschaft und Energie am 17. Juni
2015 benannten Sachverständigen nicht offenkundig
rechtsfehlerhaft. Diese Einschätzung wird auch von der
Bundesregierung geteilt.
Eine Klage gegen die Entscheidung wäre auch mit der
Frage über die Ausgestaltung des Energiemixes der Mit-
gliedstaaten verbunden. Nach Artikel 194 AEUV ist es
das Recht der Mitgliedstaaten, über ihren Energiemix zu
entscheiden. Deutschland hat bei der Förderung erneuer-
barer Energien stets – zu Recht – die nationale energie-
politische Entscheidungskompetenz betont. Dieser
Maßstab sollte auch für den Umgang mit den Energie-
politiken anderer Mitgliedstaaten gelten. Mit der Beihil-
feentscheidung zu Hinkley Point C hat die EU-Kommis-
sion einen weitergehenden Förderrahmen erlaubt, als sie
etwa für erneuerbare Energien in den – für die Mitglied-
staaten nicht verbindlichen – Energie-Beihilfeleitlinien
vorgesehen sind. Vor diesem Hintergrund und auch, weil
sich die EU gemeinsam auf den Ausbau erneuerbarer
Energien verständigt hat, muss zukünftig erst recht ein
breiterer Handlungsspielraum bei der Gestaltung von
Fördersystemen für erneuerbare Energien möglich sein.
Der Atomausstieg in Deutschland ist für mich unum-
kehrbar. Mit der SPD setze ich mich sowohl national als
auch europäisch und international für den Ausstieg aus
der Atomenergie, den Umstieg auf erneuerbare Energien
sowie für mehr Energieeffizienz ein. Eine europäische
Förderung für den Neubau von Atomkraftwerken aus öf-
fentlichen Geldern halte ich für falsch. In den Beratun-
gen zum Europäischen Fonds für strategische Investitio-
nen, EFSI, haben sich zuerst Bundesminister Sigmar
Gabriel und dann auch die gesamte Bundesregierung ge-
gen eine Aufnahme der Förderung von Kernkraftwerken
ausgesprochen. Die Bundesregierung hat erklärt, dass sie
auch im Rahmen weiterer Diskussionen zu den Einzel-
bausteinen der Energieunion eine EU-Förderung oder
gar einen europäischen Förderrahmen für Kernkraft-
werke entschieden ablehnen wird. Der europäische
Atomausstieg ist eine politische Aufgabe, die nicht über
einen beihilferechtlichen Klageweg auf den EuGH abge-
wälzt werden kann und sollte.
Deswegen lehne ich die vorliegenden Anträge ab.
Ulli Nissen (SPD): Der Atomausstieg in Deutsch-
land ist für mich unumkehrbar. Mit der SPD setze ich
mich sowohl national als auch europäisch und internatio-
nal für den Ausstieg aus der Atomenergie, den Umstieg
auf erneuerbare Energien sowie für mehr Energieeffi-
zienz ein. Der europäische Atomausstieg ist insofern
eine politische Aufgabe, die nicht über einen beihilfe-
rechtlichen Klageweg auf den EuGH abgewälzt werden
kann und sollte.
Ich persönlich halte den Neubau des Atomkraftwer-
kes am Standort Hinkley Point für eine falsche Entschei-
dung und für ein falsches Signal. Atomenergie hat keine
Zukunft mehr. Anstatt sich auf einen europaweiten
Atomausstieg zuzubewegen, wird durch den Bau das
Atomzeitalter um Jahrzehnte verlängert.
Der Deutsche Bundestag entscheidet heute aber nicht
über die Realisierung oder Nichtrealisierung von Hink-
ley Point C. Auch eine Entscheidung für eine Klage, wie
in diesen Anträgen gefordert, ändert nichts an dem Vor-
haben der britischen Regierung. Die Beihilfen, um die es
geht, trägt ausschließlich der britische Steuerzahler.
Es ist auch nicht eindeutig klar, wie die Aussicht auf
Erfolg bei einer Nichtigkeitsklage ist und welche Folgen
eine solche Klage für das weitere Handeln der EU be-
züglich der deutschen Erneuerbare-Energien-Förderung
haben wird. Die Kommission hat bei Beihilferechtsfra-
gen einen großen Ermessensspielraum. Eine Klagenie-
derlage würde die Präzedenzwirkung der Kommissions-
entscheidung noch weiter festigen. Wenn Deutschland
nicht gegen die Entscheidung der EU-Kommission zur
Genehmigung der Beihilfe für Hinkley Point C klagt, ist
darin keine Unterstützung von Atomenergie zu sehen.
Genauso liegt in der Ablehnung entsprechender Bundes-
tagsanträge keine Abwendung vom notwendigen Atom-
ausstieg vor. Deshalb stimme ich gegen die Anträge.
Viel wichtiger als eine Klage gegen ein AKW-Projekt
anzustrengen ist es, sich auf EU-Ebene gezielt für einen
europäischen Atomausstieg zu engagieren, das heißt
EU-Partner zu überzeugen, dass Atomenergie keine Zu-
kunft hat.
Zum Hintergrund der genannten Bundestagsanträge:
Ende 2014 hat die EU-Kommission die nationalen
Beihilfen, die die britische Regierung für Hinkley
Point C vorsieht, genehmigt. Mit den genannten Anträ-
gen wird Deutschland aufgefordert, gegen die Entschei-
dung der EU-Kommission beim EuGH zu klagen.
Die von der britischen Regierung für Hinkley Point C
vorgesehene Förderung ist unbestritten eine Beihilfe.
Das EU-Beihilferecht gesteht der EU-Kommission über
Artikel 107 AEUV weite Ermessensspielräume für die
Genehmigung von Beihilfen zu. Die Beihilfe-Genehmi-
gung der EU-Kommission ist nach Einschätzung der
vonseiten der SPD im Rahmen der öffentlichen Anhö-
rung des Ausschusses für Wirtschaft und Energie am
11230 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015
(A) (C)
(D)(B)
17. Juni 2015 benannten Sachverständigen nicht offen-
kundig rechtsfehlerhaft. Diese Einschätzung wird auch
von der Bundesregierung geteilt.
Eine Klage gegen die Entscheidung der EU-Kommis-
sion erhielte insbesondere vor diesem Hintergrund eine
politische Dimension, zumal hiermit auf die britische
Entscheidung über die Ausgestaltung ihres Energiemi-
xes eingegangen wird. Nach Artikel 194 AEUV ist es
das Recht der Mitgliedstaaten, über ihren Energiemix zu
entscheiden. Deutschland hat bei der Förderung erneuer-
barer Energien stets – zu Recht – die nationale energie-
politische Entscheidungskompetenz betont. Dieser
Maßstab sollte auch für den Umgang mit den Energiepo-
litiken anderer Mitgliedstaaten gelten. Mit der Beihilfe-
entscheidung zu Hinkley Point C hat die EU-Kommis-
sion einen weitergehenden Förderrahmen erlaubt, als sie
etwa für erneuerbare Energien in den – für die Mitglied-
staaten nicht verbindlichen – Energie-Beihilfeleitlinien
vorgesehen sind. Vor diesem Hintergrund und auch, weil
sich die EU gemeinsam auf den Ausbau erneuerbarer
Energien verständigt hat, muss zukünftig erst recht ein
breiterer Handlungsspielraum bei der Gestaltung von
Fördersystemen für erneuerbare Energien möglich sein.
Klar ist aber auch, dass es eine europäische Förderung
für den Neubau von Atomkraftwerken aus öffentlichen
Geldern nicht geben darf. In den Beratungen zum Euro-
päischen Fonds für strategische Investitionen, EFSI, ha-
ben sich zuerst Bundesminister Sigmar Gabriel und dann
auch die gesamte Bundesregierung explizit gegen eine
Aufnahme der Förderung von Kernkraftwerken ausge-
sprochen. Die Bundesregierung hat erklärt, dass sie auch
im Rahmen weiterer Diskussionen zu den Einzelbaustei-
nen der Energie-Union eine EU-Förderung oder gar ei-
nen europäischen Förderrahmen für Kernkraftwerke ent-
schieden ablehnen wird.
Aus diesen Gründen lehne ich die oben angegebenen
Anträge ab.
Anlage 15
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Transparenzinitiative
der Europäischen Kommission mitgestalten –
Bewährte Standards im Handwerk und in den
Freien Berufen erhalten (Tagesordnungspunkt 15)
Astrid Grotelüschen (CDU/CSU): Die Europäische
Kommission hat 2011 einen Vorschlag zur Modernisie-
rung der Richtlinie über die Anerkennung von Berufs-
qualifikationen vorgelegt. Die Umsetzung in nationales
Recht hat bis zum 18. Januar 2016 zu erfolgen.
Wir, die CDU/CSU-Fraktion, wollen diesen Prozess
im eigenen Interesse begleiten und natürlich auch die
Bundesregierung in den entscheidenden Punkten unter-
stützen.
Grundsätzlich ist die Absicht der Kommission zu be-
grüßen, den Binnenmarkt zu stärken und die Mobilität
der Arbeitnehmer zu erleichtern. Aus deutscher Sicht ist
gleichzeitig hervorzuheben, dass nur eine gute Qualität
der Dienstleistungen den Binnenmarkt und die Innova-
tionsstärke Europas wirklich unterstützen kann. Hierbei
ist der Verbraucherschutz für den Bürger das entschei-
dende Kriterium für die Akzeptanz europäischer Rege-
lungen bei den Bürgern.
Bei der Erarbeitung des Antrags ist mir sehr bewusst
geworden, dass es die zentrale Herausforderung sein
wird, das richtige Verhältnis zwischen der Regulierung
und Harmonisierung der Märkte zu finden. In diesem
Zusammenhang ist es bedeutsam, dass die anerkannt
hohe Qualität der deutschen Produkte und Dienstleistun-
gen erhalten bleibt. Genau aus diesen Gründen wollen
und müssen wir mit Augenmaß den Leistungs- und Qua-
litätswettbewerb im deutschen Mittelstand fördern.
Nicht nur laut Statistik haben die Freien Berufe eine
wichtige ökonomische Bedeutung, die sich auch anhand
aktueller Zahlen 2015 weiterhin positiv darstellt: ein Zu-
wachs von knapp 3,5 Prozent bei den Selbstständigen;
knapp 4,8 Millionen Menschen sind als Selbstständige
oder Beschäftigte tätig, darunter – und das ist ein neuer
Höchststand – 122 000 Auszubildende; ein erwirtschaf-
teter Jahresumsatz von rund 381 Milliarden Euro.
Aber Freiberufler sind mehr als Kennziffern. Sie ste-
hen als Ärzte, Hebammen, Psychologen, Rechtsanwälte,
Wirtschaftsprüfer, Ingenieure, Architekten, Journalis-
ten, Wissenschaftler und viele weitere Berufssparten für
eine Kultur von Unternehmertum, gesellschaftlicher
Verantwortung und Leistungsbereitschaft. Vor allem
aber sind ihre Dienstleistungen und Produkte ein bei-
spielhafter Ausdruck des hohen Standards „Made in
Germany“. Damit tragen sie wesentlich zur Wirtschafts-
kraft in Deutschland und auch in Europa bei.
Niemand in der Union, aber auch bei den freien Beru-
fen selbst verschließt sich einer vernünftigen Moderni-
sierung, wenn sie das Gemeinwohl im Blick behält. Des-
halb müssen wir auch darauf achten, dass nicht an
sensiblen Stellen die Weichen falsch gestellt werden. Be-
währte Standards im Handwerk und in den Freien Beru-
fen müssen in einem zukunftsfesten europäischen Bin-
nenmarkt erhalten bleiben.
In diesem Zusammenhang ist es besonders wichtig,
dass wir als nationales Parlament immer wieder betonen,
dass die Frage der Reglementierung der Berufe eine au-
tonome Entscheidung der Mitgliedstaaten ist. Wenn also
in Brüssel Deregulierungspotenziale identifiziert wer-
den, gilt es aufzupassen. Unser Credo dabei ist, dass wir
auf ein nachhaltiges Wachstum hinwirken und Chancen
in einem Wettbewerb um die beste Qualität nutzen. Kon-
sequenterweise muss also der Spagat zwischen Förde-
rung eines Leistungswettbewerbs auf der einen und Er-
halt von Standards auf der anderen Seite bewältigt und
hier ein Weg gefunden werden.
Besonders relevant für Deutschland ist auch das
Thema Fachkräftemangel, unter anderem hervorgerufen
durch die demografische Entwicklung. Daher erhält die
Mobilität von EU-Bürgern eine besonders starke Bedeu-
tung, weil nur so die Bürger ihre Qualifikationschancen
gut nutzen können. Für Deutschland ist diese Art von
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015 11231
(A) (C)
(D)(B)
Mobilität zentral, weil wir so den Fachkräftemangel et-
was kompensieren können. Es darf aber keineswegs ver-
gessen werden, dass Deutschland ausgezeichnete Struk-
turen der beruflichen Bildung hat. Der Berufszugang
– an die Qualifikation gebunden – und die handwerkli-
che Ausbildung sind Vorbilder in der EU.
Damit möchte ich abschließend den Fokus auf einen
– mir sehr wichtigen – Qualitätsstandard lenken:
Deutschland hat ausgezeichnete Strukturen in der be-
ruflichen Bildung. Der Berufszugang, der bei uns an die
Qualifikation und an die handwerkliche Ausbildung ge-
bunden ist, ist vorbildlich in der EU. Deshalb müssen
wir diese positiven Aspekte betonen, und sie müssen
auch mit entsprechenden statistischen Zahlen belegt
werden.
In diesem Kontext ist zum Beispiel auch die OECD-
Studie „Skills Outlook 2015“ zu nennen, die belegt, dass
der Anteil 15- bis 29-Jähriger mit höherem Schulab-
schluss, die weder in Beschäftigung noch in Ausbildung
sind, in Deutschland mit 5,7 Prozent so gering wie in
kaum einem anderen OECD-Land ist.
Mit unserem Koalitionsantrag und dieser heutigen
Diskussion soll verdeutlicht werden, dass die laufende
Evaluierung in der EU auf eine Vergleichbarkeit der Be-
rufszugangs- und Berufsübergangsreglementierungen
zwischen den EU-Mitgliedstaaten hinauslaufen wird. Es
ist unsere zentrale Aufgabe in diesem Prozess, Qualitäts-
standards als strukturellen Wettbewerbsvorteil zu begrei-
fen und zu bewahren.
In diesem Sinne werde ich mich auch in Zukunft für
einen selbstbewussten und selbstständigen Mittelstand in
Deutschland und in Europa einsetzen.
Barbara Lanzinger (CDU/CSU): Die Freien Berufe
und das Handwerk leisten wichtige Beiträge für unsere
Wirtschaft und unsere Gesellschaft. Sie stehen mit ihrer
großen Breite und Vielfalt beruflicher Tätigkeiten für
eine Kultur von Unternehmertum und Leistungsbereit-
schaft, für Innovation und Wachstum sowie für Arbeits-
und Ausbildungsplätze. Allen voran stehen sie jedoch
für unsere hohen Qualitätsstandards „Made in Germany“
und sind dadurch zentraler Bestandteil für die Wohlfahrt
unseres Landes.
Darüber hinaus übernehmen die Freien Berufe und
das Handwerk auch eine besondere gesellschaftliche
Verantwortung, etwa als Ärzte und Rechtsanwälte oder
Ingenieure und Architekten sowie bei handwerklichen
Berufen, die es zu bewahren gilt. Durch die hohen Qua-
litätsanforderungen schaffen sie das notwendige Ver-
trauen für die Verbraucher und sorgen für Sicherheit und
Entlastung bei wirtschaftlichen Gefahren. Sie stellen da-
mit in besonderer Weise die Ideale des selbstständigen
Mittelstands dar.
Um diese Grundlage unseres wirtschaftlichen Erfolgs
– die Qualität – auch weiterhin auf einem hohen Niveau
halten zu können, benötigen die Freien Berufe und das
Handwerk qualifiziertes Personal. Sie sind nach der In-
dustrie der größte Ausbildungs- und Arbeitgeberbereich
und gelten dadurch als tragende Säule unseres Ausbil-
dungssystems. Damit wirken die Freien Berufe und das
Handwerk maßgeblich an einer geringeren Jugendar-
beitslosigkeit sowie einem hohen Bildungsniveau in
Deutschland mit.
Diese Qualität kann jedoch nur gewährleistet werden,
wenn wir die Reglementierung unseres Berufszugangs
weiterhin aufrechterhalten. Hierzu zählt auch, das be-
währte Instrument der Selbstverwaltung und der Kam-
mern zu schützen. Die Ausübung bestimmter besonders
verantwortungsvoller und gefahrengeneigter Tätigkei-
ten darf nur unter dem Vorbehalt einer fachspezifischen
Qualifikation erfolgen. Nicht umsonst gilt das deutsche
marktkonforme Regelungssystem als eines der wesentli-
chen Grundlagen für unsere überdurchschnittlich gute
Wirtschafts- und Beschäftigungslage.
Dies bestätigt auch die von der Kommission in Auf-
trag gegebene Studie des CSES (Centre for Strategy &
Evalution Services): Der Abbau der Berufsreglementie-
rung führt nicht zu mehr Wachstum und Beschäftigung.
Ganz im Gegenteil, Zulassungsstrukturen können sogar
eine positive ökonomische Wirkung hervorrufen. Damit
wird die Richtigkeit des Regulierungsansatzes bestätigt.
Wir unterstützen, ebenso wie der Bundesrat, eine
Evaluierung der Zugangsstrukturen der reglementierten
Berufe in der EU und werden diesen Prozess aktiv be-
gleiten. Zugleich weisen wir jedoch auch darauf hin,
dass – und das betone ich – eine Überprüfung nicht mit
Maßnahmen wie einer Deregulierung des Berufszugangs
einherzugehen hat. Die Kompetenz zum Erlass von Re-
gelungen über den Berufszugang muss bei den einzelnen
Mitgliedstaaten selbst liegen. Wir dürfen nicht zulassen,
dass unser System gänzlich infrage gestellt wird.
Deshalb begrüße ich es sehr, dass die deutsche Regie-
rung in ihrem Schreiben vom 10. März 2015 unsere
Positionen unterstreicht. Sie weist zu Recht darauf hin,
dass verbindliche Vergütungssätze für Architekten und
Ingenieure die hohe Qualität der Dienstleistungen si-
chern und zudem auch dem Schutz der Dienstleistungs-
empfänger und Verbraucher und damit letztendlich auch
dem Gemeinwohl dienen. Diese Aspekte zeigen damit
auch deutlich, dass die HOAI einen zwingenden Grund
des Allgemeininteresses – allem voran den Schutz der
Verbraucher – darstellt und damit eindeutig die Bedin-
gungen des Artikels 15 Absatz 3 b der Dienstleistungs-
richtlinie erfüllt.
Denken Sie einmal an Ihre Kinder, die in den Kinder-
garten oder die Grundschule gehen. Gerade hier sind
präzise ausgearbeitete Planungen und qualitativ hoch-
wertig ausgeführte Bau- und Ingenieursleistungen von
zentraler Bedeutung. Daher sehe ich es als unsere Auf-
gabe und Pflicht an, dass diese Qualität und dieser
Schutz der Verbraucher gewahrt und entsprechend hono-
riert werden müssen.
Die Weiterentwicklung unserer Märkte ist ein wichti-
ges Gut für die europäische Wirtschaft; sie darf jedoch
nicht auf Kosten unserer wertvollen Standards und unse-
rer Qualität gehen. „Made in Germany“ ist nicht ohne
Grund in der Welt hochbeliebt. Und Deutschland hat
11232 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015
(A) (C)
(D)(B)
nicht ohne Grund aktuell den größten Exportüberschuss
auf der Welt.
Deshalb muss es auch weiterhin unser Ziel sein, die
Freien Berufe und das Handwerk zu unterstützen und die
entsprechenden Rahmenbedingungen für unsere hohen
Qualitätsstandards zu bewahren. Unser erfolgreicher
Mittelstand ist der Wachstumsmotor unserer Marktwirt-
schaft. Um dies weiterhin gewährleisten zu können, ist
ein wesentlicher Aspekt die Aufrechterhaltung unserer
Berufszugangsstruktur.
Sabine Poschmann (SPD): Das Thema, über das
wir heute reden, ist uns bestens vertraut: Erst vor weni-
gen Monaten, im Dezember, haben wir uns an gleicher
Stelle mit guten Argumenten für den Erhalt des Meister-
briefes im Handwerk starkgemacht. Wir haben deutlich
werden lassen, dass wir die Bundesregierung bei den
Verhandlungen mit der EU-Kommission zur Bewertung
nationaler Reglementierungen für den Berufszugang un-
terstützen. Daran hat sich nichts geändert.
Ja, wir möchten vergleichen, welche Berufe in den
einzelnen Mitgliedstaaten wie stark reglementiert sind.
Ja, wir möchten, dass Hemmnisse so weit wie möglich
abgebaut und ausländische Fachkräfte ermuntert wer-
den, nach Deutschland zu kommen. Das alles liegt in
unserem eigenen Interesse. Was wir allerdings nicht
möchten, ist, dass unsere hohen und bewährten Quali-
tätsstandards durch neue Regeln aufgeweicht werden
und in eine Abwärtsspirale geraten.
Das gilt sowohl für das Handwerk als auch für die
freien Berufe. Deshalb haben wir heute unseren Antrag
vorgelegt. Die EU-Kommission bemängelt, die Freien
Berufe in Deutschland seien zu stark reguliert. Konkret
geht es um die Honorar- und Gebührenordnungen für
Steuerberater, Architekten und Ingenieure. Sie behindern
angeblich das Wirtschaftswachstum und würden auslän-
dischen Dienstleistern den Zutritt zum deutschen Markt
erschweren.
Ich glaube, dass die Bundesregierung bei ihren Ver-
handlungen viele gute Argumente hat, am bewährten
System festzuhalten. Denn es ist richtig und gerechtfer-
tigt. Es geht nicht darum, Pfründe für einzelne Berufs-
stände zu sichern. Es geht darum, Rechtssicherheit und
Transparenz herzustellen, ruinösen Preiswettbewerb zu
verhindern und Verbraucher zu schützen.
Das dient sowohl dem Freiberufler als auch seinem
Kunden. Beiden Seiten bietet die Gebührenordnung eine
gute und zuverlässige Orientierung, die zeigt, welchen
Wert die Arbeit des Steuerberaters oder des Architekten
hat. Ich möchte nicht erleben, wie eine ungeübte Häusle-
bauerfamilie mit einem versierten Architekturbüro frei-
händig um Preise feilschen muss. Ebenso wenig möchte
ich erleben, wie sich ein junger Steuerberater oder Ar-
chitekt dem Preisdiktat von Großkunden beugen muss.
Damit würde ein Verdrängungswettbewerb in Gang ge-
setzt, der große Zusammenschlüsse provoziert. Der ge-
wachsenen Landschaft aus kleinteiligen Büros und Pra-
xen mit wohnortnaher Versorgung aber fügt er massiven
Schaden zu.
Wir wollen genau das Gegenteil. Wir wollen Exis-
tenzgründungen und Selbstständigkeit fördern. Mit un-
serem Antrag machen wir deutlich, welchen Stellenwert
ein qualitätsvolles, freiberufliches Engagement in einer
modernen Dienstleistungsgesellschaft hat. Die Selbst-
verwaltung der Freien Berufe funktioniert. Es gibt auch
keine Rechtsunsicherheit: Dass die HOAI, die Honorar-
ordnung für Architekten und Ingenieure, mit EU-Recht
vereinbar ist, haben uns bereits 2013 mehrere Gutachten
bestätigt. Der Europäische Gerichtshof ist in eine ähnli-
che Richtung gegangen.
Die SPD wird sich Harmonisierungen zwischen den
EU-Staaten nicht verschließen. Aber die Angleichungen
müssen notwendig und sinnvoll sein. Und sie müssen
dem Gemeinwohl dienen.
Leider ist das nicht immer der Fall – ebenso wenig
wie die Annahme richtig ist, dass eine Liberalisierung
per se nachhaltiges Wachstum auslöst. Zwar hat die Auf-
hebung der Meisterpflicht in vielen Handwerksberufen
dazu geführt, dass sich die Zahl der zulassungsfreien Be-
triebe fast um das Dreifache erhöht hat, auf 232 000. Die
Kehrseite des Gründerbooms haben wir aber auch aus-
führlich beleuchtet: viele Soloselbstständige mit gerin-
ger Wettbewerbsfähigkeit, wenig Personal, kaum Auszu-
bildende. Damit ist niemandem gedient.
Wir sehen auch keinen Bedarf, Anwalts- und Steuer-
beratungskanzleien für Finanzinvestoren, Banken oder
Supermarktketten wie in England zu öffnen. Ich möchte
mich als Mandant keinem Anwalt anvertrauen, von dem
ich nicht weiß, ob er meine Interessen vertritt oder viel-
leicht doch die Renditeabsichten seines Mitinhabers. Ich
möchte keinem Steuerberater gegenübersitzen, bei dem
ich fürchten muss, dass meine vertraulichen Daten auch
für seinen Geldgeber von Nutzen sein könnten.
Es gibt gute Gründe für das Verbot der Fremdkapital-
beteiligung in Deutschland. Wer dieses Verbot aufhebt,
legt die Axt an das Vertrauensverhältnis zwischen Man-
dant und Anwalt. Mehr noch: Er erschüttert das Ver-
trauen in unseren Rechtsstaat – nämlich dann, wenn
auch nur der Anschein entsteht, dass die Durchsetzung
der Ansprüche eines Mandanten durch einen Konflikt
mit dem Investor berührt wird. Rechtsrat darf keinem
wirtschaftlichen Diktat unterliegen und zu einer Ware
verkommen!
Es gibt in Deutschland rund 1,2 Millionen selbststän-
dige Freiberufler. Sie beschäftigen 3,3 Millionen Mitar-
beiter und erwirtschaften 10,1 Prozent des Bruttoinlands-
produkts. Wir alle wissen, dass wir uns künftig noch
stärker in Richtung Dienstleistungsgesellschaft orientie-
ren werden. Lassen Sie uns gemeinsam dafür sorgen,
dass diese vielen Selbstständigen ihre Produkte und
Leistungen auch weiterhin sach- und fachgerecht und in
hoher Qualität erstellen können. Denn sie dienen dem
Gemeinwohl.
Klaus Ernst (DIE LINKE): Um was geht es in die-
sem Antrag der Großen Koalition? Die EU-Kommission
will mit Blick auf einen einheitlichen europäischen Bin-
nenmarkt die regulierten Berufe unter die Lupe nehmen.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015 11233
(A) (C)
(D)(B)
Sollte ein Mitgliedstaat eine unverhältnismäßige Regu-
lierung beibehalten wollen, droht die Kommission, ein
Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten. Union und
SPD machen sich deshalb Sorgen um den qualifikations-
gebundenen Berufszugang und die handwerkliche Aus-
bildung.
Das Bekenntnis der Bundesregierung zum bewährten
dualen Ausbildungssystem und zu guter Qualifikation ist
begrüßenswert. Doch leider scheint sich die Bundesre-
gierung bei der Handwerkspolitik darauf zu beschränken,
alle halbe Jahre einen Schaufensterantrag ins Plenum ein-
zubringen. Das ist zu wenig. Eine viel differenziertere
Betrachtung ist notwendig. Denn: Die beste Art, das
Handwerk zu schützen, wäre es, bestehende Probleme
anzuerkennen und die sich daraus ergebenden Aufgaben
anzugehen.
Ihre Schaufensteranträge können nicht davon ablen-
ken, dass Sie sich erstens seit Jahren weigern, die Hand-
werksnovelle von 2004 zu evaluieren. Zweitens reagie-
ren Sie nicht auf die immer lauter werdende Kritik an
den Handwerkskammern und an der Pflichtmitglied-
schaft.
Zunächst zur Handwerksnovelle. Kern der damaligen
Gesetzesänderungen war es, die Meisterpflicht als
Voraussetzung zur selbstständigen Berufsausübung in
53 Gewerken aufzuheben. Das war über die Hälfte der
Gewerke. Für diese Bereiche ist nun nicht einmal mehr
ein Gesellenbrief notwendig. So braucht heute ein Maler
und Lackierer einen Meisterbrief, ein Fliesenleger nicht.
Ein Feinwerkmechaniker muss Meister sein, ein Uhrma-
cher nicht. Damals forderte die Union in einem Antrag:
„... ist für alle Berufe im ersten Abschnitt der Anlage B
sowohl die Gesellenprüfung als auch der Leistungsnach-
weis ausreichender Ausbilderqualitäten zur Existenz-
gründung obligatorisch festzuschreiben“. Sie forderten
auch eine Revisionsklausel. Alle sieben Jahre sollte die
geltende Liste der Meisterberufe überprüft werden.
Nichts davon ist passiert.
Nun ähnelt das Ziel der EU-Kommission heute dem
Ziel von Rot-Grün damals. Es geht um mehr Wachstum
und um mehr Beschäftigung durch Liberalisierung. Was
jedoch genau die Ergebnisse der Liberalisierung damals
waren, wissen wir nicht. Eine Studie des Volkswirt-
schaftlichen Instituts für Mittelstand und Handwerk an
der Universität Göttingen zeigt aber, dass sich weit mehr
meisterpflichtige Betriebe fünf Jahre nach Gründung er-
folgreich am Markt behauptet haben als zulassungsfreie
Betriebe.
Im nicht mehr meisterpflichtigen Fliesen-, Platten-
und Mosaiklegerhandwerk sank die Zahl der Gesellen-
prüfungen von 1 665 im Jahr 2003 auf 658 im Jahr 2010.
Im gleichen Zeitraum gingen die Meisterprüfungen von
557 auf 84 zurück.
In anderen Bereichen wiederum mag der Meistervor-
behalt gemessen an den beiden Kriterien Gefahrenge-
neigtheit und Ausbildungsleistung weniger sinnvoll sein.
Oder möglicherweise werden die Ausnahmeregelungen
nicht so großzügig angewandt, wie es das Bundesverfas-
sungsgericht aufgrund des Eingriffs in die Freiheit der
Berufswahl anmahnte. Für all diese offenen Fragen
bräuchte es endlich eine gründliche Evaluierung.
Nun zum zweiten Punkt: der Selbstverwaltung im
Handwerk. Seit Inkrafttreten der Handwerksordnung
1953 fanden in den 53 Handwerkskammern bis auf drei
Ausnahmen keine wirklichen Wahlen statt, da es keine
konkurrierenden Listen gab. Das ist zugegebenermaßen
der Stand von 2012, es dürfte sich jedoch nicht viel
geändert haben. Dies steht im Widerspruch zum in der
Wahlordnung benannten Regelfall, der von der Zulas-
sung von mehreren Wahlvorschlägen und der Durchfüh-
rung einer Briefwahl ausgeht.
Anstatt sich hier Gedanken zu machen, wie mit dem
Problem der nicht stattfindenden Wahlen zur Vollver-
sammlung umzugehen ist, sprechen Sie von einer durch
die Wahl der Kammervorstände demokratisch legiti-
mierten Selbstverwaltung. Das ist peinlich!
Gerade durch die Pflichtmitgliedschaft sollten die
Handwerkskammern in besonderem Maße demokrati-
schen Prinzipien genügen und transparent organisiert
sein. Doch es gibt kaum Veröffentlichungspflichten. Und
die Beitragsgestaltung sowie der Betätigungsumfang der
Kammern sind für viele Pflichtmitglieder nicht nachvoll-
ziehbar. Sie als Gesetzgeber sind in der Pflicht, das anzu-
gehen.
Auch hat das Bundesverfassungsgericht in seinem
Nichtannahmebeschluss zum Thema Pflichtmitglied-
schaft vom Dezember 2001 geschrieben, dass der Ge-
setzgeber verpflichtet ist, regelmäßig zu überprüfen, ob
die Voraussetzungen für den Grundrechtseingriff noch
vorliegen. Tatsächlich ist dies aber seit 1998 nicht mehr
passiert. Zur Rechtfertigung wird allerdings von Kam-
mern und Gerichten auf eine vermeintliche „inzidente“
bzw. „konkludente“ Bestätigung durch den Bundestag
verwiesen. Das heißt, wenn der Bundestag sich gegen
die Pflichtmitgliedschaft hätte aussprechen wollen, hätte
er das im Rahmen mit der Beschäftigung mit anderen
Anträgen zu den Kammern ja tun können.
Ich bin mir nicht sicher, inwieweit dieser Antrag wie-
derum Grundlage für diese angebliche konkludente Be-
stätigung sein soll. Ist das der Fall, kann ich nur sagen:
Diese impliziten Wege sind ein Unding! Wir brauchen
eine echte Überprüfung, ob die Voraussetzungen für den
Grundrechtseingriff noch vorliegen. Genauso brauchen
wir eine echte Überprüfung der Handwerksnovelle.
Zum Schluss möchte ich noch die Erkenntnis der
Bundesregierung hervorheben, dass eine „Deregulierung
im Handwerk ... nicht zu nachhaltig mehr Wachstum und
Beschäftigung“ führt. Ich empfehle Ihnen, diese Er-
kenntnis auch auf andere Felder anzuwenden – etwa auf
die geplanten Freihandelsabkommen CETA und TTIP.
Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Sie legen uns hier mal wieder einen Antrag mit
dem Credo, es möge alles so bleiben, wie es ist, vor. Für
die Große Koalition ist das im Prinzip keine Überra-
schung. Allerdings ist es wie so oft: Offenkundige Pro-
bleme werden nicht angepackt, sondern schlicht negiert.
11234 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015
(A) (C)
(D)(B)
Dass Sie sich an einigen Stellen beim Forderungstext
wieder einmal fast eins zu eins an einschlägige Bran-
chenzuschriften gehalten haben, ist auch nichts Neues
und spricht nach wie vor nicht für Sie und Ihre wirt-
schaftspolitische Kompetenz. Ich hatte es bereits in einer
früheren Debatte zum Handwerk gesagt: Einfach Kon-
zepte aus den Interessenverbänden zu übernehmen,
springt zu kurz.
Ich sage ganz ausdrücklich: Ja, eine gute und an-
spruchsvolle Regulierung von Berufen und Berufsquali-
fikationen ist wichtig – für die Qualität erbrachter Leis-
tungen und damit auch für den Verbraucherschutz. Aber
anders als die Koalition sehe ich durchaus Baustellen,
gerade in Bezug auf die Regulierung der im Antrag an-
gesprochenen Berufsgruppen:
Nehmen Sie den Teilbereich der Freien Berufe. Steu-
erberater haben das Recht, Umsatzsteuervoranmeldun-
gen für ihre Mandanten zu erstellen und abzugeben. Die-
ses Recht haben selbstständige Bilanzbuchhalterinnen
und Bilanzbuchhalter nicht. Sie dürfen zwar die Um-
sätze in ein Programm buchen, und dieses Programm
errechnet dann automatisch die Umsatzsteuervoranmel-
dung, aber auf den Knopf zum Abschicken der Voran-
meldung an das Finanzamt dürfen die Buchhalter nicht
drücken. Diese völlig praxisferne Regelung ist nichts
weiter als eine Reglementierung zum Schutz einer Be-
rufsgruppe vor Wettbewerb. Und sie bedeutet einen un-
nötigen Verwaltungsvorgang, das heißt unnötige Büro-
kratie. Weil diese Regelung durch die Digitalisierung
schlicht lebensfremd und überholt ist, sehen wir Verbes-
serungsbedarf im Sinne eines stärkeren Wettbewerbs,
von dem dann auch und gerade die auftraggebenden Un-
ternehmen profitieren werden.
Nehmen Sie das Handwerk. Zu Recht loben Sie die
duale Ausbildung und ihren Beitrag zur guten wirt-
schaftlichen Entwicklung in der BRD. Aber dennoch bin
ich der Auffassung, dass wir an der Handwerksordnung
durchaus feilen können, um eben nicht durch teilweise
praxisferne und wettbewerbsfeindliche Regulierung eine
noch bessere Entwicklung hin zu mehr Innovationen zu
verhindern.
Kürzlich musste ein Gericht in Lübeck feststellen,
dass eine Tortendesignerin eben keine Handwerkerin ist
und deswegen auch keinen Meisterbrief braucht. Treiber
der Klage waren unter anderem die örtliche Verwaltung
und auch die örtliche Kammer. Damit solche ärgerlichen
Vorgänge nicht immer wieder auftreten, kann man zum
Beispiel das Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz ändern
und schlicht den Punkt streichen, wo es um unerlaubte
Handwerksausübung geht. Das Handwerksrecht reicht
aus, um Zugang und Qualifikation zu den Handwerksbe-
rufen zu reglementieren; wir brauchen hier kein Netz
und doppelten Boden. Auch sollte man sich einmal an-
schauen, ob die Einhaltung der Handwerksordnung nicht
einer objektiveren Prüfung unterzogen werden muss, als
es jetzt in zum Teil eigeninteressengeleiteter Verantwor-
tung geregelt ist.
Auch moderne Handwerksleistungen, wie etwa die
Installation einer Photovoltaikanlage, finden oft im
Graubereich der Handwerksordnung statt, weil rein for-
mal verschiedene Handwerksleistungen wie Dachdecke-
rei, Elektroinstallation oder weitere als Anforderung an
diese Dienstleistung gestellt werden. Die Verschränkung
der Gewerke erfordert eine Neuregelung dieser überlap-
penden Verantwortungen. Wir brauchen dringend einen
Streitbeilegungsmechanismus zwischen den Gewerken,
denn die fehlende Abstimmung führt am Ende zu Quali-
tätsverlusten der Handwerksleistung und schadet damit
dem gesamten Handwerk. An dieser Stelle müssen mehr
Klarheit und Rechtssicherheit geschaffen werden.
Dies waren nur wenige Beispiele. Sie zeigen: Man
muss sich mit neuen Entwicklungen auseinandersetzen
und nicht den Stillstand als Fortschritt preisen. Die
EU-Kommission hat mittlerweile den ersten Schritt ei-
nes Vertragsverletzungsverfahrens gegen Deutschland
eingeleitet, weil sie die Honorarordnung in bestimmten
Freien Berufen für EU-rechtswidrig hält. Ich finde in Ih-
rem Antrag keine Antwort auf diese Entwicklung.
Wir brauchen auch Antworten auf die Frage, wie wir
die Dienstleistungsfreiheit in der EU als eine der vier
Grundfreiheiten so ausgestalten, dass nationale Stan-
dards hoch bleiben und gleichzeitig Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer innerhalb der EU mobiler werden.
Wir haben das Problem, dass Inländer teilweise schwie-
riger Dienstleistungen erbringen können als Wettbewer-
ber aus der EU. Auch hier brauchen wir dringend um-
setzbare Lösungen.
Es reicht nicht aus, mit schönen Worten den Status
quo zu preisen. Als Regierungsfraktion haben Sie die
Verantwortung, Antworten auf die wirtschaftspolitischen
Fragen des Landes zu erarbeiten. Weil dem aber nicht so
ist, können wir Ihrem Antrag einfach nicht folgen; dazu
ist er schlicht zu dünn, und wir werden uns enthalten.
Anlage 16
Zu Protokoll gegebene Rede
zur Beratung des Antrags: Jemen – Militärische
Intervention stoppen – Neue Friedensverhand-
lungen beginnen (Tagesordnungspunkt 14)
Niels Annen (SPD): Die Lage im Jemen ist drama-
tisch. Das ärmste Land der arabischen Halbinsel wird
seit mehr als 15 Jahren durch Gewalt und Bürgerkrieg
erschüttert.
Der Krieg im Jemen steht sinnbildlich für ein weiteres
Versagen der Politik in der gesamten Region. Von dem
kurzen Arabischen Frühling im Jahr 2011/2012, der mit
dem Sturz des Langzeitherrschers Saleh endete, ist
nichts mehr übrig geblieben.
Auf der einen Seite gibt es den innerjemenitischen
Machtkampf zwischen dem Norden mit den Huthi-Re-
bellen und dem Süden des Landes sowie den Anhängern
des Anfang des Jahres ins Exil geflohenen international
anerkannten Präsidenten Hadi – der auch nach unserer
Auffassung weiterhin der legitime Präsident bleibt – und
dem vormaligen Präsidenten Saleh, der nun seine
Chance zur Rückkehr sieht. Auf der anderen Seite sind
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015 11235
(A) (C)
(D)(B)
die alten Bündnisse und Frontstellungen inzwischen
gänzlich überholt. Die neue Gemengelage im Jemen ist
reichlich verwirrend:
Da kämpft der gestürzte Präsident Saleh mit Teilen
der ihm loyal ergebenen Armee an der Seite der Huthis,
obwohl er in seiner Zeit der mehr als 30-jährigen Herr-
schaft mindestens sechs Kriege gegen sie geführt hat.
Gleichzeitig flüchtete sich Präsident Hadi in die Arme
der Saudis, die jetzt eine neue Rolle angenommen ha-
ben: Sie sind nicht länger die Finanziers, die die Geschi-
cke des Landes entscheidend lenken. Sie intervenieren
direkt an der Spitze einer aus zehn arabischen Ländern
bestehenden Koalition, die mit militärischen Mitteln ver-
sucht, den Vormarsch der Huthi-Saleh-Koalition zu stop-
pen und Präsident Hadi wieder in sein Amt einzusetzen.
Daneben mischen der jemenitische Arm von al-Qaida
und andere dschihadistische Gruppen als „dritte Partei“
im Bürgerkrieg mit. Wurden diese in der Vergangenheit
noch von Huthis und dem jemenitischen Sicherheitsap-
parat gemeinsam bekämpft, so nutzen al-Qaida und
Konsorten das jetzt entstandene Machtvakuum und brei-
ten sich weiter im Land aus. Eine zusätzliche Destabili-
sierung des Jemen und der gesamten arabischen Halbin-
sel bedroht nun mehr denn je die Region.
Inzwischen muss man im Jemen von einem maßgeb-
lich durch Saudi-Arabien geführten Interventionskrieg
sprechen. Ein Krieg, der die innere Auseinandersetzung
im Jemen weiter verschärft und das Land noch weiter in
Anarchie und Chaos stürzt. Das neue saudische
Königshaus glaubt offenbar, mit seinem schonungslosen
Luftkrieg die Huthis und ihren Verbündeten, Expräsident
Saleh, in die Knie zwingen zu können.
Nach wochenlangem Bombardement muss man nüch-
tern feststellen: Die Strategie hat erkennbar nicht funk-
tioniert. Stattdessen wurden in den vergangenen drei
Monaten nicht nur militärische Ziele angegriffen. Immer
wieder werden auch zivile Ziele mit zahlreichen Opfern
bombardiert. Dass dabei wichtige Kulturschätze des Je-
men wie Teile der Altstadt Sanaa unwiederbringlich zer-
stört werden, ist nicht hinnehmbar.
Die humanitäre Lage im Jemen ist katastrophal. Von
den rund 24 Millionen Jemeniten sind 80 Prozent auf hu-
manitäre Hilfe angewiesen. 10 Prozent der Bevölkerung
gelten als mangelernährt.
Aktuell wird der humanitäre Zugang zum Jemen
zudem durch die See- und Luftblockade der Militäralli-
anz massiv eingeschränkt. Gleichzeitig stehen die von
Saudi-Arabien angekündigten Mittel in Höhe von
274 Millionen US-Dollar für humanitäre Hilfe weiterhin
aus.
Nach Angaben der Vereinten Nationen sind seit Be-
ginn der Luftangriffe 2 800 Todesopfer und rund 13 000
Verwundete zu beklagen.
Die UN geht zudem von 1 Million Binnenflüchtlin-
gen im Land aus. Zehntausende Jemeniten sind über den
Seeweg zum Beispiel nach Dschibuti und Somalia ge-
flüchtet. Das muss man sich einmal vorstellen: eine
Flucht vom Krieg im Jemen in den „failed state“ Soma-
lia!
Während die Huthis vom Iran unterstützt werden,
wird die von Saudi-Arabien geführte Militärkoalition lo-
gistisch und nachrichtendienstlich insbesondere von den
USA unterstützt. Doch trotz dieser Unterstützung sowie
der Luftangriffe und der Blockade gibt es keinerlei
Hinweise darauf, dass in absehbarer Zukunft ein militä-
rischer Sieg einer der beiden Seiten errungen werden
könnte. Der Vormarsch der Huthi-Saleh-Einheiten in den
Süden des Landes konnte weiterhin nicht gestoppt
werden.
Welche Strategie verfolgen die Saudis im Jemen?
Selbst Militärexperten sind ratlos: Offenbar setzt die
neue saudische Führung einzig auf ihre militärische
Luftüberlegenheit, auf ihre großen finanziellen Ressour-
cen und auf ihr damit angenommenes längeres Durch-
haltevermögen.
Gleichzeitig folgt Saudi-Arabien dem Narrativ eines
Religionskrieges zwischen Sunniten und Schiiten. Das
ist wenig überzeugend und birgt zudem die Gefahr,
Spannungen zwischen Sunniten und Schiiten weiter zu
vertiefen.
Die Huthis sind zwar Saiditen und gehören damit ins
religiöse Spektrum des Schiitentums. Gleichwohl sind
die Huthis immer ihren eigenen Religionsgebräuchen
gefolgt, und dazu gehört insbesondere auch, dass sie mit
den Sunniten des Landes nie wirklich aneinandergeraten
sind.
Denn im Gegensatz zu Saudi-Arabien kennen die
Huthis kein militantes und exklusives Eifertum, wie es
der wahabitischen Glaubensrichtung leider zu eigen ist.
Vielmehr sind die jemenitischen Sunniten und Schiiten
in der Vergangenheit gemeinsam zum Gebet in die
Moschee gegangen.
Auch die These, dass es sich im Jemen um einen
Stellvertreterkrieg zwischen Saudi-Arabien und dem
Iran handelt, halten Experten für – noch – nicht stichhal-
tig.
Es drängt sich vielmehr die Vermutung auf, dass das
militärische Engagement Saudi-Arabiens im Jemen nicht
zuletzt innenpolitisch motiviert und vermeintlichen ira-
nischen Expansionsbestrebungen geschuldet ist. Nichts-
destoweniger ist auch Iran als wichtiger Akteur in der
Region in der Verantwortung. Teheran muss versuchen,
Einfluss auf eine friedliche Lösung im Jemen zu neh-
men.
Die Lage im Jemen kann uns nicht gleichgültig sein.
An erster Stelle brauchen wir eine Waffenruhe, um den
Menschen im Jemen helfen zu können. Dafür brauchen
die Vereinten Nationen uneingeschränkten humanitären
Zugang und die entsprechende finanzielle Ausstattung.
Insbesondere Saudi-Arabien ist hier in der Pflicht, seine
finanzielle Zusage auch einzuhalten.
In diesem Krieg gibt es keine militärische Lösung. Es
benötigt vielmehr einen politischen Konsens aller betei-
ligten Konfliktparteien durch Verhandlungen. Dafür
müssen alle Parteien Zugeständnisse machen. Insbeson-
11236 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015
(A) (C)
(D)(B)
dere gilt dabei, die Huthis nicht weiter systematisch poli-
tisch, wirtschaftlich und religiös zu marginalisieren.
Unser Interesse muss ein stabiler Jemen sein, der al-
Qaida nicht als Rückzugsort dient und die Sicherheit an
einer der am meisten befahrenen Wasserstraßen der
Welt, der Bab al-Mandab, sicherstellt.
Eine politische Einigung mit den Huthis wäre daher
auch im Interesse aller Golfmonarchien, die nichts mehr
als den Zerfall staatlicher Strukturen und instabile Ver-
hältnisse fürchten.
Anlage 17
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– Beschlussempfehlung und Bericht: Durch
Stärkung der Digitalen Bildung Medien-
kompetenz fördern und digitale Spaltung
überwinden
– Antrag: Empfehlungen der Enquete-Kom-
mission „Internet und digitale Gesellschaft“
zur digitalen Bildung umsetzen
(Tagesordnungspunkt 17 und Zusatztagesord-
nungspunkt 7)
Nadine Schön (St. Wendel) (CDU/CSU): Schule lebt
im Hier und Jetzt, um auf das Morgen vorzubereiten.
Das, was wir heute in der Bildungspolitik festlegen und
umsetzen, wird gesellschaftlich wie wirtschaftlich in 10
bis 15 Jahren voll zum Tragen kommen, nämlich dann,
wenn die heutigen Kinder und Jugendlichen ins Berufs-
leben eintreten werden. Und hoffentlich kreativ und ge-
staltend tätig sein werden – etwa als Arbeitnehmerin und
Arbeitnehmer ebenso wie als Startup-Unternehmerin
oder -Unternehmer.
Schule muss also heute auf die Zukunft vorbereiten.
Diese Zukunft wird digital sein. Denn das Digitale ist
bereits in der Gegenwart elementarer Bestandteil unseres
Alltags, Wirtschaftsfaktor und Partizipationsraum.
Das Deutsche Institut für Vertrauen und Sicherheit im
Internet, DIVSI, untersucht regelmäßig das Nutzungs-
verhalten von jungen Menschen in Deutschland und
kommt zu dem Schluss: Schon bei den Dreijährigen
spielt das Internet eine große Rolle. Jeder zehnte Drei-
jährige ist online. Bei den Sechsjährigen geht fast ein
Drittel ins Internet, und bei den Achtjährigen sind es be-
reits mehr als die Hälfte. Die Internetnutzung und der
Umgang mit mobilen Endgeräten starten somit bereits
im Kindergartenalter und bestimmen im jungen Erwach-
senenalter das Kommunikationsverhalten durchgehend.
Die Frage, ob Kinder und Jugendliche häufig online
sein sollten, ist in der Praxis damit bereits entschieden.
Wenn die Hälfte der Grundschüler in Deutschland
doch schon „drin sind“, bei den Jugendlichen bereits
98 Prozent online sind und selbst die, die noch nicht le-
sen und schreiben können, schon App-Symbole erken-
nen und benutzen, können wir keine Diskussion mehr
darüber führen, ob Schülerinnen und Schüler nicht bes-
ser ausschließlich analog unterrichtet werden sollen.
Wir sind im Jahr 2015 schon mittendrin in der Digita-
lisierung, und daher müssen wir jetzt nur noch über das
Wie diskutieren. Es gilt zu diskutieren und festzulegen,
wie wir Kinder und Heranwachsende am besten auf eine
Welt vorbereiten, die digitale Kompetenzen voraussetzt,
erstens, weil künftig nicht nur der Computer und Fernse-
her, sondern auch der Heizkörper und das Auto online
sein werden; zweitens, weil in sozialen Netzwerken oder
im Gesundheitssystem kompetenter Dateneinsatz gefragt
ist; drittens, weil fast jeder Beruf IT-Kompetenzen vor-
aussetzt; viertens, weil die Digitalwirtschaft der Treiber
unserer Volkswirtschaft ist.
Neben dem Elternhaus sind Schule, Ausbildungsbe-
trieb und Universität die wesentlichen Orte, die das Auf-
wachsen in der digitalen Welt begleiten und prägen. Da-
bei geht es nicht nur um technische Ausstattung mit
Tablets, Whiteboards und WLAN, auch wenn die gute
Ausgestaltung der digitalen Infrastruktur eine Grundvor-
aussetzung ist. Dort müssen die digitalen Kompetenzen
vermittelt werden. Damit meine ich, dass erstens Kennt-
nisse des Programmierens und der Algorithmen gelehrt
werden; zweitens analytisches und vernetztes Denken
und Arbeiten vermittelt werden sowie drittens Medien-
kompetenz, also die Kompetenz zum verantwortungs-
vollen Umgang mit Medien, beigebracht wird.
Wir müssen junge Menschen für Risiken sensibilisie-
ren, etwa Bewusstsein für Urheberrecht, Datenschutz
oder IT-Sicherheit vermitteln, und sie zugleich fitma-
chen, die zahlreichen Werkzeuge und Dienste gewinn-
bringend zu nutzen.
Und es ist eine Frage von Chancen und Teilhabe, dies
allen Kindern zu ermöglichen, damit nicht diejenigen
abgehängt werden, in deren Elternhaus kein guter und
pädagogischer Umgang mit digitalen Medien stattfindet.
Die digitale Unterrichtsgestaltung ist in Deutschland
noch eine punktuelle Entwicklung. Dabei ist es nicht nur
eine Mentalitäts- oder Geldfrage, sondern auch eine
Frage der Qualifizierung von Lehrerinnen und Lehrern.
Selbst die jungen, digitalaffinen Lehrkräfte werden noch
nicht strukturiert darin ausgebildet, digitale Medien im
Unterricht sinnvoll einzusetzen.
Es darf nicht Glückssache sein, ob Kinder, Jugendli-
che oder Studenten digitale Bildung in Deutschland erle-
ben. Wir müssen zielgerichtet herangehen. Das heißt vor
allem, die digitale Infrastruktur für Schulen zu schaffen,
die Lehrerinnen und Lehrer dafür zu qualifizieren und
kreative Konzepte in unsere Bildungseinrichtungen zu
bringen.
Wir haben in Deutschland bereits großes Potenzial.
Auf dem Kongress der CDU/CSU-Bundestagsfraktion
zu Bildung 2.0 im Juni haben sich viele kreative Köpfe
– von Startups im Bildungssektor über Initiativen großer
Unternehmen und Verbände – vorgestellt, die sich in der
digitalen Bildung einbringen wollen. Hier müssen wir
stärker vernetzen und bündeln – das darf nicht im Bil-
dungsföderalismus untergehen!
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015 11237
(A) (C)
(D)(B)
Es war ein wichtiger Schritt, gemeinsam mit dem Ko-
alitionspartner den Antrag „Durch Stärkung der Digita-
len Bildung Medienkompetenz fördern und digitale
Spaltung überwinden“ in den Deutschen Bundestag ein-
zubringen. Damit setzt der Bund wichtige Impulse, ent-
lässt die Länder und Kommunen aber nicht aus ihrer
Verantwortung für ihre Kernaufgabe: Die Länder müs-
sen für eine nachhaltige Bildungspolitik sorgen.
Ich weiß, dass die Bildungseinrichtungen derzeit mit
hohen Ansprüchen konfrontiert werden. Demografie, Mi-
gration, Inklusion und vieles mehr erfordern von Lehr-
kräften und Schulleitung große Anstrengungen. Aber das
Digitale kann nicht warten, bis sich die Bildungspolitik
in so manchem Land entwirrt hat.
Ob Industrie 4.0, Smart Data oder E-Health – überall
werden Digitalkompetenzen gefragt sein. Nur eine strin-
gente Integration von digitaler (Aus)Bildung an Schulen,
Berufsschulen und Universitäten bringt uns für die Zu-
kunft akademische Exzellenz im IT-Bereich, anpackende
Unternehmerinnen und Unternehmer, Fachkräfte für die
IT-Industrie und mündige Bürger, die sich sicher und
souverän im Netz bewegen.
Wir brauchen jetzt einen Pakt für digitale Bildung, an
dem Politiker aus allen Ebenen – Bund, Land, Kom-
mune – sowie Vertreterinnen und Vertreter aus Wissen-
schaft, Wirtschaft und Schule zusammenarbeiten.
Wir müssen eine moderne, kreative digitale Bildung
in Deutschland etablieren. Ich danke allen, die im Bund,
in den Ländern und Kommunen und vor allem in den
Bildungseinrichtungen daran arbeiten.
Sven Volmering (CDU/CSU): Der Antrag von
CDU/CSU und SPD gibt sowohl der Bundesregierung
als auch den Ländern sehr konkrete Aufträge und Hand-
lungsempfehlungen für die Entwicklung einer Strategie
„Digitales Lernen“ auf den Weg. Das Feedback war bei
vielen Lehrerverbänden, Professoren, Institutionen und
Vereinen ausgesprochen positiv. Alle Experten des Fach-
gesprächs zur Digitalen Bildung im Ausschuss haben die
richtige Zielsetzung des Antrags gelobt. Wir gehen mit
unseren Forderungen über den Koalitionsvertrag hinaus,
berücksichtigen die wichtigsten Ergebnisse der Enquete-
Kommission „Internet und Digitale Gesellschaft“ und
leisten somit einen wichtigen Beitrag zur Digitalen
Agenda der Bundesregierung.
Die internationale ICILS-Computerstudie, die, liebe
Kolleginnen und Kollegen der Grünen, nicht, wie in Ih-
rem Antrag steht, aus dem Jahr 2014, sondern aus dem
Jahr 2013 stammt, hat den seit Jahren gefühlt vorhande-
nen Nachholbedarf bei der Digitalen Bildung empirisch
belegt. Es wird daher Zeit, dass wir den Aufholprozess
endlich beginnen! Das Rüstzeug für den Erfolg liegt auf
dem Tisch. Jetzt geht es an die Umsetzung. Wir müssen
an die Aus- und Fortbildung der Pädagogen heran, es
geht um gemeinsame inhaltliche und technische Stan-
dards sowie um pädagogisch sinnvolle Konzepte, die in
den Bildungsalltag aller Bereiche von der frühkindlichen
Bildung bis zur Hochschul- und Weiterbildung integriert
werden müssen. Ich spreche sicher auch im Namen mei-
ner geschätzten Berichterstatterkollegin Saskia Esken,
wenn ich darauf hinweise, dass die Regierungsfraktio-
nen sehr genau darauf achten werden, dass Bund und
Länder in ihrem jeweiligen Verantwortungsbereich ihre
Hausaufgaben erfüllen, damit wir vorankommen.
Gleichzeitig habe ich die Hoffnung, dass sich insbe-
sondere die Landesregierungen mit Grünen-Beteiligun-
gen konstruktiver bei der Entwicklung der Strategie
„Digitales Lernen“ einbringen, als dies die grüne Bun-
destagsfraktion getan hat. Lieber Herr Mutlu, ich muss
es leider so deutlich sagen: Ihr nachgereichter Antrag ist
nicht mehr als ein welkes Feigenblatt. Sie haben ge-
merkt, dass die Regierungsfraktionen von CDU/CSU
und SPD mit dem Antrag, mit eigenen gut besuchten
Workshops und Kongressen das Thema besetzt haben
und Sie jetzt im Bundestag zwar nicht persönlich, aber
inhaltlich doch sehr nackt sind. Sie haben das Thema
verpasst! Sie fordern etwas, was von der Regierung um-
gesetzt wird, und setzen im Gegensatz zu uns über den
Enquete-Bericht hinaus nicht einen einzigen eigenen in-
haltlichen Schwerpunkt.
Als ein Beispiel nenne ich die von der CDU/CSU ein-
gebrachte und von der SPD unterstützte Idee des Pakts
für Digitale Bildung, der die unterschiedlichen Aktivitä-
ten von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft bündelt. Sie
stößt auf großes Interesse. Mehrere Stiftungen stellen
bereits Überlegungen an, wie sie Infrastruktur schaffen
und Projekte bündeln und koordinieren können, um digi-
tale Leerstellen abzubauen. Ich nenne das Stichwort
Staatsvertrag, von dem ich glaube, dass es gut ist, dass
wir ihn ins Gespräch gebracht haben, damit wir endlich
Bewegung in die Diskussion um allgemeingültige tech-
nische und inhaltliche Standards bekommen. Der Antrag
von CDU/CSU und SPD greift darüber hinaus explizit
die wichtigsten Forderungen der Enquete-Kommission
auf.
Grundsätzlich ist dabei darauf hinzuweisen, dass die
Enquete-Kommission auf die Verantwortung der Länder
bei der Vermittlung von Medienkompetenz verweist und
eben nicht nur den Bund in die Verantwortung nimmt,
wie Sie es in Ihrem Antrag tun. Exemplarisch nenne ich
drei konkrete Forderungen des Enquete-Berichts, die wir
aufgegriffen haben: erstens die Stärkung der digitalen
Ausbildung des pädagogischen Personals in allen Bil-
dungssektoren, zweitens einheitliche Mindeststandards
zur Medienkompetenz, drittens vergleichende Länder-
studien zur Digitalen Bildung als Instrument der Bil-
dungsforschung.
Sie sehen also: Unser Antrag baut sinnvoll auf die En-
quete-Kommission auf und geht sogar weiter. Daher
werden wir Ihren nachgeschobenen Antrag ablehnen.
Ich möchte den Rest meiner Redezeit dazu nutzen,
noch kurz einige grundsätzliche Punkte anzusprechen.
Unabhängig von den jeweiligen Zusammensetzungen
der Regierungen auf Bundes- und Landesebene müssen
wir uns bei der Durchsetzung der Strategie „Digitales
Lernen“ darüber Gedanken machen, wie wir die Vorrei-
ter in den Kommunen und den Schulen stärken und de-
ren Unterstützerzahl ausweiten. Ich habe festgestellt,
dass an verschiedenen Stellen Kämmerer und Schul-
11238 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015
(A) (C)
(D)(B)
dezernenten auf kommunaler Ebene unabhängig von der
Finanzlage die Blockierer sind, wenn es darum geht, in
den Bereich der digitalen Bildung zu investieren oder be-
stehende Mittel umzuschichten. Deswegen ist es wich-
tig, in der Öffentlichkeit ein positives Bild für die digi-
tale Bildung zu schaffen. Digitale Endgeräte sind
Bestandteil der Lebensrealität. Deshalb müssen wir ihre
enormen positiven Möglichkeiten nutzen, aber natürlich
genauso über mögliche Risiken informieren.
Niemand fordert ernsthaft eine totale Zwangsdigitali-
sierung, niemand will die klassischen Kulturtechniken
abschaffen. Es geht immer nur um den sinnvollen päda-
gogischen Einsatz. Dabei kann man sich sehr gut am Lö-
wenzahn-Kultmoderator Peter Lustig orientieren, der
das Fernsehen als Medium für seine fantastische Sen-
dung genutzt hat, aber jede Sendung auch mit dem Ap-
pell „Ausschalten“ beendete. Vor dem Hintergrund, dass
es die Zielsetzung unseres Antrags ist, die Gefahr einer
dauerhaften digitalen Spaltung zu verhindern und die
jungen Menschen auf die beruflichen Herausforderun-
gen der Industrie 4.0 vorzubereiten, wäre es fahrlässig,
nicht zu handeln und panikmachenden Leuten hinterher-
zulaufen, die von der „Lüge der digitalen Bildung“ spre-
chen. Deshalb ist der Antrag von CDU/CSU und SPD
ein enorm wichtiger Beitrag, da der Deutsche Bundestag
mit seiner Verabschiedung nun eine klare Positionierung
im Bereich der digitalen Bildung vorgenommen hat, die
sich sehen lassen kann.
Als zuständiger Berichterstatter bedanke ich mich
sehr herzlich bei meiner AG, die mich immer unterstützt
hat, bei der Kollegin Saskia Esken und ihrem Team für
die konstruktive und menschlich angenehme Zusam-
menarbeit, bei Frau Hain und Herrn Mutlu für ihre Kritik
und Anregungen, wobei ich der festen Überzeugung bin,
dass sie den Antrag in Wahrheit gar nicht mal so schlecht
finden, sowie bei meinem Büro, und hier insbesondere
bei Frau Klaas für die Unterstützung.
Ich freue mich auf die weiteren Debatten zum Thema
digitale Bildung und danke für die Aufmerksamkeit.
Saskia Esken (SPD): Wir beraten und beschließen
heute den Antrag der Koalitionsfraktionen zur Stärkung
der sogenannten digitalen Bildung. Ich sage „sogenannte
digitale Bildung“, weil wir uns durchaus darüber be-
wusst sind, dass Bildung als ein lebensbegleitender Pro-
zess der Weltaneignung niemals digital sein kann. Als
Buzzword, als Überschrift oder Hashtag in den sozialen
Medien hat sich der Kurzbegriff dennoch eingebürgert
und ist auch durchaus geeignet, dafür zu stehen, was wir
eigentlich meinen: die Bildung in einer digitalisierten
Welt.
In einem ersten Schritt wollen wir mit diesem Antrag
den didaktisch sinnvollen Einsatz digitaler Medien im
schulischen Unterricht fördern und damit den Erwerb
von Medienkompetenz und informatischer Grundbil-
dung. Wir wollen die souveräne Teilhabe aller jungen
Menschen an einer digitalisierten Gesellschaft, Wirt-
schaft und Arbeitswelt sicherstellen und damit nicht nur
auf den Fachkräftebedarf eines grundlegenden wirt-
schaftlichen Wandels reagieren. Wir sprechen im Titel
dieses Antrags über eine digitale Spaltung der Gesell-
schaft, die sich nicht nur zwischen Generationen und
Geschlechtern oder entlang eines Stadt-Land-Gefälles
zeigt, sondern sich durchaus auch entlang sozialer Her-
kunft und Bildungshintergrund entwickelt hat und die es
zu überwinden gilt.
Mit dem Antrag konkretisieren die Koalitionsfraktio-
nen das Vorhaben der Digitalen Agenda der Bundesre-
gierung, mit den Bundesländern und weiteren Akteuren
des Bildungssystems gemeinsam eine Strategie „Digita-
les Lernen“ zu erarbeiten und umzusetzen. Welche Rolle
kann der Bund im Zusammenhang mit der schulischen
Bildung denn überhaupt spielen? Das müssen wir uns
nicht nur von den Vertretern der Oppositionsfraktionen
fragen lassen. Nun, genau aus diesem Grund finden Sie
im Antrag zwei Bereiche, von denen sich der eine mit
den originären Aufgaben des Bundes befasst und der an-
dere mit einer Art von Brückenbau für eine solche „ge-
meinsame Strategie der Länder und weiterer Akteure“.
Klar in die Zuständigkeit des Bundes und gegebenen-
falls der europäischen Gesetzgebung fällt dabei die Wei-
terentwicklung des Urheberrechts, das noch nicht im
Zeitalter der Digitalisierung angekommen ist. Auch
durch einen hohen Grad an Komplexität findet das Urhe-
berrecht derzeit außerhalb des Bildungssystems zu we-
nig und innerhalb des Bildungssystems zu viel Beach-
tung. Lehrkräfte agieren beim Umgang mit digitalen
Medien mit angezogener Handbremse, und zwar aus
Angst vor der Abmahnung. Das müssen wir ändern.
Deshalb freut es mich besonders, dass der Bundes-
minister der Justiz und für Verbraucherschutz Heiko
Maas angekündigt hat, einen diesbezüglichen Gesetzent-
wurf zu erarbeiten und dabei gerade die Belange von
Bildung und Wissenschaft zu beachten.
Im Bereich der beruflichen Bildung ist der Bund
handlungsfähig und soll deshalb im Rahmen der verfüg-
baren Haushaltsmittel für eine gute und sichere techni-
sche Infrastruktur sorgen, die für einen verstärkten Ein-
satz digitaler Medien im Unterricht benötigt wird, also
beispielsweise ein Internetanschluss mit zukunftsfähiger
Bandbreite und ein leistungsfähiges WLAN.
Den Einsatz digitaler Medien und Materialien in allen
Bildungsbereichen fördern kann der Bund darüber hi-
naus, indem er die Entwicklung von offenen Lehr- und
Lernmaterialien, sogenannten Open Educational Resour-
ces, ermöglicht und dafür sorgt, dass die vorhandenen
OER-Materialien besser auffindbar und verfügbar ge-
macht werden.
Wenn es darum geht, wie die Bundesländer ihre Leh-
reraus- und -fortbildung weiterentwickeln und stärken,
die Medienkompetenz und informatische Grundbildung
in ihren Lehr- und Bildungspläne verankern, welche
Infrastruktur Länder und Schulträger bereitstellen und
welche Medienbildungskonzepte die Schulen entwickeln
und umsetzen: Da kann der Bund nur Impulse geben,
Plattformen für Diskussion, Austausch und Kollabora-
tion bieten und die Entwicklung im Bereich der Bil-
dungsforschung und -berichterstattung begleiten.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015 11239
(A) (C)
(D)(B)
Im Rahmen der Antragsberatung hat die SPD-Bun-
destagsfraktion neben öffentlichen Fachgesprächen in
Fraktion und Ausschuss in der vorvergangenen Woche
eine Fachtagung veranstaltet. Eine beachtliche Anzahl
von Fachleuten aus der gesamten Republik und darüber
hinaus waren unserer Einladung gefolgt, sich mit den
Chancen und den Herausforderungen einer „Bildung in
einer digitalisierten Welt“ im kritisch-positiven Sinne zu
beschäftigen. In meiner Einführung zu der Veranstaltung
habe ich deutlich gemacht, dass Digitalisierung und Bil-
dung in einem wechselseitigen Nutzenverhältnis stehen:
Bildung muss zum Gelingen der Digitalisierung und zur
Überwindung einer digitalen Spaltung beitragen. Ebenso
wichtig ist mir aber auch, was – sozusagen im Gegenzug –
die Digitalisierung für die Qualität der Bildung tun kann.
Nach Impulsen aus den Ländern, hier von Ties Rabe,
dem sozialdemokratischen Schulsenator der Freien und
Hansestadt Hamburg, sowie aus der Wissenschaft, na-
mentlich von Richard Heinen vom Learning Lab der
Universität Duisburg-Essen und von Professor Dr.
Christoph Igel vom Deutschen Forschungszentrum für
Künstliche Intelligenz, haben wir in vier thematischen
Workshops den Diskurs gesucht zwischen Theorie und
Praxis, aber auch zwischen scheinbar widerstreitenden
Konzepten, die zusammengeführt werden müssen, damit
die Bildung in einer digitalisierten Welt gelingen kann.
Wie schon in den Fachgesprächen, so wurde auch bei
unserer Fachtagung deutlich, dass der Zielsetzung und
den Ansätzen unseres Antrags viel fachliches Interesse
und positives Feedback entgegengebracht werden und
dass viele Teilnehmer und weitere Akteure des Bil-
dungssystems Interesse an einer Fortführung und Wei-
terentwicklung des Dialogs haben. Wir wollen uns wäh-
rend der Sommerpause deshalb überlegen, wie wir die
Themen unserer Fachtagung, aber sukzessive auch wei-
tere Themen zur Diskussion und Vertiefung anbieten
können.
Die SPD-Bundestagsfraktion will sich in den anste-
henden Haushaltsberatungen außerdem dafür starkma-
chen, dass ein Anteil der Überschüsse aus dem Etat für
das Betreuungsgeld im Bildungs- und Forschungsetat für
die Förderung der Digitalisierung im Bildungsbereich
genutzt wird. Ab 2016 könnten so jährlich 50 oder
60 Millionen Euro zur Verfügung stehen. Wir fordern
das Bundesministerium für Bildung und Forschung des-
halb auf, baldmöglichst einen Investitionsplan über die
Verwendung dieser Mittel vorzulegen.
Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE): Nein, wir haben
keinen eigenen Antrag zu diesem Tagesordnungspunkt
dazugelegt wie die Grünen. Ich weiß ja, dass die Grünen
etwas von der Sache verstehen, aber was Sie da aufge-
schrieben haben, hätten Sie auch bleibenlassen können.
Der schadet zwar nicht, aber der nützt auch nichts. Die
einfache Forderung, dass die Bundesregierung ihre Ar-
beit macht, finde ich wenig prickelnd. Und die Bezug-
nahme auf die Internet-Enquete-Kommission auch nicht.
Wir haben aus gutem Grunde einen Bericht des Büros
für Technikfolgenabschätzungen eingefordert. Zwar sind
wir uns einig, dass die Forderungen und Empfehlungen
der Internet-Enquete richtig sind, aber für deren Umset-
zung entstehen doch noch ein paar Fragen.
Wenn der Bericht dieses Büros mit dem Titel „Bil-
dung 4.0“ vorliegt, wollen wir auf dieser Grundlage kon-
kretere Vorschläge machen. Manches liegt allerdings
jetzt schon auf der Hand, und es ist auch im Arbeitsbe-
richt 122 des TAB-Büros aus dem Jahre 2007 schon gut
nachzulesen.
Zum Beispiel die Frage: Was kostet das alles? Lassen
Sie mich bitte zitieren:
„Erst wenn die Förderung von Modellprojekten und
Pilotvorhaben ausgelaufen ist, Garantien für die techni-
sche Ausstattung abgelaufen sind, Ersatzbeschaffungen
anstehen oder der Support an externe Dienstleister ver-
geben wird, können die tatsächlich und dauerhaft auf die
Schulträger zukommenden Kosten realistisch einge-
schätzt werden.“ TAB-Arbeitsbericht 122, Zusammen-
fassung, Seite 13, Dezember 2007.
Und es geht auch darum, wie sich die Lernmittelkos-
ten verändern. Dass die Bundesregierung Mittel für die
Entwicklung offener Lernmittel eingestellt hat, ist ja löb-
lich. Aber man muss sie auch aufs Tablet bekommen.
Und bezahlt werden muss das auch. Wenn ein Buch her-
unterfällt, hat es vielleicht ein Eselsohr. Wenn ein Tablet
herunterfällt, ist es möglicherweise kaputt. Die Kosten
für die Ersatzbeschaffung sind deutlich höher. Darum
bestehen wir mindestens auf Lernmittelfreiheit. Doch
auch die muss jemand bezahlen. Das sind in der Regel
die Länder.
Das kommt zu den offenen Fragen der technischen
Ausstattung von Schulen, der Ausbildung von Lehrkräf-
ten, der Einstellung von Administratorinnen usw. alles
noch dazu.
Es geht auch um die Inhalte und die Veränderung der
pädagogischen Arbeitsweise und der Vorbereitung der
Schulen, der Eltern, der Öffentlichkeit darauf. Künftig
wird mehr als je das alte Sprichwort gelten: Man muss
nicht alles wissen; man muss nur wissen, wo es steht.
Dann aber stellt sich gleich die Frage: Wie umgehen mit
der Informationsflut? Wie auswählen, was wichtig ist?
Wie kritische Distanz bewahren? Medienkompetenz
nennt man das, und die ist längst zu einer Kulturtechnik
geworden, die aber unterschiedlich gut beherrscht wird.
Der selbstbewusste und verantwortungsbewusste Um-
gang mit persönlichen Daten im Netz, das Netzwerken
überhaupt – alles erhält eine andere Dimension als noch
vor 10 bis 15 Jahren. Ende offen.
Darum brauchen wir möglichst schnell so etwas wie
fächerübergreifende – und vielleicht auch bildungspha-
senübergreifende – Bildungsstandards für digitales Ler-
nen und Medienkompetenz. Lernende warten nicht, bis
die Schulen und die Bildungspolitik so weit sind. Profes-
sor Esser hat erst gestern im Ausschuss darauf hingewie-
sen, dass die Kompetenzen der Jugendlichen oft schon
fortgeschrittener sind als die ihrer Lehrkräfte. Wir laufen
also Gefahr, unaufhaltsam hinterherzulaufen.
Es erweist sich erneut als Problem, dass wir durch die
strikte Trennung von Zuständigkeiten zwischen Bund
11240 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015
(A) (C)
(D)(B)
und Ländern in unseren Handlungsmöglichkeiten einge-
schränkt sind. Irgendwie wartet immer der eine auf den
anderen. So passiert gar nichts oder weniges, und das nur
verstreut, oder es muss von zu wenigen Menschen be-
wältigt werden.
Auf dem Bildungsserver meines Bundeslandes Sach-
sen-Anhalt findet sich die Rubrik „Medienberatung“.
Dort stehen für 14 Landkreise ganze 10 engagierte Be-
ratungskräfte mit unglaublich interessanten Angeboten
für Unterricht, Elternabend, Schulhomepage und
Dienstberatung zur Verfügung, und ich wage nicht, mir
vorzustellen, dass die knapp 900 allgemeinbildenden
und 300 berufsbildenden Schulen alle ihr Herz für die
digitale Bildung entdecken und auf die 10 Leute zwecks
Fortbildung zugreifen.
Wir werden diese Mammutaufgabe nicht den Schulen
allein, nicht den Kommunen allein und auch nicht den
Ländern allein überlassen können. Und schon gar nicht
dem Selbstlauf.
Nun hat die Koalition ein Instrument entdeckt, mit
dem das Kooperationsverbot ein bisschen umgangen
werden kann und die Länder genötigt werden sollen,
einheitlich und abgestimmt zu handeln: den Länder-
staatsvertrag. Einmal abgesehen davon, dass sich der
Bund damit wieder aus der Verantwortung stiehlt, ist das
ein Instrument, das die Legislative nur zum Abnicken
braucht, aber nicht in die Verantwortung nimmt. Insofern
ist es alles andere als ein föderales Instrument. Es
schränkt demokratische Meinungsbildung und Mitspra-
che ein. Es ist aber auch ein untaugliches Instrument,
denn was soll es bewirken? Die Implementierung von
noch nicht vereinbarten Bildungsstandards? Und wenn
sie es nicht tun? Wer soll es wie sanktionieren? Die KMK
hat keine Sanktionsmöglichkeiten außer der gegenseiti-
gen Nichtanerkennung von Abschlüssen. Das aber pas-
siert jetzt schon über die Maßen und völlig inakzeptabel.
Und wie wollen Sie denn die technischen Voraussetzun-
gen für einen Länderstaatsvertrag schaffen? Ich fürchte,
es ist ein stumpfes Schwert, und es riecht nach viel Bü-
rokratie.
Also erneuern wir die Forderung nach der Aufhebung
des Kooperationsverbotes und fordern, dass auch der
Bund in einem gemeinsamen Bund-Länder-Programm
richtig viel Geld in die Hand nimmt, um die dort ge-
meinsam zu vereinbarenden Standards für digitale Bil-
dung auch zu finanzieren.
Weil in den Anträgen ansonsten wenig Falsches steht,
uns aber viel Konkretes fehlt, werden wir uns der
Stimme enthalten und kündigen hier schon einen eige-
nen, dann hoffentlich weitergehenden Antrag an.
Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Im
November 2014 wurde die ICILS-Studie veröffentlicht.
In ihr wurde erstmalig der Frage nachgegangen, wie es
um die computer- und informationsbezogenen Kompe-
tenzen von Schülerinnen und Schülern der Jahrgangs-
stufe 8 bestellt ist.
Nicht gut ist es um diese Kompetenzen bestellt, mit
den Ergebnissen der ICILS-Studie können wir deshalb
auch nicht zufrieden sein.
Denn wenn 30 Prozent der Schülerinnen und Schüler
lediglich eine der unteren beiden Kompetenzstufen errei-
chen und beispielsweise schon daran scheitern, einen
einfachen Link zu öffnen oder in die Suchleiste zu ko-
pieren, dann ist etwas faul in der sogenannten Bildungs-
republik Deutschland.
Insbesondere die digitale Spaltung innerhalb der
Schülerschaft ist skandalös. Es ist wie so oft: Es wird vor
allem denen gegeben, die schon haben. Bei der digitalen
Bildung ist das nicht anders. Das darf so nicht bleiben.
Dass Schülerinnen und Schüler in Deutschland den
Umgang mit dem Computer hierzulande trotz Schule ler-
nen – um mal den Leiter der ICILS-Studie, Wilfried Bos,
zu zitieren –, sagt viel aus und sollte nicht nur zum
Nachdenken, sondern auch zum Handeln anregen.
Es ist deshalb richtig und wichtig, dass sich die Große
Koalition endlich in puncto digitaler Bildung und Medi-
enkompetenz auf den Weg macht. „Zeit wird’s!“, kann
ich da nur sagen.
Wenn man sich den Koalitionsantrag aber genau an-
schaut, dann muss man leider wieder einmal feststellen:
Ihr Antrag greift viel zu kurz, und es ist wie so oft bei Ih-
nen: Gut gemeint ist nicht gut gemacht.
Gut gemacht wäre nämlich ein Antrag, der die Hand-
lungsempfehlungen der Enquete-Kommission Internet
und digitale Gesellschaft im Hinblick auf Bildung und
Forschung in der Breite umsetzt – von der Kita bis zur
Hochschule, von der Schule bis zur Aus- und Weiterbil-
dung.
Und wenn Sie jetzt sagen, dass Sie sich erst einmal
nur auf Schule konzentrieren wollen, und alles andere
kommt dann später, dann sage ich Ihnen: Das reicht
nicht aus. Von einer Großen Koalition, von der 28 Mit-
glieder im Bildungsausschuss sitzen, kann und darf man
mehr erwarten. Von einer Großen Koalition, die seit na-
hezu zwei Jahren an der Regierung ist, muss man auch
mehr erwarten.
Und ich sage ihnen auch: Wenn Sie sich in ihrem
Antrag auf Schule konzentrieren, dann aber selbst da
zahlreiche Handlungsempfehlungen der Enquete-Kom-
mission nicht berücksichtigen, dann muss schon die
Frage erlaubt sein, warum sie eigentlich Handlungsemp-
fehlungen mitbeschließen – im Übrigen, die Handlungs-
empfehlungen der Enquete-Kommission sind in diesem
Hause einstimmig beschlossen worden –, die Sie dann
entweder auf die lange Bank schieben oder überhaupt
nicht umsetzen.
Denn klar ist doch auch: All das, was Sie uns hier im
Plenum unter den Schlagwörtern „Industrie 4.0“, „Digi-
tale Technologien“ oder „Digitale Agenda“ verkaufen,
all das verkommt doch zur Floskel, wenn junge Men-
schen nicht über entsprechende Kompetenzen verfügen
und diese in der Bildung nicht konsequent gelehrt und
gelernt werden. Digitale Bildung ist mehr als die Aus-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015 11241
(A) (C)
(D)(B)
stattung von Schulen mit Whiteboards, Laptops und
Ähnlichem.
Diesbezüglich hat uns die ICILS-Studie viele Haus-
aufgaben in unser bildungspolitisches Hausaufgabenheft
geschrieben. Hier einige Stichworte: Aus- und Fortbil-
dung der Lehrer und Lehrerinnen, Open Educational Re-
sources, Hardwareausstattung, Breitbandzugang, Vernet-
zung, Datenschutz usw. usf.
Die Handlungsempfehlungen der Enquete-Kommis-
sion geben darauf zahlreiche und vor allem sinnvolle
und hilfreiche Antworten.
Deshalb fordern wir Sie auf, das umzusetzen, was Sie
seinerzeit mit uns gemeinsam beschlossen haben.
Die Handlungsempfehlungen der Enquete-Kommis-
sion Internet und digitale Gesellschaft können die Län-
der und Kommunen dabei aber nicht alleine stemmen.
Der Bund wird deshalb nicht umhin kommen, mehr
Geld für die digitale Bildung in die Hand zu nehmen.
Deshalb meine Aufforderung an Sie: Verstecken Sie
sich nicht hinter Zuständigkeiten und ihrem heißgelieb-
ten, in Wahrheit aber äußerst dümmlichen Kooperations-
verbot. Schieben Sie die Verantwortung nicht per Län-
derstaatsvertrag auf andere ab, sondern übernehmen Sie
selbst Verantwortung. Eine Große Koalition sollte dazu
eigentlich in der Lage sein.
Anlage 18
Zu Protokoll gegebene Reden
Integrationsbetriebe fördern – Neue Chancen
für schwerbehinderte Menschen auf dem ersten
Arbeitsmarkt eröffnen (Tagesordnungspunkt 19)
Dr. Astrid Freudenstein (CDU/CSU): Wir haben
heute Mittag bereits über Möglichkeiten gesprochen,
wie wir die Chancen für schwerbehinderte Menschen am
Arbeitsmarkt verbessern könnten. Mit dem vorliegenden
Antrag möchten wir einen kleinen, aber umso wichtige-
ren Teil dieses Arbeitsmarktes stärken und verbessern:
die Integrationsbetriebe.
Es gibt zwei maßgebliche Gründe dafür, Integrations-
betriebe auf einem Weg zur inklusiven Gesellschaft zu
fördern.
Der erste Grund ist die Funktion als Arbeitgeber. Inte-
grationsfirmen beschäftigen einen sehr hohen Anteil an
Menschen mit Behinderung. Mehr als 10 000 behinderte
Menschen können so am allgemeinen Arbeitsmarkt teil-
haben. Das ist umso wichtiger, weil sich dort in den ver-
gangenen Jahren die Beschäftigungschancen von Men-
schen mit Behinderung nicht signifikant verbessert
haben. Auch aus rechtlicher Sicht ist die Arbeit der Inte-
grationsunternehmen als Arbeitgeber wichtig: Sie tragen
einen großen Teil dazu bei, dass die UN-Behinderten-
rechtskonvention in die Praxis umgesetzt wird – inklusi-
ves Arbeiten ist das Tagesgeschäft. Da wir diese
Entwicklung ausdrücklich begrüßen, möchten wir die
Förderung so verstärken, dass noch mehr Arbeitsplätze
für Menschen mit Behinderung in Integrationsbetrieben
geschaffen werden können. In den Jahren 2015, 2016
und 2017 sollen dazu jeweils 50 Millionen Euro aus dem
Ausgleichsfonds kommen.
Neben dieser Kernfunktion als Arbeitgeber von
schwerbehinderten Menschen erfüllen Integrations-
betriebe aber noch eine andere, mindestens ebenso wich-
tige Funktion: Sie sind Vorzeigeprojekte der Inklusion.
Die Bundesarbeitsgemeinschaft Integrationsfirmen,
BAG IF, fasst diese Funktion in ihren Leitsätzen perfekt
zusammen:
„Unsere Vision ist es, für ein soziales Unternehmer-
tum zu werben und dieses so zu verbreitern, dass überall
in Deutschland benachteiligte und behinderte Menschen
einen für sie passenden und attraktiven Arbeitsplatz er-
halten können.“
Integrationsunternehmen zeigen tagtäglich, dass
Inklusion im Arbeitsleben möglich ist, und sie beweisen,
dass sich wirtschaftlicher Erfolg und die Beschäftigung
besonders betroffener Schwerbehinderter nicht aus-
schließen. Denn die Firmen müssen sich dem Wettbe-
werb des Marktes stellen wie alle anderen Unternehmen
auch. Sie schaffen dies nicht mühelos, aber sie schaffen
es.
Das Geschäft der Integrationsbetriebe zeigt, dass
viele Ängste und Befürchtungen von Unternehmern im
Hinblick auf die schwerbehinderten Angestellten nicht
nötig sind. Mit verlässlichen Nachteilsausgleichen und
unterstützenden Rahmenbedingungen kann Politik dafür
sorgen, dass viel mehr Menschen und auch Firmen die-
sen inklusiven Weg im Arbeitsleben gehen können.
Mit den Mitteln aus dem Ausgleichsfonds und der da-
mit verbundenen Stärkung der Integrationsbetriebe ist
ein erster Schritt gemacht. Das ist aber nur ein Teil unse-
rer Planungen für eine bessere Teilhabe am Arbeitsleben
für Menschen mit Behinderung.
Einen weiteren Teil werden wir mit dem Bundesteil-
habegesetz angehen. Hier wollen wir das „Budget für
Arbeit“ flächendeckend und bundesweit einführen und
gesetzlich verankern. Es hat sich in Modell-Projekten
bewährt und gewährleistet mehr Wahlfreiheit und mehr
Selbstbestimmung. Menschen mit Behinderung können
dann einfacher selbst entscheiden, wo und in welcher
Form sie eine bedarfsgerechte Unterstützungsleistung im
Arbeitsleben erhalten.
Ein anderer Punkt, der zu einer größeren Wahlfreiheit
führt, wäre die Zulassung von anderen Leistungsanbie-
tern neben den Werkstätten für behinderte Menschen. Im
Interesse der beschäftigten Menschen müssen wir aber
dafür sorgen, dass die Qualitätsanforderungen an diese
Anbieter doch mindestens ähnlich hoch wie die an die
bestehenden Werkstätten sind. Klar ist aber auch: Nicht
jeder Leistungsberechtigte benötigt die Komplexleis-
tung, die in der Werkstatt erbracht wird. Wir werden hier
einen Kompromiss finden müssen, der aber die Leis-
tungsberechtigten in den Mittelpunkt stellen muss.
Sie sehen: In nächster Zeit wird sich in dem Bereich
der Teilhabe am Arbeitsleben für Menschen mit Behin-
11242 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015
(A) (C)
(D)(B)
derung noch viel tun. Mit dem heutigen Antrag wollen
wir aber erst einmal die Integrationsunternehmen stär-
ken, damit sich möglichst viele Unternehmen an ihnen
orientieren können und sich der inklusiven Gesellschaft
öffnen.
Uwe Schummer (CDU/CSU): Für Menschen mit
oder ohne Behinderung ist die Teilhabe am Arbeitsleben
sinnstiftend und existenziell zugleich. Jeder möchte für
seinen Lebensunterhalt selbstständig sorgen, seine Fä-
higkeiten einbringen und einen Beitrag für die Gemein-
schaft leisten. Arbeit hat einen hohen Stellenwert in unse-
rer Gesellschaft. Die UN-Behindertenrechtskonvention
hat dies aufgegriffen und macht dazu eindeutige Vorga-
ben. Deutschland als Vertragsstaat muss entsprechende
Maßnahmen vorhalten, um das Ziel der vollen Teilhabe
von Menschen mit Behinderung zu erreichen und zu be-
wahren. Dazu gehören auch das Recht behinderter Men-
schen auf gleichberechtigte Teilhabe und das Recht, ei-
nen Beitrag dazu zu leisten, den eigenen Lebensunterhalt
durch Arbeit zu verdienen.
In Deutschland haben wir dafür bereits verschiedene
Strategien entwickelt, um dieses Ziel zu verwirklichen.
Zum einen gibt es die Werkstätten für behinderte Men-
schen. In ihnen arbeiten bundesweit 300 000 Menschen
mit Behinderung. Der UN-Fachausschuss sagt, das sei
keine echte Teilhabe am Arbeitsleben. Viele Betroffene
selbst sehen das ganz anders. Ich möchte an dieser Stelle
hervorheben: Wunsch- und Wahlfreiheit sind für die
Union maßgebliche Leitlinie. Werkstätten sind ein Son-
derweg, den die meisten anderen Länder nicht beschrei-
ten. Dennoch leisten sie einen wesentlichen Beitrag zur
Teilhabe am Arbeitsleben. Doch sie müssen sich noch
sehr viel stärker am ersten Arbeitsmarkt ausrichten, sich
flexibler aufstellen und durchlässiger werden. Mit einem
„Budget für Arbeit“, das dem Menschen und nicht der
Institution Werkstatt folgt, könnte das gelingen. Es
wurde bereits erfolgreich in Modellprojekten erprobt
und sollte aus Sicht der Union auch bundesweit Schule
machen.
Ein wichtiges und bekanntes Instrument, das noch
großes Potenzial hat, viel mehr Arbeitsplätze abseits von
Sonderstrukturen zu verwirklichen, sind die Integra-
tionsbetriebe. Als Unternehmen auf dem ersten Arbeits-
markt besetzen sie bis zu 40 Prozent ihrer Stellen mit
schwerbehinderten Menschen. Bundesweit beschäftigen
aktuell rund 800 Integrationsbetriebe über 22 000 Men-
schen. Davon haben etwa 10 000 Menschen eine
Schwerbehinderung. Seit Einführung der Integrationsbe-
triebe mit dem SGB IX im Jahr 2011 konnten über 8 000
sozialversicherungspflichtige, tariflich bzw. ortsüblich
entlohnte Arbeitsplätze geschaffen werden. Das liegt vor
allem an der erfolgreichen Kooperation von Integra-
tionsbetrieben mit Unternehmen direkt vor Ort in der
Region. Sie sind als Lotsenboote für echte Inklusion in
Arbeit unterwegs und zeigen mit innovativen Konzep-
ten, dass Menschen mit Behinderungen alles können,
wenn sie die Chance bekommen.
Deswegen sind Integrationsbetriebe in sehr vielen
Branchen am Markt, ob in der Gastronomie oder Hotel-
lerie, im Garten- und Landschaftsbau, in der Industrie-
produktion, im Facility Management, im Handel oder im
Handwerk. Mit einer durchschnittlichen Betriebsgröße
von etwa 23 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern
sind viele von ihnen mittlerweile ein fester Bestandteil
des erfolgreichen Mittelstands in Deutschland.
Der gesetzliche Auftrag der Integrationsbetriebe lau-
tet, schwerbehinderte Menschen mit einer geistigen oder
seelischen Behinderung, die eine individuelle arbeitsbe-
gleitende Betreuung benötigen, sowie Menschen mit ei-
ner schweren Sinnes-, Körper- oder Mehrfachbehinde-
rung auszubilden, zu beschäftigen, arbeitsbegleitend zu
betreuen und sie auf Arbeitsplätze in anderen Betrieben
des allgemeinen Arbeitsmarktes vorzubereiten. Aus die-
sem Grund bilden sie eine wichtige Brücke für Werk-
stattbeschäftigte, die auf den ersten Arbeitsmarkt wech-
seln wollen. In Integrationsbetrieben bleiben alle
rentenrechtlichen Vorteile weiterhin bestehen. Auch das
macht sie für den Sprung raus aus der Werkstatt so at-
traktiv.
Die Union will das erfolgreiche Konzept der Integra-
tionsbetriebe noch erfolgreicher machen. Mit einem
Sonderprogramm werden wir in den Jahren 2015 bis
2017 aus den Mitteln des Ausgleichsfonds im Bundesar-
beitsministerium insgesamt 150 Millionen Euro in Neu-
gründungen sowie in die Weiterentwicklung zu Inklu-
sionsunternehmen investieren. Ziel ist, mittelfristig
doppelt so viele Integrationsbetriebe wie heute zu haben,
die sich dauerhaft am Markt halten können. Dazu reicht
nicht nur eine gute Geschäftsidee, dazu müssen auch
entsprechende Gelder fließen, um notwendige Investitio-
nen in Barrierefreiheit und Lohnzuschüsse zu decken.
Zudem sollen Integrationsbetriebe künftig bei der Ver-
gabe öffentlicher Aufträge besonders berücksichtigt
werden. Das stärkt ihre Wettbewerbsfähigkeit ebenfalls
nachhaltig und langfristig.
Darüber hinaus sollen Gesundheitsförderung und
Weiterbildung in Integrationsbetrieben eine größere
Rolle einnehmen. Schwerbehinderte Menschen sind ne-
ben den beruflichen auch weiteren, zusätzlichen Belas-
tungen ausgesetzt. Sie haben ein höheres Risiko, krank
oder arbeitsunfähig zu werden. Eine betriebliche Ge-
sundheitsstrategie in Integrationsbetrieben, in denen
überdurchschnittlich viele schwerbehinderte Mitarbeiter
angestellt sind, ist aus Sicht der Union nur folgerichtig.
Integrationsbetriebe sind auch ein Sprungbrett in an-
dere Betriebe des allgemeinen Arbeitsmarktes. Regel-
mäßige Weiterbildung ist dafür eine zentrale Vorausset-
zung. Mehr Angebote für die betreffenden Mitarbeiter
sollen ihre Beschäftigungschancen erhöhen.
Eine echte Alternative zur Werkstatt sind Integra-
tionsunternehmen insbesondere für Menschen mit psy-
chischen Erkrankungen. Sie haben es besonders schwer,
beruflich wieder Fuß zu fassen, und brauchen individuell
angepasste Arbeitszeitmodelle und Strukturen. Dann
können sie ihr Können erfolgreich abrufen. Dazu soll
auch beitragen, dass Integrationsbetriebe künftig bereits
ab 12 Wochenstunden, statt bislang 15 Stunden, soge-
nannte begleitende Hilfen am Arbeitsleben bei den Inte-
grationsämtern abrufen können.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015 11243
(A) (C)
(D)(B)
Die meisten Jugendlichen mit Behinderung wechseln
nach der Förderschule direkt in eine Werkstatt für behin-
derte Menschen und bleiben dort. Diesen Automatismus
wollen wir durchbrechen. Auch für sie bieten Integra-
tionsunternehmen einen guten Ausbildungsort. Dort
können sie neue Fähigkeiten erlernen, ihre Interessen in-
dividuell entfalten und sich gleichzeitig neue Beschäfti-
gungschancen erarbeiten.
Integrationsbetriebe sind schon heute in vielen Regio-
nen sehr erfolgreich. Wie jedes Unternehmen brauchen
sie Zeit, um sich am Markt behaupten zu können. Sie ha-
ben mit ihrem gesetzlichen Auftrag eine besondere He-
rausforderung zu meistern: im Wettbewerb mit anderen
mittelständischen Betrieben konkurrieren und Teilhabe
an Arbeit für schwerbehinderte Menschen organisieren.
Das ist ein Spagat, den die Union mit ihrem Sonderpro-
gramm künftig erleichtern will. Damit setzen wir ein
Zeichen für mehr inklusive Beschäftigung und investie-
ren zugleich in das Potenzial und die Fähigkeiten von
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern mit Behinde-
rung.
Kerstin Tack (SPD): Menschen mit Behinderung
sollen gleichberechtigt an der Gesellschaft teilhaben
können. Das ist nicht nur unser großes Anliegen, son-
dern spätestens seitdem wir im Jahr 2009 die UN-Behin-
dertenrechtskonvention ratifiziert haben auch unsere
Verpflichtung. Die gleichberechtigte Teilhabe am Ar-
beitsleben spielt dabei eine besonders wichtige Rolle.
Die Beschäftigungsquote von Menschen mit Behin-
derung liegt in Deutschland bei 35 Prozent. Nicht nur
der EU-Durchschnitt liegt mit 38 Prozent darüber,
sondern Länder wie Schweden und Frankreich schaffen
sogar mehr als 60 Prozent. Da müssen wir besser wer-
den! Denn ein selbstbestimmtes Leben schließt ein, den
eigenen Lebensunterhalt mit einer frei gewählten Tätig-
keit selbst zu verdienen.
Unser Ziel ist darum ein inklusiver Arbeitsmarkt. Das
bedeutet: Wir brauchen mehr sozialversicherungspflich-
tige Beschäftigungsverhältnisse für Menschen mit Be-
hinderung auf dem ersten Arbeitsmarkt. Wir brauchen
mehr Beschäftigungsverhältnisse, in denen der Fokus
darauf liegt, was ein Mensch kann, und nicht, was er
nicht kann. Und wir brauchen mehr Beschäftigungsver-
hältnisse, in denen Menschen arbeitsbegleitende Unter-
stützung erhalten, wenn sie sie gerade brauchen.
Genau solche Arbeitsplätze bieten die rund 800 Inte-
grationsbetriebe in Deutschland schon jetzt an. Die meist
kleinen und mittelständischen Unternehmen beschäfti-
gen insgesamt mehr als 22 000 Mitarbeitende. Knapp die
Hälfte davon lebt mit einer Schwerbehinderung. Vor
allem Menschen mit seelischen und geistigen Behinde-
rungen, aber auch Menschen mit schweren Sinnes-,
Körper- oder Mehrfachbehinderungen finden dort eine
passgenaue Ausbildung oder Beschäftigung – falls nötig,
und das ist das Besondere, mit individueller Unterstüt-
zung.
Gerade für Schulabgängerinnen und -abgänger aus
Förderschulen bieten sie auch eine gute Möglichkeit, die
leider noch viel zu häufig praktizierte Bildungskette
Förderschule – Werkstatt zu durchbrechen. Anstatt dass
schwerbehinderte Jugendliche von einem separierenden
System in das nächste wechseln, erhalten sie in Integra-
tionsbetrieben direkt eine Chance auf dem ersten Ar-
beitsmarkt. Darum streben wir mit unserer Initiative
auch ein besseres Übergangsmanagement für den Wech-
sel von der Schule in Integrationsfirmen an.
Zurzeit fördern die Integrationsämter die Integra-
tionsbetriebe mit Mitteln der Ausgleichsabgabe. Im Jahr
2013 sind 68 Millionen Euro in den Aufbau und die In-
standhaltung von Betrieben geflossen. Sie wurden damit
betriebswirtschaftlich beraten, und besonderer Aufwand
und außergewöhnliche Belastungen wurden ausgegli-
chen. Doch diese Mittel reichen nicht aus.
In Integrationsbetrieben leben Menschen mit und
ohne Behinderung schon jetzt Tag für Tag vor, wie ein
inklusiver Arbeitsmarkt aussehen kann. Diese Erfolgs-
geschichte müssen wir aktiv fortschreiben. Es kann
darum nicht sein, dass Anträge auf Gründung neuer Inte-
grationsbetriebe nicht bearbeitet werden können, weil
das Geld dazu fehlt.
Darum wollen wir die Integrationsbetriebe mit
150 Millionen Euro aus dem Ausgleichsfonds des Bun-
desministeriums für Arbeit und Soziales massiv stärken.
Je 50 Millionen Euro sollen in den Jahren 2015, 2016
und 2017 zur Verfügung stehen, um den Ausbau von
Integrationsbetrieben zu fördern und so die Anzahl der
Arbeitsplätze zu verdoppeln. Aber auch Werkstätten
können Integrationsbetriebe gründen und Gesamtkon-
zepte zur Stärkung entwickeln, die eine hohe Durchläs-
sigkeit zum ersten Arbeitsmarkt gewährleisten.
Dass Integrationsbetriebe neben Werkstätten bei der
Vergabe von öffentlichen Aufträgen zukünftig bevorzugt
berücksichtigt werden können, ist eine weitere wichtige
Maßnahme, um sie zu stärken. Damit unterstützen wir
ihre Wettbewerbsfähigkeit, denn sie müssen im Wettbe-
werb mit anderen Unternehmen bestehen. Anders als
diese anderen Unternehmen beschäftigen sie aber eine
hohe Anzahl von besonders betroffenen schwerbehin-
derten Menschen und müssen rentabel wirtschaften. Das
ist ein Drahtseilakt, den die Integrationsbetriebe seit Jah-
ren respektabel meistern. Mit der neuen Regelung zur
Vergabe wollen wir jetzt die Bedingungen dafür verbes-
sern.
Vor dem Hintergrund, dass das Modell der Integra-
tionsbetriebe sich bewährt hat, ist jetzt der richtige
Zeitpunkt, um es fortzuentwickeln. Darum wollen wir
mehr Menschen die Möglichkeit geben, in Integrations-
betrieben zu arbeiten und von dem Konzept zu profitie-
ren. Wir wissen, dass Menschen, die schon lange Zeit
arbeitslos sind, die Wiedereingliederung in den Arbeits-
markt oft besonders schwer fällt. Auf langzeitarbeitslose
Menschen mit Schwerbehinderungen trifft das noch ein-
mal in besonderem Maße zu.
Wir wissen, dass leider viele Langzeitarbeitslose bei
der Arbeitssuche auf Vermittlungshemmnisse und Vor-
behalte stoßen, die zeigen, wie wichtig ein inklusiver
Arbeitsmarkt für die gesamte Gesellschaft ist. Auch
11244 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015
(A) (C)
(D)(B)
viele langzeitarbeitslose Menschen finden in Integra-
tionsbetrieben Arbeitsbedingungen und Unterstützungs-
angebote vor, die ihnen den Wiedereinstieg in die Ar-
beitswelt erleichtern können. Ich finde es darum richtig
und nicht zuletzt im Sinne der Idee von Inklusion, dass
wir die Integrationsbetriebe zukünftig auch für die Ziel-
gruppe der Langzeitarbeitslosen öffnen wollen. Dabei
muss jedoch klar sein, dass Langzeitarbeitslose mit und
ohne Schwerbehinderung auch weiterhin durch die Ein-
gliederungsmittel der Bundesagentur für Arbeit geför-
dert werden.
Ich freue mich über diese Initiative, denn wir schaffen
für mehr Menschen die Gelegenheit, den eigenen Le-
bensunterhalt mit einer frei gewählten Tätigkeit selbst zu
verdienen. Damit gehen wir einen großen Schritt in
Richtung inklusiver Arbeitsmarkt – auch wenn außer
Frage steht, dass wir auf diesem Weg noch viele weitere
Schritte zu gehen haben.
Und natürlich haben wir auch noch viel mehr vor:
Im Zuge des Bundesteilhabegesetzes wollen wir das
Budget für Arbeit bundesweit einführen. In Nordrhein-
Westfalen, Rheinland-Pfalz, Hamburg und Niedersach-
sen gibt es schon sehr gute Erfahrungen damit, und es ist
ein vielversprechendes Instrument, um personenzen-
trierte Arbeitsplätze in Unternehmen zu fördern.
Klar ist auch, dass wir flexible Übergänge zwischen
den Werkstätten für behinderte Menschen und dem ers-
ten Arbeitsmarkt brauchen, damit mehr Werkstattbe-
schäftigte sich dazu entscheiden, die Werkstatt zu verlas-
sen. Dazu gehören vor allem klare Regelungen zum
Rückkehrrecht. Diejenigen, die den Mut und den Willen
aufbringen, auf den ersten Arbeitsmarkt zu wechseln,
brauchen die Sicherheit, in die Werkstatt zurückkommen
zu dürfen, falls sie das möchten.
Außerdem müssen wir bei Unternehmen mehr für die
Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen wer-
ben. Wir müssen Förderinstrumente verbessern und mit
Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern darüber ins Ge-
spräch kommen. Denn natürlich zählen sie zu den wich-
tigsten Akteurinnen und Akteuren auf unserem Weg zum
inklusiven Arbeitsmarkt. Viele von ihnen setzen sich be-
reits für dieses Ziel ein. Aber viel zu viele tun es noch
nicht. Es gibt noch immer 37 500 Unternehmen, die die
Beschäftigungsquote erfüllen müssten, aber gar keine
schwerbehinderten Mitarbeitenden haben.
Es sei dahingestellt, ob der Grund dafür Unwissenheit
oder Unwille ist. In jedem Fall müssen wir sie darüber
informieren, was es bedeutet – und vor allem, was es
nicht bedeutet –, Menschen mit Behinderung einzustel-
len. Hier gibt es bereits gute Programme wie das Projekt
„Wirtschaft inklusiv“, auf denen wir aufbauen können.
Ein inklusiver Arbeitsmarkt mit tatsächlicher Wahl-
freiheit ist erst dann gegeben, wenn jede Wahl zur
Arbeitsaufnahme auch ermöglicht werden kann. Zu die-
ser Wahlfreiheit gehören für Menschen mit Schwerbe-
hinderungen Arbeitsmöglichkeiten auf dem allgemeinen
Arbeitsmarkt, zu denen auch Integrationsbetriebe zäh-
len, genauso wie Arbeitsmöglichkeiten in geschützten
Werkstätten oder Außenarbeitsplätze.
Mit unserem Antrag kommen wir einen wichtigen
Schritt weiter auf dem inklusiven Arbeitsmarkt.
Katrin Werner (DIE LINKE): Vor wenigen Minuten
diskutierten wir den Antrag der Linken „Gute Arbeit für
Menschen mit Behinderungen“. Dabei wurde wieder
einmal ganz deutlich: Bei der Umsetzung der UN-Behin-
dertenrechtskonvention fehlt nach wie vor die Men-
schenrechtsperspektive!
Der UN-Menschenrechtsausschuss über die Rechte
von Menschen mit Behinderung ist besorgt über die Son-
derarbeitswelten in Deutschland. Er kritisiert die Dop-
pelstruktur und finanziellen Fehlanreize, die Inklusion
verhindern. Deutschland ist das Land in Westeuropa mit
dem am stärksten ausgeprägten Sondersystem.
Aber was bedeuten der Regierung die Empfehlungen
des UN-Fachausschusses?
Seit dem Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskon-
vention vor über sechs Jahren hat sich bei der Teilhabe
von Menschen mit Behinderungen an Arbeit und Be-
schäftigung am ersten Arbeitsmarkt nicht viel getan. Im
Gegenteil: ihre Arbeitslosenzahlen steigen entgegen dem
allgemeinen Trend weiter an und die Zahl der Menschen,
die auf Sonderwege geschickt werden, nimmt zu.
Und jetzt sagen Sie uns bitte nicht wieder, wie schon
beim letzten Mal, die Empfehlungen aus Genf würden
sich auf den Staatenbericht von 2011 beziehen und seien
quasi veraltet. Denn das sind sie nicht! Sie beziehen sich
auf die Prüfung diesen Jahres und sind somit brandaktu-
ell!
Ja, Menschen mit Behinderung sind nach wie vor
überdurchschnittlich oft arbeitslos, und das meist sehr
lange. Ihre Arbeitslosenquote ist doppelt so hoch wie die
nicht behinderter Menschen. Sie werden nach wie vor
ganz klar diskriminiert, sei es durch fehlende Unterstüt-
zung oder weil Arbeitsplätze nicht barrierefrei sind.
Menschen mit Behinderung haben immer noch oft mit
Vorurteilen zu kämpfen. Hinzu kommt die mangelnde
Sensibilisierung vieler Arbeitgeber und Arbeitgeberin-
nen für ihre Kompetenz. Viele junge Menschen mit Be-
hinderungen sind ausgezeichnet ausgebildet. Vor Ar-
beitslosigkeit schützt sie aber auch eine gute Ausbildung
nicht.
Und dennoch, meine Damen und Herren der Koali-
tion, Ihr Antrag greift viel zu kurz und kommt auch
reichlich spät!
Ehrlich gesagt, er ist ein wenig „Show“. Sie wollen
zwar einerseits Integrationsunternehmen in Inklusions-
unternehmen umbenennen, aber bei der Übersetzung der
UN-Behindertenrechtskonvention halten sie eisern und
stur an dem Begriff der Integration fest. Warum ersetzen
sie ihn nicht auch dort endlich durch Inklusion?
Die bereits rund 800 existierenden Integrationsunter-
nehmen sind einfach nicht genug, da geben wir Ihnen
Recht! Aber wieso beschränken Sie sich dann auf
150 Millionen Euro in den kommenden drei Jahren? Wa-
rum ergreifen Sie nicht mehr aus der Schatztruhe des
Ausgleichsfonds des BMAS? Und wie wollen Sie denn
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015 11245
(A) (C)
(D)(B)
noch in diesem Jahr die Integrationsunternehmen mit
50 Millionen entlasten? Wenn Sie Integrationsunterneh-
men für langzeitarbeitslose Menschen öffnen, was ge-
schieht mit den dort arbeitenden Menschen mit Behinde-
rung?
Eine Förderung der Integrationsbetriebe allein reicht
nicht aus. Wir brauchen eine strukturelle und schritt-
weise Umgestaltung des gesamten Werkstattsystems.
Integrationsfirmen sind für einen inklusiven Arbeits-
markt fundamental wichtig. Sie tragen wegweisend zur
Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben von Men-
schen mit Behinderungen bei. Wir müssen sie wesentlich
stärken.
Deshalb wollen wir, die Linke, bei der Umstrukturie-
rung des derzeitigen Arbeitsmarktes für Menschen mit
Behinderung vor allem Dreierlei:
Wir wollen erstens Integrationsbetriebe nicht nur
durch eine bevorzugte Vergabe bei öffentlichen Aufträ-
gen fördern, sondern zusätzlich durch Investitionsförde-
rungen und Steuerentlastungen in der Gründungsphase
langfristig unterstützen. Wir wollen zweitens ein Budget
für Arbeit, das es jedem Arbeitnehmer und jeder Arbeit-
nehmerin erlaubt, ihren Arbeitsplatz frei zu wählen.
Wir wollen drittens eine unabhängige verpflichtende
Beratung durch Menschen mit Behinderung, die Men-
schen bei der Ausübung ihres Wunsch- und Wahlrechts
bezüglich Arbeit mit zahlreichen Alternativen unter-
stützt.
Die UN-Behindertenrechtskonvention wurde in
Deutschland mit ihrem Inkrafttreten geltendes Recht.
Dieses Recht gilt es jetzt endlich auch in Bezug auf ei-
nen inklusiven Arbeitsmarkt umzusetzen. Menschen mit
Behinderung müssen endlich mit entsprechender Unter-
stützung am allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein.
Liebe Regierungsmitglieder, krempeln Sie die Ärmel
hoch und erfüllen Sie ihre Hausaufgaben aus Genf.
Setzen Sie die Empfehlungen aus Genf und somit
Menschenrechte endlich auch bei uns um.
Corinna Rüffer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich
habe es heute Nachmittag schon einmal gesagt: Ich freue
mich, dass nun endlich auch von den Koalitionsfraktio-
nen ein konkreter Vorschlag vorliegt, um die Chancen
behinderter Menschen auf dem Arbeitsmarkt zu verbes-
sern.
Ich habe mich bereits heute Nachmittag ausführlich
zum Thema geäußert, aus diesem Grund möchte ich nur
mit einigen wenigen Sätzen auf den vorliegenden Antrag
eingehen.
Den Fokus auf die Integrationsbetriebe zu legen, ist
eine gute Entscheidung: Sie bieten bereits jetzt vielen
schwerbehinderten Menschen tariflich bzw. ortsüblich
entlohnte Arbeitsplätze. Leider scheitern Neugründun-
gen immer wieder daran, dass in den Ländern nicht aus-
reichend Geld zur Verfügung steht. Aus diesem Grund
freue ich mich, dass hier vorgeschlagen wird, aus Bun-
desmitteln Gelder zur Verfügung zu stellen.
Ich möchte aber auf zwei Aspekte hinweisen, die wir
unbedingt im Auge behalten müssen: Zum einen spre-
chen Sie in Ihrem Antrag von „Anschubfinanzierung“.
Nach meiner Kenntnis ist es gegenwärtig ein großes Pro-
blem, die Arbeitsplätze in Integrationsfirmen auf Dauer
zu finanzieren. Wenn es also um die dauerhafte Beglei-
tung und die Finanzierung von Lohnkostenzuschüssen
geht, auf die sich Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber
auch verlassen können. Wenn wir die Integrationsfirmen
als Alternative zur Werkstatt für behinderte Menschen
ernsthaft stärken möchten, dann muss es auch hier Ver-
lässlichkeit geben. Nun soll hier eine schöne Summe für
Integrationsbetriebe zur Verfügung gestellt werden, und
es wäre doch sinnvoll, dass die Betriebe das Geld auch
so verwenden können, wie es zur Unterstützung der ent-
sprechenden behinderten Menschen vor Ort sinnvoll ist.
Den zweiten Punkt möchte ich hier als Anstoß in die
Runde geben: Wir wissen, dass es große Unterschiede
zwischen den Bundesländern gibt, was die Förderung
von Integrationsfirmen angeht. Wenn sich der Bund jetzt
finanziell für die Integrationsfirmen engagiert, sollten
wir gemeinsam darüber nachdenken, wie wir sicherstel-
len können, dass sich in der Folge kein Land aus der Ver-
antwortung zurückzieht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich danke Ihnen für
diesen Aufschlag und freue mich auf die weitere parla-
mentarische Beratung.
Anlage 19
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts zu dem Antrag: Bericht der Bundesre-
gierung zur weltweiten Lage der Religions- und
Glaubensfreiheit (Tagesordnungspunkt 21)
Erika Steinbach (CDU/CSU): Wir beraten heute ab-
schließend über den von CDU/CSU, SPD und Grünen
gemeinsam vorgelegten Antrag „Bericht der Bundesre-
gierung zur weltweiten Lage der Religions- und Glau-
bensfreiheit“. Zu Beginn meiner Rede will ich mich aus-
drücklich bei unserem Fraktionsvorsitzenden Volker
Kauder bedanken, der sich seit vielen Jahren mit großem
Nachdruck für das Menschenrecht auf Religionsfreiheit
engagiert. Lieber Volker, mit deinem unermüdlichen
Einsatz hast du das Feld bestellt, auf dem wir nun auch
mit diesem Antrag aussäen können.
Franz Josef Jung hat den Antrag gemeinsam mit den
Beauftragten für Kirchen und Religionsgemeinschaften
unseres Koalitionspartners und der Grünen „auf die
Schienen gesetzt“. Auch dafür danke ich ausdrücklich.
Die Religion drückt die tiefste Sehnsucht des Men-
schen aus. Sie bestimmt seine Weltanschauung und re-
gelt die Beziehung zu den anderen. Letztlich gibt sie die
Antwort auf die Frage nach dem wahren Lebenssinn im
persönlichen und im sozialen Bereich. Die Religionsfrei-
heit bildet daher das Herz der Menschenrechte.
11246 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015
(A) (C)
(D)(B)
Deshalb muss jeder Mensch seine Religion frei leben
können. Für uns in Deutschland und in Europa ist dieser
Satz selbstverständlich. In vielen anderen Teilen der
Welt gilt dies aber nicht. Die Zahl der religiösen Aus-
einandersetzungen steigt. Religiös motivierter Hass ist
weltweit zu einer der größten Bedrohungen des Friedens
geworden – und das nicht nur im Nahen und Mittleren
Osten, wo der Terror des „Islamischen Staates“ auch im-
mer mehr Muslime bedroht.
Religionsfreiheit ist eng verwoben mit anderen Frei-
heitsrechten. Wo es keine Religionsfreiheit gibt, da gibt
es keine Freiheit. Die Debatte über die Mohammed-
Karikaturen hat die direkte Verbindung der Religions-
freiheit mit der Meinungs- und Pressefreiheit mehr als
deutlich gemacht. Darüber hinaus haben viele Minder-
heitenkonflikte auch eine religiöse Dimension. Auch
hier gilt: ohne Religionsfreiheit kein Minderheiten-
schutz.
Für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist die Reli-
gions- und Glaubensfreiheit seit langem ein wichtiges
Anliegen, das sie aus dem C in ihrem Namen, dem Be-
kenntnis zum Christentum, herleitet. Die Hilfe für reli-
giöse Minderheiten auf der ganzen Welt gehört in den
Kontext ihrer wertegebundenen Außenpolitik. Wertege-
bundene Außenpolitik darf nicht nur ein Lippenbekennt-
nis sein. Sie muss ihren Ausdruck in der praktischen
Politik finden. Bereits in der vergangenen Wahlperiode
verabschiedete der Bundestag auf Initiative der Unions-
fraktion einen Koalitionsantrag zur Religionsfreiheit. Es
freut mich sehr, dass wir nun mit dem vorliegenden in-
terfraktionellen Antrag gemeinsam die nächsten Schritte
auf diesem Weg gehen können.
Neu ist, dass die Bundesregierung in unserem Antrag
dazu aufgefordert wird, bis Mitte nächsten Jahres erst-
malig einen Bericht vorzulegen, in dem der Stand der
Religions- und Glaubensfreiheit in den Staaten weltweit
beschrieben wird. Dabei muss die Regierung auch ihre
politischen Bemühungen vorstellen, die sie zur Förde-
rung dieses Menschenrechts unternimmt. Damit folgen
wir dem Beispiel der USA. Dort muss das State Depart-
ment sogar jährlich berichten. Ich wünsche mir sehr,
dass wir – aufbauend auf diesen zunächst einmaligen
Bericht – mittelfristig ebenfalls einen regelmäßigen Be-
richtsrhythmus erreichen werden. So wäre zum Beispiel
ein zweijähriger Rhythmus – immer im Wechsel mit
dem Menschenrechtsbericht der Bundesregierung –
denkbar.
In unserem Antrag machen wir sehr deutlich, dass wir
keine Religion oder Glaubensgemeinschaft besonders
begünstigen wollen. Für unser eigenes Land heißt das,
dass in der Bundesrepublik Deutschland jeder im Rah-
men unserer Gesetze seinen Glauben frei leben kann.
Das bedeutet zum Beispiel, dass alle Religionsgemein-
schaften ihre Gottes- und Gebetshäuser bauen dürfen.
Das bedeutet aber auch, dass das, was bei uns erlaubt ist,
zum Beispiel in der Türkei oder anderen mehrheitlich
muslimischem Ländern möglich sein sollte.
In diesem Zusammenhang muss allerdings auch ganz
klar sein, dass die mittelalterlichen Regeln der Scharia
nicht mit unserem Grundgesetz und den freiheitlichen
Werten der Europäischen Union kompatibel sind. Der
Bericht wird sicherlich dazu beitragen, die doch manch-
mal sehr emotional geführten Debatten in diesem Be-
reich zu versachlichen.
Die deutsche Außenpolitik kann viel für die Reli-
gionsfreiheit und religiöse Toleranz erreichen. Kaum ein
Land dieser Welt wird es gerne hören, wenn Missstände
auf diesem Gebiet offen angesprochen werden. Gegen
den islamistischen Terror, wie er jüngst Tunesien und
Frankreich erschüttert hat, hilft aber keine Diplomatie.
Hier können wir nur die Kräfte unterstützen, die gegen
diese Barbarei Widerstand leisten.
Grundsätzlich muss ein neuer Geist der religiösen
Toleranz in dieser Welt einziehen. Das Eintreten für die
Religionsfreiheit ist ein Einsatz für den Frieden. Der in
unserem gemeinsamen Antrag geforderte Bericht zur
weltweiten Situation der Religions- und Glaubensfrei-
heit kann in diesem Kontext ein deutscher Beitrag sein.
Die erste Lesung und die Ausschussberatungen haben
gezeigt, dass es in allen Fraktionen des Deutschen Bun-
destages eine breite Unterstützung für unser Vorhaben
gibt. Deshalb würde ich mich auch heute in der abschlie-
ßenden Abstimmung über Ihre Zustimmung freuen.
Frank Schwabe (SPD): Zurzeit ist Ramadan, der
Fastenmonat der Muslime. Weltweit sind die Muslime
dazu aufgerufen, von Sonnenaufgang bis Sonnenunter-
gang auf Essen und Trinken zu verzichten. Der Ramadan
hat einen hohen Stellenwert für gläubige Muslime.
In China unternimmt die Zentralregierung dieser Tage
den Versuch, diese äußeren Symbole muslimischer Reli-
giosität zu unterdrücken, unsichtbar zu machen. In eini-
gen Landkreisen in der Provinz Xinjiang, deren Bevöl-
kerung knapp zur Hälfte aus dem Volk der muslimischen
Uiguren besteht, verbieten Parteimitglieder und Beamte
das Fasten. Uigurische Beamte müssen schwören, die
Fastenzeit zu boykottieren und nicht an Gott zu glauben
und nicht an religiösen Aktivitäten teilzunehmen. Han-
chinesische Kollegen sind aufgefordert, darauf zu ach-
ten, ob die Beamten mittags wirklich etwas essen. In den
Schulen sollen Lehrer Schülern Wasser geben mit der
Aufforderung, es öffentlich zu trinken. In der Öffentlich-
keit wird vermehrt für Restaurantbesuche und vor allem
auch für den Genuss von Alkohol geworben. All diese
Aktionen stellen eine Verletzung des Rechts auf Glau-
bens- und Religionsfreiheit dar.
Leider ist die Situation der Uiguren in China nur ein
Beispiel. In den letzten Jahren steigt die Zahl der Men-
schen, die aufgrund ihrer religiösen Überzeugung, der
Ausübung ihrer Religion oder aufgrund eines Wechsels
ihrer Religionszugehörigkeit Opfer von Diskriminie-
rung, Unterdrückung, Verfolgung und erheblicher
Repressionen werden, stetig. Diese Menschen werden
verhaftet, misshandelt, vertrieben. Vielfach müssen sie
sogar um Leib und Leben fürchten.
Der Fall der Uiguren in der chinesischen Region Xin-
jiang reiht sich in eine endlose Liste der Verletzungen
der Religions- und Weltanschauungsfreiheit ein. Dies
zeigt der Bericht zur internationalen Lage der Religions-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015 11247
(A) (C)
(D)(B)
freiheit, den die US-Regierung seit einigen Jahren veröf-
fentlicht: Dort wird von über 400 schiitischen Muslimen
und 80 Christen berichtet, die in Pakistan von Milizen
getötet wurden. In Ägypten sind Schiiten und Christen
weiterhin vielfach gewalttätigen Angriffen ausgesetzt.
Im Iran werden religiöse Gruppierungen, die nicht dem
schiitischen Islam angehören, von Beamten und den so-
genannten Gotteswächtern schikaniert und bedroht – so
auch die Bahai. In Bangladesch wurden, angefacht durch
politische Unruhen, Hindus und andere ethnische Grup-
pierungen belästigt und ebenfalls Opfer physischer An-
griffe. In Sri Lanka zerstörten gewaltbereite nationalisti-
sche Buddhisten Moscheen und Kirchen, ohne dass
Sicherheitskräfte eingriffen.
Uns allen sind auch die Gräueltaten des „Islamischen
Staates“ vor Augen, der in großen Teilen Syriens und des
Irak in quasistaatlicher Funktion herrscht. IS-Anhänger
versklaven Jesiden, Christen, aber auch schiitische
Muslime, verkaufen Frauen und Kinder und töten viele
Andersgläubige auf brutalste Weise.
Wir sollten den Blick allerdings nicht nur auf die isla-
misch geprägten Länder des Nahen und Mittleren Ostens
oder auf den asiatischen Kontinent richten. Auch hier bei
uns in Europa werden Menschen aufgrund ihrer Reli-
gionszugehörigkeit mit Skepsis beäugt, ausgegrenzt.
Dies belegen Phänomene wie Pegida, antisemitische
oder antiislamische Äußerungen in Internetforen und in
der Öffentlichkeit sowie die Kontroversen um den Bau
von Synagogen, Moscheen und anderen Gotteshäusern
„fremder“ Religionen.
In den letzten Jahren lässt sich eine Renaissance der
Religion feststellen. In einer zunehmend globalisierten
Welt suchen viele Menschen im Glauben und im Zuge-
hörigkeitsgefühl zu einer Glaubensgemeinschaft Sinn
und Sicherheit. Ein Trend, der sich auf allen Kontinenten
beobachten lässt, seien es die evangelikalen Bewegun-
gen in den USA, in Lateinamerika oder in Afrika, die
Strahlkraft des Islam oder aber die Wiederentdeckung
und Stärkung der orthodoxen Kirche in Russland.
Zunehmende Religiosität und eine wachsende Bedeu-
tung von religiösen Faktoren in Politik und Gesellschaft
führen, wie die genannten Beispiele zeigen, jedoch nicht
automatisch zu mehr Verständigung und Frieden. Im Ge-
genteil: Sie lösen Spannungen aus in der Gesellschaft,
Spannungen, die zu Einschränkungen des Rechts auf
Religions- und Meinungsfreiheit und somit de facto zur
Einschränkung von Menschenrechten führen. Diese kön-
nen, wie wiederum durch die Fallbeispiele deutlich wird,
durch zivilgesellschaftliche Akteure, aber auch durch
staatliche Stellen geschehen. Häufig sind religiöse
Minderheiten die Leidtragenden, aber auch die Mehr-
heitsreligionen können betroffen sein. Oft geht es nur
vordergründig um Religion; politische, soziale und wirt-
schaftliche Motive spielen eine ebenso große Rolle. Zur
Bewältigung der Konflikte bedarf es daher oftmals einer
tiefergehenden Analyse.
Die SPD-Fraktion verfolgt mit großer Sorge die welt-
weite Verfolgung von religiösen Minderheiten und setzt
sich mit all ihren Möglichkeiten für den Schutz der Reli-
gions- und Glaubensfreiheit ein. Dabei unterscheiden
wir nicht nach Religionen, Weltanschauungen oder nach
der Zahl der Anhängerschaft.
Die weltweite Achtung und der Schutz der Religions-
und Glaubensfreiheit muss eine vordringliche Aufgabe
der internationalen Gemeinschaft sein. Die rechtlichen
Grundlagen dafür sind längst vorhanden, denn Religi-
ons- und Glaubensfreiheit sind in internationalen und
regionalen Menschenrechtskonventionen sowie in natio-
nalen Verfassungen verankert: in Artikel 18 der Allge-
meinen Erklärung der Menschenrechte, in Artikel 18 des
UN-Zivilpakts, in Artikel 9 der Europäischen Men-
schenrechtskonvention, EMRK, in Artikel 10 der Grund-
rechtecharta der EU, in Artikel 12 der Amerikanischen
Menschenrechtskonvention und in Artikel 8 der Banjul
Charta. Religionsfreiheit ist ein universales Recht, keine
Frage der Toleranz. 166 Staaten haben den UN-Zivilpakt
ratifiziert und erkennen damit verbindlich den folgenden
Artikel 18 an:
(1) Jedermann hat das Recht auf Gedanken-, Ge-
wissens- und Religionsfreiheit. Dieses Recht um-
fasst die Freiheit, eine Religion oder eine Weltan-
schauung eigener Wahl zu haben oder anzunehmen,
und die Freiheit, seine Religion oder Weltanschau-
ung allein oder in Gemeinschaft mit anderen, öf-
fentlich oder privat durch Gottesdienst, Beachtung
religiöser Bräuche, Ausübung und Unterricht zu be-
kunden.
(2) Niemand darf einem Zwang ausgesetzt werden,
der seine Freiheit, eine Religion oder eine Weltan-
schauung seiner Wahl zu haben oder anzunehmen,
beeinträchtigen würde.
(3) Die Freiheit, seine Religion oder Weltanschau-
ung zu bekunden, darf nur den gesetzlich vorgese-
henen Einschränkungen unterworfen werden, die
zum Schutz der öffentlichen Sicherheit, Ordnung,
Gesundheit, Sittlichkeit oder der Grundrechte und
-freiheiten anderer erforderlich sind.“
Religions- und Glaubensfreiheit ist eine Ausprägung
der Menschenwürde. Sie bezieht sich auf den einzelnen
Menschen und sein Recht, eine Religion oder eine Welt-
anschauung zu haben oder anzunehmen. Er kann sie
auch wechseln oder einen atheistischen Standpunkt ein-
nehmen. Diese Entscheidungen zu treffen ist seine indi-
viduelle Freiheit. Positive Religionsfreiheit bedeutet,
dass ein Mensch in allen seinen religiösen oder weltan-
schaulichen Aktivitäten Schutz genießt, negative Reli-
gionsfreiheit bedeutet, dass er zu keiner Religion oder
Weltanschauung und den damit verbundenen Aktivitäten
gezwungen werden darf. Positive und negative Reli-
gionsfreiheit sind zwei Seiten ein und derselben Me-
daille.
Für alle den Menschenrechten verpflichteten Staaten,
Gesellschaften und Religionsgemeinschaften ist es eine
große Herausforderung, wirksam gegen die politische
Instrumentalisierung von Religion und für den Schutz
der Religions- und Glaubensfreiheit einzutreten, sowohl
im Innern als auch in den internationalen Beziehungen.
In Europa ist Religionsfreiheit besser umgesetzt als in
anderen Regionen der Welt. Deshalb haben die europäi-
11248 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015
(A) (C)
(D)(B)
schen Staaten eine besondere Vorbildfunktion und Ver-
antwortung für den inter- und intrareligiösen Dialog und
für ein tolerantes Zusammenleben von Menschen unter-
schiedlicher Religionszugehörigkeit.
Der für das nächste Jahr geplante Bericht über die
weltweite Lage der Religions- und Glaubensfreiheit ist
eine gute Basis zur intensiven Auseinandersetzung mit
der Thematik und wird die Arbeit in den Ausschüssen
und im Bundestag unterstützen. Hervorzuheben ist, dass
dieser Bericht nicht nur die Verletzungen des Rechts auf
Religionsfreiheit aufzeigen, sondern auch auf die Maß-
nahmen der Bundesregierung eingehen wird, die diese
zum Schutz der betroffenen religiösen Gruppen sowie
zur Verbesserung der menschenrechtlichen Lage in den
jeweiligen Ländern getroffen hat.
Ich bitte um Zustimmung zu diesem Antrag.
Christine Buchholz (DIE LINKE): Heute stimmen
wir über einen Antrag ab, der die Bundesregierung auf-
fordert, bis zum 30. Juni 2016 einen Bericht über den
Stand der Religionsfreiheit weltweit vorzulegen. Die
Linke wird diesem Antrag zustimmen.
Zwei Aspekte möchte ich in der Debatte besonders
hervorheben:
Wenn es um Religionsfreiheit geht, sollten wir zuerst
vor der eigenen Haustür kehren. Das betrifft die Situa-
tion sowohl in der Bundesrepublik als auch in der EU.
Zum anderen will ich hervorheben, dass viele Kon-
flikte, die religiös bemäntelt werden, in aller Regel im
Kern politische und soziale Auseinandersetzungen dar-
stellen. Das Eintreten für Religionsfreiheit darf im Übri-
gen nicht für eine Außenpolitik instrumentalisiert wer-
den, die diese Konflikte nicht löst, sondern befördert.
Zum ersten Punkt: Wie steht es um die Religionsfrei-
heit in Deutschland und Europa? Dazu zählt nicht nur
das formale Recht auf Ausübung der Religion der eige-
nen Wahl. Es muss auch ein Klima herrschen, in dem
alle Menschen ohne Angst sich zu ihrem Glauben beken-
nen können.
Dies ist nicht der Fall. Es herrscht ein Klima der
Feindseligkeit gegen Muslime in vielen europäischen
Ländern. Dies wurde jüngst durch eine Umfrage des US-
Meinungsforschungsinstituts Pew Research Center be-
stätigt, wonach 56 Prozent der Bevölkerungen in den
sechs größten EU-Ländern negativ gegenüber Muslimen
eingestellt seien.
Die Folgen dieser feindseligen Haltung gegenüber
dem Islam sind dramatisch. So jährte sich gestern zum
sechsten Mal der Mord an Marwa al-Schirbini, die im
Dresdner Landgericht vor den Augen ihres Kindes und
ihres Mannes von einem Rassisten niedergestochen
wurde. Die damalige Bundesregierung hat mehrere Tage
gebraucht, bevor sie sich überhaupt zu diesem Verbre-
chen geäußert hat.
Zurückhaltung bei der Verteidigung von Muslimen
gibt jenen Rückenwind, die mit dem Hass gegen Mus-
lime Menschen mobilisieren. Pegida konnte so Tausende
in Dresden mobilisieren. Viele Politiker stellten sich ge-
gen Pegida. Nur die wenigsten sprachen aus, was diese
Bewegung antrieb: Rassismus gegen Muslime.
Pegida ist nur der sichtbare Ausdruck für ein verbrei-
tetes Problem. Moscheen wurden in den vergangen Jah-
ren zu Dutzenden Ziele rassistischer Anschläge. Es gab
wiederholt Proteste gegen den Bau von Moscheen. In ei-
nigen Orten versuchen kommunale Verwaltungen über
Bauvorschriften und andere bürokratische Tricks, den
Bau von Moscheen in zentraler Lage zu verhindern.
Solange Muslime, Juden und andere religiöse Min-
derheiten nicht Gotteshäuser nach ihren Vorstellungen
bauen oder angstfrei besuchen können, ist die Religions-
freiheit bei uns nicht für alle garantiert.
Seit einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts im
März darf Lehrerinnen nicht mehr pauschal verboten
werden, an Schulen das Kopftuch zu tragen. Dies ist ein
Schritt nach vorn. Denn das Kopftuchverbot ist nichts
anderes als ein Akt der Unterdrückung einer religiösen
Minderheit. Doch wir erleben weiterhin tagtäglich die
Diskriminierung von muslimischen Frauen, die Kopf-
tuch tragen.
Einer der Gründe sind Äußerungen und Schriften be-
kannter Politiker, nicht zuletzt der Sozialdemokraten
Sarrazin und Buschkowsky. In dem Bezirksamt von Ber-
lin-Neukölln, dort, wo Buschkowsky Bürgermeister war,
bewarb sich die kopftuchtragende Muslima Betül Ulu-
soy als Rechtsreferendarin. Sie musste erleben, wie eine
telefonische Zusage zurückgezogen wurde, nachdem sie
dort persönlich vorstellig wurde. Das ist Diskriminie-
rung und widerspricht geltendem Recht. Leider ist diese
Erfahrung kein Einzelfall.
Häufig wird mit dem Finger auf andere Länder ge-
zeigt, wenn es darum geht, religiöse Diskriminierung an-
zuprangern. Doch wie verhält sich die deutsche Aus-
landsvertretung in dem Land gegenüber diesem
Phänomen? Die Ahmadiyya-Gemeinde wird in Pakistan
verfolgt, ihre Eheschließungen werden in Pakistan nicht
anerkannt. Wenn nach Deutschland ausgewanderte Mit-
glieder der Ahmadiyya-Gemeinde Ehegatten oder -gat-
tinnen im Zuge der Familienzusammenführung nachho-
len wollen, bekommen sie Probleme. Oft müssen sie
erleben, dass sich die Deutsche Botschaft in Pakistan die
Position der pakistanischen Behörden zu eigen macht
und die Eheschließungen nicht anerkennt.
Wer weltweit glaubwürdig für Religionsfreiheit ein-
treten möchte, darf nicht gleichzeitig diskriminierende
Standards bei der Vergabe von Visa und Aufenthaltsbe-
rechtigungen übernehmen. Hier gibt es Handlungsbe-
darf.
Herr Kauder setzt sich besonders für die Religions-
freiheit von Christinnen und Christen ein, zum Beispiel
in Ägypten. Ich bin auch für die Religionsfreiheit der
Koptischen Gemeinde in Ägypten. Wer aber die Rechte
der Kopten hochhält und dann dem ägyptischen Diktator
el-Sisi den roten Teppich in Berlin ausrollt, der predigt
eine Doppelmoral. Unter Präsident el-Sisi wurden rund
1 500 Todesurteile gegenüber Muslimbrüdern und ande-
ren Oppositionellen verhängt. Man kann sehr wohl die
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015 11249
(A) (C)
(D)(B)
Rechte der Kopten verteidigen, ohne sich vor den Karren
el-Sisis spannen zu lassen.
Nicht nur el-Sisi, auch das saudische Regime wird ho-
fiert – obgleich in dem Land auf die Ausübung der
christlichen Religion die Todesstrafe steht. Offenbar
trägt der Vorsatz einer „wertegeleiteten“ Außenpolitik
nur so weit, wie die „Werte“ nicht mit wirtschaftlichen
oder strategischen Interessen kollidieren. Das ist leider
die Realität.
Die Redner der Union haben in der ersten Lesung die-
ses Antrages auf die Verbrechen des sogenannten „Isla-
mischen Staates“ verwiesen. Der IS mordet, versklavt
und vergewaltigt im Namen der Religion Christen und
Jesiden. Das ist richtig. Allerdings ist es falsch, den Ein-
druck zu erwecken, es handele sich beim Krieg im Irak
um einen Krieg zwischen Christentum und Islam. Ers-
tens sind es in der Mehrzahl Muslime, die unter dem IS
leiden. Zum anderen werden vonseiten der radikal-schii-
tischen Milizen Verbrechen begangen, die jenen des IS
gleichen. Doch diese Milizen sind es, auf die sich das
mit der westlichen Allianz verbündete Regime in Bag-
dad stützt. Die Religion dient nicht nur dem IS, sondern
beiden Seiten als Vorwand, um Ortschaften zu plündern,
Gefangene hinzurichten und Bevölkerungen zu vertrei-
ben.
Wir sind gespannt auf den Bericht der Bundesregie-
rung zur Religionsfreiheit. Und wir sind gespannt, wie
sie das eigene Agieren in der Frage bilanzieren wird. Es
geht um die Stärkung der Religionsfreiheit und aller an-
deren Menschenrechte. Hierzulande und weltweit.
Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Religiöse Intoleranz ist weltweit auf dem Vormarsch.
Menschen werden aufgrund ihrer Religion in vielen Tei-
len der Welt diskriminiert, schikaniert, gefoltert und ge-
tötet. Mit barbarischem Eifer verfolgen extremistische
Gruppierungen wie ISIS Andersgläubige – ob gemäßigte
Muslime, Jesiden oder Christen. Die Terroranschläge am
vergangenen Freitag mit insgesamt mehr als 65 Toten
haben uns diese grausame Realität wieder einmal vor
Augen geführt. In Lyon hinterließ der Attentäter eine
IS-Flagge und auch zu dem Anschlag auf Touristinnen
an einem Strand in Tunesien bekannte sich die Terror-
miliz. Der saudi-arabische Ableger des IS zeigte sich
verantwortlich für die Bombe in einer Moschee in Ku-
wait.
Christenverfolgung ist ein besorgniserregendes Pro-
blem, in Syrien sind derzeit 200 000 Assyrer auf der
Flucht, auch die Drusen werden von ISIS bedroht. Der
„Weltverfolgungsindex 2015“ des christlichen Hilfs-
werks Open Doors zeigt mit Blick auf verfolgte Christin-
nen und Christen einen wichtigen Ausschnitt der religiö-
sen Verfolgung. Aber die Realität ist komplexer als das:
Heiner Bielefeldt umschreibt es treffend: „Religionsfrei-
heit ist ein universelles Menschenrecht, das Menschen in
all ihrer Vielfalt und Unterschiedlichkeit schützt“. Er ist
UN-Sonderberichterstatter für Religions- und Weltan-
schauungsfreiheit. Glauben als Menschenrecht beinhal-
tet also nicht nur das Recht, sich einen Glauben zu bil-
den, sondern auch das Recht, ihn zu wechseln oder
überhaupt nicht an eine Religion zu glauben.
Auch Muslime sind sehr häufig Opfer religiöser Ver-
folgung, nicht nur, aber gerade auch durch Islamisten.
Im Irak und Syrien werden neben den Jesiden auch
Schiiten und kritische Sunniten vom IS verfolgt. In In-
dien kommt es mit dem Hindu-Nationalismus immer
wieder zu Gewalt gegenüber religiösen Minderheiten. In
Myanmar gehen buddhistische Mönche gegen Muslime
vor, auch in Sri Lanka wird Gewalt im Namen des Bud-
dhismus verübt. In den Südstaaten der USA sind in den
letzten Wochen zahlreiche sogenannte Black Churches
angezündet worden von Tätern, deren krudes rassisti-
sches „Ku-Klux-Klan“-Weltbild sich auf die christliche
Lehre berufen will. In vielen Teilen der Welt werden au-
ßerdem immer wieder Atheisten verfolgt.
Zur Religionsfreiheit gehört auch die negative Reli-
gionsfreiheit. Das heißt, die Freiheit, religiöse Riten und
Äußerungsformen nicht vollziehen zu müssen. Aber im-
mer wieder werden religiöse Argumente missbraucht,
um Menschenrechtsverletzungen zu rechtfertigen, so am
vergangenen Wochenende in Istanbul. Die friedlich De-
monstrierenden von Istanbul Gay Pride wurden mit
Knüppeln, Tränengas, Wasserwerfern und sogar Plastik-
geschossen vertrieben. Ihr Protest wurde als „unverein-
bar mit dem Ramadan“ denunziert. Dieser Missbrauch
der Religion als Legitimation für Gewalt ist inakzeptabel
und besonders alarmierend. Die Demonstrierenden ver-
dienen unsere volle Solidarität.
Alle diese Vorfälle zeigen, dass wir endlich eine ehrli-
che und sachliche Debatte brauchen, sowohl über die
Verfolgung im Namen des Glaubens als auch über die
Verfolgung von Gläubigen. Hierbei kommt es darauf an,
Zusammenhänge zwischen Gewalt und Religion nicht zu
vereinfachen. Es ist wichtig, dass wir ein Bild davon be-
kommen, wo Menschen überall auf der Welt aufgrund
ihres Glaubens verfolgt und diskriminiert werden. Der
von uns gemeinsam mit den Koalitionsfraktionen einge-
forderte Bericht der Bundesregierung zur weltweiten
Lage der Religions- und Glaubensfreiheit kann dieses
Bild zeichnen. Er kann die Debatte um Religionsfreiheit
schärfen und auf sachlicher Ebene voranbringen. Es geht
uns um eine präzise Berichterstattung zur weltweiten
Lage der Verfolgung von religiösen Minderheiten.
Der Bericht muss dann aber auch Konsequenzen für
unsere eigene Politik haben. Unsere Aufmerksamkeit
muss allen Schwachen, allen Opfern religiöser Verfol-
gung gelten. Denn dort, wo religiöse Gemeinschaften
sich unterdrückt und benachteiligt fühlen, lassen sie sich
für politische Zwecke mobilisieren. Außenpolitik muss
den respektvollen Umgang der Religionsgemeinschaften
untereinander fördern. Die Bundesregierung muss deut-
liche Kritik an der Diskriminierung aller religiösen Min-
derheiten in allen Teilen der Welt üben. Saudi-Arabien
kann dann nicht mehr immer wieder als Partner bezeich-
net werden, wenn die Regierung bereits den Besitz einer
Bibel mit dem Tod bestraft und religiös-dogmatische,
gewaltbereite salafistische Gruppierungen weltweit un-
terstützt.
11250 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015
(A) (C)
(D)(B)
Religionsfreiheit ist ein zentrales Menschenrecht, und
wir dürfen eines nicht vergessen: Sie muss der gleichen
freiheitsrechtlichen Logik folgen wie die Meinungsfrei-
heit. Es geht darum, dass Menschen ihre Religion gemäß
ihrer persönlichen Überzeugung gleichberechtigt und
frei leben können. Dazu gehört auch, dass man religiös
provozieren darf. Zum demokratischen Rechtsstaat muss
gehören, diese Provokationen auszuhalten – egal ob von
Monty Python oder „Charlie Hebdo“. Der Graben ver-
läuft nicht zwischen Religionen, sondern zwischen De-
mokraten und den Feinden der Demokratie.
Anlage 20
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Fischetikettierungsgesetzes und des
Tiergesundheitsgesetzes (Tagesordnungspunkt 22)
Thomas Mahlberg (CDU/CSU): Gerade mal vor
zwei Tagen kam eine Meldung des Statistischen Bundes-
amtes, dass die Erzeugung in deutschen Aquakulturbe-
trieben im Jahr 2014 gegenüber dem Vorjahr um 3,0 Pro-
zent gestiegen ist. Immer mehr Fisch, der auf unserem
Teller landet, kommt aus der Zucht. In absehbarer Zeit
werden wir wohl mehr Fisch aus Aquakulturen als aus
dem Fang verspeisen. Im Hinblick auf die Überfischung
und zum Schutz der Ökosysteme ist diese Entwicklung
zu begrüßen. Bei der Nutzung der Wachstumspotenziale
der Aquakultur ist jedoch darauf zu achten, dass dies
nachhaltig und tierschutzgerecht erfolgt.
Der Appetit auf Aquakultur- und Fischereiprodukte
wächst weltweit seit dem Jahr 2004 kontinuierlich. Fisch
ist nicht nur ein wichtiger Teil der menschlichen Ernäh-
rung, sondern auch ein bedeutsamer Wirtschaftsfaktor.
Alleine in der deutschen Fischwirtschaft betrug der
Umsatz im Jahr 2014 rund 2 Milliarden Euro. Für die
nächsten Jahre werden der Branche stabile Umsätze pro-
gnostiziert. Die Fischwirtschaft hat nicht nur unseren
Fischhunger zu stillen und dabei auf die nachhaltige
Nutzung natürlicher Ressourcen zu achten.
Mit der heute zur Beratung stehenden Änderung des
Fischetikettierungsgesetzes wird die Fischwirtschaft ver-
pflichtet, noch mehr Transparenz über die Herkunft und
die Produktionsmethoden ihrer Produkte herzustellen.
Die Überführung der neuen, ergänzenden EU-Vorschrif-
ten zur Verbraucherinformation in nationales Recht ist
eine Eins-zu-eins-Umsetzung und stärkt das Vertrauen
der Konsumenten, was wir als CDU/CSU-Bundestags-
fraktion äußerst begrüßen. Dank der neuen Kennzeich-
nungsvorschriften wird sich jeder Verbraucher informie-
ren können, in welchem Untergebiet genau und mit
welchen Fanggeräten der Fisch gewonnen wurde.
Auch bei Binnenfischerei- und Aquakulturerzeugnis-
sen muss künftig ihre Herkunft angegeben werden. So
kann jeder beim Kauf verstärkt Nachhaltigkeitsaspekte
in Erwägung ziehen und den Schutz unserer natürlichen
Ressourcen fördern. Das entspricht unserem Leitbild ei-
nes mündigen Verbrauchers, der auf der Grundlage
klarer Angaben sein Kaufverhalten steuern und dadurch
Verantwortung übernehmen kann. Die Stärkung der
Verbraucherinformation rechtfertigt geringfügig höhere
Kosten, die der Wirtschaft durch die erweiterte Etikettie-
rung ihrer Erzeugnisse entstehen sowie den eher unbe-
deutenden Mehraufwand für die Verwaltung.
Mit keinerlei Kosten verbunden ist wiederum die
Änderung des Tiergesundheitsgesetzes, die heute ebenso
in der zweiten und dritten Lesung beraten wird. Mit die-
ser Änderung wird eine Regelungslücke geschlossen,
um bestimmte Verordnungsregelungen mit einem
Bußgeld zu bewehren. Dies ist wichtig, damit im Falle
einer virulenten Tierseuche Zuwiderhandlungen gegen
entsprechende Verbote als Ordnungswidrigkeit geahndet
werden können.
Ferner wollen wir mit einem Änderungsantrag der
Koalitionsfraktionen dem Friedrich-Loeffler-Institut, das
als Bundesforschungsinstitut für die Tiergesundheit zu-
ständig ist, eine Veröffentlichung von Testergebnissen
ermöglichen. Die Ermächtigung sieht vor, dass das Insti-
tut die im Rahmen seiner Tätigkeit als Referenzlabor ge-
wonnenen Erkenntnisse veröffentlichen kann, soweit
dies einer Gefahrenabwehr oder einer Risikovorbeugung
dient. Bei der Entscheidung über die Veröffentlichung
hat das Friedrich-Loeffler-Institut die Belange der Be-
troffenen zu beachten und ihnen Rechnung zu tragen.
Eine Veröffentlichung personenbezogener Daten ist aus-
geschlossen.
Mit diesem Vorschlag verbessern wir die Rechtslage
im Sinne der Tiergesundheit. Für meine Fraktion und
mich persönlich ist die Stärkung der Tiergesundheit ein
wichtiger Auftrag und hohe Verantwortung, die sich aus
dem Staatsziel Tierschutz ergeben.
Zum Schluss möchte ich um breite Unterstützung
für die Änderung des Tiergesundheitsgesetzes und des
Fischetikettierungsgesetzes werben. Denn mit diesen
Änderungen stärken wir den Verbraucher und sein Recht
auf verständliche und umfassende Information, fördern
das Verbrauchervertrauen in die Fischerei- und Aquakul-
turprodukte, machen die Fischerzeugung nachhaltiger
und schützen die Gesundheit unserer Mitgeschöpfe.
Alois Rainer (CDU/CSU): Mit dem vorliegenden
Gesetzentwurf zur Änderung des Fischetikettierungsge-
setzes und des Tiergesundheitsgesetzes vollziehen wir
die Durchführung der Rechtsakte der Europäischen Ge-
meinschaft durch die Verordnung 1379/2013 vom
29. Dezember 2013.
Damit gehen wir auf die gemeinsame Marktorganisa-
tion für Erzeugnisse der Fischerei und der Aquakultur
ein mit dem Ziel, den Verbraucherinnen und Verbrau-
chern weiterführende, klare und verständliche Informa-
tionen verfügbar zu machen.
Die Gesetzesänderung berücksichtigt in Artikel 1 die
erweiterten Verbraucherinformationen des Unionsrechts,
die bei der Etikettierung nach diesem Gesetz in Zukunft
zusätzlich berücksichtigt werden müssen. Unverändert
davon bleiben in dem Entwurf die Bestimmungen hin-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015 11251
(A) (C)
(D)(B)
sichtlich der Aufgaben der zuständigen Behörden sowie
die Bußgeldvorschriften. So ist die Bundesanstalt für
Landwirtschaft und Ernährung weiterhin für die Über-
wachung der Einhaltung der Rechtsakte der EU außer-
halb der verbindlichen Anlandeorte zuständig.
Demnach müssen sowohl für die Gebiete des
Nordostatlantiks, die FAO-Fanggebiete, in denen die
deutsche Flotte überwiegend fischt, als auch für das
Fanggebiet im Mittelmeer und im Schwarzen Meer, dif-
ferenzierte Angaben über die Herkunft der Fischereipro-
dukte, mit Angabe über das Untergebiet oder über den
Bereich des Fischens, gemacht werden.
Die Änderungen in Artikel 2 bezüglich des Tier-
schutzgesetztes dienen vorrangig der Schließung einer
Lücke bei den Ordnungswidrigkeiten.
Zum derzeitigen Zeitpunkt sieht das Tiergesundheits-
gesetz keine ausreichende Bußgeldbewehrung bestimm-
ter Verordnungsregelungen vor, die Verbote des innerge-
meinschaftlichen Verbringens, der Einfuhr oder der
Ausfuhr von Tieren, Teilen von Tieren oder tierischen
Erzeugnissen zum Inhalt haben. Zum Beispiel bei hoch-
ansteckenden Tierseuchen, wie etwa der Schweinepest,
wäre bei Zuwiderhandlungen gegen entsprechende Ver-
bote eine Ahndung als Ordnungswidrigkeit derzeit nicht
möglich.
Mit der nun vorliegenden Änderung soll die derzeit
bestehende Bewehrungslücke im Tiergesundheitsgesetz
geschlossen werden. Dazu bedarf es sowohl einer Ände-
rung der Bußgeldvorschrift in § 32 des Tiergesundheits-
gesetzes als auch einer Neufassung des § 14 Absatz 1
des Tiergesundheitsgesetzes.
Ferner wollen wir mit einem Änderungsantrag sicher-
stellen, dass das Friedrich-Loeffler-Institut, FLI, er-
mächtigt wird, die im Rahmen der Wahrnehmung seiner
Aufgaben als Referenzlabor gewonnenen Testergebnisse
bei Vorliegen einer Gefahr oder eines Risikos für die
Tiergesundheit zu veröffentlichen, soweit die Veröffent-
lichung der gewonnenen Erkenntnisse, einschließlich
der damit im Zusammenhang stehenden produktbezoge-
nen Angaben, einer Gefahrenabwehr oder Risikovorbeu-
gung dienlich erscheint.
Insgesamt ist festzuhalten, dass mit den geschaffenen
Kennzeichnungsänderungen im Fischetikettierungsge-
setz die Verbraucherinnen und Verbraucher künftig mehr
über die Herkunft und die Produktionsmethoden von
Fischerei- und Aquakulturprodukten erfahren werden.
Außerdem wird mit der Änderung im Tiergesundheitsge-
setz die bestehende Bewehrungslücke geschlossen und
damit die Durchsetzung von Verboten beim Auftreten
hochansteckender Tierseuchen verbessert.
Johann Saathoff (SPD): Fisch ist gesund und wir
sollten alle mehr Fisch essen. Das ist keine Neuigkeit.
Aber alle, die es bislang nicht wussten, können auch die
aktuelle Zeitschrift der Stiftung Warentest lesen. Da
steht drin, dass sich die Omega-3-Fettsäuren sehr positiv
auf das Gehör auswirken können. Leider war der Pro-
Kopf-Fischverbrauch der Deutschen in den vergangenen
Jahren leicht rückläufig. Zwischen 13 und 14 Kilo-
gramm verzehrt der durchschnittliche Deutsche pro Jahr.
In der Liste der meistverzehrten Arten steht dabei der
Alaska-Seelachs an erster Stelle, gefolgt von Lachs und
Hering. Der Pangasius hat in den vergangenen Jahren
wieder Marktanteil verloren. Auch unter gesundheitli-
chen Gesichtspunkten ist das von Vorteil, denn er enthält
vergleichsweise wenig Omega-3-Fettsäuren. Und damit
sind wir bei der gesunden Ernährung.
Die SPD-Bundestagsfraktion hat in dieser Woche eine
große Veranstaltung zum Thema „Gute Ernährung“
durchgeführt. Allein die große Zahl der Teilnehmer hat
deutlich gemacht, dass die Ernährung ein Kernthema für
uns alle sein muss, da es darum geht, was die Menschen
essen und wie Lebensmittel erzeugt werden. Es geht
aber auch darum – und damit komme ich zu unserem
heutigen Thema –, wie Menschen, die bei ihrem Einkauf
auf die nachhaltige Produktion der Lebensmittel achten,
erkennen, dass die Lebensmittel, in diesem Fall der
Fisch, nachhaltig produziert oder gefangen wurden.
Der uns heute vorliegende Entwurf des Gesetzes zur
Änderung des Fischetikettierungsgesetzes stellt nicht nur
die einfache Umsetzung von EU-Recht dar, er ist viel-
mehr auch durch die deutliche Kennzeichnung ein gro-
ßer Zugewinn für die Verbraucherinnen und Verbraucher
und für eine noch nachhaltigere Fischereiwirtschaft.
Die Verbraucherpräferenzen haben sich, was die Kon-
sumentscheidung angeht, in den letzten Jahren stark ver-
ändert. Heutzutage hat der Verbraucher eine viel größere
Auswahl, welchen Fisch er essen möchte. Denn Fisch
wird weltweit gefangen, erzeugt, gehandelt und trans-
portiert. Nicht umsonst stand Frau Aigner nach dem Un-
glück in Fukushima am Frankfurter Flughafen und kon-
trollierte dort öffentlichkeitswirksam den ankommenden
Fisch. Ein Großteil der Fischimporte nach Deutschland
kommt nämlich per Flugzeug.
Die neue Gemeinsame Marktordnung, auf der die
heutige Gesetzesvorlage basiert, ist Teil des Verord-
nungspaketes zur Reform der Gemeinsamen Fischerei-
politik, die bekanntlich im Jahr 2013 unter der griechi-
schen Kommissarin Maria Damanaki novelliert wurde.
Mit der Reform wurden einige Pflöcke für eine deutlich
nachhaltigere Fischerei in europäischen Gewässern und
darüber hinaus eingeschlagen. Die Fangquoten werden
nach dem MSY-Ansatz, dem maximalen nachhaltigen
Dauerertrag, festgelegt und gefangener Fisch, für den
man keine Quote hat, sogenannter Beifang, darf zukünf-
tig nicht mehr über Bord geworfen werden.
Wir müssen aber zur Kenntnis nehmen, dass sich die
Situation der Bestände der einzelnen Fischarten sehr un-
terschiedlich darstellen. Dabei müssen wir uns vor Au-
gen führen, dass die Fischerei die einzelnen Fischarten
deutlich detaillierter betrachtet als der gemeine Verbrau-
cher. Im Nordostatlantik gibt es allein 13 Kabeljaube-
stände, und der Bestand in der Barentssee ist zehnmal so
groß wie die anderen Bestände zusammen. Die kleineren
Bestände sind teilweise in schlechtem Zustand; man
kann also über den Zustand des Kabeljaus keine pau-
schale Aussage treffen.
11252 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015
(A) (C)
(D)(B)
Mit der Gesetzesänderung wollen wir den Verbrau-
chern an der Theke und an der Tiefkühltruhe die Mög-
lichkeit geben, auf diese differenzierte Situation der Be-
stände zu reagieren. Die derzeitige Einteilung in „FAO-
Fischereigebiete“, der Nordostatlantik ist die FAO 27,
wird als zu grobes Raster angesehen und daher durch die
Aufteilung in sogenannte Untergebiete und Bereiche
weiter gestaffelt. Diese kleinräumigere Einteilung er-
möglicht eine weitaus genauere Herkunftsbestimmung.
Für die Verbraucherinnen und Verbraucher ist es zum ei-
nen eine anspruchsvolle Aufgabe, diese Informationen
zu akquirieren. Andererseits geben die Angabe des ge-
nauen Fanggebiets und des Fanggeräts noch keine Aus-
kunft über die Bestandssituation.
Aber es ist ein Schritt in die richtige Richtung. Kom-
biniert mit den detaillierten Informationen von Fischbe-
stände-Online ist es den Menschen möglich, Fisch sehr
zielgerichtet zu kaufen. Ich möchte alle Menschen ermu-
tigen, sich beim oder vielleicht schon vor dem nächsten
Fischeinkauf einmal dort schlauzumachen getreu dem
Motto: „Watt de Buur neet kennt, dat frett he neet!“. Das
Thünen-Institut hat auf Fischbestände-Online in den
letzten fünf Jahren umfangreiche Informationen über die
Fischbestände des Nordostatlantiks zusammengestellt,
und diese werden auch laufend aktualisiert.
Mit der Gesetzesänderung wird neben der genaueren
Fanggebietskennzeichnung auch eine Kennzeichnung
des Fanggeräts umgesetzt. Dabei wird zunächst nach ak-
tiven und passiven Fanggeräten unterschieden und diese
dann noch weiter gruppiert. Auch zu den einzelnen
Fanggeräten kann man sich auf Fischbestände-Online
sehr genau informieren.
Der Kunde kann bei seiner Kaufentscheidung also
viele neue Elemente berücksichtigen. Unsere Aufgabe
war und ist es nun, die Verbraucherinnen und Verbrau-
cher dazu zu ermutigen, von diesem Informationsange-
bot Gebrauch zu machen. Also, meine Damen und Her-
ren, besuchen Sie Fischbestände-Online.
Am Rande sei mir noch eine Bemerkung erlaubt: Ich
würde mich im Sinne der Bürgerinnen und Bürger, die
sich dafür interessieren, welche Nahrungsmittel sie hin-
sichtlich der Art der Nahrungsmittelproduktion und de-
ren Verarbeitung und der Transportwege kaufen, freuen,
wenn diese neue Form der Transparenz für die Verbrau-
cherinnen und Verbraucher vom Fisch auch auf andere
landwirtschaftliche Produkte – insbesondere Fleisch –
übergehen könnte. Die Argumentation, das ginge vom
Verfahrensablauf schlicht nicht, ist mit diesem Gesetz
spätestens widerlegt.
In diesem Sinne schließe ich für heute, in der Hoff-
nung, dass das Thema Fischerei, dass hier leider viel zu
oft zu kurz kommt, in naher Zukunft noch weitergehend
an dieser Stelle behandelt wird.
Karin Binder (DIE LINKE): Fisch ist wertvoller Be-
standteil einer ausgewogenen Ernährung. Ein bis zwei
Fischmahlzeiten pro Woche empfiehlt die Deutsche Ge-
sellschaft für Ernährung. Gleichzeitig sind die Meere
von Überfischung und umweltschädlichen Fangmetho-
den bedroht. Auch Zuchtfisch aus der Teichwirtschaft
oder den Aquakulturen in offenen Gewässern belastet
das Ökosystem. So wird für die Aufzucht von Forellen
Fischmehl und Fischöl verwandt, das aus gefangenem
Meeresfisch stammt. Für 1 Kilo Zuchtfisch müssen oft
5 Kilo Wildfang als Futter herhalten, was wiederum die
Meeresumwelt bedroht.
Damit uns nicht der Appetit vergeht, müssen wir also
genau wissen, was auf dem Teller landet. Fisch muss als
Teil einer ausgewogenen Ernährung aus bestandserhal-
tender und umweltschonender Fischerei stammen.
Der hier vorliegende Entwurf zur Änderung des
Fischetikettierungsgesetzes ist ein wichtiger Schritt in
die richtige Richtung. Verbraucherinnen und Verbrau-
cher erfahren künftig genauer, woher der Fangfisch oder
die Erzeugnisse aus Aquakulturen stammen. Sie werden
zudem über die Fangmethoden, beispielsweise
„Schleppnetz“ oder „Treibnetz“ informiert. Das war
überfällig!
Hilfreich beim Fischkauf ist auch das MSC-Logo. Es
wird von einer gemeinnützigen Organisation vergeben
und zeichnet Meeresfisch aus, der aus umweltverträgli-
cher und bestandsschonender Fischerei stammt. Der
Lebensmitteleinzelhandel setzt zunehmend auf MSC-
Fisch, was zu begrüßen ist. Allerdings ist die Menge an
Fisch aus nachhaltiger Fischerei begrenzt, und wir müs-
sen aufpassen, dass die bisher strengen Regeln der MSC-
Zertifizierung nicht auf Druck des Handels aufgeweicht
werden, bloß um die fangbare Menge zu erhöhen. Das
wäre dann krasse Verbrauchertäuschung, und das Logo
würde seine Glaubwürdigkeit verlieren.
Wir werden uns auch mehr mit dem rasanten Zu-
wachs an Zuchtfisch auseinandersetzen müssen. Nicht
einmal jeder zehnte Lachs stammt heute aus dem Meer.
Ganz überwiegend kommt er aus riesigen Fischfarmen.
Das sind schwimmende Käfiganlagen vor den Küsten,
die jeweils bis zu 50 000 Lachse aufnehmen. Schon wird
mit gentechnisch veränderten Lachsen experimentiert,
um noch schneller noch größere Zuchtfische mit noch
größerem Profit zu bekommen. Gelangt dieser Genlachs
durch schadhafte Maschen ins freie Meer, besteht die
Gefahr, dass er ganze Ökosysteme verändert. Wir lehnen
solche Experimente deshalb ab!
Die industrielle Zucht erfordert zudem den Einsatz
von Medikamenten und Tierfutter, das mit zum Teil
krebserregenden Chemikalien belastet ist. Gerade ges-
tern sprachen wir im Ausschuss für Ernährung und
Landwirtschaft über schädliche Zusätze in Fischmehl.
Der möglicherweise Erbgut schädigende und krebserre-
gende Konservierungsstoff Ethoxyquin, der als Pflan-
zenschutzmittel bereits 2011 verboten wurde, gelangt
über die Fütterung von Zuchtlachs mit Fischmehl in die
menschliche Nahrungskette und in die Muttermilch. Wir
brauchen also auch für diese Form der Massentierhal-
tung strenge Vorgaben für den Verbraucherschutz.
Kritisch sehen wir die Einschränkung des Friedrich-
Loeffler-Instituts, FLI, durch das Gesetz bei der Veröf-
fentlichung bestimmter Forschungsergebnisse. Wenn
„bei der Entscheidung über die Veröffentlichung den Be-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015 11253
(A) (C)
(D)(B)
langen der Betroffenen angemessen Rechnung zu tragen
ist“, kann das auch bedeuten, dass damit unbequeme
Wahrheiten und unangenehme Veröffentlichungen unter-
bunden werden können. Hier muss die Bundesregierung
im Interesse der Verbraucherinnen und Verbraucher un-
bedingt für juristische Klarheit und die notwendige
Transparenz sorgen.
Fisch ist wertvoller Bestandteil einer ausgewogenen
Ernährung. Es ist die Aufgabe der Politik, dafür zu sor-
gen, dass es auch so bleibt.
Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Wir diskutieren hier heute einen Gesetzentwurf zur
Fischetikettierung. Die Reform der Gemeinsamen Euro-
päischen Fischereipolitik, GFP, wurde nach dreißig Jah-
ren endlich auf den Weg gebracht. Jetzt setzen wir
schrittweise auf nationaler Ebene die EU-Beschlüsse in
nationales Recht um.
Wir begrüßen die Reform im Grundsatz, da sie ver-
sucht, Fischbestände langfristig nachhaltig zu bewirt-
schaften. Die Fischerei weltweit kann mit Schauer-
geschichten aufwarten: Bestände sind erschöpft und
überfischt, regionalen Fischern in Asien oder Afrika
wird durch industrielle Fischerei die Lebensgrundlage
genommen, Fische werden nach dem Fang tonnenweise
über Bord gekippt, weil die Ausbeute nicht genügend
Geld auf dem Markt einbringt, und durch „höherwer-
tige“ Fänge ersetzt – um nur einige Beispiele zu nennen.
Es ist ja schön, dass Sie jetzt auch national regeln,
dass auf den Fischverpackungen neben vielen anderen
Dingen auch die Fanggerätekategorie angegeben werden
muss. Haben Sie sich schon einmal Fischverpackungen
genauer angesehen? Auf vielen Fischverpackungen steht
bereits eine große Liste an Angaben – freiwillig oder
verpflichtend. Wirklich vergleichbar sind die Verpa-
ckungen jedoch häufig nicht. Meist steht auf den Pa-
ckungen ein Mischmasch aus verpflichtenden und frei-
willigen Angaben. Bei den wenigsten – rund 5 Prozent
nach Ermittlungen von Greenpeace – kann man die ge-
samte Fang- und Lieferkette nachvollziehen.
Es stehen dort meist Informationen zu Fischart, Fangart,
Fanggebiet usw. Dies macht es in vielen Fällen für den
Verbraucher nicht wirklich einfacher. Der Kunde muss
inzwischen ja schon fast Fischereiexperte sein, um die
Angaben auf den Verpackungen verstehen zu können.
Ehrlich, nachvollziehbar und transparent wäre die not-
wendige Lösung.
Hier müsste die Bundesregierung ansetzen: Statt im-
mer mehr Angaben auf den Fischverpackungen zu plat-
zieren, müssten diese Angaben übersichtlicher gestaltet
werden, etwa mit dem Fanggebiet auf einer Landkarte.
Ein Beispiel: Eine Kennzeichnung des Fanggebiets
FAO 27 lässt den Kunden nicht sofort nachvollziehen,
wo der Fisch gefangen wurde, und schon gar nicht, ob in
diesem Fanggebiet die gekaufte Fischart bereits am
Limit ist.
Wir sind generell für mehr Kennzeichnung und vor
allem Kontrolle der Lebensmittel. Die Konsumenten
müssen verlässlich nachvollziehen können, woher das
Produkt stammt und welchen weiteren Weg es nach dem
Fang noch genommen hat. Diese Kennzeichnung muss
auch für Informationen auf den Fischverpackungen gel-
ten. Und das Ganze muss verständlich, nachvollziehbar
und transparent sein. Nur dann macht eine ausführliche
Kennzeichnung auch Sinn.
Bessern Sie also in diesem Sinne das Gesetz nach. So
geht es zwar in die richtige Richtung, greift aber viele
wichtige Punkte für die Verbraucherinnen und Verbrau-
cher nicht ausreichend auf. Wir werden daher mit Ent-
haltung stimmen.
Anlage 21
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Neunten Gesetzes
zur Änderung des Weingesetzes (Tagesord-
nungspunkt 23)
Kordula Kovac (CDU/CSU): Wir wollen heute er-
neut über eine Novellierung des Weingesetzes beraten
und beschließen. Wein in Deutschland hat eine lange
Tradition. Dass Tradition aber nichts mit altmodisch zu
tun hat, durfte ich in meiner Heimat erfahren. Gerade in
diesem Jahr wurden dort die badischen Winzer von
CreatiWi aus Sasbachwalden als beste Jungwinzerverei-
nigung ausgezeichnet. Für diese jungen Menschen ist
Tradition vor allem der eigene Anspruch an qualitativ
hochwertige Produkte und gelebte Winzerleidenschaft.
Es ist unsere Aufgabe als Bundestagsabgeordnete,
Vorgaben aus Brüssel so umzusetzen, dass wir den euro-
päischen Wünschen entsprechen und gleichzeitig unsere
traditionsreiche deutsche Weinbaukultur schützen. Das
überarbeitete Genehmigungssystem für Neuanpflanzun-
gen von Weinreben in der Novelle des Weingesetzes ist
notwendig geworden, um auf ein Überangebot des
Marktes reagieren zu können.
Das neue Genehmigungsverfahren betrifft vor allem
Neuanpflanzungen, die nun unter besonderen Vorausset-
zungen in ganz Deutschland zu ermöglichen sind. Waren
die Verhandlungen auf Grundlage der EU-Vorlagen bei
den vorangegangenen Abstimmungen doch immer rela-
tiv harmonisch, so haben wir diesmal mehr Diskussions-
bedarf gehabt.
Auf den Punkt gebracht: Eine solche Gesetzesände-
rung ruft vor Ort bei den Betroffenen immer Unsicher-
heiten hervor. Dass es zudem nie einfach ist, es allen
recht zu machen, zeigt sich auch bei diesem Thema.
Denn sowohl im Bundesrat als auch hier im Hohen
Hause wurde die Debatte kontroverser geführt, als man
es in der Vergangenheit gewohnt war. Zu verschieden
waren die Positionen der betroffenen Bundesländer und
ihrer Abgeordneten.
Ganz deutlich: Ein Bundesgesetz zu verabschieden,
das die einheitliche Grundlage für Bundesländer mit sol-
11254 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015
(A) (C)
(D)(B)
chen grundverschiedenen Voraussetzungen in der Sache
beinhalten soll, erweist sich per se als äußerst schwierig.
Lebhaft zu ging es bei dem Wert der zur Verfügung
stehenden Genehmigungen für Neuanpflanzungen für
die Jahre 2016 und 2017: Von 1 Prozent bis 0,1 Prozent
gab es die verschiedensten Forderungen seitens der Bun-
desländer, der Berufsverbände, aber auch innerhalb der
Kollegen über die Fraktionsgrenzen hinweg. Dies sorgte
vor allem bei unseren Winzern für Unsicherheit. Deshalb
war und ist es wichtig, dass wir uns auf einen Wert von
0,3 Prozent verständigen konnten. Gleichzeitig haben wir
dem Wunsch der Länder mit kleineren Anbauregionen
Rechnung getragen. Für diese soll es eine Sonderregelung
geben, die einen aus betriebswirtschaftlichen und ver-
waltungstechnischen Gründen notwendigen Mindestan-
teil an den Neupflanzungen bis zu 5 Hektar sichern soll.
Politik ist immer eine Abwägung von Interessen und
deshalb oft verbunden mit der Findung von Kompromis-
sen. Mit der neuen Regelung ist uns, denke ich, ein guter
und gerechter Interessenausgleich zwischen kleinen und
großen Anbaugebieten gelungen. So trägt diese Lösung
der sensiblen Marktlage Rechnung. Niemand will, dass
der deutsche Wein als Discountprodukt unter Wert ge-
handelt wird.
Die Zulassung neuer Anpflanzungen muss sich an
den langfristigen Entwicklungen der Märkte orientieren.
Kurzfristige Ansätze sind hier keine Lösung. Ein vorläu-
figer Wert von 0,3 Prozent ist ein guter Kompromiss. Ei-
nerseits wird beachtet, dass das Angebot auf Kosten des
Preises nicht zu sehr steigen darf. Andererseits wird ge-
währleistet, dass je nach Bedarf und Marktanteil eine
Steigerung der Anbaufläche generell möglich ist.
Als Prioritätskriterien haben wir verankert, dass vor-
rangig zu bescheidende Anträge mit einer Beantragung
von Flächen in der Steillage berücksichtigt werden.
Diese Stellungen stehen für unsere geschlossenen Kul-
turlandschaften, die unsere deutsche Weinbautradition so
besonders machen und daher schützenswert sind.
Einen zweiten großen, wenn auch eher bürokrati-
schen, Punkt galt es zu klären. Die Zulassungsmodalitä-
ten – ob ein- oder zweistufig, war die Frage – wollen wir
praxisnah, aber natürlich auch unter Berücksichtigung
der Bundes- und Länderkompetenzen umsetzen. Die
Union spricht sich für ein einstufiges Verwaltungsver-
fahren zur Beantragung und Genehmigung von Neuan-
pflanzungen aus. Dies entlastet sowohl Antragsteller als
auch Landesverwaltungen. Damit haben wir eine gute
Lösung gefunden; denn ich will, dass sich unsere Winzer
dem europäischen Wettbewerb weiter auf höchstem Ni-
veau stellen können.
Hierfür benötigen sie verlässliche Partner in der Poli-
tik. Wenn die Auswirkungen der heutigen Beschlüsse
erst in mehreren Jahren bewertet werden können, kön-
nen wir so dementsprechend flexibel reagieren. Gerade
deshalb halte ich es für enorm wichtig, dass wir die
Möglichkeit einer Nachjustierung mit eingeplant haben,
wenn uns in zwei Jahren der Bericht der Bundesregie-
rung zu den Auswirkungen dieses Gesetzes vorliegen
wird.
Sowohl im Parlamentarischen Weinforum als auch im
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft haben wir
über dieses Gesetz ausgiebig diskutiert. Wir wissen, dass
einige Länder, welche noch Nachholbedarf im Weinbau
sehen, sich größere Anbauflächen für Neuanpflanzungen
gewünscht hätten. Ich persönlich bin froh und auch den
Kollegen Berichterstatter aller anderen Fraktionen dank-
bar, dass sie alle diesen Kompromiss mittragen.
Mit dieser Novelle wollen wir dafür sorgen, den
Weinbau in ganz Deutschland in Zukunft weiter konkur-
renzfähig zu gestalten – im Sinne der Verbraucherinnen
und Verbraucher, der Winzerinnen und Winzer. Dafür
bitte ich Sie alle um Ihre Zustimmung.
Mehr als 400 Jahre vor Christus sagte Euripides einst:
„Wo der Wein fehlt, stirbt der Reiz des Lebens.“
Gustav Herzog (SPD): Seit mehr als 20 Jahren ist
die Weinbaupolitik in Deutschland auf Qualität statt
Menge ausgerichtet. Wir haben nur begrenzt geeignete
Fläche für den Qualitätsanbau. Wir haben einen eher zu-
rückgehenden Weinkonsum, und trotz der Exporterfolge
und der Wettbewerbsfähigkeit unserer Weinwirtschaft
gibt es keinen Anlass für eine gewollte stetige Mengen-
steigerung.
Die EU-Politik ist widersprüchlich: Bei der vorletzten
Reform gab es Rodungsprämie und, statt rektifiziertes
Traubenmostkonzentrat oder Destillation, Geld für Mar-
keting und die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit
im Wingert, Weinkeller und der Vinothek.
Dann die EU-Entscheidung für Flächenausweitung.
In Mainzer Weingipfeln haben Weinwirtschaft, Bund
und Länder immer wieder einmütig ihre Position gegen-
über der Europäischen Union bekräftigt. Trotzdem hat
die EU unser strengstes Wiederbepflanzungsregime kas-
siert und uns eine Flächenausweitung aufgezwungen.
Mit der 9. Änderung des Weingesetzes gehen wir an
die Umsetzung. Strittig war vor allem eins: die Größe
des Flächenzuwachses. Im Regierungsentwurf war eine
Begrenzung der Neuanbaufläche von jährlich 0,5 Pro-
zent vorgesehen. Das war für die kleinen Weinanbaulän-
der zu wenig und für die großen viel zu viel.
Wir dürfen aber nicht vergessen: 3 000 Hektar Wie-
derbepflanzungsrechte im Bestand sind eine Aufforde-
rung zur Vorsicht. Zurückgehender Konsum und Export
könnten die Erzeugerpreise gefährden. Das wollen wir
nicht riskieren!
Die SPD-Bundestagsfraktion hat sich deshalb immer
für einen behutsamen Start bei den Neuanpflanzungen in
den kommenden Jahren 2016 und 2017 ausgesprochen.
Dem stimmten auch die wichtigsten deutschen Weinbau-
länder und der Deutsche Weinbauverband, DWV, zu.
Deshalb hat die SPD-Bundestagsfraktion eine Begren-
zung auf 0,3 Prozent pro Jahr gefordert. Das sind immer-
hin 300 Hektar in ganz Deutschland. Bei einem maxima-
len Ertrag von 200 Hektolitern Wein pro Hektar sind das
6 Millionen Liter Wein. Eine spürbare Steigerung bei ei-
nem durchschnittlichen Konsum von rund 24 Litern pro
Kopf und Jahr in Deutschland.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015 11255
(A) (C)
(D)(B)
Deshalb haben wir uns in allen Fraktionen – die einen
gut, die anderen weniger gut – und in Absprache mit
dem Bundesministerium für Ernährung und Landwirt-
schaft auf einen Kompromiss geeinigt. Dieser sieht eine
Begrenzung von 0,3 Prozent pro Jahr und eine Sonderre-
gelung für alle Anbauländer vor. Diese haben vorab je-
weils 5 Hektar ihres Gebiets für Neuanpflanzungen re-
serviert.
Begrüßt wird von der SPD-Bundestagsfraktion die
eindeutige Priorisierung der Steillage bei Neuanpflan-
zungen. Das einzigartige Kulturgut prägt die Landschaft
in vielen Weinanbaugebieten, wie zum Beispiel an der
Mosel.
Ebenfalls gibt es Änderungen im Genehmigungsver-
fahren für Neuanpflanzungen. Winzer stellen nun nur
noch einen Antrag bei der Bundesanstalt für Landwirt-
schaft und Ernährung, BLE, und nicht, wie zunächst vor-
gesehen, noch zusätzlich bei der zuständigen Landesbe-
hörde.
Um Anfang 2017 auf empirischer Grundlage weiter
über eine Begrenzung ab 2018 entscheiden zu können,
fordert die SPD von der Bundesregierung einen Bericht
über die Auswirkungen der Wieder- und Neuanpflanzun-
gen auf den deutschen Weinbau und die Handhabung des
Genehmigungsverfahrens.
Mit unserer Entschließung wollen wir die Bundesre-
gierung unterstützen, die europäische Weinbaupolitik
wieder auf den Weg eines qualitätsorientierten nachhalti-
gen Weinbaus zu bringen. Die Einstimmigkeit bei der
Abstimmung gestern im Ausschuss zeigt, dass wir mit
dem Gesetzentwurf auf dem richtigen Weg sind. Wir ha-
ben es geschafft, die Wünsche der Anbauländer zu be-
rücksichtigen.
Für die SPD ist wichtig, dass nach den Differenzen
um die Anpflanzungsquote wieder die Gemeinsamkeit
der Weinanbaugebiete und der Bundestagsfraktionen ge-
funden wird.
Roland Claus (DIE LINKE): Ich freue mich, dass
wir auch diesmal wieder – altem Brauch folgend – in Sa-
chen Weingesetz so lange verhandelt haben, bis ein ein-
vernehmlicher Kompromiss zustande gekommen ist.
Dafür möchte ich mich bei der Mitberichterstatterin und
den Mitberichterstattern wie auch bei den Mitgliedern
im Parlamentarischen Weinforum herzlich bedanken.
Als Vertreter der beiden ostdeutschen Weinbauregio-
nen Saale/Unstrut in Sachsen-Anhalt und Thüringen so-
wie Meißen an der Elbe in Sachsen habe ich mich zu-
nächst – das will ich hier nicht verhehlen – für eine
Zuwachsmöglichkeit von 0,5 Prozent, gleich 500 Hektar,
der Rebfläche eingesetzt. In Sachsen gab es gar ein Inte-
resse an 1 Prozent. Nun haben wir uns auf 0,3 Prozent
geeinigt, und das ergibt eine akzeptable Balance zwi-
schen dem für die jeweiligen Weinbaugebiete aufge-
schlüsselten Wachstum und der Verhinderung eines dro-
henden Überangebots an Wein. Besonders wichtig für
die beiden ostdeutschen Weinbaugebiete ist die mit dem
Änderungsantrag gefestigte Priorisierung des Weinan-
baus in der Steillage, denn fast aller Weinanbau dort fin-
det in der Steillage statt. Wir unterstützen daher nach-
drücklich eine Politik, die diese Form des Weinanbaus
als Teil einer besonderen Kulturlandschaft für schützens-
wert hält und ein Abwandern des Anbaus von der Steil-
lage in die Flachlage zu verhindern sucht.
Angesichts der guten Erfahrungen, die wir mit dem
engagierten Aushandeln günstiger Bedingungen für den
Weinanbau gemacht haben, schlagen wir Linken vor,
diese auch einmal auf andere Kulturlandschaften und
Agrarprodukte zu übertragen, zum Beispiel auf die
Milch und auf die Landschaften, in denen sie produziert
wird.
Zum Wein zurück: Wir Linken haben – ich habe vor
vielen Jahren an dieser Stelle schon einmal Bezug darauf
genommen – einen Ahnherrn, der sich auch in der kom-
plexen Problematik des Weinanbaus und des Weingenus-
ses bestens auskannte: Friedrich Engels. Er erinnerte im
Februar 1876 in einem Zeitungsartikel daran, dass ernst-
liche und besonders erfolgreiche Aufstände nur in Wein-
ländern oder in solchen deutschen Staaten vorkamen, die
sich durch Zölle vor den verheerenden Wirkungen des
preußischen Kartoffelschnapses geschützt hatten.
Lassen Sie uns also den Weinanbau auch weiter be-
fördern. Und vielleicht macht ja die gemeinsame Suche
nach einvernehmlichen Lösungen im Parlament noch
Schule.
Markus Tressel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der
Weinbau ist gerade für ländliche Regionen ein bedeuten-
der Wirtschaftszweig. Der hochqualitative Wein aus
Deutschland wird mittlerweile weltweit geschätzt und
erzielt Preise, von denen unsere Winzerinnen und Win-
zer leben können. Der Weinbau ist längst auch bedeuten-
der Tourismusfaktor: Seit Jahren erfreut sich der Wein-
tourismus wachsender Beliebtheit. Besucherinnen und
Besucher schätzen die Kulturlandschaften mit ihren
Weinbergen, Steilterrassen und Trockenmauern und ge-
nießen die besondere Lebensqualität, die wir mit Wein
verbinden. Die Qualität des Weins ist also der entschei-
dende Faktor für die regionale Wertschöpfung durch
Weinbau. Für uns gilt also der einfache Grundsatz:
Klasse statt Masse.
Diesem Grundsatz sind wir in der Weinpolitik ver-
pflichtet. Wir verfolgen das gemeinsame Ziel, die Quali-
tät des Weins aus Deutschland zu fördern. Es gilt, die
Weinpreise stabil zu halten, um unseren Winzerinnen
und Winzern im Wettbewerb den Rücken stärken. So
können wir attraktive Arbeitsplätze in den Regionen er-
halten und auch die prägende Kulturlandschaft schützen.
Heute geht es um eine Frage, die die Weinbauregio-
nen seit langem beschäftigt. Der europaweite Anbau-
stopp für Reben wird durch die EU-Kommission zum
1. Januar 2016 abgeschafft. Die Rebfläche darf jährlich
um 1 Prozent ausgeweitet werden, wenn wir nicht bun-
desweit eine strengere Regelung finden. Diese Entschei-
dung hat große Bedeutung für betroffene Weinbauregio-
nen, die eine starke Ausweitung der Rebflächen und
damit einen Preisverfall für die Winzerinnen und Winzer
befürchten.
11256 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015
(A) (C)
(D)(B)
Vorneweg: Wir sind mit dem Ergebnis sehr zufrieden.
Wir haben es geschafft, uns – wie in der Weinpolitik üb-
lich – auf einen gemeinsamen Weg zu einigen, der der
Wichtigkeit dieser Entscheidung gerecht wird. Wir ha-
ben uns interfraktionell auf eine Beschränkung der Neu-
bepflanzungen auf 0,3 Prozent geeinigt. Aber – und das
richtet sich besonders an die Kolleginnen und Kollegen
der CDU/CSU-Fraktion – das hätten wir auch leichter
haben können. Denn vor diesem guten Kompromiss ha-
ben wir einige Extrarunden zurücklegen müssen: 0,3
oder 0,5 Prozent? Ein- oder zweistufiges Verwaltungs-
verfahren? Lange schien hier die Position der Koali-
tionsfraktionen nicht ganz eindeutig zu sein. Aber was
lange währt, wird endlich gut.
Denn das Endergebnis ist ganz in unserem Sinne. Von
Beginn an hatten wir neben den 0,3 Prozent zur Be-
schränkung der Neubepflanzungen auch ganz praktisch
eine Entlastung der Winzerinnen und Winzer gefordert.
Der ursprüngliche Gesetzentwurf sah ein zweistufiges
Verfahren vor. Die Winzerinnen und Winzer hätten also
einen Antrag bei einer Landesbehörde und einen beim
Bund stellen müssen – für ein und denselben Vorgang!
Für uns bedeutet Entlastung eben auch: Weniger büro-
kratische Anforderungen für diejenigen, die den guten
Wein anbauen und produzieren. Hier waren die Koali-
tionsfraktionen wenig gesprächsbereit. Umso überrasch-
ter waren wir, als im letzten Änderungsantrag das einstu-
fige Verfahren auf einmal aufgetaucht ist. Das begrüßen
wir sehr! Denn das einstufige Verfahren bei der BLE
vermeidet doppelten Aufwand – auch übrigens aufseiten
der Verwaltungen der weinbauenden Bundesländer.
Ich bin mir sicher, dass wir auch weiterhin politisch
immer wieder auf den gemeinsamen Weg in der Wein-
politik zurückfinden. Das Wichtigste ist jetzt ein starkes
gemeinsames Signal in diese Richtung aus dem Bundes-
tag. Denn wir müssen den Winzerinnen und Winzern die
Sorge nehmen, die Preise könnten verfallen. Ein behut-
samer Einstieg in das neue Genehmigungssystem ist vor
diesem Hintergrund richtig. Daher begrüßen wir auch
die gemeinsame Entschließung zur Evaluation in zwei
Jahren und den Auftrag, besonders die Steillagen zu
schützen. Denn alle Weinpolitikerinnen und Weinpoliti-
ker hier im Bundestag wollen eine ungehemmte Auswei-
tung der Rebflächen verhindern, wollen die Kulturland-
schaften schützen, wirtschaftliche Potenziale heben und
die Winzerinnen und Winzer stärken.
Peter Bleser, Parl. Staatssekretär beim Bundes-
ministerium für Ernährung und Landwirtschaft: Die zur
Entscheidung anstehende Änderung des Weingesetzes
hat die betroffenen Winzer und Winzerinnen, aber auch
die interessierten Landes- und Bundesverwaltungen und
nicht zuletzt auch die Agrarpolitiker dieses Hohen Hau-
ses intensiv beschäftigt. Ich freue mich, dass es nach lan-
gen Diskussionen, in die sich auch Herr Bundesminister
Schmidt noch einmal persönlich eingebracht hat, gelun-
gen ist, eine sachgerechte Entscheidung zu finden, die
aller Voraussicht nach auch so vom Bundesrat akzeptiert
wird.
Letztlich ist es im Sinne aller Beteiligten, dass bald
Klarheit über Inhalt und Verfahren bei der Umsetzung
des EU-Genehmigungssystems für Rebpflanzungen zum
1. Januar 2016 herrscht. Es geht vor allem darum, die
hohe Qualität des deutschen Weinbaus zu sichern und
dabei ein moderates, nachhaltiges Wachstum des Wein-
marktes zu ermöglichen. Deutscher Wein wird bei unse-
ren Verbrauchern, aber auch im Ausland immer belieb-
ter. Darauf sollten unsere Erzeuger reagieren können.
Eile ist geboten, um sicherzustellen, dass – entspre-
chend dem EU-Recht – alte Wiederanpflanzungsrechte
ab dem 15. September 2015 in Genehmigungen umge-
wandelt werden können. Deshalb ist es sehr gut, wenn es
zu einem Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens vor
der Sommerpause kommt.
Aus Zeitgründen möchte ich nur die zentralen Punkte
des Gesetzentwurfs erläutern:
Erstens. Obergrenze bei Neuanpflanzungen. Nach
dem Entwurf werden in den ersten beiden Jahren, das
heißt 2016 und 2017, 0,5 Prozent der deutschen Rebflä-
che für Neuanpflanzungen vorgesehen. Der Ernährungs-
ausschuss empfiehlt nun, die Obergrenze auf 0,3 Prozent
für zwei Jahre abzusenken, um so der Sorge, dass ein zu
starkes Anwachsen der Weinanbaufläche zu Marktstö-
rungen führt, Rechnung zu tragen. Diese Sorgen werden
insbesondere im größten Weinanbauland Rheinland-
Pfalz artikuliert. Die vom Ernährungsausschuss eben-
falls empfohlene Sonderregelung soll sicherstellen, dass
in jedem Flächenland zumindest 5 Hektar Neuanpflan-
zungen genehmigt werden können. Dies ist Vorausset-
zung dafür, dass kleinere Anbaugebiete wie zum Bei-
spiel Sachsen oder Saale-Unstrut am Ende nicht leer
ausgehen.
Es wird sich zeigen, ob, wann und inwieweit die
Obergrenze von 0,3 Prozent in den kommenden Jahren
verändert werden muss. Ich versichere Ihnen, dass das
Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft
die Marktsituation genau beobachten wird.
Zweitens. Prioritätskriterien. In dem Gesetzentwurf
ist vorgesehen, dass Neuanpflanzungsanträge in der
Steillage gegenüber Anträgen in der Flachlage bevorzugt
werden. Weitere Kriterien sollen derzeit nicht festgelegt
werden. Auch hier sind aber Anpassungen in der Zu-
kunft möglich, wenn dies aufgrund der Praxis der ersten
beiden Jahre mit dem neuen Genehmigungssystem ange-
zeigt ist.
Eine Verlagerung des Anbaus aus der Steillage in die
Flachlage kann zwar nicht völlig unterbunden, aber doch
erschwert werden. In dem Gesetzentwurf ist vorgesehen,
dass Antragsteller, die bei ihrem Antrag angeben, dass
die Neuanpflanzung in der Steillage erfolgt, sich ver-
pflichten müssen, die betroffene Fläche innerhalb eines
Zeitraums von sieben Jahren nicht zu roden oder wieder
zu bepflanzen. Für den Fall, dass gar keine Anpflanzung
erfolgt, wird dies mit einer Strafe belegt. Unabhängig
davon wird sich die Bundesregierung weiterhin dafür
einsetzen, dass die EU-rechtlichen Regelungen in Zu-
kunft so ausgestaltet werden, dass der – auch kulturell –
bedeutsame Steillagenweinbau erhalten bleibt.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015 11257
(A) (C)
(D)(B)
Drittens. Zuständigkeit für das Verfahren bei Neuan-
pflanzungen. Der Gesetzentwurf sieht vor, dass die Ar-
beitslast zwischen Bund und Ländern verteilt wird – „ge-
stuftes Verfahren“). Der Ernährungsausschuss fordert
nun in Übereinstimmung mit dem Bundesrat und der ge-
samten Weinwirtschaft, dass ausschließlich die Bundes-
anstalt für Landwirtschaft und Ernährung, BLE, für das
Genehmigungsverfahren bei Neuanpflanzungen zustän-
dig sein soll. Dies hat den Vorteil einer unbürokratischen
Regelung, da nun nur noch ein Antrag zu stellen ist.
Ich verhehle nicht, dass die Bundesregierung das ge-
stufte Verfahren für das bessere hält. Die Feststellung, ob
nun eine beantragte Neuanpflanzungsfläche wirklich in
der Steillage liegt oder nicht, kann besser von den orts-
nahen Landesbehörden getroffen werden. Im Übrigen
sind ja grundsätzlich auch die Länder für die Durchfüh-
rung agrarrechtlicher Regelungen in Deutschland zu-
ständig.
Letztlich kann sich die Bundesregierung aber nicht
davor verschließen, dass eine Einigung mit dem Bundes-
rat ohne ein Zugeständnis in dieser Frage wohl kaum zu
erreichen ist. Bleibt also noch der Appell an Sie, liebe
Kolleginnen und Kollegen: Helfen Sie mit, die zur Um-
setzung nun erforderlichen Stellen für die BLE im Rah-
men des parlamentarischen Verfahrens zur Haushaltsauf-
stellung 2016 zu schaffen. Ohne diese zusätzlichen
Stellen ist die BLE nicht in der Lage, diese zusätzlichen
Arbeiten zu leisten.
Abschließend bitte ich Sie um Zustimmung zu dem
aus Sicht der Bundesregierung ausgewogenen Gesetz-
entwurf nach Maßgabe der Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Ernährung und Landwirtschaft.
Anlage 22
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung des Häftlingshilfegesetzes und zur
Bereinigung des Bundesvertriebenengesetzes
(Tagesordnungspunkt 24)
Heinrich Zertik (CDU/CSU): Wir beraten heute ab-
schließend das Häftlingshilfegesetz, HHG. Dieses Ge-
setz wurde 1955 mit der Absicht eingeführt, Menschen
für ihr furchtbares Kriegsfolgeschicksal zu entschädi-
gen, welches sie schuldlos und wehrlos den kommunisti-
schen, sozialistischen oder stalinistischen Regimen aus-
geliefert hatte. Davon betroffen waren Menschen, die
aus politischen Gründen nach dem Zweiten Weltkrieg
inhaftiert oder deportiert wurden, weil sie bei der Errich-
tung der kommunistischen Systeme in Osteuropa unbe-
quem oder hinderlich waren. Das ist sehr milde ausge-
drückt. Dahinter verbirgt sich unermessliches Leid,
welches Hunderttausende von Familien erlitten haben.
Mit Geld ist das eigentlich gar nicht wiedergutzuma-
chen.
Es ist fast 75 Jahre her, dass Wolgadeutsche nach Si-
birien, an den Ural oder nach Kasachstan – so wie es
auch meine Familie erlebt hat – deportiert wurden. Ru-
mäniendeutsche wurden noch 1951 aus den Grenzgebie-
ten Rumäniens und Ex-Jugoslawiens in die Baragan-
steppe deportiert. Von ihnen sind heute noch einige
Tausend übrig, die diese schrecklichen Ereignisse am ei-
genen Leib erfahren haben.
Im Erlass des Obersten Sowjets der UdSSR vom
28. August 1941 heißt es: „… hat das Präsidium des
Obersten Sowjets der UdSSR es für notwendig befun-
den, die gesamte deutsche Bevölkerung, die in den
Wolga-Rayons ansässig ist, in andere Rayons umzusie-
deln, und zwar derart, dass den Umzusiedelnden Land
zugeteilt und bei der Einrichtung in den neuen Rayons
staatliche Unterstützung gewährt werden soll. Für die
Ansiedlung sind die an Ackerland reichen Rayons der
Gebiete Nowosibirsk und Omsk, der Region Altaj, Ka-
sachstans und weitere benachbarte Gegenden zugewie-
sen worden. Im Zusammenhang damit ist das Staatliche
Verteidigungskomitee angewiesen worden, die Umsied-
lung aller Wolgadeutschen und die Zuweisung von
Grundstücken und Nutzland an die umzusiedelnden
Wolgadeutschen in den neuen Rayons unverzüglich in
Angriff zu nehmen.
Der Vorsitzende des Präsidiums des Obersten Sowjets
der UdSSR
gez. M. Kalinin
Der Sekretär des Präsidiums des Obersten Sowjets
der UdSSR
gez. A. Gorkin
Moskau, Kreml, 28. August 1941“
Was hier als sachliches, scheinbar gut organisiertes
Unterfangen beschrieben wird, hat sich oftmals in einer
Hauruckaktion innerhalb weniger Stunden abgespielt.
Mitten in der Nacht wurden Familien mit Kindern aus
ihren Betten gerissen, angewiesen, einige Sachen zu pa-
cken, und dann auf Viehwaggons verladen. Manche
konnten nur das mitnehmen, was sie auf dem Leib trugen.
Was in dem Erlass als Ackerland in Aussicht gestellt
wurde, entpuppte sich in Wirklichkeit als eine unwirtliche,
menschenfeindliche Steppe, der ein landwirtschaftlicher
Ertrag mühsam abgetrotzt werden musste.
Kann man das finanziell wiedergutmachen? Durch
das Häftlingshilfegesetz von 1955 hat die damalige Bun-
desregierung versucht, die Notlage der auch als Zivilde-
portierte bezeichneten Deutschen östlich der Oder/
Neiße-Grenze zu lindern. Das Häftlingshilfegesetz galt
zunächst für ehemalige Sowjetzonenhäftlinge, die als
Klassenfeinde hingestellt wurden, und Deutsche aus den
ehemaligen Ostgebieten gleichermaßen. Für ehemalige
DDR-Häftlinge wurde 1990 das Strafrechtliche Rehabi-
litierungsgesetz geschaffen und somit eine Unterschei-
dung getroffen, die zum Teil als ungerecht empfunden
wurde, weil sie ein Leid gegen das andere stellt.
Das Häftlingshilfegesetz, über welches wir heute
sprechen, soll ausdrücklich der Linderung einer Notlage
dienen. 95 Prozent der 5 000 Anträge, die im Jahr ge-
stellt werden, werden von Russlanddeutschen und von
Rumäniendeutschen gestellt, die von den eingangs ge-
11258 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015
(A) (C)
(D)(B)
schilderten Deportationen betroffen waren. Die Stiftung
für ehemalige politische Häftlinge, StepH, prüft, bear-
beitet und bewilligt die Anträge, und in der Regel wer-
den etwa 500 Euro pro Jahr und Antragsteller ausge-
zahlt. Nur etwa 15 Prozent dieser Anträge sind
Erstanträge. Bei den anderen handelt es sich um Wieder-
holungsanträge, die jedes Jahr wieder gestellt werden.
Die Bundesregierung hat jetzt ein Gesetz vorgelegt,
mit dem die jährlichen Unterstützungsleistungen durch
eine abschließende Einmalzahlung beendet werden sol-
len. Die Stiftung für ehemalige politische Häftlinge hatte
darauf hingewiesen, dass die Unterstützungsleistung
nicht als effektive Hilfe von den betagten Berechtigten
empfunden würde.
Mir ist bewusst, dass nicht alle dies so sehen. Die
Landsmannschaft der Deutschen aus Russland macht da-
rauf aufmerksam, dass „eine kontinuierliche, wenn auch
nur jährliche Leistung wichtiger als eine Einmalzuwen-
dung“ sei, weil dadurch die ohnehin meist kleinen Ren-
ten oder Grundsicherungszuwendungen dauerhaft aufge-
stockt würden.
Da die meisten Antragsteller jedoch inzwischen ein
hohes Alter erreicht haben, scheint es mir sinnvoll zu
sein, ihnen mit einer Einmalzahlung einen größeren fi-
nanziellen Spielraum zu verschaffen und ihnen die
mühselige jährliche Antragstellung zu ersparen. Da die
Zahlung weder auf die Rente noch auf mögliche Grund-
sicherungsleistungen angerechnet wird, steht der Betrag
in vollem Umfang zur Verfügung.
Im Jahr 2016 sollen in den Bundeshaushalt einmalig
13,5 Millionen Euro, davon 11,5 Millionen zusätzlich,
eingestellt werden.
Es wird damit angestrebt, jedem Antragsteller, dessen
Antrag positiv beschieden wurde, einmalig etwa 3 000
Euro auszuzahlen. Das entspricht in etwa dem Betrag,
der vormals über einen Zeitraum von sechs Jahren von
der Stiftung für ehemalige politische Häftlinge gewährt
wurde.
Das Gesetz sieht die Einführung eines Stichtages in
§ 18 Häftlingshilfegesetz, HHG, vor, sodass Anträge auf
eine Unterstützungsleistung bei der Stiftung für politi-
sche Häftlinge faktisch noch bis zum 30. Juni 2016 ge-
stellt werden können. An den Voraussetzungen für eine
positive Bescheidung der Anträge ändert sich nichts. Der
Gesetzgeber führt weiterhin einige Neuerungen ein, die
das bürokratische Verfahren erleichtern sollen. Demnach
kann der Stiftungsrat zukünftig die Entscheidung über
die Anträge teilweise auf den Vorsitzenden des Vorstan-
des oder dessen Stellvertreter übertragen. Dies bezieht
sich in erster Linie auf die Wiederholungsanträge und er-
leichtert das Verwaltungsverfahren.
Unberührt von den gesetzlichen Änderungen bleibt
die Tatsache, dass nach wie vor kein Rechtsanspruch auf
die Förderung nach § 18 HHG besteht. Begünstigte sind
die ehemaligen politischen Häftlinge und Deportierten,
die zu der sogenannten Erlebnisgeneration zählen und
deren Geschichte und deren Schicksal allerhöchsten
Respekt verdienen.
Mein Anliegen ist es, dass diese schrecklichen
Kriegsfolgenschicksale nicht vergessen und die ge-
schichtlichen Ereignisse aufgearbeitet und der Öffent-
lichkeit zugänglich gemacht werden. Ein wesentlicher
Ort des Erinnerns wird die Stiftung Flucht, Vertreibung,
Versöhnung sein. Die Regierungsparteien von CDU/
CSU und SPD hatten sich im Koalitionsvertrag 2005 zu
dieser Stiftung bekannt. Sie ist im Deutschen Histori-
schen Museum angesiedelt und wird seit 2008 durch den
Bund gefördert. Ihre Aufgabe besteht darin, als ein „Ort
lebendigen Gedächtnisses“ zu wirken, und zwar in enger
Abstimmung mit der oben beschriebenen Erlebnisgene-
ration, durch Einbeziehung von Einzelschicksalen und
biografischen Erzählungen. Damit erhalten die histori-
schen Fakten auch für die jüngere Generation ein Ge-
sicht.
Ich werde mich auch weiterhin dafür einsetzen und
dafür werben, dass es bundesweit Orte des Erinnerns,
der Aufklärung und der Kommunikation gibt, um gegen
das Vergessen zu wirken.
Matthias Schmidt (Berlin) (SPD): Erlittenes Un-
recht lässt sich nicht finanziell entschädigen. Darüber
sind wir uns hier im Haus einig. Von Deutschland ausge-
hend ist allerdings vor mehr als 70 Jahren unsägliches
Unrecht über Europa und die Welt ausgebreitet worden.
Wie kann ermessen werden, wie groß das Leid war und
welche Schäden es im Leben des Einzelnen hinterlassen
hat?
Leid ist individuell. Es wird individuell erlebt und
hinterlässt tiefe Spuren im Leben der Menschen. Wir als
Bundestagsabgeordnete können das in der Tiefe kaum
ermessen. Was wir aber können und müssen, ist, Verant-
wortung zu übernehmen.
In der Vergangenheit wurden zahlreiche Gesetze er-
lassen, um eine moralische und finanzielle Wiedergut-
machung für die Opfer von Unrechtssystemen zu leisten.
In der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft waren es
vor allen Dingen die Opfer des Nationalsozialismus, die
im Blickpunkt einer Entschädigung standen. 1952 wurde
das Luxemburger Abkommen zwischen der Bundesre-
publik, Israel und der Jewish Claims Conference be-
schlossen, das eine erste wichtige Wegmarke setzte. Ihm
folgten weitere Gesetze und Abkommen wie das wich-
tige 1956 erlassene Bundesgesetz zur Entschädigung für
die Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung. Auch
weitere Jahrzehnte später wurden Gesetze erlassen, die
den Anspruch der Wiedergutmachung in sich trugen.
1998 wurden Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege
aufgehoben, und erst vor kurzem haben wir das Gesetz
für den Bezug von Renten aus „Ghettobeschäftigungen“
für Menschen mit Wohnsitz in Polen verbessert. Jede
Maßnahme, die durch staatliches Unrecht erlittenes Leid
mindert und die Situation der Menschen verbessert, ist
auch Jahre später noch richtig und zu begrüßen.
Auch das vorliegende Gesetz ist von diesem Gedan-
ken getragen. 1955 wurde das Häftlingshilfegesetz erlas-
sen. Es richtet sich an Menschen, die in der ehemaligen
sowjetischen Besatzungszone oder in den ehemaligen
deutschen Ostgebieten aus politischen Gründen rechts-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015 11259
(A) (C)
(D)(B)
staatswidrig in Gewahrsam genommen wurden. Es ist
ein schweres Schicksal, das diese Menschen erleiden
mussten, und es war richtig, ihnen bereits in den 50er-
Jahren diese Unterstützungsleistungen zuteil werden zu
lassen.
Seither können sie Leistungen in Höhe von rund
500 Euro im Jahr erhalten. Die Stiftung für ehemalige
politische Häftlinge mit Sitz in Bonn übernimmt seit
1970 die Ausreichung der Mittel. Gut 60 Jahre nach
Inkraftsetzung des Häftlingshilfegesetzes strebt die Bun-
desregierung an, das Verfahren zu ändern. Die Antrag-
steller sind inzwischen zumeist hochbetagt, und die Be-
lastung, die mit der jährlichen Antragstellung verbunden
ist, halte ich für unverhältnismäßig. Darum hat nun die
Bundesregierung eine Regelung vorgeschlagen, die das
Verfahren deutlich erleichtert. Die jährliche Leistung
soll in eine Einmalzahlung umgewandelt werden. Das
heißt, dass anstelle der bisher jährlich neu zu beantra-
genden rund 500 Euro einmalig die sechsfache Summe,
nämlich rund 3 000 Euro, als Abschlusssumme geleistet
wird. Für die Anspruchsberechtigten ist das mit deutlich
weniger Aufwand und einer höheren finanziellen
Leistung verbunden. Dabei wird angestrebt, dass die
Menschen von dieser hohen Einmalzahlung stärker pro-
fitieren als von den geringeren Jahresbeträgen. Im Bun-
deshaushalt werden für diese Maßnahme zusätzlich rund
11,3 Millionen Euro veranschlagt, und ich freue mich,
dass es gelungen ist, diese nicht unbeträchtliche Summe
für die Umsetzung des Gesetzesvorhabens bereitzustel-
len. Ich halte es für eine gute Entscheidung, das Häft-
lingshilfegesetz in dieser Weise zu verändern und zum
Abschluss zu bringen.
Auch 70 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg tragen
wir Verantwortung. Verantwortung für Unrecht und
Leid, das im Namen oder infolge deutscher Unrechts-
regime begangen wurde. Es ist Ausdruck einer mündi-
gen demokratischen Gesellschaft, sich dieser Verantwor-
tung immer aufs Neue zu stellen.
Ulla Jelpke (DIE LINKE): Die Bundesregierung be-
antragt eine Änderung des Häftlingshilfegesetzes. Bisher
müssen die Berechtigten jedes Jahr einen Antrag auf
Beihilfe stellen, die aber nur 500 Euro beträgt. Diese
Regelung soll jetzt ersetzt werden durch eine einmalige
Zahlung von 3 000 Euro.
Das Gesetz steht jenen Personen offen, die nach der
Befreiung vom Faschismus von den Sowjetbehörden zu
Unrecht in Gewahrsam genommen worden waren. Ge-
genwärtig handelt es sich bei den meisten der rund 5 000
Antragsteller um Russlanddeutsche bzw. um Rumänien-
deutsche, die in die Sowjetunion verschleppt worden
waren. Es liegt auf der Hand, dass eine Beihilfe, die ge-
rade einmal 500 Euro pro Jahr umfasst, von den Betrof-
fenen kaum als wirksame Unterstützung wahrgenommen
wird. Von daher ist es zu begrüßen, dass ihnen die all-
jährliche Auseinandersetzung mit dem Antragsformular
erspart wird und sie stattdessen eine Zahlung von 3 000
Euro erhalten. Problematisch ist aus unserer Sicht aber,
dass diese Summe als „Abschlusszahlung“ bezeichnet
wird. Ob sich das für die Betroffenen unterm Strich
lohnt, hängt damit von ihrer Lebenserwartung ab. Wenn
man der Auffassung ist, dass die Beihilfe an sich legitim
und notwendig ist, warum lässt man sie dann auslaufen?
Dazu hat die Bundesregierung keine Begründung gelie-
fert.
Ich möchte die Gelegenheit nutzen, auf einen grund-
sätzlichen Mangel dieser Regelung hinzuweisen. Natür-
lich hat es beim Vormarsch der Roten Armee auch Ex-
zesse und unrechtmäßige Inhaftierungen gegeben. Dass
die Betroffenen heute eine, wenn auch bescheidene,
Hilfe erhalten, ist völlig in Ordnung. Bemerkenswert ist
aber, dass das nur für Deutsche gilt, die Opfer der Roten
Armee wurden. Menschen, die rechtswidrigem Verhal-
ten der Wehrmacht oder der Waffen-SS zum Opfer fie-
len, wie etwa die Einwohner der griechischen Ortschaft
Distomo, in der die Nazibesatzer ein Massaker verübten,
haben bis heute nicht einen Cent an Entschädigung be-
kommen.
Als Webfehler des Gesetzes sehen wir auch den Aus-
schluss von Personen, die den sozialistischen Regierun-
gen Osteuropas „Vorschub geleistet“ haben. Das ist eine
absolute Gummiformulierung. Während altgediente Na-
zis nur ausgeschlossen werden, sofern ihnen hieb- und
stichfest Verbrechen nachweisbar sind, sind etwa Kom-
munisten, die sich für den Aufbau und den Erhalt der
DDR eingesetzt haben, von einem prinzipiellen Aus-
schluss bedroht. Das spiegelt sehr deutlich den antikom-
munistischen Geist der 1950er-Jahre in der BRD, als
dieses Gesetz entstanden ist.
Die Linke wird sich aus den genannten Gründen ent-
halten.
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Im vorliegenden Antrag stellt die Bundesregierung fest,
dass knapp 70 Jahre nach Beendigung des Zweiten Welt-
krieges die Empfänger von Unterstützungsleistungen
nach dem Häftlingshilfegesetz, HHG, im Durchschnitt
über 80 Jahre alt sind. 95 Prozent dieser Antragsteller er-
halten nach Angabe der Bundesregierung gemäß den Ar-
beitsanweisungen der Stiftung für ehemalige politische
Häftlinge, StepH, eine Unterstützungsleistung in Höhe
von 500 Euro pro Jahr. Nach Schilderung der StepH
wird eine Unterstützungsleistung in dieser Höhe aller-
dings nicht als effektive Hilfe wahrgenommen. Den
hochbetagten Antragstellern sei es deshalb nicht mehr
zuzumuten, jedes Jahr erneut diese relativ geringe Leis-
tung zu beantragen.
Der Vorschlag der Bundesregierung ist deshalb, durch
die Änderung des HHG die jährliche Unterstützungsleis-
tung an ehemalige politische Häftlinge ab 2016 durch
eine Einmalzahlung zu ersetzen, für die der Bund einma-
lig 13,5 Millionen Euro – davon 11,5 Millionen Euro zu-
sätzlich – bereitstellen wird. Durch diese zusätzlichen fi-
nanziellen Mittel wird die Einmalzahlung deutlich höher
ausfallen als die bisher jährlich gezahlte Unterstützungs-
leistung.
Wir begrüßen den großzügigen Ansatz, dass An-
spruchsberechtigte vorab für sechs Jahre den ihnen zuste-
henden Entschädigungs- bzw. Anerkennungsbetrag auf
11260 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015
(A) (C)
(D)(B)
einmal bekommen. Darin sehe ich keinen Grund für eine
Ablehnung. Insgesamt hätten wir uns aber eine konse-
quentere Entscheidung, auch mit Blick auf andere
Opfergruppen, erhofft und hätten eine höhere Zahlung
begrüßt, weshalb wir uns heute enthalten werden.
Anlage 23
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags der Fraktionen der
CDU/CSU und SPD: Energiesteuerermäßigung
für Erd- und Flüssiggas über 2018 hinaus ver-
längern (Tagesordnungspunkt 25)
Steffen Bilger (CDU/CSU): Alternative Antriebe
sind eine gute, sinnvolle und notwendige Alternative zu
herkömmlichem Sprit auf Erdölbasis. Um unseren Um-
welt- und Klimabeitrag im Verkehrsbereich zu erbrin-
gen, müssen wir dafür sorgen, dass auf Deutschlands
Straßen weniger CO2 und andere Schadstoffe ausgesto-
ßen werden. Auch die Lärmemissionen müssen sinken,
und nicht zuletzt sollten wir unsere Abhängigkeit von
Ölimporten verringern. Dafür muss der Verbrauch von
Diesel und Benzin abnehmen. Die sinnvollste Variante
ist dabei der Elektroantrieb. Er ist leise, stößt lokal keine
Emissionen aus, kann mit regenerativ erzeugter Energie
betrieben werden und unterstützt die Weg-vom-Öl-
Strategie. Da aber E-Fahrzeuge – seien sie batteriebetrie-
ben oder durch Wasserstoff angetrieben – noch nicht für
alle Anwendungen nutzbar sind, benötigen wir andere
Antriebsmöglichkeiten. Dazu gehören Erd-und Flüssig-
gas. Gasbetriebene Fahrzeuge ermöglichen umwelt- so-
wie klimafreundlichere Mobilität.
Um die Gasmobilität voranzutreiben, wurde schon
vor Jahren mit wichtigen Maßnahmen begonnen. Das
Tankstellennetz wurde fast flächendeckend ausgebaut
und die Steuerermäßigung eingeführt. Zusammen mit
den Fahrzeugherstellern entstand dadurch ein Markt für
die Kunden. Denn nur wenn auch bei dieser Technik das
klassische Henne-Ei-Problem gelöst ist, kommen wir bei
der notwendigen Verbreitung voran. Die Hersteller müs-
sen Fahrzeuge oder Umrüstmöglichkeiten anbieten, die
Tankstelleninfrastruktur muss angemessen ausgebaut
und der Preis des Gases attraktiv sein. Auf die ersten bei-
den Bedürfnisse hat der Staat wenige Einwirkungsmög-
lichkeiten, auf letzteres umso mehr. Experten sagen des-
halb, dass ohne die eingeführte Steuerermäßigung Erd-
und Flüssiggas für Autos nur noch schwer verkäuflich
wäre. Daher brauchen wir diese Form der Förderung.
Das Bundesfinanzministerium macht sich nun sinn-
vollerweise intensiv Gedanken darüber, wie sich die
Mindereinnahmen durch Steuerzugeständnisse bei den
alternativen Kraftstoffen in Zukunft auf den Bundes-
haushalt auswirken werden. Hierzu wird gerade ein
Gutachten erarbeitet. Es ist verständlich, dass erst nach
Abschluss des Gutachtens über die weitere Steuerermä-
ßigung bei der Gasmobilität Schlussfolgerungen gezo-
gen werden sollten. Vor allem steht eben die Frage im
Raum, ob es sie geben wird und, wenn ja, wie eine mög-
liche Degression der Steuerermäßigung aussehen und bis
wann diese komplett abgeschmolzen sein wird. Auch
deshalb ist es gut, dass vertieft und in einem breiteren
Ansatz über alternative Antriebe geforscht wird.
Zu Recht wird von der Politik Verlässlichkeit einge-
fordert. Es kann schließlich nicht sein, dass Rahmen-
bedingung von heute auf morgen zum Schaden von
Wirtschaft und Bevölkerung geändert werden. Gelegent-
lich gibt es gute Gründe dafür, es sollte aber die Aus-
nahme bleiben. Auch aus diesem Grund ist es wichtig,
dass spätestens im kommenden Frühjahr die Bundes-
regierung einen Gesetzentwurf zur Steuerermäßigung
vorlegt, bei dem dann jeder weiß, woran er ist.
Potenzielle Käufer, Hersteller und Tankstellenbetrei-
ber brauchen aber schon jetzt ein Signal, ob die Steuer-
ermäßigung auch über 2018 hinaus tatsächlich bleiben
wird. Autos werden gekauft und über Jahre genutzt.
Wenn eine Gas-Tankstelle überholt bzw. erneuert wer-
den muss, benötigt der Betreiber Sicherheit, ob er weiter
in diese Technologie investieren sollte, und die Herstel-
ler – obwohl sie natürlich international anbieten – sind
ebenfalls daran interessiert, wie sich der Markt in
Deutschland aufgrund der steuerlichen Rahmenbedin-
gungen entwickeln könnte. Überhaupt sollte es unser
Anspruch im Autoland Deutschland sein, dass wir bei al-
len Formen der Mobilität der Zukunft in Forschung, Pro-
duktion und Anwendung vorne mit dabei sind.
Aus diesen Gründen haben sich die Koalitionsfraktio-
nen von CDU/CSU und SPD entschlossen, diesen An-
trag in den Deutschen Bundestag einzubringen. Er for-
dert die Bundesregierung auf, den Koalitionsvertrag
umzusetzen. Dort heißt es: „Die bis Ende 2018 befristete
Energiesteuerermäßigung für klimaschonendes Autogas
und Erdgas wollen wir verlängern.“ Auch im Nationalen
Aktionsplan Energieeffizienz des Bundeswirtschafts-
ministeriums wird die Verlängerung der steuerlichen
Begünstigung von Erd- und Flüssiggas über das Jahr
2018 als Maßnahme gelistet. Mit diesem Antrag machen
wir deutlich, dass der Bund auch weiterhin die Gasmobi-
lität fördern wird. Alle Beteiligten können sich darauf
verlassen und entsprechend planen. Wir stehen zur Gas-
mobilität und wünschen uns ihren Erfolg!
Danken möchte ich als Verkehrspolitiker an dieser
Stelle allen Beteiligten aus der Koalition. Der Erfolg hat
bekanntlich viele Väter. Meine Kollegen aus den
Bereichen Finanzen, Verkehr, Umwelt und Wirtschaft
der Koalitionsfraktionen haben den Entstehungsprozess
konstruktiv begleitet, und auch das zuständige Bundes-
finanzministerium hat seinen Beitrag geleistet.
Nun freue ich mich auf die weiteren Beratungen und
bitte um breite Zustimmung.
Norbert Schindler (CDU/CSU): Mit dem vorlie-
genden Antrag der Koalitionsfraktionen wird die Bun-
desregierung aufgefordert, auch in Zukunft das im Ver-
kehrssektor verwendete komprimierte und verflüssigte
Erdgas, CNG/LNG, und Flüssiggas, LPG, mit einem ver-
günstigten Mineralöl-(Energiesteuer-)satz zu belegen.
Ziel dieser Maßnahme ist es, die derzeitige Konkurrenz-
fähigkeit der mit CNG und LPG betriebenen Kfz mit den
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015 11261
(A) (C)
(D)(B)
konventionell betriebenen (Otto- und Dieselmotoren)
beizubehalten.
Die Gründe für diesen Vorstoß mit dem heutigen An-
trag sind vielschichtig; ich möchte hier einige heraus-
greifen:
Für das Gelingen der Energiewende und das Errei-
chen der Klimaziele sind nicht nur Treibhausgasminde-
rungen im Bereich der Energieerzeugung – wie gestern
von der Großen Koalition beschlossen – notwendig, son-
dern gerade auch im Verkehrssektor, der für circa
17 Prozent der Treibhausgasemissionen in Deutschland
(159 Millionen Tonnen) verantwortlich ist. Durch die
Zunahme des Individual- und Güterverkehrs in Deutsch-
land werden sich diese Emissionen in Zukunft mit kon-
ventionellen Kraftstoffen nicht reduzieren lassen. Des-
halb brauchen wir im Verkehrssektor einen Energiemix,
zu dem eben auch verflüssigte Gase für Verbrennungs-
motoren gehören.
Die Beibehaltung der Steuerermäßigung für Erd-
und Flüssiggas für einen zu definierenden Zeitraum
soll Motivation für Innovationen in diesem Bereich
sein. So entfallen heute zwar nur circa 0,3 Prozent des
Energieverbrauchs des Verkehrssektors auf Erdgas (circa
100 000 Pkw), das eine deutlichere THG-Minderung
aufzuweisen hat als LPG; jedoch ist der mögliche mittel-
fristige Marktanteil auf das 12- bis 15-Fache prognosti-
ziert. Ein derartiger Zuwachs könnte zu einer signifikan-
ten Reduzierung der Emissionen um circa 1 Million
Tonnen pro Jahr führen.
Gerade die jetzt anlaufende Herstellung von Methan
mittels der Power-to-Gas-Technologie oder die Beimi-
schung von Biogas als erneuerbare Energieträger ma-
chen den Erdgaseinsatz noch vorteilhafter. Da die Pro-
duktion jedoch derzeit noch deutlich teurer ist als die
Fragmentierung von Erdölprodukten, muss ein deutli-
cher steuerlicher Abstand beibehalten bleiben.
Erdgas gilt auch als alternativer Kraftstoff für den
Ziel- und Quellverkehr, für den Elektrofahrzeuge auf-
grund der Reichweite nicht eingesetzt werden können.
Darüber hinaus wird auch der Einsatz von Erdgas als Al-
ternative zu Diesel im Straßentransport im Rahmen der
Mobilitäts- und Kraftstoffstrategie, MKS, der Bundesre-
gierung vorbereitet. Die entsprechende Initiative Erdgas-
mobilität muss durch Beibehaltung von günstigen Steu-
ersätzen flankiert werden.
Neben dem Lkw-Bereich, in dem der Einsatz von gas-
betriebenen Fahrzeugen erst anläuft, kann schon auf
langjährige Erfahrungen bei Bussen zurückgeblickt wer-
den. Auch hier sind (Bio-)Erdgasfahrzeuge eine gute Al-
ternative insbesondere für die Innenstädte, da die direk-
ten Abgasemissionen deutlich niedriger sind als bei
Dieselfahrzeugen und zudem Feinstaubemissionen nicht
mittels teurer Technik bekämpft werden müssen, da sie
nahezu vollständig ausbleiben.
Mit der geforderten Verstetigung der Steuerminde-
rung für den Einsatz von Erd- und Flüssiggas in Fahr-
zeugen vermeiden wir eine Erosion des Gastankstellen-
netzes. Durch den Teufelskreis wenige Fahrzeuge
(Kunden), wenig Umsatz, hohe Wartungs- und Instand-
haltungskosten, Abbau der Kapazitäten, weniger Fahr-
zeuge ist für viele Unternehmen das Betreiben der Gas-
tankstellen unattraktiv geworden. Auch das möchten wir
mit dieser Initiative stoppen, und wir hoffen, dass die
Tankstellenbetreiber dies als Signal für einen Ausbau
des Netzes werten.
Nicht zuletzt wollen wir die in- und ausländischen
Kfz-Hersteller hiermit motivieren, mehr Fahrzeug-
varianten mit Gasbetrieb herzustellen und zu vertreiben.
Wird die Flotte attraktiver, ist auch der Anreiz zum Er-
werb eines Fahrzeugs mit Gastank – trotz Mehrkosten in
der Beschaffung – vorteilhaft, da die Gesamtkosten im
Lebenszyklus des Kfz, TCO – Total Cost of Ownership,
durchaus mit konventionell betriebenen Fahrzeugen
konkurrenzfähig sind.
Nach den Erfolgen eines deutschen Premiumherstel-
lers mit erdgasbetriebenen Fahrzeugen kündigten wei-
tere an, dieses Segment ebenfalls bedienen zu wollen.
Und auch die Importeure ziehen nach. Ich kann nur sa-
gen: Weiter so!
Das Potenzial der Energieträger CNG und LPG, zu ei-
ner nachhaltigen Energieversorgung im Straßenverkehr
beizutragen, ist noch lange nicht ausgeschöpft. Gerade
hinsichtlich der Dekarbonisierung im Verkehrssektor ist
der Einsatz dieser Energieträger auch mittelfristig not-
wendig und muss schnellstmöglich auf den Straßentrans-
port ausgeweitet werden. Die größtmögliche Reduzie-
rung der Treibhausgas- und Schadstoffemissionen kann
in diesem Sektor erfolgen, wenn erneuerbare Energien
bei der Herstellung dieser Energieträger Verwendung
finden.
Die Vorteilhaftigkeit insbesondere von (Bio-)Erdgas
wird nur noch von Biokraftstoffen übertroffen, die direkt
oder als Beimischung zu Benzin oder Diesel in Verbren-
nungsmotoren eingesetzt werden. Auch hier ist eine hö-
here Beimischungsquote durchaus denkbar, zum Bei-
spiel die Erhöhung auf E 20 (20 Prozent Bioethanol im
Benzin) als weiterer Baustein, um die nationalen Klima-
ziele auch im Verkehrssektor zu erreichen.
Mit dem Antrag der Koalitionsfraktionen, die Ener-
giesteuerermäßigung für Erd- und Flüssiggas – gegebe-
nenfalls differenziert – über 2018 hinaus zu verlängern,
haben wir heute die steuerpolitische Richtung vorgege-
ben. Die Umsetzung wird im Frühjahr nächsten Jahres
erfolgen, nachdem das Ergebnis des Forschungsvorha-
bens zur Entwicklung der Energiesteuereinnahmen im
Kraftstoffsektor ausgewertet worden ist.
Ich werde mich dafür einsetzen, dass wir eine Rege-
lung mit Augenmaß erhalten, mit der alle Beteiligten gut
leben können. Dabei werde ich weder das nationale Kli-
maziel noch das Ziel der Haushaltsneutralität aus den
Augen verlieren.
Christian Petry (SPD): Heute beraten wir einen An-
trag der Koalitionsfraktionen zur Verlängerung der be-
stehenden Energiesteuerermäßigung für Erd- und Flüs-
siggas. Bevor ich auf inhaltliche Details zu sprechen
komme, möchte ich den Antrag und seine Ziele gerne in
einen größeren Kontext setzen. Im Koalitionsvertrag ha-
11262 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015
(A) (C)
(D)(B)
ben sich CDU/CSU und SPD auf eine massive Reduzie-
rung der Treibhausgasemissionen verständigt. Bis zum
Jahr 2020 wollen wir im Zuge der Energiewende die
Emissionen national um 40 Prozent senken – ein ambi-
tioniertes Ziel. Im letzten Jahr konnten in vielen treib-
hausgasemittierenden Sektoren Erfolge erzielt werden.
Die aktuellen Emissionsdaten des Umweltbundesam-
tes zeigen einen grundsätzlich positiven Trend bei den
Treibhausgasemissionen: Seit drei Jahren sind die Emis-
sionen wieder rückläufig. Das ist erfreulich und vor-
nehmlich den strukturellen Veränderungen in der Ener-
giewirtschaft geschuldet. Ganz anders sieht es dagegen
im Verkehrssektor mit einer unterdurchschnittlichen Per-
formance aus. Die Emissionen sind hier im Vergleich
zum Vorjahr um mehr als 3 Prozent gestiegen, sie ma-
chen aktuell insgesamt 17 Prozent der deutschen Treib-
hausgasemissionen aus.
Der Hauptgrund für die gesteigerte Verkehrsleistung
im privaten und gewerblichen Bereich ist dabei volks-
wirtschaftlich durchaus positiv zu sehen: konstantes
Wirtschaftswachstum, das von niedrigen Kraftstoffprei-
sen befeuert wird. Umweltverträgliche Kraftstoffe konn-
ten sich zwar teilweise im Markt etablieren, der überwäl-
tigende Großteil der Energieträger im Verkehrssektor
wird jedoch aus Mineralölen gewonnen.
Dieser kurze Exkurs zeigt: Die Energiewende kann
nur dann gelingen, wenn es auch im Verkehrsbereich zu
einem Umdenken kommt, ein Umdenken hin zur ver-
mehrten Nutzung regenerativer Kraftstoffe und hin zu
verstärktem Forschen an alternativen Antriebstechnolo-
gien. Die Energiewende verstehe ich dabei als eine ge-
samtwirtschaftliche Herausforderung, die viele Wirt-
schaftszweige vor große Veränderungen stellt. Hier muss
die Politik mit zielgenauer und differenzierter Unterstüt-
zung diesen Veränderungsprozess begleiten. Ich bin
überzeugt: Das Gießkannenprinzip sollte nicht das Mit-
tel der Wahl sein. Daher gilt es, jede politische Entschei-
dung zugunsten einer Technologie oder eines Kraftstof-
fes vorab sorgsam abzuwägen.
Ich komme damit zum Kern des vorliegenden An-
trags. In Deutschland sind bis Ende 2018 Erd- und Flüs-
siggas energiesteuerlich begünstigt. Beide Kraftstoffe
konnten sich in den vergangenen Jahren mit Erfolg im
Markt etablieren. Im Koalitionsvertrag haben sich SPD
und CDU/CSU daher darauf verständigt, diese Begünsti-
gung auch über 2018 hinaus zu verlängern. Die konkrete
Ausgestaltung dieser Verlängerung gilt es nun in den
kommenden Monaten zu definieren. In diesem Zusam-
menhang hat das Bundesfinanzministerium ein umfang-
reiches Forschungsvorhaben ausgeschrieben, das die
Entwicklungen der Energiesteuereinnahmen im Kraft-
stoffsektor zum Gegenstand hat. Ich denke, dass neben
dem reinen Zahlenwerk auch eine Blaupause vonnöten
ist, die für Erd- und Flüssiggas einen Weg in die Wettbe-
werbsfähigkeit mit anderen Kraftstoffen ohne steuerli-
che Vergünstigungen aufzeigt.
Neben diesen zentralen Überlegungen zur mittelfristi-
gen Marktetablierung von Erd- und Flüssiggas stellt der
vorliegende Antrag somit zunächst sicher, dass die Bun-
desregierung bis zum Frühjahr 2016 einen konkreten
Vorschlag zur Verlängerung der angesprochenen Steuer-
begünstigungen macht. Ich glaube, dass dies ein richti-
ges Signal für die weitere Unterstützung umweltscho-
nender Kraftstoffe ist. Die kommenden Monate müssen
jetzt genutzt werden, um die Details der zukünftigen
steuerlichen Vergünstigung für Erd- und Flüssiggas zu
formulieren. Dabei fordern wir von der Bundesregierung
auch ein, dass sie nichtsteuerliche Möglichkeiten zur
besseren Etablierung dieser beiden Kraftstoffe aufzeigt.
Andreas Rimkus (SPD): Es ist sehr wichtig, dass
wir es geschafft haben, diesen Antrag noch vor der Som-
merpause auf den parlamentarischen Weg zu bringen.
Denn in der Tat soll er ein wichtiges Signal an die Indus-
trie, aber auch an die Nutzerinnen und Nutzer sein, dass
wir zur Technologie des Gasantriebs stehen und ihn als
wichtigen Bestandteil der Energiewende im Verkehr be-
greifen. Dies ist als Aufforderung zu betrachten, sich of-
fen den bereits etablierten ökologischen Antriebsformen
zuzuwenden und selbst einen Beitrag dazu zu leisten,
dass die Transformation zu umweltfreundlicher Mobili-
tät gelingt.
Mit den UN-Mitgliedstaaten hat sich auch die Bun-
desrepublik auf klare Zielvorgaben verständigt, zu denen
Deutschland seinen Beitrag leisten muss. Deshalb hat
sich die Bundesregierung das Ziel gesetzt, die Treib-
hausgasemissionen maßgeblich zu senken. Bis 2050
wollen wir 80 bis 95 Prozent CO2-Emissionen gegen-
über 1990 reduzieren, bis 2020 immerhin schon 40 Pro-
zent. Diese Zahlen gehen einem leicht von den Lippen,
doch ihre Umsetzung wird nicht von alleine kommen,
sondern bedarf unserer tatkräftigen Unterstützung.
Ich nehme zur Kenntnis, dass die Verkehrsleistung
stetig zunimmt, wie auch die Verkehrsverflechtungspro-
gnose zeigt. Insbesondere im Straßengüterverkehr wird
ein Anstieg der Verkehrsleistung um 39 Prozent pro-
gnostiziert, was den dringenden Handlungsbedarf sicht-
bar macht. So müssen wir auch im Verkehrsressort kurz-
und mittelfristig deutlichere Fortschritte machen. Hier
haben wir mit LNG einen Kraftstoff, der besonders im
Straßengüterverkehr bei der Reduzierung von Emissio-
nen helfen kann.
Damit uns die Abkehr von den klassischen Kraftstof-
fen Diesel und Benzin gelingt und wir einen Paradig-
menwechsel im Verkehrssektor hinbekommen, müssen
wir uns ehrlich anstrengen. Es braucht Ideen, Innovatio-
nen und Konzepte. Erste Schritte sind wir mit dem Na-
tionalen Aktionsplan Energieeffizienz von Sigmar
Gabriel und dem Aktionsprogramm Klimaschutz 2020
aus dem Hause von Barbara Hendricks gegangen. Dort
wurden Gesamtkonzepte vorgelegt, die deutlich über
100 Maßnahmen beinhalten. Unsere Aufgabe ist nun,
diese in die Tat umzusetzen. Ergänzend dazu haben wir
aber auch bereits im Koalitionsvertrag Maßnahmen ver-
abredet. Einen wesentlichen Baustein dieser Maßnah-
men bildet ebendiese Verlängerung der Steuervergünsti-
gung für Erd- und Flüssiggas. Mit dem vorliegenden
Antrag bekräftigen wir dieses Bekenntnis noch einmal
und machen deutlich, dass wir auch im Verkehrssektor
zu unseren ökologischen Zielen stehen.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015 11263
(A) (C)
(D)(B)
Um diese zu erreichen, müssen wir allerdings ran.
Dies gelingt uns mit der Förderung von Gastechnologie,
aber auch mit weiteren Antriebsformen, wie Elektroan-
trieben mit Akku und Brennstoffzelle, Power-to-Gas und
Biokraftstoffen der zweiten Generation. Deshalb stehen
auch ich und meine Fraktion hinter alternativen An-
triebstechnologien.
Auch die EU-Kommission erkennt diesen Ansatz und
berücksichtigt in der Richtlinie zum Ausbau von Lade-
und Tankinfrastruktur alternativer Antriebe (Clean Power
for Transport) sowohl Wasserstoff und Strom als auch
Gas. Ausdrücklich werden hier auch Anforderungen für
den Ausbau von LNG-Tankinfrastruktur für die Schiff-
fahrt definiert. Auch hier bietet Flüssiggas eine ökologi-
sche Alternative zu den klassischen Brennstoffen.
Die Zukunft wird uns vor die Aufgabe stellen, nicht
nur aus Umweltschutzgründen die Energiewende im
Verkehr zum Erfolg zu führen, sondern auch aufgrund
der Ansprüche der Bürgerinnen und Bürger. Viele Men-
schen drängen in die Städte, wo sich der Verkehr staut.
Wir stehen vor der Herausforderung, auf der einen Seite
den Mobilitätsbedürfnissen der Menschen gerecht zu
werden und auf der anderen Seite Probleme wie die
Feinstaubbelastung in den Innenstädten zu reduzieren.
Auch dazu kann der Treibstoff Gas seinen Beitrag leis-
ten.
Wie ich bereits an dieser Stelle im Plenum deutlich
gemacht habe, ist mein Credo: Technologieoffenheit.
Lassen Sie uns doch die Nutzerinnen und Nutzer ent-
scheiden, wo die Reise hingehen soll. All die genannten
Technologien bieten noch erhebliches Innovationspoten-
zial. Gute Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen
sich diese Potenziale ideal heben lassen, sehe ich als
meine und unsere gemeinsame Aufgabe.
Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Wir sprechen
heute hier über einen Antrag der Koalitionsfraktionen
zur Energiesteuerermäßigung für Erd- und Flüssiggas.
Die Steuerermäßigung soll über 2018 hinaus verlängert
werden. Begründet wird dies mit Klimaschutz und der
Dekarbonisierung des Verkehrssektors. Es ist ja schön,
dass das Wort Dekarbonisierung nun auch von der Bun-
deskanzlerin und CDU-Vorsitzenden in Elmau in den
Mund genommen wurde.
Aber mit schönen Worten ist es beim Klimaschutz lei-
der nicht getan. Wenn es um Taten geht, dann sieht man
die schwache Willenskraft der Koalition wie gerade
heute bei den Ergebnissen des Spitzentreffens zur Ener-
gie. Wirklich wirksame Instrumente zum Klimaschutz
haben bei der Koalition wenig Chancen, wie man am
heute gescheiterten Klimabeitrag für Kohlekraftwerke
wunderbar sehen kann. Dekarbonisierung – Sie von der
Koalition müssen erst noch lernen, wie man das buchsta-
biert.
Auch im Verkehrsbereich. Grundsätzlich sagen wir
als Linke, dass es zwar nicht falsch ist, über eine solche
Steuerermäßigung Anreize zu geben, um den Marktan-
teil von erdgasbetriebenen Fahrzeugen zu erhöhen.
Wenn ich mir allerdings Ihre Begründung ansehe, meine
ich, Sie hätten hier nicht so einen klimapolitisch klingen-
den großen Aufwasch zu machen brauchen. Für einen
Beitrag des Verkehrssektors zum Aufhalten der Klimaer-
wärmung würde ich mir ambitioniertere Anträge aus den
Reihen der Koalition wünschen.
Im Verkehr wird etwa ein Fünftel der deutschen CO2-
Emissionen ausgestoßen – Tendenz steigend. Da sind
noch nicht einmal die anteiligen Emissionen aus dem in-
ternationalen Flugverkehr eingerechnet. Insbesondere
der Straßenverkehr wächst, auf den über 95 Prozent der
Verkehrsemissionen entfallen. Höhere Wachstumsraten
als im Straßenverkehr sind allein im Flugverkehr zu ver-
zeichnen, wo endlich die umweltschädliche Steuerbe-
freiung bei Kerosin aufgegeben werden müsste.
Ich will aber beim Straßenverkehr bleiben: Hierzu-
lande fahren die Leute immer leistungsstärkere Autos
und haben eine Vorliebe für große Schüsseln: SUVs sind
beliebt. Die Klimaschutzwirkung von effizienterer Tech-
nik wird durch immer höhere PS-Zahlen leider ausgehe-
belt. In Deutschland stieg die durchschnittliche Motor-
leistung von Neufahrzeugen von 123 PS im Jahr 2005
auf 137 PS im Jahr 2013. Das ist Gift für das Klima,
denn dies führte zu zusätzlichen 9,5 Millionen Tonnen
CO2-Emissionen – allein wegen PS-stärkerer Motoren.
Allein der Autoverkehr ist in der EU für 12 Prozent
der CO2-Emissionen verantwortlich. Wir haben jetzt
zwar CO2-Grenzwerte für Pkw, aber da wurde ja die
Bundesregierung in Brüssel sehr aktiv, um die deutsche
Automobilindustrie vor zu strengen Auflagen zu schüt-
zen. Nachdem sie strengere CO2-Grenzwerte nicht ver-
hindern konnte, setzt Angela Merkel sich jetzt für soge-
nannte Supercredits ein, besondere Boni, mit denen die
Firmen verkaufte Elektrofahrzeuge in ihrer Flotte gleich
mehrfach anrechnen – und sich damit auf dem Papier
CO2-ärmer rechnen, als sie es tatsächlich sind. Klima-
politischer Unsinn.
Ein weiteres Problem ist, dass die CO2-Werte der
Hersteller kaum mit der Realität übereinstimmen. Hier
gibt es eine riesige Diskrepanz, die man in den Griff be-
kommen muss.
Beim Elektroauto greift der Rebound-Effekt, weil es
hauptsächlich als Zweit- und Drittwagen zum Einsatz
kommt. Im Verkehrsbereich muss es zu einem Umden-
ken kommen, wenn man für das Klima etwas erreichen
will: neue Verkehrskonzepte mit einem starken ÖPNV
und kurzen Wegen, mehr Güterverkehr auf die Schiene.
Deswegen kann die Koalition hier lange Begründun-
gen schreiben, wie sie über Erdgassteuererleichterungen
das Klima schützen will; wenn es darauf ankommt, be-
dient sie eher die Interessen der Automobilindustrie als
die Interessen des Klimas.
Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Für die
deutsche Klimapolitik stellt der Verkehrssektor eine
enorme Herausforderung dar. Der vorliegende Antrag
zur Verlängerung der Energiesteuerermäßigung für Erd-
und Flüssiggas beginnt hier mit einer treffenden Ana-
lyse. Es ist richtig, dass das stetig steigende Verkehrsauf-
kommen im Güter- und Personenverkehr und eine fast
11264 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015
(A) (C)
(D)(B)
vollständige Abhängigkeit von Mineralölprodukten es
erschweren, die Treibhausgase in diesem Sektor zu redu-
zieren.
Allerdings: Der zweite Teil des Antrags erweckt den
Eindruck, als wenn alle Klimaschutzprobleme im Ver-
kehrssektor mit einer Verlängerung der Energiesteuerer-
mäßigung für Erd- und Flüssiggas gelöst wären. Dies ist
jedoch ganz sicher nicht der Fall.
Mit dem vorliegenden Antrag verfestigt sich der Ein-
druck, dass die Koalitionsfraktionen die wirklich wichti-
gen Schwerpunkte in der Verkehrspolitik nicht angehen
wollen. Stattdessen schreiben sie einen Showantrag, in
dem sie das Finanzministerium auffordern, etwas zu tun,
was es ohnehin plant, nämlich ein Gutachten zur Zu-
kunft der Energiesteuer im Verkehrsbereich vorzulegen
und die im Koalitionsvertrag vereinbarte Verlängerung
der Steuerermäßigungen für Erd- und Flüssiggas umzu-
setzen.
Der Titel des Antrags und die Tatsache, dass die
Koalitionsfraktionen eine Sofortabstimmung über den
Antrag fordern, macht es umso deutlicher, dass es ihnen
nicht um eine sorgfältige Beratung geht, wie man die
Klimaziele im Verkehr tatsächlich erreichen kann, son-
dern lediglich um die schlichte Botschaft, dass die Sub-
vention von Erd- und Flüssiggas fortgesetzt wird.
Um im Verkehrssektor die CO2-Einsparungsziele zu
erreichen, muss auf mehreren Feldern deutlich umge-
steuert werden. Der Fuß- und Radverkehr, aber auch
Busse und Bahnen müssen im Vergleich zum Auto eine
sehr viel bedeutendere Rolle spielen. Massive öffentli-
che Investitionen in einen einfachen, komfortablen und
gut ausgebauten öffentlichen Personenverkehr wären
hier das Mittel der Wahl. Von der Bundesregierung ist
hier leider kaum etwas zu sehen. Im Gegenteil: Noch im-
mer bangen die Länder, ob sie in den nächsten Jahren ih-
ren Nahverkehr aufrechterhalten können, weil der Bund
mit seiner Zusage für weitere Regionalisierungsmittel
zögert.
Die beste Maßnahme für eine effektive Klimaschutz-
politik wurde von der Bundesregierung auf EU-Ebene
ausgebremst. Leider hat sich die Kanzlerin in Brüssel er-
folgreich dafür eingesetzt, dass die Autobauer nur lasche
Vorgaben dafür bekommen, wie sparsam ihre Autos sein
müssen.
Eine weitere Stellschraube, um die großen Herausfor-
derungen im Verkehrssektor anzupacken, ist mehr Kos-
tenwahrheit im Verkehrssektor. Wer auf die 10-Millar-
den-Euro-Subventionen für den Luftverkehr oder die
fortdauernde Subventionierung von schweren Dienstwa-
gen schaut, der erkennt, dass es einen neuen Anlauf für
eine ökologische Finanzreform braucht. Auch im inter-
nationalen Vergleich hinkt Deutschland hier hinterher.
Der Anteil der Umweltsteuern an den Gesamtsteuerein-
nahmen ist in Deutschland seit 2003 um ganze 4 Pro-
zentpunkte, von 13 auf 9 Prozent, gesunken. Die OECD
weist darauf hin, dass die Einnahmen aus Umweltsteu-
ern in Deutschland mittlerweile unter dem Durchschnitt
der 34 OECD-Staaten liegen, und empfiehlt, dass Steu-
ervergünstigungen für umweltschädliche Aktivitäten ab-
geschafft und Mehreinnahmen durch wirkungsvollere
Umweltsteuern erzielt werden.
Solche sinnvollen Initiativen aus den Reihen der Ko-
alitionsfraktionen gibt es aber leider nicht. Stattdessen
dominierte eine komplett sinnfreie Pkw-Ausländermaut
die verkehrspolitische Agenda der Koalition, die unge-
fähr null Effekt auf die CO2-Emissionen im Autoverkehr
haben wird.
Worum geht es bei der Verlängerung der Energiesteu-
erermäßigung im Detail? Erd- und Flüssiggas werden
heute mit 13,90 Euro pro Megawattstunde besteuert. Der
reguläre Steuersatz beträgt 31,80 Euro. Zum Vergleich:
Rechnet man die Litersteuersätze beim Benzin in Mega-
wattstunden um, beträgt der Steuersatz 73,20 Euro, beim
Diesel sind es 46,90 Euro.
Daran erkennt man zweierlei: Erstens. Die hier zur
Diskussion stehenden Steuerermäßigungen für Erdgas
und Flüssiggas sind gemessen an den derzeitigen Steuer-
sätzen für Diesel und Benzin sehr weitgehend. Zweitens
sieht man, dass die regulären Steuersätze unsystematisch
ausgestaltet sind. Sie sind historisch gewachsen, orien-
tieren sich aber nicht an einer klima- oder verkehrspoliti-
schen Fragestellung.
Vor diesem Hintergrund ist es ausdrücklich zu begrü-
ßen, dass das Finanzministerium die Studie zur Zukunft
der Energiebesteuerung in Auftrag gegeben hat. Darin
sollte nicht nur untersucht werden, wie sich alternative
Antriebe auf die Steuerbasis auswirken, sondern auch,
welche Effekte die dauerhafte Subventionierung des
Diesels auf Steuereinnahmen und den Verkehrssektor
hat.
Bevor im Bundestag über die Verlängerung der
Steuerermäßigungen für Flüssig- und Erdgas abge-
stimmt wird, sollte die Studie des Finanzministeriums
sorgfältig ausgewertet werden. Denn es gilt zu klären,
inwieweit diese im Koalitionsvertrag vereinbarte Steuer-
ermäßigung das passende Instrument ist, um dem Klima-
schutz im Verkehr einen ordentlichen Schub zu verlei-
hen.
Unbestritten ist, dass insbesondere Neuwagen mit
Erdgasantrieb im Vergleich mit ihren Schwestermodel-
len sehr gute Umwelteigenschaften ausweisen. So sto-
ßen Erdgasautos bis zu einem Viertel weniger CO2 aus
als vergleichbare Benzinmodelle und belegen seit Jahren
Spitzenplätze in der VCD-Auto-Umweltliste.
Dennoch gilt es zunächst zu erörtern, ob eine
schlichte Fortführung der Energiesteuerermäßigungen
für Erd- und Flüssiggas tatsächlich der richtige Weg ist.
Fragen, die dabei zu klären sind, wären etwa: Sind die
derzeitigen üppigen Ermäßigungen in dieser Höhe aus
klimapolitischer Sicht zu rechtfertigen? Sind auch Moto-
ren auf Basis von Flüssiggas eine Brückentechnologie,
die massive Steuervorteile rechtfertigt? Und sollte die
nun anstehende Novelle nicht schon jetzt dafür genutzt
werden, um mit einer schrittweisen Erhöhung der Steu-
ersätze die Antriebstechnologien an den Wettbewerb mit
Benzin- und Dieselantrieben heranzuführen?
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015 11265
(A) (C)
(D)(B)
Letztlich muss die Subventionierung von Erdgas und
Flüssiggas auch vor dem Hintergrund alternativer Regu-
lierungsinstrumente betrachtet werden – etwa inwieweit
die Marktdurchdringung mit effizienten Antriebstechno-
logien vor allem durch ehrgeizige und technologieneut-
rale Verbrauchsgrenzwerte auf EU-Ebene forciert wer-
den sollte anstatt mit einer Subventionierung bestimmter
Kraftstoffarten. Um dieser Entscheidung nicht vorzu-
greifen, enthält sich die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
zu dem vorliegenden Antrag.
Anlage 24
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuor-
ganisation der Zollverwaltung (Tagesordnungs-
punkt 26)
Uwe Feiler (CDU/CSU): Wir beraten heute über ein
Gesetz zur Neuorganisation der Zollverwaltung. Mit die-
sem hat die Bundesregierung ein schlüssiges und konse-
quentes Konzept vorgelegt, um unsere Zollbehörde noch
effektiver und effizienter zu machen. Der Zoll hat bereits
2007 eine erfolgreiche Strukturreform auf der Ortsebene
durchlaufen und steht gut da. Jetzt ist es an der Zeit, die
Ergebnisse dieser Reform zu sichern und konsequent zu
Ende zu bringen.
Zentraler Bestandteil der Reform ist die Bildung der
Generalzolldirektion in Bonn. Diese wird die bisherigen
Bundesfinanzdirektionen bündeln, sodass die gesamte
Kompetenz der Zollverwaltung mit Zuständigkeit für
das ganze Bundesgebiet dort zusammengefasst wird. Die
allgemeine Verwaltung und die IT werden zentral bei der
Generalzolldirektion angesiedelt. Durch kürzere Ent-
scheidungswege und klarere Zuständigkeiten wird die
Verwaltung optimiert. Auch die Zusammenarbeit in Eu-
ropa kann dann noch besser koordiniert werden. So kann
der Zoll seine in den letzten Jahren gewachsenen und
auch in Zukunft wachsenden Aufgaben noch besser er-
füllen.
Dabei wird aber nicht alles umgeworfen. Zum Bei-
spiel wird die mit maritimen Fragen erfahrene Bundesfi-
nanzdirektion Hamburg zu einer Außenstelle der Gene-
ralzolldirektion. Die Verwaltung wird reformiert, die
Spezialisten in Hamburg sind nun aber sogar für die ma-
ritimen Fragen des Zolls in ganz Deutschland zuständig,
sodass der Zoll in Gänze und die Ansprechpartner in der
maritimen Wirtschaft von der Kompetenz der Mitarbei-
terinnen und Mitarbeiter profitieren.
Auch das Zollkriminalamt wird in die neue Behörde
eingegliedert, bleibt aber als eigenständige etablierte Si-
cherheitsbehörde erhalten. Entlastet von allgemeinen
Verwaltungsaufgaben kann es noch besser wirken und
sich auf seine originären Zuständigkeiten konzentrieren.
Gleichzeitig bleibt die bewährte Ortsstruktur erhalten.
Der Zoll wird weiterhin – und in Zukunft sogar ver-
stärkt – in der Fläche aktiv und sichtbar sein. Dafür ste-
hen die 43 Hauptzollämter und acht Zollfahndungsäm-
ter.
Überhaupt wird die gesamte Umstellung geordnet
und überlegt verlaufen. Sie wurde mit den Personalver-
tretungen und Gewerkschaften gemeinsam diskutiert,
und es wurden verbindliche Verabredungen getroffen.
Alle Dienststellen bleiben erhalten, sogar größtenteils an
den bisherigen Orten. Umzüge sind freiwillig. Änderun-
gen wird es vor allem in der Abteilung III des BMF ge-
ben. Das Ergebnis wird eine bessere Zollverwaltung
ohne Nachteile für die Mitarbeiter sein.
Damit sorgen wir dafür, dass auch in Zukunft unser
Zoll seine vielfältigen Aufgaben zur Sicherung der staat-
lichen Einnahmen und der Sicherheit der Menschen er-
füllen kann. Vor allem die Überprüfung des gesetzlichen
Mindestlohns und die von den Ländern übernommene
Verwaltung der Kraftfahrzeugsteuer haben eine große
gesellschaftliche Bedeutung und die Behörde vor neue
Aufgaben gestellt.
Die angegebenen Kosten der Zollreform beinhalten
nicht nur die IT-Umstellung und Anmietung neuer
Räumlichkeiten, sondern auch die Modernisierung der
Kommunikationsausstattung der Zollliegenschaften.
Auch in der Ausrüstung wird der Zoll somit besser auf-
gestellt.
Wenn man sich den vorliegenden Gesetzesvorschlag
der Bundesregierung anschaut, muss man feststellen,
dass wir hier eine durchdachte, konsequente und sinn-
volle Reform vorliegen haben. Unser Zoll wird damit für
seine wichtigen und auch in Zukunft weiter wachsenden
Aufgaben gerüstet.
Ingrid Arndt-Brauer (SPD): Fast jeder erwachsene
Bürger kennt ihn: den Zoll; aber nur wenige kennen das
wirkliche Maß seiner Bedeutung. Die Zollverwaltung ist
eine Großbehörde und hat ungefähr 39 000 Mitarbeiter.
Diese sichern nationale und europäische Einnahmen in
dreistelliger Milliardenhöhe, vor allem im Bereich der
Verbrauchsteuern. Für das Jahr 2014 waren das ungefähr
130 Milliarden Euro. Zu den Kernaufgaben des Zolls
gehören die Unterbindung illegalen Handels und der
Schutz der Bevölkerung durch die Bekämpfung der
grenzüberschreitenden Kriminalität. Ich nenne an dieser
Stelle nur einmal exemplarisch den Schmuggel von ver-
brauchsteuerpflichtigen Waren wie Zigaretten und Alko-
hol, Drogen-, Waffenschmuggel, Markenpiraterie, Geld-
wäsche, Artenschutz – Handel mit geschützten Tier- und
Pflanzenarten –, Einfuhr verbotener Arznei- und Le-
bensmittel und vieles andere mehr.
Vor der Öffnung der Grenzen in Europa – Stichwort:
Schengen-Raum – hatten zumindest diejenigen, die ins
Ausland fuhren, im Regelfall unmittelbaren Kontakt mit
den Grenzbeamten des Zolls. Das ging auch mir als Ab-
geordnete aus einer Grenzregion zu den Niederlanden
häufig so. Mit dem Wegfall der Grenzkontrollen wurde
der Zoll für viele Bürger weniger erfahrbar und unsicht-
barer. Aufgabenspektrum und Bedeutung des Zolls aber
sind seitdem nicht weniger geworden – ganz im Gegen-
teil, sie haben sogar zugenommen.
11266 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015
(A) (C)
(D)(B)
Ich nenne hier die Finanzkontrolle Schwarzarbeit, die
seit 2004 vom Zoll übernommen wurde, die jüngst hin-
zugekommene Übernahme der Verwaltung der Kraft-
fahrzeugsteuer von den Ländern und die Kontrolle des
gerade von der Bundesregierung beschlossenen gesetzli-
chen Mindestlohns. Um den wachsenden Aufgaben ge-
recht werden zu können, hat die Regierung jetzt eine
umfassendere Neuorganisation der Zollverwaltung be-
schlossen, die wir heute erstmalig im Bundestag einbrin-
gen und in den kommenden Wochen und Monaten in den
Gremien beraten werden.
Wesentliches Element der Reform ist die Schaffung
einer Generalzolldirektion als zentrale Oberbehörde in
Bonn. In diese werden die fünf Bundesfinanzdirektionen
und die Bereiche aus dem Finanzministerium, die nicht
der Gesetzgebung dienen, überführt. Das Zollkriminal-
amt bleibt als Generaldirektion als eigenständige Abtei-
lung bestehen. Die neue Einheit Generalzolldirektion
wird unmittelbar dem Bundesfinanzministerium unter-
stellt.
Die Reform will bestehende Strukturen effizienter ge-
stalten und verschlanken; sie will Hierarchieebenen ab-
bauen. Leitbild der Regierung war der Erhalt des Zolls
als Einheit von Finanzverwaltung und Vollzug. Die
meisten Verbände, denen der Gesetzentwurf zur Konsul-
tation vorab übersandt wurde, unterstützen diesen An-
satz im Grundsatz.
Ich will aber nicht verschweigen, dass die Gewerk-
schaft der Polizei, GdP, eine davon abweichende
Meinung vertritt. Die GdP lehnt eine Integration des
Zollkriminalamtes als eigenständigen Teil der General-
direktion ab. Empfohlen wird die Trennung von Verwal-
tungs- und Polizeiaufgaben. Kontroll-, Fahndungs-, und
Ermittlungsaufgaben sollten nach Vorstellung der GdP
in einer von drei eigenständigen „Säulen“ unter dem
Dach des Zollkriminalamts gebündelt werden. Laut
GdP-Vorschlag würden die FKS und die Kontrolldienste
Teil des ZKAs. Das Zollkriminalamt soll dann entweder
direkt dem Bundesfinanzminister oder demselben mittel-
bar mit einer dazwischengeschalteten Generaldirektion
unterstehen. Die GdP erhofft sich von der Zusammen-
führung „polizeilicher“ Aufgaben eine Stärkung der
polizeilichen und eine bessere Zusammenarbeit mit den
Sicherheitsbehörden der Landes- und Bundespolizeibe-
hörden.
Die Abschaffung der Mittelbehörden dagegen wird
ausnahmslos von allen Verbänden unterstützt. Ausdrück-
lich begrüße ich den Ansatz der Regierung, kein Perso-
nal abzubauen. Stellen, die durch Neu- und Umorganisa-
tion der Verwaltungsstrukturen an der einen Stelle frei
werden, entfallen nicht, sondern werden dorthin verla-
gert, wo sie im Zuge der Neuorganisation benötigt
werden. Es steht außer Frage, dass der Zoll heute und zu-
künftig jede Fachkraft benötigt. Der demografische
Wandel wird auch am Zoll nicht spurlos vorbeigehen.
Personalgewinnung bleibt ein zentrales Thema – nicht
der Abbau! Die Herausforderungen sind und bleiben
groß: Ich erinnere an die 1 600 zusätzlichen Stellen für
die Mindestlohnkontrolle, für die Personal gewonnen
und ausgebildet werden muss.
Der Zoll bleibt auch in der Fläche in vollem Umfang
präsent. Kein Standort wird geschlossen. Das gilt für die
ehemaligen Bundesfinanzdirektionen ebenso wie für die
43 Hauptzollämter und die acht Zollfahndungsämter.
Die Fachkompetenz vor Ort und in der Fläche kann so
erhalten werden.
Ich halte den vorliegenden Entwurf für eine gute Dis-
kussionsgrundlage. In den nächsten Wochen haben wir
alle Zeit, um intensiv darüber nachzudenken, um dann
nach der Sommerpause vertieft in die Sachdebatte einzu-
steigen.
Frank Tempel (DIE LINKE): Die Linke hat in der
vergangenen Wahlperiode einen Antrag zur Einrichtung
einer Bundesfinanzpolizei als Wirtschafts- und Finanz-
ermittlungsbehörde eingebracht. Unser Ansatz war es,
die Bundeszollverwaltung zu einer selbstständigen, ori-
ginär polizeilich ausgerichteten Behörde umzuwandeln.
Mit der Bündelung der Ermittlungs-, Fahndungs- und
Kontrolleinheiten des Zolls unter eine einheitliche Füh-
rung und Fachaufsicht sollte ein Effizienzschub bei der
Bekämpfung der grenzüberschreitenden organisierten
Geldwäsche, der Außenwirtschaftskriminalität, des Sub-
ventionsbetrugs und des organisierten Schmuggels er-
reicht werden. Die Bundesregierung hat ebenfalls die
Notwendigkeit einer Strukturreform der Zollverwaltung
erkannt, aber einen anderen – unserer Meinung nach viel
zu zaghaften – Ansatz gewählt, die bestehenden Pro-
bleme anzugehen. Die aufgeblähten sechs Mittelbehör-
den sollen abgeschafft und eine effizientere Struktur
durch die Bildung einer Generalzolldirektion als Oberbe-
hörde mit neun Direktionen geschaffen werden. Das Zoll-
kriminalamt und das Bildungs- und Wissenschaftszent-
rum der Bundesfinanzverwaltung sollen innerhalb der
Generalzolldirektion als funktionale Einheit erhalten
bleiben.
Es stellt sich die Frage, ob ein einheitliches und stra-
tegisch ausgerichtetes Zusammenwirken aller Kontroll-,
Fahndungs- und Ermittlungskräfte erreicht werden kann,
wenn sich die operative Steuerung der vollzugspolizeili-
chen Kontroll-, Fahndungs- und Ermittlungsdienste auf
vier Direktionen, die Streifen- und Kontrolldienste sich
auf drei verschiedene Direktionen und die Fahndungs-
und Ermittlungsdienste auf zwei Direktionen verteilen.
Die Führungskräfte der Mittelebene waren bisher zum
Großteil leitende Finanzbeamte ohne Erfahrungen be-
züglich der Führung eher polizeilich ausgerichteten Er-
mittlungseinheiten. Es ist zu befürchten, dass sich dieser
Umstand in den Direktionen wiederfindet. Das grund-
hafte Problem der Zollverwaltung, dass die Ermittlungs-
einheiten als Anhängsel der Finanzverwaltung behandelt
werden, würde sich strukturell und personell fortsetzen.
Neben der zweifelhaften Grundrichtung der Reform
sieht die Linke schon jetzt Probleme bei der Umsetzung.
Der nötige Kulturwandel einer bisher stark hierarchisch
geleiteten Behörde hin zu mehr Entscheidungsbefugnis
und Eigenverantwortung an die örtlichen Strukturen
wird extrem schwierig. Ohne diesen Wandel ist aber
auch diese begrenzte Reform zum Scheitern verurteilt.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015 11267
(A) (C)
(D)(B)
Die Gewerkschaften, vom DGB über die Gewerk-
schaft der Polizei – GdP – bis hin zur Deutschen Zoll-
und Finanzgewerkschaft – BDZ – fordern für die Be-
schäftigten ein transparentes Herangehen an den Umbau
des Zolls. Wegfallende Tätigkeiten und Aufgabenumver-
teilungen werden mit Dienstpostenverschiebungen ein-
hergehen. Frühzeitige Information über Veränderungen
ermöglichen den Betroffenen frühzeitige individuelle
Planungen zum Beispiel zum Wohnungswechsel oder
notwendige Weiterbildungen. Das abschreckende Bei-
spiel der Reform der Bundespolizei muss den Verant-
wortlichen eine Warnung sein, die Reform nicht auf dem
Rücken der Beschäftigten durchzudrücken. Dort hatte
sich der Zustand zunehmender Aufgabenverdichtung
ständig verschärft. Bei der Zollverwaltung sieht es seit
Jahren ähnlich aus. Die bislang erfolgte mangelnde Be-
teiligung der Beschäftigten und Personalvertretungen
und die knapp bemessene Zeitschiene der Umsetzung bis
zum 1. Januar 2016 lässt hingegen Schlechtes ahnen. Ein
Umbauprozess ist ohne das Engagement der Beschäftig-
ten aber nicht zu bewerkstelligen. Die Linke wird diesen
Prozess beobachten und parlamentarisch begleiten.
Die Gewerkschaft der Polizei, GdP, weist in ihrer
Stellungnahme zum Gesetzentwurf berechtigterweise
darauf hin, dass mit der Zuordnung des Zollkriminalam-
tes und seiner nachgeordneten Zollfahndungsämter unter
die Generalzolldirektion die Befugnisse nach dem Zoll-
fahndungsdienstgesetz, ZFdG, auf die Generalzolldirek-
tion übergehen werden. Damit sind bei der Generaldi-
rektion tiefgehende Befugnisse beim Eingriff in die
Persönlichkeitsrechte gebündelt, die im Übrigen weit
über polizeiliche Eingriffsrechte hinausgehen. Zu nen-
nen sind etwa umfangreiche Zugriffsmöglichkeiten auf
Datenbanken, präventive Abhörmöglichkeiten und weit-
gehende Befugnisse zum Führen von verdeckten Ermitt-
lern. Diese neue Qualität der institutionellen Machtfülle
in einer Behörde von 7 000 Beschäftigten bedarf einer
viel schärferen gesetzlichen Regelung der innerbehördli-
chen Zuständigkeiten und datenschutzrechtlicher Be-
stimmungen, als dies im vorliegenden Gesetzentwurf
vorhanden ist. Es bedarf auch einer neuen Qualität de-
mokratischer Kontrolle. Die jetzige Arbeitsweise des
Gremiums nach § 23 c Absatz 8 des Zollfahndungs-
dienstgesetzes wird dem nicht gerecht. Bloße Berichter-
stattungen ohne Kontrollmöglichkeiten vor Ort, das
Recht der Akteneinsicht und Vorladungsrechte sind nicht
ausreichend.
Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Auch
wenn die Zollverwaltung in der Öffentlichkeit nicht be-
sonders im Vordergrund steht, erfüllt sie doch eine wich-
tige Rolle für die Funktion unseres Gemeinwesens. Zu
nennen ist die Überwachung des mit unserer Unterstüt-
zung eingeführten gesetzlichen Mindestlohns, die Be-
kämpfung des Schwarzmarktes und der illegalen Be-
schäftigung sowie die Erhebung und Verwaltung der
Kfz-Steuer und der Verbrauchsteuern.
Besonders wichtig ist die Zollverwaltung für die Be-
kämpfung organisierter Wirtschafts- und Finanzkrimina-
lität, insbesondere der Steuerhinterziehung. Die Metho-
den der organisierten Kriminalität werden von Jahr zu
Jahr raffinierter, und damit erweitert sich auch das Auf-
gabenspektrum des Zolls kontinuierlich. Es ist daher
richtig und wichtig, den zunehmend komplexer werden-
den Aufgaben mit einer effektiven und effizienten Struk-
tur der Zollverwaltung Rechnung zu tragen – aber auch
für eine ausreichend dicke Personaldecke zu sorgen.
Dass es hier deutlichen Verbesserungsbedarf gibt,
sieht man etwa, wenn es darum geht, Steuerhinterzie-
hung zu verhindern. Zwar leistet der Zoll hier wertvolle
Arbeit. Dennoch gehen dem Staat nach Schätzungen der
Finanzämter aufgrund von Umsatzsteuerbetrug jährlich
mehrere Milliarden an Steuereinnahmen verloren. Zu
nennen sind hier vor allem die sogenannten Umsatzsteu-
erkarusselle.
Der Finanzminister möchte sein Ziel der Effektivität
und Effizienz mit der Einrichtung einer Generalzolldi-
rektion als Oberbehörde erreichen, in der die bisherigen
Aufgaben der fünf Bundesfinanzdirektionen sowie des
Zollkriminalamts zusammengeführt werden. Die Ver-
schlankung besteht darin, dass die bisherigen Mittelebe-
nen wegfallen, an örtlichen Zollämtern aber festgehalten
wird. Insbesondere vor dem Hintergrund des Problems
Steuerhinterziehung begrüßen wir das Ziel, die Zoll-
verwaltung zu stärken. Das Ziel einer effektiven und
effizienten neuen Organisation, wie es der vorliegende
Gesetzentwurf verfolgt, wird auch von uns Grünen
grundsätzlich unterstützt.
Inwieweit genau diese neue Organisationsstruktur ef-
fektiver und effizienter sein wird, muss sich noch zeigen.
Das Gesetz allein überzeugt da noch nicht. Vielleicht
kann die Anhörung da noch weiterhelfen. Denn auch die
derzeitige Struktur mit den fünf Bundesfinanzdirektio-
nen wurde seinerzeit mit der gleichen oder ähnlichen Be-
gründung eingeführt. Wir fordern daher eine regelmä-
ßige Überprüfung der im Zusammenhang mit der
Neuorganisation vorgenommenen Änderungen hinsicht-
lich ihrer Effizienz und Effektivität.
Schwer nachzuvollziehen ist, auf welche Analyse der
alten Struktur sich Finanzminister Schäuble im vorlie-
genden Gesetzentwurf bezieht. Beschäftigte und deren
Interessenvertretungen wurden offensichtlich dabei
kaum berücksichtigt. Ohne eine umfassende Analyse der
Ist-Situation wird eine Bewertung von Effizienz- und
Effektivitätssteigerungen, die auf die Neuorganisation
zurückzuführen sind, jedoch schwierig.
Die ganze Strukturreform wird auf jeden Fall verpuf-
fen, wenn die Personalausstattung nicht aufgabenad-
äquat ist. Die Finanzkontrolle Schwarzarbeit kontrolliert
zum Beispiel seit diesem Jahr den flächendeckenden
Mindestlohn – ein Mammutprojekt für den Zoll. Auf
Anfrage stellte sich heraus, dass es sich bei den von der
Bundesregierung angekündigten 1 600 neuen Stellen für
Finanzkontrolle Schwarzarbeit um leere Versprechungen
handelt. Diese sollen bis zum Jahr 2019 geschaffen
werden. Tatsächlich blieb bei dieser Rechnung unbe-
rücksichtigt, dass 3 Prozent des Personals pro Jahr
altersbedingt oder aus anderen Gründen ausscheidet.
Realistisch kann mit etwa 160 Neueinstellungen im Jahr
gerechnet werden. Das ist zu wenig, um die Überlastung
abzumildern. Zudem kommt die Hilfe zu spät.
11268 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015
(A) (C)
(D)(B)
Darüber hinaus hat der Zoll im letzten Jahr zusätzlich
die Erhebung der Kraftfahrzeugsteuer von den Ländern
übernommen. Hier konnte man bereits erkennen, dass
der Zoll stellenweise völlig überlastet ist. Es kam zu feh-
lerhaften Steuerbescheiden, da es an Personal fehlte. Zu-
mindest der zusätzliche Personalbedarf im Rahmen der
Einführung der PKW-Maut scheint sich glücklicher-
weise erledigt zu haben.
Die Umsiedlung der Abteilung III des BMF, zustän-
dig für Zoll und Verbrauchsteuern, von Bonn nach Ber-
lin ist überfällig. Es ist nicht nachvollziehbar, warum
diese als einzige Abteilung nicht in Berlin angesiedelt
war. Genauso bleibt die Frage offen, nach welchen
Kriterien die Entscheidung für den Standort der Oberbe-
hörde getroffen wurde. Auch das wird sich vielleicht im
Rahmen der Anhörung klären.
Abschließend lässt sich festhalten, dass wir einer
sinnvollen Neuorganisation der Zollverwaltung nicht im
Wege stehen werden.
Dr. Michael Meister, Parl. Staatssekretär beim Bun-
desminister der Finanzen: Der Zoll stellt seine Leis-
tungsfähigkeit seit Jahrzehnten erfolgreich unter Beweis
als Einnahmeverwaltung des Bundes, als Ansprechpart-
ner und für den Schutz der Bürgerinnen und Bürger so-
wie als Partner der Wirtschaft. Sein Aufgabenspektrum
ist in den letzten Jahren stetig gewachsen. Zuletzt hat der
Zoll die Verwaltung der Kraftfahrzeugsteuer von den
Ländern und die Überprüfung des gesetzlichen Mindest-
lohns übernommen.
Der vom Bundeskabinett am 6. Mai 2015 beschlos-
sene Gesetzentwurf zur Neuorganisation der Zollverwal-
tung schafft die Rahmenbedingungen, unter denen die
Zollverwaltung ihre künftigen Aufgaben weiter erfolg-
reich und mit hoher Effizienz erfüllen kann. Die Erfah-
rungen bisheriger Reformschritte werden genutzt, um
die Strukturen der Zollverwaltung auch für die Zukunft
optimal zukunftsorientiert zu gestalten. Mit den zu betei-
ligenden Verbänden und Gewerkschaften gab es im Vor-
feld der parlamentarischen Beratungen einen breiten
Konsens.
Wesentliches Element der Neuorganisation der Zoll-
verwaltung ist die Einrichtung einer Generalzolldirek-
tion als neue Bundesoberbehörde mit Sitz in Bonn zum
1. Januar 2016.
In der Generalzolldirektion werden die Aufgaben der
bisherigen Mittelbehörden der Zollverwaltung sowie
die nicht zum unmittelbaren ministeriellen Kernbereich
gehörenden Aufgaben der Zoll- und Verbrauchsteuer-
abteilung des Bundesministeriums der Finanzen zu-
sammengeführt. Hierzu werden die derzeit fünf Bundes-
finanzdirektionen sowie das Zollkriminalamt in die
Generalzolldirektion integriert.
Die Generalzolldirektion soll aus neun Direktionen
bestehen, einschließlich des Zollkriminalamtes und des
Bildungs- und Wissenschaftszentrums der Bundesfi-
nanzverwaltung.
Das Zollkriminalamt bleibt dabei – innerhalb der Ge-
neralzolldirektion – als funktionale Einheit mit seiner
gesetzlich normierten Stellung im Verbund der bundes-
deutschen Sicherheitsbehörden erhalten.
Das Bildungs- und Wissenschaftszentrum der Bun-
desfinanzverwaltung wird als Einheit ebenfalls organisa-
torisch in die Struktur der Generalzolldirektion einge-
gliedert. Die besondere Stellung des Fachbereichs
Finanzen als integraler Bestandteil der Hochschule des
Bundes für öffentliche Verwaltung bleibt dabei unbe-
rührt.
Die Standorte der bisherigen Mittelbehörden – Ham-
burg, Potsdam, Köln, Neustadt an der Weinstraße und
Nürnberg – sowie des Zollkriminalamtes – Köln – und
des Bildungs- und Wissenschaftszentrums – Münster –
bleiben bestehen. Sie sind Dienstsitze der Generalzolldi-
rektion – neben dem Hauptdienstsitz in Bonn.
Der Generalzolldirektion werden rund 7 000 Beschäf-
tigte angehören.
Mit der Einrichtung der Generaldirektion geht kein
Stellenabbau bei der Zollverwaltung einher. Die durch
Synergien zu erzielenden Effizienzgewinne sollen viel-
mehr der Ortsebene zugutekommen. Bereits kurzfristig
lässt sich eine Rendite von rund 90 Dienstposten auf-
grund der konsequenten Zentralisierung der Verwal-
tungssteuerung realisieren. In einzelnen Bereichen
konnte darüber hinaus bereits Potenzial zur weiteren Ab-
schichtung von Aufgaben auf die Ortsebene identifiziert
werden – zum Beispiel Aufhebung von Zustimmungs-
und Genehmigungsvorbehalten, Sachbearbeitung im
Marktordnungsbereich, Zulassung von Steuerbürgen.
Angestrebt wird mittelfristig eine Effizienzrendite von
weiteren gut 300 Dienstposten.
Die Leitung der Generalzolldirektion soll mit B 9
– politisches Amt –, die Stellvertretung mit B 7 bewertet
werden. Die Direktionspräsidenten sind mit B 6 bewertet
– analog zu den Präsidenten der bisherigen Mittelbehör-
den. Die neu zu schaffenden Leitungsdienstposten sind
im Haushaltsvoranschlag für die Zollverwaltung stellen-
wirtschaftlich kompensiert.
Die Ortsebene der Zollverwaltung mit ihren 43
Hauptzollämtern, acht Zollfahndungsämtern und 271
Zollämtern bleibt den Bürgerinnen und Bürgern, den
Wirtschaftsbeteiligten und den Länderverwaltungen als
kompetenter Ansprech- und Kooperationspartner voll-
ständig erhalten. Die Präsenz der Zollverwaltung in der
Fläche soll künftig durch die erwähnten Effizienzge-
winne noch weiter gestärkt werden.
Der vorliegende Gesetzentwurf enthält die zur Um-
setzung der skizzierten Neuorganisation notwendigen
Änderungen von Bundesgesetzen und Rechtsverordnun-
gen. Das sind im Wesentlichen: Änderungen im Finanz-
verwaltungsgesetz zur Einrichtung der Generalzolldirek-
tion sowie zur Auflösung und Integration der
behördlichen Mittelebene der Zollverwaltung in die Ge-
neralzolldirektion; Änderungen des Bundesbeamten-
und des Bundesbesoldungsgesetzes; Änderungen von
Fachgesetzen – Zollfahndungsdienstgesetz, Abgaben-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015 11269
(A) (C)
(D)(B)
ordnung, Marktordnungsgesetz und Außenwirtschafts-
gesetz; Anpassungen sonstigen Bundesrechts.
Die Verwaltungsstrukturen der Länder werden durch
das Gesetz nicht berührt. Das Gesetz betrifft ausschließ-
lich die Bundesverwaltung.
Im Vorfeld der für den 10. Juli 2015 vorgesehenen
ersten Beratung des Gesetzentwurfs im Bundesrat haben
der federführende Finanzausschuss, der Ausschuss für
Innere Angelegenheiten und der Ausschuss für Kul-
turfragen am 26. Juni 2015 jeweils die Empfehlung aus-
gesprochen, keine Einwendungen gegen den Gesetzent-
wurf zu erheben.
Auf Antrag der Freien und Hansestadt Hamburg
sprach sich der mitberatende Wirtschaftsausschuss für
eine differenziertere Stellungnahme des Bundesrates
aus. Die Empfehlung des Wirtschaftsausschusses zielt
im Wesentlichen auf den Fortbestand des Dienstleis-
tungsangebots der Zollverwaltung in der Fläche und auf
eine gute Zusammenarbeit mit den Wirtschaftsbeteilig-
ten ab.
Zusammenfassend ist festzustellen: Die Präsenz der
Zollverwaltung in der Fläche ist und bleibt gewährleis-
tet. Die Ortsebene der Zollverwaltung wird – wie ausge-
führt – nicht berührt. Durch die Beibehaltung der Stand-
orte der bisherigen Mittelbehörden sowie des
Zollkriminalamtes bleiben zudem regionale Kompetenz
und Erfahrung auf Ebene der Generalzolldirektion erhal-
ten. Ich bin daher überzeugt, dass auch in der neuen
Struktur der bislang sehr gute Dialog mit der Wirtschaft
und das gemeinsame Streben nach praxisorientierten Lö-
sungen weiterhin fortgesetzt und ausgebaut wird.
Das Gesetz hat keine negativen Auswirkungen auf die
öffentlichen Haushalte. Dem Bund entsteht im Finanz-
planungszeitraum, bis 2019, ein einmaliger Umstel-
lungsaufwand von rund 28 Millionen Euro. Der Erfül-
lungsaufwand entsteht im Wesentlichen durch die
Anpassung zahlreicher IT-Verfahren und die Ausstattung
der Liegenschaften im gesamten Bundesgebiet mit ge-
eigneter Kommunikationstechnik.
Parallel zur Einrichtung der Generalzolldirektion
wird die bisherige Zoll- und Verbrauchsteuerabteilung
des Bundesministeriums der Finanzen auf ihren ministe-
riellen Kernbereich reduziert und schrittweise bis Ende
2019 nach Berlin umziehen. Als verwaltungsinterne
Maßnahme des BMF ist der Umzug nicht Gegenstand
des Gesetzentwurfs zur Neuorganisation der Zollverwal-
tung.
Die Vorteile der Neuorganisation liegen auf der Hand:
Wir erhalten Bewährtes und entwickeln es in einem
neuen organisatorischen Rahmen fort, der das Arbeiten
hinsichtlich Effizienz und Effektivität optimiert. Kurze
Entscheidungswege gewährleisten schnelles und zielge-
richtetes Verwaltungshandeln bei der Lösung der fachli-
chen Aufgaben. Ich bin zuversichtlich, dass wir mit der
Einrichtung der Generalzolldirektion als Kernstück der
Neuorganisation die Erfolgsgeschichte der Zollverwal-
tung fortschreiben werden.
Anlage 25
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Übereinkommen vom 25. Januar 1988 über die
gegenseitige Amtshilfe in Steuersachen und zu
dem Protokoll vom 27. Mai 2010 zur Änderung
des Übereinkommens über die gegenseitige
Amtshilfe in Steuersachen (Tagesordnungs-
punkt 27)
Uwe Feiler (CDU/CSU): Heute beraten und be-
schließen wir in zweiter und dritter Lesung zu einem
Thema, dessen Umsetzung ein großer Fortschritt für
den Vollzug der Besteuerung in einer globalisierten
Finanzwelt darstellt.
51 Staaten haben sich im Oktober letzten Jahres auf
Initiative von Bundesfinanzminister Schäuble in Berlin
darauf verständigt, zukünftig durch einen gemeinsamen
Informationsaustausch in Steuersachen die Zusammen-
arbeit zu intensivieren und Schlupflöcher zu schließen.
Sie knüpft damit an den Foreign Account Tax Compliance
Act, FATCA, mit den Vereinigten Staaten von Amerika
und dem Übereinkommen zur Amtshilfe in Steuersachen
von 1988 an. Diese Vereinbarung stellt aber auch sicher,
dass Ungleichbehandlungen und Doppelbesteuerungen
vermieden werden. Von daher ist dieser Gesetzentwurf
das Resultat zwischen dem Erfordernis, dass kein Steu-
erpflichtiger seiner Verantwortung durch Steuerhinter-
ziehung und Vermeidung ausweichen kann, und dem
Bekenntnis der teilnehmenden Staaten, dass die Besteue-
rung nach feststehenden Regeln erfolgt. Die im Titel die-
ses Gesetzes enthaltene Jahreszahl 1988 macht aber auch
deutlich, dass dringender Handlungsbedarf bestand, um
die Vereinbarung den Erfordernissen der heutigen Zeit
anzupassen.
Gleichzeitig galt es sicherzustellen, dass mit den
Möglichkeiten der automatisierten Übertragung von
Steuerdaten auch dem Datenschutz zur Sicherstellung
des Steuergeheimnisses besondere Bedeutung zukommt.
Dies wird durch die Vereinbarung sichergestellt, dass die
Staaten nur dann Informationen erteilen sollen, wenn
dies im Einklang mit ihrem innerstaatlichen Recht steht.
In dem Gesetz ist deshalb sehr detailliert festgelegt, wel-
che Übermittlungspflichten bestehen und wie die Fi-
nanzinstitute die Daten entsprechend aufzubereiten ha-
ben.
Aber auch auf das Bundeszentralamt für Steuern
kommen Aufgaben zu. Da aus guten Gründen die Über-
mittlung nicht zwischen den Finanzinstituten direkt er-
folgt, sondern über staatliche Institutionen, die einer be-
sonderen Aufsicht unterliegen, abgewickelt wird, sind
zum einen die Datensätze an die teilnehmenden Staaten
zu übermitteln und zum anderen die ankommenden
Datensätze anzunehmen und an die Landesfinanzver-
waltungen weiterzuleiten, die Daten für 15 Jahre zu
speichern – die Löschung ist sicherzustellen – und die
Melde- und Sorgfaltspflichten der Finanzinstitute zu
überprüfen. Das Übereinkommen umfasst deshalb auch
11270 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015
(A) (C)
(D)(B)
die Durchführung gleichzeitiger Steuerprüfungen sowie
die Teilnahme deutscher Finanzbeamter an Steuerprü-
fungen im Ausland.
Mit dem heutigen Beschluss wird sichergestellt, dass
die Ende 2014 getroffenen Vereinbarungen in der EU-
Amtshilferichtlinie in nationales Recht übertragen wer-
den und zum 30. Juni 2017 der Austausch der Steuer-
daten ab dem Jahr 2016 erfolgen kann. Nur mit dieser
Vorlaufzeit ist es den Finanzinstituten und Behörden
möglich, entsprechende Vorbereitungen für die Umset-
zung zu treffen.
Nicht verschweigen will ich, dass für die Wirtschaft,
aber auch für unsere Finanzverwaltung auch finanzielle
Mehrbelastungen bestehen. In diesem Fall halte ich das
jedoch für gut investiertes Geld, da die Maßnahmen
maßgeblich zur Steuergerechtigkeit beitragen und si-
cherstellen, dass niemand nur aufgrund besonderer
Kenntnisse im Bereich der Steuergestaltung über Aus-
landskonten bevorteilt wird.
Philipp Graf Lerchenfeld (CDU/CSU): Mit dem
heute zu verabschiedenden Gesetz gehen wir wieder ei-
nen weiteren Schritt zu einer vollständigen Erfassung
steuerlicher Sachverhalte im internationalen Bereich.
Im Herbst 2014 fand eine Konferenz mit Vertretern
von 50 Staaten statt, auf der mit der Unterzeichnung glo-
baler Standards ein wichtiges Signal gesetzt wurde.
Diese Vereinbarung basiert auf dem Übereinkommen zur
gegenseitigen Amtshilfe in Steuersachen aus dem Jahr
1988 sowie dem Abkommen „Foreign Account Tax
Compliance Act“ mit den USA. Laut dieser Vereinba-
rung vom 24. Oktober 2014 ergibt sich für die deutschen
Steuerbehörden die Verpflichtung, Namen, Anschrift,
Steueridentifikationsnummer, Kontonummern etc. an die
anderen Vertragsstaaten zu übermitteln. Die Steuerbe-
hörden der Vertragsstaaten werden ab 2017 die entschei-
denden und notwendigen Daten von im Staat ansässigen
Finanzdienstleistern und Banken erhalten und diese ein-
mal jährlich austauschen.
Mit diesem heute zu verabschiedenden Gesetz setzen
wir das Abkommen bzw. die EU-Richtlinie in nationales
Recht um. Damit wird ein einheitlicher Rechtsrahmen
für die Amtshilfe in Steuersachen geschaffen.
Neben dem Informationsaustausch werden auch die
gleichzeitige Steuerprüfung und die Teilnahme an Steu-
erprüfungen im Ausland geregelt. Dies alles verfolgt
letztendlich das Ziel einer ordnungsgemäßen und umfas-
senden Ermittlung der Steuerpflicht und damit auch der
Bekämpfung von Steuerhinterziehung und Steuerver-
meidung.
Die Steuerpflichtigen werden aber damit auch bei der
Wahrnehmung ihrer Rechte unterstützt, insbesondere im
Hinblick auf ein einheitliches ordnungsgemäßes rechtli-
ches Verfahren für Steuersachen in allen Vertragsstaaten
sowie im Hinblick auf den Schutz vor Ungleichbehand-
lung und Doppelbesteuerung.
Mit dem Gesetz wird das Bundesfinanzministerium
auch ermächtigt, Änderungen und Ergänzungen der in
Anlage A zum Übereinkommen aufgeführten Steuern
durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesra-
tes vorzunehmen. Die Steuerpflichtigen müssen in die-
sem Zusammenhang auch hinsichtlich ihrer personenbe-
zogenen Daten geschützt bleiben. Hierzu wird eine
entsprechende Erklärung zur Wahrung des Datenschut-
zes abgegeben werden.
Wesentlich ist aber auch, dass durch die ausdrückli-
che Nennung der Schutzbestimmungen nach Artikel 22
Absatz 1 des Abkommens der Bezug zu deutschen und
europäischen Grund- und Menschenrechtsstandards
hergestellt wird. Damit wird jedwede Nutzung von
Steuerdaten in Strafverfahren ausgeschlossen, die zu ei-
ner Verletzung der grundgesetzlich garantierten Men-
schenrechte führen könnte.
Mit diesem Gesetz gehen wir einen großen Schritt
nach vorne zu einer größeren Steuergerechtigkeit. Es
wird in Zukunft nicht mehr so leicht sein, Steuern zu
hinterziehen oder zu vermeiden, indem man sich auslän-
discher Banken und Finanzdienstleister bedient.
Natürlich gibt es immer noch vielfältige Gestaltungs-
möglichkeiten, um die Steuerlast so gering wie möglich
zu halten. Große internationale Konzerne machen uns
das ebenso vor wie erfolgreiche Fernsehmoderatoren,
die sich von im Ausland liegenden eigenen Produktions-
firmen anstellen lassen, um hohe Gewinne aus ihren ei-
genen Auftritten im deutschen Fernsehen in niedrigbe-
steuerte Nachbarländer zu verschieben.
Ich möchte die Gelegenheit aber auch nutzen, mich
heute beim Bundesfinanzminister und seinen Mitarbei-
tern ausdrücklich zu bedanken, dass ein weiterer wichti-
ger Schritt zur umfassenden Erfassung steuerlicher Sach-
verhalte im Ausland gemacht wurde.
Dieses Gesetz ist vernünftig und notwendig, und des-
halb bitte ich um Ihre Zustimmung.
Andreas Schwarz (SPD): Mit dem vorliegenden
Gesetzentwurf legen wir die Basis für eine konsequente
Weiterentwicklung der gegenseitigen Amtshilfe in Steu-
ersachen. Endlich werden die von uns unterzeichneten
Abkommen zum Datenaustausch in Steuersachen auch
in nationales Recht umgesetzt.
Wir begrüßen ausdrücklich, dass den Steuerbehörden
mit dieser Ratifizierung in Zukunft deutlich bessere
Möglichkeiten zur Verfügung stehen, Steuerkriminalität
noch wirksamer zu bekämpfen. Die Verabschiedung des
vorliegenden Gesetzentwurfs wird den Kampf gegen
Steuerhinterziehung und Steuervermeidung erheblich
verbessern. Diese verstärkte internationale Zusammen-
arbeit vor allem auch in Steuersachen liegt im Interesse
unseres Landes und unserer Bürgerinnen und Bürger.
Es ist gerecht, wenn wir Steuerbetrug noch härter be-
kämpfen, weil jeder und jede seinen gerechten Anteil an
der Finanzierung des Staates leisten muss. Wenn das
nicht der Fall ist, gerät die Finanzierung des Staates in
Schieflage. Das können wir nicht länger hinnehmen, und
deshalb handeln wir.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015 11271
(A) (C)
(D)(B)
Ich kann mich noch sehr gut an die Debatte über das
deutsch-schweizerische Steuerabkommen vor drei Jahren
erinnern. Damals hat Rot-Grün im Bundesrat dieses Ab-
kommen zu Fall gebracht. Einer der Hauptgründe: Das
deutsch-schweizerische Steuerabkommen hätte Steuer-
hinterzieher geschützt und somit quasi eine Legalisie-
rung von Steuerkriminalität bei fortbestehender Anony-
mität bedeutet.
Es war inakzeptabel, dass Steuerbetrüger in die
Anonymität hätten abtauchen bzw. sich weiter in ihr ver-
stecken können – und das auch noch legalisiert durch
dieses Abkommen! Wir hätten als Bundesrepublik über-
haupt keine Handhabe beispielsweise gegenüber der
Schweiz gehabt, um an Informationen zu deutschen
Staatsbürgern mit Vermögen in der Schweiz zu gelan-
gen.
Wer sich der Steuerpflicht und damit der Solidarität
dem Staat und seinen Bürgern gegenüber entzieht, der
darf dafür weder belohnt noch nachträglich geschützt
werden!
Die damalige Ablehnung des Steuerabkommens war
eine weise Entscheidung, wie sich nicht nur im Nach-
hinein herausstellt.
Mit der Aufdeckung prominenter Fälle von Steuerhin-
terziehung und dem Ankauf von Steuer-CDs aus dem
Ausland ist in den letzten Jahren nämlich zweierlei er-
reicht worden:
Erstens. Es hat unzweifelhaft dazu geführt, dass sich
immer mehr Steuerflüchtlinge selbst angezeigt und den
Steuerbehörden offenbart haben.
Zweitens. Wir haben das Institut der strafbefreienden
Selbstanzeige im vergangenen Jahr erheblich verschärft
und dafür gesorgt, dass sich Steuerbetrug nicht mehr
lohnt.
Nationale Gesetzgebung gegen Steuerhinterziehung
ist unverzichtbar, um effektiv gegen Steuervermeidung
und -betrug vorzugehen. Genauso klar ist aber auch, dass
wir letzten Endes nur erfolgreich sein werden, wenn wir
das Problem global angehen. Mit anderen Worten: Ohne
eine verstärkte internationale Zusammenarbeit kommen
wir hier nicht weiter.
Und hier hat sich seit der Ablehnung des deutsch-
schweizerischen Steuerabkommens viel getan. Wer hätte
es für möglich gehalten, dass Abkommen mit Staaten
verabredet werden konnten, die einem verstärkten inter-
nationalen Datenaustausch, sagen wir mal, von jeher
eher skeptisch gegenüberstanden?
Es ist nicht hoch genug einzuschätzen, dass es gelun-
gen ist, auch befreundete Länder wie zum Beispiel die
Schweiz und Liechtenstein mit ins Boot zu holen, um
mit ihnen gemeinsam im Kampf gegen Steuerhinterzie-
hung voranzukommen. Das alles hätte vor drei Jahren
kaum jemand für möglich gehalten.
Wenn der automatische Datenaustausch nach dem
Common Reporting Standard, CRS, der OECD jetzt
endlich nationaler und internationaler Standard wird,
wird dies zusätzlichen Druck auf Steuersünder auslösen
und sich hoffentlich positiv auf deren Steuermoral aus-
wirken. Dafür spricht die SPD-Bundestagsfraktion allen
Beteiligten ihren besonderen Dank aus.
Der Gesetzentwurf bietet gleichzeitig auch praktische
Verbesserungen für Steuerpflichtige, nämlich Schutz vor
Ungleichbehandlung und Doppelbesteuerung. Freuen
dürfen sich übrigens auch diejenigen, die seit jeher dem
Ankauf von Steuer-CDs ablehnend gegenüberstehen,
denn je konkreter der Datenaustausch zwischen den
Staaten geregelt ist, desto überflüssiger wird irgendwann
auch der Ankauf dieser CDs.
Ich komme zum Schluss. Die Amtshilfe der Staaten
untereinander ist unverzichtbar, um Steuerbetrug und
Steuervermeidung wirksam zu bekämpfen. Hier kom-
men wir mit diesem Gesetzentwurf einen großen Schritt
voran.
Richard Pitterle (DIE LINKE): Die Regierungsko-
alition wird wieder einmal den heutigen Tag zum guten
Tag erklären. Nicht wegen des heute sonnigen Wetters,
sondern weil sie versucht, uns weiszumachen, dass hier
große Schritte bei der Bekämpfung von Steuerhinterzie-
hung und Steuervermeidung gemacht würden. Der vor-
liegende Gesetzentwurf hat aber gerade einmal Symbol-
charakter, mehr nicht! Ich kann Ihnen deshalb schon
jetzt verraten, dass die Linke sich der Stimme enthalten
wird.
Aber nun zum Inhalt. Mit dem Gesetz wird dem
Übereinkommen über gegenseitige Amtshilfe in Steuer-
sachen zugestimmt. Dieses bereits im Jahr 1988 erarbei-
tete Übereinkommen soll der Bekämpfung von Steuer-
hinterziehung und Steuervermeidung dienen. Es
beinhaltet Regelungen zum Informationsaustausch zwi-
schen den jeweiligen Steuerbehörden, zu gleichzeitigen
Steuerprüfungen sowie zu Teilnahmen an Steuerprüfun-
gen im Ausland. Durch diese Zusammenarbeit der Be-
hörden soll also den schwarzen Schafen, die ihr Geld auf
Kosten der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler im Aus-
land verstecken, das Leben schwer gemacht werden.
Das hört sich so weit ja ganz nett an, aber bei genaue-
rem Hinsehen ist das leider wieder einmal nur heiße
Luft. Es wird kaum etwas Verbindliches festgeschrieben;
das meiste ist optional oder kann durch Vorbehalte durch
die einzelnen Staaten umgangen werden. Das Überein-
kommen mag zwar 1988 wegweisend gewesen sein;
heute ist es das jedoch definitiv nicht mehr. Das Ende
letzten Jahres unterzeichnete Abkommen über den auto-
matischen Informationsaustausch in Steuersachen ist da
bereits ein ganzes Stück weiter, obwohl auch das immer
noch Schlupflöcher für Steuervermeidung lässt.
Ich will Ihnen ja zugestehen, meine Damen und Her-
ren von der Bundesregierung, dass es immer schwierig
ist, bei internationalen Abkommen alle Interessen unter
einen Hut zu bringen. Aber gerade deshalb müssen wir
mit gutem Beispiel vorangehen. Wenn Sie es mit der Be-
kämpfung von Steuervermeidung und Steuerhinterzie-
hung wirklich ernst meinen, meine Damen und Herren
von der Großen Koalition, beginnen Sie vor der eigenen
Haustür, und lassen Sie uns dafür sorgen, dass wir den
11272 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015
(A) (C)
(D)(B)
schwarzen Schafen schon hierzulande, auf nationaler
Ebene, das Leben schwer machen. Es gibt diverse Maß-
nahmen, die wir längst hätten umsetzen können.
Die Behörden sind chronisch unterbesetzt, und die
Bundesländer agieren beim Steuervollzug uneinheitlich.
Die Linke fordert deswegen schon seit langem mehr Per-
sonal und eine stärkere Zuständigkeit des Bundes beim
Steuervollzug hin zu einer Bundessteuerverwaltung samt
einer Bundesfinanzpolizei. Hier hat die Große Koalition
bisher nichts zustande gebracht.
Oder nehmen wir den Bereich der Unternehmensteu-
ern: Hier blocken Sie alles ab, meine Damen und Herren
von Union und SPD, was es Unternehmen erschweren
würde, ihre Gewinne durch Schlupflöcher im Steuersys-
tem ins Ausland zu schleusen. Erst kürzlich haben Sie
einen Antrag der Linken zur Beseitigung von Konzern-
privilegien bei der Bilanzveröffentlichung abgelehnt, ob-
wohl wir dort dringend mehr Transparenz brauchen. Und
auch das Country-by-Country-Reporting, welches Un-
ternehmen dazu zwingen würde, offenzulegen, welche
Umsätze sie in welchem Land erzielen, lehnen Sie ab.
Dabei hatten Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der SPD, im Wahlkampf sogar noch damit geworben.
Mit solchen Gesetzen wie dem vorliegenden, die
letztlich lediglich Symbolcharakter haben, ändern wir
kaum etwas. Um den internationalen Kampf gegen Steu-
ervermeidung und Steuerhinterziehung wirklich voran-
zubringen, müssen wir erst einmal unsere eigenen Haus-
aufgaben machen und auf innerstaatlicher Ebene mit
gutem Beispiel vorangehen. Die Linke steht dafür in je-
dem Fall bereit.
Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Wir bekommen heute ein Gesetz zur Abstim-
mung vorgelegt, das ein fast 30 Jahre altes internationa-
les Übereinkommen zur Amtshilfe in Steuersachen in
nationales Recht umsetzt. Diese Amtshilfe umfasst In-
formationsaustausch, gleichzeitige Steuerprüfungen und
die Teilnahme an Steuerprüfungen im Ausland. Dies
sind wichtige Instrumente zur Bekämpfung von Steuer-
hinterziehung und Steuervermeidung. Gleichzeitig dient
das Gesetz als völkerrechtliche Grundlage für den auto-
matischen Informationsaustausch, den wir Grüne seit
vielen Jahren fordern. Wir werden diesem Gesetz daher
zustimmen.
Nun preisen die Koalitionsfraktionen diesen Schritt
beim Kampf gegen Steuerhinterziehung. Hier müssen
wir jedoch genauer hinsehen: Wir stellen fest, dass die
Bundesregierung die Ratifizierung dieses Abkommens
um viele Jahre verschleppt hat. Das Abkommen von
1988 hat die Bundesregierung 2008 unterzeichnet. Im
Jahr 2010 gab es ein Änderungsprotokoll zur Verbesse-
rung des Abkommens, dies hat die Bundesregierung
2011 unterzeichnet. Beide Dokumente werden aber erst
jetzt, im Jahr 2015, ratifiziert und können somit auch erst
jetzt in Kraft treten. Das macht deutlich, dass die Bun-
desregierung international dem Kampf gegen Steuerhin-
terziehung eher die kalte Schulter gezeigt hat. Sie hat
dem Thema in der Vergangenheit offenbar keine Priori-
tät beigemessen. Deutschland kann so kein Vorbild bei
der Bekämpfung von Steuerhinterziehung und -gestal-
tung sein, was ich sehr bedauere. Es liegt sogar nahe,
dass bestimmte Instrumente der gegenseitigen Amtshilfe
für Deutschland versperrt geblieben sind, da das Ab-
kommen bisher de facto nicht genutzt werden konnte.
Der internationale Prozess in Sachen Informations-
tausch ist mittlerweile viel weiter fortgeschritten. Ende
Oktober letzten Jahres unterzeichneten rund 50 Länder
einen Standard zum globalen automatischen Informa-
tionsaustausch – ein großer Durchbruch. Denn bisher
wurden nur auf Anfrage Informationen ausgetauscht,
was Steuerhinterziehung nicht effektiv verhindern kann.
Die Bundesregierung wurde vom Saulus zum Paulus –
einige Jahre zuvor wollte sie mit der Schweiz noch ein
anonymes Abgeltungsteuer-Abkommen vereinbaren.
Dies hätte nach Meinung vieler Experten den internatio-
nalen Prozess zu einem automatischen Informationsaus-
tausch um Jahre zurückgeworfen. Ich bin froh, dass die
rot-grünen Länder im Bundesrat dieses unsägliche
Deutsch-Schweizer Steuerabkommen damals stoppen
konnten. Als nächster Schritt steht nun die Umsetzung
des automatischen Informationsaustausches in Deutsch-
land an. Die Referentenentwürfe liegen bereits vor. Dies
werden wir aufmerksam und intensiv begleiten.
So entscheidend der automatische Informationsaus-
tausch für die Bekämpfung von Steuerhinterziehung und
Steuervermeidung ist, für die Eindämmung der Steuer-
gestaltung multinationaler Unternehmen brauchen wir
noch ein weiteres Instrument: Transparenz. Es waren
erst die Berichte in der Öffentlichkeit und eben nicht die
Initiativen der nationalen Gesetzgeber, die die Steuerge-
staltung international agierender Unternehmen sichtbar
gemacht haben. Dabei geht es nicht nur um die Einnah-
meverluste von einzelnen Staaten, sondern es geht vor
allem auch um die Wettbewerbsverzerrung zwischen
einzelnen Ländern und um die Wettbewerbsverzerrung
zwischen national und international tätigen Unterneh-
men. Ein geordneter Wettbewerb, die Schaffung eines
„level playing field“ ist die Voraussetzung für die wirt-
schaftliche Leistungsfähigkeit, und genau diese zu för-
dern, ist der Auftrag der Regierung.
Auf europäischer Ebene konnten zumindest für Ban-
ken und rohstoffextrahierende Industrien länderbezo-
gene Offenlegungspflichten vereinbart werden, und na-
tionale – auch der deutsche – Gesetzgeber mussten diese
Offenlegungspflichten in ihr Recht umsetzen. Um aber
Steuergestaltung der Konzerne auch in anderen Bran-
chen transparent zu machen und entsprechende Gegen-
maßnahmen nicht nur einzuleiten, sondern vor allem in
ihrer Wirksamkeit zu überwachen, brauchen wir länder-
bezogene Offenlegungspflichten für alle Branchen. Und
dies ist möglich, wie Berichtspflichten in anderen Län-
dern beweisen. Selbstverständlich wird man dabei be-
achten müssen, mit Augenmaß vorzugehen und kleine
und mittlere Unternehmen auszunehmen bzw. nicht
übermäßig zu belasten.
Ich appelliere an die Regierungsfraktionen: Lassen
Sie uns nicht nur den Austausch von Finanzverwaltun-
gen verbessern, sondern Transparenz schaffen bei der
Steuergestaltung multinationaler Unternehmen! Denn
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015 11273
(A) (C)
(D)(B)
um die Wirksamkeit der entsprechenden nationalen
Steuergesetzgebung überwachen zu können, brauchen
wir Transparenz in Form eines öffentlichen Country-by-
Country-Reportings. Hier muss die Bundesregierung
ihre Verweigerungshaltung endlich aufgeben.
Anlage 26
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– Entwurf eines Gesetzes zur Entlastung ins-
besondere der mittelständischen Wirtschaft
von Bürokratie (Bürokratieentlastungsge-
setz)
– Beschlussempfehlung und Bericht zu dem
Antrag: Bürokratie gezielt abbauen statt
Stillstand manifestieren
(Tagesordnungspunkte 28 a und 28 b)
Helmut Nowak (CDU/CSU): Diese Koalition hat es
sich zum Ziel gesetzt, unsere Wirtschaft und Bevölke-
rung von Bürokratie und Bürokratiekosten zu entlasten.
Hierzu wurden bereits am 11. Dezember 2014 Eck-
punkte für eine Bürokratieentlastungsstrategie von der
Bundesregierung beschlossen. Diese Strategie wird nun
im Verlaufe dieser Wahlperiode Schritt für Schritt umge-
setzt. Es ist insbesondere die Absicht, vor allem für klei-
nere und mittlere Unternehmen eine spürbare Absen-
kung der bürokratischen Hürden zu realisieren.
Vornehmlich Existenzgründer müssen unserer Ansicht
nach deutlich von zahlreichen Aufzeichnungs-, Berichts-
und Aufbewahrungspflichten sowie steuerlichen Anzei-
gepflichten entlastet werden, wenn wir vor allem auch
die Gründungsdynamik in Deutschland verbessern wol-
len. Gerade in Zeiten wirtschaftlicher Prosperität ist es
wichtig, die Markteintrittsbarrieren nicht bereits auf-
grund staatlicher Regelungsdichte für junge Unterneh-
merinnen und Unternehmer zu erhöhen und so Men-
schen davon abzuhalten, sich eine selbstständige
Existenz aufzubauen. Wir müssen auch in Zukunft alles
daransetzen, Unternehmertum und unternehmerische
Selbstständigkeit in Deutschland zu fördern; denn jede
Neugründung schafft erfahrungsgemäß durchschnittlich
vier bis fünf Arbeitsplätze. Schaut man sich jüngst ver-
öffentlichte Zahlen zu der Entwicklung der Existenz-
gründungen in Deutschland an, so muss man ernüch-
ternd feststellen, dass die Zahl der Gründungen von
572 500 im Jahr 2004 auf 309 900 im Jahr 2014 zurück-
gegangen ist. Natürlich ist dies eine Entwicklung, die
auch auf die derzeitige Stärke unserer Wirtschaft und auf
die dementsprechende Attraktivität abhängiger Beschäf-
tigung zurückzuführen ist. Diese Attraktivität steigt al-
lerdings umso mehr, als selbstständige Arbeit und Unter-
nehmertum durch eine immer mehr um sich greifende
Regelungsdichte unattraktiv werden. Unternehmer wol-
len etwas unternehmen und nicht verwalten.
Als Gesetzgeber haben wir dementsprechend die Auf-
gabe, die Bedingungen für Unternehmertum so optimal
zu gestalten, dass möglichst viele Menschen in diesem
Land sich selbst und andere durch ihre Selbstständigkeit
beschäftigen. Insbesondere unnötige oder nicht nach-
vollziehbare bürokratische Regelungen behindern dies
zunehmend. Dem Bürokratieabbau kommt daher eine
durchaus sehr wichtige Rolle zu: Auf der einen Seite be-
nötigen wir selbstverständlich eine leistungsfähige,
transparente und auch serviceorientierte Verwaltung für
das Funktionieren unseres Gemeinwesens. Allerdings
muss hier gelten: So viel Verwaltung und damit Bürokra-
tie wie nötig, aber auch so wenig wie möglich!
Bürokratie darf sich nicht verselbstständigen und da-
mit zum Selbstzweck werden. Wir müssen uns daher fra-
gen, ob beispielsweise wirklich alle Daten benötigt wer-
den, die Firmen und Selbstständige regelmäßig zu
übermitteln haben. Vielfach wird man zu dem Schluss
kommen, dass auf viele verzichtet werden kann, weil
keine zusätzlich relevanten Informationen zu erwarten
sind.
Genau hier setzt auch der heute von uns zu beschlie-
ßende Entwurf eines Bürokratieentlastungsgesetzes an.
Es handelt sich zunächst im Wesentlichen um rasch um-
setzbare Maßnahmen, die insbesondere auf kleine und
mittelständische Unternehmen sowie Selbstständige ab-
zielen. Erstmals werden wir etwa Existenzgründer von
Meldepflichten zur Umweltstatistik befreien; durch die
Anhebung der Grenzwerte für Buchführungs- und Auf-
bewahrungspflichten im Handelsgesetzbuch und in der
Abgabenordnung von 500 000 Euro auf 600 000 Euro
sowie eine Anhebung der Meldeschwellen in der Intra-
handelsstatistik von 500 000 Euro auf 800 000 Euro
werden deutlich mehr und insbesondere kleinere Firmen
als bisher profitieren. Gerade hier sind Entlastungen not-
wendig und auch effektiv, und daher freue ich mich be-
sonders, dass für diesen Kreis spürbare Entlastungen
vorgenommen werden. Auch durch die Reduzierung be-
stimmter Mitteilungspflichten über den Kirchensteuer-
abzug reduzieren wir unnötige Bürokratie erheblich. Das
Entlastungsvolumen dieses Gesetzes beträgt insgesamt
immerhin circa 750 Millionen Euro pro Jahr.
Einen weiteren wichtigen Schritt in die richtige Rich-
tung geht die Bundesregierung auch mit der Einführung
der „One in, one out“-Regelung; man könnte auch sa-
gen: Es ist die erstmalige Einführung einer Bürokra-
tiebremse. Ein Verfahren, das bereits in einigen europäi-
schen Ländern existiert oder sich in der
Einführungsphase befindet: Frankreich, Spanien, Li-
tauen und Portugal haben die „One in, one out“-Regel
schon übernommen. Großbritannien will sogar für jedes
neue Gesetz zwei alte abschaffen. Kern dieser „One in,
one out“-Regelung ist, in gleichem Maße gesetzgeberi-
sche Belastungen dauerhaft abzubauen, wie durch neue
Regelungsvorhaben zusätzliche Belastungen entstehen,
ohne politisch gewollte Maßnahmen zu behindern.
Bereits vorgestern, zum 1. Juli 2015, wurde mit der
Bilanzierung begonnen. Die Ergebnisse werden ab 2016
jährlich veröffentlicht. Aufpassen müssen wir allerdings
hier, dass wir die jetzige Regelungsdichte nun nicht ze-
mentieren, sondern vielmehr auch in Zukunft verstärkt
an einer Reduzierung bürokratischer Altlasten arbeiten.
Auch Umgehungen der „One in, one out“-Regelung bei-
11274 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015
(A) (C)
(D)(B)
spielsweise durch untergesetzliche Normierungen stellen
eine Versuchung dar, der nicht nachgegeben werden
darf. Festzuhalten ist, dass die Einführung einer solchen
Selbstverpflichtung der Regierung, die Bürokratie nicht
noch weiter anwachsen zu lassen, einen wirklichen Mei-
lenstein darstellt. Dieser klare Mentalitätswechsel nahm
seinen Anfang mit der Gründung des Nationalen Nor-
menkontrollrates 2006. Seitdem hat der NKR unter Füh-
rung von Herrn Dr. Ludewig diesen Prozess mit hoher
Kompetenz und Engagement begleitet und hat daher un-
seren Respekt und Dank verdient.
Über die quantitative Kostenerfassung zur Zeit des
Kabinettsbeschlusses hinaus wäre es meines Erachtens
erforderlich, dass ein möglicher zusätzlicher Erfüllungs-
aufwand, der durch das parlamentarische Verfahren ver-
ursacht wird, rechtzeitig benannt wird. Erst hierdurch
wäre der tatsächliche Aufwand eines Gesetzes sichtbar,
der womöglich durch zusätzliche Forderungen in der
parlamentarischen Befassung die von der Bundesregie-
rung ursprünglich genannten Kosten deutlich überstei-
gen könnte.
Dadurch ist es bei späterer Überprüfung möglich, auf
den wirklichen Erfüllungsaufwand eines Gesetzes Bezug
zu nehmen.
Das Bürokratieentlastungsgesetz kann nur als ein ers-
ter Schritt auf dem Weg zum Abbau unnötiger bürokrati-
scher Lasten angesehen werden. Weitere Anstrengungen
im Hinblick auf eine Verschlankung und Vereinfachung
für mehr Entbürokratisierung und Wettbewerbsfähigkeit
sind auch in den kommenden Wochen und Monaten not-
wendig. Dies ist eine für die Zukunft ständig erforderli-
che Aufgabe für Regierungen und Parlamentarier.
Entbürokratisierung gilt im Übrigen nicht nur für die
Wirtschaft, sondern genauso für viele Lebenslagen in
unserem privaten Alltag. Im Vordergrund muss bei-
spielsweise eine bessere Vernetzung von Behörden un-
tereinander stehen, sodass etwa Unternehmen Daten
nicht mehrmals abgeben müssen und somit bei Melde-
pflichten deutlich und effektiv entlastet werden. Wir dür-
fen dabei auch nicht übersehen, dass nahezu alle Spit-
zenverbände der deutschen Wirtschaft vehement
Reformen in diesem Bereich anmahnen. Hierzu gehören
beispielsweise die Rücknahme der sogenannten Vorfäl-
ligkeit und eine Verringerung der Anforderungen an
Aufbewahrungspflichten und vieles mehr. Ganz eindeu-
tig möchte ich mich in diesem Zusammenhang auch
noch einmal für eine Anhebung des Schwellenwertes für
die Sofortabschreibung geringwertiger Wirtschaftsgüter
aussprechen. Eine Anpassung ist nach über einem hal-
ben Jahrhundert dringend geboten.
Bei einer signifikanten Erhöhung, etwa auf 1 000 Euro,
und einer gleichzeitigen und vollständigen Abschaffung
der Poolabschreibung wäre dies nicht nur ein deutliches
Signal für alle Unternehmen in Deutschland, sondern es
würde auch den Verwaltungsaufwand für die Wirtschaft
und insbesondere für den Mittelstand erheblich reduzie-
ren. Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir dieses Ziel, ne-
ben anderem Wichtigen, bereits in diesem Herbst ge-
meinsam angehen können, wenn wir uns mit dem Abbau
bürokratischer Belastungen aus finanzieller und steuerli-
cher Perspektive beschäftigen. Denn die hohe Dichte an
bürokratischen Regelungen und der damit verbundene
Kostenaufwand stellen eine zunehmend größer wer-
dende Herausforderung an die Wettbewerbsfähigkeit
deutscher Unternehmen im internationalen Wettbewerb
dar.
Zusammenfassend können wir feststellen, dass das
uns von der Bundesregierung vorgelegte Bürokratieent-
lastungsgesetz als ein erster Aufschlag zu einer umfas-
senden Überprüfung und Reduzierung bürokratischer
Hemmnisse unserer Volkswirtschaft zu verstehen ist.
Viele der Maßnahmen können bereits 2016 umgesetzt
werden und reduzieren die tagtägliche Belastung in vie-
len, besonders kleinen und mittelständischen Unterneh-
men. Wir sind hier auf dem richtigen Weg, und daher
bitte ich um Ihre Zustimmung.
Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): Bürokratie be-
deutet die Herrschaft von Regeln und festgelegten Ver-
fahren. Eine solche Vorherrschaft behindert Menschen
und Unternehmen in ihrer Entwicklung. Wichtige Res-
sourcen werden durch die Einhaltung bürokratischer Re-
geln gebunden und stehen nicht mehr für Innovationen
und Wachstum zur Verfügung. Wir müssen deshalb das
Dickicht bürokratischer Regeln und Vorgaben immer
wieder durchforsten und möglichst durchgreifend lich-
ten. Bürokratieabbau ist eine Daueraufgabe.
Heute befasse ich mich mit den steuerrechtlichen Ver-
einfachungen. Mit dem Bürokratieentlastungsgesetz he-
ben wir die Grenzbeträge für Buchführungs- und Auf-
zeichnungspflichten im Handelsgesetzbuch und in der
Abgabenordnung an. Wir stellen damit sicher, dass
kleine Unternehmen weiterhin von Buchführungs- und
Aufzeichnungspflichten befreit bleiben.
Wir erhöhen die Grenze für die Lohnsteuerpauscha-
lierung für kurzfristig Beschäftigte. Die Verdienstgrenze
für die Pauschalierung steigt von 62 Euro auf 68 Euro
pro Arbeitstag. Damit können Arbeitgeber auch nach
Einführung des Mindestlohns (8,50 Euro, acht Arbeits-
stunden) weiterhin kurzfristig Aushilfen beschäftigen
und die Lohnsteuer pauschal erheben.
Die jährliche Informationspflicht aller Kirchensteuer-
abzugsverpflichteten, dass ein Abruf des Religionsmerk-
mals beim Bundeszentralamt für Steuern erfolgt und
dass ein Widerspruchsrecht zum Abruf des Kunden be-
steht, ersetzen wir durch eine einmalige und gezielte
individuelle Information während des Bestehens der
Geschäftsbeziehung. Dies erspart vielen kleinen Kapital-
gesellschaften und Genossenschaften, die eben auch zu
den Kirchensteuerabzugsverpflichteten gehören, über-
flüssige Meldungen ohne praktischen Nutzen.
Schließlich vereinfachen wir das Faktorverfahren.
Durch das Faktorverfahren werden bei jedem Ehegatten
oder Lebenspartner steuerentlastende Vorschriften, wie
der Grundfreibetrag oder die Wirkung des Splittingver-
fahrens, beim Lohnsteuerabzug berücksichtigt. Das Fak-
torverfahren führt damit zu einer Lohnsteuerbelastung,
die recht nahe an der endgültigen Steuerbelastung liegt.
Leider standen bisher hohe bürokratische Hürden einer
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015 11275
(A) (C)
(D)(B)
größeren Verbreitung des Faktorverfahrens im Wege.
Bisher mussten die Ehegatten oder Lebenspartner jähr-
lich einen gemeinsamen Antrag auf den Faktor beim Fi-
nanzamt stellen. Um das Faktorverfahren attraktiver zu
machen, muss dieser Antrag künftig nur noch alle zwei
Jahre gestellt werden.
Ein zentrales Anliegen der Wirtschafts- und Finanz-
politiker der SPD, die Anhebung des Schwellenwertes
für die Sofortabschreibung von geringwertigen Wirt-
schaftsgütern, konnte dagegen noch nicht umgesetzt
werden. Angesichts der unbestrittenen Notwendigkeit
der Anhebung der GWG-Grenze ist dies nur schwer hin-
nehmbar, geschweige denn zu verstehen. Die Grenze
liegt seit 1962 bei 410 Euro. Von einer Anhebung wür-
den nach Schätzung des DIHK wenigstens 3 Millionen
Unternehmen profitieren. Eine Anhebung der Grenze
hätte mehrere Vereinfachungseffekte:
Die nicht buchführungspflichtigen Unternehmen, also
Gewerbetreibende mit einem Gewinn bis nunmehr
60 000 Euro jährlich bzw. einem Umsatz bis maximal
600 000 Euro, und Freiberufler könnten bei den Auf-
zeichnungspflichten entlastet werden.
Eine Ermittlung der Nutzungsdauer könnte nach der
Anhebung des Schwellenwertes für eine viel größere
Anzahl von Wirtschaftsgütern entfallen.
Ein Anlagenverzeichnis bräuchte in diesen Fällen
nicht mehr geführt zu werden.
Die höhere GWG-Grenze würde auch eine Vielzahl
an Auseinandersetzungen mit der Finanzverwaltung über
Nutzungsdauer und etwaige Aktivierungspflicht von
Wirtschaftsgütern vermeiden.
In die Betrachtung müssen natürlich auch die Steuer-
ausfälle durch die höheren Abschreibungen in den ersten
Jahren einbezogen werden. Diese fallen durchaus ins
Gewicht. Auf die zunächst höheren Abschreibungen fol-
gen dann aber niedrigere Abschreibungen in den Folge-
jahren. Angesichts der überfälligen Bürokratieentlastung
und der zu erwartenden Investitionsimpulse halte ich
diese Haushaltsbelastungen aber für gut investiertes Geld.
Der Einsicht in die Notwendigkeit einer Erhöhung der
GWG-Grenze können sich natürlich auch die Wirt-
schafts- und Finanzpolitiker der Union nicht entziehen.
Dennoch konnten sie bisher nicht über ihren Schatten
springen. Eine höhere GWG-Grenze soll es erst später,
wahrscheinlich im Rahmen eines unter der Federführung
des Bundesfinanzministeriums eingebrachten Gesetzge-
bungsvorhabens, geben. Nicht, dass Sie nun denken,
Partei- und Ressortinteressen würde offensichtlich der
Vorzug vor der ökonomischen Vernunft gegeben. All
den enttäuschten Mittelständlern versichere ich aber,
dass sich die Wirtschafts- und Finanzpolitiker der SPD
weiterhin für eine Anhebung der GWG-Grenze einset-
zen werden.
Nun kommt die sitzungsfreie Zeit, und wir sind selte-
ner in Berlin; die meisten von uns sind in dieser Zeit
zwei oder drei Wochen im Urlaub. Ich wünsche allen ei-
nen schönen Urlaub und gute Erholung. Das gilt beson-
ders für all jene, die sich hier im Hintergrund um alles
kümmern und ohne die ein demokratisches Parlament
überhaupt nicht arbeitsfähig wäre.
Andrea Wicklein (SPD): Heute beschließen wir das
Bürokratieentlastungsgesetz und reduzieren den Erfül-
lungsaufwand der Wirtschaft um circa 744 Millionen
Euro jährlich. Mit diesem Gesetz werden wir die
Schwellenwerte für Buchführungs- und Aufzeichnungs-
pflichten sowie für Meldepflichten für Existenzgründer
und junge Unternehmen anheben und den Aufwand für
rund 150 000 Unternehmen reduzieren. Wir werden den
Lohnsteuerabzug für Ehegatten bzw. Lebenspartner ver-
einfachen und die Pauschalierungsgrenze für kurzfristig
Beschäftigte anheben. Und wir werden die Mitteilungs-
pflichten für Kirchensteuerabzugsverpflichtete deutlich
reduzieren.
Die Öffentliche Anhörung zum Bürokratieentlas-
tungsgesetz hat einmal mehr gezeigt, dass die Regie-
rungskoalition auf dem richtigen Weg ist. Für die fünf
Spitzenverbände der deutschen gewerblichen Wirtschaft
sind bürokratische Lasten eines der maßgeblichen Hin-
dernisse für mehr Wettbewerb und Innovationen. Alle
Expertinnen und Experten, ob vom Deutschen Gewerk-
schaftsbund, vom Industrie- und Handelskammertag
oder vom Bundesverband der Deutschen Industrie, ha-
ben bestätigt, dass überflüssige Bürokratie und bessere
Rechtssetzung ganz zentrale Themen sind.
Neben den im Gesetz verankerten Entlastungs-
maßnahmen hat die Bundesregierung weitere Schritte
beschlossen, die in unterschiedlichen Gesetzgebungs-
verfahren wie dem Bundesstatistikgesetz, dem Vergabe-
gesetz oder bei der Novellierung der Energiestatistik
umgesetzt werden.
Bereits seit 1. Juli ist die „One in, one out“-Regelung
in Kraft, die die Bundesregierung verpflichtet, durch
neue Regelungen für die Wirtschaft entstehende Belas-
tungen an anderer Stelle abzubauen. Das baut Druck in
den Ressorts auf, die eigene Regelungsdichte kritisch zu
beobachten. Ich bin sehr gespannt, wie die Bundesregie-
rung damit umgeht.
Ich finde, wir haben mit dieser sogenannten „One in,
one out“-Regelung einen guten Weg eingeschlagen, der
allerdings nicht dazu führen darf, dass wir uns auf dem
erreichten Stand ausruhen.
Ich möchte auf einen Punkt des Antrags der Fraktion
der Grünen besonders eingehen, und zwar auf Ihren
Vorschlag, den Nationalen Normenkontrollrat unabhän-
giger von der Bundesregierung zu machen. Hierbei
schließe ich mich der kritischen Bewertung des DGB an,
der das bei der Expertenanhörung abgelehnt hat. Auch
aus meiner Sicht ist eine Veränderung der derzeitigen
Praxis in diesem Zusammenhang nicht notwendig. Die
Aufgaben und die Stellung des NKR sind im NKR-
Gesetz klar und eindeutig geregelt.
Der NKR hat danach die Aufgabe, die Bundesregie-
rung bei der Umsetzung ihrer Maßnahmen auf den Ge-
bieten des Bürokratieabbaus und der besseren Rechtsset-
zung zu unterstützen. Er prüft den Erfüllungsaufwand
neuer Regelungen für Bürgerinnen und Bürger, Wirt-
11276 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015
(A) (C)
(D)(B)
schaft und öffentliche Verwaltung auf ihre Nachvollzieh-
barkeit und Methodengerechtigkeit. Aber die Ziele und
Zwecke der Regelungen hat er nicht zu prüfen. Das ist
Sache des Gesetzgebers.
Ich finde, diese Aufgabenbeschreibung des NKR hat
sich bewährt. Auch aus diesem Grund lehnt die SPD-
Fraktion den Antrag der Grünen ab.
Bereits bei der Einbringung des Gesetzes und auch
bei der Anhörung wurde deutlich, dass der Vorstoß der
SPD-Fraktion, den Schwellenwert bei der Sofortab-
schreibung geringwertiger Wirtschaftsgüter deutlich an-
zuheben, breite Zustimmung findet. Leider ist es uns bis
zum heutigen Tag trotz intensiver Bemühungen nicht
gelungen, unseren Koalitionspartner davon zu überzeu-
gen, die Höhersetzung des Schwellenwertes mit diesem
Gesetz auf den Weg zu bringen. Das bedaure ich sehr.
Die SPD-Bundestagsfraktion sieht bei der Anpassung
der Schwellenwerte weiterhin einen dringenden, längst
überfälligen Handlungsbedarf. Es ist nun wirklich nicht
mehr zu rechtfertigen, dass seit 1965 – also seit nunmehr
50 Jahren – der Schwellenwert bei 410 Euro netto liegt.
Allein inflationsbereinigt müsste der Wert heute bereits
bei rund 1 200 Euro liegen.
Die SPD-Fraktion bleibt deshalb dabei, dass wir eine
deutliche Anhebung der Schwellenwerte für die sofor-
tige Abschreibung geringwertiger Wirtschaftsgüter
brauchen. Das wäre sowohl ein steuerliches Vereinfa-
chungsprogramm als auch gleichzeitig ein enormer In-
vestitionsanreiz für die Unternehmen.
Ich bin dennoch froh, dass wir heute mit dem vorlie-
genden Gesetzentwurf vor allem die Mittelständler und
Existenzgründer von überflüssiger Bürokratie entlasten.
Michael Schlecht (DIE LINKE): Es ist bemerkens-
wert, mit welcher Geschwindigkeit dieses Gesetz hier
durch das Parlament gebracht wird. Bemerkenswert ist
auch, dass das wichtigste Vorhaben der Bundesregierung
zum Bürokratieabbau zwar im Quasivorwort des Geset-
zes auftaucht, aber gar nicht im Gesetz selbst steht, son-
dern das Kabinett dieses nur als untergesetzliche Rege-
lung umgesetzt hat, welche gestern, also zum 1. Juli, in
Kraft getreten ist. Es geht um die sogennante „One in,
one out“-Regelung, nach der bei einer zusätzlichen büro-
kratischen Belastung eine zwingende Entlastung für Un-
ternehmen vorzusehen ist.
Es kann nicht sein, dass unter Umgehung des Parla-
ments eine so weitreichende Norm geschaffen wird. Mit
der „One in, one out“-Regelung entscheidet nicht mehr
die Sach- und Fachpolitik über Sinnhaftigkeit von ge-
setzlichen Regelungen, sondern entscheidend ist, dass
die Kostenbelastung der Unternehmen nicht erhöht wird.
Man muss davon ausgehen, dass etwa die Einführung
des Equal-pay-Grundsatzes für die Leiharbeit, das Ent-
geltgleichheitsgesetz oder die Revision der Arbeitsstät-
tenverordnung damit wohl beerdigt sind. Denn sinnvoll
gemacht würden sie zu mehr Erfüllungsaufwand für die
Unternehmen führen. Da es kaum eine Möglichkeit zur
Kompensation gibt, wird mit der „One in, one out“-Re-
gelung das Ende jeglicher Reformpolitik in der Arbeits-
welt durch die Regierung faktisch verkündet.
Hätte es diese Regelung bereits vor der Einführung
des Mindestlohnes gegeben, dann wäre er wahrschein-
lich nicht eingeführt worden. Denn der Erfüllungsauf-
wand wurde auf etwa 9,6 Milliarden Euro geschätzt,
Ausgleich fast unmöglich.
Die Bundesregierung will mit diesem Gesetz gerade
kleinen und mittleren Unternehmen helfen. Die Absicht
ist löblich. Aber sie kommt über ein paar Verzierungen
nicht hinaus.
Auch noch so viele gestrichene Vorschriften bringen
keine neuen Aufträge für kleine und mittelständische
Unternehmen. Tun Sie was für die Binnennachfrage! Le-
gen Sie ein groß dimensioniertes Zukunftsinvestitions-
programm von 100 Milliarden Euro jährlich auf! Dann
bekommen auch viele kleine und mittlere Unternehmen
wieder ihre Aufträge.
Wir bleiben dabei: Sorgen Sie endlich dafür, dass
Löhne in Deutschland wieder steigen können. Gegen-
über dem Jahr 2000 gibt es noch eine Lohnlücke von
mindestens 14 Prozent. Die muss geschlossen werden.
Dann können viele auch wieder ihre Handwerker bezah-
len.
Die größte Entlastung mit geschätzt 500 Millionen
Euro schafft das Gesetz, indem in Zukunft eine ordentli-
che Buchführung erst ab einem Umsatz von 600 000 Euro
gegenüber heute von 500 000 Euro gefordert wird. Das
finde ich abstrus. Jeder Unternehmer mit mindestens
500 000 Euro Umsatz macht schon als ordentlicher
Kaufmann eine Rechnungslegung mit Bilanz und Ge-
winn- und Verlustrechnung. Und wer es nicht freiwillig
macht, sollte ruhig dazu angehalten werden. Schon aus
Fürsorgepflicht!
Bürokratieabbau ist sinnvoll, wenn er im Interesse der
Menschen ist. Bürokratieabbau mit ein paar Verzierun-
gen, der zum Stopp staatlicher Reformpolitik führt, leh-
nen wir jedoch ab.
Und in Richtung der Grünen will ich noch sagen, dass
wir die von Ihnen in Ihrem Antrag geforderten Maßnah-
men mehrheitlich durchaus für sinnvoll erachten; doch
Ihre grundsätzlich positive Haltung zur „One in, one
out“-Regelung, die sich in Ihrem Antrag widerspiegelt,
können wir nicht nachvollziehen. Auch für sinnvolle
ökologische Regelungen werden durch die „One in, one
out“-Regelung Sperren hochgezogen. Wir sind sehr ge-
spannt, wo Sie da den Erfüllungsaufwand kompensieren
wollen. Ein bisschen mehr Ökologie gegen ein bisschen
weniger Beschäftigtenschutz? Daher können wir uns bei
Ihrem Antrag auch nur enthalten.
Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Diese Debatte heute ist eine der groteskesten und,
ich finde, auch unbefriedigendsten, die ich bisher in
meiner Zeit im Bundestag erlebt habe. Ich will erklären,
warum.
Bis auf die Fraktion Die Linke sind wir uns im Prin-
zip einig, dass der Bürokratieabbau ein wichtiges, für
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015 11277
(A) (C)
(D)(B)
kleine und mittlere Unternehmen fast zentrales Thema
ist. Die Bundesregierung in Person von Minister Gabriel
sagt das auch selber. Aus dieser Erkenntnis ist bei der
Koalition der vorliegende Entwurf des Bürokratieentlas-
tungsgesetzes entstanden. Dieser greift richtige Punkte
auf und regelt diese neu im Sinne eines Abbaus von
Bürokratie. So weit, so gut. Aber: Diesem Gesetzent-
wurf muss und kann unmittelbar und heute deutlich
mehr Substanz hinzugefügt werden. Dazu haben wir ei-
nen eigenen Antrag eingebracht und an einer zentralen
Stelle, zu den geringwertigen Wirtschaftsgütern, einen
Änderungsantrag gestellt. Wir wollen die Sofortab-
schreibungsgrenze für diese GWG von aktuell 410 Euro
auf 1 000 Euro anheben und die sogenannte Pool-
abschreibung abschaffen.
Genau hier komme ich zu dem Punkt, der mich so
stört. Lesen Sie das Protokoll der ersten – übrigens in der
Kernzeit gehaltenen – Debatte. Nahezu jeder Redner der
Koalition hat uns an dem zentralen Punkt der Erhöhung
dieser GWG-Grenze zugestimmt. Je nach neuer Grenze,
hat der DIHK berechnet, würde so circa 300 Millionen
Euro Bürokratieentlastung möglich werden. Für eine
kleine Maßnahme eine sehr große und positive Wirkung,
die vor allem Selbstständigen und kleinen und mittleren
Unternehmen helfen würde. Zudem würde die Anhe-
bung der Abschreibungsgrenze von geringwertigen
Wirtschaftsgütern zusätzliche Liquidität gerade für
kleine und mittlere Unternehmen zur Verfügung stellen –
ein weiteres starkes Argument für diese Maßnahme.
Lesen Sie das Protokoll der Anhörung, die meine
Fraktion erst durchsetzen musste, womit sie einen Be-
schluss des Gesetzentwurfes ohne weitere Debatte, wie
von der Koalition erwünscht, verhindert hat. Die Koali-
tion hat das Thema GWG rauf und runter abgefragt, im-
mer mit der Erkenntnis: Es spricht sehr viel für und fast
nichts gegen eine Erhöhung der Abschreibungsgrenze
für GWG. Die Koalition hat sogar ihren unsinnigen Plan
fallengelassen, direkt nach der Anhörung den Gesetzent-
wurf im Ausschuss beschließen zu lassen. So bestand
zumindest die Möglichkeit, Ergebnisse aus der Anhö-
rung zu prüfen, zu bewerten und in den Gesetzentwurf
aufzunehmen. Leider heißt das bei der Großen Koalition,
dass wir einfach ein bisschen länger warten müssen, bis
dann ohne weitere Änderung dieser richtige, aber in den
Maßnahmen ausbaubare Gesetzentwurf beschlossen
werden soll. Übrigens auch das erst auf Antrag der Grü-
nen mit einer Debatte. Aber die Koalition kann die
Tagesordnung festlegen, und so ist diese Debatte für
2.45 Uhr anberaumt worden – mitten in der Nacht. Die
Koalition weiß, dass ihr Gesetzentwurf ganz nett, das
Gesetzgebungsverfahren aber eine Katastrophe war und
ist.
Im Handelsblatt war zu lesen, dass die Union der
SPD die Erhöhung der GWG-Grenze nicht gönnt und
man lieber auf einen Gesetzentwurf von Minister
Schäuble wartet. Ich sage dazu ganz klar: Diese groß-
koalitionäre Kleingeistigkeit geht voll auf Kosten insbe-
sondere kleiner und mittlerer Unternehmen.
Und es gibt noch einen anderen Grund: Wie den Ein-
lassungen von einzelnen Unionsabgeordneten zu entneh-
men war, haben die Haushälter in der Union immer noch
das Sagen. Das bedeutet, dass der Unterschied von
Liquidität und Einnahmen zwar zur Kenntnis genommen
wird, aber dennoch einfach negiert wird. Die schwarze
Null wird zum Mantra gegen Bürger und gegen die Wirt-
schaft. Damit werden alle Verlautbarungen der Großen
Koalition zur Bedeutung von kleinen und mittleren Un-
ternehmen und des Mittelstandes zur reinen Sonntags-
rede.
Die Union muss nebenbei erklären, was der Mehrwert
eines Schäuble-Gesetzes gegenüber einem Gabriel-
Gesetz ist. Die betroffenen Unternehmen, auf deren
Rücken Sie dieses unwürdige Schauspiel abliefern, wer-
den diese Erklärung sehr genau notieren.
Aber es gibt ja noch viele andere Baustellen, die wir
auch in unserem Antrag aufzeigen, für die Sie aber nicht
die Courage haben. Genau jetzt wäre der richtige
Zeitpunkt, Anmeldung und Abführung von Sozialversi-
cherungsbeiträgen wieder zusammenzuführen. Die So-
zialkassen sind gefüllt und könnten ohne Verwerfungen
diese Maßnahme mittragen. Die bürokratische Entlas-
tung wäre enorm.
Nehmen Sie das Beispiel Umsatzsteuer: Diese für
Unternehmen wohl arbeitsintensivste Steuer muss end-
lich vereinfacht werden, sei es durch weniger Ausnah-
men à la Ermäßigung für Rennpferde nein, aber für
Holzrückpferde ja. Und Unternehmen brauchen hier
mehr Rechtssicherheit, die sie durch eine rechtsverbind-
liche Auskunft auch bekommen könnten.
Nehmen Sie das Beispiel verbessertes E-Government:
Mit einer Anerkennung und wirklichen Umsetzung von
elektronisch gespeicherten Rechnungen könnte das
Thema „Zehn Jahre Aufbewahrungspflicht für steuerlich
relevante Unterlagen“ kurzfristig erledigt werden. Bei
Umsetzung einer reinen elektronischen Archivierung
wäre eine Bürokratiekostensenkung deutlich über 1 Mil-
liarde Euro zu erwarten; so versichern es zumindest be-
troffene Unternehmen.
Und stärken Sie den Normenkontrollrat. Wir brau-
chen eine unabhängige Institution, die sich Regierungs-
handeln genau anschaut, damit bürokratische Monster
wie die Dobrindt-Maut schon im Gesetzgebungsprozess
gestoppt werden können und vorhandene bürokratische
Prozesse wie die bereits erwähnte vorgezogene Abfüh-
rung der Sozialversicherungsbeiträge wieder korrigiert
werden können.
Sie sehen, es gibt noch viel Bürokratie abzubauen.
Lassen Sie das nicht an Ihren Kindergartenstreitereien in
der Koalition scheitern, und erfüllen Sie den eigenen
Anspruch. Springen Sie über die Hürden der Kameralis-
tik, und bewerten Sie endlich die Situation aus Sicht der
Bürgerinnen und Bürger sowie der Wirtschaft. Legen Sie
mehr als diesen Gesetzentwurf vor, damit klar wird, dass
der Abbau von Bürokratie wirklich eines Ihrer zentralen
Themen und kein PR-Gag ist. Ich würde mich freuen,
wenn Sie doch noch unsere Vorschläge und Anregungen
annähmen.
11278 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015
(A) (C)
(D)(B)
Anlage 27
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Herstellung des Ein-
vernehmens des Deutschen Bundestages mit der
Bestellung des Max-Planck-Instituts für auslän-
disches und internationales Strafrecht in Frei-
burg als wissenschaftlicher Sachverständiger
im Rahmen der Evaluierung der Gefahrenab-
wehrbefugnisse nach den §§ 4 a, 20 j und 20 k
des Gesetzes über das Bundeskriminalamt und
die Zusammenarbeit des Bundes und der Län-
der in kriminalpolizeilichen Angelegenheiten
(Bundeskriminalamtgesetz – BKAG) (Tages-
ordnungspunkt 29)
Clemens Binninger (CDU/CSU): Der Deutsche
Bundestag hat durch eine Verfassungsänderung dem
Bund die Aufgabe übertragen, Gefahren des internatio-
nalen Terrorismus abzuwehren. Um dieser wichtigen
Aufgabe nachzukommen, haben wir die Befugnisse des
Bundeskriminalamtes erweitert. Es hat erstmals in seiner
Geschichte präventive Befugnisse zur Gefahrenabwehr
erhalten. Diese präventiven Befugnisse waren bis dahin
den Polizeibehörden der Länder vorbehalten. Viele Re-
gelungen fanden sich bereits in den Polizeigesetzen der
Länder und hatten sich daher über Jahrzehnte bewährt.
Andere Regelungen waren neu und müssen nun evaluiert
werden, nachdem man erste Erfahrungen mit ihnen sam-
meln konnte.
Weil sich Terroristen zunehmend moderner Technik
und des Internets als Kommunikationsmittel bedienen,
müssen auch die Ermittlungsbehörden mit der techni-
schen Entwicklung Schritt halten. Deshalb haben wir
dem Bundeskriminalamt mit dem Gesetz zur Abwehr
von Gefahren des internationalen Terrorismus auch das
neue Ermittlungsinstrument der Onlinedurchsuchung an
die Hand gegeben. Zudem haben wir eine neue Rechts-
grundlage für die sogenannte Rasterfahndung geschaf-
fen. Ich bin davon überzeugt, dass dies die richtige
Entscheidung war, weil das Bundeskriminalamt diese
Ermittlungsinstrumente angesichts der Bedrohungslage
benötigt. Genau das wird auch die anstehende Evalua-
tion belegen.
Als wir hier im Deutschen Bundestag das neue BKA-
Gesetz verabschiedeten, standen wir noch unter dem
Eindruck der Terroranschläge vom 11. September 2001
in den Vereinigten Staaten. Hinzu kamen die Anschläge
von Madrid 2004 und London 2005. Sie machten uns auf
brutale Weise deutlich, dass die Gefährdungslage auch
hier in Europa ernst ist. Und das gilt auch jetzt noch.
Während wir heute im Deutschen Bundestag über die
Evaluation des BKA-Gesetzes beraten, stehen wir unter
dem Eindruck der schrecklichen Anschläge von Brüssel,
Paris und – erst vor einer Woche – Lyon und Sousse.
Hinzu kommt das Wissen, dass mehrere Tausend euro-
päische Staatsangehörige in den Reihen des sogenannten
„Islamischen Staates“ kämpfen und jederzeit nach Eu-
ropa zurückkehren können. Wir sind deshalb heute mehr
denn je auf unsere Sicherheitsbehörden und ihre Arbeit
angewiesen. Zugleich sind wir gefordert, die Wirksam-
keit der bestehenden Ermittlungsinstrumente kritisch zu
prüfen. Auch dem dient die angestrebte Evaluation des
BKA-Gesetzes.
Ich erinnere mich aber auch ganz lebhaft an die laut-
starke Kritik an dem BKA-Gesetz, die uns damals wäh-
rend der Beratungen aus den Reihen der Opposition ent-
gegenschlug. Von unseren Sicherheitsbehörden wurde
ein Zerrbild gezeichnet, das nichts mit der Realität zu
tun hatte und hat. Es wurde in der Öffentlichkeit der Ein-
druck erweckt, dass der Bundesinnenminister am liebs-
ten jeden einzelnen Computer in Deutschland per On-
linedurchsuchung überwachen möchte. Das Wort
„Überwachungsstaat“ machte die Runde. Solche Be-
fürchtungen und Mutmaßungen über unsere Sicherheits-
behörden haben sich wieder einmal als falsch herausge-
stellt. Denn das Bundeskriminalamt setzt seine neuen
Befugnisse mit Augenmaß und Verstand ein. Das wird
auch die Evaluation durch unabhängige Dritte belegen,
über die wir heute debattieren.
Der Deutsche Bundestag hat das Gesetz aus gutem
Grund mit einer Evaluationsklausel versehen, damit die
neuen Regelungen nach einer angemessenen Zeitspanne
überprüft werden. Eine solche Rückkopplung ist wich-
tig, damit wir als Gesetzgeber unsere eigene Arbeit kri-
tisch bewerten können. Die Evaluation soll das Max-
Planck-Institut für ausländisches und internationales
Strafrecht in Freiburg durchführen. Das Institut soll prü-
fen, ob die neuen gesetzlichen Regelungen effektiv um-
gesetzt wurden und ihren Zweck erfüllen. Dabei wird
auch zu prüfen sein, ob die neuen Regelungen uner-
wünschte Nebenwirkungen entfaltet haben oder sich die
ursprünglichen Rahmenbedingungen geändert haben.
Mithilfe des wissenschaftlichen Sachverstands des Max-
Planck-Instituts werden wir die Folgen des Gesetzes in
der Retrospektive abschätzen und seine Wirkung bewer-
ten können. Das ist sinnvoll und notwendig.
In diesem Zusammenhang möchte ich auch darauf
eingehen, dass in der kommenden Woche die mündliche
Verhandlung des Bundesverfassungsgerichts über das
BKA-Gesetz ansteht. Ich bin mir sicher, dass unser Ge-
setz auch dort Bestand haben wird. Wir haben uns im
Gesetzgebungsverfahren ausführlich mit der Rechtspre-
chung des Bundesverfassungsgerichts auseinanderge-
setzt und insbesondere auch die jüngsten Entscheidun-
gen zum Schutz des Kernbereichs der persönlichen
Lebensgestaltung berücksichtigt. Deshalb haben wir ins-
besondere den Einsatz des Ermittlungsinstruments der
Onlinedurchsuchung an sehr hohe Hürden geknüpft. Un-
ser Gesetz entspricht Punkt für Punkt den Vorgaben, die
wir dafür aus Karlsruhe erhalten haben. Es wird deshalb
auch vor dem Bundesverfassungsgericht Bestand haben.
Alle Experten bestätigen, dass die Gefährdungslage
nach wie vor ernst ist. Wir sollten deshalb nicht zur Hys-
terie neigen, aber wir sollten tun, was wir tun können.
Genau so verfahren wir, Schritt für Schritt und mit Be-
dacht. Wenn wir aber Misstrauen gegen unsere Sicher-
heitsbehörden schüren und ihnen den Missbrauch ihrer
Befugnisse unterstellen, macht das weder unser Land si-
cherer noch unsere Freiheit größer. Die Menschen beim
Bundeskriminalamt und den anderen Sicherheitsbehör-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015 11279
(A) (C)
(D)(B)
den verdienen unser Vertrauen, denn sie schützen die
Menschen in unserem Land.
Uli Grötsch (SPD): Mit dem heutigen Antrag gibt
der Deutsche Bundestag sein Einverständnis, dass das
Max-Planck-Institut für ausländisches und internationa-
les Strafrecht als Sachverständiger bestellt wird, um be-
stimmte Gefahrenabwehrbefugnisse des Bundeskrimi-
nalamtes zu evaluieren.
Es geht um das BKA-Gesetz zur Abwehr von Gefah-
ren des internationalen Terrorismus, das vor fünf Jahren
in Kraft getreten ist. Das BKA ist seitdem bei der Terro-
rismusbekämpfung nicht nur für die Strafverfolgung,
sondern auch für die Gefahrenabwehr zuständig. Dafür
sind dem BKA polizeiliche Befugnisse wie die Raster-
fahndung und die Onlinedurchsuchung übertragen wor-
den, die in dieser Form neu waren. Aus diesem Grund ist
eine wissenschaftliche Überprüfung im damaligen Ge-
setzgebungsverfahren ganz bewusst verankert worden.
Die Gefahrenabwehr beim BKA anzusiedeln, war
zweifelsohne erforderlich. Aber einzelne Befugnisse wie
die Onlinedurchsuchung sind nicht unumstritten. Des-
halb ist es gut, dass wir die Auswirkung dessen nun nach
einer angemessenen Zeit einer wissenschaftlichen Über-
prüfung unterziehen.
Klar ist dabei: Eine solche Untersuchung muss natür-
lich von unabhängiger Seite erfolgen. Klar ist auch:
Nicht das gesamte BKA-Gesetz wird auf den Kopf ge-
stellt, sondern der Fokus liegt auf den genannten neuen
Befugnissen.
Ich denke, es besteht kein Zweifel, dass das Max-
Planck-Institut für ausländisches und internationales
Strafrecht für diese Aufgabe bestens geeignet ist. Das In-
stitut bündelt wissenschaftliche Expertise zu Strafrecht
und Kriminologie in einem Haus und ist parteiübergrei-
fend anerkannt. Zuletzt hat das MPI den Gesetzgeber
zum Beispiel bei der Verabschiedung des Gesetzes zur
Terrorismusfinanzierung sehr fundiert beraten. Und die
Wissenschaftler haben sich selbstverständlich nicht ge-
scheut, rechtliche Bedenken offen vorzutragen.
Über den Inhalt des heutigen Antrages der Regie-
rungskoalition kann also kaum gestritten werden.
Ich möchte die Gelegenheit daher auch gerne nutzen,
um über einige Mythen des BKA-Gesetzes aufzuklären.
Bei der Verabschiedung des Gesetzes hieß es, das BKA
erhalte im Antiterrorkampf vollkommen ungerechtfer-
tigte Kompetenzen und es entstehe ein Art „deutsches
FBI“. Hierzu möchte ich in Erinnerung rufen, dass bei
Instrumenten wie der Onlinedurchsuchung oder der
Rasterfahndung ein klarer Richtervorbehalt im Gesetz
steht. Zudem wird stets der Datenschutzbeauftragte des
BKA hinzugezogen. Zum Vergleich: In vielen Polizeige-
setzen in den Ländern ist der Richtervorbehalt nicht so
klar geregelt wie im BKA-Gesetz. Und Instrumente wie
die Rasterfahndung gab es in den Ländern bereits viele
Jahre zuvor.
Nein, das BKA ist durch das Gesetz kein „deutsches
FBI“ geworden. Dazu haben wir in Deutschland ganz
bewusst gar nicht die personellen und finanziellen Mittel
bereitgestellt. Außerdem haben wir in Deutschland un-
sere bewährte föderale und eben nicht eine zentral orga-
nisierte Sicherheitsstruktur.
Aber klar ist auch: Der Bekämpfung von Terrorismus
in einer immer stärker vernetzten Gesellschaft sind die
einzelnen Landeskriminalämter alleine nicht gewachsen.
Deshalb kann kaum jemand ernsthaft bestreiten, dass wir
eine gute Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern
brauchen und dass dafür einige Kompetenzen in den
letzten Jahren an Bundesbehörden wie das BKA übertra-
gen werden mussten.
Natürlich kann an einigen Stellen Verbesserungs-
bedarf bestehen. Unsere Gesetze zur inneren Sicherheit
sollten stets kritisch hinterfragt werden. Das ist genau
der Grund, warum das MPI das BKA-Gesetz genau prü-
fen soll. Ich denke, dies können wir besten Gewissens
heute hier beschließen.
Zu einer guten rechtsstaatlichen Überprüfung gehört
nicht zuletzt auch der Weg zum Bundesverfassungsge-
richt, der damals von einigen Kritikern eingeschlagen
wurde. Hier ist, wie wir alle wissen, bald mit einem
Urteil zu rechnen, und das haben wir als Parlamentarier
natürlich im Blick.
Sowohl bei der wissenschaftlichen als auch bei der ju-
ristischen Überprüfung bin ich schon gespannt auf die
Ergebnisse. Und ich freue mich schon, auf dieser Grund-
lage gemeinsam mit allen Fraktionen sachlich über mög-
liche Verbesserungen zu diskutieren.
Frank Tempel (DIE LINKE): Diese Evaluation der
Gefahrenabwehrbefugnisse des BKA ist schon lange
überfällig. Nach dem Wortlaut des Änderungsgesetzes
sollte die Evaluation fünf Jahre nach Inkrafttreten vorge-
nommen werden; das wäre Ende 2013 gewesen, selbst
bei großzügiger Auslegung Ende 2014. Ausweislich des
Zeitplans wird sie nun Mitte 2016 vorliegen. Vor einem
halben Jahr wurde das Angebot des Max-Planck-Insti-
tuts vom BMI befürwortet, und das Einvernehmen mit
dem Deutschen Bundestag hätte schon lange hergestellt
werden können.
Die Koalition hat nun kurz vor Sitzungsbeginn den
Antrag eingebracht, der jetzt auch noch zur Sofortab-
stimmung steht. Für die Opposition besteht keine Mög-
lichkeit, noch Änderungen einzubringen. Beim Antrag
zur Evaluation der Sicherheitsgesetze durch das Deutsche
Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung Speyer
Anfang dieser Legislatur gab es noch die Möglichkeit
für die Opposition, Stellungnahmen abzugeben. Die par-
lamentarischen Sitten verfallen zusehends!
Hätte die Evaluation fristgerecht vorgelegen, hätte sie
außerdem auch in die Entscheidungsfindung des Bun-
desverfassungsgerichtes, BVerfG, zur nächste Woche
verhandelten Klage einfließen können. Diese Chance ist
nun vertan; ein Jahr wird das BVerfG mit seiner Ent-
scheidung sicherlich nicht warten wollen.
Sehr geehrte Kollegen von der Koalition, der Ansatz
für die Evaluation greift viel zu kurz. Hier stehen zwei
11280 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015
(A) (C)
(D)(B)
tief in die Persönlichkeitsrechte eingreifende Befugnisse
zur Bewertung.
Es handelt sich dabei um die Rasterfahndung, also
den Abruf von Datensätzen aus verschiedenen Datenbe-
ständen und deren Zusammenführung, sowie um den
verdeckten Eingriff in informationstechnische Systeme.
Bei beiden bestehen Zweifel, ob sie überhaupt erforder-
lich und geeignet sind. Sie stehen aber in einer Reihe
von weiteren Befugnissen nach § 20 a bis § 20 x des
Bundeskriminalamtsgesetzes, BKAG. Es bringt daher
nichts, nur bei einzelnen Befugnissen zu prüfen, ob dort
die Regelungen zum Schutz des Kernbereiches privater
Lebensgestaltung ausreichend und effektiv sind. Die Ge-
samtheit sich ergänzender Überwachungsmaßnahmen
erzeugt die Gefahr, zum Objekt staatlicher Ausforschung
zu werden. Auch das müsste Gegenstand einer Evaluation
sein. Völlig außerhalb dieser Evaluation steht zudem, dass
die Befugnisse des BKA durch die tiefe Vernetzung und
den Erkenntnisaustausch mit den Landeskriminalämtern
und den Geheimdiensten eine Eingriffstiefe haben oder
gewinnen können, die für die Bürgerinnen und Bürger
allein aus dem Gesetzestext nicht ersichtlich ist.
Die Befugnisse zur Übermittlung von Daten, nach
Ansicht des BVerfG ein eigener Grundrechtseingriff,
sind schon von vornherein verfassungsrechtlich unzurei-
chend. Die Übermittlung an ausländische Stellen ist
nicht besonders geregelt, was angesichts jüngster Ent-
wicklungen sehr zu denken gibt. Ebenfalls nicht über-
prüft wird die Eilfallregelung bei den Befugnissen. Der
Großen Koalition war es wichtiger, das Gesetz für das
BKA praktisch handhabbar zu machen, als Vorkehrun-
gen für einen effektiven Rechtsschutz zu schaffen. Bei
heimlichen Überwachungsmaßnahmen ist nur durch den
Richtervorbehalt ein effektiver Rechtsschutz sicherzu-
stellen. Doch gerade der wird im vermeintlichen Eilfall
ausgehebelt!
Die Erweiterung der Befugnisse des BKA weit in das
Vorfeld konkreter Straftaten lässt die Abgrenzung zu den
Nachrichtendiensten verschwimmen. Das an sich ist
schon problematisch. Wenn man das aber macht, dann
muss neben die richterliche Kontrolle auch, wie üblich
bei nachrichtendienstlichen Befugnissen, eine parlamen-
tarische Kontrolle treten. Eine Evaluation durch externen
Sachverstand, selbst wenn es sich um das renommierte
Max-Planck-Institut für ausländisches und internationa-
les Strafrecht handelt, der im Wesentlichen auf die An-
gaben aus den befugnisnutzenden Behörden angewiesen
ist, kann eine effektive parlamentarisch-politische Kon-
trolle nicht ersetzen.
Das Evaluationsdesign an sich ist das bislang beste im
Bereich der Evaluation von Sicherheitsgesetzen in der
Bundesrepublik. Es werden auch Normen in den Blick
genommen, die zur Bewertung der „Eingriffstiefe und
Eingriffsbreite“ herangezogen werden müssen.
Das Evaluationsdesign nimmt auch in den Blick, dass
im Bereich der Terrorismusbekämpfung zwischen Ge-
fahrenabwehr und Strafverfolgung keine scharfe Trenn-
linie besteht und Maßnahmen der Gefahrenabwehr un-
mittelbar zu Maßnahmen der Strafverfolgung führen
können.
Unverständlich ist es, wenn die Bieter selbst davon
ausgehen, dass bisher keine Anwendung der Befugnisse
im präventiven Bereich stattgefunden habe. Die Unter-
suchung wird sich also somit auf Fälle beziehen müssen,
bei denen solche Maßnahmen gegebenenfalls diskutiert
und vorbereitet wurden.
Gegenstand sind auch die Probleme, die aus der
„Übernahmebefugnis“ des BKA in Fällen von interna-
tionalem Terrorismus nach § 4 a bestehen, insbesondere
zur doch weiterhin möglichen Mehrfacherhebung von
Daten, zu den Benachrichtigungsregeln und zur Über-
nahme von Fällen durch die Länder. In diesem Zusam-
menhang soll dann geklärt werden, wie der Begriff des
„internationalen Terrorismus“ in der Praxis überhaupt
angewendet wird. In der Anhörung zum Gesetz war be-
reits die unpräzise Begrifflichkeit kritisiert worden.
Weiterhin soll geprüft werden, ob bei der Rasterfahn-
dung und dem verdeckten Eingriff in informationstech-
nische Systeme die bisher nicht vorhandene Eilkompe-
tenz des BKA geschaffen werden sollte. Die Linke
fordert eindringlich, dass im Gegensatz zur oft geübten
Regierungspraxis der Evaluationsbericht dem Parlament
vollständig vorgelegt wird.
Irene Mihalic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir
stimmen dem Antrag der Koalition zu, das Max-Planck-
Institut für ausländisches und internationales Strafrecht
in Freiburg, hier insbesondere die Herren Professoren
Hans-Jörg Albrecht und Ralf Poscher, als Sachverstän-
dige für die Unterstützung der Evaluation des BKA-Ge-
setzes zu bestellen. Die Gefahrenabwehrbefugnisse des
BKA sind ja nicht mehr ganz neu. Dem Bundeskriminal-
amt als Polizei wurde mit der Novelle des BKA-Geset-
zes geheimdienstähnliche Befugnisse weit im Gefahren-
vorfeld gegeben.
Deshalb ist es richtig und es ist auch überfällig, dass
diese Befugnisse nun endlich evaluiert werden. Schließ-
lich sollte der Bericht schon seit zwei Jahren vorliegen.
Ach ja, nur nebenbei: Wo bleibt eigentlich der Evalu-
ierungsbericht zum Terrorismusbekämpfungsgesetz? Der
ist auch längst fällig.
Gut ist es auch, sehr gut sogar, dass wir mit dem An-
gebot des MPI – vielleicht erstmals – ein Konzept für die
Evaluierung eines Sicherheitsgesetzes aufgrund einer
gesetzlichen Evaluierungsklausel auf dem Tisch haben,
das eine adäquate Auseinandersetzung mit dem schwie-
rigen Thema verspricht. Mit dem Evaluierungsbericht
wird uns als Gesetzgeber die Expertise an die Hand ge-
geben, die wir brauchen, um entscheiden zu können, ob
die untersuchten Vorschriften zur Terrorismusbekämp-
fung, zur Rasterfahndung und zur Onlinedurchsuchung
den Grundrechten entsprechen, ob sie tatsächlich mehr
Sicherheit bringen oder vielleicht doch mehr Schaden
anrichten als Nutzen bringen.
Deshalb bin ich wirklich froh, dass alle Fraktionen es
mitgetragen haben, dass der Innenausschuss des Deut-
schen Bundestages die Evaluierungsprozesse kritisch be-
gleitet. Damit am Ende des Prozesses nicht – auch das
hat es schon gegeben – eine Werbebroschüre für das
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2015 11281
(A) (C)
(D)(B)
Bundesministerium des Innern als Auftraggeber steht,
sondern ein aussagekräftiger Evaluierungsbericht. Und
Sie sind dem Antrag von uns Grünen und dem Wortlaut
der Evaluierungsklausel gefolgt, die Bestellung des wis-
senschaftlichen Sachverständigen im Plenum öffentlich
zu debattieren. Beides ist nötig, damit wir in dem
schwierigen Feld der inneren Sicherheit unserer Pflicht
nachkommen, die Anwendung der von uns erlassenen
Gesetze im Verhältnis zu den Grundrechten immer und
immer wieder zu beobachten und gegebenenfalls nach-
zubessern.
Aber obwohl ich froh bin, dass das BKA-Gesetz nun
endlich evaluiert wird, habe ich auch ein paar Zweifel.
Der Deutsche Bundestag hat im Jahr 2008 – gegen die
Stimmen meiner Fraktion und gegen den Rat einer Reihe
von hochkompetenten Sachverständigen – das BKA-Ge-
setz in der jetzt geltenden Fassung erlassen. Jetzt, sieben
Jahre danach, hat die Praxis gezeigt, dass die von den
Sachverständigen angeführten Bedenken berechtigt wa-
ren. Der Chaos Computer Club hat aufgedeckt, dass der
Staatstrojaner mehr konnte, als er verfassungsrechtlich
darf, und nun bestellen wir einen der besonders kriti-
schen Sachverständigen von damals zum wissenschaftli-
chen Sachverständigen für die Evaluation.
Und wie Sie wissen, wird am kommenden Dienstag in
Karlsruhe beim Bundesverfassungsgericht über die Ver-
fassungsbeschwerden meiner Abgeordnetenkollegen
Wieland, Ströbele, Terpe, Roth, Nachtwei, Trittin,
Müller, Künast und Beck verhandelt, die sich durch die-
ses weitreichende und unbestimmte BKA-Gesetz in ih-
ren Grundrechten verletzt sehen. Also müssen wir wie-
der einmal das Bundesverfassungsgericht mit einem
Sicherheitsgesetz beschäftigen, das der Deutsche Bun-
destag wider besseres Wissen erlassen hat. So war es
beim Antiterrordateigesetz, und so wird es auch – das
prophezeie ich Ihnen – bei der Novelle des Bundesver-
fassungsschutzgesetzes sein, welches Sie, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen der Großen Koalition, morgen ver-
abschieden wollen.
Das ist nicht richtig so. Das ist populistische Politik
ohne Sicherheitsgewinn, aber dafür zulasten der Grund-
rechte.
Zudem bin ich mir nicht ganz sicher, ob das, was das
MPI zu Recht für eine grundrechtsorientierte Evaluie-
rung für nötig hält, so auch durchgeführt werden kann.
Ob das alles funktioniert, liegt maßgeblich am auftrag-
gebenden Ministerium und an der Mitarbeit der Sicher-
heitsbehörden. Wenn das Bundeskriminalamt und die
Landeskriminalämter den umfassenden Einblick in das
Fallmaterial verweigern oder es an Dokumentationen
fehlt, wird eine sinnvolle Evaluation nicht möglich sein.
Es geht hier um heimliche Überwachungsmaßnahmen
und Datenanalysen. Von deren Praxis wissen wir kaum
etwas – eben weil sie heimlich sind. Die Evaluation steht
und fällt daher damit, dass die Evaluatoren umfassenden
Einblick bekommen und dass die Praxis auch dokumen-
tiert wurde.
Wir Grüne werden nicht nur den Erlass neuer Sicher-
heitsgesetze, sondern auch diesen Evaluierungsprozess
kritisch begleiten und genau darauf achten, dass die
Grundrechte nicht für einen zweifelhaften Sicherheitsge-
winn ausgehöhlt werden.
Vertrieb: Bundesanzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de
115. Sitzung
Inhaltsverzeichnis
TOP 4 Sterbebegleitung
TOP 5 Reform der Strukturen der Krankenhausversorgung
TOP 12 Medizinische Versorgung für Asylsuchende
TOP 36, ZP 3 Überweisungen im vereinfachten Verfahren
TOP 37, ZP 4 Abschließende Beratungen ohne Aussprache
TOP 7 Wahl „Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung“
ZP 5 Aktuelle Stunde zur Sicherheitslage nach islamistischen Anschlägen
TOP 8 Wohngeldrecht und Wohnraumförderung
TOP 9 Aufarbeitung von sexuellem Kindesmissbrauch
TOP 10 Suizidprävention
TOP 11 Entsorgung von Elektro- und Elektronikgeräten
TOP 16 Arbeit für Menschen mit Behinderungen
TOP 13 Bleiberecht und Aufenthaltsbeendigung
TOP 18 Subventionen für Atomkraftwerke in der EU
ZP 6 Karenzzeit für Regierungsmitglieder
TOP 20 Umgang mit Atommüll
TOP 15 Standards in Handwerk und Freien Berufen
TOP 14 Jemen
TOP 17, ZP 7 Digitale Bildung und Medienkompetenz
TOP 19 Förderung von Integrationsbetrieben
TOP 21 Weltweite Lage der Religions- und Glaubensfreiheit
TOP 22 Fischetikettierungs- und Tiergesundheitsgesetz
TOP 23 Weingesetz
TOP 24 Häftlingshilfegesetz, Bundesvertriebenengesetz
TOP 25 Energiesteuerermäßigung für Erd- und Flüssiggas
TOP 26 Neuorganisation der Zollverwaltung
TOP 27 Übereinkommen über Amtshilfe in Steuersachen
TOP 28 Bürokratieentlastungsgesetz
TOP 29 Sachverständiger für Gefahrenabwehrbefugnisse
Anlagen