1) Anlage 7
        2) Anlage 8
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10199
        (A) (C)
        (B)
        Anlagen zum Stenografischen Bericht
        (D)
        Anlage 1
        Liste der entschuldigten Abgeordneten
        Abgeordnete(r)
        entschuldigt bis
        einschließlich
        Amtsberg, Luise BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        21.05.2015
        Andreae, Kerstin BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        21.05.2015
        Baerbock, Annalena BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        21.05.2015
        Dr. Bergner, Christoph CDU/CSU 21.05.2015
        Dr. Böhmer, Maria CDU/CSU 21.05.2015
        Bülow, Marco SPD 21.05.2015
        Dröge, Katharina BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        21.05.2015
        Groneberg, Gabriele SPD 21.05.2015
        Grundmann, Oliver CDU/CSU 21.05.2015
        Hartmann (Wackernheim),
        Michael
        SPD 21.05.2015
        Hintze, Peter CDU/CSU 21.05.2015
        Jarzombek, Thomas CDU/CSU 21.05.2015
        Kindler, Sven-Christian BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        21.05.2015
        Lach, Günter CDU/CSU 21.05.2015
        Mißfelder, Philipp CDU/CSU 21.05.2015
        Pflugradt, Jeannine SPD 21.05.2015
        Schlecht, Michael DIE LINKE 21.05.2015
        Schwabe, Frank SPD 21.05.2015
        Spiering, Rainer SPD 21.05.2015
        Anlage 2
        Erklärung nach § 31 GO
        der Abgeordneten Christian Kühn (Tübingen),
        Monika Lazar, Peter Meiwald, Corinna Rüffer
        und Hans-Christian Ströbele (alle BÜND-
        NIS 90/DIE GRÜNEN) zu der namentlichen
        Abstimmung über die Beschlussempfehlung des
        Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der
        Bundesregierung: Fortsetzung der Beteiligung
        bewaffneter deutscher Streitkräfte an der EU-
        geführten Operation Atalanta zur Bekämpfung
        der Piraterie vor der Küste Somalias (Tagesord-
        nungspunkt 12)
        Den Antrag der Bundesregierung lehnen wir ab und
        stimmen mit Nein. Wir halten den Einsatz der Bundes-
        wehr im Golf von Aden und im ganzen Indischen Ozean
        politisch für falsch und nicht notwendig zum Schutz der
        Schiffe des Welternährungsprogramms vor Piraterie. Vor
        allem war er von Anfang an nicht das letzte mögliche
        Mittel, die Ultima Ratio, um die Schiffe zu schützen und
        Piraterie wirksam zu bekämpfen.
        In der Begründung zum Mandat erklärt die Bundesre-
        gierung, dass die niedrige Zahl der versuchten Über-
        griffe auf Handelsschiffe eine Folge der ständigen Prä-
        senz der Kriegsschiffe im Golf von Aden sei. Wie im
        Vorjahr wird diese Behauptung nicht belegt.
        Es ist eine falsche Annahme. Denn zivile Maßnahmen
        wie das Einhalten der sogenannten Best Management
        Practices – Fahren im Konvoi oder mit hoher Geschwin-
        digkeit sowie die Absicherung von Reling und Außen-
        bord, etwa durch Stacheldraht, und das Anbringen von
        Scheinwerfern – haben die Piratenangriffe verhindert.
        Die Bundesregierung hat bestätigt, dass kein einziges
        Schiff von Piraten aufgebracht wurde, das sich an diese
        Regeln gehalten hat.
        Das gilt gerade auch für den Schutz der Schiffe des
        Welternährungsprogramms. In einem Gutachten des In-
        stituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik der
        Universität Hamburg wird empfohlen, den Schutz dieser
        Transporte von Hilfsgütern und Nahrungsmitteln nach
        Somalia dadurch zu verbessern, dass das WFP mit bes-
        seren und schnelleren Schiffen ausgestattet wird.
        Zum neunten Mal entscheidet sich der Bundestag nun
        schon für diesen Kriegseinsatz, der aber letztlich nur die
        Symptome der Piraterie bekämpft. Deren Ursachen hin-
        gegen, die man nur politisch angehen kann, werden im-
        mer noch weitgehend ignoriert. In Somalia herrschen
        Armut, Hunger, Gewalt und politische Unsicherheit. Ein
        Grund für Hunger und Armut ist die Überfischung der
        Gewässer vor Somalia. Modern ausgestattete Fangflot-
        ten aus der EU, Japan oder Taiwan rauben den lokalen
        Fischern die Existenzgrundlage. Zusätzlich kommt es
        durch illegale (Gift-)Müllentsorgung vor der Küste So-
        malias zu massivem Fischsterben, und Menschen er-
        kranken.
        Kriegsschiffe und Militäreinsätze sind nicht das rich-
        tige Mittel, um die Piraterie und ihre Ursachen zu be-
        kämpfen.
        Atalanta beeinflusst auch die europäische Debatte da-
        rum, wie mit der Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer
        umgegangen werden sollte: Die EU-Kommission schlug
        jüngst vor, sich dabei an Atalanta zu orientieren. Dies
        Anlagen
        10200 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015
        (A) (C)
        (D)(B)
        zeigt die drohende Militarisierung der europäischen
        Flüchtlingspolitik.
        Anlage 3
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
        Neuregelung der Unterhaltssicherung sowie zur
        Änderung soldatenrechtlicher Vorschriften (Ta-
        gesordnungspunkt 18)
        Wilfried Lorenz (CDU/CSU): Auch in der abschlie-
        ßenden zweiten und dritten Lesung der konstitutiven Neu-
        fassung des Unterhaltssicherungsgesetzes, USG, komme
        ich nicht umhin, den Blick auf die Besonderheiten der
        deutschen Sprache zu lenken, die gelegentlich Irritatio-
        nen hervorrufen. Die in unserem Sprachraum verbrei-
        tete, nicht selten mehrere Textzeilen füllende Aneinan-
        derreihung einer Vielzahl von Substantiven findet sich
        auch im Wort Bundeswehrattraktivitätssteigerungsge-
        setz. Von diesem Regelungswerk hat schon jeder gehört.
        Über das Unterhaltssicherungsgesetz wird dagegen
        kaum berichtet. Zugegeben, die Wortzusammenstellung
        lässt auf den ersten Blick eher an Unterhalt für die ge-
        schiedene Ehefrau oder Alimente für Kinder denken.
        Doch es liegt nun an uns allen, deutlich zu machen, dass
        das USG zu Unrecht weniger im Fokus der Öffentlich-
        keit steht. Denn die Reservedienst- und freiwillige
        Wehrdienstleistenden, um die es geht, leisten denselben
        Dienst wie die aktiven Soldatinnen und Soldaten, für die
        das Attraktivitätssteigerungsgesetz geschaffen wurde.
        Das Gesetz, das wir heute beschließen, sollte treffen-
        der Reservedienst- und Freiwilligwehrdienstleistendeun-
        terhaltssicherungsgesetz – RDLFWDLUSG – heißen.
        Auf diese Weise wären nicht nur noch mehr Substantive
        in einem durchaus beachtlichen Wortungetüm unterge-
        bracht und eine stattliche Abkürzung kreiert. Es würde
        auch etwas klarer, welche Inhalte sich dahinter verber-
        gen:
        Erstens. Regelungen, die spiegelbildlich als logische
        gesetzgeberische Fortführung des Bundeswehrattraktivi-
        tätsgesetzes, auch den Dienst von Reservistinnen und
        Reservistinnen wie freiwilligen Wehrdienstleistenden at-
        traktiver gestalten sollen.
        Zweitens. Vorschriften, die die Durchführung des Ge-
        setzes von den Ländern auf den Bund übertragen und
        beim Bundesamt für das Personalmanagement der Bun-
        deswehr in einer Hand zusammenfassen; zuständig sind
        ab 1. November 2015 also nicht mehr die Unterhaltssi-
        cherungsstellen auf lokaler Ebene.
        Drittens. Die Zusammenfassung und Vereinfachung
        aller Leistungen für Reservedienstleistende, die bislang
        auch im Wehrsoldgesetz, WSG, geregelt waren, zu ei-
        nem Anreizsystem.
        Der gesetzliche Handlungsbedarf erschließt sich be-
        reits aus der Tatsache, dass das derzeit gültige USG noch
        aus dem Jahr 1957 stammt und zuletzt 1990 geändert
        wurde. Vor allem neue demografische Anforderungen an
        die Bundeswehr machen Änderungen als Teil der Attrak-
        tivitätsagenda erforderlich.
        Die deutschen Streitkräfte sind – spätestens seit Aus-
        setzung der Wehrpflicht – einsatzfähig, wenn genügend
        qualifizierte Reservedienstleistende aus allen Bereichen
        der Gesellschaft und aus allen Berufsgruppen gewonnen
        und gehalten werden können. Bundeswehrattraktivitäts-
        steigerungsgesetz und Unterhaltssicherungsgesetz sind
        daher als Gesamtprojekt zur Steigerung von Attraktivität
        und Leistungsfähigkeit der Bundeswehr zu sehen.
        Um bisherige Benachteiligungen zu beseitigen, ent-
        hält das neue USG wesentliche Änderungen:
        Erstens eine angemessene Erhöhung der Mindestleis-
        tungen für Reservistinnen und Reservisten auf ein Ni-
        veau in Höhe mindestens der Nettobesoldung aktiver
        Soldatinnen und Soldaten gleichen Dienstgrades; Min-
        destleistungen dienen der Sicherung des Einkommens
        während des Dienstes – daher die Begrifflichkeit Unter-
        haltssicherung; durch deren Erhöhung erreichen wir eine
        Gleichbehandlung von Reservisten und Aktiven.
        Zweitens können Reservedienstleistende ihren Dienst
        künftig ohne Gehaltseinbußen tun. Dies gilt auch für Re-
        servisten mit höherem zivilem Einkommen. Sie erhalten
        zusätzlich Wehrsold und gegebenenfalls Verpflichtungs-
        prämien. Reservisten im gleichen Dienstgrad, aber mit
        unterschiedlicher ziviler Qualifikation erhalten eine un-
        terschiedliche Entschädigung entsprechend ihrem zivi-
        len Einkommen. Für Selbstständige werden die Sätze er-
        höht und der Nachweisaufwand verringert.
        Drittens wird der Unterhalt von Familienangehörigen
        freiwillig Wehrdienstleistender durch Nachvollzug von
        Änderungen im Unterhaltsrecht gesichert, so die Gleich-
        stellung nichtehelicher und ehelicher Kinder sowie die
        Aufnahme der Unterhaltsansprüche von Müttern und
        Vätern nichtehelicher Kinder.
        Spiegelbildlich zum Bundeswehrattraktivitätssteige-
        rungsgesetz haben wir mit dem neugefassten USG einen
        weiteren gesetzlichen Baustein zu mehr Attraktivität des
        Dienstes in der Bundeswehr – hier vor allem des Reser-
        vedienstes – geschaffen. Bisherige Benachteiligungen
        gegenüber aktiven Soldaten sind beseitigt. Und wir
        haben Anreize geschaffen, sich für den Dienst in der
        Bundeswehr zu entscheiden, dort zu bleiben und als
        Multiplikatoren in die Gesellschaft hineinzuwirken.
        Doch der Mensch lebt bekanntlich nicht vom Brot al-
        lein.
        Und so bedeutet mehr Attraktivität des Dienstes her-
        zustellen auch, mehr Anerkennung und Wertschätzung
        des Dienstes in den Streitkräften in unserer Gesellschaft
        zu verankern. Wir werden hier nicht stehen bleiben, son-
        dern weiter an Verbesserungen arbeiten, wo nötig.
        Dazu gehört, dass wir – wie beim Attraktivitätssteige-
        rungsgesetz – auch zusätzliche Haushaltsmittel zur Ver-
        fügung stellen werden. Für die Erhöhung der Leistungen
        werden derzeit zusätzliche Mittel in Höhe von jährlich
        11,9 Millionen Euro veranschlagt. Für die Gesetzes-
        durchführung dürften zusätzlich Kosten von 4,25 Millio-
        nen Euro hinzukommen. Das sind Gesamtkosten von
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10201
        (A) (C)
        (D)(B)
        16,15 Millionen Euro, die sich für unser aller Sicherheit
        – immateriell wie materiell – weit mehr als bezahlt ma-
        chen werden. Denn unsere Soldatinnen und Soldaten,
        Aktive wie Reservisten, wissen dann endlich, dass wir es
        ernst meinen, wenn wir sagen: Sie sind uns wichtig! Vor
        Ihrem Dienst für unser Land stehen wir mit größtem
        Respekt und werden alles dafür tun, dass Sie diesen un-
        ter den besten Bedingungen und mit der besten Ausrüs-
        tung leisten können.
        Julia Obermeier (CDU/CSU): Seit Beginn dieser
        Legislaturperiode haben wir eine Häufung krisenhafter
        Entwicklungen erlebt: Vor eineinhalb Jahren war noch
        keine Rede von der Ebolaepidemie in Westafrika, dem
        menschenverachtenden Vormarsch der ISIS-Terrormi-
        liz, der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim und
        dem gewaltsamen Konflikt in der Ostukraine oder der
        dramatischen Situation der Flüchtlinge auf dem Mittel-
        meer. In ungeahntem Ausmaß haben sich die bedrohli-
        chen Ereignisse überschlagen. Sie zeigen uns deutlich:
        Die Herausforderungen, die Deutschland und die Bun-
        deswehr zu bewältigen haben, können sich schnell und
        wesentlich ändern.
        Diese Herausforderungen kann die Bundeswehr nur
        mit dem Rückhalt einer starken Reserve bewältigen. Die
        Reservisten sind unverzichtbarer Bestandteil der Bun-
        deswehr. Aktuell sind fast 33 000 Reservedienstleistende
        beordert.
        Sie sind aus der Bundeswehr nicht mehr wegzu-
        denken: ob bei der Aufrechterhaltung der Einsatzbereit-
        schaft in der Heimat, der Hilfeleistung im Katastro-
        phenfall im Inland oder bei der Unterstützung im
        Auslandseinsatz.
        Reservedienstleistende nehmen an Übungen teil. Sie
        helfen auch bei Naturkatastrophen, wie zum Beispiel
        dem Hochwasser im Frühsommer 2013. Reservisten
        sind darüber hinaus bei nahezu allen Auslandseinsätzen
        der Bundeswehr vertreten: Sie unterstützen die KFOR-
        Truppen im Kosovo, die Mission Atalanta am Horn von
        Afrika oder die Ausbildungsmission Resolut Support in
        Afghanistan. Einige Reservisten haben auch Nothilfe im
        Kampf gegen Ebola geleistet.
        Bei meinen Truppenbesuchen treffe ich neben Berufs-
        und Zeitsoldaten auch immer wieder Reservedienstleis-
        tende. In Bad Reichenhall habe ich einen aktiven Reser-
        visten getroffen, der den Kommandeur im Sommer ver-
        treten hat. Besonders beeindruckt war ich von einem
        Oberstleutnant der Reserve, der in Mali bereits zum
        zweiten Mal als deutscher Militärattaché diente.
        Dies zeigt: Die Bundeswehr setzt Reservedienst-
        leistende entsprechend ihrer speziellen Fähigkeiten auch
        gezielt auf herausgehobenen Dienstposten ein. Reserve-
        dienstleistende sind und bleiben ein tragender Bestand-
        teil unserer Streitkräfte.
        Ich und meine CDU/CSU-Fraktion danken allen Re-
        servisten für ihren Einsatz und für ihr Engagement.
        Wir wollen die Bundeswehr als Arbeitgeber noch
        attraktiver machen. Die Agenda „Bundeswehr in Füh-
        rung“ und das Bundeswehrattraktivitätssteigerungs-
        gesetz waren wichtige Schritte. Das Unterhaltssiche-
        rungsgesetz ist nun der nächste Schritt. Es ist vor allem
        auf die Reservedienstleistenden zugeschnitten. Einzelne
        Verbesserungen betreffen auch die freiwillig Wehr-
        dienstleistenden. Die Kernidee bleibt erhalten: Den
        Dienstleistenden wird mindestens der Einkommensver-
        lust ausgeglichen. Doch der Reservedienst soll attrakti-
        ver gemacht werden. Dies wird unter anderem durch drei
        der Verbesserungen erreicht:
        Erstens. Die Mindestleistungen für Reservedienstleis-
        tende werden wesentlich erhöht: Die Vergütung wird an
        die Nettobesoldung von Soldatinnen und Soldaten glei-
        chen Dienstgrades angeglichen.
        Zweitens. Es wird ein Anreizsystem für die Reserve-
        dienstleistung geschaffen. Wer sich vorab verpflichtet, in
        einem Jahr mindestens 19 bzw. 33 Tage Reservisten-
        dienst zu leisten, erhält Zulagen.
        Drittens. Die Antragstellung wird vereinfacht: Die
        Kompetenzen werden zentral in der Bundeswehrverwal-
        tung gebündelt. Die Länder werden von dieser Aufgabe
        entlastet.
        Mit dem Unterhaltssicherungsgesetz wird der Reser-
        vedienst attraktiver. Ich bitte Sie um Ihre Unterstützung
        für den vorliegenden Gesetzentwurf.
        Dr. Fritz Felgentreu (SPD): Das Unterhaltssiche-
        rungsgesetz, das wir heute beschließen, regelt umfassend
        und neu die Versorgung von Reservedienstleistenden
        und von freiwillig Wehrdienstleistenden der Bundes-
        wehr sowie von deren Angehörigen.
        Wir nehmen mit diesem Gesetz die Dienstleistenden
        erstmals als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ernst.
        Das wird auch höchste Zeit. Denn mit dem Wegfall der
        Wehrpflicht ist Freiwilligkeit das Prinzip nicht nur für
        Zeit- und Berufssoldaten, sondern auch bei den Nachfol-
        geformen des Grundwehrdienstes und der Wehrübungen,
        also bei der freiwilligen und der Reservedienstleistung.
        Das USG ist zuletzt 1980 grundlegend novelliert wor-
        den. In seiner bisherigen Form geht es von der Wehr-
        pflicht aus. Die versorgungsrechtliche Gleichstellung der
        Wehrpflichtigen mit Zeit- und Berufssoldaten ist darin
        nicht vorgesehen. Eine Neufassung, die den Bedingun-
        gen der Freiwilligkeit gerecht wird, ist deshalb zwingend
        notwendig.
        Kerngedanke des neuen USG ist es, alle Soldatinnen
        und Soldaten entsprechend ihrem Dienstgrad gleich zu
        bezahlen, gleichgültig, in welchem Dienstverhältnis sie
        stehen. Die neuen Tagessätze führen dazu, dass das Net-
        toeinkommen von freiwillig Wehrdienstleistenden und
        Reservedienstleistenden dem von Zeit- und Berufssolda-
        ten generell entspricht. Reservisten, die im Zivilberuf ein
        höheres Einkommen haben, werden wie bisher für ihren
        Verdienstausfall entschädigt.
        Das neue USG ist zeitgemäß, fair und sozial. Die
        SPD-Fraktion hätte gerne noch die automatische Anpas-
        sung der Tagessätze an Tarifsteigerungen im öffentlichen
        10202 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015
        (A) (C)
        (D)(B)
        Dienst eingebaut, damit sich die Nettoeinkommen gar
        nicht erst wieder auseinanderentwickeln können. Wir
        werden diesen Punkt wieder ansprechen, wenn die Not-
        wendigkeit sich bestätigt. Insgesamt aber handelt es sich
        um ein gutes Gesetz, dem wir gerne zustimmen.
        Das neue USG dient ausschließlich den sozialen Inte-
        ressen der Dienstleistenden und ihrer Familien. Seine
        Ablehnung durch die Fraktion der Linken ist deshalb für
        uns nicht nachvollziehbar. Im Verteidigungsausschuss
        hat die Kollegin Buchholz die Position ihrer Fraktion da-
        mit begründet, dass das neue USG den Wehrdienst at-
        traktiver mache und daher abzulehnen sei.
        Die Logik dieser Begründung bedarf der Analyse. Die
        Linke will also keine attraktive Freiwilligenarmee. Die
        Wehrpflicht, unter der die Attraktivität des Dienstes
        möglicherweise zweitrangig bleiben kann, will sie aber
        auch nicht. Will die Linke also eine unattraktive Freiwil-
        ligenarmee? Das wäre ein Widerspruch in sich. Wenn
        die Linke die eigene Argumentation ernst meint, verbirgt
        sich dahinter folglich die vollständige Ablehnung militä-
        rischer Landesverteidigung. Das sollte die Linke dann
        aber auch so offen formulieren und sich nicht hinter ver-
        schwurbeltem Gerede über einzelne Gesetze verstecken.
        Dann können die Bürgerinnen und Bürger sich ein klares
        Urteil über das sicherheitspolitische Credo der Linken
        bilden.
        Vollends unverständlich wird die Haltung der Linken
        aus dem Blickwinkel der Familienpolitik. Das neue USG
        bezieht nämlich erstmals die gesellschaftlichen Verände-
        rungen mit ein, die seit 1980 dazu geführt haben, dass
        unsere Vorstellungen von Familie vielfältiger geworden
        sind. Nichteheliche Kinder, Lebenspartnerinnen und Le-
        benspartner werden im neuen USG als Angehörige von
        Dienstleistenden definiert, die selbstverständlich einen
        eigenen Anspruch auf Versorgung haben. Dass ausge-
        rechnet die Linke, die das Bekenntnis zur vollen Gleich-
        stellung gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften
        sonst immer lautstark proklamiert, ihre Unterstützung in
        dem Moment verweigert, in dem es sich um schwule und
        lesbische Soldatinnen und Soldaten handelt, lässt erheb-
        liche Zweifel an der allgemeinen Aufrichtigkeit ihrer
        Gleichstellungspolitik aufkommen. Für die SPD gibt es
        keine richtigen oder falschen Lebenspartnerschaften –
        alle verdienen die gleiche Anerkennung. Die Kollegin-
        nen und Kollegen der Linksfraktion bitte ich daher drin-
        gend, noch einmal zu prüfen, ob sie diesem guten Gesetz
        zusammen mit den anderen Fraktionen dieses Hauses
        nicht doch die angemessene Zustimmung geben sollten.
        Alle Dienstleistenden der Bundeswehr, alle, die diesen
        Soldatinnen und Soldaten für ihren Beitrag zur Landes-
        verteidigung verpflichtet sind, alle, die zwischen Le-
        benspartnerschaft und Familie keinen Unterschied ma-
        chen, und alle, denen die Rechte nichtehelich geborener
        Kinder am Herzen liegen, würden es ihnen danken.
        Christine Buchholz (DIE LINKE): Der vorliegende
        Gesetzentwurf der Bundesregierung soll zu einer Kon-
        zentration der Bearbeitung von Anträgen auf Leistungen
        durch Reservistinnen und Reservisten sowie von freiwil-
        ligen Wehrdienstleistenden bei einer vom Bund
        einzurichtenden Stelle führen. Grundsätzlich ist es
        begrüßenswert, wenn es durch Straffung administrativer
        Vorgänge zu einer Entlastung der Länder und einer ra-
        scheren Bearbeitung von Anträgen kommt.
        Dennoch lehnt die Linke diesen Gesetzentwurf ab.
        Wir sind der Auffassung, dass die von der Bundesregie-
        rung mit dem Gesetz angestrebte Förderung des Reserve-
        dienstes in die völlig falsche Richtung geht. Es handelt
        sich um den Versuch, in der Bundeswehr Personallöcher
        zu stopfen, die durch die unpopuläre Orientierung auf
        Auslandseinsätze entstanden sind. Reservisten sind
        längst Teil dieser offensiven Konzeption geworden.
        Viele wurden auch in Afghanistan eingesetzt.
        Die Förderung der Reserve leistet darüber hinaus der
        Militarisierung im Innern Vorschub. So können seit 2012
        Reservisten zum „Schutz kritischer Infrastruktur und bei
        innerem Notstand“ herangezogen werden. Das läuft auf
        den Waffeneinsatz im Innern gegen nichtmilitärische
        Ziele hinaus. Einer Reserve mit solchen politischen Vor-
        gaben darf nicht weiter gefördert werden.
        Der vorliegende Gesetzentwurf soll die soziale Situa-
        tion freiwilligen Wehrdienstleistender verbessern. Doch
        während zu Zeiten der Wehrpflicht Veränderungen für
        Soldaten immer auch zu analogen Veränderungen bei Zi-
        vildienstleistenden führten, ist dies heute nicht mehr der
        Fall.
        So werden diejenigen, die im Bundesfreiwilligen-
        dienst arbeiten, in dem Gesetzentwurf nicht berücksich-
        tigt. Dies, obgleich sie ohnehin schon stark benachteiligt
        sind. So erhalten freiwilligen Wehrdienstleistende am
        Ende ihrer Dienstzeit bis zu 1 146 Euro monatlich. Die-
        jenigen, die im zivilen Bundesfreiwilligendienst arbei-
        ten, höchstens 363 Euro. Eine solche Diskriminierung ist
        durch nichts zu rechtfertigen.
        Dieses Beispiel verdeutlicht, dass es der Bundesregie-
        rung mit dem vorliegenden Gesetzentwurf nicht um
        mehr soziale Gerechtigkeit, sondern um die Stärkung
        des Soldatentums in Deutschland geht.
        Diese grundlegende Schieflage macht den Gesetzent-
        wurf inakzeptabel, auch wenn er einzelne begrüßens-
        werte Aspekte enthält, wie die Gleichstellung von eheli-
        chen und nichtehelichen Partnerschaften hinsichtlich des
        Leistungsbezuges von freiwilligen Wehrdienstleisten-
        den.
        Im Übrigen hat die mangelnde Attraktivität des frei-
        willigen Wehrdienstes nichts mit den Fragen der Vergü-
        tung zu tun. Die Tatsache, dass über 25 Prozent der frei-
        willigen Wehrdienstleistenden innerhalb der ersten sechs
        Monate abbrechen, ist Ergebnis des Widerspruchs zwi-
        schen militärischer Realität und der Schweinwelt, die die
        Bundeswehr den jungen Menschen in Werbeshows und
        Adventure-Camps vorspielt.
        Die Linke lehnt es ab, Reservistinnen und Reservisten
        sowie Freiwillige in eine Armee zu rekrutieren, für die
        es – wenn es nach dem Willen der Verteidigungsministe-
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10203
        (A) (C)
        (D)(B)
        rin geht – keine räumliche und qualitative Grenze mehr
        gibt.
        Dr. Tobias Lindner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        Nach den Beratungen in den Ausschüssen debattieren
        wir nun abschließend das Gesetz zur Neuregelung der
        Unterhaltssicherung sowie zur Änderung soldatenrecht-
        licher Vorschriften. Es geht in diesem Gesetzentwurf da-
        rum, die Leistungen, die Reservedienstleistende, freiwil-
        ligen Wehrdienstleistende und deren Angehörige
        erhalten, an die heutigen Rahmenbedingungen anzupas-
        sen und zu erhöhen, sie klarer zu strukturieren, deren
        Verwaltung zu zentralisieren und die Antragsverfahren
        zu vereinfachen. Das damit verfolgte Ziel, dass freiwillig
        Dienende eine angemessene Entlohnung erhalten und
        dass ihr Unterhalt während des vorübergehenden Diens-
        tes für die Bundeswehr gesichert ist, unterstützen wir
        ausdrücklich. Wer einen freiwilligen Dienst leistet, soll
        eine angemessene Vergütung und Versorgung erhalten.
        Die Anhebung der Mindestsätze der Unterhaltssiche-
        rung führt dazu, dass Reservedienstleistende für die Zeit,
        in der sie einen Dienst leisten, auch eine Vergütung er-
        halten, die dem Einkommen eines Soldaten und einer
        Soldatin gleichen Ranges nahekommt. Dies ist ein wich-
        tiger Schritt hin zu dem Grundsatz, dass gleiches Geld
        für gleiche Leistung gezahlt wird. Wer im zivilen Beruf
        ein höheres Einkommen erhält, bekommt im Rahmen
        der Höchstsätze eine höhere Entschädigung durch die
        Unterhaltssicherung gezahlt. Das ist wichtig, wenn man
        Menschen für diesen Dienst auch neben ihrer zivilen
        Karriere gewinnen möchte. Ein signifikanter Verdienst-
        ausfall würde sicherlich viele davon abhalten, sich als
        Reservist oder Reservistin zu engagieren. So macht auch
        die Logik der Entschädigung für Verdienstausfälle aus
        unserer Sicht weiterhin Sinn.
        Die Attraktivität der freiwilligen Dienste in der Bun-
        deswehr ergibt sich nicht nur aus der Höhe der Unter-
        haltssicherungssätze. In der ersten Lesung hatte ich be-
        reits darauf hingewiesen, dass Attraktivität vor allem
        auch eine qualitative Frage ist. Freiwillige Wehrdienst-
        leistende müssen einen klaren Mehrwert in ihrem Dienst
        erfahren. Gleiches gilt für Reservistinnen und Reservis-
        ten, die sich im Rahmen von Reservedienstleistungen,
        auf beorderten Dienstposten oder im Rahmen der frei-
        willigen Reservistenarbeit engagieren. Der Aufwand,
        der hier betrieben wird, muss sich auch für die Bundes-
        wehr rechnen. Die Umsetzung der Konzeption der Re-
        serve muss aus unserer Sicht regelmäßig evaluiert wer-
        den. Auch hier im Bundestag sollten wir uns regelmäßig
        mit der Frage auseinandersetzen, ob die Reserve ihrem
        Auftrag, den ihr die Konzeption der Reserve gibt, ge-
        recht wird. Wir sollten ein Auge darauf haben, dass das
        Geld und der Aufwand, der betrieben wird, auch zu ei-
        nem angemessenen Output führt. Dazu bedarf es funk-
        tionierender Strukturen und Prozesse, die realistische
        Ziele verfolgen. Diese müssen regelmäßig überprüft
        werden.
        Da wir diesen Gesetzentwurf zum jetzigen Zeitpunkt
        für einen richtigen und wichtigen Schritt halten, stim-
        men wir ihm zu.
        Anlage 4
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
        Berichts zu den Anträgen:
        – Für ein internationales Staateninsolvenz-
        verfahren
        – Resolution der Vereinten Nationen für ein
        multilaterales Rahmenwerk zur Restruktu-
        rierung von Staatsschulden umsetzen – Jetzt
        aktiv den Arbeitsprozess der Vereinten
        Nationen mitgestalten
        (Tagesordnungspunkt 19)
        Dr. Heribert Hirte (CDU/CSU): Auch Staaten kön-
        nen pleitegehen – und dafür brauchen wir gar nicht auf
        Griechenland zu schauen, das seit Jahren in besonderer
        Weise im Rampenlicht steht. Deutschland hat diese
        Erfahrung schon mehrfach gemacht, Argentinien war ein
        prominentes Beispiel der jüngeren Zeit, und vor allem in
        den – kapitalistischen! – Vereinigten Staaten von Ame-
        rika ist die Insolvenz von Einzelstaaten und vor allem
        Gemeinden nicht selten – und selbst der Bundesstaat
        USA stand im letzten Jahr ebenfalls am Rande der Zah-
        lungsunfähigkeit. Was aber bei Staaten anders ist als bei
        „normalen“ Schuldnern und insbesondere Unternehmen:
        Es gibt kein geordnetes und allseits akzeptiertes Verfah-
        ren, in dem eine solche Insolvenz abgewickelt werden
        könnte.
        Bevor wir die Frage näher beleuchten, ob ein solches
        Verfahren auch für Staaten möglich oder sinnvoll ist,
        sollte man sich aber erst noch einmal vor Augen führen,
        was ein Insolvenzverfahren eigentlich will. Drei Ziele
        stehen im Vordergrund: Einmal sollen die Gläubiger ei-
        nes Schuldners gemeinschaftlich befriedigt werden,
        wenn und weil das Unternehmen seine Verbindlichkeiten
        nicht mehr bedienen kann. Das bedeutet: Alle Gläubiger
        sitzen vor dem Hintergrund begrenzter Mittel in einem
        Boot und müssen gleichermaßen eine Kürzung ihrer For-
        derungen gewärtigen. Zum Zweiten bedeutet dies, dass
        der Schuldner vor der Inanspruchnahme durch einzelne
        Gläubiger nach dem Windhundprinzip – wer zuerst
        kommt, mahlt zuerst – geschützt ist. Und drittens soll
        dies – wie heute zu Recht immer häufiger betont wird –
        dazu beitragen, dass der Schuldner saniert wird und an-
        schließend, typischerweise nach erheblichen Umstruktu-
        rierungsmaßnahmen, wieder am Wirtschaftsverkehr teil-
        nehmen kann.
        Vorsorglich sei aber auch klargestellt, was ein Insol-
        venzverfahren nicht soll: Weder soll es dem Schuldner
        eine einseitige, unkontrollierte Möglichkeit geben, sich
        seinen Zahlungspflichten zu entziehen, noch kommt ein
        Insolvenzverfahren in Betracht, wenn der Schuldner
        bloß zahlungsunwillig – und nicht zahlungsunfähig – ist,
        insbesondere, weil er sich einiger, besonders unliebsa-
        mer Schulden entziehen möchte. Und schließlich ist mit
        einem Insolvenzverfahren auch nicht zwingend verbun-
        den, dass der Schuldner bzw. seine Organe das Ruder
        10204 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015
        (A) (C)
        (D)(B)
        aus der Hand geben müssen. Im privaten Insolvenzver-
        fahren nennt man dies „Eigenverwaltung“.
        Ist dies alles bei einem Staat als Schuldner anders?
        Die einfache Antwort lautet: Nein! Allerdings fragt es
        sich dann natürlich, warum es ein Insolvenzverfahren,
        wie es seit Jahrhunderten für private Unternehmer üblich
        ist, für Staaten nicht gibt. Die Antwort ist recht einfach:
        Denn es müsste in völkerrechtlich verbindlicher Weise
        vorab zwischen eben diesen Staaten verabredet werden.
        Und da glauben die Staaten natürlich, dass eine einsei-
        tige Interessendurchsetzung oder eine solche in wech-
        selnden Allianzen mehr Chancen bietet als die Unter-
        werfung unter verbindliche Regeln: So ist es natürlich
        charmant, einseitig zu versuchen, seine Zahlungsunfä-
        higkeit zu erklären und auf ein Einsehen der Gläubiger
        zu hoffen, wie dies Argentinien getan hat – und wie es
        jetzt von Griechenland versucht wird. Umgekehrt glaubt
        jeder Staat im Zweifel für sich, dass er seine Forderun-
        gen oder die seiner Staatsbürger im Falle der Insolvenz
        eines anderen Staates besser – sprich mit einer höheren
        Quote – durchsetzen kann, als andere Staaten dies
        können. Attraktiv ist es auch, einen Gerichtsstandort
        – auch für Schiedsgerichte – vorzuhalten, an dem ein
        solch besserer Schnitt möglich ist.
        Aber: Jedenfalls in einem System, das wie die Euro-
        päische Union als Rechtsgemeinschaft angelegt ist, soll-
        ten solche Möglichkeiten des Trittbrettfahrens ausge-
        schlossen sein – wie dies etwa auch in den Vereinigten
        Staaten von Amerika der Fall ist. Das mit den beiden
        Oppositionsanträgen verfolgte Ziel ist daher durchaus
        dem Grunde nach berechtigt. Wir sollten in der Tat einen
        staatlichen Rahmen schaffen, der die Insolvenz eines
        Staates in einem geordneten staatlichen Verfahren er-
        möglicht. Das würde zum Beispiel für einen EU-Staat
        zugleich die Möglichkeit begründen, trotz eines Schul-
        denschnitts in der Währungsunion zu verbleiben, würde
        aber – vor allem – den Gläubigern bei ihrer Kreditver-
        gabe an Staaten auch abverlangen, zu beurteilen, mit
        welcher Wahrscheinlichkeit denn der Staat seine Ver-
        bindlichkeiten zurückzahlen kann. Die auch formale
        Einführung der Möglichkeit eines Insolvenzverfahrens
        führt möglicherweise auch bei gut gerateten Staaten
        dazu, dass – allein wegen der theoretischen Möglichkeit
        einer Insolvenz – höhere Refinanzierungskosten entste-
        hen; das gilt es gegen das Ausfallrisiko bei den Forde-
        rungen gegen andere, weniger solvente Staaten abzuwä-
        gen.
        Aber – und deshalb werden wir Ihre Anträge ableh-
        nen –: Dieser Rahmen kann – soweit es sich um Staaten
        des Euro-Raumes handelt – wegen des Zusammenhangs
        mit der Währungsunion nur im europäischen Recht lie-
        gen. Das schließt einen weitergehenden, internationalen
        Rahmen nicht aus, würde aber einen Konsens über die
        dabei erforderlichen Rahmenbedingungen voraussetzen,
        den ich nicht sehe.
        Zweitens muss der betreffende Staat zahlungsunfähig
        sein: Da wird man bei der Schuldenlast schon genauer
        hinschauen müssen. Denn allein, dass Schulden unbe-
        quem sind, macht sie nicht belastend und heißt noch
        nicht, dass sie zur Wiederherstellung der Schuldentrag-
        fähigkeit beschnitten werden müssen. Schulden wie die-
        jenigen Griechenlands, die praktisch weder bedient noch
        verzinst werden müssen, müssen auch nicht – weiter –
        beschnitten werden, und schon gar nicht, um neue Schul-
        den machen zu können. Wer andererseits die Einnah-
        men, vor allem in Form von Steuern, – bewusst – gering
        hält und die Ausgaben nach oben schraubt, kann auch in
        einem Insolvenzverfahren für Staaten nicht auf Gnade
        seiner Gläubiger hoffen. Es gibt hier eben anders als bei
        der Unternehmensinsolvenz keine klar feststehende In-
        solvenzmasse. Und vor allem: Ein Insolvenzverfahren
        für Staaten muss auf eine Gleichbehandlung aller Gläu-
        bigerforderungen ausgerichtet sein – und nicht, wie
        beide Oppositionsanträge dies tun, zwischen guten und
        schlechten Forderungen unterscheiden: Wenn Sie auf der
        einen Seite die Forderungen von bösen Hegdefonds un-
        ter Verweis auf den Gleichbehandlungsgrundsatz be-
        schneiden wollen, andererseits aber weitere Forderungen
        unter Beteiligung einer breiten Öffentlichkeit vollständig
        aus dem von Ihnen angedachten staatlichen Insolvenz-
        verfahren ausklammern wollen, führen Sie genau die
        Differenzierung wieder ein, die Sie eigentlich vermeiden
        wollen. Es ist – das sei in diesem Zusammenhang dann
        auch gesagt – auch nicht so, dass die Durchsetzung sol-
        cher Forderungen vor privaten Schiedsgerichten leichter
        möglich ist als vor staatlichen Gerichten. Denn erst vor
        wenigen Wochen hat der deutsche Bundesgerichtshof
        unter ausdrücklicher Bezugnahme auf das Bundesverfas-
        sungsgericht festgestellt, dass Forderungen aus argenti-
        nischen Staatsanleihen auch in Deutschland durchsetz-
        bar sind.
        Was ist die Alternative? Ich habe es vor einigen Tagen
        in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gesagt: Es liegt
        nahe, ein Resolvenzverfahren in der Euro-Zone in der
        Weise einzurichten, dass durch geringfügige Änderun-
        gen des ESM-Vertrages ein Resolvenzgericht in Paral-
        lele zum ESM und unter Einbindung in die vorhandene
        Finanzarchitektur des europäischen Krisenbewältigungs-
        mechanismus geschaffen wird. Zweck eines solchen
        mehr die Verhandlungen zwischen Schuldnerstaat und
        Gläubigern beaufsichtigenden als Streitigkeiten zwi-
        schen ihnen entscheidenden Gerichts wäre, künftig
        Handlungsungewissheiten und Handlungsunsicherheiten
        wie im Falle Griechenlands seit 2010 von vornherein zu
        unterbinden. Dieses Gericht würde eine Verfahrensord-
        nung erhalten, in der sämtliche Schritte von der Stellung
        eines Antrags über die Verhandlungen zwischen Schuld-
        ner und Gläubiger bis schließlich hin zur Abstimmung
        über das Verhandlungsergebnis sowie zur Umsetzung
        der wechselseitigen Verpflichtungen vorgeschrieben wä-
        ren. Darauf könnten sich sämtliche Betroffenen schon
        von Anbeginn an vorbereiten; für Transparenz wäre also
        gesorgt.
        Festgehalten werden sollte aber auch: Eine solche
        Regelung wäre neben der gerade eingeführten Banken-
        union ein – weiterer – Schritt zur Beseitigung von Sys-
        temfehlern in der Euro-Zone. Dass sie nicht den fehlen-
        den Gleichlauf von Währungs- und Wirtschaftspolitik
        herzustellen vermag, liegt auf der Hand.
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10205
        (A) (C)
        (D)(B)
        Bettina Kudla (CDU/CSU): Die Fraktion Die Linke
        und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen haben für ein
        internationales Staateninsolvenzverfahren jeweils einen
        Antrag vorgelegt. In den Anträgen fordern sie, dass die
        Bundesregierung sich aktiv in die Beratungen der G-77-
        Staaten bei der UN für ein Staateninsolvenzverfahren
        einsetzen möge.
        Die Linke bezieht sich dabei auf eine im September
        2014 verabschiedete Resolution der Generalversamm-
        lung der Vereinten Nationen, in der sich der Staatenbund
        auf die Einrichtung eines Insolvenzverfahrens für über-
        schuldete Staaten festgelegt hatte. Elf Staaten, darunter
        Deutschland, hatten gegen die Resolution gestimmt. Die
        Bundesregierung hat den Prozess in den Vereinten Na-
        tionen zur Einrichtung eines Staateninsolvenzverfahrens
        konstruktiv begleitet, aber im Ergebnis zuletzt auch ge-
        gen die sogenannte Modalitätenresolution gestimmt.
        Diese Resolution wurde vonseiten der Europäischen
        Union konstruktiv verhandelt, letztendlich lehnten aber
        alle EU-Mitgliedstaaten ein formelles, rechtsverbindli-
        ches Staateninsolvenzverfahren ab.
        Die bestehenden Verfahren im Pariser Club und im
        IWF zum Thema Schuldenentlastung von Ländern mit
        entsprechendem Bedarf haben sich bewährt. Ein Verfah-
        ren mit einem für alle Beteiligten, also auch für alle
        Gläubiger, bindenden Schiedsspruch ist problematisch.
        Ein derartiges, formelles Staateninsolvenzverfahren er-
        scheint unverändert verfassungsrechtlich und politisch
        nicht realisierbar. Insbesondere wären grundlegende par-
        lamentarische Budgetrechte beeinträchtigt.
        Die Insolvenz eines Staates hat stets gravierende Fol-
        gen und ist häufig auch nicht die Lösung wirtschaftlicher
        Probleme. Laut einer Statistik des IWF gab es seit dem
        Jahr 1980 allein 90 Insolvenzen von 73 Staaten, einige
        Staaten sind demnach mehrfach insolvent geworden. Der
        Staat Chile war siebenmal insolvent, Brasilien sechsmal
        und Argentinien fünfmal. Eine erneute Insolvenz binnen
        so kurzer Zeit zeigt, dass weder die finanziellen noch
        volkswirtschaftlichen Probleme dieses Landes durch
        eine Staateninsolvenz gelöst wurden. Oberstes politi-
        sches Ziel muss es daher immer sein, der Überschuldung
        eines Staates vorzubeugen. Ein Staat muss ein verlässli-
        cher Partner für Bürger und Unternehmer sein. Gute
        Handelsbeziehungen und Investitionen mit bzw. in ei-
        nem Staat hängen wesentlich davon ab, ob in dem Staat
        verlässliche rechtliche, wirtschaftliche und finanzielle
        Rahmenbedingen herrschen. Wirtschaftliche Probleme
        in Entwicklungsländern beruhen häufig nicht auf fehlen-
        den finanziellen Möglichkeiten, sondern auf strukturel-
        len Problemen.
        Die Finanzierungen eines Staates hängen wesentlich
        von dessen Kapitalmarktfähigkeit ab. Die Finanzierung
        über Staatsanleihen wird erheblich eingeschränkt, wenn
        aufgrund eines drohenden Insolvenzverfahrens mit ei-
        nem Ausfall der Staatsanleihen zu rechnen ist. Die Anle-
        ger müssen sich auf Zusagen eines Staates verlassen
        können. Unberührt bleibt davon die Möglichkeit, dass
        wohlhabende Staaten individuelle Schuldenerlasse ge-
        genüber überschuldeten Staaten aussprechen. Dabei ist
        jedoch immer zu berücksichtigen, dass ein Schuldener-
        lass auch kontraproduktiv wirken kann und die wirt-
        schaftlichen Möglichkeiten des betroffenen Staates auf-
        grund eines Vertrauensverlustes einschränkt.
        Es muss rechtzeitig vorgebeugt werden, dass Staaten
        nicht in eine Überschuldung geraten. Der Kontrolle
        durch das Parlament kommt eine zentrale Aufgabe zu.
        Die mittlerweile in unserem Grundgesetz auf Betreiben
        der CDU/CSU-Fraktion verankerte Schuldenbremse hat
        eine 40-jährige Entwicklung einer Anhäufung von
        Staatsschulden gestoppt und zur Trendumkehr gebracht.
        Für die Bundesrepublik Deutschland gilt, dass es we-
        sentlich ist, dass nun auch die Bundesländer bis zum
        Jahr 2020 die Schuldenbremse einhalten und bereits
        heute die Weichen für die Einhaltung der Schulden-
        bremse stellen. Nur ein wirtschaftlich gesunder Staat hat
        entsprechende Möglichkeiten, über eine zielgerichtete
        Entwicklungshilfe die Lage in wirtschaftlich schwäche-
        ren und damit häufig überschuldeten Ländern zu verbes-
        sern.
        Was ist nun der Unterschied zwischen den Insolvenz-
        verfahren des IWF und eines Insolvenzverfahrens durch
        die UN? Ein Insolvenzverfahren in Anlehnung an den
        IWF bleibt für staatliche wie für private Gläubiger im
        Kern freiwillig. Es gibt kein einheitliches Umschul-
        dungsforum. Die staatlichen Gläubiger verhandeln im
        Pariser Club, die privaten Gläubiger im Londoner Club.
        Beide Clubs sind Plattformen für Gespräche über den
        weiteren Umgang mit den Staatsschulden. Dem IWF
        fällt eine Katalysatorfunktion zu. Die Bereitschaftserklä-
        rung des Schuldnerstaates zur Vornahme der notwendi-
        gen Reformen („Letter of Intent“) ist nicht nur Bedin-
        gung für den Abschluss eines Standby-Abkommens
        zwischen IWF und Schuldnerstaat, sondern mit seinem
        positiven Votum zum Stabilisierungsprogramm signali-
        siert der IWF den im Pariser Club vereinigten Gläubi-
        gern den ernsthaften Reformwillen des Schuldnerstaates
        und gibt damit das Signal für den Beginn der Umschul-
        dungsverhandlungen. Ich halte dieses Verfahren für die
        Gläubiger für sicher und für fair und transparent.
        Bei einem Insolvenzverfahren auf Beschluss der Ver-
        einten Nationen würde politisch weitgehend in die
        Rechte der Gläubiger der Staatsschulden und auch in die
        Rechte von Parlamenten eingegriffen werden.
        Gleichwohl bedarf es einer Regelung, falls es tatsäch-
        lich zu einer Insolvenz kommt, damit die Gläubiger best-
        möglich geschützt werden. Die sogenannten Collective
        Action Clauses, CAC-Klauseln, regeln in den Anleihe-
        bedingungen von Staatsanleihen, dass im Falle der Insol-
        venz eines Staates die Gläubiger nach einem bestimmten
        Mehrheitsverfahren entscheiden können. Dies hat den
        Vorteil, dass die Sanierung eines Staates nicht durch ei-
        nige wenige Gläubiger blockiert werden kann.
        Die Bundesregierung setzt daher zu Recht auf die be-
        stehenden Staateninsolvenzverfahren im Pariser Club
        wie auch im IWF mit Unterstützung der Weltbank. Eine
        Verlagerung dieser Verfahren, weg vom Internationalen
        Währungsfonds zu den Vereinten Nationen ist nicht
        zwangsläufig erfolgreich. Auf die wirtschaftlichen Mög-
        lichkeiten der Weltbank zur Leistung von Aufbauhilfe
        möchte ich hinweisen. Zu beachten ist, dass das Verfah-
        10206 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015
        (A) (C)
        (D)(B)
        ren bei den Institutionen bleiben sollte, die es auch er-
        folgreich durchführen können.
        Ein formelles Staateninsolvenzverfahren der Verein-
        ten Nationen wird seitens der Bundesregierung kritisch
        gesehen; dies entspricht auch der Haltung der EU-Staa-
        ten. Die Anträge sind daher abzulehnen. Ich begrüße,
        dass durch die IWF-Empfehlungen zu Collective Action
        Clauses, CACs, in Staatsanleihen deren verbreitetere
        Anwendung ermöglicht und vorangetrieben wird. Auf
        diesen IWF-Arbeiten sollte weiter aufgebaut werden.
        Manfred Zöllmer (SPD): Wie lange sollte man ein
        totes Pferd reiten? Diese Frage stellt sich, weil die Ver-
        einten Nationen nach wie vor versuchen, auf Initiative
        von Bolivien ein formelles, rechtsverbindliches Staaten-
        insolvenzverfahren zu entwickeln. Dieser Prozess wurde
        gegen die Stimmen der EU-Mitgliedstaaten eingeleitet.
        Hintergrund der Resolution ist eigentlich ein juristi-
        scher Konflikt Argentiniens mit einem New Yorker
        Hedgefonds. Infolge der Insolvenz des Landes im De-
        zember 2001 führte die Regierung in Buenos Aires in
        den Jahren 2005 und 2010 große Umschuldungsrunden
        durch. Inhaber von argentinischen Staatsanleihen sollten
        neue Wertpapiere mit veränderten Konditionen erhalten.
        Über 90 Prozent nahmen damals das Angebot an, ob-
        wohl das einen Abschlag von durchschnittlich 50 Pro-
        zent der ursprünglichen Forderungen bedeutete. Einige
        Hedgefonds zogen jedoch vor Gericht. Ein US-Gericht
        verurteilte die Regierung in Buenos Aires dazu, dem
        Hedgefonds NML Capital und Aurelius 1,47 Milliarden
        US-Dollar – rund 1,1 Milliarden Euro – auszuzahlen.
        Der Rechtsstreit wird in den USA ausgetragen, weil ar-
        gentinische Anleihen unter amerikanischem Recht und
        in US-Dollar begeben wurden.
        Aber auch der deutsche Bundesgerichtshof gab im
        Februar dieses Jahres deutschen Anlegern gegen Argen-
        tinien Recht, die gegen die Umschuldungsstrategie Ar-
        gentiniens geklagt hatten. Argentinien hatte die Zahlung
        seiner Schulden auch in diesem Prozess verweigert und
        berief sich zum einen darauf, dass die Mehrheit der
        Gläubiger damals der Umschuldung zugestimmt habe.
        Zudem gebe es mittlerweile quasi eine völkerrechtliche
        Gewohnheit, zum Beispiel mit Verweis auf die Rettung
        des Euro-Landes Griechenland und den damit verbunde-
        nen Schuldenschnitt.
        Doch der BGH sieht dies anders: Kein völkerrechtli-
        cher Grundsatz berechtigt ein Land dazu, die Zahlung
        fälliger Schulden wegen eines finanziellen Staatsnot-
        standes oder einer freiwilligen Umschuldung der Gläubi-
        germehrheit zeitweise zu verweigern. Auch aus der
        Weltfinanzmarktkrise und der Rettung Griechenlands sei
        eine derartige völkerrechtliche Regel nicht entstanden.
        Die Initiatoren des Beschlusses der Vereinten Natio-
        nen hatten die massiven inhaltlichen und prozeduralen
        Bedenken vieler Länder einfach ignoriert und einen Be-
        schluss in der Vollversammlung der Vereinten Nationen
        gegen diese Bedenken mehrheitlich durchgesetzt. Mit
        der Bildung eines sogenannten Ad-hoc-Ausschusses
        wollte man in drei Sitzungen einen förmlichen verbindli-
        chen Schuldenumstrukturierungsmechanismus beschlie-
        ßen.
        Deutschland hat sich immer für sinnvolle Regelungen
        im Falle einer Staateninsolvenz eingesetzt. Hierfür ist
        aber ein ergebnisoffener, konsensorientierter Prozess
        notwendig, der natürlich auch die Gläubiger mit ein-
        schließen muss. Dies war hier nicht der Fall. Deutsch-
        land hat daher gegen die Resolution gestimmt und sich
        nicht an der Arbeitsgruppe beteiligt.
        Wir bedauern diese Entwicklung, denn die weltweite
        Verschuldung befindet sich auf einem neuen Höchst-
        stand. Es ist mehr als sinnvoll, sich damit auseinanderzu-
        setzen. Aber dieser Prozess muss anders laufen.
        Ein weiterer Kritikpunkt an der Initiative ist die For-
        derung der völkerrechtlichen Anerkennung eines Schieds-
        gerichts, das verbindliche Entscheidungen im Rahmen
        einer Schuldenrestrukturierung treffen soll.
        In den vorliegenden Anträgen der Fraktionen Die
        Linke und der Grünen wird eine solche Forderung nach-
        drücklich unterstützt. Damit würden haushaltsrelevante
        Fragen auf eine Institution, die keiner parlamentarischen
        Kontrolle des Bundestages unterliegt, verlagert. Eine
        solche Forderung ist für uns aus politischen und verfas-
        sungsrechtlichen Gründen nicht akzeptabel. Wenn Linke
        und Grüne in handelsrechtlichen Fragen bei der Diskus-
        sion um TTIP Schiedsgerichte entschieden ablehnen,
        hier aber vehement fordern, dann ist dies nicht nachzu-
        vollziehen.
        Ein Großteil der Staatsanleihen und weiterer Wertpa-
        piere wird unter der Gerichtsbarkeit der großen interna-
        tionalen Finanzmarktplätze USA und Großbritannien be-
        geben. Ein Verfahren, welches diese Akteure nicht mit
        einbezieht, ist im Ansatz nicht zielführend. Es war der
        Kardinalfehler dieser Initiative, die Interessen der Gläu-
        bigerländer nicht zu berücksichtigen. Ein Durchmarsch
        mit einer Resolution bei den Vereinten Nationen hilft
        nicht, die Probleme real zu lösen. Eine Verständigung
        kann es nur geben, wenn es einen fairen und transparen-
        ten Prozess unter Einbeziehung der angesprochenen In-
        stitutionen und der Gläubiger gibt. Ein solcher ergebnis-
        offener Prozess findet jederzeit unsere Unterstützung.
        Deutschland hat sich an der gemeinsamen EU-Hal-
        tung orientiert. Wir unterstützen die IWF-Empfehlungen
        zu den Collective Action Clauses, CAC. Diese Umschul-
        dungsklauseln in Staatsanleihen müssen weiterentwi-
        ckelt werden, und dieser Prozess muss vorangetrieben
        werden. Die CAC sind gerade nach der Staateninsolvenz
        Argentiniens eingeführt worden. Das Anliegen ist, staat-
        liche Schuldenkrisen kontrolliert abwickeln zu können,
        wenn von großen institutionellen Investoren, Bankkon-
        sortien bis hin zu weltweit verstreuten privaten Anleihe-
        gläubigern die Gläubigerinteressen global und kleinteilig
        verteilt sind. Denn häufig waren wenige nicht zustim-
        mende Anleihegläubiger der Grund dafür, dass ein
        Schuldnerstaat an der Durchsetzung einer von der Mehr-
        heit gebilligten Restrukturierung durch eine ablehnende
        Minderheit gehindert war. Wir sprechen hier vom
        „Holdout-Problem“.
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10207
        (A) (C)
        (D)(B)
        Solche Klauseln erleichtern Schuldenrestrukturierun-
        gen und helfen damit bei der Krisenbewältigung. Die
        Bundesregierung setzt sich deshalb beim IWF dafür ein,
        die Arbeiten im Bereich vertraglicher Anleiheklauseln
        fortzusetzen. Ohne eine enge Beteiligung von IWF, Pari-
        ser Club und eine Berücksichtigung der laufenden
        Verhandlungen zur Vorbereitung der Financing-for-
        Development-Konferenz im Juli 2015 kann es keine
        Verständigung auf ein Schuldenumstrukturierungsver-
        fahren geben.
        Letztlich wird der Aspekt der Schuldenprävention
        von der UN-Initiative leider völlig vernachlässigt. Kre-
        ditgeber und Kreditnehmer sollten nur im Rahmen der
        Schuldentragfähigkeit, wie sie im Rahmenwerk von
        IWF und Weltbank definiert ist, handeln, um übermä-
        ßige Verschuldung zu verhindern.
        Das laufende Verfahren, wie es in den Anträgen der
        Opposition gelobt wird, wird zu keinem befriedigenden
        Ergebnis führen. Die Opposition setzt auf das falsche
        Pferd. Dieses Pferd ist tot, damit kommen wir leider
        nicht ans Ziel. Deshalb sollte man rechtzeitig absteigen.
        Niema Movassat (DIE LINKE): Eines liegt doch
        klar auf der Hand: Die Welt braucht ein geregeltes und
        unabhängiges Insolvenzverfahren für überschuldete
        Staaten. Im September 2014 hat die Generalversamm-
        lung der Vereinten Nationen mit überwältigender Mehr-
        heit beschlossen, ein multilaterales Rahmenwerk zur Re-
        strukturierung von Staatsschulden einzurichten. Diese
        Resolution wurde von Bolivien im Namen der Gruppe
        der 77 und Chinas eingebracht – also von den Ländern,
        die mehrheitlich am extremsten unter den Schulden-
        krisen der letzten 30 Jahre zu leiden hatten. Es ist mehr
        als beschämend, dass Deutschland zur kleinen Minder-
        heit von elf Staaten gehört, die gegen diese Resolution
        gestimmt haben. Die Begründung, die die Bundesregie-
        rung für ihr Abstimmungsverhalten gab, ist mehr als
        kleinlich: Der Vorstoß der G-77-Staaten sei nicht mit den
        großen Gläubigerländern abgestimmt gewesen.
        Das sagt ausgerechnet ein Mitgliedsland der G 7,
        einem Bündnis, das meint, über globale Menschheits-
        fragen in einem exklusiven Zirkel entscheiden zu kön-
        nen – vorbei an den Vereinten Nationen und ohne dass
        man sich je groß darum scherte, ob diese Beschlüsse
        vorher mit anderen betroffenen Staaten abgestimmt
        wären oder nicht. Partizipation hatte für den Westen,
        diesem Club ehemaliger Kolonialmächte, noch einen
        besonders hohen Stellenwert.
        Zurück zur Sache: Die Überschuldung von Staaten
        hat sich als entscheidendes Hindernis für ihre selbst-
        bestimmte wirtschaftliche und soziale Entwicklung er-
        wiesen. Im Schuldendienst werden Mittel gebunden, die
        dann für Investitionen in Bildung, Gesundheit und Infra-
        struktur fehlen.
        Schuldenpolitik war immer auch schon Machtpolitik.
        Da werden Schulden als koloniales Instrument einge-
        setzt, um alte Abhängigkeits- und Ausbeutungsverhält-
        nisse aufrechtzuerhalten oder neu zu erlangen. Viele die-
        ser Schulden müssen wir zudem als illegitim bewerten.
        Der globale Süden hat also genügend Gründe, um ge-
        nug von geberdominierten Verfahren zu haben. Multi-
        laterale Geberprogramme wie die HIPC-Initiative waren
        hochgradig ineffizient und sind gescheitert. Fast ein
        Drittel der 30 Staaten, die diese Verfahren durchlaufen
        haben, weisen schon jetzt erneut ein hohes Überschul-
        dungsrisiko auf.
        Ein Grund dafür ist, dass neben Staaten auf der Ge-
        berseite auch immer aggressivere und verantwortungs-
        losere private Spekulanten auftreten. Das jüngste Bei-
        spiel Argentinien zeigt dies überdeutlich. Hier droht ein
        skrupelloser Hedgefonds einen ganzen Staat durch seine
        kompromisslose Haltung im Umschuldungsprozess er-
        neut an den Rand des Ruins zu treiben.
        Wenn wir nicht jetzt zu einem verlässlichen, fairen
        und effizienten Verfahren finden, das künftig für alle
        Gläubiger verbindlich ist und die Bedürfnisse des
        Schuldnerstaats angemessen berücksichtigt, sind die
        nächsten Krisen schon vorprogrammiert. Diese haben
        dann – wie fast immer – die Ärmsten der Armen auszu-
        baden. Länder werden um Jahrzehnte in ihrer Entwick-
        lung zurückgeworfen.
        Die Linke fordert die Bundesregierung auf, einzulen-
        ken und den weiteren Prozess in den Vereinten Nationen
        zur Einrichtung eines fairen, partizipativen und trans-
        parenten Staateninsolvenzverfahrens nicht weiter zu blo-
        ckieren, sondern konstruktiv zu unterstützen.
        Ein solches muss einen für alle Gläubiger bindenden
        Beschluss eines unabhängigen Schiedsverfahrens, das
        die Schuldenlast auf ein tragfähiges Niveau senkt, ge-
        währleisten. Vorrang vor den Ansprüchen der Gläubiger
        muss die Sicherstellung eines Existenzminimums der
        Bevölkerung im Sinne der sozialen, wirtschaftlichen und
        kulturellen Menschenrechte haben. Um dies sicherzu-
        stellen und auch um die Legitimität der Schulden zu
        überprüfen, braucht es einen Audit-Prozess unter Betei-
        ligung einer möglichst breiten Öffentlichkeit.
        2013 ist Norwegen mit gutem Beispiel vorangegan-
        gen und hat als erster Geberstaat einen Bericht über die
        Legitimität von Staatsschulden vorgelegt und in der
        Folge auch als illegitim erkannte Schulden erlassen.
        Denn auch Gläubiger haben eine besondere Verantwor-
        tung bei der Vergabe von Krediten. Norwegen hat sich
        hierbei an den UNCTAD-Prinzipien für eine verantwor-
        tungsvolle Kreditvergabe, die auch Deutschland unter-
        stützt, orientiert.
        Strukturelle Probleme brauchen strukturelle Verände-
        rungen. Auch die Bundesregierung darf sich dem nicht
        verweigern.
        Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es
        gibt zwei gute und zwei schlechte Nachrichten; die guten
        zuerst:
        Erstens. Es gibt eine neue Initiative in den Vereinten
        Nationen zur Schaffung eines fairen und transparenten
        Entschuldungsverfahrens, die die Staaten des Globalen
        Südens – durch die Gruppe der 77 und China in den Ver-
        einten Nationen – in der Generalversammlung zur Ab-
        10208 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015
        (A) (C)
        (D)(B)
        stimmung gestellt haben und die mit großer Mehrheit an-
        genommen wurde. Dieser Prozess verdient jede
        Unterstützung aus Politik, Wissenschaft und sozialen
        Bewegungen in Deutschland und ganz Europa. Schon so
        lange setzen wir uns fraktionsübergreifend für faire Ent-
        schuldungsverfahren ein – dieser VN-Prozess muss von
        uns mitgestaltet werden.
        Dass aus dem Prozess in den Vereinten Nationen ein
        rechtsstaatliches Verfahren zum Umgang mit öffentli-
        cher Entschuldung resultieren könnte, ist sicherlich die
        beste Nachricht im Blick auf das Thema in den nächsten
        Monaten.
        Es gibt aus meiner Sicht noch eine weitere – ich zi-
        tiere Joseph Stiglitz –:
        Der Machtwechsel in Griechenland hat die neue
        Regierung mit dem ausdrücklichen Mandat ausge-
        stattet, der desaströsen Sparpolitik der letzten fünf
        Jahre ein Ende zu setzen. Eine Lösung für die ganz
        und gar untragbaren öffentlichen Schulden und
        Auslandsschulden ist eine Voraussetzung für jegli-
        chen wirtschaftlichen Neustart. Die neue Regierung
        ist bereit, auch unkonventionelle Optionen in Be-
        tracht zu ziehen, und sie lässt sich von der erfolgrei-
        chen Entschuldung Deutschlands im Londoner
        Schuldenabkommen von 1953 inspirieren. Wir kön-
        nen nicht absehen, ob sie es tatsächlich schaffen
        wird. Aber der Einsatz ist hoch – nicht nur für Grie-
        chenland, sondern für uns alle, die wir immer vor
        der verschuldungsbedingten Ungleichheit innerhalb
        und zwischen Staaten gewarnt haben.
        Diese beiden Neuigkeiten zeigen, dass Bewegung in
        die Frage um Schulden in und zwischen Staaten gekom-
        men ist, und ich erwarte von der Bundesregierung, dass
        sie sich aktiv und konstruktiv verhält und nicht in der
        unerträglichen Neinsagerposition verharrt, die sie bis-
        lang an den Tag legt.
        Und damit komme ich zu den schlechten, ja bedrohli-
        chen Nachrichten:
        Die erste ist, dass Deutschland und die USA nichts
        tun, um den Prozess der VN konstruktiv mitzugestalten,
        und dass sie ihn durch ihre Blockadehaltung ernsthaft ins
        Stolpern bringen. Ohne eine andere Haltung vonseiten
        Deutschlands wird sich der Prozess über Jahre oder Jahr-
        zehnte hinziehen, und eine historische Chance wird ver-
        tan. Für dieses Verhalten sollten Sie sich schämen, Frau
        Merkel, und vor allem Herr Schäuble. Es gibt dafür auch
        keinen Grund. Selbst wenn Sie nicht blockieren und sich
        einbringen würden, würde nichts gegen Ihren Willen
        entschieden, und bis Ende des Jahres würden trotzdem
        keine Fakten geschaffen.
        Die zweite, noch dramatischere Nachricht lautet: Pro-
        bleme mit staatlichen Schuldenkrisen könnten in den
        nächsten Monaten zu einem durchaus noch größeren
        Problem werden. Seit mehr als drei Jahren leben wir mit
        historisch niedrigen Zinssätzen auf den internationalen
        Kapitalmärkten. Deren Folgen für Entwicklungs- und
        Schwellenländer sind offensichtlich: Wenn Regierungen
        günstige Kredite bekommen, dann nehmen sie diese
        auch auf, egal ob sie mit diesen Krediten in die Infra-
        struktur investieren, Löcher im öffentlichen Haushalt
        stopfen, zweifelhafte Geschäfte finanzieren oder andere
        mehr oder weniger edle Ziele verfolgen. Man muss
        schon die Augen sehr fest verschließen, um nicht zu er-
        kennen, dass auch diese Kreditwelle zu neuen Staatsplei-
        ten führen kann, genauso wie die, die zur „Schuldenkrise
        der Dritten Welt“ in den 1980er-Jahren führte. Damit
        müssen wir in einigen oder sogar in vielen Ländern ein-
        fach rechnen.
        Denn die neue Kreditwelle stößt nicht etwa auf eine
        schuldenfreie Welt: Die dramatischen Schuldenindikato-
        ren in einer ganzen Reihe von „kleinen Inselentwick-
        lungsstaaten“ im Pazifik und in der Karibik sind hierzu-
        lande kaum wahrgenommen worden. Und die anhaltende
        Schuldenkrise in der Euro-Zone hat dort zu extrem ho-
        hen Schuldenindikatoren und zum Risiko der Staats-
        pleite geführt. Auffallend hoch ist auch die Anzahl dra-
        matisch hoher Auslandsschuldenindikatoren in Ländern
        des früheren Ostblocks.
        Insgesamt hat sich die globale Schuldensituation zwi-
        schen 2011 und 2013 verschlechtert: 54 Prozent der ge-
        rade erst von Erlassjahr untersuchten Verschuldungsindi-
        katoren sind 2013 höher als 2011. 30 Prozent haben sich
        verbessert, bei 16 Prozent ist die Situation unverändert.
        Das heißt, dass die Verschuldung von Entwicklungs-
        und Schwellenländern weniger tragfähig ist als in den
        Vorjahren. Insgesamt sind Kapitalmarktfinanzierungen
        als Option der Entwicklungsfinanzierung für Entwick-
        lungs- und Schwellenländer immer wichtiger geworden:
        62 Prozent der Kredite an Entwicklungs- und Schwel-
        lenländer im Jahr 2013 kamen aus privaten Quellen. In
        einigen Ländern wird es laut Expertinnen und Experten
        beim IWF daher in wenigen Jahren wieder zu Schulden-
        krisen kommen.
        Aber es steckt in diesen schlechten Nachrichten auch
        eine Chance: Wenn die Euro-Zone es schafft, umzusteu-
        ern und die Krise durch eine tiefgreifende und durch-
        dachte Schuldenpolitik zu bewältigen, und wenn die
        Beratungen in den Vereinten Nationen zu einem erfolg-
        reichen Abschluss gebracht werden, dann könnte das
        Schuldenthema am Anfang einer neuer Ära stehen.
        Anlage 5
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
        Neuordnung des Rechts über das Inverkehr-
        bringen, die Rücknahme und die umweltver-
        trägliche Entsorgung von Elektro- und Elektro-
        nikgeräten (Tagesordnungspunkt 20)
        Dr. Thomas Gebhart (CDU/CSU): Das Elektro- und
        Elektronikgerätegesetz ist eines der wichtigsten Gesetz-
        gebungsvorhaben im Bereich der Abfallwirtschaft in
        dieser Legislaturperiode. Wir setzen mit diesem Gesetz
        europäische Vorgaben um. Und wir setzen unseren Ko-
        alitionsvertrag um.
        Worum geht es? Ein Großteil der alten Elektrogeräte
        wird heute nicht zurückgegeben. Die Rücknahmemenge
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10209
        (A) (C)
        (D)(B)
        stagniert in den letzten Jahren. Zu viele alte Elektroge-
        räte verschwinden im Ausland oder wandern in den
        Restmüll.
        Welche Ziele verfolgen wir nun mit dem ElektroG?
        Erstens. Wir wollen, dass möglichst viele alte Elek-
        trogeräte, die nicht mehr gebraucht werden, getrennt ge-
        sammelt und wieder zurückgenommen werden. Und
        unser Ziel muss es sein, dass möglichst viel davon hoch-
        wertig recycelt wird. Sekundärrohstoffe sollen zurückge-
        wonnen werden. Kupfer, Aluminium und Kunststoffe
        – um nur ein paar Beispiele zu nennen – müssen wieder
        in den Kreislauf zurück. Das macht umweltpolitisch
        Sinn, es macht aber gerade für ein rohstoffarmes Land
        wie Deutschland vor allem wirtschaftlich Sinn. Techno-
        logisch ist heute schon vieles möglich. Ich habe mir vor
        kurzem eine Recyclinganlage für Elektrogeräte angese-
        hen. Das ist absolut faszinierend, zu sehen, welche
        technologischen Innovationen in den letzten Jahren in
        Unternehmen stattgefunden haben. Wir wollen, dass von
        diesem Gesetz weitere Anreize zu technologischer Inno-
        vation in Deutschland ausgehen.
        Zweitens. Unser Ziel ist, dass wir für die Bürgerinnen
        und Bürger in unserem Land ein möglichst einfaches
        und verbraucherfreundliches System schaffen.
        Drittens. Unser Ziel ist es, dass illegale Exporte von
        Elektroschrott eingedämmt werden. Es ist nicht hin-
        nehmbar, dass unsere ausgedienten Fernseher, Mikro-
        wellengeräte und Teile von Kühlschränken in großen
        Mengen auf Müllhalden in Afrika landen. Es ist nicht
        hinnehmbar, dass unsere Abfälle dort erhebliche Pro-
        bleme verursachen, und zwar für die Menschen und die
        Umwelt. Das dürfen wir nicht zulassen.
        Was sieht der Gesetzentwurf nun konkret vor? Ich
        will sechs Kernpunkte nennen:
        Erstens. Der Anwendungsbereich des bestehenden
        Gesetzes wird ausgedehnt. Es ist überfällig, dass etwa
        Fotovoltaikmodule einbezogen werden. Alte Module
        können künftig zurückgegeben werden.
        Zweitens. Die Ziele, wieviel Prozent des anfallenden
        Elektroschrotts in Deutschland zu erfassen sind, werden
        erhöht: zunächst auf 45 Prozent, 2019 dann auf 65 Pro-
        zent.
        Drittens. Die Recycling- und Verwertungsquoten bei
        den Altgeräten werden erhöht.
        Viertens. Es kommt zu einer Rücknahmepflicht des
        Handels. Eine Rücknahme durch den Handel erfolgt
        heute auf freiwilliger Basis. Wir wissen: Viele Geschäfte
        nehmen alte Elektrogeräte heute schon zurück. Künftig
        soll in großen Geschäften mit einer Verkaufsfläche von
        mehr als 400 Quadratmeter gelten: Kauft jemand ein
        neues Gerät, kann er im Gegenzug sein altes Gerät im
        Geschäft zurückgeben. Kleine Altgeräte – mit weniger
        als 25 Zentimetern Kantenlänge – müssen auch dann zu-
        rückgenommen werden, wenn kein neues Gerät gekauft
        wird.
        Fünftens. Ungeachtet der Rücknahmepflichten des
        Handels gilt: Bewährte Erfassungs- und Entsorgungs-
        strukturen werden erhalten und verbessert.
        Sechstens. Um die illegalen Exporte einzudämmen,
        wird eine Beweislastumkehr eingeführt: Will jemand
        alte Elektrogeräte exportieren, muss er künftig nachwei-
        sen, dass es sich nicht um Abfälle handelt, sondern um
        funktionstüchtige Geräte.
        Es handelt sich um ein umfangreiches Gesetz. Und
        der Teufel steckt im Detail. Es gibt zahlreiche Hinweise
        von verschiedenen Seiten, wie der Gesetzestext noch
        verändert und gegebenenfalls verbessert werden kann.
        Ich sage Ihnen zu: Wir werden uns alle Änderungswün-
        sche sehr genau ansehen und bewerten. Es wird im Juni
        im Umweltausschuss zudem eine Sachverständigenan-
        hörung geben. Wir werden diese genau auswerten und
        Schlussfolgerungen ziehen. Wir werden vor allem auch
        darauf achten, dass keine unnötige Bürokratie aufgebaut
        wird. Das ist mir wichtig.
        Dr. Anja Weisgerber (CDU/CSU): Jeder kennt die
        Situation: Das Handy funktioniert nicht mehr, man kauft
        sich ein neues und das alte, defekte Gerät landet zu
        Hause in der Schublade. Irgendwann wird es dann ent-
        sorgt – idealerweise bei einer dafür vorgesehenen Sam-
        melstelle. Schätzungen zufolge werden jährlich rund
        150 000 Tonnen solcher Elektrokleingeräte nicht ent-
        sorgt, sondern landen in Müllverbrennungsanlagen, wo
        sie gar nicht hingehören. Betrachtet man alle Elektroge-
        räte, dann sind es sogar 500 000 Tonnen. Das muss ein
        Ende haben.
        Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden die EU-
        Richtlinie über Elektronik- und Elektroaltgeräte umge-
        setzt und das bestehende Elektrogesetz weiterentwickelt.
        Ziel des Gesetzes ist es, die Sammelquote bei Elektro-
        und Elektronikaltgeräten zu erhöhen, wertvolle Metalle
        zurückzugewinnen und die Reststoffe aus den Geräten
        ordnungsgerecht und umweltschonend zu entsorgen.
        Auch der Handel muss zur Erreichung der Ziele einen
        Beitrag leisten. Geschäfte mit einer Verkaufsfläche von
        über 400 Quadratmetern werden verpflichtet, das Alt-
        gerät bei Kauf eines vergleichbaren Neugeräts zurück-
        zunehmen. Bei kleinen Geräten muss die Rücknahme
        sogar ohne Neukauf erfolgen. Ich begrüße, dass der Ge-
        setzentwurf den kleinen Strukturen des Mittelstands mit
        dieser 400-Quadratmeter-Regel Rechnung trägt. Denn:
        Aus eigener Erfahrung aus dem Familienumfeld kann
        ich sagen, dass nicht jeder kleine Dorfladen die räumli-
        chen Möglichkeiten hat, große Geräte wie Wasch- oder
        Spülmaschinen zurückzunehmen und bis zur Entsorgung
        zu lagern.
        Auch der Onlinehandel, der immer weiter an Bedeu-
        tung gewinnt, wird einbezogen. Online-Händler werden
        zukünftig verpflichtet sein, Altgeräte zurückzunehmen.
        Die dafür vorgesehenen Rücknahmestellen müssen in
        zumutbarer Entfernung zum jeweiligen Endnutzer einge-
        richtet werden. Wie genau das in der Praxis auszusehen
        hat, werden wir im weiteren parlamentarischen Verfah-
        ren noch weiter diskutieren müssen.
        10210 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015
        (A) (C)
        (D)(B)
        Auch diskutieren müssen wir den Erfüllungsaufwand
        für die Wirtschaft. Die EU-Richtlinie reduziert die An-
        zahl der Produktkategorien von ursprünglich zehn auf
        sechs Kategorien. Dadurch sind die Hersteller verpflich-
        tet, ihre Produkte neu in die Kategorien einzusortieren,
        was wiederum Umsetzungskosten in Höhe von rund
        1 Milliarde Euro im Jahr 2018 entspricht. Auch wenn
        der Normenkontrollrat hier keine Bedenken angemeldet
        hat, so ist dies aus meiner Sicht problematisch und muss
        ebenfalls im weiteren Verfahren genau hinterfragt und
        geprüft werden.
        Rohstoffe und Sekundärrohstoffe sind etwas Wertvol-
        les – vor allem für uns Deutsche, da unser Land wenige
        Rohstoffe hat. Künftig sollen nur noch überprüfte, funk-
        tionsfähige Geräte als Nichtabfall exportiert werden.
        Durch eine Beweislastumkehr, nach der der Exporteur
        belegen muss, dass es sich um gebrauchsfähige Geräte
        und nicht um Elektroschrott handelt, verleihen wir dieser
        Regelung Nachdruck. Damit schieben wir der illegalen
        Verbringung von Rohstoffen, insbesondere in Entwick-
        lungsländer, einen Riegel vor, und das ist auch gut so.
        Bei all der Diskussion um die Umsetzung der EU-
        Richtlinie dürfen wir aber nicht vergessen, dass Deutsch-
        land die europäischen Zielvorgaben schon heute über-
        trifft. Auch bei der Produktverantwortung im Elektroge-
        rätebereich sind wir sehr weit. Die Hersteller haben eine
        gemeinsame Stelle, die Stiftung ear gegründet. Die Her-
        steller holen so bereits heute die Altgeräte analog zu
        ihrem Marktanteil bei den öffentlich-rechtlichen Sam-
        melstellen ab und sorgen für eine umweltgerechte Ent-
        sorgung und Verwertung der Rohstoffe.
        Von dieser Produktverantwortung können wir in wei-
        teren Bereichen lernen. Ich denke hier zum Beispiel an
        das geplante Wertstoffgesetz, über das wir vorhin hier
        diskutiert haben. Durch eine Produktverantwortung für
        stoffgleiche Nichtverpackungen wie die Quietscheente
        oder den Kleiderbügel würden wir zum einen den Anreiz
        setzen, möglichst nachhaltige gut rezyklierbare Materia-
        lien bei der Herstellung zu verwenden, und zum anderen
        die stoffliche Verwertung gegenüber der thermischen
        Verwertung fördern. Ein Ansatz, der sich – wie ich
        finde – lohnt weitergesponnen zu werden.
        Es sind noch einige Fragen offen. Zusammenfassend
        möchte ich jedoch sagen, dass das Gesetz ein wichtiger
        Baustein zum Schließen von Stoffkreisläufen ist, die stoff-
        liche Verwertung von Elektroabfällen verbessert und da-
        für sorgt, dass wertvolle Rohstoffe in der Wertschöp-
        fungskette bleiben.
        Michael Thews (SPD): 41,8 Millionen Tonnen Elek-
        troschrott sind im vergangenen Jahr weltweit angefallen.
        Das sind 2 Millionen Tonnen mehr als im Jahr davor.
        Etwa 4 Prozent des weltweiten Aufkommens stammen
        aus Deutschland.
        Wissenschaftler der United Nations University schät-
        zen den Wert der in den Elektroaltgeräten enthaltenen
        Materialen für 2014 auf 48 Milliarden Euro. Allein der
        Wert des enthaltenen Kupfers wird auf 10,6 Milliarden
        Euro geschätzt und der des Goldes auf 10,4 Milliarden.
        Man könnte also meinen, bei dem heute debattierten Ge-
        setz zum Umgang mit Elektroaltgeräten geht es gar nicht
        in erster Linie um Umweltpolitik, sondern eigentlich um
        Wirtschaftspolitik.
        Das stimmt natürlich so nicht. Natürlich wollen wir
        mehr Elektroaltgeräte sammeln, um die in ihnen enthal-
        tenen Wertstoffe wieder in den Wirtschaftskreislauf zu-
        rückzubringen, aber es geht eben auch darum, unsere
        natürlichen Ressourcen zu schonen. Wir müssen die so-
        zialen und ökologischen Folgen des zunehmenden Roh-
        stoffabbaus eingrenzen. Wir wollen, dass die Geräte
        sachgerecht recycelt werden. Wir wollen verhindern,
        dass es durch nichtfachgerechte Entnahme der Wert-
        stoffe in Deutschland oder im Ausland zu Schadstoff-
        emissionen kommt und zu illegaler Deponierung der
        Reststoffe. Deshalb ist dieses Gesetz eben doch in erster
        Linie ein umweltpolitisch bedeutsames.
        Natürlich hat aber der Marktwert der in den Altgerä-
        ten enthaltenen Wertstoffe wie Metalle und seltenen Er-
        den trotzdem Auswirkungen. Die Wissenschaftler haben
        nämlich festgestellt, dass trotz der wirtschaftlichen Be-
        deutung des Elektroschrotts weltweit weniger als ein
        Sechstel sachgemäß recycelt wird. Das liegt natürlich
        auch daran, dass wegen des Marktwertes die Entnahme
        von Kupfer und Gold auch außerhalb der offiziellen Re-
        cyclingwege stattfindet. Eine aktuelle Studie des Um-
        weltprogramms der Vereinten Nationen schätzt den Wert
        des auf inoffiziellen Wegen entsorgten und teilweise ge-
        handelten Elektroschrotts auf 11 bis 16,5 Milliarden
        Euro im Jahr. Diese Art der Entsorgung hat unter Um-
        ständen verheerende Auswirkungen auf die Umwelt und
        besonders den Menschen. Denken wir an die Bilder aus
        Afrika, wo Menschen in meterhohen Lagen Elektro-
        schrott wühlen. Messungen dort haben ergeben, dass die
        Schadstoffbelastung in Luft und Boden die zulässigen
        Grenzwerte um das 50-Fache überschreitet. Das ist auch
        die Folge unserer Sucht nach modernster Elektronik mit
        immer kürzerer Nutzungsdauer. Deshalb ist ein ganz
        wichtiges Ziel dieser Novelle die Eindämmung des ille-
        galen Exports. Gleichzeitig müssen wir hier aufpassen,
        dass wir damit nicht den grenzüberschreitenden Trans-
        port zum Zweck der Reparatur unmöglich machen. Das
        wären dann ökologisch ebenfalls unerwünschte Neben-
        folgen. Stärken wollen wir auch die Wiederverwendung
        von Geräten. Immer mehr Kommunen setzen diesen
        Weg mit lokalen karitativen und sozialen Betrieben um.
        Aber es geht bei diesem Gesetz auch darum, den Ver-
        lust der in den Elektro- und Elektronikaltgeräten enthal-
        tenen Wertstoffe in Deutschland einzudämmen und den
        Rücklauf in den Wirtschaftskreislauf sicherzustellen.
        Denn bei uns landen immer noch zu viele Geräte in der
        grauen Tonne oder schlummern – wie zum Beispiel alte
        Handys – in Schreibtischschubladen oder landen manch-
        mal auch in den Händen illegaler Entsorger. Deshalb soll
        das Sammelnetz verdichtet werden, der Handel und auch
        der Onlinehandel stärker in die Sammlung einbezogen
        werden, die Sammlung insgesamt verbraucherfreundli-
        cher gestaltet werden, ohne dass dabei Schlupflöcher für
        illegale Entsorgung entstehen. So hoffen wir, das von der
        zugrunde liegenden EU-Richtlinie und der hier vorlie-
        genden Novelle für 2016 vorgegebene Sammelziel von
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10211
        (A) (C)
        (D)(B)
        45 Prozent, bezogen auf das durchschnittliche Gewicht
        der in den letzten drei Jahren in Verkehr gebrachten Ge-
        räte, zu erreichen.
        Ich möchte hier aber auch dafür plädieren, schon wei-
        terzudenken. Wir müssen bei den Elektrogeräten auch
        den nächsten Schritt gehen und versuchen, Einfluss auf
        die Produktion der Geräte zu nehmen. So wie es in der
        Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme
        des Bundesrates auch schon anklingt, müssen wir uns
        auf europäischer Ebene dafür einsetzen, dass Maßnah-
        men für die Langlebigkeit von Elektrogeräten getroffen
        werden und darüber hinaus auch für die Recycling-
        freundlichkeit der Geräte.
        Ralph Lenkert (DIE LINKE): Die Bundesregierung
        will mit einem neuen Gesetz zur Entsorgung von Elek-
        trogeräten genannt ElektroG, deutlich mehr Elektroaltge-
        räte ordnungsgemäß und umweltfreundlich entsorgen
        lassen und damit einen Beitrag zur Ressourcenschonung
        leisten. So weit die Theorie, denn in der Praxis werden
        heute selbst über Abfall oder Sperrmüll entsorgte Geräte
        später ordnungsgemäß erfasst, weil das Gewinne ab-
        wirft – das ist Marktwirtschaft. Wäre das neue ElektroG
        gut, würde es wenigstens nicht schaden, aber es hat ei-
        nige gravierende Fehler.
        Woran es im Punkte Ressourcenschutz in der Logik
        des Gesetzes bereits mangelt, ist, dass anstatt auf Ver-
        meidung auf das Prinzip des Neukaufs eines Elektro-
        gerätes nach Ablauf einer dreijährigen Nutzungszeit ge-
        setzt wird. Das spiegelt zwar die Realität wieder, aber
        die ist alles andere als ressourcenschonend. Denn es ver-
        stärkt den Eindruck gewollter Obsoleszenz bei den Elek-
        trogeräten, die direkt nach der Gewährleistungszeit ihren
        Geist aufgeben, und die Regierung akzeptiert dies. Auch
        die permanente Suggestion, wer seinen Fernseher oder
        Laptop länger als drei Jahre in Gebrauch hat oder sein
        Mobiltelefon oder Tablet nach einem Jahr noch nicht
        ausgetauscht hat, sei nicht mehr auf der Höhe der Zeit,
        wirkt definitiv nicht ressourceneffizient.
        Aber zurück zum Gesetzentwurf: Nehmen wir den
        Grünen Punkt, der von zehn im Wettbewerb stehenden
        dualen Systemen für alle bestätigten Verpackungen
        vergeben wird. Die zehn dualen Systeme, diese zehn Fir-
        men, streiten um ihren Anteil an der jeweiligen Verpa-
        ckungssorte. Bringt die Verwertung einer Verpackungs-
        sorte Geld, will jede der Firmen einen großen Anteil.
        Kostet die Verwertung einer Verpackung Geld, dann will
        diese keiner bestätigt haben.
        Jeder der Zehn verhandelt mit den Firmen, die Verpa-
        ckungen einsammeln, mit Firmen, die Verpackungen be-
        nötigen, und schließt seine Verträge und rechnet ab.
        Aber in einem Gebiet sammelt nur eine Firma alle
        Verpackungen ein, aber die muss mit allen zehn dualen
        Systemen abrechnen. Jede Verwertungsanlage verarbei-
        tet für alle zehn Firmen Verpackungen und muss mit
        jeder einzelnen abrechnen. Das beschreibt ganz kurz die
        Funktionsweise der dualen Systeme, die größere
        Mengen an Geld für Bürokratie verschlingen, als für die
        eigentliche Entsorgung der Abfälle gebraucht wird.
        Mit dem neuen vorliegenden ElektroG wird wohl das
        nächste duale System geschaffen werden, mit ähnlichen
        Wirkungen, genauso schlecht funktionierend.
        Dieses Gesetz benachteiligt Kommunen. Die Kom-
        munen werden verpflichtet, die Flächen für die Samm-
        lung alter Elektrogeräte kostenlos zur Verfügung zu stel-
        len und das Erfassungssystem kostenlos zu betreiben.
        Die Kommunen müssen auf ihre Kosten Bürgerinnen
        und Bürger umfassend zum ElektroG informieren.
        Elektronikgeräte sollen grundsätzlich nicht bei Haus-
        halten abgeholt werden müssen, können es aber. Wenn
        ein Hersteller Geräte abholt, darf er Geld dafür verlan-
        gen. Wenn ein kommunales Abfallunternehmen das tut,
        darf es kein Geld fordern.
        Nett, dass die Bundesregierung zulasten der Kommu-
        nen versucht, zu verhindern, dass die Menschen ihre Alt-
        geräte aus Kostengründen einfach in den Hausmüll oder
        die Natur werfen. Da ist zumindest der Anschein einer
        kostenlosen Entsorgungsoption besser.
        Sie geben mit diesem Gesetzentwurf den Herstellern
        und Vertreibern eine Lizenz zum Gelddrucken in die
        Hand, indem sie bei Abholung auch noch Geld verlan-
        gen dürfen.
        Weiterhin dürfen die Inverkehrbringer von Elektro-
        geräten zwischen mehreren Entsorgungspfaden wählen;
        das bedeutet mehr Bürokratie. Nicht umsonst schätzt die
        Bundesregierung Bürokratiekosten von 83 Millionen
        Euro je Jahr.
        Wir kommen nicht umhin: Wenn dieser Gesetzent-
        wurf sozial gerecht werden soll, muss das Verursacher-
        prinzip real und nicht scheinbar durchgesetzt werden.
        Die Hersteller zahlen eine Ressourcenabgabe. Aus ei-
        nem Teil dieser Ressourcenabgabe wird das kommunale
        Rücknahmesystem finanziert. Durch die Ressourcen-
        abgabe würde der Gesetzentwurf außerdem ressourcen-
        schonend. Denn wenn Produkte gut reparierbar oder
        aufrüstbar sind oder wenn sie ressourceneffizient und
        gut recycelbar konstruiert wurden, zahlt der Hersteller
        weniger Ressourcenabgabe. Dann hat er einen Anreiz, so
        ökologisch und effizient wie möglich zu produzieren.
        Damit eine möglichst vollständige Sammlung und
        Wiederverwendung ermöglicht und bestmögliches Recy-
        cling garantiert wird, bräuchte es nur eine Pfandpflicht
        auf Elektrogeräte. Das Prinzip der Pfandpflicht ist nichts
        Neues, und es ist effektiv und garantiert hohe Rückgabe-
        quoten. Nahezu kein Elektrogerät wird mehr im Haus-
        müll oder im Wald landen.
        Schade, das, was die Bundesregierung hier vorgelegt
        hat, kommt erstens zu spät, löst zweitens nicht existie-
        rende Probleme und schafft neue Baustellen.
        Dieses ElektroG bedeutet Mehrkosten für die Ver-
        braucher und verwirrt diese. Kurz gesagt: Es wird ein
        Remake der dualen Systeme und genauso versagen.
        Peter Meiwald (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die
        Deutschen werfen pro Jahr 600 000 Tonnen Handys,
        PCs, Föhne, Herde und Toaster weg. Alte und kaputte
        10212 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015
        (A) (C)
        (D)(B)
        Elektro- und Elektronikgeräte gehören aber nicht in den
        Restmüll, egal wie klein sie sind. Sie enthalten wichtige
        und wertvolle Rohstoffe, die bei der richtigen Behand-
        lung zurückgewonnen werden können. Diese zu ver-
        brennen ist reine Ressourcenverschwendung.
        Elektroschrott enthält außerdem viele Schadstoffe,
        etwa Blei und Kadmium in Akkus, Quecksilber in
        Leuchtstofflampen, Flammschutzmittel in Kunststoffen.
        Diese gelangen nur bei der richtigen Behandlung nicht in
        die Umwelt. Deshalb ist eine funktionierende, separate
        Sammlung von Elektroschrott enorm wichtig; da sind
        wir uns alle einig.
        Doch der Verbleib von zu vielen Elektrogeräten ist
        unklar. Deshalb hat die EU neue Vorschriften verabschie-
        det, um die Sammlung und die Verwertung zu verbessern.
        Die Bundesregierung legt heute mit dem aktualisierten
        ElektroG eine reine 1:1-Umsetzung der europäischen
        Vorgaben vor. Das ist reine Pflichterfüllung, bleibt aber
        umweltpolitisch weit hinter dem zurück, was möglich
        gewesen wäre, um die Ressourcenpolitik in Deutschland
        wirklich voranzubringen.
        Handys, Laptops, Tablets, es kommen immer mehr
        Elektrogeräte auf den Markt, vor allem in den Kommu-
        nikationstechnologien. Die Rückläufe, was also über-
        haupt ins Recycling gelangen kann, sind viel zu niedrig.
        Schätzungen zufolge landet in Deutschland nur etwa die
        Hälfte aller elektronischen Geräte vorschriftsgemäß auf
        dem Recyclinghof, bei kleinen Geräten ist die Zahl ver-
        mutlich noch viel niedriger.
        Etwa ein Viertel unseres Elektroschrotts, circa
        150 000 Tonnen jährlich, wird dann illegal nach Afrika
        und Asien exportiert. Dem soll jetzt ein Riegel vorge-
        schoben werden durch die Beweislastumkehr beim Ex-
        port. Dieses ist richtig und wichtig, um die illegalen
        Elektroschrottexporte in die Länder des Südens einzu-
        dämmen. Bis zu 20 000 Kinder sollen in Ghana, Nigeria
        oder der Elfenbeinküste auf Halden arbeiten und aus
        Elektroschrott seltene Metalle und andere wiederver-
        wertbare Bestandteile herausholen und dabei giftigen
        Dämpfen ausgesetzt sein. Nun müssen Exporteure von
        Altelektrogeräten nachweisen, dass diese noch funktio-
        nieren. Somit haben Behörden nun erstmals europaweit
        eine Möglichkeit, den illegalen Export effektiv zu ahn-
        den.
        Eine weitere wichtige Verbesserung ist die Rück-
        nahme von Altgeräten im Handel. Hier hat die Regie-
        rung mit dem jetzt vorgelegten Gesetz allerdings nur den
        ganz großen Läden – ab 400 Quadratmetern Verkaufs-
        fläche von Elektrogeräten – die Pflicht auferlegt, Elek-
        trokleingeräte wieder zurückzunehmen. Wir setzen uns
        dafür ein, dass die Rückgabemöglichkeiten für Bürgerin-
        nen und Bürger noch einfacher werden, indem jeder, der
        Elektrogeräte verkauft, diese auch zurücknehmen muss.
        Das trifft dann nicht nur die ganz großen Elektromärkte,
        sondern auch Discounter, über deren Ladentisch mehr
        und mehr Geräte verkauft werden.
        Wir Grüne sind davon überzeugt, dass finanzielle An-
        reize den Anteil zurückgegebener Geräte deutlich erhö-
        hen könnten und längere Verwendung und ein besseres
        Recycling dadurch möglich wird. Vor allem kleine Ge-
        räte landen vielfach in der Restmülltonne. Wir fordern
        die Einführung eines „Handypfandes“ als Test, ob dieses
        tatsächlich zu deutlich höheren Rückläufen führt, wie
        wir es annehmen. Wenn dieses erfolgreich ist, sollten
        solche finanzielle Anreize für Rückgaben auch auf an-
        dere Elektronikgeräte wie Tablets und Spielekonsolen
        ausgeweitet werden. Ein solches Pfandsystem sollte ins
        neue Elektrogesetz aufgenommen werden.
        Eine verpasste Chance ist es auch, dass keinerlei Vor-
        gaben für das Produktdesign im jetzigen Entwurf enthal-
        ten sind, die die Reparaturfähigkeit und Langlebigkeit
        von Produkten fördern. Das Umweltbundesamt hat kürz-
        lich erste Studienergebnisse veröffentlicht, die belegen,
        dass viele Geräte heute immer schneller kaputt gehen.
        Besonders Elektrogeräte sind hiervon betroffen. Dieses
        führt zu unnötigen Kosten, Umweltschäden durch Res-
        sourcenverschwendung und viel Ärger bei Verbrauche-
        rinnen und Verbrauchern. Warum wird dieses Thema
        von Ihnen nicht im neuen Gesetz aufgegriffen?
        Dazu gehört auch die Vorgabe, dass Ersatzteile über
        einen gewissen Zeitraum vorgehalten werden und den
        unabhängigen Reparateuren auch zur Verfügung gestellt
        werden müssen. Verklebte Gehäuse oder fest verbaute
        Batterien und Akkus führen aber dazu, dass Reparaturen
        immer mehr erschwert werden. Das ist aus unserer Sicht
        nicht akzeptabel, dieses Themas hätten Sie sich anneh-
        men müssen.
        Ein weiteres, bisher leider unberücksichtigtes Thema
        ist der Zugriff von Weiterverwendern auf die Altgeräte –
        denn laut europäischer Abfallhierarchie ist Weiternut-
        zung zu fördern. Aber genau das tun Sie mit Ihrem Ge-
        setz nicht, indem Sie die Weiternutzung der Altgeräte
        ausschließen. Dies kritisieren auch alle Umweltverbände
        und die Reparaturwerkstätten und Repair-Cafés, die sich
        derzeit überall im Land gründen.
        Wir hoffen, dass es im weiteren Beratungsverfahren
        hier im Parlament und im Bundesrat noch zu deutlichen
        Umweltverbesserungen kommt. Dies betrifft vor allem
        die Nutzungsdauer von Elektrogeräten, Vorgaben für
        ökologischeres Design, die Langlebigkeit und Repara-
        turfähigkeit von Geräten. Liebe Kolleginnen und Kolle-
        gen der Koalitionsfraktionen, wenn Sie bereit sind, an
        diesen Stellen nachzubessern, sind wir bereit, diese not-
        wendigen Änderungen mit Ihnen zusammen vorzuneh-
        men.
        Florian Pronold, Parl. Staatssekretär bei der Bun-
        desministerin für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reak-
        torsicherheit: Alte Elektrogeräte gehören nicht in die
        Restmülltonne, denn sie enthalten sowohl wertvolle
        Rohstoffe wie seltene Erden, aber auch Schadstoffe. Das
        weiß im Grunde jeder und jede, und den allermeisten ist
        eine fachgerechte Entsorgung ein wichtiges Anliegen.
        Ob es dann auch umgesetzt wird, hängt im Alltag oft
        davon ab, wie groß der Aufwand ist. Dennoch werden
        auch heute schon viele Elektroaltgeräte erfasst, und von
        den erfassten Geräten 85 Prozent recycelt. Trotzdem gilt
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10213
        (A) (C)
        (D)(B)
        es, zukünftig noch deutlich mehr Altgeräte zu erfassen
        und zu recyceln.
        Mit der Novellierung des Elektro- und Elektronikge-
        rätegesetzes, das vor zehn Jahren in Kraft getreten ist,
        sollen deshalb vor allem die Weichen dafür gestellt wer-
        den, dass Verbraucherinnen und Verbraucher ihre alten
        Geräte einfach und unkompliziert zurückgeben können.
        Das heißt, dass wir für ein dichtes Netz an Sammel-
        stellen sorgen müssen – und das kann am besten der
        Handel. Er ist nah an den Verbraucherinnen und Ver-
        brauchern.
        Satt auf Freiwilligkeit setzt der Gesetzentwurf auf
        Pflichten zur Rücknahme von Elektroaltgeräten. Große
        Vertreiber werden verpflichtet, alte Geräte beim Neu-
        kauf eines gleichwertigen Geräts zurückzunehmen. Bei
        kleinen Geräten müssen die großen Vertreiber die Altge-
        räte sogar ohne Kauf eines entsprechenden Neugeräts
        zurücknehmen. Als „große Vertreiber“ gelten Geschäfte
        mit mehr als 400 Quadratmetern Verkaufsfläche, und
        auch Internethändler, die einen immer größeren Anteil
        am Umsatz haben, gehören dazu. Kleine und mittelstän-
        dische Händler dagegen sind ausgenommen.
        Grundsätzlich halten wir am Konzept der geteilten
        Produktverantwortung, in dessen Rahmen die Kommu-
        nen eine zentrale Rolle haben, bei der Rücknahme und
        Entsorgung von Elektro- und Elektronikaltgeräten fest,
        denn es ist erfolgreich.
        Dies zeigen sowohl die Sammelleistungen als auch
        die in Deutschland erreichten Recycling- und Verwer-
        tungsquoten. Mit durchschnittlich 8,11 Kilogramm ge-
        sammelter Menge pro Einwohner und Jahr in den ver-
        gangenen sieben Jahren wird die europäische Vorgabe
        von 4 Kilogramm deutlich überschritten. Auch die Recy-
        cling- und Verwertungsquoten müssen den europäischen
        Vergleich nicht scheuen.
        Dennoch bietet die Novellierung die Chance, ehrgei-
        zigere Ziele zu erreichen, Strukturen weiterzuentwickeln
        und praktische Erfahrungen aufzugreifen, um erstens
        den zukünftigen Vorgaben der EU mit Blick auf die
        Sammlung und das Recycling zu entsprechen – die Sam-
        melziele steigen 2016 auf 45 Prozent, 2019 auf 65 Pro-
        zent –, zweitens die Ressourceneffizienz unserer Wirt-
        schaft weiter zu verbessern.
        Bei der Novellierung des Elektrogesetzes geht es des-
        halb darum, einen größeren Anteil wertvoller Metalle,
        die immer seltener und teurer werden, aus den Altgerä-
        ten zurückzugewinnen, die Sammelmenge von Altgerä-
        ten weiter zu steigern und eine möglichst hochwertige
        Verwertung sicherzustellen und den illegalen Export von
        Altgeräten ins Ausland zu unterbinden.
        Wir haben in den letzten Jahren auf nationaler wie in-
        ternationaler Ebene an Lösungen gearbeitet, illegale Ex-
        porte von Altgeräten zu verhindern:
        Erstens konkretisieren wir mit dem Gesetzentwurf die
        Kriterien für die Abgrenzung von gebrauchten Geräten
        und Altgeräten, die Abfall sind.
        Zweitens führen wir eine Beweislastumkehr ein. Zu-
        künftig muss der Exporteur belegen, dass es sich bei
        den zu exportierenden Geräten um funktionsfähige Ge-
        brauchtgeräte und nicht um Altgeräte handelt.
        Drittens ist es uns in der letzten Woche bei der Ver-
        tragsstaatenkonferenz zum Basler Übereinkommen ge-
        lungen, internationale Leitlinien zu verabschieden, die
        ebenfalls solche Instrumente enthalten.
        Damit weniger Altgeräte im Restmüll landen, sind
        vor allem die Bürgerinnen und Bürger gefragt. Dafür
        wollen wir bessere Rahmenbedingungen schaffen.
        Bei den nun folgenden Diskussionen im Bundestag
        und seinen Ausschüssen ist es aus Sicht der Bundesre-
        gierung unabdingbar, im Blick zu behalten, dass die zu
        treffenden Regelungen natürlich mit den europarechtli-
        chen Vorgaben in Einklang stehen müssen. Zudem gilt es
        zu verhindern, dass die bestehenden, effizienten Struktu-
        ren zur Erfassung und Entsorgung von Elektro- und
        Elektronikaltgeräten konterkariert werden.
        Die Bundesregierung hat in ihrem Entwurf viele Vor-
        schläge abgewogen und ist der Auffassung, dass der vor-
        liegende Entwurf einen ausgewogenen Kompromiss
        zwischen den unterschiedlichen Interessen und Erforder-
        nissen darstellt. Ich bitte daher um Ihre Unterstützung
        für die im Gesetzentwurf der Bundesregierung enthalte-
        nen Regelungen.
        Anlage 6
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Antrags: Forschung und Ent-
        wicklung für die Bekämpfung von vernachläs-
        sigten armutsassoziierten Erkrankungen stär-
        ken (Tagesordnungspunkt 22)
        Stephan Albani (CDU/CSU): Infolge der Kürze der
        Zeit und der fortgeschrittenen Stunde gleich zum Kern
        des Themas:
        Weltweit existieren viele Krankheiten, für die bislang
        noch keine bzw. nur unzureichende Impfstoffe und auf-
        wendige bzw. teilweise auch keine Therapien existieren.
        Hierzu zählen zum Beispiel „die großen Drei“ – HIV/
        Aids, Tuberkulose, Malaria – ebenso wie das Dengue-
        Fieber, die Schlafkrankheit und verschiedene andere
        Tropenkrankheiten, um nur ein paar dieser Erkrankun-
        gen zu nennen. Bis heute ist es uns allen nicht gelungen,
        diese Krankheiten in den Griff zu bekommen, bis heute
        leidet eine riesige Anzahl von Menschen an diesen Er-
        krankungen. Allein im Fall Tuberkulose sind weltweit
        2,5 Milliarden Menschen infiziert, jährlich kommen
        nach Angaben der WHO 9 Millionen Neuinfektionen
        hinzu, und weit über 1 Million Menschen sterben daran.
        Es ist schon schlimm, wenn eine dieser Krankheiten
        getrennt allein auftritt. Doch dort, wo bereits eine Im-
        munschwäche etwa durch HIV/Aids besteht, haben wei-
        tere Erkrankungen ein nur allzu leichtes Spiel.
        10214 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015
        (A) (C)
        (D)(B)
        Keiner auf unserer heute durch die Globalisierung im-
        mer „kleiner“ werdenden Welt darf sich noch der Illu-
        sion hingeben, dass Krankheiten weit weg sind, für ihn
        oder sie keine Bedeutung haben, wenn wir sie nicht
        überall und für alle in den Griff bekommen. So wurde es
        wahrgenommen in Sachen Ebola, und zwischen 2010
        und 2013 verdoppelte sich hierzulande die – wenn auch
        insgesamt noch kleine – Fallzahl der multiresistenten
        Tuberkulose.
        One World – One Health – wir sind eine Welt und wir
        haben eine Gesundheit!
        In diesem Sinne möchte ich Sie, meine Damen und
        Herren, hier daran erinnern, dass solche Krankheiten
        keine Grenzen kennen und wir auch am Beispiel von
        Ebola und auch der Tuberkulose spüren, dass ein weite-
        rer Handlungsbedarf dringend notwendig ist.
        Heilmittel sowie Impfstoffe werden in der Industrie
        nachfrageorientiert und für strategisch wichtige Märkte
        entwickelt. Die Ärmsten der Armen stehen mangels
        Kaufkraft hier zunächst nicht im Fokus. Wirtschaftlich
        agierende Unternehmen dürfen und müssen so verfah-
        ren. Jedoch kann und muss unsere Gesellschaft hier an-
        ders entscheiden und den Fokus eben auch auf diese
        Erkrankungen lenken und öffentliche Gelder dort einset-
        zen, wo diese dringend benötigt werden, aber bislang
        fehlen, um die notwendige Forschungsleistung für Dia-
        gnostika, Impfstoffe und Therapien zu leisten.
        Wir in Deutschland können dies, die forschenden
        Köpfe dazu gibt es hier!
        Die Bundesregierung hat dies bereits 2011 erkannt
        und das Förderkonzept „Vernachlässigte und armuts-
        assoziierte Krankheiten“ im Bundesministerium für Bil-
        dung und Forschung auf den Weg gebracht, um die For-
        schungsförderung zu fokussieren und Forschung hier
        über alle Akteure – aus Wissenschaft und Wirtschaft –
        hinweg zu bündeln.
        Allein 2010 bezifferten sich die vom BMBF geförder-
        ten Forschungsprojekte und Maßnahmen auf rund
        11 Millionen Euro. 2011 wurden diese Mittel durch eine
        Fördermaßnahme für die sogenannten Produktentwick-
        lungspartnerschaften – englisch: PDPs – mit einem Vo-
        lumen von 20 Millionen Euro ergänzt. Zusammenge-
        nommen wurden 2012 von öffentlicher Seite etwa
        47 Millionen Euro investiert – laut Internationalem
        Währungsfonds stand Deutschland damit an vierter
        Stelle im internationalen Vergleich.
        Dabei sind die vom Bundesministerium für Bildung
        und Forschung geförderten PDPs ein besonders wichti-
        ges öffentliches „Investment“: Sie schließen eine Versor-
        gungslücke im globalen Gesundheitssystem und bauen
        eine Brücke zwischen denen, die ihren forschenden Bei-
        trag leisten können, und denen, die es brauchen.
        Denn diese international agierenden Non-Profit-Orga-
        nisationen entwickeln wichtige Heilmittel, Impfstoffe
        und Diagnostika gemeinsam mit Pharmaunternehmen
        und Forschungseinrichtungen. Sie entwickeln auch Prä-
        ventionsmethoden gemeinsam mit der Zivilgesellschaft,
        um die Betroffenen später auch mit diesen Produkten zu
        versorgen.
        Das Bundesministerium für Bildung und Forschung
        unterstützt bereits vier Produktentwicklungspartner-
        schaften, dies sind: erstens „Drugs for Neglected Disea-
        ses, DNDi,“ mit Medikamentenentwicklungen gegen die
        Afrikanische Schlafkrankheit, Viszerale Leishmaniose,
        die Chagas-Krankheit und Wurmerkrankungen, zweitens
        die „Foundation for innovative new diagnostics, FIND,“
        mit der Entwicklung einer Diagnoseplattform für vier
        parasitäre Erkrankungen: Afrikanische Schlafkrankheit,
        Chagas, Leishmaniose und Malaria, drittens, die „Euro-
        pean Vaccine Initiative, EVI“ mit der Entwicklung eines
        Malariaimpfstoffes für Schwangere und viertens die
        „Dengue Vaccine Initiative, DVI“ zur Entwicklung eines
        multivalenten Impfstoffes gegen das Dengue-Virus.
        Diese Förderung endet in diesem Jahr. Wir haben die
        Aufgabe, diese elementar wichtige Fördermaßnahme
        fortzuführen, thematisch zu erweitern und finanziell
        stärker auszustatten. Dies ist Konsens aller Beteiligten,
        und dies findet Ausdruck in dem Antrag, den wir hier
        und heute debattieren.
        Mir sei erlaubt mich anlässlich dieses, meines ersten
        Antrages zum einen bei der Kollegin Frau Annette
        Hübinger und ihrem Team ganz herzlich zu bedanken,
        die mich bei der Einarbeitung immens unterstützt haben.
        Und ebenso gilt mein Dank meinem Co-Berichterstatter,
        Herrn René Röspel, und seinem Team für die gute und
        konstruktive Zusammenarbeit.
        Zum Abschluss: Es gibt nur eine Welt-Gesundheit, sie
        geht uns alle an, wir stehen gemeinsam in der Verant-
        wortung. Durch die Zusammenarbeit von Industrie und
        Wissenschaft in den PDPs ist sicherzustellen, dass For-
        schungslücken bei der Bekämpfung von Infektions-
        krankheiten geschlossen werden und schlussendlich die
        Versorgung weltweit verbessert wird.
        Als einen Beitrag zur Weltgesundheit gilt es, die Fort-
        setzung des Förderkonzeptes „Bekämpfung vernachläs-
        sigter armutsbedingter Erkrankungen“ auch über das
        Ende 2015 hinaus sicherzustellen, es auszubauen, zu
        stärken und – so sollte es unser Anspruch sein – schluss-
        endlich auch zu verstetigen.
        Anette Hübinger (CDU/CSU): Vernachlässigte, ar-
        mutsassoziierte Krankheiten – ein Thema und ein Ge-
        sundheits- bzw. Forschungsbereich, dem in Deutschland
        meist wenig Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit ge-
        schenkt wird. Ab und zu liest man von Krankheiten, die
        eigentlich in den europäischen Gebieten nicht auftau-
        chen dürften – zum Beispiel, dass seit fast drei Jahren in
        Griechenland wieder Menschen an Dengue-Fieber er-
        kranken. Ein mediales Ereignis ist dies nicht. Bei der
        Ebolaepidemie war es anders. Die Angst ging um, dass
        die Epidemie sich auch nach Europa ausbreiten könnte,
        schließlich leben wir in einer globalisierten Welt. Rufe
        nach Schutzzonen und Sicherheitsmaßnahmen an euro-
        päischen Flughäfen wurden laut.
        Neben Maßnahmen zur Eindämmung der Epidemie
        vor Ort und Behandlung der Kranken wurden zu Recht
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10215
        (A) (C)
        (D)(B)
        die Forschungsanstrengungen verstärkt. Nach wenigen
        Wochen flaute dann das mediale Interesse wieder ab, ob-
        wohl die aktuelle Ebolaepidemie bis heute nicht endgül-
        tig eingedämmt ist. Circa 26 000 Menschen erkrankten
        am Ebolafieber, über 10 500 von ihnen sind gestorben,
        so die WHO. Eine katastrophale Bilanz.
        Aber was ist mit all den anderen vernachlässigten tro-
        pischen Krankheiten?
        Jährlich infizieren sich 50 bis 100 Millionen Men-
        schen weltweit mit Dengue-Fieber. An Leishmaniose,
        eine durch Parasiten hervorgerufene Infektionskrankheit,
        erkranken 1,5 bis 2 Millionen Menschen jährlich; pro
        Jahr versterben daran weltweit circa 70 000 Menschen.
        An Chagas, einer infektiösen Erkrankung, übertragen
        durch Raubwanzen, erkranken jährlich circa 50 000 Men-
        schen, 15 000 der Fälle enden tödlich. Da fragt man sich:
        Wo ist da der mediale Aufschrei, der so ein bedeutsames
        Thema in das öffentliche Bewusstsein rückt?
        Aus dem politischen Bewusstsein sind diese Krank-
        heiten glücklicherweise nie verschwunden. Bereits 2010
        hat sich das BMBF zur Erforschung von vernachlässig-
        ten, armutsassoziierten Krankheiten strategisch neu auf-
        gestellt und ein neues Förderkonzept erarbeitet. Dies ist
        deshalb so bedeutsam, da die pharmazeutische Industrie
        sich aus vielen Bereichen der Erforschung dieser Krank-
        heiten wegen fehlender Gewinnmargen herausgezogen
        hat.
        Unser staatliches Engagement muss diese Lücke fül-
        len. Deutschland muss und kann mehr tun. Nicht nur aus
        humanitärer Verantwortung, sondern auch, damit den be-
        troffenen Entwicklungs- und Schwellenländern durch
        die Folgen dieser Krankheiten nicht noch zusätzliche
        Entwicklungshemmnisse langfristig aufgebürdet wer-
        den und nicht zuletzt, weil einige dieser Krankheiten
        verstärkt in Europa auftreten. In einer globalisierten
        Welt, mit vernetzten Wertschöpfungsketten, zunehmen-
        dem Reise- und Warenverkehr und wachsenden Flücht-
        lingsströmen, machen Krankheiten nicht an Ländergren-
        zen halt.
        Eine klare Tendenz ist erkennbar: Tropische Krank-
        heiten schwappen insbesondere auf unseren Kontinent
        hinüber. Derzeit sind vor allem südeuropäische Urlaubs-
        länder wie Spanien, Portugal oder Griechenland betrof-
        fen. Doch bereits 2014 entdeckte man die Sandmücke
        – das Überträgertier von Leishmaniose – in Hessen, der
        bislang nördlichste Fund. Aus Verantwortung gegenüber
        den Menschen weltweit, aber auch gegenüber unseren
        Bürgerinnen und Bürgern, stellen wir heute erneut einen
        Antrag zur Verstärkung der Forschung und Entwicklung
        im Bereich vernachlässigter, armutsassoziierter Krank-
        heiten.
        Das neue Förderinstrument, die sogenannten Pro-
        duktentwicklungspartnerschaften, PDPs, des Bundes-
        ministeriums für Bildung und Forschung, ist eine wich-
        tige Säule des bestehenden Förderkonzepts. Hierfür sind
        seit 2011 circa 21 Millionen Euro an Fördergeldern sei-
        tens des BMBF ausgegeben worden. Ich bin glücklich
        darüber, dass die erste Förderrunde in der aktuellen Eva-
        luierung von März 2015 positiv bewertet wurde. Der
        Evaluationsbericht betont die außerordentliche Bedeu-
        tung der PDPs bei der Entwicklung und dem Einsatz
        besserer und neuer Therapien für die Behandlung ver-
        nachlässigter Infektionskrankheiten. Er stellt aber auch
        deutlich heraus, dass PDPs ihre Arbeit fortsetzen müssen
        und vor allem auch eine langfristig gesicherte Unterstüt-
        zung benötigen. Für mich ist ganz klar, dass mit der
        positiven Evaluation der ersten Förderperiode eine An-
        schlussförderung mit höherer Finanzmittelausstattung
        eine zwingende Folge ist.
        Daher fordern wir auch die Bundesregierung auf, eine
        zweite Förderrunde für PDPs festzuschreiben und die
        Förderung auch auf Medikamente zur Diagnose und Prä-
        vention, inklusive Impfstoffe für TB und HIV/Aids aus-
        zuweiten. Für diese wichtige Forschung fordern wir als
        Koalition eine signifikante Erhöhung der Mittel. Damit
        kann die Bundesregierung ein Zeichen setzen, um das
        bestehende Engagement zu verstetigen und sich noch
        klarer zu ihrer Verantwortung für die globale Gesundheit
        zu bekennen.
        Ein weiterer wichtiger Aspekt ist der Ausbau der Ca-
        pacity-Building-Maßnahmen im Allgemeinen sowie im
        Rahmen der PDPs, als auch die Förderung des Wissens-
        transfers mit Forschern aus den betroffenen Regionen.
        Nur so kann eine Stärkung der regionalen Forschungsin-
        frastrukturen und eine qualitativ angemessene Langzeit-
        beobachtung der neu eingesetzten Medikamente sinnvoll
        implementiert werden.
        Ich habe bereits in früheren Reden erwähnt, dass das
        BMBF mit der Förderung von PDPs einen neuen und
        strategisch richtigen Weg gegangen ist. Angesichts der
        bereits bestehenden und zukünftig wachsenden Heraus-
        forderungen in diesem Bereich brauchen wir aber wei-
        tere Partner. Deshalb ist es sehr gut, dass unter der
        deutschen G-7-Präsidentschaft 2015 vernachlässigte, ar-
        mutsassoziierte Krankheiten ein Schwerpunktthema sein
        werden und vor allem die Forschung zu diesen Krank-
        heiten neben der globalen Gesundheits- und Entwick-
        lungspolitik in den Mittelpunkt gerückt wird. Dies ist
        dringend notwendig, da gegen viele dieser Infektions-
        krankheiten seit Jahrzehnten keine wirksamen Medika-
        mente existieren.
        Vielleicht bringt ja der G-7-Gipfel ein neues Bewusst-
        sein für dieses Thema. Ich hoffe jedenfalls nicht, dass
        eine nächste Epidemie uns wieder für ein paar Monate in
        Atem hält, sondern dass neue Forschungsergebnisse vie-
        len Menschen neue Hoffnung und Zuversicht schenken
        werden. Auch wenn die Erforschung neuer Wirkstoffe
        kostspielig ist und einen langen Atem benötigt, lassen
        Sie uns gemeinsam daran arbeiten, Forschung zu ermög-
        lichen, die zum Wohle vieler Millionen Menschen ist
        und einen wichtigen Schritt zur Erreichung der Millen-
        niums-Entwicklungsziele darstellt.
        Dr. Karamba Diaby (SPD): 1,4 Milliarden Men-
        schen! Mit unserem Antrag gehen wir einen wichtigen
        Schritt, um weltweit circa 1,4 Milliarden Menschen zu
        helfen, die von den vernachlässigten Tropenkrankheiten
        betroffen sind.
        10216 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015
        (A) (C)
        (D)(B)
        Wir alle erinnern uns an die Bilder der schrecklichen
        Ebolaepidemie. Bisher forderte sie mehr als 11 000 Op-
        fer – und sie ist noch nicht ausgestanden. Wir wissen:
        Diese Tragödie wäre vermeidbar gewesen, wenn es Fol-
        gendes gegeben hätte: ein Gesundheitssystem, Medika-
        mente und Impfstoffe, medizinische Versorgung sowie
        Zugang zu Wasser, Strom und Bildung.
        Ein weiteres Beispiel: Stellen Sie sich vor, dass ein
        Großteil Ihrer Bekannten bereits als Kinder an Malaria
        erkrankt. Zum Vergleich: In Deutschland liegt die
        Sterblichkeit bei circa drei Kindern auf 1 000 Gebur-
        ten. In Subsahara-Afrika liegt sie durchschnittlich bei
        über 100 Kindern auf 1 000 Geburten. Eine der häufigs-
        ten Todesursachen ist nach wie vor Malaria.
        Das sind Beispiele für das milliardenfache Leid, das
        Krankheiten wie HIV, Malaria und Tuberkulose und
        die Tropenkrankheiten hervorrufen. Die Folgen dieser
        Krankheiten sind für den Einzelnen aber nicht nur physi-
        scher und psychischer Natur. Oft werden Betroffene so-
        zial ausgegrenzt; oft nimmt Armut aufgrund von Ar-
        beitslosigkeit zu.
        Die Kosten für die Gesellschaft gehen in die Milliar-
        den. Allein für die Zeit April bis September 2015 schätzt
        die UN den Bedarf zur Bekämpfung der Ebolaepidemie
        auf weitere 1,5 Milliarden US-Dollar.
        Und im Übrigen irrt derjenige, der denkt, dass wir
        über Krankheiten sprechen, die ausschließlich in Ent-
        wicklungsländern auftreten oder mit denen man sich
        höchstens während eines Abenteuerurlaubs infizieren
        kann. Viren und Bakterien kennen keine Grenzen. Die
        Zahl der Tuberkulosefälle steigt auch in Deutschland
        wieder. Das Robert-Koch-Institut registrierte im Jahr
        2013 über 4 000 Fälle. Auch die Industrienationen ste-
        hen einer der tödlichsten Krankheiten zunehmend
        machtlos gegenüber: veraltete Impfstoffe, veraltete The-
        rapien, unwirksame Antibiotika.
        Es ist deshalb erforderlich, dass sich unser Land die-
        ser großen Herausforderung stärker stellt. Unser Antrag
        zeigt, wo Handlungsbedarf ist. Zwei spreche ich an die-
        ser Stelle an:
        Zum einen müssen wir die Forschung zur Bekämp-
        fung der Krankheiten stärken. Das schließt die Erfor-
        schung von Impfstoffen, Antibiotika und therapeutischen
        Maßnahmen mit ein. Die Partnerschaften zur Entwick-
        lung der Medikamente sind eine wirksame Strategie. Sie
        müssen wir ausbauen.
        Zum anderen: Es nützt das beste Medikament nichts,
        wenn es den Patienten nicht erreicht. Die internationale
        wirtschaftliche Zusammenarbeit muss einen Schwer-
        punkt auf den Aufbau der lokalen Gesundheitssysteme
        legen.
        Verantwortungsübernahme heißt für uns: Forschung
        dauerhaft fördern, den Aufbau der Gesundheitssysteme
        unterstützen, Kooperation bei der Ausbildung des medi-
        zinischen und wissenschaftlichen Personals. Diese Punkte
        müssen Hand in Hand gehen.
        Es ist deshalb auch das richtige Signal, dass der G-7-
        Gipfel in Elmau dieses bedeutende Thema aufgreift. Wir
        sind uns unserer Verantwortung gegenüber den 1,4 Mil-
        liarden Betroffen bewusst.
        René Röspel (SPD): Leider zu einem sehr späten
        Zeitpunkt am Donnerstagabend behandeln wir ein
        Thema, das viele 100 Millionen Menschen unmittelbar
        betrifft und sie in ihrer Gesundheit oder sogar ihrem Le-
        ben bedroht: vernachlässigte Krankheiten. Als „vernach-
        lässigt“ werden solche Krankheiten bezeichnet, nicht
        etwa, weil sie „vernachlässigbar“ wären und bedeu-
        tungslos selten auftreten, sondern weil die damit verbun-
        dene Not in der Regel nicht an unsere Ohren in der
        wohlhabenden Welt dringt. Weil diese Krankheiten
        meistens gemeinsam mit Armut auftreten oder das Ent-
        stehen durch Armut begünstigt wird, schließt sich ein
        Teufelskreis: Es gibt kein kommerzielles Interesse bezie-
        hungsweise keine Möglichkeit, Medikamente zur Behand-
        lung dieser Krankheiten zu entwickeln. Die Folge dieses
        „Marktversagens“ ist ein Forschungs- und Entwick-
        lungsdefizit bei der (Weiter-)Entwicklung von Wirkstof-
        fen, die den Betroffenen Heilung und Linderung ver-
        sprechen könnten.
        Es ist mir daher eine besondere Freude, auch heute
        und in dieser Regierungskoalition einen Antrag der Re-
        gierungsfraktionen zur Stärkung der Forschung für ver-
        nachlässigte und armutsassoziierte Krankheiten zu de-
        battieren.
        Der vorliegende Antrag ist nicht nur als ein klares Be-
        kenntnis zur weiteren Förderung von Produktentwick-
        lungspartnerschaften im Bereich der vernachlässigten
        und armutassoziierten Erkrankungen zu verstehen, er
        soll die auch die anstehenden G-7-Verhandlungen auf
        Schloss Elmau flankieren. Wie bereits seitens der Bun-
        desregierung angekündigt, sollen Fragen der Globalen
        Gesundheit auf diesem Gipfel explizit adressiert werden.
        Vor diesem Hintergrund möchte ich auch nochmals die
        Arbeit der Leopoldina lobend hervorheben, die in Vorbe-
        reitung dieses Gipfels deutlich auf Handlungsbedarfe
        – nicht nur in der Forschung – zur Bekämpfung dieser
        Krankheiten hingewiesen hat und in diesem Kontext
        auch eine umfassende wissenschaftliche Bestandsauf-
        nahme zu diesem Themenkomplex erarbeitet hat. Dass
        die Bundesregierung das Thema auf die Agenda von El-
        mau gesetzt hat, begrüße ich ausdrücklich. Es zeigt, dass
        sich die langjährige Arbeit gelohnt hat und es einen kla-
        ren Lernprozess gegeben hat hinsichtlich der Bewertung
        des Gefahrenpotenzials dieser Erkrankungen für die glo-
        bale Stabilität. So bringen diese Erkrankungen nicht nur
        unendliches Leid für die betroffenen Individuen und de-
        ren Familien mit sich, sie sind auch eine große Bürde für
        die Länder, deren Bevölkerung eine hohe Prävalenz
        – also eine hohe Krankheitshäufigkeit – aufweist. Die di-
        rekten und indirekten Folgen für die Volkswirtschaften
        dieser Länder lassen sich nicht immer genau quantifizie-
        ren, die Experten sind sich jedoch weitestgehend einig,
        dass diese Krankheiten die Wirtschaftsleistung eines
        Landes verschlechtern und einen nicht zu unterschätzen-
        den Einfluss auf die Stabilität der betroffenen Länder
        und Regionen haben. Von den circa 1,4 Milliarden welt-
        weit betroffenen Menschen leben – und leiden – viele in
        Subsahara-Afrika – einer Region, die ihrerseits durch
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10217
        (A) (C)
        (D)(B)
        wiederkehrende Krisen und Instabilität gezeichnet ist.
        Wer daher künftig globale Stabilität garantieren will,
        wird an Fragen der globalen Gesundheit nicht vorbei-
        kommen.
        Ergänzend möchte ich an dieser Stelle noch einen
        Hinweis geben: Grundsätzlich sollte sich die Bundesre-
        gierung die Frage stellen, ob sie sich bei diesem G-7-
        Agenda-Punkt ausschließlich auf die 17 von der WHO
        gelisteten NTDs beschränken will. Denn es gibt auch
        weitere vernachlässigte Krankheiten, die zwar nicht von
        der WHO gelistet werden, jedoch das Potenzial haben,
        verheerende Folgen mit sich zu bringen. Beispielhaft ist
        an dieser Stelle Ebola zu nennen: Obwohl nicht in der
        WHO 17er-Liste aufgeführt, hält uns diese vernachläs-
        sigte Viruserkrankung in Atem. Die mehr als 10 000 To-
        ten des letzten Ausbruches in Westafrika haben uns deut-
        lich unsere Grenzen vor Augen geführt – im Übrigen
        auch die begrenzte Handlungsfähigkeit der westlichen
        Welt, adäquat auf solche Krisenszenarien zu reagieren.
        Es soll auch ein Appell sein, sich nicht in Sicherheit zu
        wiegen, sondern sich eben auch den Themen bezie-
        hungsweise Krankheiten zu widmen, die als gerade nicht
        bedeutend angesehen werden.
        Ich möchte an dieser Stelle noch einmal lobend die
        wichtige und notwendige Arbeit der Nichtregierungs-
        organisation Ärzte ohne Grenzen hervorheben, deren
        schnelle und unermüdliche Arbeit während des Aufkom-
        mens der letzten Ebolakrise eine umgehende Krisenant-
        wort Deutschlands überhaupt möglich gemacht hat. Die
        Krisenreaktionsfähigkeit Deutschlands in diesem Szena-
        rio – nicht nur in wissenschaftlicher Hinsicht – sollte uns
        allen zu denken geben.
        Ich sehe unseren Antrag aber nicht nur als unterstüt-
        zende Maßnahme für die G-7-Regierungskonsultatio-
        nen, sondern auch als Appell an uns alle: Globale Ge-
        sundheit kann und wird es nicht zu Discountpreisen
        geben. Die in diesem Antrag geforderte Öffnung des
        PDP-Förderprogramms für armutsassoziierte Erkran-
        kungen wie HIV/Aids und Tuberkulose muss sich auch
        in einer entsprechend adäquaten Aufstockung der dafür
        bereitzustellenden Haushaltsmittel widerspiegeln. Wir
        haben aus den Koalitionsvereinbarungen noch For-
        schungsmittel zur Verfügung. Auch wenn es für den Ei-
        nen oder Anderen vielleicht schwer nachvollziehbar ist,
        so lassen sich Viren, Bakterien, Protozoen und Parasiten
        in ihrer fatalen Wirkung nicht durch vom Bundesfinanz-
        ministerium gesetzte Haushaltsziele beeindrucken. Die
        erfolgreiche und nachhaltige Bekämpfung dieser Erreger
        und Parasiten ist eine Verantwortung der reichen Welt
        und kann nur durch eine ausreichende Bereitstellung von
        Haushaltmitteln für die Forschung gesichert werden, zu-
        mal bei objektiver Betrachtung Deutschland, dank seiner
        ökonomischen Potenz, hierzu durchaus in der Lage ist.
        In einem Zeitungsartikel hat der Bundesrichter und
        Vorsitzende des 2. Strafsenats des BGH, Thomas
        Fischer, die Bundesrepublik jüngst als „Fettauge auf
        dem Ozean der globalen Auszehrungen“ bezeichnet.
        Man muss sich diesem drastischen Bild vielleicht nicht
        anschließen, dennoch hilft der Blick über den Tellerrand
        und der Vergleich mit anderen, weniger begünstigten
        Nationen und Volkswirtschaften, das eigene Maß und
        die Prioritäten neu zu ordnen. Um ihre globale Verant-
        wortung wird die Bundesrepublik sich nicht drücken
        können – nicht nur in der Außenpolitik, sondern eben
        auch in der internationalen Gesundheitspolitik und der
        Forschung für vernachlässigte und armutsassoziierte Er-
        krankungen.
        Lassen Sie mich abschließend noch einen kurzen
        Rückblick auf das bisher Erreichte geben: Dieser Antrag
        ist das Ergebnis eines langen – fast zehn Jahre dauern-
        den – Prozesses, der viel parlamentarische Anstrengung
        – auch überparteilich – erfordert hat. Vor circa einem
        Jahrzehnt noch hat die Forschungsförderung für ver-
        nachlässigte und armutsassoziierte Erkrankungen keine
        wesentliche Projektförderung durch das BMBF erhalten.
        Durch gemeinsame überfraktionelle Anstrengungen
        konnte bereits in der letzten Legislatur darauf hingewirkt
        werden, dass sich das BMBF der Förderung von Pro-
        duktentwicklungspartnerschaften in diesem Bereich an-
        nimmt. Eine erste Förderphase, die in diesem Jahr aus-
        läuft, hat es bereits gegeben. Jetzt gilt es, auf dem bisher
        Erreichten aufzubauen und die Förderung weiter auszu-
        bauen. Genau hier setzt der vorliegende Antrag an: So
        soll nicht nur die bisherige Förderrichtlinie für vernach-
        lässigte tropische Krankheiten fortgesetzt, sondern auch
        der Fokus der Förderung erweitert werden. Richtete sich
        die erste Fördermaßnahme noch ausschließlich an Pro-
        jektmittelnehmer, die Forschung für vernachlässigte Tro-
        penkrankheiten betreiben, so sollen künftig zusätzlich
        Forschungsprojekte für armutsassoziierte Krankheitsbil-
        der wie zum Beispiel die Tuberkulose oder HIV/Aids
        förderfähig sein.
        Ich hoffe, dass wir als Regierungsfraktionen mit die-
        sem Antrag einen substanziellen Beitrag in der For-
        schung zur Bekämpfung dieser Krankheiten und somit
        einen kleinen, aber vielleicht essenziellen Beitrag zur
        Weltgesundheit und globalen Stabilität leisten können.
        Weitere Schritte aber werden folgen müssen.
        Niema Movassat (DIE LINKE): „Vernachlässigte
        armutsassoziierte Krankheiten“ ist im doppelten Sinne
        ein schreckliches Wortkonstrukt. Millionen von Men-
        schen leiden auch im 21. Jahrhundert überall auf der
        Welt nur deshalb an Krankheit, weil der globale Wohl-
        stand völlig ungerecht verteilt ist. Das alleine ist schon
        schlimm genug und eine Schande. Dass es dann aber
        aufgrund der kapitalistischen Wirtschaftslogik schlicht
        zu wenig finanzielle Anreize für die Pharmaindustrie
        gibt, wirksame Medikamente gegen die typischen armuts-
        assoziierten Krankheiten zu entwickeln, ist eine doppelte
        Ungerechtigkeit. Der wohlhabende Teil der Menschheit
        enthält den Ärmsten der Armen so nicht nur einen Anteil
        an den weltweiten Reichtümern vor, sondern, wenn sie
        an den Folgen erkranken, auch eine adäquate medizini-
        sche Behandlung. Nur eine andere, gerechtere Weltwirt-
        schaftsordnung kann dieses Problem grundsätzlich lö-
        sen. Dennoch möchte ich auch einige kurzfristig
        praktikable Vorschläge nennen, mit deren Hilfe sich die
        Situation verbessern ließe.
        10218 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015
        (A) (C)
        (D)(B)
        Vor vier Jahren haben wir einen Bundestagsantrag
        eingebracht mit dem Titel „Forschungsförderung zur
        Bekämpfung vernachlässigter Krankheiten ausbauen –
        Zugang zu Medikamenten für arme Regionen ermögli-
        chen“. Leider haben sich seitdem weder die grundlegen-
        den Probleme geändert noch haben sich die vorgeschla-
        genen Forderungen überholt. Nach wie vor investiert die
        Bundesregierung viel zu wenig in öffentliche Forschung.
        Welche fatalen Folgen das haben kann, hat die Ebola-
        epidemie erst kürzlich gezeigt. Vor vier Jahren hatten
        wir die Bundesregierung bereits aufgefordert, die nicht-
        kommerzielle klinische Forschung mit 500 Millionen
        Euro jährlich zu fördern und einen Förderschwerpunkt
        für vernachlässigte Krankheiten einzurichten. In einer
        Antwort auf eine Kleine Anfrage stellte sich heraus, dass
        2014 gerade einmal etwas mehr als 500 000 Euro öffent-
        liche Gelder in die Ebolaforschung flossen. Mit solchen
        Summen ist natürlich nichts zu erreichen in der Pharma-
        forschung.
        Sogenannte Produktentwicklungspartnerschaften aus
        Wissenschaft, Industrie und Zivilgesellschaft, die auf
        Non-Profit-Basis an vernachlässigten Krankheiten for-
        schen, haben sich als erfolgreich erwiesen. In der letzten
        Förderrunde von 2011 bis 2015 hat die Bundesregierung
        dafür insgesamt 20 Millionen Euro zur Verfügung ge-
        stellt. Auch das bleibt weit hinter dem zurück, was
        Deutschland gemessen an seiner Wirtschaftskraft beitra-
        gen könnte. Im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt lag
        Deutschland 2012 in puncto öffentlicher Investition in
        Forschung und Entwicklung vernachlässigter und ar-
        mutsindizierter Krankheiten hinter Kolumbien und In-
        dien auf Rang 12. Wieviel die Bundesregierung in der
        nächsten Förderrunde für Entwicklungspartnerschaften
        zur Verfügung stellen wird, ist trotz des bereits vorlie-
        genden Evaluationsberichts bisher leider nicht genau be-
        kannt.
        Wenn die Bundeskanzlerin sich jetzt beim G-7-Gipfel
        und der Weltgesundheitsversammlung als Vorkämpferin
        gegen vernachlässigte Krankheiten in Szene setzt, kann
        dies über die krassen Versäumnisse der Vergangenheit
        nicht wegtäuschen. Wenn sie jetzt endlich die Wichtig-
        keit des Aufbaus von öffentlichen Gesundheitssystemen
        in den Ländern des globalen Südens erkannt hat, ist das
        zwar ein Fortschritt. Die Forderung von Nichtregie-
        rungsorganisationen, mehr Geld für globale Gesundheit
        auszugeben, hat sie aber seit Jahren ignoriert. 0,1 Pro-
        zent des Bruttoinlandsproduktes sollen reiche Staaten
        dafür aufwenden. Die Ausgaben für globale Gesundheit
        betrugen seitens Deutschlands zuletzt aber nur 0,03 Pro-
        zent. Das ist selbst im europäischen Vergleich nur abso-
        lutes Mittelmaß. Außerdem hat Deutschland seinen Fi-
        nanzierungsbeitrag für die Weltgesundheitsorganisation
        WHO immer weiter zurückgefahren: von 33 Millionen
        Euro 2006 auf heute noch 24 Millionen Euro. Diese
        Bundesregierung ist mitverantwortlich dafür, dass die
        globale Gesundheitskrisenreaktion bei Ebola so schlecht
        aufgestellt war.
        Es bleibt zu hoffen, dass diese Bundesregierung auch
        über wichtige Konferenzen und Gipfel hinaus langfristig
        endlich einen angemessenen Beitrag zur Bekämpfung
        vernachlässigter Krankheiten leistet. Am Ende ist und
        bleibt aber das beste Mittel gegen armutsinduzierte
        Krankheiten der erfolgreiche Kampf gegen die Armut
        selbst. Die Bundesregierung jedoch betreibt sowohl na-
        tional als auch international eine Politik der Umvertei-
        lung von unten nach oben. Sie bleibt deshalb trotz aller
        wohlklingenden Maßnahmen und Gipfelankündigungen
        Teil des Problems, nicht der Lösung.
        Der vorliegende Antrag beschränkt sich leider nur auf
        Detailfragen, ohne auf den grundsätzlichen Zusammen-
        hang zwischen Armut und Krankheit näher einzuge-
        hen. Strategien, die den Kern der Problematik zu lösen
        suchen, enthält er leider nicht. Stattdessen macht er
        sehr viele Vorschläge zur Behandlung der Symptome.
        Da diese in weiten Teilen nicht falsch sind, werden wir
        mit Enthaltung stimmen.
        Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Durch
        schlimme und bedrückende Ereignisse wie zuletzt die
        Ebolaepidemie in Westafrika rücken vernachlässigte und
        armutsassoziierte Krankheiten in das öffentliche Inte-
        resse. Auch ohne tägliche Schreckensmeldungen muss
        klar sein: Wir dürfen nicht nachlassen bei der Bekämp-
        fung von Ebola, HIV/Aids, Tuberkulose, Malaria und
        anderer Tropenkrankheiten, von denen die Ärmsten der
        Armen besonders betroffen sind. Es gilt, die internatio-
        nale Zusammenarbeit massiv zu verbessern und zu ver-
        stetigen, damit den Milliarden betroffenen Menschen
        weltweit geholfen werden kann.
        Die Stärkung von Forschung und Entwicklung für die
        Bekämpfung dieser Erkrankungen ist dabei eine wich-
        tige politische und humanitäre Daueraufgabe. Sie muss
        mit aller Entschiedenheit fortgesetzt werden, wenn das
        Auftreten zahlreicher Neuinfektionen einer armuts-
        assoziierten Krankheit aus den akuten Schlagzeilen ver-
        schwunden ist. Unsere Haushaltsanträge wurden leider
        erst vor wenigen Monaten von der Koalition schroff ab-
        gelehnt: Wir hatten zu diesem Zweck für das Haushalts-
        jahr 2015 beantragt, den Titel Gesundheitsforschung um
        20 Millionen Euro aufzustocken, wobei wir speziell für
        die Initiative European and Developing Countries Clini-
        cal Trials Partnership, EDCTP, einen Aufwuchs in Höhe
        von 1 Million Euro vorgesehen haben.
        Sie von der Koalition müssen sich hier deshalb die
        Frage gefallen lassen, warum Sie erst jetzt, noch dazu zu
        nachtschlafender Zeit, einen solchen Antrag einbringen
        und noch dazu ohne vorherige Beteiligung der Fachaus-
        schüsse sofort abstimmen lassen wollen. Wir könnten je-
        denfalls viel weiter sein, wenn Sie unseren parlamentari-
        schen Initiativen zugestimmt hätten.
        Die Vorschläge der Koalition sind nicht neu. Sie fin-
        den überwiegend unsere Zustimmung. Wenn das hier al-
        lerdings mehr sein soll als ein folgenloser Schaufenster-
        antrag, dürfen Sie sich bei der Umsetzung der hehren
        Worte nicht noch mehr Zeit lassen.
        Die Diagnose der strukturellen Mängel fällt zunächst
        nicht schwer: Kurzsichtige wirtschaftliche Abwägungen
        insbesondere der großen Pharmakonzerne verhinderten
        bisher oft medizinische Innovationen und Versorgung,
        weil sich Gewinne mit Medikamenten für armutsasso-
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10219
        (A) (C)
        (D)(B)
        ziierte Krankheitsbilder schwerer realisieren lassen – das
        ist zynisch und unmenschlich. Eine Alternative sind
        Produktentwicklungspartnerschaften, die durch gemein-
        wohlorientierte Forschungsanreize und Entwicklungs-
        prämien zu besseren und erschwinglicheren Medikamen-
        ten für Menschen in ärmeren Ländern führen.
        Es ist gut, dass Sie eine Verstärkung der anwendungs-
        orientierten Grundlagenforschung fordern und europäi-
        sche Programme wie Horizon 2020 loben. Dann dürfen
        Sie aber nicht gleichzeitig die Kürzung und Umwid-
        mung gerade dieser Mittel durch die EU-Kommission
        Junckers zulassen, sondern müssen sich ihr in Brüssel
        und Berlin beherzt entgegenstellen.
        Nicht nur die Wirksamkeit von Medikamenten darf
        hinterfragt werden, sondern es geht auch um die Wirk-
        samkeit und den nachhaltigen Nutzen bestimmter Hilfs-
        instrumente: Damit Prävention und Behandlung verbes-
        sert werden, muss die langfristige Zusammenarbeit mit
        den Akteurinnen und Akteuren vor Ort im Mittelpunkt
        stehen. Das betrifft Aufklärungs- und Informationsakti-
        vitäten über Risikofaktoren und die Vorbeugung von In-
        fektionskrankheiten durch Verhaltensänderungen. Und
        das betrifft die dauerhafte und systematische regionale
        Versorgung mit Medikamenten, die wichtiger wären als
        plakative Verteilaktionen für die Kameras der interna-
        tionalen Öffentlichkeit. Deshalb muss sich die Bundes-
        regierung auch international für nachhaltige, durch-
        dachte und umsetzbare Strategien einsetzen.
        Forschungs- und gesundheitspolitische Zusammenar-
        beit darf nicht von oben herab erfolgen, sondern muss
        sich an der Lebenswelt vor Ort orientieren. Wenn sie
        keine Einbahnstraße ist, kann sie zu gemeinsamen Lern-
        effekten beitragen. Es klingt beispielsweise zunächst
        sehr ehrgeizig, wenn die Koalition in ihrem Antrag an-
        regt, durch „Errichtung von Versichertendatenbanken“
        in den betroffenen Regionen zur „Etablierung eines Ge-
        sundheitssystems und zur verbesserten Erhebung von
        medizinischen Statistiken“ beizutragen. Aber es ist doch
        überaus zweifelhaft, wie sinnvoll und wirksam dieses
        Instrument ist. Sie selbst schaffen es seit Jahren nicht
        einmal in Deutschland, eine elektronische Gesundheits-
        karte einzuführen. Also ein Vorschlag, der nicht trägt
        und den Ärmsten der Armen nicht weiterhilft.
        Sowohl Akzeptanz als auch Realisierbarkeit müssen
        generell beachtet werden. Und es geht auch um Prioritä-
        tensetzung: Besonders dringliche Maßnahmen müssen
        zuerst angegangen und der Ausbau von Infrastrukturen
        mit den internationalen Partnern koordiniert werden,
        etwa durch einen globalen Fonds.
        Wir brauchen substanzielle Verbesserungen, damit
        Menschenleben gerettet und Zukunftschancen weltweit
        gesichert werden. Meine Fraktion unterstützt deshalb
        alle sinnvollen Forderungen, aber wir mahnen vor allem
        konkretes, schnelles und dauerhaft verlässliches Han-
        deln der Regierung an. Denn nur so können endlich
        mehr Menschen vor Neuinfektionen geschützt und er-
        krankte gerettet werden. Deswegen darf die Bundesre-
        gierung keine Zeit verlieren.
        Anlage 7
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zum
        Internationalen Erbrecht und zur Änderung
        von Vorschriften zum Erbschein sowie zur Än-
        derung sonstiger Vorschriften (Tagesordnungs-
        punkt 24)
        Dr. Hendrik Hoppenstedt (CDU/CSU): Niemand
        beschäftigt sich gerne mit seinem eigenen Tod. Aber der
        Tod gehört unausweichlich zum Leben dazu. Will man
        aber beeinflussen, was nach dem eigenen Tod mit den fi-
        nanziellen Werten geschieht, die man erarbeitet hat, will
        man das Schicksal seines Nachlasses selbst bestimmen,
        dann muss man sich zu Lebzeiten mit der Planung des
        eigenen Nachlasses beschäftigen.
        Durch die EU-Erbrechtsverordnung und das beglei-
        tende Gesetz, das wir heute in zweiter und dritter Lesung
        beraten, wird diese Planung des Nachlasses und dessen
        Abwicklung in Erbfällen mit Auslandsbezug erheblich
        vereinfacht. Das Erbschaftsteuerrecht wird durch den
        Gesetzentwurf nicht geändert.
        Bisher unterliegt nach deutschem Recht die Rechts-
        nachfolge von Todes wegen dem Recht des Staates, dem
        der Erblasser zum Zeitpunkt seines Todes angehörte.
        War der Erblasser Deutscher, galt also deutsches Erb-
        recht. Dies ändert sich durch die EU-Erbrechtsverord-
        nung.
        Ausländisches Erbrecht kann erheblich von den deut-
        schen erbrechtlichen Regelungen abweichen. Wenn
        deutsche Staatsbürger über Vermögen in einem anderen
        Land verfügen oder wenn sie nicht in ihrem Heimatland
        leben, können im Erbfall verschiedene Rechtsordnungen
        auf den Nachlass Anwendung finden. Dies kann zu ge-
        gensätzlichen Ergebnissen und unvereinbaren Gerichts-
        entscheidungen führen, die die Erben möglicherweise
        vor unlösbare Konflikte stellten. Folge können mehrfa-
        che Nachlassverfahren sein. Das wird mit der Erbrechts-
        verordnung geändert:
        Die EU-Erbrechtsverordnung lässt das materielle
        Erbrecht der einzelnen Mitgliedstaaten unberührt. Sie
        bestimmt aber, dass nur das Erbrecht eines Staates auf
        den gesamten Nachlass Anwendung findet, egal in wel-
        chem Staat sich das Vermögen des Verstorbenen befin-
        det. Das führt zu mehr Rechtssicherheit, und für die Er-
        ben wird die Verwaltung und Auseinandersetzung des
        Nachlasses deutlich vereinfacht. Das spart viel Ärger,
        Zeit und Kosten.
        Sofern der Erblasser dies testamentarisch nicht anders
        festgelegt hat, richtet sich künftig die gesamte Rechts-
        nachfolge von Todes wegen nach dem Recht des Staates,
        in dem der Verstorbene im Zeitpunkt seines Todes seinen
        gewöhnlichen Aufenthalt hatte.
        Ab dem 17. August 2015 werden Bürgerinnen und
        Bürger ihre Rechte bei grenzüberschreitenden Erbfällen
        leichter durchsetzen können.
        10220 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015
        (A) (C)
        (D)(B)
        Der Gesetzentwurf ist politisch nicht brisant. Er dient
        vor allem der rechtstechnischen Anpassung des nationa-
        len Rechts an die EU-Erbrechtsverordnung, die ab dem
        17. August 2015 in Deutschland unmittelbar gilt. An-
        wendbar ist das neue Recht für Todesfälle ab dem
        17. August. Eine zuvor getroffene Rechtswahl bleibt
        aber auch danach wirksam.
        Mit dem Gesetzentwurf, den wir heute abschließend
        beraten, werden für das Europäische Nachlasszeugnis
        eigene Verfahrensregeln vorgesehen. Ziel ist es, die Zu-
        ständigkeit für das Verfahren zur Erteilung eines deut-
        schen Erbscheins und über die Ausstellung eines Euro-
        päischen Nachlasszeugnisses möglichst bei einem
        Gericht zu bündeln.
        Weiterhin erfolgt eine Anpassung des deutschen
        Rechts:
        Der Erbrechtsverordnung entgegenstehende nationale
        Regelungen werden aufgehoben, es werden einige Durch-
        führungsvorschriften erlassen, damit die Erbrechtsver-
        ordnung in der Praxis problemlos angewendet werden
        kann, und es werden die nationalen Vorschriften zum
        Erbschein an die Vorgaben der Erbrechtsverordnung
        zum Europäischen Nachlasszeugnis angepasst sowie ge-
        setzessystematische Mängel beseitigt.
        Im Rahmen der Berichterstattergespräche haben wir
        uns im Wesentlichen mit zwei Aspekten befasst.
        Mit dem Ziel, den Gestaltungsspielraum für Erblasser
        zu erweitern, haben wir diskutiert, ob es sinnvoll ist, die
        Bindungswirkung einer wechselseitigen Verfügung in ei-
        nem gemeinschaftlichen Testament bzw. in einem Erb-
        vertrag auch auf die Anordnung einer Testamentsvoll-
        streckung auszudehnen. Weil die Erbrechtsverordnung
        bereits ab dem 17. August 2015 gilt und das Gesetzge-
        bungsverfahren rechtzeitig davor abgeschlossen werden
        musste, haben wir uns mit dem Koalitionspartner darauf
        verständigt, dass die Frage der Möglichkeit einer bin-
        denden Anordnung der Testamentsvollstreckung in einem
        gemeinschaftlichen Testament oder Erbvertrag durch das
        Bundesjustizministerium ergebnisoffen geprüft wird. Das
        BMJV wird dazu kurzfristig eine Umfrage bei den Län-
        dern und den betroffenen Verbänden durchführen mit ei-
        ner Frist zur Stellungnahme bis Ende September. Damit
        wird etwa im Oktober ein Ergebnis vorliegen, und eine
        entsprechende Regelung kann im Zusammenhang mit
        dem notariellen Nachlassverzeichnis getroffen werden.
        Aufgrund der Stellungnahme des Bundesrates haben
        wir vertieft geprüft, ob wir in Deutschland eine Rege-
        lung erlassen können, die nicht nur die Änderung und
        den Widerruf, sondern auch die körperliche Einziehung
        eines unrichtigen Nachlasszeugnisses ermöglicht. Das
        BMJV hat deutlich gemacht, dass die Kommission ur-
        sprünglich eine Einziehungsmöglichkeit vorgeschlagen
        hatte. Dieser Vorschlag fand aber im Gesetzgebungspro-
        zess auf europäischer Ebene keine Mehrheit und wurde
        bewusst nicht aufgegriffen. Weil die Erbrechtsverord-
        nung insoweit also eine abschließende Regelung trifft,
        wäre eine entsprechende nationale Regelung nicht euro-
        parechtskonform.
        Das Struck’sche Gesetz gilt aber auch für diesen Ge-
        setzentwurf: Im parlamentarischen Verfahren wurden
        handwerkliche Fehler behoben. Im ursprünglichen Ge-
        setzentwurf wurde § 2270 BGB geändert, also der Spe-
        zialfall. Es wurde aber versäumt, die Grundvorschrift
        des § 1941 BGB an die Erbrechtsverordnung anzupas-
        sen. Weil nur die in § 1941 BGB genannten Verfügungen
        an der den Erbvertrag kennzeichnenden Bindungswir-
        kung teilhaben, war eine Ergänzung erforderlich.
        Mit dem Gesetzentwurf stellen wir sicher, dass das
        grenzüberschreitende Erben und Vererben in Europa ein-
        facher wird, und schaffen Rechtssicherheit für die Um-
        setzung der Nachlassplanung.
        Dr. Silke Launert (CDU/CSU): In dem Gesetzent-
        wurf, über den wir heute sprechen, heißt es, es sei jähr-
        lich von circa 30 000 Todesfällen von EU-Ausländern in
        Deutschland auszugehen. Etwa genauso viele Deutsche
        würden jedes Jahr im europäischen Ausland versterben.
        Von diesen Zahlen nicht erfasst sind die Todesfälle von
        Nicht-EU-Bürgern.
        Gelangen diese Sterbefälle vor ein deutsches Gericht,
        müssen sich Richter und Rechtspfleger in Verfahren der
        freiwilligen Gerichtsbarkeit oder in streitigen Erbrechts-
        verfahren zunächst fragen: Bin ich bzw. ist mein Gericht
        überhaupt zuständig? Und wenn ja: Darf ich hier deut-
        sches Recht anwenden?
        Stirbt beispielsweise ein deutscher Rentner in der
        Toskana, wo er seinen Lebensabend in einer kleinen
        Villa verbracht hat, und entstehen nach seinem Tod
        Erbstreitigkeiten unter den in Deutschland lebenden
        Kindern über das Häuschen in Deutschland, die Villa in
        Italien und das Konto in der Schweiz, kann sich ein deut-
        sches Gericht nicht per se für zuständig erklären und
        deutsches Erbrecht anwenden. Es stellen sich vielmehr
        konkret immer zwei Fragen, nämlich die nach der inter-
        nationalen Zuständigkeit und die nach dem anwendbaren
        Recht.
        Bislang gibt es für das Erbrecht im Internationalen
        Zivilverfahrensrecht keine und im Internationalen Pri-
        vatrecht kaum Regelungen internationalen Ursprungs.
        Die nationalen Gerichte müssen daher immer entspre-
        chend dem Lex-fori-Grundsatz auf ihr eigenes, nationa-
        les Recht zurückgreifen.
        In Deutschland gelangt man so bislang anhand der
        Vorschriften der ZPO zur internationalen Zuständigkeit
        und mittels des EGBGB zum anwendbaren Recht. Selbst-
        verständlich sieht es in den anderen Mitgliedstaaten
        nicht anders aus, auch diese greifen auf ihr nationales
        Recht zurück. Und da alle 28 Staaten verschiedene Rechts-
        ordnungen haben, kann es durchaus sein, dass derselbe
        Fall zu unterschiedlichen Ergebnissen führt, je nachdem,
        in welchem Staat ein Gericht angerufen wird.
        Darüber hinaus kann die aktuelle Gesetzeslage mitun-
        ter schon einmal dazu führen, dass ein Gericht eine
        fremde Rechtsordnung anwenden muss. Dass also bei-
        spielsweise ein deutsches Gericht ausländisches Erb-
        recht anzuwenden hat oder sogar teilweise deutsches,
        teilweise ausländisches, wenn Vermögen auch im Aus-
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10221
        (A) (C)
        (D)(B)
        land belegen ist. Es versteht sich von selbst, dass hierbei
        große Rechtsunsicherheiten entstehen können.
        Ab dem 17. August dieses Jahres wird das anders.
        Denn ab dann ist die Erbrechtsverordnung auf alle ein-
        tretenden Erbfälle anzuwenden, die in den Mitgliedstaa-
        ten einheitlich insbesondere die Zuständigkeit und das
        anzuwendende Recht regelt. Fortan entscheiden also alle
        Gerichte in der EU anhand derselben Rechtsvorschrif-
        ten, welches Gericht im Einzelfall zuständig und wel-
        ches Recht anwendbar ist. Sie werden im konkreten Ein-
        zelfall alle zur Zuständigkeit desselben Gerichts und zur
        Anwendung desselben Rechts kommen. Die Zeiten des
        Forum-Shoppings im Erbrecht sind damit passé.
        Anknüpfungsmoment wird bei der Zuständigkeit und
        beim anwendbaren Recht nach Artikel 4 bzw. Arti-
        kel 21 Absatz 1 EuErbVO jeweils der gewöhnliche Auf-
        enthalt sein. Das heißt, entscheidend ist der Ort bzw. das
        Land, in dem der Schwerpunkt der familiären oder be-
        ruflichen Bindungen des Erblassers zuletzt lagen. Es
        wird also eine Gesamtbeurteilung der Lebensumstände
        des Erblassers in den Jahren vor seinem Tod und im
        Zeitpunkt seines Todes vorzunehmen sein, wobei alle re-
        levanten Tatsachen berücksichtigt werden müssen, ins-
        besondere die Dauer und die Regelmäßigkeit des Auf-
        enthalts in dem betreffenden Staat sowie die damit
        zusammenhängenden Umstände und Gründe.
        Vorteil desselben Anknüpfungsmoments bei Zustän-
        digkeit und anwendbarem Recht ist, dass nun das zustän-
        dige Gericht – mit wenigen Ausnahmen – sein eigenes
        materielles Erbrecht anwenden können wird.
        Mit der Verankerung des Aufenthaltsprinzips wird
        das dem deutschen Recht vertraute Staatsangehörigkeits-
        prinzip des Artikel 25 EGBGB endlich abgelöst. Vor
        dem Hintergrund der zunehmenden Mobilität der euro-
        päischen Bürger findet sich darin nun endlich eine zeit-
        gemäße und praktikable Regelung, wie sie in den Haager
        Übereinkommen im Übrigen schon längst praktiziert
        wird. Die Verordnung gewährleistet damit eine ord-
        nungsgemäße Rechtspflege innerhalb der Union und
        eine wirkliche Verbindung zwischen dem Nachlass und
        dem Mitgliedstaat, in dem die Erbsache abgewickelt
        wird.
        Um das Ganze nun ein wenig anschaulicher zu ma-
        chen, möchte ich auf mein eingangs genanntes Beispiel
        zurückkommen:
        Ab August wird es nun nicht mehr relevant sein, wel-
        che Staatsangehörigkeit der Erblasser hatte oder wo sein
        Nachlass belegen ist. Zuständig ist ein italienisches Ge-
        richt und der Erblasser wird nach italienischem Erbrecht
        beerbt.
        Will der Erblasser – aus unserem Beispielsfall – nicht,
        dass sich seine Erbfolge nach italienischem Recht rich-
        tet, kann er nach Artikel 22 Absatz 1 im Testament re-
        geln, dass im Todesfall das Recht des Staates Anwen-
        dung findet, dem er bei der Rechtswahl oder bei seinem
        Tod angehört. In unserem Fall kann er also deutsches
        Recht wählen. Auch das ist neu. Nach bisherigem deut-
        schen Recht war die Rechtswahl beschränkt auf Grund-
        stücke und auch da nur zugunsten deutschen Rechts
        möglich.
        Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang darauf,
        dass Großbritannien, Irland und Dänemark auch diese
        Verordnung nicht übernommen haben. Das nach der Ver-
        ordnung maßgebliche Recht ist jedoch auch dann anzu-
        wenden, wenn es sich um das Recht eines Drittstaates
        handelt. Die Europäische Erbrechtsverordnung bean-
        sprucht somit universelle Geltung.
        Der vorliegende Gesetzentwurf sieht nun Regelungen
        vor, dieser Verordnung ab August zur Anwendung zu
        verhelfen. Gebündelt hat er sie in einem neu zu schaffen-
        den Gesetz, dem sogenannten Internationalen Erbrechts-
        verfahrensgesetz. Dessen Anwendbarkeit beschränkt sich
        konsequenterweise auf die Fälle, in denen die EuErbVO
        gelten wird. Es regelt insbesondere die örtliche Zustän-
        digkeit, die Zulassung von Zwangsvollstreckungen aus
        ausländischen erbrechtlichen Titeln sowie die Entgegen-
        nahme von Erklärungen der Annahme oder Ausschla-
        gung einer Erbschaft.
        Schließlich enthält der Gesetzentwurf bzw. das Inter-
        nationale Erbrechtsverfahrensgesetz auch Vorschriften
        zum von der ErbVO neu eingeführten Europäischen
        Nachlasszeugnis. Dieses Zeugnis soll, einem Erbschein
        vergleichbar, zur Umschreibung öffentlicher Register
        verwendet werden und Erben, Vermächtnisnehmer und
        Testamentsvollstrecker in allen Mitgliedstaaten, in de-
        nen die Verordnung gilt, zu Legitimationszwecken die-
        nen. Voraussetzung für die Erteilung ist, dass das Zeug-
        nis in mehreren Mitgliedstaaten Anwendung findet und
        nicht nur innerstaatliche Sachverhalte betrifft.
        Der Gesetzentwurf wird das Europäische Nachlass-
        zeugnis dem deutschen Erbschein in seinen Rechtswir-
        kungen gleichstellen. Gleichzeitig gleicht er die Vor-
        schriften zum Erbschein an die Vorgaben der ErbVO
        zum Europäischen Nachlasszeugnis an. Ziel ist es, die
        Zuständigkeit für das Verfahren zur Erteilung eines deut-
        schen Erbscheins und über die Ausstellung eines Euro-
        päischen Nachlasszeugnisses möglichst bei demselben
        Gericht zu bündeln.
        Bezweckt wird auch hier eine erhebliche Vereinfa-
        chung bei grenzüberschreitenden Erbfällen.
        Abschließend lässt sich sagen, dass die Verordnung
        und das vorliegende umzusetzende Gesetz einen weite-
        ren wichtigen Baustein liefern, um die Freizügigkeit im
        europäischen Rechtsraum zu erleichtern.
        Dennis Rohde (SPD): Europa wächst zusammen.
        Die alten Grenzen der Nationalstaaten, die die Struktur
        unseres Kontinents lange Zeit bestimmt haben, existie-
        ren weiter – aber sie haben einiges ihrer traditionellen
        Bedeutung eingebüßt. Wir können in unseren Nachbar-
        staaten reisen, arbeiten, wohnen – und all dies ohne die
        bürokratischen Maßregelungen, die für die Generation
        unserer Eltern noch selbstverständlich waren und deren
        Abschaffung man sich nicht träumen ließ. Auch wenn
        reaktionäre Nationalstaatsnostalgiker das nicht einsehen
        mögen: Diese Einigung ist ein hohes Gut. Sie zu bewah-
        ren und weiter voranzutreiben, ist für Europas Zukunft
        10222 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015
        (A) (C)
        (D)(B)
        unerlässlich – und damit auch für Deutschland. Denn
        ohne ein starkes, friedliches, geeinigtes Europa fehlen
        die Voraussetzungen für den Zusammenhalt und den
        Wohlstand unseres Landes.
        Durch das Schwinden der nationalen Gegensätze ha-
        ben sich auch die Lebensentwürfe geändert. Bestimmten
        vor einigen Jahrzehnten noch Grenzen unsere Lebens-
        welten, so genießen wir jetzt ungeahnte Freiheiten. Wir
        studieren im europäischen Ausland, ziehen ungehindert
        dorthin oder verlagern unseren Lebensmittelpunkt – und
        können doch jederzeit nach Deutschland zurückkehren.
        Auch Freundschaft, Ehe und Familie haben die alten
        Grenzen hinter sich gelassen. Die Europäerinnen und
        Europäer messen einander nicht mehr vornehmlich an
        der Staatsangehörigkeit – die europäische Integration hat
        ganz neue Möglichkeiten des Miteinanders geschaffen,
        die unseren Kontinent friedlicher, verzahnter und offener
        machen.
        Dazu gehört aber auch, dass eine zunehmende Zahl
        von Menschen in einem anderen Land stirbt als dem,
        dessen Staatsbürger sie sind. Sei es, weil sie sich im Ru-
        hestand das ersehnte Haus im Süden geleistet haben,
        oder einfach, weil sich der Lebensmittelpunkt irgendwann
        verlagert hat – die Gründe sind vielfältig. Unbestritten da-
        gegen ist, dass das Zusammenspiel unterschiedlicher
        Erbrechtssysteme Schwierigkeiten aufwerfen kann – und
        eine klare Regelung daher überfällig war.
        Die EU-Erbrechtsverordnung, der wir heute mit dem
        vorliegenden Gesetzentwurf den Weg auch in Deutsch-
        land ebnen, schafft hier Klarheit. Künftig gilt bei inter-
        nationalen Erbfällen – diese liegen zum Beispiel vor,
        wenn ein Deutscher im Ausland stirbt und sein dortiges
        Haus vererbt – das Erbrecht des Landes, in dem der Ver-
        storbene seinen letzten gewöhnlichen Wohnsitz hatte.
        Entscheidend ist also nicht mehr die Staatsbürgerschaft,
        sondern der Wohnort. Damit trägt auch das Erbrecht
        endlich dem Prinzip der Bewegungsfreiheit Rechnung,
        das zu einer bedeutenden Entwicklung des Zusammenle-
        bens in Europa beigetragen hat – und das wir entschie-
        den gegen regelmäßig wiederkehrende Bestrebungen, es
        aufzuweichen oder zu unterlaufen, verteidigen müssen.
        Zur Einigung in Europa gehört auch, dass Vorschrif-
        ten und Regularien vereinheitlicht werden, um den ge-
        genseitigen Austausch zu vereinfachen. Der zweite wich-
        tige Aspekt des vorliegenden Gesetzentwurfes ist daher
        folgerichtig die Eingliederung des Europäischen Nach-
        lasszeugnisses in deutsches Recht. Nicht viel anders als
        beim Erbschein sollen deutsche Amtsgerichte nun auch
        europaweit gültige und einheitlich verständliche Nach-
        lasszeugnisse sowie beglaubigte Abschriften ausstellen –
        damit in Bezug auf Erbfälle in ganz Europa Rechtssi-
        cherheit herrscht.
        Der vorliegende Gesetzentwurf mag im großen Be-
        trieb der Politik auf den ersten Blick nicht besonders be-
        deutsam erscheinen. Aber er ist stellvertretend für eine
        Politik der europäischen Einigung, die auch und ganz
        besonders wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokra-
        ten immer vorangetrieben haben. Und er steht für eine
        überlegte, ruhige Sachpolitik, in der man sich auch zwi-
        schen Regierungs- und Oppositionsfraktionen verstän-
        digt, um gemeinsam vernünftige Gesetze voranzubrin-
        gen. In diesem Sinne ist der heutige Gesetzentwurf nicht
        nur bedeutsam, sondern hoffentlich sogar richtungswei-
        send.
        Jörn Wunderlich (DIE LINKE): Sehr geehrter Le-
        ser, wenn ich hier möglicherweise die Argumente mei-
        nes „Vorredners“ wiederhole, bitte ich um Nachsicht, da
        ich diese infolge der vereinbarten Protokollreden ja
        nicht kennen kann. Also: Anlass für diesen Gesetzent-
        wurf ist vor allem die Durchführung der Verordnung
        (EU) Nr. 650/2012 des Europäischen Parlaments und des
        Rates vom 4. Juli 2012 über die Zuständigkeit, das anzu-
        wendende Recht, die Anerkennung und Vollstreckung
        von Entscheidungen und die Annahme und Vollstre-
        ckung öffentlicher Urkunden in Erbsachen sowie zur
        Einführung eines Europäischen Nachlasszeugnisses
        (ABl. L 201 vom 27. Juli 2012, S. 107; L 344 vom
        14. Dezember 2012, S. 3; L 41 vom 12. Februar 2013,
        S. 16; L 60 vom 2. März 2013, S. 140 – ErbVO), welche
        ab dem 17. August 2015 anzuwenden ist. Die ErbVO gilt
        für alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union mit
        Ausnahme des Vereinigten Königreichs, Irlands und Dä-
        nemarks. Als Verordnung ist sie in der Bundesrepublik
        Deutschland unmittelbar anzuwenden mit der Folge,
        dass sie in ihrem Anwendungsbereich das bislang gel-
        tende Recht verdrängt. Gleichwohl bedarf es einiger
        Durchführungsvorschriften für die Umsetzung.
        Die Schaffung der notwendigen Verfahrensregelun-
        gen zum Europäischen Nachlasszeugnis wurde hier zum
        Anlass genommen, auch entsprechend sinnvolle Rege-
        lungen zum Erbschein zu ändern.
        Zum einen werden punktuell Vorschriften zum Erb-
        schein an die Vorgaben der ErbVO zum Europäischen
        Nachlasszeugnis angepasst mit dem Ziel, die Zuständig-
        keit für das Verfahren zur Erteilung eines deutschen Erb-
        scheins und über die Ausstellung eines Europäischen
        Nachlasszeugnisses möglichst bei demselben Gericht zu
        bündeln. Zum anderen werden die Anpassungen beim
        Erbschein zum Anlass genommen, derzeit im Bürgerli-
        chen Gesetzbuch, BGB, enthaltene, rein verfahrens-
        rechtliche Vorschriften zum Erbschein aus systemati-
        schen Gründen in das Gesetz über das Verfahren in
        Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwil-
        ligen Gerichtsbarkeit, FamFG, zu übertragen und dabei
        zugleich überflüssige Doppelregelungen in BGB und
        FamFG zu bereinigen. Im Übrigen soll insbesondere
        eine Regelungslücke im Bereich der Gebühren in Grund-
        buchsachen geschlossen werden, um die Höhe der bei
        der Eintragung von Veränderungen eines Gesamtrechts
        bei verschiedenen Grundbuchämtern zu erhebenden Ge-
        bühren auf ein angemessenes Maß zu begrenzen.
        Bislang herrschte in grenzüberschreitenden Erb-
        schaftsfällen eine große Unsicherheit, welches nationale
        Recht Anwendung findet. Mit der EU-Verordnung wird
        dahingehend Rechtssicherheit geschaffen, als dass nun-
        mehr das Recht desjenigen Staates Anwendung findet, in
        dem der Erblasser seinen letzten Wohnsitz hatte. Dies
        würde dann aber auch dazu führen, dass zum Beispiel
        Deutsche, die ihren Lebensabend im Ausland verbrin-
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10223
        (A) (C)
        (D)(B)
        gen, nicht mehr nach deutschem Recht beerbt werden.
        Dennoch ist diese Regelung vor dem Hintergrund der
        Rechtssicherheit zu begrüßen, zumal ein Erblasser testa-
        mentarisch nach wie vor die Anwendbarkeit deutschen
        Rechts festlegen kann.
        Auch für Erben bringt die Verordnung eine Erleichte-
        rung. Denn das durch die Verordnung neu geschaffene
        Europäische Nachlasszeugnis stellt eine Art internatio-
        nalen Erbschein dar, der in der gesamten EU Geltung be-
        sitzt mit der Folge, dass der Erbe nicht mehr in all den
        Ländern, in denen der Erblasser Vermögen hinterlassen
        hat, separat Erbscheine beantragen muss.
        Das internationale Nachlasszeugnis kann – wie der
        bisherige Erbschein – beim Notar beantragt werden.
        Die Konzentrierung der Zuständigkeit für das Verfah-
        ren zur Erteilung eines deutschen Erbscheins und über
        die Ausstellung eines Europäischen Nachlasszeugnisses
        bei demselben Gericht stellt ebenfalls eine Erleichterung
        dar und ist zu unterstützen.
        Die Übertragung der derzeit noch im BGB enthalte-
        nen rein verfahrensrechtlichen Vorschriften zum Erb-
        schein in das FamFG ist ebenfalls vor dem rechtssyste-
        matischen Hintergrund zu begrüßen.
        Damit führt die Verordnung im Ergebnis zu deutli-
        chen Erleichterungen bei Erblassern und Erben und zu
        mehr Rechtssicherheit und einer besseren rechtssystema-
        tischen Ordnung. Da der vorliegende Gesetzentwurf
        letztlich nur der Durchführung der Verordnung im
        deutschen Recht dient und darüber hinaus die Rege-
        lungslücke im Bereich der Gebühren in Grundbuchsa-
        chen zugunsten der Betroffenen schließt, sollte diesem
        zugestimmt werden.
        In dem Änderungsantrag geht es im Wesentlichen le-
        diglich um redaktionelle Korrekturen, Klarstellungen
        und Folgeänderungen, auf die hier nicht näher eingegan-
        gen werden muss. Es wird außerdem noch eine Begren-
        zung der Zusatzgebühr für die Beurkundung in einer
        fremden Sprache auf 5 000 Euro eingeführt.
        Wahrscheinlich sind diese Gründe, wie eingangs er-
        wähnt, auch von meinem „Vorredner“ angeführt werden,
        was ich jedoch leider in Anbetracht der Protokollreden
        nicht beurteilen kann. Ich gehe jedoch gesichert davon
        aus, zumal wir uns im Berichterstattergespräch einig wa-
        ren, dass dem Gesetz zugestimmt werden kann.
        Alles in allem stimmt die Linke dem Gesetz, wie be-
        reits im Ausschussprotokoll dokumentiert, daher auch in
        der zweiten und dritten Lesung zu.
        Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir wol-
        len keine Grenzen mehr in Europa. Wir wollen europa-
        weit wohnen, arbeiten, leben und sterben und deswegen
        am Ende auch europaweit erben.
        Aber keine Sorge: das materielle Erbrecht wird jetzt
        nicht europäisiert.
        Wer von wem in welcher Reihenfolge und in wel-
        chem Umfang erbt, bleibt, wie es ist. Allerdings ändert
        sich das Verfahrensrecht.
        Durch die Vereinheitlichung der Verfahrensregeln
        und die Möglichkeit der Rechtswahl wird es für Hinter-
        bliebene aber jetzt einfacher, zum Beispiel in Fällen, in
        denen der Erblasser oder die Erblasserin zuletzt in einem
        anderen europäischen Land lebte oder in denen Paare
        mit unterschiedlichen Staatsangehörigkeiten ein gemein-
        sames Testament errichten.
        Denn ab dem 17. August 2015 gelten im Erbrecht in
        fast allen EU-Mitgliedstaaten einheitliche Verfahrensre-
        geln. Die Hinterbliebenen müssen sich beispielsweise
        nicht mehr um die Anerkennung ausländischer Gerichts-
        urteile kümmern, sondern wenden sich an das Gericht
        am letzten gewöhnlichen Aufenthalt des Erblassers bzw.
        der Erblasserin.
        Auch ist es nun möglich, durch eine Rechtswahl die
        Nachlassspaltung zu vermeiden. Es ist nur noch ein
        Recht anwendbar für den gesamten Nachlass und nicht
        mehr unterschiedliches Recht, je nachdem, ob es sich um
        Grund und Boden oder um bewegliches Vermögen han-
        delt, wie es derzeit in einigen europäischen Rechtsord-
        nungen der Fall ist.
        Die Einführung des Europäischen Nachlasszeugnis-
        ses vereinfacht und vereinheitlicht den Nachweis im
        Rechtsverkehr. Der deutsche Erbschein bleibt aber erhal-
        ten. Das ist gut; denn er ist anders als das Europäische
        Nachlasszeugnis von seiner Gültigkeitsdauer nicht be-
        grenzt. Beantragt wird das Europäische Nachlasszeugnis
        beim Gericht am letzten gewöhnlichen Aufenthalt des
        Erblassers oder der Erblasserin. Somit ist es für die Er-
        ben einfacher, zu wissen, an wen sie sich wenden müs-
        sen, wenn sie ihr Erbe antreten möchten.
        Bei aller Vereinfachung bleiben aber auch Unsicher-
        heiten: Bei gemeinschaftlichen Testamenten, wie dem
        Berliner Testament, muss man jetzt darauf achten, dass
        eine Bindung des überlebenden Ehegatten anderswo oft
        so nicht möglich ist. Gleiches gilt für die Testaments-
        vollstreckung. Auch das Pflichtteilsrecht kann sehr un-
        terschiedlich sein. Hier wird es nach wie vor gut sein,
        sich beraten zu lassen.
        Schutzlücken gibt es bei gleichgeschlechtlichen Paa-
        ren. Denn nicht in allen EU-Mitgliedstaaten werden Le-
        benspartnerschaften gesetzlich anerkannt, sodass sich
        hieraus eine mögliche Diskriminierung ergeben kann
        und die Rechtswahl beispielsweise bei gemeinschaftli-
        chen Testamenten faktisch ins Leere läuft, wenn der hin-
        terbliebene Partner oder die hinterbliebene Partnerin die
        Nachlassbeteiligung nicht durchsetzen kann. Denn die
        Frage, ob eine Partnerschaft überhaupt besteht, richtet
        sich nicht nach der Erbrechtsverordnung, sondern nach
        dem Recht, das an dem Ort des letzten gewöhnlichen
        Aufenthalts gilt. Zwar können auch hier die Partner oder
        Partnerinnen von der Möglichkeit der Rechtswahl Ge-
        brauch machen, doch kann es sein, dass Pflichtteilan-
        sprüche anderer Angehöriger bestehen bleiben.
        Eine Lösung für diese Fragen des Personenstands-
        rechts hätte eigentlich schon auf europäischer Ebene
        gefunden werden sollen, doch wurden auch bei den
        Durchführungsbestimmungen auf nationaler Ebene die
        10224 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015
        (A) (C)
        (D)(B)
        verbleibenden, kleinen Gestaltungsspielräume leider nicht
        genutzt.
        Es gibt sicher noch viele weitere Baustellen im Erb-
        recht, über die es sich lohnen würde zu debattieren. Ich
        denke zum Beispiel an die Berücksichtigung von Pflege-
        leistungen beim Pflichtteilsrecht.
        Mit dem heutigen Gesetz wird das Erbrecht zwar
        nicht revolutioniert, aber eine sinnvolle Anpassung von
        Verfahrensvorschriften an die europäische Verordnung
        vorgenommen. Dem wird auch die grüne Fraktion ihre
        Zustimmung erteilen.
        Anlage 8
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
        Umsetzung der Protokollerklärung zum Gesetz
        zur Anpassung der Abgabenordnung an den
        Zollkodex der Union und zur Änderung weite-
        rer steuerlicher Vorschriften (Tagesordnungs-
        punkt 25)
        Olav Gutting (CDU/CSU): Wir beraten heute in ers-
        ter Lesung einen Gesetzentwurf, welcher 13 Maßnah-
        men aufgreift, die der Bundesrat im Zollkodex-Anpas-
        sungsgesetz vorgeschlagen hatte und die nach der
        zugesagten fachlichen Prüfung umgesetzt werden kön-
        nen. Gleichzeitig wollen wir aber auch andere, aus unse-
        rer Sicht notwendige Änderungen mit diesem Gesetz
        vornehmen.
        Ganz glücklich bin ich mit dem aktuellen Gesetzent-
        wurf noch nicht. Das fängt schon bei der Namensgebung
        an. Während die jährlichen notwendigen Anpassungen
        an das Steuerrecht in der Vergangenheit in den jeweili-
        gen Jahressteuergesetzen vorgenommen wurden, geschieht
        dies nunmehr zunehmend in Trägergesetzen, die nicht
        zwingend im Titel auf den steuerlichen Bezug, wie zum
        Beispiel im Kroatiengesetz, dem Zollkodex-Anpas-
        sungsgesetz oder wie in dem hier beratenen Protokoll-
        erklärungsumsetzungsgesetz hinweisen.
        Mit diesem Gesetz werden nun vorrangig Wünsche
        des Bundesrates umgesetzt. Wir geben damit auch ein
        Signal an die Länder, dass wir bereit sind, sinnvolle steu-
        erliche Anpassungswünsche des Bundesrates aufzugrei-
        fen.
        Dies ist jedoch keine Einbahnstraße, und ich appel-
        liere an den Bundesrat, bei anderen Gesetzgebungsvor-
        haben des Bundestages auch einzulenken und die immer
        wieder gefahrene Blockadepolitik aufzuheben.
        Ich denke dabei insbesondere an zwei wichtige Ge-
        setzgebungsverfahren – steuerliche Absetzbarkeit der
        energetischen Sanierung und Abbau der kalten Progres-
        sion – der letzten Legislaturperiode, die aufgrund der
        Blockade des von Rot-Grün dominierten Bundesrates
        scheiterten.
        Auch wenn der vorliegende Gesetzentwurf überwie-
        gend unproblematische Maßnahmen enthält, bedürfen
        einige Regelungen bei den zukünftigen Beratungen be-
        sonderer Aufmerksamkeit.
        Klärungsbedarf gibt es für uns beispielsweise bei der
        geplanten Schließung von Lücken im Umwandlungs-
        steuergesetz, explizit beim § 20 Absatz 2 UmwStG.
        Wir halten die vorgesehene Änderung des UmwStG
        nicht für zwingend erforderlich, da eine systemwidrige
        Lücke – die geschlossen werden muss – überhaupt nicht
        vorliegt. Nun ist die Änderung im Koalitionsvertrag ver-
        einbart, wir sollten aber nochmals prüfen, ob tatsächlich
        ein reales Bedürfnis hierfür besteht.
        Gerade bei diesem Thema bin ich auf eine Anhörung
        der Sachverständigen gespannt, zumal die Maßnahme
        allein aufgrund eines prominenten Einzelfalls Einzug in
        die politische Diskussion und die vermeintliche Notwen-
        digkeit einer Lückenschließung gefunden hat.
        Weiterhin werden wir über eine Anhörung und die
        Beratungen klären müssen, ob wir mit der vermeintli-
        chen Lückenschließung gestaltende steuerfreie Umstruk-
        turierungen tatsächlich verhindern können.
        In den zukünftigen Beratungen ist von uns ebenfalls
        zu klären, ob die vorgesehene Mittelstandskomponente
        ausreichend für Umstrukturierungen im Mittelstand ist.
        Bedeutend ist unter Steuervereinfachungsaspekten
        auch der Wegfall des Funktionsbenennungserfordernis-
        ses.
        Wir von der Union setzen uns seit Jahren für Steuer-
        vereinfachung und Entbürokratisierung ein. Wir wollen
        mit dieser Regelung bei den Unternehmen Anwendungs-
        unsicherheiten nehmen und gegebenenfalls Erleichterun-
        gen bei der Finanzierung zukünftiger Anschaffungen er-
        reichen.
        Leider haben sich die Länder zu dieser Steuerverein-
        fachung bereits negativ geäußert.
        Das Gesetzgebungsverfahren steht jedoch noch ganz
        am Anfang, und auch die Länder haben in ihrer Stellung-
        nahme weitere 27 Maßnahmen gefordert, die überwie-
        gend auch schon im Zollkodex-Anpassungsgesetz gefor-
        dert und bereits geprüft wurden. Es gibt daher zwischen
        allen Beteiligten noch genügend Gesprächsbedarf.
        Der Gesetzentwurf ist deshalb in den Finanzaus-
        schuss zu überweisen.
        Ich freue mich dort auf eine aufschlussreiche Sach-
        verständigenanhörung und auf eine erfolgreiche Bera-
        tung.
        Dr. Jens Zimmermann (SPD): Wir beraten heute in
        erster Lesung das Gesetz zur Umsetzung des Protokolls
        zum Gesetz zur Anpassung der Abgabenordnung an den
        Zollkodex der Union und zur Änderung weiterer steuer-
        licher Vorschriften. Der Name des Gesetzentwurfes sagt
        es schon: Viele der im vorliegenden Gesetzentwurf for-
        mulierten Maßnahmen enthielt schon das Zollkodex-An-
        passungsgesetz, das Jahressteuergesetz 2015. Mit vorlie-
        gendem Gesetzentwurf wird die Protokollerklärung der
        Bundesregierung zum Zollkodex-Anpassungsgesetz um-
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10225
        (A) (C)
        (D)(B)
        gesetzt und viele der Länderanträge aus diesem Verfah-
        ren nach Prüfung durch die Bundesregierung in einem
        eigenen Steuergesetz aufgegriffen.
        Wie im Jahresssteuergesetz 2015 finden sich auch in
        diesem Vorschlag wieder eine Reihe an redaktionellen
        Änderungsvorschlägen durch das deutsche Steuerrecht
        hindurch, die politisch unstrittig sind. Es ist deshalb
        nicht nötig, auf jeden einzelnen Änderungsvorschlag
        einzugehen. Auch die unstrittigen Änderungen sind al-
        lerdings wichtig, um den Finanzbehörden in den Län-
        dern ihre Arbeit zu erleichtern.
        Auch wenn das Protokollumsetzungsgesetz einen
        nicht ganz so umfangreichen Maßnahmenkatalog enthält
        wie das Zollkodex-Anpassungsgesetz: Hier gibt es eben-
        falls wieder einige wichtige inhaltliche Punkte, über die
        wir im Gesetzgebungsverfahren sicherlich intensiv mit
        unserem Koalitionspartner, mit den Ländern und mit den
        Sachverständigen diskutieren werden.
        Einige dieser Punkte möchte ich kurz ansprechen.
        Bereits in den Verhandlungen zum Kroatien-Anpas-
        sungsgesetz und zum Zollkodex-Anpassungsgesetz ha-
        ben wir als SPD-Bundestagsfraktion gezeigt, dass wir es
        ernst meinen damit, den Missbrauch des Steuerrechts zu
        verhindern und der Ausnutzung von Regelungslücken
        im deutschen Steuerrecht einen Riegel vorzuschieben.
        Steuersparmodelle, mit denen jeder ehrliche Steuerzah-
        ler verhöhnt wird, können und wollen wir nicht länger
        tolerieren. Deshalb werden auch in diesem Gesetzge-
        bungsverfahren die vorgeschlagenen Änderungen zur
        Schließung von Lücken im Umwandlungssteuerrecht für
        uns als SPD-Bundestagfraktion eine wichtige Rolle spie-
        len.
        Der im Jahre 2012 abgelaufene „Porsche-Deal“ kann
        als Musterbeispiel für solche Steuervermeidungsmodelle
        gelten. Im Jahre 2012 hat Volkswagen den Automobil-
        hersteller Porsche übernommen, und zwar dadurch, dass
        VW eine einzelne Stammaktie auf die Porsche Holding
        SE übertragen hat. Das Finanzamt Stuttgart hat den
        Erwerb nicht als Kauf bewertet, bei dem die üblichen
        Steuern angefallen wären. Stattdessen wurde dies als
        Umstrukturierung nach dem Umwandlungssteuergesetz
        eingestuft. Dies hatte eine Steuerbefreiung zur Folge.
        Auch wenn diese Gestaltung nach geltendem Recht
        legal war: Gewünscht ist sie nicht. Denn bei dieser ge-
        zielten Steuervermeidung sind dem Staat 1,5 Milliarden
        Euro vorenthalten worden. Wir müssen solche Fälle zu-
        künftig vermeiden.
        In den Berichterstattergesprächen zum Zollkodex-
        Anpassungsgesetz konnten wir uns mit unserem Koali-
        tionspartner bereits auf konkrete Eckwerte für eine Neu-
        regelung bei Einbringungen nach dem Umwandlungs-
        steuerrecht einigen. Der jetzige Vorschlag sieht vor, dass
        die Gegenleistungen bei Einbringungen auf 25 Prozent
        oder 300 000 Euro des Buchwerts des eingebrachten Be-
        triebsvermögens begrenzt werden sollen.
        Ich erwarte, dass es bei diesem Punkt nur noch um
        Detailfragen gehen wird. Auch unser Koalitionspartner
        sollte ein großes Interesse daran haben, dass ein An-
        teilstausch wie im Falle des VW-Porsche-Deals nicht
        mehr systemwidrig steuerfrei gestaltet werden kann. Ich
        freue mich in dieser Frage auf konstruktive Verhandlun-
        gen. Denn Bund und Länder können hier gemeinsam ein
        wichtiges Zeichen gegen Steuervermeidung und Steuer-
        hinterziehung setzen. Hier gilt unverändert die Devise:
        Je früher, desto besser.
        Dieser Grundsatz gilt auch für andere gesetzgeberi-
        sche Schritte gegen Steuertricks: Im Gesetzgebungsver-
        fahren zum Zollkodex-Anpassungsgesetz haben sich die
        Regierungskoalitionen gemeinsam mit den Ländern da-
        rauf geeinigt, eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe einzu-
        richten, die konkrete Vorschläge für einen Gesetzentwurf
        zur Umsetzung des BEPS-Maßnahmenpaketes der OECD
        erarbeitet. Wir begrüßen die Einrichtung der Arbeits-
        gruppe ausdrücklich.
        Wir teilen aber auch die kritischen Hinweise der Län-
        der in ihren Empfehlungen zu dem vorliegenden Gesetz-
        entwurf. Denn bisher hat die Bund-Länder-Arbeits-
        gruppe schlicht nicht oft genug getagt, um eine Vorlage
        für einen Gesetzentwurf auszuarbeiten. In der Protokoll-
        erklärung zum Zollkodex-Anpassungsgesetz ist aber
        festgehalten, dass die Arbeitsgruppe zeitnah einen Vor-
        schlag vorlegt. Das war eine der Bedingungen für die
        SPD-Bundestagfraktion und die SPD-geführten Länder,
        auf eine Regelung gegen hybride Finanzierungen im
        Steuerrecht im Verfahren zum Zollkodex-Anpassungs-
        gesetz zu verzichten. Jetzt muss die Arbeitsgruppe auch
        liefern. Und das funktioniert nur, wenn diese regelmäßig
        tagt.
        Sicherlich intensiv diskutieren werden wir innerhalb
        der Regierungskoalition über eine Maßnahme im Ge-
        setzentwurf, die die Abschaffung des Investitionsbenen-
        nungserfordernisses beim Investitionsabzugsbetrag – ge-
        regelt im § 7 g im Einkommensteuergesetz – vorsieht.
        Bisher war es für den Abzugsbetrag notwendig, dass
        die Funktion des begünstigenden Wirtschaftsgutes ange-
        geben werden musste. Auf diese Angabe soll nunmehr
        verzichtet werden. Das hätte zur Folge, dass der Steuer-
        pflichtige zukünftig ohne weitere Angaben Abzugsbe-
        träge für künftige Investitionen bis zu einem unveränder-
        ten Höchstbetrag von 200 000 Euro gewinnmindernd
        abziehen könnte.
        Auch wenn sich an den sonstigen Regelungen zum
        Investitionsabzugsbetrag nichts ändert: Es gibt gute
        Gründe dafür, die in der Gesetzesbegründung angegebe-
        nen steuerlichen Mindereinnahmen von 40 Millionen
        Euro jährlich anzuzweifeln. Dass die Angabe der Inves-
        titionsabsicht wegfällt, birgt die Gefahr, dass Investi-
        tionsabzugsbeträge missbräuchlich in Anspruch genom-
        men werden, um beispielsweise Steuerzahlungen um bis
        zu drei Jahre hinauszuzögern. Wir teilen hier deshalb die
        Bedenken der Länder.
        Bei der Anwendung der 44-Euro-Freigrenze für Sach-
        bezüge wird es auch weiterhin bei der bisherigen Praxis
        bleiben. Der Bundesrat schlägt hier erneut – wie im Ver-
        fahren zum Zollkodex-Anpassungsgesetz – vor, die
        Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes bei der Abgren-
        zung von Sachbezügen und Geldleistungen einzuschrän-
        10226 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015
        (A) (C)
        (D)(B)
        ken. Dieser hat mit einigen Urteilen Gutscheine, die dem
        Arbeitnehmer vom Arbeitgeber gestellt werden, den
        Sachbezügen zugeordnet. Damit sind diese Leistungen
        bis 44 Euro monatlich für den Arbeitnehmer steuerfrei.
        Viele Beschäftigte freuen sich über diese kleine finan-
        zielle Entlastung. Diese Steuerfreiheit wieder abzuschaf-
        fen, würde Arbeitnehmer unnötig belasten. Hier teilen wir
        die Einschätzung der Bunderegierung uneingeschränkt.
        Diesen Antrag des Bundesrates werden wir deshalb er-
        neut ablehnen.
        Ich bin zuversichtlich, dass wir am Ende der Verhand-
        lungen zu einer guten Lösung kommen werden.
        Richard Pitterle (DIE LINKE): Hinter diesem „Ent-
        wurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Protokollerklä-
        rung zum Gesetz zur Anpassung der Abgabenordnung
        an den Zollkodex der Union und zur Änderung weiterer
        steuerlicher Vorschriften“ verbirgt sich ein weiteres Jah-
        ressteuergesetz. Leider scheut sich die Bundesregierung
        mal wieder, das Kind dann auch beim Namen zu nennen
        und wählt stattdessen diesen umständlichen Namen.
        Aber auch das lenkt nicht davon ab, dass die Steuerpoli-
        tik der Großen Koalition ein einziges Chaos ist. Meine
        Damen und Herren von der Bundesregierung, Sie
        schleppen sich von Jahressteuergesetz zu Jahressteuer-
        gesetz, ohne dass Sie nennenswert vorankämen – das ist
        eine Flickschusterei sondergleichen!
        Diese Flickschusterei geht zudem zum Teil auf einen
        traurigen Zweikampf zwischen Bundestag und Bundes-
        rat zurück. Mit seinem Entwurf eines Steuervereinfa-
        chungsgesetzes hat der Bundesrat bereits 2013 verschie-
        dene Vorschläge in den Bundestag eingebracht. Doch die
        Große Koalition im Bundestag hat sich bisher sehr
        schwergetan, angemessen darauf einzugehen, und auch
        dieser Gesetzentwurf ist da ein eher halbherziger Ver-
        such. Zu Recht hat sich der Bundesrat beschwert, dass
        seine Vorlage in verfassungsrechtlich fragwürdiger
        Weise einfach ignoriert wurde. Denn nach Artikel 76 des
        Grundgesetzes hat der Bundestag über Vorlagen in ange-
        messener Frist zu beraten und Beschluss zu fassen. An
        dieser Stelle möchte ich Ihnen, meine Damen und Her-
        ren von Union und SPD, raten, vielleicht etwas öfter ei-
        nen Blick ins Grundgesetz zu werfen; Sie scheinen da
        stets ein wenig unsicher zu sein, wenn es um dessen Ein-
        haltung geht.
        Von diesem chaotischen Verfahrensgang einmal abge-
        sehen, erscheint Ihr Gesetzentwurf, meine Damen und
        Herren von der Bundesregierung, bislang auch inhaltlich
        wenig überzeugend. Auffallend ist vor allem, dass Sie
        Maßnahmen gegen Steuerumgehung mal wieder ver-
        schieben, anstatt hier endlich Handfestes zu liefern. Zum
        Beispiel versäumen Sie es, sich endlich der Neutralisie-
        rung der Effekte hybrider Gestaltungen anzunehmen und
        ermöglichen es grenzüberschreitend tätigen Unterneh-
        men, auf diese Weise weiterhin eine doppelte Nichtbe-
        steuerung oder einen doppelten Betriebsausgabenabzug
        zu erreichen. Stattdessen errichten Sie zu diesem Thema
        erst mal eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe, die bisher
        noch keine nennenswerten Ergebnisse hervorgebracht
        hat. Auch die Steuerpflicht für Veräußerungsgewinne
        aus Streubesitzanteilen haben Sie auf die lange Bank ge-
        schoben, obwohl hier ein bekanntes Steuerschlupfloch
        besteht. Ob Sie Ihre Ankündigung, dies dann in der Re-
        form des Investmentsteuergesetzes anzugehen, auch
        wahrmachen, bleibt noch abzuwarten.
        An dieser Stelle müssen Sie sich mal wieder fragen
        lassen, meine Damen und Herren von der Bundesregie-
        rung, für wen Sie eigentlich Politik machen in diesem
        Land? Für die vielen ehrlichen Steuerzahlerinnen und
        Steuerzahler oder für grenzüberschreitend tätige Kon-
        zerne, denen Sie weiterhin Zeit geben, um weiter auf
        Kosten der Allgemeinheit Kasse zu machen.
        Damit ist die Liste Ihrer Versäumnisse leider noch
        nicht am Ende. Auch um eine Befassung mit der vom
        Bundesrat wiederholt angemahnten Erhöhung des Ar-
        beitnehmer-Pauschbetrages und der Pauschbeträge für
        behinderte Menschen haben Sie sich gedrückt.
        Meine Damen und Herren von der Großen Koalition,
        bei den Beratungen haben Sie die Gelegenheit, meine
        Kritik durch Taten zu widerlegen. Daher bin ich auf die
        kommenden Beratungen bereits gespannt.
        Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
        NEN): Hinter dem Namen Zollkodex-Anpassungsgesetz
        verbirgt sich das Jahressteuergesetz der Bundesregie-
        rung aus dem letzten Jahr, in dem verschiedene steuerli-
        che Änderungen vorgenommen wurden. Dieses Gesetz
        hat mal wieder bestätigt, dass die Bundesregierung steu-
        erpolitisch keinerlei Ambitionen hat. Dabei sind eine
        Reihe von wichtigen Themen längst überfällig, auf die
        wir auch in unserem Entschließungsantrag hingewiesen
        hatten: zum Beispiel bei der Umsatzsteuer die unsinni-
        gen Branchensubventionen abzuschaffen oder bei den
        Unternehmensteuern die Bevorzugung großer Konzerne
        zulasten der kleinen und mittleren Unternehmen zu be-
        seitigen. Es ist schon bemerkenswert, wie untätig der Fi-
        nanzminister sich hier gibt.
        Auch die Bundesländer sahen zu Recht viele ihrer
        wichtigen Anliegen, insbesondere zur Bekämpfung von
        Steuergestaltung, nicht berücksichtigt und wollten daher
        den Vermittlungsausschuss anrufen. Dazu kam es aber
        nicht. Anstelle von zeitgerechten und wichtigen Korrek-
        turen einigte man sich nach langem Hin und Her darauf,
        dass die Bundesregierung in einer Protokollerklärung
        versprach, noch offene und zu prüfende Ländervor-
        schläge Anfang 2015 in einem Steuergesetz aufzugrei-
        fen.
        Über dieses Projekt diskutieren wir heute. Es heißt
        „Gesetz zur Umsetzung der Protokollerklärung zum Ge-
        setz zur Anpassung der Abgabenordnung an den Zollko-
        dex der Union und zur Änderung weiterer steuerlicher
        Vorschriften“ – man muss sich dieses Wortungetüm ein-
        mal auf der Zunge zergehen lassen. Die zentrale Bot-
        schaft dieser Überschrift ist: Nur etwas für Spezialisten,
        nichts für den normalen Bürger.
        Wir Grünen erwarten jetzt, dass die Bundesregierung
        den Kampf gegen Steuergestaltung nicht länger ver-
        schleppt, sondern gute Vorschläge vorlegt. Aber ist dies
        der Fall?
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10227
        (A) (C)
        (D)(B)
        Die Gestaltungsmöglichkeiten im Umwandlungssteu-
        errecht werden mit diesem Gesetz eingeschränkt. Dies
        begrüßen wir; damit ist eine unserer Forderungen umge-
        setzt worden.
        Ein zweiter wichtiger offener Punkt war, hybride Ge-
        staltungen endlich zu besteuern. Auch hierauf haben wir
        in unserem Entschließungsantrag Ende letzten Jahres
        hingewiesen. Aktuell werden diese Finanzinstrumente
        vielfach nicht besteuert, weil die Steuersysteme der ein-
        zelnen Länder sehr unterschiedlich sind. So ist zum Bei-
        spiel in einem Land eine Zinszahlung eine abziehbare
        Betriebsausgabe und in dem anderen Land wird diese als
        Dividendenertrag freigestellt. Diese Unterschiede bei
        der Qualifizierung bestimmter Zahlungen sind seit vie-
        len Jahren bekannt. Die Lösung ist, sogenannte Korres-
        pondenzregelungen einzuführen, das heißt die unter-
        schiedlichen Regelungen der Länder zu verzahnen.
        Hierzu hat die OECD im Rahmen des BEPS-Projektes
        Vorschläge gemacht. Das würde bedeuten, den Betriebs-
        ausgabenabzug von Zahlungen ins Ausland zu versagen,
        wenn diese Zahlung beim Empfänger steuerfrei gestellt
        ist. So wird verhindert, dass Unternehmen in keinem der
        beiden Länder Steuern zahlen.
        Die Bundesregierung hatte in ihrer Protokollerklä-
        rung versprochen, Anfang 2015 eine Bund-Länder-Ar-
        beitsgruppe ins Leben zu rufen. Wenn wir hier etwas
        misstrauisch sind, dann aus gutem Grund: In den Bund-
        Länder-Arbeitsgruppen wurde in der Vergangenheit der
        politische Prozess nicht unbedingt beschleunigt, zudem
        war die Arbeitsweise oft intransparent. Es verstreichen
        Wochen und Monate – und das Ziel gerät aus dem Blick-
        feld.
        Dies scheint auch hier wieder die Taktik zu sein. Die
        Arbeitsgruppe wurde zwar einberufen, tagte allerdings
        erst ein Mal, und zwar am 16. Januar – ohne irgendwel-
        che inhaltlichen Ergebnisse zu erzielen. Zeitnah sollte
        ein Gesetzentwurf erarbeitet werden – dieser liegt bisher
        nicht vor. Das ist ein untragbarer Zustand und ein wei-
        teres Indiz dafür, dass diese Bundesregierung und ins-
        besondere Bundesfinanzminister Schäuble bei der Ein-
        dämmung von Steuergestaltung und Steuervermeidung
        keineswegs eine Vorreiterrolle einnimmt, sondern im ab-
        soluten Schneckentempo dahinschleicht.
        Wir fordern die Bundesregierung auf, das Thema Ein-
        dämmung von Steuergestaltung endlich anzugehen und
        Korrespondenzregelungen zur Vermeidung von hybriden
        Gestaltungen nun zeitnah umzusetzen, um weitere Steu-
        erausfälle zu verhindern, und diese Maßnahmen nicht
        wieder zu verschleppen.
        Der Bundesrat hat in das vorliegende Gesetz in seiner
        Stellungnahme sein Steuervereinfachungspaket von 2013
        eingebracht. Dieses wurde bisher nicht im Bundestag
        parlamentarisch beraten. Es enthält einige begrüßens-
        werte Vorschläge.
        Herausgreifen möchte ich dabei heute die Nachbesse-
        rungen bei der Gewerbesteuerzerlegung bei Erneuer-
        bare-Energien-Anlagen. Hier geht es darum, die Stand-
        ortgemeinden von Wind- oder Sonnenenergieanlagen
        angemessen an der Gewerbesteuer des Betreibers zu
        beteiligen. Es zeigte sich, dass die Regelungen der Ge-
        werbesteuerzerlegung nicht sachgerecht sind und die
        Zielsetzung einer angemessenen Beteiligung der Stand-
        ortkommunen am Steueraufkommen mit der bisherigen
        Regelung nicht erreicht wird. Die Bundesländer schla-
        gen deshalb vor, statt des Buchwertes des Sachanlage-
        vermögens künftig die installierte Leistung als Maßstab
        zu nehmen. Dies soll zu einer gerechteren Verteilung des
        Steueraufkommens zwischen den Gemeinden führen.
        Wir halten das für einen guten Ansatz, der aber im
        weiteren Verlauf der Beratungen noch einmal sorgfältig
        geprüft werden muss. Wir sollten uns bei diesem wichti-
        gen Detail, das zu einer höheren Akzeptanz der Kommu-
        nen in Hinblick auf die Belastungen durch den Betrieb
        von Erneuerbare-Energie-Erzeugung führen soll, wirk-
        lich vergewissern, dass die vom Bundesrat vorgeschla-
        gene Regelung sachgerecht ist. Wenn wir uns die Unsi-
        cherheit anschauen, die die CSU bei den Kommunen mit
        ihrem unsäglichen Zirkus um Trassen und die Abstands-
        regelung bei Windrädern – Stichwort 10 Horst – entfacht
        hat, so ist hier Sorgfalt und Augenmaß gefragt.
        Wir Grünen werden bei dem vorliegenden Gesetz
        sorgfältig darauf achten, dass längst überfällige Maßnah-
        men zur Verhinderung von Steuergestaltung auch auf na-
        tionaler Ebene umgesetzt werden. Darum wird es in den
        anstehenden Beratungen zu diesem Gesetz gehen.
        Dr. Michael Meister, Parl. Staatssekretär beim Bun-
        desminister der Finanzen: Mit dem vorliegenden Ge-
        setzentwurf soll die Protokollerklärung der Bundesregie-
        rung vom 19. Dezember 2014 gegenüber dem Bundesrat
        zum Zollkodex-Anpassungsgesetz umgesetzt werden.
        Der Gesetzentwurf enthält insbesondere Maßnahmen,
        die der Bundesrat bereits im Rahmen des Zollkodex-An-
        passungsgesetzes vorgeschlagen hatte, deren fachliche
        Prüfung zum Abschluss des damaligen Gesetzgebungs-
        verfahrens noch andauerte. Nachdem die von der Bun-
        desregierung zugesagte Prüfung nunmehr abgeschlossen
        ist, werden diese Maßnahmen – wie in der Protokoll-
        erklärung angekündigt – jetzt umgesetzt.
        Dies betrifft unter anderem folgende Maßnahmen:
        Erstens. Schließung von Lücken im Umwandlungs-
        steuergesetz (§ 20 Absatz 2, § 21 Absatz 1, § 24 Absatz 2
        und § 27 Absatz 11 UmwStG): Das Umwandlungssteu-
        ergesetz verfolgt den Zweck, betriebswirtschaftlich sinn-
        volle Umstrukturierungen nicht durch steuerliche Folgen
        zu behindern. In einzelnen Punkten ist das Umwand-
        lungssteuergesetz aber nicht folgerichtig ausgestaltet. Es
        hat sich gezeigt, dass die daraus resultierenden Gesetzes-
        lücken gezielt für Steuergestaltungen ausgenutzt werden.
        Vor diesem Hintergrund hatten wir in unserem Koali-
        tionsvertrag vereinbart, zu prüfen, wie verhindert werden
        kann, dass im Umwandlungssteuerrecht Anteilstausch
        und Umwandlungen mit finanziellen Gegenleistungen
        systemwidrig steuerfrei gestaltet werden können.
        Mit der Änderung des Umwandlungssteuergesetzes
        wird die bisherige Möglichkeit, sonstige Gegenleistun-
        gen in Höhe des Buchwerts des eingebrachten Wirt-
        schaftsguts erbringen zu können, ohne die Steuerneutra-
        10228 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015
        (A) (C)
        lität der Einbringung zu gefährden, eingeschränkt. Dabei
        wird die Zuzahlungsmöglichkeit auf 25 Prozent des
        Buchwerts des eingebrachten Betriebsvermögens oder
        auf maximal 300 000 Euro begrenzt.
        Die Änderungen greifen ein Petitum des Bundesrates
        zum Entwurf des Gesetzes zur Anpassung der Abgaben-
        ordnung an den Zollkodex der Union und zur Änderung
        weiterer steuerlicher Vorschriften auf und setzen einen
        Vorschlag um, den eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe er-
        arbeitet hat.
        Zweitens. Verlustabzugsbeschränkung bei Körper-
        schaften; Ausdehnung der Konzernklausel (§ 8 c Ab-
        satz 1 Satz 5 KStG): Mit der Neuregelung wird die
        Konzernklausel – das heißt die Ausnahme von der Ver-
        lustverrechnungsbeschränkung – unter anderem auf Fall-
        konstellationen ausgedehnt, in denen die Konzernspitze
        Erwerber oder Veräußerer ist. Außerdem wird generell
        auch eine Personenhandelsgesellschaft als Konzern-
        spitze zugelassen. Die Änderung entspricht der bereits
        bei Einführung der Ausnahmeregelung bestehenden ge-
        setzgeberischen Intention, Verlustvorträge bei konzern-
        internen Umstrukturierungsmaßnahmen zu erhalten.
        Drittens. Grunderwerbsteuer bei Änderungen im Ge-
        sellschafterbestand (§ 1 Absatz 2 a Satz 2 bis 4 GrEStG):
        Die Regelung präzisiert den für die Tatbestandserfüllung
        der Grunderwerbsteuer notwendigen Umfang einer mit-
        telbaren Änderung der Beteiligungsverhältnisse. Die
        Änderung des § 1 Absatz 2 a GrEStG erfolgt zur Schlie-
        ßung der bestehenden Regelungslücke und zur Anpas-
        Offsetdruc
        Vertrieb: Bundesanzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Te
        sung an die BFH-Rechtsprechung. Damit wird die für
        den Rechtsanwender dringend erforderliche Rechts-
        sicherheit geschaffen.
        In begrenztem Umfang werden außerdem auch Rege-
        lungen umgesetzt, die nicht bereits Gegenstand der Be-
        ratungen zum Zollkodex-Anpassungsgesetz waren. Dies
        betrifft beispielsweise die Abschaffung des Funktionsbe-
        nennungserfordernisses beim Investitionsabzugsbetrag
        (§ 7 g EStG): Investitionsabzugsbeträge nach § 7 g EStG
        ermöglichen die Vorverlagerung von Abschreibungsvo-
        lumen in ein Wirtschaftsjahr vor Anschaffung oder Her-
        stellung eines begünstigten Wirtschaftsgutes.
        Durch die vorgesehene Neuregelung ist es künftig
        nicht mehr erforderlich, dass bei der Anwendung des
        § 7 g EStG das Wirtschaftsgut, für das der Abzugsbetrag
        in Anspruch genommen werden soll, seiner Funktion
        nach zu benennen ist. Kurz: Das Funktionsbenennungs-
        erfordernis beim Investitionsabzugsbetrag wird abge-
        schafft. Dadurch wird die Wettbewerbssituation kleiner
        und mittlerer Betriebe verbessert, deren Liquidität und
        Eigenkapitalbildung unterstützt und die Investitions- und
        Innovationskraft gestärkt.
        Insgesamt wird die Anwendung der Vorschrift verein-
        facht: Dies wird daran deutlich, dass sich der Erfüllungs-
        aufwand für die Wirtschaft durch die Abschaffung des
        Funktionsbenennungserfordernisses um jährlich rund
        162 000 Euro verringert.
        Ich möchte Sie daher ganz herzlich um Unterstützung
        dieses Gesetzentwurfs bitten.
        (B)
        (D)
        kerei, Bessemerstraße 83–91, 1
        lefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de
        22
        106. Sitzung
        Inhaltsverzeichnis
        TOP 4 Eidesleistung des Wehrbeauftragten
        TOP 5 Regierungserklärung zu Gipfeln Östliche Partnerschaft, G7- sowie EU-CELAC
        TOP 6 Leiharbeit und Werkverträge
        TOP 7 Berufliche und akademische Bildung
        TOP 33, ZP 2 Überweisungen im vereinfachten Verfahren
        TOP 34, ZP 3 Abschließende Beratungen ohne Aussprache
        ZP 4 Aktuelle Stunde zur Freigabe der NSA-Selektoren-Liste
        TOP 8 Nachtragshaushalt und Unterstützung von Kommunen
        TOP 9 Studienförderung und Studienfinanzierung
        TOP 10, ZP 5 Europäischer Fonds für strategische Investitionen
        TOP 11 Finanzierung der Beseitigung von Rüstungsaltlasten
        TOP 12 Bundeswehreinsatz Operation Atalanta
        TOP 13 Rückführung von Wertstoffen in den Abfallkreislauf
        TOP 14 Bundeswehreinsatz UNMIL in Liberia
        TOP 15 Menschenrechte in Mexiko
        TOP 16, ZP 6 Erneuerbare-Energien-Gesetz
        TOP 17 Völkermord an den Rohingya
        TOP 18 Änderung soldatenrechtlicher Vorschriften
        TOP 19 Internationales Staateninsolvenzverfahren
        TOP 20 Entsorgung von Elektrogeräten
        TOP 22 Vernachlässigte armutsassoziierte Erkrankungen
        TOP 23 Bundesverfassungsgerichtsgesetz
        TOP 24 Gesetz zum Internationalen Erbrecht
        TOP 25 Anpassung der Abgabenordnung an den EU-Zollkodex
        Anlagen