1) Anlage 7
2) Anlage 8
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10199
(A) (C)
(B)
Anlagen zum Stenografischen Bericht
(D)
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Amtsberg, Luise BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
21.05.2015
Andreae, Kerstin BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
21.05.2015
Baerbock, Annalena BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
21.05.2015
Dr. Bergner, Christoph CDU/CSU 21.05.2015
Dr. Böhmer, Maria CDU/CSU 21.05.2015
Bülow, Marco SPD 21.05.2015
Dröge, Katharina BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
21.05.2015
Groneberg, Gabriele SPD 21.05.2015
Grundmann, Oliver CDU/CSU 21.05.2015
Hartmann (Wackernheim),
Michael
SPD 21.05.2015
Hintze, Peter CDU/CSU 21.05.2015
Jarzombek, Thomas CDU/CSU 21.05.2015
Kindler, Sven-Christian BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
21.05.2015
Lach, Günter CDU/CSU 21.05.2015
Mißfelder, Philipp CDU/CSU 21.05.2015
Pflugradt, Jeannine SPD 21.05.2015
Schlecht, Michael DIE LINKE 21.05.2015
Schwabe, Frank SPD 21.05.2015
Spiering, Rainer SPD 21.05.2015
Anlage 2
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Christian Kühn (Tübingen),
Monika Lazar, Peter Meiwald, Corinna Rüffer
und Hans-Christian Ströbele (alle BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN) zu der namentlichen
Abstimmung über die Beschlussempfehlung des
Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der
Bundesregierung: Fortsetzung der Beteiligung
bewaffneter deutscher Streitkräfte an der EU-
geführten Operation Atalanta zur Bekämpfung
der Piraterie vor der Küste Somalias (Tagesord-
nungspunkt 12)
Den Antrag der Bundesregierung lehnen wir ab und
stimmen mit Nein. Wir halten den Einsatz der Bundes-
wehr im Golf von Aden und im ganzen Indischen Ozean
politisch für falsch und nicht notwendig zum Schutz der
Schiffe des Welternährungsprogramms vor Piraterie. Vor
allem war er von Anfang an nicht das letzte mögliche
Mittel, die Ultima Ratio, um die Schiffe zu schützen und
Piraterie wirksam zu bekämpfen.
In der Begründung zum Mandat erklärt die Bundesre-
gierung, dass die niedrige Zahl der versuchten Über-
griffe auf Handelsschiffe eine Folge der ständigen Prä-
senz der Kriegsschiffe im Golf von Aden sei. Wie im
Vorjahr wird diese Behauptung nicht belegt.
Es ist eine falsche Annahme. Denn zivile Maßnahmen
wie das Einhalten der sogenannten Best Management
Practices – Fahren im Konvoi oder mit hoher Geschwin-
digkeit sowie die Absicherung von Reling und Außen-
bord, etwa durch Stacheldraht, und das Anbringen von
Scheinwerfern – haben die Piratenangriffe verhindert.
Die Bundesregierung hat bestätigt, dass kein einziges
Schiff von Piraten aufgebracht wurde, das sich an diese
Regeln gehalten hat.
Das gilt gerade auch für den Schutz der Schiffe des
Welternährungsprogramms. In einem Gutachten des In-
stituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik der
Universität Hamburg wird empfohlen, den Schutz dieser
Transporte von Hilfsgütern und Nahrungsmitteln nach
Somalia dadurch zu verbessern, dass das WFP mit bes-
seren und schnelleren Schiffen ausgestattet wird.
Zum neunten Mal entscheidet sich der Bundestag nun
schon für diesen Kriegseinsatz, der aber letztlich nur die
Symptome der Piraterie bekämpft. Deren Ursachen hin-
gegen, die man nur politisch angehen kann, werden im-
mer noch weitgehend ignoriert. In Somalia herrschen
Armut, Hunger, Gewalt und politische Unsicherheit. Ein
Grund für Hunger und Armut ist die Überfischung der
Gewässer vor Somalia. Modern ausgestattete Fangflot-
ten aus der EU, Japan oder Taiwan rauben den lokalen
Fischern die Existenzgrundlage. Zusätzlich kommt es
durch illegale (Gift-)Müllentsorgung vor der Küste So-
malias zu massivem Fischsterben, und Menschen er-
kranken.
Kriegsschiffe und Militäreinsätze sind nicht das rich-
tige Mittel, um die Piraterie und ihre Ursachen zu be-
kämpfen.
Atalanta beeinflusst auch die europäische Debatte da-
rum, wie mit der Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer
umgegangen werden sollte: Die EU-Kommission schlug
jüngst vor, sich dabei an Atalanta zu orientieren. Dies
Anlagen
10200 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015
(A) (C)
(D)(B)
zeigt die drohende Militarisierung der europäischen
Flüchtlingspolitik.
Anlage 3
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Neuregelung der Unterhaltssicherung sowie zur
Änderung soldatenrechtlicher Vorschriften (Ta-
gesordnungspunkt 18)
Wilfried Lorenz (CDU/CSU): Auch in der abschlie-
ßenden zweiten und dritten Lesung der konstitutiven Neu-
fassung des Unterhaltssicherungsgesetzes, USG, komme
ich nicht umhin, den Blick auf die Besonderheiten der
deutschen Sprache zu lenken, die gelegentlich Irritatio-
nen hervorrufen. Die in unserem Sprachraum verbrei-
tete, nicht selten mehrere Textzeilen füllende Aneinan-
derreihung einer Vielzahl von Substantiven findet sich
auch im Wort Bundeswehrattraktivitätssteigerungsge-
setz. Von diesem Regelungswerk hat schon jeder gehört.
Über das Unterhaltssicherungsgesetz wird dagegen
kaum berichtet. Zugegeben, die Wortzusammenstellung
lässt auf den ersten Blick eher an Unterhalt für die ge-
schiedene Ehefrau oder Alimente für Kinder denken.
Doch es liegt nun an uns allen, deutlich zu machen, dass
das USG zu Unrecht weniger im Fokus der Öffentlich-
keit steht. Denn die Reservedienst- und freiwillige
Wehrdienstleistenden, um die es geht, leisten denselben
Dienst wie die aktiven Soldatinnen und Soldaten, für die
das Attraktivitätssteigerungsgesetz geschaffen wurde.
Das Gesetz, das wir heute beschließen, sollte treffen-
der Reservedienst- und Freiwilligwehrdienstleistendeun-
terhaltssicherungsgesetz – RDLFWDLUSG – heißen.
Auf diese Weise wären nicht nur noch mehr Substantive
in einem durchaus beachtlichen Wortungetüm unterge-
bracht und eine stattliche Abkürzung kreiert. Es würde
auch etwas klarer, welche Inhalte sich dahinter verber-
gen:
Erstens. Regelungen, die spiegelbildlich als logische
gesetzgeberische Fortführung des Bundeswehrattraktivi-
tätsgesetzes, auch den Dienst von Reservistinnen und
Reservistinnen wie freiwilligen Wehrdienstleistenden at-
traktiver gestalten sollen.
Zweitens. Vorschriften, die die Durchführung des Ge-
setzes von den Ländern auf den Bund übertragen und
beim Bundesamt für das Personalmanagement der Bun-
deswehr in einer Hand zusammenfassen; zuständig sind
ab 1. November 2015 also nicht mehr die Unterhaltssi-
cherungsstellen auf lokaler Ebene.
Drittens. Die Zusammenfassung und Vereinfachung
aller Leistungen für Reservedienstleistende, die bislang
auch im Wehrsoldgesetz, WSG, geregelt waren, zu ei-
nem Anreizsystem.
Der gesetzliche Handlungsbedarf erschließt sich be-
reits aus der Tatsache, dass das derzeit gültige USG noch
aus dem Jahr 1957 stammt und zuletzt 1990 geändert
wurde. Vor allem neue demografische Anforderungen an
die Bundeswehr machen Änderungen als Teil der Attrak-
tivitätsagenda erforderlich.
Die deutschen Streitkräfte sind – spätestens seit Aus-
setzung der Wehrpflicht – einsatzfähig, wenn genügend
qualifizierte Reservedienstleistende aus allen Bereichen
der Gesellschaft und aus allen Berufsgruppen gewonnen
und gehalten werden können. Bundeswehrattraktivitäts-
steigerungsgesetz und Unterhaltssicherungsgesetz sind
daher als Gesamtprojekt zur Steigerung von Attraktivität
und Leistungsfähigkeit der Bundeswehr zu sehen.
Um bisherige Benachteiligungen zu beseitigen, ent-
hält das neue USG wesentliche Änderungen:
Erstens eine angemessene Erhöhung der Mindestleis-
tungen für Reservistinnen und Reservisten auf ein Ni-
veau in Höhe mindestens der Nettobesoldung aktiver
Soldatinnen und Soldaten gleichen Dienstgrades; Min-
destleistungen dienen der Sicherung des Einkommens
während des Dienstes – daher die Begrifflichkeit Unter-
haltssicherung; durch deren Erhöhung erreichen wir eine
Gleichbehandlung von Reservisten und Aktiven.
Zweitens können Reservedienstleistende ihren Dienst
künftig ohne Gehaltseinbußen tun. Dies gilt auch für Re-
servisten mit höherem zivilem Einkommen. Sie erhalten
zusätzlich Wehrsold und gegebenenfalls Verpflichtungs-
prämien. Reservisten im gleichen Dienstgrad, aber mit
unterschiedlicher ziviler Qualifikation erhalten eine un-
terschiedliche Entschädigung entsprechend ihrem zivi-
len Einkommen. Für Selbstständige werden die Sätze er-
höht und der Nachweisaufwand verringert.
Drittens wird der Unterhalt von Familienangehörigen
freiwillig Wehrdienstleistender durch Nachvollzug von
Änderungen im Unterhaltsrecht gesichert, so die Gleich-
stellung nichtehelicher und ehelicher Kinder sowie die
Aufnahme der Unterhaltsansprüche von Müttern und
Vätern nichtehelicher Kinder.
Spiegelbildlich zum Bundeswehrattraktivitätssteige-
rungsgesetz haben wir mit dem neugefassten USG einen
weiteren gesetzlichen Baustein zu mehr Attraktivität des
Dienstes in der Bundeswehr – hier vor allem des Reser-
vedienstes – geschaffen. Bisherige Benachteiligungen
gegenüber aktiven Soldaten sind beseitigt. Und wir
haben Anreize geschaffen, sich für den Dienst in der
Bundeswehr zu entscheiden, dort zu bleiben und als
Multiplikatoren in die Gesellschaft hineinzuwirken.
Doch der Mensch lebt bekanntlich nicht vom Brot al-
lein.
Und so bedeutet mehr Attraktivität des Dienstes her-
zustellen auch, mehr Anerkennung und Wertschätzung
des Dienstes in den Streitkräften in unserer Gesellschaft
zu verankern. Wir werden hier nicht stehen bleiben, son-
dern weiter an Verbesserungen arbeiten, wo nötig.
Dazu gehört, dass wir – wie beim Attraktivitätssteige-
rungsgesetz – auch zusätzliche Haushaltsmittel zur Ver-
fügung stellen werden. Für die Erhöhung der Leistungen
werden derzeit zusätzliche Mittel in Höhe von jährlich
11,9 Millionen Euro veranschlagt. Für die Gesetzes-
durchführung dürften zusätzlich Kosten von 4,25 Millio-
nen Euro hinzukommen. Das sind Gesamtkosten von
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10201
(A) (C)
(D)(B)
16,15 Millionen Euro, die sich für unser aller Sicherheit
– immateriell wie materiell – weit mehr als bezahlt ma-
chen werden. Denn unsere Soldatinnen und Soldaten,
Aktive wie Reservisten, wissen dann endlich, dass wir es
ernst meinen, wenn wir sagen: Sie sind uns wichtig! Vor
Ihrem Dienst für unser Land stehen wir mit größtem
Respekt und werden alles dafür tun, dass Sie diesen un-
ter den besten Bedingungen und mit der besten Ausrüs-
tung leisten können.
Julia Obermeier (CDU/CSU): Seit Beginn dieser
Legislaturperiode haben wir eine Häufung krisenhafter
Entwicklungen erlebt: Vor eineinhalb Jahren war noch
keine Rede von der Ebolaepidemie in Westafrika, dem
menschenverachtenden Vormarsch der ISIS-Terrormi-
liz, der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim und
dem gewaltsamen Konflikt in der Ostukraine oder der
dramatischen Situation der Flüchtlinge auf dem Mittel-
meer. In ungeahntem Ausmaß haben sich die bedrohli-
chen Ereignisse überschlagen. Sie zeigen uns deutlich:
Die Herausforderungen, die Deutschland und die Bun-
deswehr zu bewältigen haben, können sich schnell und
wesentlich ändern.
Diese Herausforderungen kann die Bundeswehr nur
mit dem Rückhalt einer starken Reserve bewältigen. Die
Reservisten sind unverzichtbarer Bestandteil der Bun-
deswehr. Aktuell sind fast 33 000 Reservedienstleistende
beordert.
Sie sind aus der Bundeswehr nicht mehr wegzu-
denken: ob bei der Aufrechterhaltung der Einsatzbereit-
schaft in der Heimat, der Hilfeleistung im Katastro-
phenfall im Inland oder bei der Unterstützung im
Auslandseinsatz.
Reservedienstleistende nehmen an Übungen teil. Sie
helfen auch bei Naturkatastrophen, wie zum Beispiel
dem Hochwasser im Frühsommer 2013. Reservisten
sind darüber hinaus bei nahezu allen Auslandseinsätzen
der Bundeswehr vertreten: Sie unterstützen die KFOR-
Truppen im Kosovo, die Mission Atalanta am Horn von
Afrika oder die Ausbildungsmission Resolut Support in
Afghanistan. Einige Reservisten haben auch Nothilfe im
Kampf gegen Ebola geleistet.
Bei meinen Truppenbesuchen treffe ich neben Berufs-
und Zeitsoldaten auch immer wieder Reservedienstleis-
tende. In Bad Reichenhall habe ich einen aktiven Reser-
visten getroffen, der den Kommandeur im Sommer ver-
treten hat. Besonders beeindruckt war ich von einem
Oberstleutnant der Reserve, der in Mali bereits zum
zweiten Mal als deutscher Militärattaché diente.
Dies zeigt: Die Bundeswehr setzt Reservedienst-
leistende entsprechend ihrer speziellen Fähigkeiten auch
gezielt auf herausgehobenen Dienstposten ein. Reserve-
dienstleistende sind und bleiben ein tragender Bestand-
teil unserer Streitkräfte.
Ich und meine CDU/CSU-Fraktion danken allen Re-
servisten für ihren Einsatz und für ihr Engagement.
Wir wollen die Bundeswehr als Arbeitgeber noch
attraktiver machen. Die Agenda „Bundeswehr in Füh-
rung“ und das Bundeswehrattraktivitätssteigerungs-
gesetz waren wichtige Schritte. Das Unterhaltssiche-
rungsgesetz ist nun der nächste Schritt. Es ist vor allem
auf die Reservedienstleistenden zugeschnitten. Einzelne
Verbesserungen betreffen auch die freiwillig Wehr-
dienstleistenden. Die Kernidee bleibt erhalten: Den
Dienstleistenden wird mindestens der Einkommensver-
lust ausgeglichen. Doch der Reservedienst soll attrakti-
ver gemacht werden. Dies wird unter anderem durch drei
der Verbesserungen erreicht:
Erstens. Die Mindestleistungen für Reservedienstleis-
tende werden wesentlich erhöht: Die Vergütung wird an
die Nettobesoldung von Soldatinnen und Soldaten glei-
chen Dienstgrades angeglichen.
Zweitens. Es wird ein Anreizsystem für die Reserve-
dienstleistung geschaffen. Wer sich vorab verpflichtet, in
einem Jahr mindestens 19 bzw. 33 Tage Reservisten-
dienst zu leisten, erhält Zulagen.
Drittens. Die Antragstellung wird vereinfacht: Die
Kompetenzen werden zentral in der Bundeswehrverwal-
tung gebündelt. Die Länder werden von dieser Aufgabe
entlastet.
Mit dem Unterhaltssicherungsgesetz wird der Reser-
vedienst attraktiver. Ich bitte Sie um Ihre Unterstützung
für den vorliegenden Gesetzentwurf.
Dr. Fritz Felgentreu (SPD): Das Unterhaltssiche-
rungsgesetz, das wir heute beschließen, regelt umfassend
und neu die Versorgung von Reservedienstleistenden
und von freiwillig Wehrdienstleistenden der Bundes-
wehr sowie von deren Angehörigen.
Wir nehmen mit diesem Gesetz die Dienstleistenden
erstmals als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ernst.
Das wird auch höchste Zeit. Denn mit dem Wegfall der
Wehrpflicht ist Freiwilligkeit das Prinzip nicht nur für
Zeit- und Berufssoldaten, sondern auch bei den Nachfol-
geformen des Grundwehrdienstes und der Wehrübungen,
also bei der freiwilligen und der Reservedienstleistung.
Das USG ist zuletzt 1980 grundlegend novelliert wor-
den. In seiner bisherigen Form geht es von der Wehr-
pflicht aus. Die versorgungsrechtliche Gleichstellung der
Wehrpflichtigen mit Zeit- und Berufssoldaten ist darin
nicht vorgesehen. Eine Neufassung, die den Bedingun-
gen der Freiwilligkeit gerecht wird, ist deshalb zwingend
notwendig.
Kerngedanke des neuen USG ist es, alle Soldatinnen
und Soldaten entsprechend ihrem Dienstgrad gleich zu
bezahlen, gleichgültig, in welchem Dienstverhältnis sie
stehen. Die neuen Tagessätze führen dazu, dass das Net-
toeinkommen von freiwillig Wehrdienstleistenden und
Reservedienstleistenden dem von Zeit- und Berufssolda-
ten generell entspricht. Reservisten, die im Zivilberuf ein
höheres Einkommen haben, werden wie bisher für ihren
Verdienstausfall entschädigt.
Das neue USG ist zeitgemäß, fair und sozial. Die
SPD-Fraktion hätte gerne noch die automatische Anpas-
sung der Tagessätze an Tarifsteigerungen im öffentlichen
10202 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015
(A) (C)
(D)(B)
Dienst eingebaut, damit sich die Nettoeinkommen gar
nicht erst wieder auseinanderentwickeln können. Wir
werden diesen Punkt wieder ansprechen, wenn die Not-
wendigkeit sich bestätigt. Insgesamt aber handelt es sich
um ein gutes Gesetz, dem wir gerne zustimmen.
Das neue USG dient ausschließlich den sozialen Inte-
ressen der Dienstleistenden und ihrer Familien. Seine
Ablehnung durch die Fraktion der Linken ist deshalb für
uns nicht nachvollziehbar. Im Verteidigungsausschuss
hat die Kollegin Buchholz die Position ihrer Fraktion da-
mit begründet, dass das neue USG den Wehrdienst at-
traktiver mache und daher abzulehnen sei.
Die Logik dieser Begründung bedarf der Analyse. Die
Linke will also keine attraktive Freiwilligenarmee. Die
Wehrpflicht, unter der die Attraktivität des Dienstes
möglicherweise zweitrangig bleiben kann, will sie aber
auch nicht. Will die Linke also eine unattraktive Freiwil-
ligenarmee? Das wäre ein Widerspruch in sich. Wenn
die Linke die eigene Argumentation ernst meint, verbirgt
sich dahinter folglich die vollständige Ablehnung militä-
rischer Landesverteidigung. Das sollte die Linke dann
aber auch so offen formulieren und sich nicht hinter ver-
schwurbeltem Gerede über einzelne Gesetze verstecken.
Dann können die Bürgerinnen und Bürger sich ein klares
Urteil über das sicherheitspolitische Credo der Linken
bilden.
Vollends unverständlich wird die Haltung der Linken
aus dem Blickwinkel der Familienpolitik. Das neue USG
bezieht nämlich erstmals die gesellschaftlichen Verände-
rungen mit ein, die seit 1980 dazu geführt haben, dass
unsere Vorstellungen von Familie vielfältiger geworden
sind. Nichteheliche Kinder, Lebenspartnerinnen und Le-
benspartner werden im neuen USG als Angehörige von
Dienstleistenden definiert, die selbstverständlich einen
eigenen Anspruch auf Versorgung haben. Dass ausge-
rechnet die Linke, die das Bekenntnis zur vollen Gleich-
stellung gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften
sonst immer lautstark proklamiert, ihre Unterstützung in
dem Moment verweigert, in dem es sich um schwule und
lesbische Soldatinnen und Soldaten handelt, lässt erheb-
liche Zweifel an der allgemeinen Aufrichtigkeit ihrer
Gleichstellungspolitik aufkommen. Für die SPD gibt es
keine richtigen oder falschen Lebenspartnerschaften –
alle verdienen die gleiche Anerkennung. Die Kollegin-
nen und Kollegen der Linksfraktion bitte ich daher drin-
gend, noch einmal zu prüfen, ob sie diesem guten Gesetz
zusammen mit den anderen Fraktionen dieses Hauses
nicht doch die angemessene Zustimmung geben sollten.
Alle Dienstleistenden der Bundeswehr, alle, die diesen
Soldatinnen und Soldaten für ihren Beitrag zur Landes-
verteidigung verpflichtet sind, alle, die zwischen Le-
benspartnerschaft und Familie keinen Unterschied ma-
chen, und alle, denen die Rechte nichtehelich geborener
Kinder am Herzen liegen, würden es ihnen danken.
Christine Buchholz (DIE LINKE): Der vorliegende
Gesetzentwurf der Bundesregierung soll zu einer Kon-
zentration der Bearbeitung von Anträgen auf Leistungen
durch Reservistinnen und Reservisten sowie von freiwil-
ligen Wehrdienstleistenden bei einer vom Bund
einzurichtenden Stelle führen. Grundsätzlich ist es
begrüßenswert, wenn es durch Straffung administrativer
Vorgänge zu einer Entlastung der Länder und einer ra-
scheren Bearbeitung von Anträgen kommt.
Dennoch lehnt die Linke diesen Gesetzentwurf ab.
Wir sind der Auffassung, dass die von der Bundesregie-
rung mit dem Gesetz angestrebte Förderung des Reserve-
dienstes in die völlig falsche Richtung geht. Es handelt
sich um den Versuch, in der Bundeswehr Personallöcher
zu stopfen, die durch die unpopuläre Orientierung auf
Auslandseinsätze entstanden sind. Reservisten sind
längst Teil dieser offensiven Konzeption geworden.
Viele wurden auch in Afghanistan eingesetzt.
Die Förderung der Reserve leistet darüber hinaus der
Militarisierung im Innern Vorschub. So können seit 2012
Reservisten zum „Schutz kritischer Infrastruktur und bei
innerem Notstand“ herangezogen werden. Das läuft auf
den Waffeneinsatz im Innern gegen nichtmilitärische
Ziele hinaus. Einer Reserve mit solchen politischen Vor-
gaben darf nicht weiter gefördert werden.
Der vorliegende Gesetzentwurf soll die soziale Situa-
tion freiwilligen Wehrdienstleistender verbessern. Doch
während zu Zeiten der Wehrpflicht Veränderungen für
Soldaten immer auch zu analogen Veränderungen bei Zi-
vildienstleistenden führten, ist dies heute nicht mehr der
Fall.
So werden diejenigen, die im Bundesfreiwilligen-
dienst arbeiten, in dem Gesetzentwurf nicht berücksich-
tigt. Dies, obgleich sie ohnehin schon stark benachteiligt
sind. So erhalten freiwilligen Wehrdienstleistende am
Ende ihrer Dienstzeit bis zu 1 146 Euro monatlich. Die-
jenigen, die im zivilen Bundesfreiwilligendienst arbei-
ten, höchstens 363 Euro. Eine solche Diskriminierung ist
durch nichts zu rechtfertigen.
Dieses Beispiel verdeutlicht, dass es der Bundesregie-
rung mit dem vorliegenden Gesetzentwurf nicht um
mehr soziale Gerechtigkeit, sondern um die Stärkung
des Soldatentums in Deutschland geht.
Diese grundlegende Schieflage macht den Gesetzent-
wurf inakzeptabel, auch wenn er einzelne begrüßens-
werte Aspekte enthält, wie die Gleichstellung von eheli-
chen und nichtehelichen Partnerschaften hinsichtlich des
Leistungsbezuges von freiwilligen Wehrdienstleisten-
den.
Im Übrigen hat die mangelnde Attraktivität des frei-
willigen Wehrdienstes nichts mit den Fragen der Vergü-
tung zu tun. Die Tatsache, dass über 25 Prozent der frei-
willigen Wehrdienstleistenden innerhalb der ersten sechs
Monate abbrechen, ist Ergebnis des Widerspruchs zwi-
schen militärischer Realität und der Schweinwelt, die die
Bundeswehr den jungen Menschen in Werbeshows und
Adventure-Camps vorspielt.
Die Linke lehnt es ab, Reservistinnen und Reservisten
sowie Freiwillige in eine Armee zu rekrutieren, für die
es – wenn es nach dem Willen der Verteidigungsministe-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10203
(A) (C)
(D)(B)
rin geht – keine räumliche und qualitative Grenze mehr
gibt.
Dr. Tobias Lindner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Nach den Beratungen in den Ausschüssen debattieren
wir nun abschließend das Gesetz zur Neuregelung der
Unterhaltssicherung sowie zur Änderung soldatenrecht-
licher Vorschriften. Es geht in diesem Gesetzentwurf da-
rum, die Leistungen, die Reservedienstleistende, freiwil-
ligen Wehrdienstleistende und deren Angehörige
erhalten, an die heutigen Rahmenbedingungen anzupas-
sen und zu erhöhen, sie klarer zu strukturieren, deren
Verwaltung zu zentralisieren und die Antragsverfahren
zu vereinfachen. Das damit verfolgte Ziel, dass freiwillig
Dienende eine angemessene Entlohnung erhalten und
dass ihr Unterhalt während des vorübergehenden Diens-
tes für die Bundeswehr gesichert ist, unterstützen wir
ausdrücklich. Wer einen freiwilligen Dienst leistet, soll
eine angemessene Vergütung und Versorgung erhalten.
Die Anhebung der Mindestsätze der Unterhaltssiche-
rung führt dazu, dass Reservedienstleistende für die Zeit,
in der sie einen Dienst leisten, auch eine Vergütung er-
halten, die dem Einkommen eines Soldaten und einer
Soldatin gleichen Ranges nahekommt. Dies ist ein wich-
tiger Schritt hin zu dem Grundsatz, dass gleiches Geld
für gleiche Leistung gezahlt wird. Wer im zivilen Beruf
ein höheres Einkommen erhält, bekommt im Rahmen
der Höchstsätze eine höhere Entschädigung durch die
Unterhaltssicherung gezahlt. Das ist wichtig, wenn man
Menschen für diesen Dienst auch neben ihrer zivilen
Karriere gewinnen möchte. Ein signifikanter Verdienst-
ausfall würde sicherlich viele davon abhalten, sich als
Reservist oder Reservistin zu engagieren. So macht auch
die Logik der Entschädigung für Verdienstausfälle aus
unserer Sicht weiterhin Sinn.
Die Attraktivität der freiwilligen Dienste in der Bun-
deswehr ergibt sich nicht nur aus der Höhe der Unter-
haltssicherungssätze. In der ersten Lesung hatte ich be-
reits darauf hingewiesen, dass Attraktivität vor allem
auch eine qualitative Frage ist. Freiwillige Wehrdienst-
leistende müssen einen klaren Mehrwert in ihrem Dienst
erfahren. Gleiches gilt für Reservistinnen und Reservis-
ten, die sich im Rahmen von Reservedienstleistungen,
auf beorderten Dienstposten oder im Rahmen der frei-
willigen Reservistenarbeit engagieren. Der Aufwand,
der hier betrieben wird, muss sich auch für die Bundes-
wehr rechnen. Die Umsetzung der Konzeption der Re-
serve muss aus unserer Sicht regelmäßig evaluiert wer-
den. Auch hier im Bundestag sollten wir uns regelmäßig
mit der Frage auseinandersetzen, ob die Reserve ihrem
Auftrag, den ihr die Konzeption der Reserve gibt, ge-
recht wird. Wir sollten ein Auge darauf haben, dass das
Geld und der Aufwand, der betrieben wird, auch zu ei-
nem angemessenen Output führt. Dazu bedarf es funk-
tionierender Strukturen und Prozesse, die realistische
Ziele verfolgen. Diese müssen regelmäßig überprüft
werden.
Da wir diesen Gesetzentwurf zum jetzigen Zeitpunkt
für einen richtigen und wichtigen Schritt halten, stim-
men wir ihm zu.
Anlage 4
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts zu den Anträgen:
– Für ein internationales Staateninsolvenz-
verfahren
– Resolution der Vereinten Nationen für ein
multilaterales Rahmenwerk zur Restruktu-
rierung von Staatsschulden umsetzen – Jetzt
aktiv den Arbeitsprozess der Vereinten
Nationen mitgestalten
(Tagesordnungspunkt 19)
Dr. Heribert Hirte (CDU/CSU): Auch Staaten kön-
nen pleitegehen – und dafür brauchen wir gar nicht auf
Griechenland zu schauen, das seit Jahren in besonderer
Weise im Rampenlicht steht. Deutschland hat diese
Erfahrung schon mehrfach gemacht, Argentinien war ein
prominentes Beispiel der jüngeren Zeit, und vor allem in
den – kapitalistischen! – Vereinigten Staaten von Ame-
rika ist die Insolvenz von Einzelstaaten und vor allem
Gemeinden nicht selten – und selbst der Bundesstaat
USA stand im letzten Jahr ebenfalls am Rande der Zah-
lungsunfähigkeit. Was aber bei Staaten anders ist als bei
„normalen“ Schuldnern und insbesondere Unternehmen:
Es gibt kein geordnetes und allseits akzeptiertes Verfah-
ren, in dem eine solche Insolvenz abgewickelt werden
könnte.
Bevor wir die Frage näher beleuchten, ob ein solches
Verfahren auch für Staaten möglich oder sinnvoll ist,
sollte man sich aber erst noch einmal vor Augen führen,
was ein Insolvenzverfahren eigentlich will. Drei Ziele
stehen im Vordergrund: Einmal sollen die Gläubiger ei-
nes Schuldners gemeinschaftlich befriedigt werden,
wenn und weil das Unternehmen seine Verbindlichkeiten
nicht mehr bedienen kann. Das bedeutet: Alle Gläubiger
sitzen vor dem Hintergrund begrenzter Mittel in einem
Boot und müssen gleichermaßen eine Kürzung ihrer For-
derungen gewärtigen. Zum Zweiten bedeutet dies, dass
der Schuldner vor der Inanspruchnahme durch einzelne
Gläubiger nach dem Windhundprinzip – wer zuerst
kommt, mahlt zuerst – geschützt ist. Und drittens soll
dies – wie heute zu Recht immer häufiger betont wird –
dazu beitragen, dass der Schuldner saniert wird und an-
schließend, typischerweise nach erheblichen Umstruktu-
rierungsmaßnahmen, wieder am Wirtschaftsverkehr teil-
nehmen kann.
Vorsorglich sei aber auch klargestellt, was ein Insol-
venzverfahren nicht soll: Weder soll es dem Schuldner
eine einseitige, unkontrollierte Möglichkeit geben, sich
seinen Zahlungspflichten zu entziehen, noch kommt ein
Insolvenzverfahren in Betracht, wenn der Schuldner
bloß zahlungsunwillig – und nicht zahlungsunfähig – ist,
insbesondere, weil er sich einiger, besonders unliebsa-
mer Schulden entziehen möchte. Und schließlich ist mit
einem Insolvenzverfahren auch nicht zwingend verbun-
den, dass der Schuldner bzw. seine Organe das Ruder
10204 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015
(A) (C)
(D)(B)
aus der Hand geben müssen. Im privaten Insolvenzver-
fahren nennt man dies „Eigenverwaltung“.
Ist dies alles bei einem Staat als Schuldner anders?
Die einfache Antwort lautet: Nein! Allerdings fragt es
sich dann natürlich, warum es ein Insolvenzverfahren,
wie es seit Jahrhunderten für private Unternehmer üblich
ist, für Staaten nicht gibt. Die Antwort ist recht einfach:
Denn es müsste in völkerrechtlich verbindlicher Weise
vorab zwischen eben diesen Staaten verabredet werden.
Und da glauben die Staaten natürlich, dass eine einsei-
tige Interessendurchsetzung oder eine solche in wech-
selnden Allianzen mehr Chancen bietet als die Unter-
werfung unter verbindliche Regeln: So ist es natürlich
charmant, einseitig zu versuchen, seine Zahlungsunfä-
higkeit zu erklären und auf ein Einsehen der Gläubiger
zu hoffen, wie dies Argentinien getan hat – und wie es
jetzt von Griechenland versucht wird. Umgekehrt glaubt
jeder Staat im Zweifel für sich, dass er seine Forderun-
gen oder die seiner Staatsbürger im Falle der Insolvenz
eines anderen Staates besser – sprich mit einer höheren
Quote – durchsetzen kann, als andere Staaten dies
können. Attraktiv ist es auch, einen Gerichtsstandort
– auch für Schiedsgerichte – vorzuhalten, an dem ein
solch besserer Schnitt möglich ist.
Aber: Jedenfalls in einem System, das wie die Euro-
päische Union als Rechtsgemeinschaft angelegt ist, soll-
ten solche Möglichkeiten des Trittbrettfahrens ausge-
schlossen sein – wie dies etwa auch in den Vereinigten
Staaten von Amerika der Fall ist. Das mit den beiden
Oppositionsanträgen verfolgte Ziel ist daher durchaus
dem Grunde nach berechtigt. Wir sollten in der Tat einen
staatlichen Rahmen schaffen, der die Insolvenz eines
Staates in einem geordneten staatlichen Verfahren er-
möglicht. Das würde zum Beispiel für einen EU-Staat
zugleich die Möglichkeit begründen, trotz eines Schul-
denschnitts in der Währungsunion zu verbleiben, würde
aber – vor allem – den Gläubigern bei ihrer Kreditver-
gabe an Staaten auch abverlangen, zu beurteilen, mit
welcher Wahrscheinlichkeit denn der Staat seine Ver-
bindlichkeiten zurückzahlen kann. Die auch formale
Einführung der Möglichkeit eines Insolvenzverfahrens
führt möglicherweise auch bei gut gerateten Staaten
dazu, dass – allein wegen der theoretischen Möglichkeit
einer Insolvenz – höhere Refinanzierungskosten entste-
hen; das gilt es gegen das Ausfallrisiko bei den Forde-
rungen gegen andere, weniger solvente Staaten abzuwä-
gen.
Aber – und deshalb werden wir Ihre Anträge ableh-
nen –: Dieser Rahmen kann – soweit es sich um Staaten
des Euro-Raumes handelt – wegen des Zusammenhangs
mit der Währungsunion nur im europäischen Recht lie-
gen. Das schließt einen weitergehenden, internationalen
Rahmen nicht aus, würde aber einen Konsens über die
dabei erforderlichen Rahmenbedingungen voraussetzen,
den ich nicht sehe.
Zweitens muss der betreffende Staat zahlungsunfähig
sein: Da wird man bei der Schuldenlast schon genauer
hinschauen müssen. Denn allein, dass Schulden unbe-
quem sind, macht sie nicht belastend und heißt noch
nicht, dass sie zur Wiederherstellung der Schuldentrag-
fähigkeit beschnitten werden müssen. Schulden wie die-
jenigen Griechenlands, die praktisch weder bedient noch
verzinst werden müssen, müssen auch nicht – weiter –
beschnitten werden, und schon gar nicht, um neue Schul-
den machen zu können. Wer andererseits die Einnah-
men, vor allem in Form von Steuern, – bewusst – gering
hält und die Ausgaben nach oben schraubt, kann auch in
einem Insolvenzverfahren für Staaten nicht auf Gnade
seiner Gläubiger hoffen. Es gibt hier eben anders als bei
der Unternehmensinsolvenz keine klar feststehende In-
solvenzmasse. Und vor allem: Ein Insolvenzverfahren
für Staaten muss auf eine Gleichbehandlung aller Gläu-
bigerforderungen ausgerichtet sein – und nicht, wie
beide Oppositionsanträge dies tun, zwischen guten und
schlechten Forderungen unterscheiden: Wenn Sie auf der
einen Seite die Forderungen von bösen Hegdefonds un-
ter Verweis auf den Gleichbehandlungsgrundsatz be-
schneiden wollen, andererseits aber weitere Forderungen
unter Beteiligung einer breiten Öffentlichkeit vollständig
aus dem von Ihnen angedachten staatlichen Insolvenz-
verfahren ausklammern wollen, führen Sie genau die
Differenzierung wieder ein, die Sie eigentlich vermeiden
wollen. Es ist – das sei in diesem Zusammenhang dann
auch gesagt – auch nicht so, dass die Durchsetzung sol-
cher Forderungen vor privaten Schiedsgerichten leichter
möglich ist als vor staatlichen Gerichten. Denn erst vor
wenigen Wochen hat der deutsche Bundesgerichtshof
unter ausdrücklicher Bezugnahme auf das Bundesverfas-
sungsgericht festgestellt, dass Forderungen aus argenti-
nischen Staatsanleihen auch in Deutschland durchsetz-
bar sind.
Was ist die Alternative? Ich habe es vor einigen Tagen
in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gesagt: Es liegt
nahe, ein Resolvenzverfahren in der Euro-Zone in der
Weise einzurichten, dass durch geringfügige Änderun-
gen des ESM-Vertrages ein Resolvenzgericht in Paral-
lele zum ESM und unter Einbindung in die vorhandene
Finanzarchitektur des europäischen Krisenbewältigungs-
mechanismus geschaffen wird. Zweck eines solchen
mehr die Verhandlungen zwischen Schuldnerstaat und
Gläubigern beaufsichtigenden als Streitigkeiten zwi-
schen ihnen entscheidenden Gerichts wäre, künftig
Handlungsungewissheiten und Handlungsunsicherheiten
wie im Falle Griechenlands seit 2010 von vornherein zu
unterbinden. Dieses Gericht würde eine Verfahrensord-
nung erhalten, in der sämtliche Schritte von der Stellung
eines Antrags über die Verhandlungen zwischen Schuld-
ner und Gläubiger bis schließlich hin zur Abstimmung
über das Verhandlungsergebnis sowie zur Umsetzung
der wechselseitigen Verpflichtungen vorgeschrieben wä-
ren. Darauf könnten sich sämtliche Betroffenen schon
von Anbeginn an vorbereiten; für Transparenz wäre also
gesorgt.
Festgehalten werden sollte aber auch: Eine solche
Regelung wäre neben der gerade eingeführten Banken-
union ein – weiterer – Schritt zur Beseitigung von Sys-
temfehlern in der Euro-Zone. Dass sie nicht den fehlen-
den Gleichlauf von Währungs- und Wirtschaftspolitik
herzustellen vermag, liegt auf der Hand.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10205
(A) (C)
(D)(B)
Bettina Kudla (CDU/CSU): Die Fraktion Die Linke
und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen haben für ein
internationales Staateninsolvenzverfahren jeweils einen
Antrag vorgelegt. In den Anträgen fordern sie, dass die
Bundesregierung sich aktiv in die Beratungen der G-77-
Staaten bei der UN für ein Staateninsolvenzverfahren
einsetzen möge.
Die Linke bezieht sich dabei auf eine im September
2014 verabschiedete Resolution der Generalversamm-
lung der Vereinten Nationen, in der sich der Staatenbund
auf die Einrichtung eines Insolvenzverfahrens für über-
schuldete Staaten festgelegt hatte. Elf Staaten, darunter
Deutschland, hatten gegen die Resolution gestimmt. Die
Bundesregierung hat den Prozess in den Vereinten Na-
tionen zur Einrichtung eines Staateninsolvenzverfahrens
konstruktiv begleitet, aber im Ergebnis zuletzt auch ge-
gen die sogenannte Modalitätenresolution gestimmt.
Diese Resolution wurde vonseiten der Europäischen
Union konstruktiv verhandelt, letztendlich lehnten aber
alle EU-Mitgliedstaaten ein formelles, rechtsverbindli-
ches Staateninsolvenzverfahren ab.
Die bestehenden Verfahren im Pariser Club und im
IWF zum Thema Schuldenentlastung von Ländern mit
entsprechendem Bedarf haben sich bewährt. Ein Verfah-
ren mit einem für alle Beteiligten, also auch für alle
Gläubiger, bindenden Schiedsspruch ist problematisch.
Ein derartiges, formelles Staateninsolvenzverfahren er-
scheint unverändert verfassungsrechtlich und politisch
nicht realisierbar. Insbesondere wären grundlegende par-
lamentarische Budgetrechte beeinträchtigt.
Die Insolvenz eines Staates hat stets gravierende Fol-
gen und ist häufig auch nicht die Lösung wirtschaftlicher
Probleme. Laut einer Statistik des IWF gab es seit dem
Jahr 1980 allein 90 Insolvenzen von 73 Staaten, einige
Staaten sind demnach mehrfach insolvent geworden. Der
Staat Chile war siebenmal insolvent, Brasilien sechsmal
und Argentinien fünfmal. Eine erneute Insolvenz binnen
so kurzer Zeit zeigt, dass weder die finanziellen noch
volkswirtschaftlichen Probleme dieses Landes durch
eine Staateninsolvenz gelöst wurden. Oberstes politi-
sches Ziel muss es daher immer sein, der Überschuldung
eines Staates vorzubeugen. Ein Staat muss ein verlässli-
cher Partner für Bürger und Unternehmer sein. Gute
Handelsbeziehungen und Investitionen mit bzw. in ei-
nem Staat hängen wesentlich davon ab, ob in dem Staat
verlässliche rechtliche, wirtschaftliche und finanzielle
Rahmenbedingen herrschen. Wirtschaftliche Probleme
in Entwicklungsländern beruhen häufig nicht auf fehlen-
den finanziellen Möglichkeiten, sondern auf strukturel-
len Problemen.
Die Finanzierungen eines Staates hängen wesentlich
von dessen Kapitalmarktfähigkeit ab. Die Finanzierung
über Staatsanleihen wird erheblich eingeschränkt, wenn
aufgrund eines drohenden Insolvenzverfahrens mit ei-
nem Ausfall der Staatsanleihen zu rechnen ist. Die Anle-
ger müssen sich auf Zusagen eines Staates verlassen
können. Unberührt bleibt davon die Möglichkeit, dass
wohlhabende Staaten individuelle Schuldenerlasse ge-
genüber überschuldeten Staaten aussprechen. Dabei ist
jedoch immer zu berücksichtigen, dass ein Schuldener-
lass auch kontraproduktiv wirken kann und die wirt-
schaftlichen Möglichkeiten des betroffenen Staates auf-
grund eines Vertrauensverlustes einschränkt.
Es muss rechtzeitig vorgebeugt werden, dass Staaten
nicht in eine Überschuldung geraten. Der Kontrolle
durch das Parlament kommt eine zentrale Aufgabe zu.
Die mittlerweile in unserem Grundgesetz auf Betreiben
der CDU/CSU-Fraktion verankerte Schuldenbremse hat
eine 40-jährige Entwicklung einer Anhäufung von
Staatsschulden gestoppt und zur Trendumkehr gebracht.
Für die Bundesrepublik Deutschland gilt, dass es we-
sentlich ist, dass nun auch die Bundesländer bis zum
Jahr 2020 die Schuldenbremse einhalten und bereits
heute die Weichen für die Einhaltung der Schulden-
bremse stellen. Nur ein wirtschaftlich gesunder Staat hat
entsprechende Möglichkeiten, über eine zielgerichtete
Entwicklungshilfe die Lage in wirtschaftlich schwäche-
ren und damit häufig überschuldeten Ländern zu verbes-
sern.
Was ist nun der Unterschied zwischen den Insolvenz-
verfahren des IWF und eines Insolvenzverfahrens durch
die UN? Ein Insolvenzverfahren in Anlehnung an den
IWF bleibt für staatliche wie für private Gläubiger im
Kern freiwillig. Es gibt kein einheitliches Umschul-
dungsforum. Die staatlichen Gläubiger verhandeln im
Pariser Club, die privaten Gläubiger im Londoner Club.
Beide Clubs sind Plattformen für Gespräche über den
weiteren Umgang mit den Staatsschulden. Dem IWF
fällt eine Katalysatorfunktion zu. Die Bereitschaftserklä-
rung des Schuldnerstaates zur Vornahme der notwendi-
gen Reformen („Letter of Intent“) ist nicht nur Bedin-
gung für den Abschluss eines Standby-Abkommens
zwischen IWF und Schuldnerstaat, sondern mit seinem
positiven Votum zum Stabilisierungsprogramm signali-
siert der IWF den im Pariser Club vereinigten Gläubi-
gern den ernsthaften Reformwillen des Schuldnerstaates
und gibt damit das Signal für den Beginn der Umschul-
dungsverhandlungen. Ich halte dieses Verfahren für die
Gläubiger für sicher und für fair und transparent.
Bei einem Insolvenzverfahren auf Beschluss der Ver-
einten Nationen würde politisch weitgehend in die
Rechte der Gläubiger der Staatsschulden und auch in die
Rechte von Parlamenten eingegriffen werden.
Gleichwohl bedarf es einer Regelung, falls es tatsäch-
lich zu einer Insolvenz kommt, damit die Gläubiger best-
möglich geschützt werden. Die sogenannten Collective
Action Clauses, CAC-Klauseln, regeln in den Anleihe-
bedingungen von Staatsanleihen, dass im Falle der Insol-
venz eines Staates die Gläubiger nach einem bestimmten
Mehrheitsverfahren entscheiden können. Dies hat den
Vorteil, dass die Sanierung eines Staates nicht durch ei-
nige wenige Gläubiger blockiert werden kann.
Die Bundesregierung setzt daher zu Recht auf die be-
stehenden Staateninsolvenzverfahren im Pariser Club
wie auch im IWF mit Unterstützung der Weltbank. Eine
Verlagerung dieser Verfahren, weg vom Internationalen
Währungsfonds zu den Vereinten Nationen ist nicht
zwangsläufig erfolgreich. Auf die wirtschaftlichen Mög-
lichkeiten der Weltbank zur Leistung von Aufbauhilfe
möchte ich hinweisen. Zu beachten ist, dass das Verfah-
10206 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015
(A) (C)
(D)(B)
ren bei den Institutionen bleiben sollte, die es auch er-
folgreich durchführen können.
Ein formelles Staateninsolvenzverfahren der Verein-
ten Nationen wird seitens der Bundesregierung kritisch
gesehen; dies entspricht auch der Haltung der EU-Staa-
ten. Die Anträge sind daher abzulehnen. Ich begrüße,
dass durch die IWF-Empfehlungen zu Collective Action
Clauses, CACs, in Staatsanleihen deren verbreitetere
Anwendung ermöglicht und vorangetrieben wird. Auf
diesen IWF-Arbeiten sollte weiter aufgebaut werden.
Manfred Zöllmer (SPD): Wie lange sollte man ein
totes Pferd reiten? Diese Frage stellt sich, weil die Ver-
einten Nationen nach wie vor versuchen, auf Initiative
von Bolivien ein formelles, rechtsverbindliches Staaten-
insolvenzverfahren zu entwickeln. Dieser Prozess wurde
gegen die Stimmen der EU-Mitgliedstaaten eingeleitet.
Hintergrund der Resolution ist eigentlich ein juristi-
scher Konflikt Argentiniens mit einem New Yorker
Hedgefonds. Infolge der Insolvenz des Landes im De-
zember 2001 führte die Regierung in Buenos Aires in
den Jahren 2005 und 2010 große Umschuldungsrunden
durch. Inhaber von argentinischen Staatsanleihen sollten
neue Wertpapiere mit veränderten Konditionen erhalten.
Über 90 Prozent nahmen damals das Angebot an, ob-
wohl das einen Abschlag von durchschnittlich 50 Pro-
zent der ursprünglichen Forderungen bedeutete. Einige
Hedgefonds zogen jedoch vor Gericht. Ein US-Gericht
verurteilte die Regierung in Buenos Aires dazu, dem
Hedgefonds NML Capital und Aurelius 1,47 Milliarden
US-Dollar – rund 1,1 Milliarden Euro – auszuzahlen.
Der Rechtsstreit wird in den USA ausgetragen, weil ar-
gentinische Anleihen unter amerikanischem Recht und
in US-Dollar begeben wurden.
Aber auch der deutsche Bundesgerichtshof gab im
Februar dieses Jahres deutschen Anlegern gegen Argen-
tinien Recht, die gegen die Umschuldungsstrategie Ar-
gentiniens geklagt hatten. Argentinien hatte die Zahlung
seiner Schulden auch in diesem Prozess verweigert und
berief sich zum einen darauf, dass die Mehrheit der
Gläubiger damals der Umschuldung zugestimmt habe.
Zudem gebe es mittlerweile quasi eine völkerrechtliche
Gewohnheit, zum Beispiel mit Verweis auf die Rettung
des Euro-Landes Griechenland und den damit verbunde-
nen Schuldenschnitt.
Doch der BGH sieht dies anders: Kein völkerrechtli-
cher Grundsatz berechtigt ein Land dazu, die Zahlung
fälliger Schulden wegen eines finanziellen Staatsnot-
standes oder einer freiwilligen Umschuldung der Gläubi-
germehrheit zeitweise zu verweigern. Auch aus der
Weltfinanzmarktkrise und der Rettung Griechenlands sei
eine derartige völkerrechtliche Regel nicht entstanden.
Die Initiatoren des Beschlusses der Vereinten Natio-
nen hatten die massiven inhaltlichen und prozeduralen
Bedenken vieler Länder einfach ignoriert und einen Be-
schluss in der Vollversammlung der Vereinten Nationen
gegen diese Bedenken mehrheitlich durchgesetzt. Mit
der Bildung eines sogenannten Ad-hoc-Ausschusses
wollte man in drei Sitzungen einen förmlichen verbindli-
chen Schuldenumstrukturierungsmechanismus beschlie-
ßen.
Deutschland hat sich immer für sinnvolle Regelungen
im Falle einer Staateninsolvenz eingesetzt. Hierfür ist
aber ein ergebnisoffener, konsensorientierter Prozess
notwendig, der natürlich auch die Gläubiger mit ein-
schließen muss. Dies war hier nicht der Fall. Deutsch-
land hat daher gegen die Resolution gestimmt und sich
nicht an der Arbeitsgruppe beteiligt.
Wir bedauern diese Entwicklung, denn die weltweite
Verschuldung befindet sich auf einem neuen Höchst-
stand. Es ist mehr als sinnvoll, sich damit auseinanderzu-
setzen. Aber dieser Prozess muss anders laufen.
Ein weiterer Kritikpunkt an der Initiative ist die For-
derung der völkerrechtlichen Anerkennung eines Schieds-
gerichts, das verbindliche Entscheidungen im Rahmen
einer Schuldenrestrukturierung treffen soll.
In den vorliegenden Anträgen der Fraktionen Die
Linke und der Grünen wird eine solche Forderung nach-
drücklich unterstützt. Damit würden haushaltsrelevante
Fragen auf eine Institution, die keiner parlamentarischen
Kontrolle des Bundestages unterliegt, verlagert. Eine
solche Forderung ist für uns aus politischen und verfas-
sungsrechtlichen Gründen nicht akzeptabel. Wenn Linke
und Grüne in handelsrechtlichen Fragen bei der Diskus-
sion um TTIP Schiedsgerichte entschieden ablehnen,
hier aber vehement fordern, dann ist dies nicht nachzu-
vollziehen.
Ein Großteil der Staatsanleihen und weiterer Wertpa-
piere wird unter der Gerichtsbarkeit der großen interna-
tionalen Finanzmarktplätze USA und Großbritannien be-
geben. Ein Verfahren, welches diese Akteure nicht mit
einbezieht, ist im Ansatz nicht zielführend. Es war der
Kardinalfehler dieser Initiative, die Interessen der Gläu-
bigerländer nicht zu berücksichtigen. Ein Durchmarsch
mit einer Resolution bei den Vereinten Nationen hilft
nicht, die Probleme real zu lösen. Eine Verständigung
kann es nur geben, wenn es einen fairen und transparen-
ten Prozess unter Einbeziehung der angesprochenen In-
stitutionen und der Gläubiger gibt. Ein solcher ergebnis-
offener Prozess findet jederzeit unsere Unterstützung.
Deutschland hat sich an der gemeinsamen EU-Hal-
tung orientiert. Wir unterstützen die IWF-Empfehlungen
zu den Collective Action Clauses, CAC. Diese Umschul-
dungsklauseln in Staatsanleihen müssen weiterentwi-
ckelt werden, und dieser Prozess muss vorangetrieben
werden. Die CAC sind gerade nach der Staateninsolvenz
Argentiniens eingeführt worden. Das Anliegen ist, staat-
liche Schuldenkrisen kontrolliert abwickeln zu können,
wenn von großen institutionellen Investoren, Bankkon-
sortien bis hin zu weltweit verstreuten privaten Anleihe-
gläubigern die Gläubigerinteressen global und kleinteilig
verteilt sind. Denn häufig waren wenige nicht zustim-
mende Anleihegläubiger der Grund dafür, dass ein
Schuldnerstaat an der Durchsetzung einer von der Mehr-
heit gebilligten Restrukturierung durch eine ablehnende
Minderheit gehindert war. Wir sprechen hier vom
„Holdout-Problem“.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10207
(A) (C)
(D)(B)
Solche Klauseln erleichtern Schuldenrestrukturierun-
gen und helfen damit bei der Krisenbewältigung. Die
Bundesregierung setzt sich deshalb beim IWF dafür ein,
die Arbeiten im Bereich vertraglicher Anleiheklauseln
fortzusetzen. Ohne eine enge Beteiligung von IWF, Pari-
ser Club und eine Berücksichtigung der laufenden
Verhandlungen zur Vorbereitung der Financing-for-
Development-Konferenz im Juli 2015 kann es keine
Verständigung auf ein Schuldenumstrukturierungsver-
fahren geben.
Letztlich wird der Aspekt der Schuldenprävention
von der UN-Initiative leider völlig vernachlässigt. Kre-
ditgeber und Kreditnehmer sollten nur im Rahmen der
Schuldentragfähigkeit, wie sie im Rahmenwerk von
IWF und Weltbank definiert ist, handeln, um übermä-
ßige Verschuldung zu verhindern.
Das laufende Verfahren, wie es in den Anträgen der
Opposition gelobt wird, wird zu keinem befriedigenden
Ergebnis führen. Die Opposition setzt auf das falsche
Pferd. Dieses Pferd ist tot, damit kommen wir leider
nicht ans Ziel. Deshalb sollte man rechtzeitig absteigen.
Niema Movassat (DIE LINKE): Eines liegt doch
klar auf der Hand: Die Welt braucht ein geregeltes und
unabhängiges Insolvenzverfahren für überschuldete
Staaten. Im September 2014 hat die Generalversamm-
lung der Vereinten Nationen mit überwältigender Mehr-
heit beschlossen, ein multilaterales Rahmenwerk zur Re-
strukturierung von Staatsschulden einzurichten. Diese
Resolution wurde von Bolivien im Namen der Gruppe
der 77 und Chinas eingebracht – also von den Ländern,
die mehrheitlich am extremsten unter den Schulden-
krisen der letzten 30 Jahre zu leiden hatten. Es ist mehr
als beschämend, dass Deutschland zur kleinen Minder-
heit von elf Staaten gehört, die gegen diese Resolution
gestimmt haben. Die Begründung, die die Bundesregie-
rung für ihr Abstimmungsverhalten gab, ist mehr als
kleinlich: Der Vorstoß der G-77-Staaten sei nicht mit den
großen Gläubigerländern abgestimmt gewesen.
Das sagt ausgerechnet ein Mitgliedsland der G 7,
einem Bündnis, das meint, über globale Menschheits-
fragen in einem exklusiven Zirkel entscheiden zu kön-
nen – vorbei an den Vereinten Nationen und ohne dass
man sich je groß darum scherte, ob diese Beschlüsse
vorher mit anderen betroffenen Staaten abgestimmt
wären oder nicht. Partizipation hatte für den Westen,
diesem Club ehemaliger Kolonialmächte, noch einen
besonders hohen Stellenwert.
Zurück zur Sache: Die Überschuldung von Staaten
hat sich als entscheidendes Hindernis für ihre selbst-
bestimmte wirtschaftliche und soziale Entwicklung er-
wiesen. Im Schuldendienst werden Mittel gebunden, die
dann für Investitionen in Bildung, Gesundheit und Infra-
struktur fehlen.
Schuldenpolitik war immer auch schon Machtpolitik.
Da werden Schulden als koloniales Instrument einge-
setzt, um alte Abhängigkeits- und Ausbeutungsverhält-
nisse aufrechtzuerhalten oder neu zu erlangen. Viele die-
ser Schulden müssen wir zudem als illegitim bewerten.
Der globale Süden hat also genügend Gründe, um ge-
nug von geberdominierten Verfahren zu haben. Multi-
laterale Geberprogramme wie die HIPC-Initiative waren
hochgradig ineffizient und sind gescheitert. Fast ein
Drittel der 30 Staaten, die diese Verfahren durchlaufen
haben, weisen schon jetzt erneut ein hohes Überschul-
dungsrisiko auf.
Ein Grund dafür ist, dass neben Staaten auf der Ge-
berseite auch immer aggressivere und verantwortungs-
losere private Spekulanten auftreten. Das jüngste Bei-
spiel Argentinien zeigt dies überdeutlich. Hier droht ein
skrupelloser Hedgefonds einen ganzen Staat durch seine
kompromisslose Haltung im Umschuldungsprozess er-
neut an den Rand des Ruins zu treiben.
Wenn wir nicht jetzt zu einem verlässlichen, fairen
und effizienten Verfahren finden, das künftig für alle
Gläubiger verbindlich ist und die Bedürfnisse des
Schuldnerstaats angemessen berücksichtigt, sind die
nächsten Krisen schon vorprogrammiert. Diese haben
dann – wie fast immer – die Ärmsten der Armen auszu-
baden. Länder werden um Jahrzehnte in ihrer Entwick-
lung zurückgeworfen.
Die Linke fordert die Bundesregierung auf, einzulen-
ken und den weiteren Prozess in den Vereinten Nationen
zur Einrichtung eines fairen, partizipativen und trans-
parenten Staateninsolvenzverfahrens nicht weiter zu blo-
ckieren, sondern konstruktiv zu unterstützen.
Ein solches muss einen für alle Gläubiger bindenden
Beschluss eines unabhängigen Schiedsverfahrens, das
die Schuldenlast auf ein tragfähiges Niveau senkt, ge-
währleisten. Vorrang vor den Ansprüchen der Gläubiger
muss die Sicherstellung eines Existenzminimums der
Bevölkerung im Sinne der sozialen, wirtschaftlichen und
kulturellen Menschenrechte haben. Um dies sicherzu-
stellen und auch um die Legitimität der Schulden zu
überprüfen, braucht es einen Audit-Prozess unter Betei-
ligung einer möglichst breiten Öffentlichkeit.
2013 ist Norwegen mit gutem Beispiel vorangegan-
gen und hat als erster Geberstaat einen Bericht über die
Legitimität von Staatsschulden vorgelegt und in der
Folge auch als illegitim erkannte Schulden erlassen.
Denn auch Gläubiger haben eine besondere Verantwor-
tung bei der Vergabe von Krediten. Norwegen hat sich
hierbei an den UNCTAD-Prinzipien für eine verantwor-
tungsvolle Kreditvergabe, die auch Deutschland unter-
stützt, orientiert.
Strukturelle Probleme brauchen strukturelle Verände-
rungen. Auch die Bundesregierung darf sich dem nicht
verweigern.
Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es
gibt zwei gute und zwei schlechte Nachrichten; die guten
zuerst:
Erstens. Es gibt eine neue Initiative in den Vereinten
Nationen zur Schaffung eines fairen und transparenten
Entschuldungsverfahrens, die die Staaten des Globalen
Südens – durch die Gruppe der 77 und China in den Ver-
einten Nationen – in der Generalversammlung zur Ab-
10208 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015
(A) (C)
(D)(B)
stimmung gestellt haben und die mit großer Mehrheit an-
genommen wurde. Dieser Prozess verdient jede
Unterstützung aus Politik, Wissenschaft und sozialen
Bewegungen in Deutschland und ganz Europa. Schon so
lange setzen wir uns fraktionsübergreifend für faire Ent-
schuldungsverfahren ein – dieser VN-Prozess muss von
uns mitgestaltet werden.
Dass aus dem Prozess in den Vereinten Nationen ein
rechtsstaatliches Verfahren zum Umgang mit öffentli-
cher Entschuldung resultieren könnte, ist sicherlich die
beste Nachricht im Blick auf das Thema in den nächsten
Monaten.
Es gibt aus meiner Sicht noch eine weitere – ich zi-
tiere Joseph Stiglitz –:
Der Machtwechsel in Griechenland hat die neue
Regierung mit dem ausdrücklichen Mandat ausge-
stattet, der desaströsen Sparpolitik der letzten fünf
Jahre ein Ende zu setzen. Eine Lösung für die ganz
und gar untragbaren öffentlichen Schulden und
Auslandsschulden ist eine Voraussetzung für jegli-
chen wirtschaftlichen Neustart. Die neue Regierung
ist bereit, auch unkonventionelle Optionen in Be-
tracht zu ziehen, und sie lässt sich von der erfolgrei-
chen Entschuldung Deutschlands im Londoner
Schuldenabkommen von 1953 inspirieren. Wir kön-
nen nicht absehen, ob sie es tatsächlich schaffen
wird. Aber der Einsatz ist hoch – nicht nur für Grie-
chenland, sondern für uns alle, die wir immer vor
der verschuldungsbedingten Ungleichheit innerhalb
und zwischen Staaten gewarnt haben.
Diese beiden Neuigkeiten zeigen, dass Bewegung in
die Frage um Schulden in und zwischen Staaten gekom-
men ist, und ich erwarte von der Bundesregierung, dass
sie sich aktiv und konstruktiv verhält und nicht in der
unerträglichen Neinsagerposition verharrt, die sie bis-
lang an den Tag legt.
Und damit komme ich zu den schlechten, ja bedrohli-
chen Nachrichten:
Die erste ist, dass Deutschland und die USA nichts
tun, um den Prozess der VN konstruktiv mitzugestalten,
und dass sie ihn durch ihre Blockadehaltung ernsthaft ins
Stolpern bringen. Ohne eine andere Haltung vonseiten
Deutschlands wird sich der Prozess über Jahre oder Jahr-
zehnte hinziehen, und eine historische Chance wird ver-
tan. Für dieses Verhalten sollten Sie sich schämen, Frau
Merkel, und vor allem Herr Schäuble. Es gibt dafür auch
keinen Grund. Selbst wenn Sie nicht blockieren und sich
einbringen würden, würde nichts gegen Ihren Willen
entschieden, und bis Ende des Jahres würden trotzdem
keine Fakten geschaffen.
Die zweite, noch dramatischere Nachricht lautet: Pro-
bleme mit staatlichen Schuldenkrisen könnten in den
nächsten Monaten zu einem durchaus noch größeren
Problem werden. Seit mehr als drei Jahren leben wir mit
historisch niedrigen Zinssätzen auf den internationalen
Kapitalmärkten. Deren Folgen für Entwicklungs- und
Schwellenländer sind offensichtlich: Wenn Regierungen
günstige Kredite bekommen, dann nehmen sie diese
auch auf, egal ob sie mit diesen Krediten in die Infra-
struktur investieren, Löcher im öffentlichen Haushalt
stopfen, zweifelhafte Geschäfte finanzieren oder andere
mehr oder weniger edle Ziele verfolgen. Man muss
schon die Augen sehr fest verschließen, um nicht zu er-
kennen, dass auch diese Kreditwelle zu neuen Staatsplei-
ten führen kann, genauso wie die, die zur „Schuldenkrise
der Dritten Welt“ in den 1980er-Jahren führte. Damit
müssen wir in einigen oder sogar in vielen Ländern ein-
fach rechnen.
Denn die neue Kreditwelle stößt nicht etwa auf eine
schuldenfreie Welt: Die dramatischen Schuldenindikato-
ren in einer ganzen Reihe von „kleinen Inselentwick-
lungsstaaten“ im Pazifik und in der Karibik sind hierzu-
lande kaum wahrgenommen worden. Und die anhaltende
Schuldenkrise in der Euro-Zone hat dort zu extrem ho-
hen Schuldenindikatoren und zum Risiko der Staats-
pleite geführt. Auffallend hoch ist auch die Anzahl dra-
matisch hoher Auslandsschuldenindikatoren in Ländern
des früheren Ostblocks.
Insgesamt hat sich die globale Schuldensituation zwi-
schen 2011 und 2013 verschlechtert: 54 Prozent der ge-
rade erst von Erlassjahr untersuchten Verschuldungsindi-
katoren sind 2013 höher als 2011. 30 Prozent haben sich
verbessert, bei 16 Prozent ist die Situation unverändert.
Das heißt, dass die Verschuldung von Entwicklungs-
und Schwellenländern weniger tragfähig ist als in den
Vorjahren. Insgesamt sind Kapitalmarktfinanzierungen
als Option der Entwicklungsfinanzierung für Entwick-
lungs- und Schwellenländer immer wichtiger geworden:
62 Prozent der Kredite an Entwicklungs- und Schwel-
lenländer im Jahr 2013 kamen aus privaten Quellen. In
einigen Ländern wird es laut Expertinnen und Experten
beim IWF daher in wenigen Jahren wieder zu Schulden-
krisen kommen.
Aber es steckt in diesen schlechten Nachrichten auch
eine Chance: Wenn die Euro-Zone es schafft, umzusteu-
ern und die Krise durch eine tiefgreifende und durch-
dachte Schuldenpolitik zu bewältigen, und wenn die
Beratungen in den Vereinten Nationen zu einem erfolg-
reichen Abschluss gebracht werden, dann könnte das
Schuldenthema am Anfang einer neuer Ära stehen.
Anlage 5
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Neuordnung des Rechts über das Inverkehr-
bringen, die Rücknahme und die umweltver-
trägliche Entsorgung von Elektro- und Elektro-
nikgeräten (Tagesordnungspunkt 20)
Dr. Thomas Gebhart (CDU/CSU): Das Elektro- und
Elektronikgerätegesetz ist eines der wichtigsten Gesetz-
gebungsvorhaben im Bereich der Abfallwirtschaft in
dieser Legislaturperiode. Wir setzen mit diesem Gesetz
europäische Vorgaben um. Und wir setzen unseren Ko-
alitionsvertrag um.
Worum geht es? Ein Großteil der alten Elektrogeräte
wird heute nicht zurückgegeben. Die Rücknahmemenge
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10209
(A) (C)
(D)(B)
stagniert in den letzten Jahren. Zu viele alte Elektroge-
räte verschwinden im Ausland oder wandern in den
Restmüll.
Welche Ziele verfolgen wir nun mit dem ElektroG?
Erstens. Wir wollen, dass möglichst viele alte Elek-
trogeräte, die nicht mehr gebraucht werden, getrennt ge-
sammelt und wieder zurückgenommen werden. Und
unser Ziel muss es sein, dass möglichst viel davon hoch-
wertig recycelt wird. Sekundärrohstoffe sollen zurückge-
wonnen werden. Kupfer, Aluminium und Kunststoffe
– um nur ein paar Beispiele zu nennen – müssen wieder
in den Kreislauf zurück. Das macht umweltpolitisch
Sinn, es macht aber gerade für ein rohstoffarmes Land
wie Deutschland vor allem wirtschaftlich Sinn. Techno-
logisch ist heute schon vieles möglich. Ich habe mir vor
kurzem eine Recyclinganlage für Elektrogeräte angese-
hen. Das ist absolut faszinierend, zu sehen, welche
technologischen Innovationen in den letzten Jahren in
Unternehmen stattgefunden haben. Wir wollen, dass von
diesem Gesetz weitere Anreize zu technologischer Inno-
vation in Deutschland ausgehen.
Zweitens. Unser Ziel ist, dass wir für die Bürgerinnen
und Bürger in unserem Land ein möglichst einfaches
und verbraucherfreundliches System schaffen.
Drittens. Unser Ziel ist es, dass illegale Exporte von
Elektroschrott eingedämmt werden. Es ist nicht hin-
nehmbar, dass unsere ausgedienten Fernseher, Mikro-
wellengeräte und Teile von Kühlschränken in großen
Mengen auf Müllhalden in Afrika landen. Es ist nicht
hinnehmbar, dass unsere Abfälle dort erhebliche Pro-
bleme verursachen, und zwar für die Menschen und die
Umwelt. Das dürfen wir nicht zulassen.
Was sieht der Gesetzentwurf nun konkret vor? Ich
will sechs Kernpunkte nennen:
Erstens. Der Anwendungsbereich des bestehenden
Gesetzes wird ausgedehnt. Es ist überfällig, dass etwa
Fotovoltaikmodule einbezogen werden. Alte Module
können künftig zurückgegeben werden.
Zweitens. Die Ziele, wieviel Prozent des anfallenden
Elektroschrotts in Deutschland zu erfassen sind, werden
erhöht: zunächst auf 45 Prozent, 2019 dann auf 65 Pro-
zent.
Drittens. Die Recycling- und Verwertungsquoten bei
den Altgeräten werden erhöht.
Viertens. Es kommt zu einer Rücknahmepflicht des
Handels. Eine Rücknahme durch den Handel erfolgt
heute auf freiwilliger Basis. Wir wissen: Viele Geschäfte
nehmen alte Elektrogeräte heute schon zurück. Künftig
soll in großen Geschäften mit einer Verkaufsfläche von
mehr als 400 Quadratmeter gelten: Kauft jemand ein
neues Gerät, kann er im Gegenzug sein altes Gerät im
Geschäft zurückgeben. Kleine Altgeräte – mit weniger
als 25 Zentimetern Kantenlänge – müssen auch dann zu-
rückgenommen werden, wenn kein neues Gerät gekauft
wird.
Fünftens. Ungeachtet der Rücknahmepflichten des
Handels gilt: Bewährte Erfassungs- und Entsorgungs-
strukturen werden erhalten und verbessert.
Sechstens. Um die illegalen Exporte einzudämmen,
wird eine Beweislastumkehr eingeführt: Will jemand
alte Elektrogeräte exportieren, muss er künftig nachwei-
sen, dass es sich nicht um Abfälle handelt, sondern um
funktionstüchtige Geräte.
Es handelt sich um ein umfangreiches Gesetz. Und
der Teufel steckt im Detail. Es gibt zahlreiche Hinweise
von verschiedenen Seiten, wie der Gesetzestext noch
verändert und gegebenenfalls verbessert werden kann.
Ich sage Ihnen zu: Wir werden uns alle Änderungswün-
sche sehr genau ansehen und bewerten. Es wird im Juni
im Umweltausschuss zudem eine Sachverständigenan-
hörung geben. Wir werden diese genau auswerten und
Schlussfolgerungen ziehen. Wir werden vor allem auch
darauf achten, dass keine unnötige Bürokratie aufgebaut
wird. Das ist mir wichtig.
Dr. Anja Weisgerber (CDU/CSU): Jeder kennt die
Situation: Das Handy funktioniert nicht mehr, man kauft
sich ein neues und das alte, defekte Gerät landet zu
Hause in der Schublade. Irgendwann wird es dann ent-
sorgt – idealerweise bei einer dafür vorgesehenen Sam-
melstelle. Schätzungen zufolge werden jährlich rund
150 000 Tonnen solcher Elektrokleingeräte nicht ent-
sorgt, sondern landen in Müllverbrennungsanlagen, wo
sie gar nicht hingehören. Betrachtet man alle Elektroge-
räte, dann sind es sogar 500 000 Tonnen. Das muss ein
Ende haben.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden die EU-
Richtlinie über Elektronik- und Elektroaltgeräte umge-
setzt und das bestehende Elektrogesetz weiterentwickelt.
Ziel des Gesetzes ist es, die Sammelquote bei Elektro-
und Elektronikaltgeräten zu erhöhen, wertvolle Metalle
zurückzugewinnen und die Reststoffe aus den Geräten
ordnungsgerecht und umweltschonend zu entsorgen.
Auch der Handel muss zur Erreichung der Ziele einen
Beitrag leisten. Geschäfte mit einer Verkaufsfläche von
über 400 Quadratmetern werden verpflichtet, das Alt-
gerät bei Kauf eines vergleichbaren Neugeräts zurück-
zunehmen. Bei kleinen Geräten muss die Rücknahme
sogar ohne Neukauf erfolgen. Ich begrüße, dass der Ge-
setzentwurf den kleinen Strukturen des Mittelstands mit
dieser 400-Quadratmeter-Regel Rechnung trägt. Denn:
Aus eigener Erfahrung aus dem Familienumfeld kann
ich sagen, dass nicht jeder kleine Dorfladen die räumli-
chen Möglichkeiten hat, große Geräte wie Wasch- oder
Spülmaschinen zurückzunehmen und bis zur Entsorgung
zu lagern.
Auch der Onlinehandel, der immer weiter an Bedeu-
tung gewinnt, wird einbezogen. Online-Händler werden
zukünftig verpflichtet sein, Altgeräte zurückzunehmen.
Die dafür vorgesehenen Rücknahmestellen müssen in
zumutbarer Entfernung zum jeweiligen Endnutzer einge-
richtet werden. Wie genau das in der Praxis auszusehen
hat, werden wir im weiteren parlamentarischen Verfah-
ren noch weiter diskutieren müssen.
10210 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015
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Auch diskutieren müssen wir den Erfüllungsaufwand
für die Wirtschaft. Die EU-Richtlinie reduziert die An-
zahl der Produktkategorien von ursprünglich zehn auf
sechs Kategorien. Dadurch sind die Hersteller verpflich-
tet, ihre Produkte neu in die Kategorien einzusortieren,
was wiederum Umsetzungskosten in Höhe von rund
1 Milliarde Euro im Jahr 2018 entspricht. Auch wenn
der Normenkontrollrat hier keine Bedenken angemeldet
hat, so ist dies aus meiner Sicht problematisch und muss
ebenfalls im weiteren Verfahren genau hinterfragt und
geprüft werden.
Rohstoffe und Sekundärrohstoffe sind etwas Wertvol-
les – vor allem für uns Deutsche, da unser Land wenige
Rohstoffe hat. Künftig sollen nur noch überprüfte, funk-
tionsfähige Geräte als Nichtabfall exportiert werden.
Durch eine Beweislastumkehr, nach der der Exporteur
belegen muss, dass es sich um gebrauchsfähige Geräte
und nicht um Elektroschrott handelt, verleihen wir dieser
Regelung Nachdruck. Damit schieben wir der illegalen
Verbringung von Rohstoffen, insbesondere in Entwick-
lungsländer, einen Riegel vor, und das ist auch gut so.
Bei all der Diskussion um die Umsetzung der EU-
Richtlinie dürfen wir aber nicht vergessen, dass Deutsch-
land die europäischen Zielvorgaben schon heute über-
trifft. Auch bei der Produktverantwortung im Elektroge-
rätebereich sind wir sehr weit. Die Hersteller haben eine
gemeinsame Stelle, die Stiftung ear gegründet. Die Her-
steller holen so bereits heute die Altgeräte analog zu
ihrem Marktanteil bei den öffentlich-rechtlichen Sam-
melstellen ab und sorgen für eine umweltgerechte Ent-
sorgung und Verwertung der Rohstoffe.
Von dieser Produktverantwortung können wir in wei-
teren Bereichen lernen. Ich denke hier zum Beispiel an
das geplante Wertstoffgesetz, über das wir vorhin hier
diskutiert haben. Durch eine Produktverantwortung für
stoffgleiche Nichtverpackungen wie die Quietscheente
oder den Kleiderbügel würden wir zum einen den Anreiz
setzen, möglichst nachhaltige gut rezyklierbare Materia-
lien bei der Herstellung zu verwenden, und zum anderen
die stoffliche Verwertung gegenüber der thermischen
Verwertung fördern. Ein Ansatz, der sich – wie ich
finde – lohnt weitergesponnen zu werden.
Es sind noch einige Fragen offen. Zusammenfassend
möchte ich jedoch sagen, dass das Gesetz ein wichtiger
Baustein zum Schließen von Stoffkreisläufen ist, die stoff-
liche Verwertung von Elektroabfällen verbessert und da-
für sorgt, dass wertvolle Rohstoffe in der Wertschöp-
fungskette bleiben.
Michael Thews (SPD): 41,8 Millionen Tonnen Elek-
troschrott sind im vergangenen Jahr weltweit angefallen.
Das sind 2 Millionen Tonnen mehr als im Jahr davor.
Etwa 4 Prozent des weltweiten Aufkommens stammen
aus Deutschland.
Wissenschaftler der United Nations University schät-
zen den Wert der in den Elektroaltgeräten enthaltenen
Materialen für 2014 auf 48 Milliarden Euro. Allein der
Wert des enthaltenen Kupfers wird auf 10,6 Milliarden
Euro geschätzt und der des Goldes auf 10,4 Milliarden.
Man könnte also meinen, bei dem heute debattierten Ge-
setz zum Umgang mit Elektroaltgeräten geht es gar nicht
in erster Linie um Umweltpolitik, sondern eigentlich um
Wirtschaftspolitik.
Das stimmt natürlich so nicht. Natürlich wollen wir
mehr Elektroaltgeräte sammeln, um die in ihnen enthal-
tenen Wertstoffe wieder in den Wirtschaftskreislauf zu-
rückzubringen, aber es geht eben auch darum, unsere
natürlichen Ressourcen zu schonen. Wir müssen die so-
zialen und ökologischen Folgen des zunehmenden Roh-
stoffabbaus eingrenzen. Wir wollen, dass die Geräte
sachgerecht recycelt werden. Wir wollen verhindern,
dass es durch nichtfachgerechte Entnahme der Wert-
stoffe in Deutschland oder im Ausland zu Schadstoff-
emissionen kommt und zu illegaler Deponierung der
Reststoffe. Deshalb ist dieses Gesetz eben doch in erster
Linie ein umweltpolitisch bedeutsames.
Natürlich hat aber der Marktwert der in den Altgerä-
ten enthaltenen Wertstoffe wie Metalle und seltenen Er-
den trotzdem Auswirkungen. Die Wissenschaftler haben
nämlich festgestellt, dass trotz der wirtschaftlichen Be-
deutung des Elektroschrotts weltweit weniger als ein
Sechstel sachgemäß recycelt wird. Das liegt natürlich
auch daran, dass wegen des Marktwertes die Entnahme
von Kupfer und Gold auch außerhalb der offiziellen Re-
cyclingwege stattfindet. Eine aktuelle Studie des Um-
weltprogramms der Vereinten Nationen schätzt den Wert
des auf inoffiziellen Wegen entsorgten und teilweise ge-
handelten Elektroschrotts auf 11 bis 16,5 Milliarden
Euro im Jahr. Diese Art der Entsorgung hat unter Um-
ständen verheerende Auswirkungen auf die Umwelt und
besonders den Menschen. Denken wir an die Bilder aus
Afrika, wo Menschen in meterhohen Lagen Elektro-
schrott wühlen. Messungen dort haben ergeben, dass die
Schadstoffbelastung in Luft und Boden die zulässigen
Grenzwerte um das 50-Fache überschreitet. Das ist auch
die Folge unserer Sucht nach modernster Elektronik mit
immer kürzerer Nutzungsdauer. Deshalb ist ein ganz
wichtiges Ziel dieser Novelle die Eindämmung des ille-
galen Exports. Gleichzeitig müssen wir hier aufpassen,
dass wir damit nicht den grenzüberschreitenden Trans-
port zum Zweck der Reparatur unmöglich machen. Das
wären dann ökologisch ebenfalls unerwünschte Neben-
folgen. Stärken wollen wir auch die Wiederverwendung
von Geräten. Immer mehr Kommunen setzen diesen
Weg mit lokalen karitativen und sozialen Betrieben um.
Aber es geht bei diesem Gesetz auch darum, den Ver-
lust der in den Elektro- und Elektronikaltgeräten enthal-
tenen Wertstoffe in Deutschland einzudämmen und den
Rücklauf in den Wirtschaftskreislauf sicherzustellen.
Denn bei uns landen immer noch zu viele Geräte in der
grauen Tonne oder schlummern – wie zum Beispiel alte
Handys – in Schreibtischschubladen oder landen manch-
mal auch in den Händen illegaler Entsorger. Deshalb soll
das Sammelnetz verdichtet werden, der Handel und auch
der Onlinehandel stärker in die Sammlung einbezogen
werden, die Sammlung insgesamt verbraucherfreundli-
cher gestaltet werden, ohne dass dabei Schlupflöcher für
illegale Entsorgung entstehen. So hoffen wir, das von der
zugrunde liegenden EU-Richtlinie und der hier vorlie-
genden Novelle für 2016 vorgegebene Sammelziel von
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45 Prozent, bezogen auf das durchschnittliche Gewicht
der in den letzten drei Jahren in Verkehr gebrachten Ge-
räte, zu erreichen.
Ich möchte hier aber auch dafür plädieren, schon wei-
terzudenken. Wir müssen bei den Elektrogeräten auch
den nächsten Schritt gehen und versuchen, Einfluss auf
die Produktion der Geräte zu nehmen. So wie es in der
Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme
des Bundesrates auch schon anklingt, müssen wir uns
auf europäischer Ebene dafür einsetzen, dass Maßnah-
men für die Langlebigkeit von Elektrogeräten getroffen
werden und darüber hinaus auch für die Recycling-
freundlichkeit der Geräte.
Ralph Lenkert (DIE LINKE): Die Bundesregierung
will mit einem neuen Gesetz zur Entsorgung von Elek-
trogeräten genannt ElektroG, deutlich mehr Elektroaltge-
räte ordnungsgemäß und umweltfreundlich entsorgen
lassen und damit einen Beitrag zur Ressourcenschonung
leisten. So weit die Theorie, denn in der Praxis werden
heute selbst über Abfall oder Sperrmüll entsorgte Geräte
später ordnungsgemäß erfasst, weil das Gewinne ab-
wirft – das ist Marktwirtschaft. Wäre das neue ElektroG
gut, würde es wenigstens nicht schaden, aber es hat ei-
nige gravierende Fehler.
Woran es im Punkte Ressourcenschutz in der Logik
des Gesetzes bereits mangelt, ist, dass anstatt auf Ver-
meidung auf das Prinzip des Neukaufs eines Elektro-
gerätes nach Ablauf einer dreijährigen Nutzungszeit ge-
setzt wird. Das spiegelt zwar die Realität wieder, aber
die ist alles andere als ressourcenschonend. Denn es ver-
stärkt den Eindruck gewollter Obsoleszenz bei den Elek-
trogeräten, die direkt nach der Gewährleistungszeit ihren
Geist aufgeben, und die Regierung akzeptiert dies. Auch
die permanente Suggestion, wer seinen Fernseher oder
Laptop länger als drei Jahre in Gebrauch hat oder sein
Mobiltelefon oder Tablet nach einem Jahr noch nicht
ausgetauscht hat, sei nicht mehr auf der Höhe der Zeit,
wirkt definitiv nicht ressourceneffizient.
Aber zurück zum Gesetzentwurf: Nehmen wir den
Grünen Punkt, der von zehn im Wettbewerb stehenden
dualen Systemen für alle bestätigten Verpackungen
vergeben wird. Die zehn dualen Systeme, diese zehn Fir-
men, streiten um ihren Anteil an der jeweiligen Verpa-
ckungssorte. Bringt die Verwertung einer Verpackungs-
sorte Geld, will jede der Firmen einen großen Anteil.
Kostet die Verwertung einer Verpackung Geld, dann will
diese keiner bestätigt haben.
Jeder der Zehn verhandelt mit den Firmen, die Verpa-
ckungen einsammeln, mit Firmen, die Verpackungen be-
nötigen, und schließt seine Verträge und rechnet ab.
Aber in einem Gebiet sammelt nur eine Firma alle
Verpackungen ein, aber die muss mit allen zehn dualen
Systemen abrechnen. Jede Verwertungsanlage verarbei-
tet für alle zehn Firmen Verpackungen und muss mit
jeder einzelnen abrechnen. Das beschreibt ganz kurz die
Funktionsweise der dualen Systeme, die größere
Mengen an Geld für Bürokratie verschlingen, als für die
eigentliche Entsorgung der Abfälle gebraucht wird.
Mit dem neuen vorliegenden ElektroG wird wohl das
nächste duale System geschaffen werden, mit ähnlichen
Wirkungen, genauso schlecht funktionierend.
Dieses Gesetz benachteiligt Kommunen. Die Kom-
munen werden verpflichtet, die Flächen für die Samm-
lung alter Elektrogeräte kostenlos zur Verfügung zu stel-
len und das Erfassungssystem kostenlos zu betreiben.
Die Kommunen müssen auf ihre Kosten Bürgerinnen
und Bürger umfassend zum ElektroG informieren.
Elektronikgeräte sollen grundsätzlich nicht bei Haus-
halten abgeholt werden müssen, können es aber. Wenn
ein Hersteller Geräte abholt, darf er Geld dafür verlan-
gen. Wenn ein kommunales Abfallunternehmen das tut,
darf es kein Geld fordern.
Nett, dass die Bundesregierung zulasten der Kommu-
nen versucht, zu verhindern, dass die Menschen ihre Alt-
geräte aus Kostengründen einfach in den Hausmüll oder
die Natur werfen. Da ist zumindest der Anschein einer
kostenlosen Entsorgungsoption besser.
Sie geben mit diesem Gesetzentwurf den Herstellern
und Vertreibern eine Lizenz zum Gelddrucken in die
Hand, indem sie bei Abholung auch noch Geld verlan-
gen dürfen.
Weiterhin dürfen die Inverkehrbringer von Elektro-
geräten zwischen mehreren Entsorgungspfaden wählen;
das bedeutet mehr Bürokratie. Nicht umsonst schätzt die
Bundesregierung Bürokratiekosten von 83 Millionen
Euro je Jahr.
Wir kommen nicht umhin: Wenn dieser Gesetzent-
wurf sozial gerecht werden soll, muss das Verursacher-
prinzip real und nicht scheinbar durchgesetzt werden.
Die Hersteller zahlen eine Ressourcenabgabe. Aus ei-
nem Teil dieser Ressourcenabgabe wird das kommunale
Rücknahmesystem finanziert. Durch die Ressourcen-
abgabe würde der Gesetzentwurf außerdem ressourcen-
schonend. Denn wenn Produkte gut reparierbar oder
aufrüstbar sind oder wenn sie ressourceneffizient und
gut recycelbar konstruiert wurden, zahlt der Hersteller
weniger Ressourcenabgabe. Dann hat er einen Anreiz, so
ökologisch und effizient wie möglich zu produzieren.
Damit eine möglichst vollständige Sammlung und
Wiederverwendung ermöglicht und bestmögliches Recy-
cling garantiert wird, bräuchte es nur eine Pfandpflicht
auf Elektrogeräte. Das Prinzip der Pfandpflicht ist nichts
Neues, und es ist effektiv und garantiert hohe Rückgabe-
quoten. Nahezu kein Elektrogerät wird mehr im Haus-
müll oder im Wald landen.
Schade, das, was die Bundesregierung hier vorgelegt
hat, kommt erstens zu spät, löst zweitens nicht existie-
rende Probleme und schafft neue Baustellen.
Dieses ElektroG bedeutet Mehrkosten für die Ver-
braucher und verwirrt diese. Kurz gesagt: Es wird ein
Remake der dualen Systeme und genauso versagen.
Peter Meiwald (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die
Deutschen werfen pro Jahr 600 000 Tonnen Handys,
PCs, Föhne, Herde und Toaster weg. Alte und kaputte
10212 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015
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Elektro- und Elektronikgeräte gehören aber nicht in den
Restmüll, egal wie klein sie sind. Sie enthalten wichtige
und wertvolle Rohstoffe, die bei der richtigen Behand-
lung zurückgewonnen werden können. Diese zu ver-
brennen ist reine Ressourcenverschwendung.
Elektroschrott enthält außerdem viele Schadstoffe,
etwa Blei und Kadmium in Akkus, Quecksilber in
Leuchtstofflampen, Flammschutzmittel in Kunststoffen.
Diese gelangen nur bei der richtigen Behandlung nicht in
die Umwelt. Deshalb ist eine funktionierende, separate
Sammlung von Elektroschrott enorm wichtig; da sind
wir uns alle einig.
Doch der Verbleib von zu vielen Elektrogeräten ist
unklar. Deshalb hat die EU neue Vorschriften verabschie-
det, um die Sammlung und die Verwertung zu verbessern.
Die Bundesregierung legt heute mit dem aktualisierten
ElektroG eine reine 1:1-Umsetzung der europäischen
Vorgaben vor. Das ist reine Pflichterfüllung, bleibt aber
umweltpolitisch weit hinter dem zurück, was möglich
gewesen wäre, um die Ressourcenpolitik in Deutschland
wirklich voranzubringen.
Handys, Laptops, Tablets, es kommen immer mehr
Elektrogeräte auf den Markt, vor allem in den Kommu-
nikationstechnologien. Die Rückläufe, was also über-
haupt ins Recycling gelangen kann, sind viel zu niedrig.
Schätzungen zufolge landet in Deutschland nur etwa die
Hälfte aller elektronischen Geräte vorschriftsgemäß auf
dem Recyclinghof, bei kleinen Geräten ist die Zahl ver-
mutlich noch viel niedriger.
Etwa ein Viertel unseres Elektroschrotts, circa
150 000 Tonnen jährlich, wird dann illegal nach Afrika
und Asien exportiert. Dem soll jetzt ein Riegel vorge-
schoben werden durch die Beweislastumkehr beim Ex-
port. Dieses ist richtig und wichtig, um die illegalen
Elektroschrottexporte in die Länder des Südens einzu-
dämmen. Bis zu 20 000 Kinder sollen in Ghana, Nigeria
oder der Elfenbeinküste auf Halden arbeiten und aus
Elektroschrott seltene Metalle und andere wiederver-
wertbare Bestandteile herausholen und dabei giftigen
Dämpfen ausgesetzt sein. Nun müssen Exporteure von
Altelektrogeräten nachweisen, dass diese noch funktio-
nieren. Somit haben Behörden nun erstmals europaweit
eine Möglichkeit, den illegalen Export effektiv zu ahn-
den.
Eine weitere wichtige Verbesserung ist die Rück-
nahme von Altgeräten im Handel. Hier hat die Regie-
rung mit dem jetzt vorgelegten Gesetz allerdings nur den
ganz großen Läden – ab 400 Quadratmetern Verkaufs-
fläche von Elektrogeräten – die Pflicht auferlegt, Elek-
trokleingeräte wieder zurückzunehmen. Wir setzen uns
dafür ein, dass die Rückgabemöglichkeiten für Bürgerin-
nen und Bürger noch einfacher werden, indem jeder, der
Elektrogeräte verkauft, diese auch zurücknehmen muss.
Das trifft dann nicht nur die ganz großen Elektromärkte,
sondern auch Discounter, über deren Ladentisch mehr
und mehr Geräte verkauft werden.
Wir Grüne sind davon überzeugt, dass finanzielle An-
reize den Anteil zurückgegebener Geräte deutlich erhö-
hen könnten und längere Verwendung und ein besseres
Recycling dadurch möglich wird. Vor allem kleine Ge-
räte landen vielfach in der Restmülltonne. Wir fordern
die Einführung eines „Handypfandes“ als Test, ob dieses
tatsächlich zu deutlich höheren Rückläufen führt, wie
wir es annehmen. Wenn dieses erfolgreich ist, sollten
solche finanzielle Anreize für Rückgaben auch auf an-
dere Elektronikgeräte wie Tablets und Spielekonsolen
ausgeweitet werden. Ein solches Pfandsystem sollte ins
neue Elektrogesetz aufgenommen werden.
Eine verpasste Chance ist es auch, dass keinerlei Vor-
gaben für das Produktdesign im jetzigen Entwurf enthal-
ten sind, die die Reparaturfähigkeit und Langlebigkeit
von Produkten fördern. Das Umweltbundesamt hat kürz-
lich erste Studienergebnisse veröffentlicht, die belegen,
dass viele Geräte heute immer schneller kaputt gehen.
Besonders Elektrogeräte sind hiervon betroffen. Dieses
führt zu unnötigen Kosten, Umweltschäden durch Res-
sourcenverschwendung und viel Ärger bei Verbrauche-
rinnen und Verbrauchern. Warum wird dieses Thema
von Ihnen nicht im neuen Gesetz aufgegriffen?
Dazu gehört auch die Vorgabe, dass Ersatzteile über
einen gewissen Zeitraum vorgehalten werden und den
unabhängigen Reparateuren auch zur Verfügung gestellt
werden müssen. Verklebte Gehäuse oder fest verbaute
Batterien und Akkus führen aber dazu, dass Reparaturen
immer mehr erschwert werden. Das ist aus unserer Sicht
nicht akzeptabel, dieses Themas hätten Sie sich anneh-
men müssen.
Ein weiteres, bisher leider unberücksichtigtes Thema
ist der Zugriff von Weiterverwendern auf die Altgeräte –
denn laut europäischer Abfallhierarchie ist Weiternut-
zung zu fördern. Aber genau das tun Sie mit Ihrem Ge-
setz nicht, indem Sie die Weiternutzung der Altgeräte
ausschließen. Dies kritisieren auch alle Umweltverbände
und die Reparaturwerkstätten und Repair-Cafés, die sich
derzeit überall im Land gründen.
Wir hoffen, dass es im weiteren Beratungsverfahren
hier im Parlament und im Bundesrat noch zu deutlichen
Umweltverbesserungen kommt. Dies betrifft vor allem
die Nutzungsdauer von Elektrogeräten, Vorgaben für
ökologischeres Design, die Langlebigkeit und Repara-
turfähigkeit von Geräten. Liebe Kolleginnen und Kolle-
gen der Koalitionsfraktionen, wenn Sie bereit sind, an
diesen Stellen nachzubessern, sind wir bereit, diese not-
wendigen Änderungen mit Ihnen zusammen vorzuneh-
men.
Florian Pronold, Parl. Staatssekretär bei der Bun-
desministerin für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reak-
torsicherheit: Alte Elektrogeräte gehören nicht in die
Restmülltonne, denn sie enthalten sowohl wertvolle
Rohstoffe wie seltene Erden, aber auch Schadstoffe. Das
weiß im Grunde jeder und jede, und den allermeisten ist
eine fachgerechte Entsorgung ein wichtiges Anliegen.
Ob es dann auch umgesetzt wird, hängt im Alltag oft
davon ab, wie groß der Aufwand ist. Dennoch werden
auch heute schon viele Elektroaltgeräte erfasst, und von
den erfassten Geräten 85 Prozent recycelt. Trotzdem gilt
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10213
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es, zukünftig noch deutlich mehr Altgeräte zu erfassen
und zu recyceln.
Mit der Novellierung des Elektro- und Elektronikge-
rätegesetzes, das vor zehn Jahren in Kraft getreten ist,
sollen deshalb vor allem die Weichen dafür gestellt wer-
den, dass Verbraucherinnen und Verbraucher ihre alten
Geräte einfach und unkompliziert zurückgeben können.
Das heißt, dass wir für ein dichtes Netz an Sammel-
stellen sorgen müssen – und das kann am besten der
Handel. Er ist nah an den Verbraucherinnen und Ver-
brauchern.
Satt auf Freiwilligkeit setzt der Gesetzentwurf auf
Pflichten zur Rücknahme von Elektroaltgeräten. Große
Vertreiber werden verpflichtet, alte Geräte beim Neu-
kauf eines gleichwertigen Geräts zurückzunehmen. Bei
kleinen Geräten müssen die großen Vertreiber die Altge-
räte sogar ohne Kauf eines entsprechenden Neugeräts
zurücknehmen. Als „große Vertreiber“ gelten Geschäfte
mit mehr als 400 Quadratmetern Verkaufsfläche, und
auch Internethändler, die einen immer größeren Anteil
am Umsatz haben, gehören dazu. Kleine und mittelstän-
dische Händler dagegen sind ausgenommen.
Grundsätzlich halten wir am Konzept der geteilten
Produktverantwortung, in dessen Rahmen die Kommu-
nen eine zentrale Rolle haben, bei der Rücknahme und
Entsorgung von Elektro- und Elektronikaltgeräten fest,
denn es ist erfolgreich.
Dies zeigen sowohl die Sammelleistungen als auch
die in Deutschland erreichten Recycling- und Verwer-
tungsquoten. Mit durchschnittlich 8,11 Kilogramm ge-
sammelter Menge pro Einwohner und Jahr in den ver-
gangenen sieben Jahren wird die europäische Vorgabe
von 4 Kilogramm deutlich überschritten. Auch die Recy-
cling- und Verwertungsquoten müssen den europäischen
Vergleich nicht scheuen.
Dennoch bietet die Novellierung die Chance, ehrgei-
zigere Ziele zu erreichen, Strukturen weiterzuentwickeln
und praktische Erfahrungen aufzugreifen, um erstens
den zukünftigen Vorgaben der EU mit Blick auf die
Sammlung und das Recycling zu entsprechen – die Sam-
melziele steigen 2016 auf 45 Prozent, 2019 auf 65 Pro-
zent –, zweitens die Ressourceneffizienz unserer Wirt-
schaft weiter zu verbessern.
Bei der Novellierung des Elektrogesetzes geht es des-
halb darum, einen größeren Anteil wertvoller Metalle,
die immer seltener und teurer werden, aus den Altgerä-
ten zurückzugewinnen, die Sammelmenge von Altgerä-
ten weiter zu steigern und eine möglichst hochwertige
Verwertung sicherzustellen und den illegalen Export von
Altgeräten ins Ausland zu unterbinden.
Wir haben in den letzten Jahren auf nationaler wie in-
ternationaler Ebene an Lösungen gearbeitet, illegale Ex-
porte von Altgeräten zu verhindern:
Erstens konkretisieren wir mit dem Gesetzentwurf die
Kriterien für die Abgrenzung von gebrauchten Geräten
und Altgeräten, die Abfall sind.
Zweitens führen wir eine Beweislastumkehr ein. Zu-
künftig muss der Exporteur belegen, dass es sich bei
den zu exportierenden Geräten um funktionsfähige Ge-
brauchtgeräte und nicht um Altgeräte handelt.
Drittens ist es uns in der letzten Woche bei der Ver-
tragsstaatenkonferenz zum Basler Übereinkommen ge-
lungen, internationale Leitlinien zu verabschieden, die
ebenfalls solche Instrumente enthalten.
Damit weniger Altgeräte im Restmüll landen, sind
vor allem die Bürgerinnen und Bürger gefragt. Dafür
wollen wir bessere Rahmenbedingungen schaffen.
Bei den nun folgenden Diskussionen im Bundestag
und seinen Ausschüssen ist es aus Sicht der Bundesre-
gierung unabdingbar, im Blick zu behalten, dass die zu
treffenden Regelungen natürlich mit den europarechtli-
chen Vorgaben in Einklang stehen müssen. Zudem gilt es
zu verhindern, dass die bestehenden, effizienten Struktu-
ren zur Erfassung und Entsorgung von Elektro- und
Elektronikaltgeräten konterkariert werden.
Die Bundesregierung hat in ihrem Entwurf viele Vor-
schläge abgewogen und ist der Auffassung, dass der vor-
liegende Entwurf einen ausgewogenen Kompromiss
zwischen den unterschiedlichen Interessen und Erforder-
nissen darstellt. Ich bitte daher um Ihre Unterstützung
für die im Gesetzentwurf der Bundesregierung enthalte-
nen Regelungen.
Anlage 6
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Forschung und Ent-
wicklung für die Bekämpfung von vernachläs-
sigten armutsassoziierten Erkrankungen stär-
ken (Tagesordnungspunkt 22)
Stephan Albani (CDU/CSU): Infolge der Kürze der
Zeit und der fortgeschrittenen Stunde gleich zum Kern
des Themas:
Weltweit existieren viele Krankheiten, für die bislang
noch keine bzw. nur unzureichende Impfstoffe und auf-
wendige bzw. teilweise auch keine Therapien existieren.
Hierzu zählen zum Beispiel „die großen Drei“ – HIV/
Aids, Tuberkulose, Malaria – ebenso wie das Dengue-
Fieber, die Schlafkrankheit und verschiedene andere
Tropenkrankheiten, um nur ein paar dieser Erkrankun-
gen zu nennen. Bis heute ist es uns allen nicht gelungen,
diese Krankheiten in den Griff zu bekommen, bis heute
leidet eine riesige Anzahl von Menschen an diesen Er-
krankungen. Allein im Fall Tuberkulose sind weltweit
2,5 Milliarden Menschen infiziert, jährlich kommen
nach Angaben der WHO 9 Millionen Neuinfektionen
hinzu, und weit über 1 Million Menschen sterben daran.
Es ist schon schlimm, wenn eine dieser Krankheiten
getrennt allein auftritt. Doch dort, wo bereits eine Im-
munschwäche etwa durch HIV/Aids besteht, haben wei-
tere Erkrankungen ein nur allzu leichtes Spiel.
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Keiner auf unserer heute durch die Globalisierung im-
mer „kleiner“ werdenden Welt darf sich noch der Illu-
sion hingeben, dass Krankheiten weit weg sind, für ihn
oder sie keine Bedeutung haben, wenn wir sie nicht
überall und für alle in den Griff bekommen. So wurde es
wahrgenommen in Sachen Ebola, und zwischen 2010
und 2013 verdoppelte sich hierzulande die – wenn auch
insgesamt noch kleine – Fallzahl der multiresistenten
Tuberkulose.
One World – One Health – wir sind eine Welt und wir
haben eine Gesundheit!
In diesem Sinne möchte ich Sie, meine Damen und
Herren, hier daran erinnern, dass solche Krankheiten
keine Grenzen kennen und wir auch am Beispiel von
Ebola und auch der Tuberkulose spüren, dass ein weite-
rer Handlungsbedarf dringend notwendig ist.
Heilmittel sowie Impfstoffe werden in der Industrie
nachfrageorientiert und für strategisch wichtige Märkte
entwickelt. Die Ärmsten der Armen stehen mangels
Kaufkraft hier zunächst nicht im Fokus. Wirtschaftlich
agierende Unternehmen dürfen und müssen so verfah-
ren. Jedoch kann und muss unsere Gesellschaft hier an-
ders entscheiden und den Fokus eben auch auf diese
Erkrankungen lenken und öffentliche Gelder dort einset-
zen, wo diese dringend benötigt werden, aber bislang
fehlen, um die notwendige Forschungsleistung für Dia-
gnostika, Impfstoffe und Therapien zu leisten.
Wir in Deutschland können dies, die forschenden
Köpfe dazu gibt es hier!
Die Bundesregierung hat dies bereits 2011 erkannt
und das Förderkonzept „Vernachlässigte und armuts-
assoziierte Krankheiten“ im Bundesministerium für Bil-
dung und Forschung auf den Weg gebracht, um die For-
schungsförderung zu fokussieren und Forschung hier
über alle Akteure – aus Wissenschaft und Wirtschaft –
hinweg zu bündeln.
Allein 2010 bezifferten sich die vom BMBF geförder-
ten Forschungsprojekte und Maßnahmen auf rund
11 Millionen Euro. 2011 wurden diese Mittel durch eine
Fördermaßnahme für die sogenannten Produktentwick-
lungspartnerschaften – englisch: PDPs – mit einem Vo-
lumen von 20 Millionen Euro ergänzt. Zusammenge-
nommen wurden 2012 von öffentlicher Seite etwa
47 Millionen Euro investiert – laut Internationalem
Währungsfonds stand Deutschland damit an vierter
Stelle im internationalen Vergleich.
Dabei sind die vom Bundesministerium für Bildung
und Forschung geförderten PDPs ein besonders wichti-
ges öffentliches „Investment“: Sie schließen eine Versor-
gungslücke im globalen Gesundheitssystem und bauen
eine Brücke zwischen denen, die ihren forschenden Bei-
trag leisten können, und denen, die es brauchen.
Denn diese international agierenden Non-Profit-Orga-
nisationen entwickeln wichtige Heilmittel, Impfstoffe
und Diagnostika gemeinsam mit Pharmaunternehmen
und Forschungseinrichtungen. Sie entwickeln auch Prä-
ventionsmethoden gemeinsam mit der Zivilgesellschaft,
um die Betroffenen später auch mit diesen Produkten zu
versorgen.
Das Bundesministerium für Bildung und Forschung
unterstützt bereits vier Produktentwicklungspartner-
schaften, dies sind: erstens „Drugs for Neglected Disea-
ses, DNDi,“ mit Medikamentenentwicklungen gegen die
Afrikanische Schlafkrankheit, Viszerale Leishmaniose,
die Chagas-Krankheit und Wurmerkrankungen, zweitens
die „Foundation for innovative new diagnostics, FIND,“
mit der Entwicklung einer Diagnoseplattform für vier
parasitäre Erkrankungen: Afrikanische Schlafkrankheit,
Chagas, Leishmaniose und Malaria, drittens, die „Euro-
pean Vaccine Initiative, EVI“ mit der Entwicklung eines
Malariaimpfstoffes für Schwangere und viertens die
„Dengue Vaccine Initiative, DVI“ zur Entwicklung eines
multivalenten Impfstoffes gegen das Dengue-Virus.
Diese Förderung endet in diesem Jahr. Wir haben die
Aufgabe, diese elementar wichtige Fördermaßnahme
fortzuführen, thematisch zu erweitern und finanziell
stärker auszustatten. Dies ist Konsens aller Beteiligten,
und dies findet Ausdruck in dem Antrag, den wir hier
und heute debattieren.
Mir sei erlaubt mich anlässlich dieses, meines ersten
Antrages zum einen bei der Kollegin Frau Annette
Hübinger und ihrem Team ganz herzlich zu bedanken,
die mich bei der Einarbeitung immens unterstützt haben.
Und ebenso gilt mein Dank meinem Co-Berichterstatter,
Herrn René Röspel, und seinem Team für die gute und
konstruktive Zusammenarbeit.
Zum Abschluss: Es gibt nur eine Welt-Gesundheit, sie
geht uns alle an, wir stehen gemeinsam in der Verant-
wortung. Durch die Zusammenarbeit von Industrie und
Wissenschaft in den PDPs ist sicherzustellen, dass For-
schungslücken bei der Bekämpfung von Infektions-
krankheiten geschlossen werden und schlussendlich die
Versorgung weltweit verbessert wird.
Als einen Beitrag zur Weltgesundheit gilt es, die Fort-
setzung des Förderkonzeptes „Bekämpfung vernachläs-
sigter armutsbedingter Erkrankungen“ auch über das
Ende 2015 hinaus sicherzustellen, es auszubauen, zu
stärken und – so sollte es unser Anspruch sein – schluss-
endlich auch zu verstetigen.
Anette Hübinger (CDU/CSU): Vernachlässigte, ar-
mutsassoziierte Krankheiten – ein Thema und ein Ge-
sundheits- bzw. Forschungsbereich, dem in Deutschland
meist wenig Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit ge-
schenkt wird. Ab und zu liest man von Krankheiten, die
eigentlich in den europäischen Gebieten nicht auftau-
chen dürften – zum Beispiel, dass seit fast drei Jahren in
Griechenland wieder Menschen an Dengue-Fieber er-
kranken. Ein mediales Ereignis ist dies nicht. Bei der
Ebolaepidemie war es anders. Die Angst ging um, dass
die Epidemie sich auch nach Europa ausbreiten könnte,
schließlich leben wir in einer globalisierten Welt. Rufe
nach Schutzzonen und Sicherheitsmaßnahmen an euro-
päischen Flughäfen wurden laut.
Neben Maßnahmen zur Eindämmung der Epidemie
vor Ort und Behandlung der Kranken wurden zu Recht
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10215
(A) (C)
(D)(B)
die Forschungsanstrengungen verstärkt. Nach wenigen
Wochen flaute dann das mediale Interesse wieder ab, ob-
wohl die aktuelle Ebolaepidemie bis heute nicht endgül-
tig eingedämmt ist. Circa 26 000 Menschen erkrankten
am Ebolafieber, über 10 500 von ihnen sind gestorben,
so die WHO. Eine katastrophale Bilanz.
Aber was ist mit all den anderen vernachlässigten tro-
pischen Krankheiten?
Jährlich infizieren sich 50 bis 100 Millionen Men-
schen weltweit mit Dengue-Fieber. An Leishmaniose,
eine durch Parasiten hervorgerufene Infektionskrankheit,
erkranken 1,5 bis 2 Millionen Menschen jährlich; pro
Jahr versterben daran weltweit circa 70 000 Menschen.
An Chagas, einer infektiösen Erkrankung, übertragen
durch Raubwanzen, erkranken jährlich circa 50 000 Men-
schen, 15 000 der Fälle enden tödlich. Da fragt man sich:
Wo ist da der mediale Aufschrei, der so ein bedeutsames
Thema in das öffentliche Bewusstsein rückt?
Aus dem politischen Bewusstsein sind diese Krank-
heiten glücklicherweise nie verschwunden. Bereits 2010
hat sich das BMBF zur Erforschung von vernachlässig-
ten, armutsassoziierten Krankheiten strategisch neu auf-
gestellt und ein neues Förderkonzept erarbeitet. Dies ist
deshalb so bedeutsam, da die pharmazeutische Industrie
sich aus vielen Bereichen der Erforschung dieser Krank-
heiten wegen fehlender Gewinnmargen herausgezogen
hat.
Unser staatliches Engagement muss diese Lücke fül-
len. Deutschland muss und kann mehr tun. Nicht nur aus
humanitärer Verantwortung, sondern auch, damit den be-
troffenen Entwicklungs- und Schwellenländern durch
die Folgen dieser Krankheiten nicht noch zusätzliche
Entwicklungshemmnisse langfristig aufgebürdet wer-
den und nicht zuletzt, weil einige dieser Krankheiten
verstärkt in Europa auftreten. In einer globalisierten
Welt, mit vernetzten Wertschöpfungsketten, zunehmen-
dem Reise- und Warenverkehr und wachsenden Flücht-
lingsströmen, machen Krankheiten nicht an Ländergren-
zen halt.
Eine klare Tendenz ist erkennbar: Tropische Krank-
heiten schwappen insbesondere auf unseren Kontinent
hinüber. Derzeit sind vor allem südeuropäische Urlaubs-
länder wie Spanien, Portugal oder Griechenland betrof-
fen. Doch bereits 2014 entdeckte man die Sandmücke
– das Überträgertier von Leishmaniose – in Hessen, der
bislang nördlichste Fund. Aus Verantwortung gegenüber
den Menschen weltweit, aber auch gegenüber unseren
Bürgerinnen und Bürgern, stellen wir heute erneut einen
Antrag zur Verstärkung der Forschung und Entwicklung
im Bereich vernachlässigter, armutsassoziierter Krank-
heiten.
Das neue Förderinstrument, die sogenannten Pro-
duktentwicklungspartnerschaften, PDPs, des Bundes-
ministeriums für Bildung und Forschung, ist eine wich-
tige Säule des bestehenden Förderkonzepts. Hierfür sind
seit 2011 circa 21 Millionen Euro an Fördergeldern sei-
tens des BMBF ausgegeben worden. Ich bin glücklich
darüber, dass die erste Förderrunde in der aktuellen Eva-
luierung von März 2015 positiv bewertet wurde. Der
Evaluationsbericht betont die außerordentliche Bedeu-
tung der PDPs bei der Entwicklung und dem Einsatz
besserer und neuer Therapien für die Behandlung ver-
nachlässigter Infektionskrankheiten. Er stellt aber auch
deutlich heraus, dass PDPs ihre Arbeit fortsetzen müssen
und vor allem auch eine langfristig gesicherte Unterstüt-
zung benötigen. Für mich ist ganz klar, dass mit der
positiven Evaluation der ersten Förderperiode eine An-
schlussförderung mit höherer Finanzmittelausstattung
eine zwingende Folge ist.
Daher fordern wir auch die Bundesregierung auf, eine
zweite Förderrunde für PDPs festzuschreiben und die
Förderung auch auf Medikamente zur Diagnose und Prä-
vention, inklusive Impfstoffe für TB und HIV/Aids aus-
zuweiten. Für diese wichtige Forschung fordern wir als
Koalition eine signifikante Erhöhung der Mittel. Damit
kann die Bundesregierung ein Zeichen setzen, um das
bestehende Engagement zu verstetigen und sich noch
klarer zu ihrer Verantwortung für die globale Gesundheit
zu bekennen.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist der Ausbau der Ca-
pacity-Building-Maßnahmen im Allgemeinen sowie im
Rahmen der PDPs, als auch die Förderung des Wissens-
transfers mit Forschern aus den betroffenen Regionen.
Nur so kann eine Stärkung der regionalen Forschungsin-
frastrukturen und eine qualitativ angemessene Langzeit-
beobachtung der neu eingesetzten Medikamente sinnvoll
implementiert werden.
Ich habe bereits in früheren Reden erwähnt, dass das
BMBF mit der Förderung von PDPs einen neuen und
strategisch richtigen Weg gegangen ist. Angesichts der
bereits bestehenden und zukünftig wachsenden Heraus-
forderungen in diesem Bereich brauchen wir aber wei-
tere Partner. Deshalb ist es sehr gut, dass unter der
deutschen G-7-Präsidentschaft 2015 vernachlässigte, ar-
mutsassoziierte Krankheiten ein Schwerpunktthema sein
werden und vor allem die Forschung zu diesen Krank-
heiten neben der globalen Gesundheits- und Entwick-
lungspolitik in den Mittelpunkt gerückt wird. Dies ist
dringend notwendig, da gegen viele dieser Infektions-
krankheiten seit Jahrzehnten keine wirksamen Medika-
mente existieren.
Vielleicht bringt ja der G-7-Gipfel ein neues Bewusst-
sein für dieses Thema. Ich hoffe jedenfalls nicht, dass
eine nächste Epidemie uns wieder für ein paar Monate in
Atem hält, sondern dass neue Forschungsergebnisse vie-
len Menschen neue Hoffnung und Zuversicht schenken
werden. Auch wenn die Erforschung neuer Wirkstoffe
kostspielig ist und einen langen Atem benötigt, lassen
Sie uns gemeinsam daran arbeiten, Forschung zu ermög-
lichen, die zum Wohle vieler Millionen Menschen ist
und einen wichtigen Schritt zur Erreichung der Millen-
niums-Entwicklungsziele darstellt.
Dr. Karamba Diaby (SPD): 1,4 Milliarden Men-
schen! Mit unserem Antrag gehen wir einen wichtigen
Schritt, um weltweit circa 1,4 Milliarden Menschen zu
helfen, die von den vernachlässigten Tropenkrankheiten
betroffen sind.
10216 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015
(A) (C)
(D)(B)
Wir alle erinnern uns an die Bilder der schrecklichen
Ebolaepidemie. Bisher forderte sie mehr als 11 000 Op-
fer – und sie ist noch nicht ausgestanden. Wir wissen:
Diese Tragödie wäre vermeidbar gewesen, wenn es Fol-
gendes gegeben hätte: ein Gesundheitssystem, Medika-
mente und Impfstoffe, medizinische Versorgung sowie
Zugang zu Wasser, Strom und Bildung.
Ein weiteres Beispiel: Stellen Sie sich vor, dass ein
Großteil Ihrer Bekannten bereits als Kinder an Malaria
erkrankt. Zum Vergleich: In Deutschland liegt die
Sterblichkeit bei circa drei Kindern auf 1 000 Gebur-
ten. In Subsahara-Afrika liegt sie durchschnittlich bei
über 100 Kindern auf 1 000 Geburten. Eine der häufigs-
ten Todesursachen ist nach wie vor Malaria.
Das sind Beispiele für das milliardenfache Leid, das
Krankheiten wie HIV, Malaria und Tuberkulose und
die Tropenkrankheiten hervorrufen. Die Folgen dieser
Krankheiten sind für den Einzelnen aber nicht nur physi-
scher und psychischer Natur. Oft werden Betroffene so-
zial ausgegrenzt; oft nimmt Armut aufgrund von Ar-
beitslosigkeit zu.
Die Kosten für die Gesellschaft gehen in die Milliar-
den. Allein für die Zeit April bis September 2015 schätzt
die UN den Bedarf zur Bekämpfung der Ebolaepidemie
auf weitere 1,5 Milliarden US-Dollar.
Und im Übrigen irrt derjenige, der denkt, dass wir
über Krankheiten sprechen, die ausschließlich in Ent-
wicklungsländern auftreten oder mit denen man sich
höchstens während eines Abenteuerurlaubs infizieren
kann. Viren und Bakterien kennen keine Grenzen. Die
Zahl der Tuberkulosefälle steigt auch in Deutschland
wieder. Das Robert-Koch-Institut registrierte im Jahr
2013 über 4 000 Fälle. Auch die Industrienationen ste-
hen einer der tödlichsten Krankheiten zunehmend
machtlos gegenüber: veraltete Impfstoffe, veraltete The-
rapien, unwirksame Antibiotika.
Es ist deshalb erforderlich, dass sich unser Land die-
ser großen Herausforderung stärker stellt. Unser Antrag
zeigt, wo Handlungsbedarf ist. Zwei spreche ich an die-
ser Stelle an:
Zum einen müssen wir die Forschung zur Bekämp-
fung der Krankheiten stärken. Das schließt die Erfor-
schung von Impfstoffen, Antibiotika und therapeutischen
Maßnahmen mit ein. Die Partnerschaften zur Entwick-
lung der Medikamente sind eine wirksame Strategie. Sie
müssen wir ausbauen.
Zum anderen: Es nützt das beste Medikament nichts,
wenn es den Patienten nicht erreicht. Die internationale
wirtschaftliche Zusammenarbeit muss einen Schwer-
punkt auf den Aufbau der lokalen Gesundheitssysteme
legen.
Verantwortungsübernahme heißt für uns: Forschung
dauerhaft fördern, den Aufbau der Gesundheitssysteme
unterstützen, Kooperation bei der Ausbildung des medi-
zinischen und wissenschaftlichen Personals. Diese Punkte
müssen Hand in Hand gehen.
Es ist deshalb auch das richtige Signal, dass der G-7-
Gipfel in Elmau dieses bedeutende Thema aufgreift. Wir
sind uns unserer Verantwortung gegenüber den 1,4 Mil-
liarden Betroffen bewusst.
René Röspel (SPD): Leider zu einem sehr späten
Zeitpunkt am Donnerstagabend behandeln wir ein
Thema, das viele 100 Millionen Menschen unmittelbar
betrifft und sie in ihrer Gesundheit oder sogar ihrem Le-
ben bedroht: vernachlässigte Krankheiten. Als „vernach-
lässigt“ werden solche Krankheiten bezeichnet, nicht
etwa, weil sie „vernachlässigbar“ wären und bedeu-
tungslos selten auftreten, sondern weil die damit verbun-
dene Not in der Regel nicht an unsere Ohren in der
wohlhabenden Welt dringt. Weil diese Krankheiten
meistens gemeinsam mit Armut auftreten oder das Ent-
stehen durch Armut begünstigt wird, schließt sich ein
Teufelskreis: Es gibt kein kommerzielles Interesse bezie-
hungsweise keine Möglichkeit, Medikamente zur Behand-
lung dieser Krankheiten zu entwickeln. Die Folge dieses
„Marktversagens“ ist ein Forschungs- und Entwick-
lungsdefizit bei der (Weiter-)Entwicklung von Wirkstof-
fen, die den Betroffenen Heilung und Linderung ver-
sprechen könnten.
Es ist mir daher eine besondere Freude, auch heute
und in dieser Regierungskoalition einen Antrag der Re-
gierungsfraktionen zur Stärkung der Forschung für ver-
nachlässigte und armutsassoziierte Krankheiten zu de-
battieren.
Der vorliegende Antrag ist nicht nur als ein klares Be-
kenntnis zur weiteren Förderung von Produktentwick-
lungspartnerschaften im Bereich der vernachlässigten
und armutassoziierten Erkrankungen zu verstehen, er
soll die auch die anstehenden G-7-Verhandlungen auf
Schloss Elmau flankieren. Wie bereits seitens der Bun-
desregierung angekündigt, sollen Fragen der Globalen
Gesundheit auf diesem Gipfel explizit adressiert werden.
Vor diesem Hintergrund möchte ich auch nochmals die
Arbeit der Leopoldina lobend hervorheben, die in Vorbe-
reitung dieses Gipfels deutlich auf Handlungsbedarfe
– nicht nur in der Forschung – zur Bekämpfung dieser
Krankheiten hingewiesen hat und in diesem Kontext
auch eine umfassende wissenschaftliche Bestandsauf-
nahme zu diesem Themenkomplex erarbeitet hat. Dass
die Bundesregierung das Thema auf die Agenda von El-
mau gesetzt hat, begrüße ich ausdrücklich. Es zeigt, dass
sich die langjährige Arbeit gelohnt hat und es einen kla-
ren Lernprozess gegeben hat hinsichtlich der Bewertung
des Gefahrenpotenzials dieser Erkrankungen für die glo-
bale Stabilität. So bringen diese Erkrankungen nicht nur
unendliches Leid für die betroffenen Individuen und de-
ren Familien mit sich, sie sind auch eine große Bürde für
die Länder, deren Bevölkerung eine hohe Prävalenz
– also eine hohe Krankheitshäufigkeit – aufweist. Die di-
rekten und indirekten Folgen für die Volkswirtschaften
dieser Länder lassen sich nicht immer genau quantifizie-
ren, die Experten sind sich jedoch weitestgehend einig,
dass diese Krankheiten die Wirtschaftsleistung eines
Landes verschlechtern und einen nicht zu unterschätzen-
den Einfluss auf die Stabilität der betroffenen Länder
und Regionen haben. Von den circa 1,4 Milliarden welt-
weit betroffenen Menschen leben – und leiden – viele in
Subsahara-Afrika – einer Region, die ihrerseits durch
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10217
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(D)(B)
wiederkehrende Krisen und Instabilität gezeichnet ist.
Wer daher künftig globale Stabilität garantieren will,
wird an Fragen der globalen Gesundheit nicht vorbei-
kommen.
Ergänzend möchte ich an dieser Stelle noch einen
Hinweis geben: Grundsätzlich sollte sich die Bundesre-
gierung die Frage stellen, ob sie sich bei diesem G-7-
Agenda-Punkt ausschließlich auf die 17 von der WHO
gelisteten NTDs beschränken will. Denn es gibt auch
weitere vernachlässigte Krankheiten, die zwar nicht von
der WHO gelistet werden, jedoch das Potenzial haben,
verheerende Folgen mit sich zu bringen. Beispielhaft ist
an dieser Stelle Ebola zu nennen: Obwohl nicht in der
WHO 17er-Liste aufgeführt, hält uns diese vernachläs-
sigte Viruserkrankung in Atem. Die mehr als 10 000 To-
ten des letzten Ausbruches in Westafrika haben uns deut-
lich unsere Grenzen vor Augen geführt – im Übrigen
auch die begrenzte Handlungsfähigkeit der westlichen
Welt, adäquat auf solche Krisenszenarien zu reagieren.
Es soll auch ein Appell sein, sich nicht in Sicherheit zu
wiegen, sondern sich eben auch den Themen bezie-
hungsweise Krankheiten zu widmen, die als gerade nicht
bedeutend angesehen werden.
Ich möchte an dieser Stelle noch einmal lobend die
wichtige und notwendige Arbeit der Nichtregierungs-
organisation Ärzte ohne Grenzen hervorheben, deren
schnelle und unermüdliche Arbeit während des Aufkom-
mens der letzten Ebolakrise eine umgehende Krisenant-
wort Deutschlands überhaupt möglich gemacht hat. Die
Krisenreaktionsfähigkeit Deutschlands in diesem Szena-
rio – nicht nur in wissenschaftlicher Hinsicht – sollte uns
allen zu denken geben.
Ich sehe unseren Antrag aber nicht nur als unterstüt-
zende Maßnahme für die G-7-Regierungskonsultatio-
nen, sondern auch als Appell an uns alle: Globale Ge-
sundheit kann und wird es nicht zu Discountpreisen
geben. Die in diesem Antrag geforderte Öffnung des
PDP-Förderprogramms für armutsassoziierte Erkran-
kungen wie HIV/Aids und Tuberkulose muss sich auch
in einer entsprechend adäquaten Aufstockung der dafür
bereitzustellenden Haushaltsmittel widerspiegeln. Wir
haben aus den Koalitionsvereinbarungen noch For-
schungsmittel zur Verfügung. Auch wenn es für den Ei-
nen oder Anderen vielleicht schwer nachvollziehbar ist,
so lassen sich Viren, Bakterien, Protozoen und Parasiten
in ihrer fatalen Wirkung nicht durch vom Bundesfinanz-
ministerium gesetzte Haushaltsziele beeindrucken. Die
erfolgreiche und nachhaltige Bekämpfung dieser Erreger
und Parasiten ist eine Verantwortung der reichen Welt
und kann nur durch eine ausreichende Bereitstellung von
Haushaltmitteln für die Forschung gesichert werden, zu-
mal bei objektiver Betrachtung Deutschland, dank seiner
ökonomischen Potenz, hierzu durchaus in der Lage ist.
In einem Zeitungsartikel hat der Bundesrichter und
Vorsitzende des 2. Strafsenats des BGH, Thomas
Fischer, die Bundesrepublik jüngst als „Fettauge auf
dem Ozean der globalen Auszehrungen“ bezeichnet.
Man muss sich diesem drastischen Bild vielleicht nicht
anschließen, dennoch hilft der Blick über den Tellerrand
und der Vergleich mit anderen, weniger begünstigten
Nationen und Volkswirtschaften, das eigene Maß und
die Prioritäten neu zu ordnen. Um ihre globale Verant-
wortung wird die Bundesrepublik sich nicht drücken
können – nicht nur in der Außenpolitik, sondern eben
auch in der internationalen Gesundheitspolitik und der
Forschung für vernachlässigte und armutsassoziierte Er-
krankungen.
Lassen Sie mich abschließend noch einen kurzen
Rückblick auf das bisher Erreichte geben: Dieser Antrag
ist das Ergebnis eines langen – fast zehn Jahre dauern-
den – Prozesses, der viel parlamentarische Anstrengung
– auch überparteilich – erfordert hat. Vor circa einem
Jahrzehnt noch hat die Forschungsförderung für ver-
nachlässigte und armutsassoziierte Erkrankungen keine
wesentliche Projektförderung durch das BMBF erhalten.
Durch gemeinsame überfraktionelle Anstrengungen
konnte bereits in der letzten Legislatur darauf hingewirkt
werden, dass sich das BMBF der Förderung von Pro-
duktentwicklungspartnerschaften in diesem Bereich an-
nimmt. Eine erste Förderphase, die in diesem Jahr aus-
läuft, hat es bereits gegeben. Jetzt gilt es, auf dem bisher
Erreichten aufzubauen und die Förderung weiter auszu-
bauen. Genau hier setzt der vorliegende Antrag an: So
soll nicht nur die bisherige Förderrichtlinie für vernach-
lässigte tropische Krankheiten fortgesetzt, sondern auch
der Fokus der Förderung erweitert werden. Richtete sich
die erste Fördermaßnahme noch ausschließlich an Pro-
jektmittelnehmer, die Forschung für vernachlässigte Tro-
penkrankheiten betreiben, so sollen künftig zusätzlich
Forschungsprojekte für armutsassoziierte Krankheitsbil-
der wie zum Beispiel die Tuberkulose oder HIV/Aids
förderfähig sein.
Ich hoffe, dass wir als Regierungsfraktionen mit die-
sem Antrag einen substanziellen Beitrag in der For-
schung zur Bekämpfung dieser Krankheiten und somit
einen kleinen, aber vielleicht essenziellen Beitrag zur
Weltgesundheit und globalen Stabilität leisten können.
Weitere Schritte aber werden folgen müssen.
Niema Movassat (DIE LINKE): „Vernachlässigte
armutsassoziierte Krankheiten“ ist im doppelten Sinne
ein schreckliches Wortkonstrukt. Millionen von Men-
schen leiden auch im 21. Jahrhundert überall auf der
Welt nur deshalb an Krankheit, weil der globale Wohl-
stand völlig ungerecht verteilt ist. Das alleine ist schon
schlimm genug und eine Schande. Dass es dann aber
aufgrund der kapitalistischen Wirtschaftslogik schlicht
zu wenig finanzielle Anreize für die Pharmaindustrie
gibt, wirksame Medikamente gegen die typischen armuts-
assoziierten Krankheiten zu entwickeln, ist eine doppelte
Ungerechtigkeit. Der wohlhabende Teil der Menschheit
enthält den Ärmsten der Armen so nicht nur einen Anteil
an den weltweiten Reichtümern vor, sondern, wenn sie
an den Folgen erkranken, auch eine adäquate medizini-
sche Behandlung. Nur eine andere, gerechtere Weltwirt-
schaftsordnung kann dieses Problem grundsätzlich lö-
sen. Dennoch möchte ich auch einige kurzfristig
praktikable Vorschläge nennen, mit deren Hilfe sich die
Situation verbessern ließe.
10218 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015
(A) (C)
(D)(B)
Vor vier Jahren haben wir einen Bundestagsantrag
eingebracht mit dem Titel „Forschungsförderung zur
Bekämpfung vernachlässigter Krankheiten ausbauen –
Zugang zu Medikamenten für arme Regionen ermögli-
chen“. Leider haben sich seitdem weder die grundlegen-
den Probleme geändert noch haben sich die vorgeschla-
genen Forderungen überholt. Nach wie vor investiert die
Bundesregierung viel zu wenig in öffentliche Forschung.
Welche fatalen Folgen das haben kann, hat die Ebola-
epidemie erst kürzlich gezeigt. Vor vier Jahren hatten
wir die Bundesregierung bereits aufgefordert, die nicht-
kommerzielle klinische Forschung mit 500 Millionen
Euro jährlich zu fördern und einen Förderschwerpunkt
für vernachlässigte Krankheiten einzurichten. In einer
Antwort auf eine Kleine Anfrage stellte sich heraus, dass
2014 gerade einmal etwas mehr als 500 000 Euro öffent-
liche Gelder in die Ebolaforschung flossen. Mit solchen
Summen ist natürlich nichts zu erreichen in der Pharma-
forschung.
Sogenannte Produktentwicklungspartnerschaften aus
Wissenschaft, Industrie und Zivilgesellschaft, die auf
Non-Profit-Basis an vernachlässigten Krankheiten for-
schen, haben sich als erfolgreich erwiesen. In der letzten
Förderrunde von 2011 bis 2015 hat die Bundesregierung
dafür insgesamt 20 Millionen Euro zur Verfügung ge-
stellt. Auch das bleibt weit hinter dem zurück, was
Deutschland gemessen an seiner Wirtschaftskraft beitra-
gen könnte. Im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt lag
Deutschland 2012 in puncto öffentlicher Investition in
Forschung und Entwicklung vernachlässigter und ar-
mutsindizierter Krankheiten hinter Kolumbien und In-
dien auf Rang 12. Wieviel die Bundesregierung in der
nächsten Förderrunde für Entwicklungspartnerschaften
zur Verfügung stellen wird, ist trotz des bereits vorlie-
genden Evaluationsberichts bisher leider nicht genau be-
kannt.
Wenn die Bundeskanzlerin sich jetzt beim G-7-Gipfel
und der Weltgesundheitsversammlung als Vorkämpferin
gegen vernachlässigte Krankheiten in Szene setzt, kann
dies über die krassen Versäumnisse der Vergangenheit
nicht wegtäuschen. Wenn sie jetzt endlich die Wichtig-
keit des Aufbaus von öffentlichen Gesundheitssystemen
in den Ländern des globalen Südens erkannt hat, ist das
zwar ein Fortschritt. Die Forderung von Nichtregie-
rungsorganisationen, mehr Geld für globale Gesundheit
auszugeben, hat sie aber seit Jahren ignoriert. 0,1 Pro-
zent des Bruttoinlandsproduktes sollen reiche Staaten
dafür aufwenden. Die Ausgaben für globale Gesundheit
betrugen seitens Deutschlands zuletzt aber nur 0,03 Pro-
zent. Das ist selbst im europäischen Vergleich nur abso-
lutes Mittelmaß. Außerdem hat Deutschland seinen Fi-
nanzierungsbeitrag für die Weltgesundheitsorganisation
WHO immer weiter zurückgefahren: von 33 Millionen
Euro 2006 auf heute noch 24 Millionen Euro. Diese
Bundesregierung ist mitverantwortlich dafür, dass die
globale Gesundheitskrisenreaktion bei Ebola so schlecht
aufgestellt war.
Es bleibt zu hoffen, dass diese Bundesregierung auch
über wichtige Konferenzen und Gipfel hinaus langfristig
endlich einen angemessenen Beitrag zur Bekämpfung
vernachlässigter Krankheiten leistet. Am Ende ist und
bleibt aber das beste Mittel gegen armutsinduzierte
Krankheiten der erfolgreiche Kampf gegen die Armut
selbst. Die Bundesregierung jedoch betreibt sowohl na-
tional als auch international eine Politik der Umvertei-
lung von unten nach oben. Sie bleibt deshalb trotz aller
wohlklingenden Maßnahmen und Gipfelankündigungen
Teil des Problems, nicht der Lösung.
Der vorliegende Antrag beschränkt sich leider nur auf
Detailfragen, ohne auf den grundsätzlichen Zusammen-
hang zwischen Armut und Krankheit näher einzuge-
hen. Strategien, die den Kern der Problematik zu lösen
suchen, enthält er leider nicht. Stattdessen macht er
sehr viele Vorschläge zur Behandlung der Symptome.
Da diese in weiten Teilen nicht falsch sind, werden wir
mit Enthaltung stimmen.
Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Durch
schlimme und bedrückende Ereignisse wie zuletzt die
Ebolaepidemie in Westafrika rücken vernachlässigte und
armutsassoziierte Krankheiten in das öffentliche Inte-
resse. Auch ohne tägliche Schreckensmeldungen muss
klar sein: Wir dürfen nicht nachlassen bei der Bekämp-
fung von Ebola, HIV/Aids, Tuberkulose, Malaria und
anderer Tropenkrankheiten, von denen die Ärmsten der
Armen besonders betroffen sind. Es gilt, die internatio-
nale Zusammenarbeit massiv zu verbessern und zu ver-
stetigen, damit den Milliarden betroffenen Menschen
weltweit geholfen werden kann.
Die Stärkung von Forschung und Entwicklung für die
Bekämpfung dieser Erkrankungen ist dabei eine wich-
tige politische und humanitäre Daueraufgabe. Sie muss
mit aller Entschiedenheit fortgesetzt werden, wenn das
Auftreten zahlreicher Neuinfektionen einer armuts-
assoziierten Krankheit aus den akuten Schlagzeilen ver-
schwunden ist. Unsere Haushaltsanträge wurden leider
erst vor wenigen Monaten von der Koalition schroff ab-
gelehnt: Wir hatten zu diesem Zweck für das Haushalts-
jahr 2015 beantragt, den Titel Gesundheitsforschung um
20 Millionen Euro aufzustocken, wobei wir speziell für
die Initiative European and Developing Countries Clini-
cal Trials Partnership, EDCTP, einen Aufwuchs in Höhe
von 1 Million Euro vorgesehen haben.
Sie von der Koalition müssen sich hier deshalb die
Frage gefallen lassen, warum Sie erst jetzt, noch dazu zu
nachtschlafender Zeit, einen solchen Antrag einbringen
und noch dazu ohne vorherige Beteiligung der Fachaus-
schüsse sofort abstimmen lassen wollen. Wir könnten je-
denfalls viel weiter sein, wenn Sie unseren parlamentari-
schen Initiativen zugestimmt hätten.
Die Vorschläge der Koalition sind nicht neu. Sie fin-
den überwiegend unsere Zustimmung. Wenn das hier al-
lerdings mehr sein soll als ein folgenloser Schaufenster-
antrag, dürfen Sie sich bei der Umsetzung der hehren
Worte nicht noch mehr Zeit lassen.
Die Diagnose der strukturellen Mängel fällt zunächst
nicht schwer: Kurzsichtige wirtschaftliche Abwägungen
insbesondere der großen Pharmakonzerne verhinderten
bisher oft medizinische Innovationen und Versorgung,
weil sich Gewinne mit Medikamenten für armutsasso-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10219
(A) (C)
(D)(B)
ziierte Krankheitsbilder schwerer realisieren lassen – das
ist zynisch und unmenschlich. Eine Alternative sind
Produktentwicklungspartnerschaften, die durch gemein-
wohlorientierte Forschungsanreize und Entwicklungs-
prämien zu besseren und erschwinglicheren Medikamen-
ten für Menschen in ärmeren Ländern führen.
Es ist gut, dass Sie eine Verstärkung der anwendungs-
orientierten Grundlagenforschung fordern und europäi-
sche Programme wie Horizon 2020 loben. Dann dürfen
Sie aber nicht gleichzeitig die Kürzung und Umwid-
mung gerade dieser Mittel durch die EU-Kommission
Junckers zulassen, sondern müssen sich ihr in Brüssel
und Berlin beherzt entgegenstellen.
Nicht nur die Wirksamkeit von Medikamenten darf
hinterfragt werden, sondern es geht auch um die Wirk-
samkeit und den nachhaltigen Nutzen bestimmter Hilfs-
instrumente: Damit Prävention und Behandlung verbes-
sert werden, muss die langfristige Zusammenarbeit mit
den Akteurinnen und Akteuren vor Ort im Mittelpunkt
stehen. Das betrifft Aufklärungs- und Informationsakti-
vitäten über Risikofaktoren und die Vorbeugung von In-
fektionskrankheiten durch Verhaltensänderungen. Und
das betrifft die dauerhafte und systematische regionale
Versorgung mit Medikamenten, die wichtiger wären als
plakative Verteilaktionen für die Kameras der interna-
tionalen Öffentlichkeit. Deshalb muss sich die Bundes-
regierung auch international für nachhaltige, durch-
dachte und umsetzbare Strategien einsetzen.
Forschungs- und gesundheitspolitische Zusammenar-
beit darf nicht von oben herab erfolgen, sondern muss
sich an der Lebenswelt vor Ort orientieren. Wenn sie
keine Einbahnstraße ist, kann sie zu gemeinsamen Lern-
effekten beitragen. Es klingt beispielsweise zunächst
sehr ehrgeizig, wenn die Koalition in ihrem Antrag an-
regt, durch „Errichtung von Versichertendatenbanken“
in den betroffenen Regionen zur „Etablierung eines Ge-
sundheitssystems und zur verbesserten Erhebung von
medizinischen Statistiken“ beizutragen. Aber es ist doch
überaus zweifelhaft, wie sinnvoll und wirksam dieses
Instrument ist. Sie selbst schaffen es seit Jahren nicht
einmal in Deutschland, eine elektronische Gesundheits-
karte einzuführen. Also ein Vorschlag, der nicht trägt
und den Ärmsten der Armen nicht weiterhilft.
Sowohl Akzeptanz als auch Realisierbarkeit müssen
generell beachtet werden. Und es geht auch um Prioritä-
tensetzung: Besonders dringliche Maßnahmen müssen
zuerst angegangen und der Ausbau von Infrastrukturen
mit den internationalen Partnern koordiniert werden,
etwa durch einen globalen Fonds.
Wir brauchen substanzielle Verbesserungen, damit
Menschenleben gerettet und Zukunftschancen weltweit
gesichert werden. Meine Fraktion unterstützt deshalb
alle sinnvollen Forderungen, aber wir mahnen vor allem
konkretes, schnelles und dauerhaft verlässliches Han-
deln der Regierung an. Denn nur so können endlich
mehr Menschen vor Neuinfektionen geschützt und er-
krankte gerettet werden. Deswegen darf die Bundesre-
gierung keine Zeit verlieren.
Anlage 7
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zum
Internationalen Erbrecht und zur Änderung
von Vorschriften zum Erbschein sowie zur Än-
derung sonstiger Vorschriften (Tagesordnungs-
punkt 24)
Dr. Hendrik Hoppenstedt (CDU/CSU): Niemand
beschäftigt sich gerne mit seinem eigenen Tod. Aber der
Tod gehört unausweichlich zum Leben dazu. Will man
aber beeinflussen, was nach dem eigenen Tod mit den fi-
nanziellen Werten geschieht, die man erarbeitet hat, will
man das Schicksal seines Nachlasses selbst bestimmen,
dann muss man sich zu Lebzeiten mit der Planung des
eigenen Nachlasses beschäftigen.
Durch die EU-Erbrechtsverordnung und das beglei-
tende Gesetz, das wir heute in zweiter und dritter Lesung
beraten, wird diese Planung des Nachlasses und dessen
Abwicklung in Erbfällen mit Auslandsbezug erheblich
vereinfacht. Das Erbschaftsteuerrecht wird durch den
Gesetzentwurf nicht geändert.
Bisher unterliegt nach deutschem Recht die Rechts-
nachfolge von Todes wegen dem Recht des Staates, dem
der Erblasser zum Zeitpunkt seines Todes angehörte.
War der Erblasser Deutscher, galt also deutsches Erb-
recht. Dies ändert sich durch die EU-Erbrechtsverord-
nung.
Ausländisches Erbrecht kann erheblich von den deut-
schen erbrechtlichen Regelungen abweichen. Wenn
deutsche Staatsbürger über Vermögen in einem anderen
Land verfügen oder wenn sie nicht in ihrem Heimatland
leben, können im Erbfall verschiedene Rechtsordnungen
auf den Nachlass Anwendung finden. Dies kann zu ge-
gensätzlichen Ergebnissen und unvereinbaren Gerichts-
entscheidungen führen, die die Erben möglicherweise
vor unlösbare Konflikte stellten. Folge können mehrfa-
che Nachlassverfahren sein. Das wird mit der Erbrechts-
verordnung geändert:
Die EU-Erbrechtsverordnung lässt das materielle
Erbrecht der einzelnen Mitgliedstaaten unberührt. Sie
bestimmt aber, dass nur das Erbrecht eines Staates auf
den gesamten Nachlass Anwendung findet, egal in wel-
chem Staat sich das Vermögen des Verstorbenen befin-
det. Das führt zu mehr Rechtssicherheit, und für die Er-
ben wird die Verwaltung und Auseinandersetzung des
Nachlasses deutlich vereinfacht. Das spart viel Ärger,
Zeit und Kosten.
Sofern der Erblasser dies testamentarisch nicht anders
festgelegt hat, richtet sich künftig die gesamte Rechts-
nachfolge von Todes wegen nach dem Recht des Staates,
in dem der Verstorbene im Zeitpunkt seines Todes seinen
gewöhnlichen Aufenthalt hatte.
Ab dem 17. August 2015 werden Bürgerinnen und
Bürger ihre Rechte bei grenzüberschreitenden Erbfällen
leichter durchsetzen können.
10220 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015
(A) (C)
(D)(B)
Der Gesetzentwurf ist politisch nicht brisant. Er dient
vor allem der rechtstechnischen Anpassung des nationa-
len Rechts an die EU-Erbrechtsverordnung, die ab dem
17. August 2015 in Deutschland unmittelbar gilt. An-
wendbar ist das neue Recht für Todesfälle ab dem
17. August. Eine zuvor getroffene Rechtswahl bleibt
aber auch danach wirksam.
Mit dem Gesetzentwurf, den wir heute abschließend
beraten, werden für das Europäische Nachlasszeugnis
eigene Verfahrensregeln vorgesehen. Ziel ist es, die Zu-
ständigkeit für das Verfahren zur Erteilung eines deut-
schen Erbscheins und über die Ausstellung eines Euro-
päischen Nachlasszeugnisses möglichst bei einem
Gericht zu bündeln.
Weiterhin erfolgt eine Anpassung des deutschen
Rechts:
Der Erbrechtsverordnung entgegenstehende nationale
Regelungen werden aufgehoben, es werden einige Durch-
führungsvorschriften erlassen, damit die Erbrechtsver-
ordnung in der Praxis problemlos angewendet werden
kann, und es werden die nationalen Vorschriften zum
Erbschein an die Vorgaben der Erbrechtsverordnung
zum Europäischen Nachlasszeugnis angepasst sowie ge-
setzessystematische Mängel beseitigt.
Im Rahmen der Berichterstattergespräche haben wir
uns im Wesentlichen mit zwei Aspekten befasst.
Mit dem Ziel, den Gestaltungsspielraum für Erblasser
zu erweitern, haben wir diskutiert, ob es sinnvoll ist, die
Bindungswirkung einer wechselseitigen Verfügung in ei-
nem gemeinschaftlichen Testament bzw. in einem Erb-
vertrag auch auf die Anordnung einer Testamentsvoll-
streckung auszudehnen. Weil die Erbrechtsverordnung
bereits ab dem 17. August 2015 gilt und das Gesetzge-
bungsverfahren rechtzeitig davor abgeschlossen werden
musste, haben wir uns mit dem Koalitionspartner darauf
verständigt, dass die Frage der Möglichkeit einer bin-
denden Anordnung der Testamentsvollstreckung in einem
gemeinschaftlichen Testament oder Erbvertrag durch das
Bundesjustizministerium ergebnisoffen geprüft wird. Das
BMJV wird dazu kurzfristig eine Umfrage bei den Län-
dern und den betroffenen Verbänden durchführen mit ei-
ner Frist zur Stellungnahme bis Ende September. Damit
wird etwa im Oktober ein Ergebnis vorliegen, und eine
entsprechende Regelung kann im Zusammenhang mit
dem notariellen Nachlassverzeichnis getroffen werden.
Aufgrund der Stellungnahme des Bundesrates haben
wir vertieft geprüft, ob wir in Deutschland eine Rege-
lung erlassen können, die nicht nur die Änderung und
den Widerruf, sondern auch die körperliche Einziehung
eines unrichtigen Nachlasszeugnisses ermöglicht. Das
BMJV hat deutlich gemacht, dass die Kommission ur-
sprünglich eine Einziehungsmöglichkeit vorgeschlagen
hatte. Dieser Vorschlag fand aber im Gesetzgebungspro-
zess auf europäischer Ebene keine Mehrheit und wurde
bewusst nicht aufgegriffen. Weil die Erbrechtsverord-
nung insoweit also eine abschließende Regelung trifft,
wäre eine entsprechende nationale Regelung nicht euro-
parechtskonform.
Das Struck’sche Gesetz gilt aber auch für diesen Ge-
setzentwurf: Im parlamentarischen Verfahren wurden
handwerkliche Fehler behoben. Im ursprünglichen Ge-
setzentwurf wurde § 2270 BGB geändert, also der Spe-
zialfall. Es wurde aber versäumt, die Grundvorschrift
des § 1941 BGB an die Erbrechtsverordnung anzupas-
sen. Weil nur die in § 1941 BGB genannten Verfügungen
an der den Erbvertrag kennzeichnenden Bindungswir-
kung teilhaben, war eine Ergänzung erforderlich.
Mit dem Gesetzentwurf stellen wir sicher, dass das
grenzüberschreitende Erben und Vererben in Europa ein-
facher wird, und schaffen Rechtssicherheit für die Um-
setzung der Nachlassplanung.
Dr. Silke Launert (CDU/CSU): In dem Gesetzent-
wurf, über den wir heute sprechen, heißt es, es sei jähr-
lich von circa 30 000 Todesfällen von EU-Ausländern in
Deutschland auszugehen. Etwa genauso viele Deutsche
würden jedes Jahr im europäischen Ausland versterben.
Von diesen Zahlen nicht erfasst sind die Todesfälle von
Nicht-EU-Bürgern.
Gelangen diese Sterbefälle vor ein deutsches Gericht,
müssen sich Richter und Rechtspfleger in Verfahren der
freiwilligen Gerichtsbarkeit oder in streitigen Erbrechts-
verfahren zunächst fragen: Bin ich bzw. ist mein Gericht
überhaupt zuständig? Und wenn ja: Darf ich hier deut-
sches Recht anwenden?
Stirbt beispielsweise ein deutscher Rentner in der
Toskana, wo er seinen Lebensabend in einer kleinen
Villa verbracht hat, und entstehen nach seinem Tod
Erbstreitigkeiten unter den in Deutschland lebenden
Kindern über das Häuschen in Deutschland, die Villa in
Italien und das Konto in der Schweiz, kann sich ein deut-
sches Gericht nicht per se für zuständig erklären und
deutsches Erbrecht anwenden. Es stellen sich vielmehr
konkret immer zwei Fragen, nämlich die nach der inter-
nationalen Zuständigkeit und die nach dem anwendbaren
Recht.
Bislang gibt es für das Erbrecht im Internationalen
Zivilverfahrensrecht keine und im Internationalen Pri-
vatrecht kaum Regelungen internationalen Ursprungs.
Die nationalen Gerichte müssen daher immer entspre-
chend dem Lex-fori-Grundsatz auf ihr eigenes, nationa-
les Recht zurückgreifen.
In Deutschland gelangt man so bislang anhand der
Vorschriften der ZPO zur internationalen Zuständigkeit
und mittels des EGBGB zum anwendbaren Recht. Selbst-
verständlich sieht es in den anderen Mitgliedstaaten
nicht anders aus, auch diese greifen auf ihr nationales
Recht zurück. Und da alle 28 Staaten verschiedene Rechts-
ordnungen haben, kann es durchaus sein, dass derselbe
Fall zu unterschiedlichen Ergebnissen führt, je nachdem,
in welchem Staat ein Gericht angerufen wird.
Darüber hinaus kann die aktuelle Gesetzeslage mitun-
ter schon einmal dazu führen, dass ein Gericht eine
fremde Rechtsordnung anwenden muss. Dass also bei-
spielsweise ein deutsches Gericht ausländisches Erb-
recht anzuwenden hat oder sogar teilweise deutsches,
teilweise ausländisches, wenn Vermögen auch im Aus-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10221
(A) (C)
(D)(B)
land belegen ist. Es versteht sich von selbst, dass hierbei
große Rechtsunsicherheiten entstehen können.
Ab dem 17. August dieses Jahres wird das anders.
Denn ab dann ist die Erbrechtsverordnung auf alle ein-
tretenden Erbfälle anzuwenden, die in den Mitgliedstaa-
ten einheitlich insbesondere die Zuständigkeit und das
anzuwendende Recht regelt. Fortan entscheiden also alle
Gerichte in der EU anhand derselben Rechtsvorschrif-
ten, welches Gericht im Einzelfall zuständig und wel-
ches Recht anwendbar ist. Sie werden im konkreten Ein-
zelfall alle zur Zuständigkeit desselben Gerichts und zur
Anwendung desselben Rechts kommen. Die Zeiten des
Forum-Shoppings im Erbrecht sind damit passé.
Anknüpfungsmoment wird bei der Zuständigkeit und
beim anwendbaren Recht nach Artikel 4 bzw. Arti-
kel 21 Absatz 1 EuErbVO jeweils der gewöhnliche Auf-
enthalt sein. Das heißt, entscheidend ist der Ort bzw. das
Land, in dem der Schwerpunkt der familiären oder be-
ruflichen Bindungen des Erblassers zuletzt lagen. Es
wird also eine Gesamtbeurteilung der Lebensumstände
des Erblassers in den Jahren vor seinem Tod und im
Zeitpunkt seines Todes vorzunehmen sein, wobei alle re-
levanten Tatsachen berücksichtigt werden müssen, ins-
besondere die Dauer und die Regelmäßigkeit des Auf-
enthalts in dem betreffenden Staat sowie die damit
zusammenhängenden Umstände und Gründe.
Vorteil desselben Anknüpfungsmoments bei Zustän-
digkeit und anwendbarem Recht ist, dass nun das zustän-
dige Gericht – mit wenigen Ausnahmen – sein eigenes
materielles Erbrecht anwenden können wird.
Mit der Verankerung des Aufenthaltsprinzips wird
das dem deutschen Recht vertraute Staatsangehörigkeits-
prinzip des Artikel 25 EGBGB endlich abgelöst. Vor
dem Hintergrund der zunehmenden Mobilität der euro-
päischen Bürger findet sich darin nun endlich eine zeit-
gemäße und praktikable Regelung, wie sie in den Haager
Übereinkommen im Übrigen schon längst praktiziert
wird. Die Verordnung gewährleistet damit eine ord-
nungsgemäße Rechtspflege innerhalb der Union und
eine wirkliche Verbindung zwischen dem Nachlass und
dem Mitgliedstaat, in dem die Erbsache abgewickelt
wird.
Um das Ganze nun ein wenig anschaulicher zu ma-
chen, möchte ich auf mein eingangs genanntes Beispiel
zurückkommen:
Ab August wird es nun nicht mehr relevant sein, wel-
che Staatsangehörigkeit der Erblasser hatte oder wo sein
Nachlass belegen ist. Zuständig ist ein italienisches Ge-
richt und der Erblasser wird nach italienischem Erbrecht
beerbt.
Will der Erblasser – aus unserem Beispielsfall – nicht,
dass sich seine Erbfolge nach italienischem Recht rich-
tet, kann er nach Artikel 22 Absatz 1 im Testament re-
geln, dass im Todesfall das Recht des Staates Anwen-
dung findet, dem er bei der Rechtswahl oder bei seinem
Tod angehört. In unserem Fall kann er also deutsches
Recht wählen. Auch das ist neu. Nach bisherigem deut-
schen Recht war die Rechtswahl beschränkt auf Grund-
stücke und auch da nur zugunsten deutschen Rechts
möglich.
Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang darauf,
dass Großbritannien, Irland und Dänemark auch diese
Verordnung nicht übernommen haben. Das nach der Ver-
ordnung maßgebliche Recht ist jedoch auch dann anzu-
wenden, wenn es sich um das Recht eines Drittstaates
handelt. Die Europäische Erbrechtsverordnung bean-
sprucht somit universelle Geltung.
Der vorliegende Gesetzentwurf sieht nun Regelungen
vor, dieser Verordnung ab August zur Anwendung zu
verhelfen. Gebündelt hat er sie in einem neu zu schaffen-
den Gesetz, dem sogenannten Internationalen Erbrechts-
verfahrensgesetz. Dessen Anwendbarkeit beschränkt sich
konsequenterweise auf die Fälle, in denen die EuErbVO
gelten wird. Es regelt insbesondere die örtliche Zustän-
digkeit, die Zulassung von Zwangsvollstreckungen aus
ausländischen erbrechtlichen Titeln sowie die Entgegen-
nahme von Erklärungen der Annahme oder Ausschla-
gung einer Erbschaft.
Schließlich enthält der Gesetzentwurf bzw. das Inter-
nationale Erbrechtsverfahrensgesetz auch Vorschriften
zum von der ErbVO neu eingeführten Europäischen
Nachlasszeugnis. Dieses Zeugnis soll, einem Erbschein
vergleichbar, zur Umschreibung öffentlicher Register
verwendet werden und Erben, Vermächtnisnehmer und
Testamentsvollstrecker in allen Mitgliedstaaten, in de-
nen die Verordnung gilt, zu Legitimationszwecken die-
nen. Voraussetzung für die Erteilung ist, dass das Zeug-
nis in mehreren Mitgliedstaaten Anwendung findet und
nicht nur innerstaatliche Sachverhalte betrifft.
Der Gesetzentwurf wird das Europäische Nachlass-
zeugnis dem deutschen Erbschein in seinen Rechtswir-
kungen gleichstellen. Gleichzeitig gleicht er die Vor-
schriften zum Erbschein an die Vorgaben der ErbVO
zum Europäischen Nachlasszeugnis an. Ziel ist es, die
Zuständigkeit für das Verfahren zur Erteilung eines deut-
schen Erbscheins und über die Ausstellung eines Euro-
päischen Nachlasszeugnisses möglichst bei demselben
Gericht zu bündeln.
Bezweckt wird auch hier eine erhebliche Vereinfa-
chung bei grenzüberschreitenden Erbfällen.
Abschließend lässt sich sagen, dass die Verordnung
und das vorliegende umzusetzende Gesetz einen weite-
ren wichtigen Baustein liefern, um die Freizügigkeit im
europäischen Rechtsraum zu erleichtern.
Dennis Rohde (SPD): Europa wächst zusammen.
Die alten Grenzen der Nationalstaaten, die die Struktur
unseres Kontinents lange Zeit bestimmt haben, existie-
ren weiter – aber sie haben einiges ihrer traditionellen
Bedeutung eingebüßt. Wir können in unseren Nachbar-
staaten reisen, arbeiten, wohnen – und all dies ohne die
bürokratischen Maßregelungen, die für die Generation
unserer Eltern noch selbstverständlich waren und deren
Abschaffung man sich nicht träumen ließ. Auch wenn
reaktionäre Nationalstaatsnostalgiker das nicht einsehen
mögen: Diese Einigung ist ein hohes Gut. Sie zu bewah-
ren und weiter voranzutreiben, ist für Europas Zukunft
10222 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015
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(D)(B)
unerlässlich – und damit auch für Deutschland. Denn
ohne ein starkes, friedliches, geeinigtes Europa fehlen
die Voraussetzungen für den Zusammenhalt und den
Wohlstand unseres Landes.
Durch das Schwinden der nationalen Gegensätze ha-
ben sich auch die Lebensentwürfe geändert. Bestimmten
vor einigen Jahrzehnten noch Grenzen unsere Lebens-
welten, so genießen wir jetzt ungeahnte Freiheiten. Wir
studieren im europäischen Ausland, ziehen ungehindert
dorthin oder verlagern unseren Lebensmittelpunkt – und
können doch jederzeit nach Deutschland zurückkehren.
Auch Freundschaft, Ehe und Familie haben die alten
Grenzen hinter sich gelassen. Die Europäerinnen und
Europäer messen einander nicht mehr vornehmlich an
der Staatsangehörigkeit – die europäische Integration hat
ganz neue Möglichkeiten des Miteinanders geschaffen,
die unseren Kontinent friedlicher, verzahnter und offener
machen.
Dazu gehört aber auch, dass eine zunehmende Zahl
von Menschen in einem anderen Land stirbt als dem,
dessen Staatsbürger sie sind. Sei es, weil sie sich im Ru-
hestand das ersehnte Haus im Süden geleistet haben,
oder einfach, weil sich der Lebensmittelpunkt irgendwann
verlagert hat – die Gründe sind vielfältig. Unbestritten da-
gegen ist, dass das Zusammenspiel unterschiedlicher
Erbrechtssysteme Schwierigkeiten aufwerfen kann – und
eine klare Regelung daher überfällig war.
Die EU-Erbrechtsverordnung, der wir heute mit dem
vorliegenden Gesetzentwurf den Weg auch in Deutsch-
land ebnen, schafft hier Klarheit. Künftig gilt bei inter-
nationalen Erbfällen – diese liegen zum Beispiel vor,
wenn ein Deutscher im Ausland stirbt und sein dortiges
Haus vererbt – das Erbrecht des Landes, in dem der Ver-
storbene seinen letzten gewöhnlichen Wohnsitz hatte.
Entscheidend ist also nicht mehr die Staatsbürgerschaft,
sondern der Wohnort. Damit trägt auch das Erbrecht
endlich dem Prinzip der Bewegungsfreiheit Rechnung,
das zu einer bedeutenden Entwicklung des Zusammenle-
bens in Europa beigetragen hat – und das wir entschie-
den gegen regelmäßig wiederkehrende Bestrebungen, es
aufzuweichen oder zu unterlaufen, verteidigen müssen.
Zur Einigung in Europa gehört auch, dass Vorschrif-
ten und Regularien vereinheitlicht werden, um den ge-
genseitigen Austausch zu vereinfachen. Der zweite wich-
tige Aspekt des vorliegenden Gesetzentwurfes ist daher
folgerichtig die Eingliederung des Europäischen Nach-
lasszeugnisses in deutsches Recht. Nicht viel anders als
beim Erbschein sollen deutsche Amtsgerichte nun auch
europaweit gültige und einheitlich verständliche Nach-
lasszeugnisse sowie beglaubigte Abschriften ausstellen –
damit in Bezug auf Erbfälle in ganz Europa Rechtssi-
cherheit herrscht.
Der vorliegende Gesetzentwurf mag im großen Be-
trieb der Politik auf den ersten Blick nicht besonders be-
deutsam erscheinen. Aber er ist stellvertretend für eine
Politik der europäischen Einigung, die auch und ganz
besonders wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokra-
ten immer vorangetrieben haben. Und er steht für eine
überlegte, ruhige Sachpolitik, in der man sich auch zwi-
schen Regierungs- und Oppositionsfraktionen verstän-
digt, um gemeinsam vernünftige Gesetze voranzubrin-
gen. In diesem Sinne ist der heutige Gesetzentwurf nicht
nur bedeutsam, sondern hoffentlich sogar richtungswei-
send.
Jörn Wunderlich (DIE LINKE): Sehr geehrter Le-
ser, wenn ich hier möglicherweise die Argumente mei-
nes „Vorredners“ wiederhole, bitte ich um Nachsicht, da
ich diese infolge der vereinbarten Protokollreden ja
nicht kennen kann. Also: Anlass für diesen Gesetzent-
wurf ist vor allem die Durchführung der Verordnung
(EU) Nr. 650/2012 des Europäischen Parlaments und des
Rates vom 4. Juli 2012 über die Zuständigkeit, das anzu-
wendende Recht, die Anerkennung und Vollstreckung
von Entscheidungen und die Annahme und Vollstre-
ckung öffentlicher Urkunden in Erbsachen sowie zur
Einführung eines Europäischen Nachlasszeugnisses
(ABl. L 201 vom 27. Juli 2012, S. 107; L 344 vom
14. Dezember 2012, S. 3; L 41 vom 12. Februar 2013,
S. 16; L 60 vom 2. März 2013, S. 140 – ErbVO), welche
ab dem 17. August 2015 anzuwenden ist. Die ErbVO gilt
für alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union mit
Ausnahme des Vereinigten Königreichs, Irlands und Dä-
nemarks. Als Verordnung ist sie in der Bundesrepublik
Deutschland unmittelbar anzuwenden mit der Folge,
dass sie in ihrem Anwendungsbereich das bislang gel-
tende Recht verdrängt. Gleichwohl bedarf es einiger
Durchführungsvorschriften für die Umsetzung.
Die Schaffung der notwendigen Verfahrensregelun-
gen zum Europäischen Nachlasszeugnis wurde hier zum
Anlass genommen, auch entsprechend sinnvolle Rege-
lungen zum Erbschein zu ändern.
Zum einen werden punktuell Vorschriften zum Erb-
schein an die Vorgaben der ErbVO zum Europäischen
Nachlasszeugnis angepasst mit dem Ziel, die Zuständig-
keit für das Verfahren zur Erteilung eines deutschen Erb-
scheins und über die Ausstellung eines Europäischen
Nachlasszeugnisses möglichst bei demselben Gericht zu
bündeln. Zum anderen werden die Anpassungen beim
Erbschein zum Anlass genommen, derzeit im Bürgerli-
chen Gesetzbuch, BGB, enthaltene, rein verfahrens-
rechtliche Vorschriften zum Erbschein aus systemati-
schen Gründen in das Gesetz über das Verfahren in
Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwil-
ligen Gerichtsbarkeit, FamFG, zu übertragen und dabei
zugleich überflüssige Doppelregelungen in BGB und
FamFG zu bereinigen. Im Übrigen soll insbesondere
eine Regelungslücke im Bereich der Gebühren in Grund-
buchsachen geschlossen werden, um die Höhe der bei
der Eintragung von Veränderungen eines Gesamtrechts
bei verschiedenen Grundbuchämtern zu erhebenden Ge-
bühren auf ein angemessenes Maß zu begrenzen.
Bislang herrschte in grenzüberschreitenden Erb-
schaftsfällen eine große Unsicherheit, welches nationale
Recht Anwendung findet. Mit der EU-Verordnung wird
dahingehend Rechtssicherheit geschaffen, als dass nun-
mehr das Recht desjenigen Staates Anwendung findet, in
dem der Erblasser seinen letzten Wohnsitz hatte. Dies
würde dann aber auch dazu führen, dass zum Beispiel
Deutsche, die ihren Lebensabend im Ausland verbrin-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10223
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(D)(B)
gen, nicht mehr nach deutschem Recht beerbt werden.
Dennoch ist diese Regelung vor dem Hintergrund der
Rechtssicherheit zu begrüßen, zumal ein Erblasser testa-
mentarisch nach wie vor die Anwendbarkeit deutschen
Rechts festlegen kann.
Auch für Erben bringt die Verordnung eine Erleichte-
rung. Denn das durch die Verordnung neu geschaffene
Europäische Nachlasszeugnis stellt eine Art internatio-
nalen Erbschein dar, der in der gesamten EU Geltung be-
sitzt mit der Folge, dass der Erbe nicht mehr in all den
Ländern, in denen der Erblasser Vermögen hinterlassen
hat, separat Erbscheine beantragen muss.
Das internationale Nachlasszeugnis kann – wie der
bisherige Erbschein – beim Notar beantragt werden.
Die Konzentrierung der Zuständigkeit für das Verfah-
ren zur Erteilung eines deutschen Erbscheins und über
die Ausstellung eines Europäischen Nachlasszeugnisses
bei demselben Gericht stellt ebenfalls eine Erleichterung
dar und ist zu unterstützen.
Die Übertragung der derzeit noch im BGB enthalte-
nen rein verfahrensrechtlichen Vorschriften zum Erb-
schein in das FamFG ist ebenfalls vor dem rechtssyste-
matischen Hintergrund zu begrüßen.
Damit führt die Verordnung im Ergebnis zu deutli-
chen Erleichterungen bei Erblassern und Erben und zu
mehr Rechtssicherheit und einer besseren rechtssystema-
tischen Ordnung. Da der vorliegende Gesetzentwurf
letztlich nur der Durchführung der Verordnung im
deutschen Recht dient und darüber hinaus die Rege-
lungslücke im Bereich der Gebühren in Grundbuchsa-
chen zugunsten der Betroffenen schließt, sollte diesem
zugestimmt werden.
In dem Änderungsantrag geht es im Wesentlichen le-
diglich um redaktionelle Korrekturen, Klarstellungen
und Folgeänderungen, auf die hier nicht näher eingegan-
gen werden muss. Es wird außerdem noch eine Begren-
zung der Zusatzgebühr für die Beurkundung in einer
fremden Sprache auf 5 000 Euro eingeführt.
Wahrscheinlich sind diese Gründe, wie eingangs er-
wähnt, auch von meinem „Vorredner“ angeführt werden,
was ich jedoch leider in Anbetracht der Protokollreden
nicht beurteilen kann. Ich gehe jedoch gesichert davon
aus, zumal wir uns im Berichterstattergespräch einig wa-
ren, dass dem Gesetz zugestimmt werden kann.
Alles in allem stimmt die Linke dem Gesetz, wie be-
reits im Ausschussprotokoll dokumentiert, daher auch in
der zweiten und dritten Lesung zu.
Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir wol-
len keine Grenzen mehr in Europa. Wir wollen europa-
weit wohnen, arbeiten, leben und sterben und deswegen
am Ende auch europaweit erben.
Aber keine Sorge: das materielle Erbrecht wird jetzt
nicht europäisiert.
Wer von wem in welcher Reihenfolge und in wel-
chem Umfang erbt, bleibt, wie es ist. Allerdings ändert
sich das Verfahrensrecht.
Durch die Vereinheitlichung der Verfahrensregeln
und die Möglichkeit der Rechtswahl wird es für Hinter-
bliebene aber jetzt einfacher, zum Beispiel in Fällen, in
denen der Erblasser oder die Erblasserin zuletzt in einem
anderen europäischen Land lebte oder in denen Paare
mit unterschiedlichen Staatsangehörigkeiten ein gemein-
sames Testament errichten.
Denn ab dem 17. August 2015 gelten im Erbrecht in
fast allen EU-Mitgliedstaaten einheitliche Verfahrensre-
geln. Die Hinterbliebenen müssen sich beispielsweise
nicht mehr um die Anerkennung ausländischer Gerichts-
urteile kümmern, sondern wenden sich an das Gericht
am letzten gewöhnlichen Aufenthalt des Erblassers bzw.
der Erblasserin.
Auch ist es nun möglich, durch eine Rechtswahl die
Nachlassspaltung zu vermeiden. Es ist nur noch ein
Recht anwendbar für den gesamten Nachlass und nicht
mehr unterschiedliches Recht, je nachdem, ob es sich um
Grund und Boden oder um bewegliches Vermögen han-
delt, wie es derzeit in einigen europäischen Rechtsord-
nungen der Fall ist.
Die Einführung des Europäischen Nachlasszeugnis-
ses vereinfacht und vereinheitlicht den Nachweis im
Rechtsverkehr. Der deutsche Erbschein bleibt aber erhal-
ten. Das ist gut; denn er ist anders als das Europäische
Nachlasszeugnis von seiner Gültigkeitsdauer nicht be-
grenzt. Beantragt wird das Europäische Nachlasszeugnis
beim Gericht am letzten gewöhnlichen Aufenthalt des
Erblassers oder der Erblasserin. Somit ist es für die Er-
ben einfacher, zu wissen, an wen sie sich wenden müs-
sen, wenn sie ihr Erbe antreten möchten.
Bei aller Vereinfachung bleiben aber auch Unsicher-
heiten: Bei gemeinschaftlichen Testamenten, wie dem
Berliner Testament, muss man jetzt darauf achten, dass
eine Bindung des überlebenden Ehegatten anderswo oft
so nicht möglich ist. Gleiches gilt für die Testaments-
vollstreckung. Auch das Pflichtteilsrecht kann sehr un-
terschiedlich sein. Hier wird es nach wie vor gut sein,
sich beraten zu lassen.
Schutzlücken gibt es bei gleichgeschlechtlichen Paa-
ren. Denn nicht in allen EU-Mitgliedstaaten werden Le-
benspartnerschaften gesetzlich anerkannt, sodass sich
hieraus eine mögliche Diskriminierung ergeben kann
und die Rechtswahl beispielsweise bei gemeinschaftli-
chen Testamenten faktisch ins Leere läuft, wenn der hin-
terbliebene Partner oder die hinterbliebene Partnerin die
Nachlassbeteiligung nicht durchsetzen kann. Denn die
Frage, ob eine Partnerschaft überhaupt besteht, richtet
sich nicht nach der Erbrechtsverordnung, sondern nach
dem Recht, das an dem Ort des letzten gewöhnlichen
Aufenthalts gilt. Zwar können auch hier die Partner oder
Partnerinnen von der Möglichkeit der Rechtswahl Ge-
brauch machen, doch kann es sein, dass Pflichtteilan-
sprüche anderer Angehöriger bestehen bleiben.
Eine Lösung für diese Fragen des Personenstands-
rechts hätte eigentlich schon auf europäischer Ebene
gefunden werden sollen, doch wurden auch bei den
Durchführungsbestimmungen auf nationaler Ebene die
10224 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015
(A) (C)
(D)(B)
verbleibenden, kleinen Gestaltungsspielräume leider nicht
genutzt.
Es gibt sicher noch viele weitere Baustellen im Erb-
recht, über die es sich lohnen würde zu debattieren. Ich
denke zum Beispiel an die Berücksichtigung von Pflege-
leistungen beim Pflichtteilsrecht.
Mit dem heutigen Gesetz wird das Erbrecht zwar
nicht revolutioniert, aber eine sinnvolle Anpassung von
Verfahrensvorschriften an die europäische Verordnung
vorgenommen. Dem wird auch die grüne Fraktion ihre
Zustimmung erteilen.
Anlage 8
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Umsetzung der Protokollerklärung zum Gesetz
zur Anpassung der Abgabenordnung an den
Zollkodex der Union und zur Änderung weite-
rer steuerlicher Vorschriften (Tagesordnungs-
punkt 25)
Olav Gutting (CDU/CSU): Wir beraten heute in ers-
ter Lesung einen Gesetzentwurf, welcher 13 Maßnah-
men aufgreift, die der Bundesrat im Zollkodex-Anpas-
sungsgesetz vorgeschlagen hatte und die nach der
zugesagten fachlichen Prüfung umgesetzt werden kön-
nen. Gleichzeitig wollen wir aber auch andere, aus unse-
rer Sicht notwendige Änderungen mit diesem Gesetz
vornehmen.
Ganz glücklich bin ich mit dem aktuellen Gesetzent-
wurf noch nicht. Das fängt schon bei der Namensgebung
an. Während die jährlichen notwendigen Anpassungen
an das Steuerrecht in der Vergangenheit in den jeweili-
gen Jahressteuergesetzen vorgenommen wurden, geschieht
dies nunmehr zunehmend in Trägergesetzen, die nicht
zwingend im Titel auf den steuerlichen Bezug, wie zum
Beispiel im Kroatiengesetz, dem Zollkodex-Anpas-
sungsgesetz oder wie in dem hier beratenen Protokoll-
erklärungsumsetzungsgesetz hinweisen.
Mit diesem Gesetz werden nun vorrangig Wünsche
des Bundesrates umgesetzt. Wir geben damit auch ein
Signal an die Länder, dass wir bereit sind, sinnvolle steu-
erliche Anpassungswünsche des Bundesrates aufzugrei-
fen.
Dies ist jedoch keine Einbahnstraße, und ich appel-
liere an den Bundesrat, bei anderen Gesetzgebungsvor-
haben des Bundestages auch einzulenken und die immer
wieder gefahrene Blockadepolitik aufzuheben.
Ich denke dabei insbesondere an zwei wichtige Ge-
setzgebungsverfahren – steuerliche Absetzbarkeit der
energetischen Sanierung und Abbau der kalten Progres-
sion – der letzten Legislaturperiode, die aufgrund der
Blockade des von Rot-Grün dominierten Bundesrates
scheiterten.
Auch wenn der vorliegende Gesetzentwurf überwie-
gend unproblematische Maßnahmen enthält, bedürfen
einige Regelungen bei den zukünftigen Beratungen be-
sonderer Aufmerksamkeit.
Klärungsbedarf gibt es für uns beispielsweise bei der
geplanten Schließung von Lücken im Umwandlungs-
steuergesetz, explizit beim § 20 Absatz 2 UmwStG.
Wir halten die vorgesehene Änderung des UmwStG
nicht für zwingend erforderlich, da eine systemwidrige
Lücke – die geschlossen werden muss – überhaupt nicht
vorliegt. Nun ist die Änderung im Koalitionsvertrag ver-
einbart, wir sollten aber nochmals prüfen, ob tatsächlich
ein reales Bedürfnis hierfür besteht.
Gerade bei diesem Thema bin ich auf eine Anhörung
der Sachverständigen gespannt, zumal die Maßnahme
allein aufgrund eines prominenten Einzelfalls Einzug in
die politische Diskussion und die vermeintliche Notwen-
digkeit einer Lückenschließung gefunden hat.
Weiterhin werden wir über eine Anhörung und die
Beratungen klären müssen, ob wir mit der vermeintli-
chen Lückenschließung gestaltende steuerfreie Umstruk-
turierungen tatsächlich verhindern können.
In den zukünftigen Beratungen ist von uns ebenfalls
zu klären, ob die vorgesehene Mittelstandskomponente
ausreichend für Umstrukturierungen im Mittelstand ist.
Bedeutend ist unter Steuervereinfachungsaspekten
auch der Wegfall des Funktionsbenennungserfordernis-
ses.
Wir von der Union setzen uns seit Jahren für Steuer-
vereinfachung und Entbürokratisierung ein. Wir wollen
mit dieser Regelung bei den Unternehmen Anwendungs-
unsicherheiten nehmen und gegebenenfalls Erleichterun-
gen bei der Finanzierung zukünftiger Anschaffungen er-
reichen.
Leider haben sich die Länder zu dieser Steuerverein-
fachung bereits negativ geäußert.
Das Gesetzgebungsverfahren steht jedoch noch ganz
am Anfang, und auch die Länder haben in ihrer Stellung-
nahme weitere 27 Maßnahmen gefordert, die überwie-
gend auch schon im Zollkodex-Anpassungsgesetz gefor-
dert und bereits geprüft wurden. Es gibt daher zwischen
allen Beteiligten noch genügend Gesprächsbedarf.
Der Gesetzentwurf ist deshalb in den Finanzaus-
schuss zu überweisen.
Ich freue mich dort auf eine aufschlussreiche Sach-
verständigenanhörung und auf eine erfolgreiche Bera-
tung.
Dr. Jens Zimmermann (SPD): Wir beraten heute in
erster Lesung das Gesetz zur Umsetzung des Protokolls
zum Gesetz zur Anpassung der Abgabenordnung an den
Zollkodex der Union und zur Änderung weiterer steuer-
licher Vorschriften. Der Name des Gesetzentwurfes sagt
es schon: Viele der im vorliegenden Gesetzentwurf for-
mulierten Maßnahmen enthielt schon das Zollkodex-An-
passungsgesetz, das Jahressteuergesetz 2015. Mit vorlie-
gendem Gesetzentwurf wird die Protokollerklärung der
Bundesregierung zum Zollkodex-Anpassungsgesetz um-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10225
(A) (C)
(D)(B)
gesetzt und viele der Länderanträge aus diesem Verfah-
ren nach Prüfung durch die Bundesregierung in einem
eigenen Steuergesetz aufgegriffen.
Wie im Jahresssteuergesetz 2015 finden sich auch in
diesem Vorschlag wieder eine Reihe an redaktionellen
Änderungsvorschlägen durch das deutsche Steuerrecht
hindurch, die politisch unstrittig sind. Es ist deshalb
nicht nötig, auf jeden einzelnen Änderungsvorschlag
einzugehen. Auch die unstrittigen Änderungen sind al-
lerdings wichtig, um den Finanzbehörden in den Län-
dern ihre Arbeit zu erleichtern.
Auch wenn das Protokollumsetzungsgesetz einen
nicht ganz so umfangreichen Maßnahmenkatalog enthält
wie das Zollkodex-Anpassungsgesetz: Hier gibt es eben-
falls wieder einige wichtige inhaltliche Punkte, über die
wir im Gesetzgebungsverfahren sicherlich intensiv mit
unserem Koalitionspartner, mit den Ländern und mit den
Sachverständigen diskutieren werden.
Einige dieser Punkte möchte ich kurz ansprechen.
Bereits in den Verhandlungen zum Kroatien-Anpas-
sungsgesetz und zum Zollkodex-Anpassungsgesetz ha-
ben wir als SPD-Bundestagsfraktion gezeigt, dass wir es
ernst meinen damit, den Missbrauch des Steuerrechts zu
verhindern und der Ausnutzung von Regelungslücken
im deutschen Steuerrecht einen Riegel vorzuschieben.
Steuersparmodelle, mit denen jeder ehrliche Steuerzah-
ler verhöhnt wird, können und wollen wir nicht länger
tolerieren. Deshalb werden auch in diesem Gesetzge-
bungsverfahren die vorgeschlagenen Änderungen zur
Schließung von Lücken im Umwandlungssteuerrecht für
uns als SPD-Bundestagfraktion eine wichtige Rolle spie-
len.
Der im Jahre 2012 abgelaufene „Porsche-Deal“ kann
als Musterbeispiel für solche Steuervermeidungsmodelle
gelten. Im Jahre 2012 hat Volkswagen den Automobil-
hersteller Porsche übernommen, und zwar dadurch, dass
VW eine einzelne Stammaktie auf die Porsche Holding
SE übertragen hat. Das Finanzamt Stuttgart hat den
Erwerb nicht als Kauf bewertet, bei dem die üblichen
Steuern angefallen wären. Stattdessen wurde dies als
Umstrukturierung nach dem Umwandlungssteuergesetz
eingestuft. Dies hatte eine Steuerbefreiung zur Folge.
Auch wenn diese Gestaltung nach geltendem Recht
legal war: Gewünscht ist sie nicht. Denn bei dieser ge-
zielten Steuervermeidung sind dem Staat 1,5 Milliarden
Euro vorenthalten worden. Wir müssen solche Fälle zu-
künftig vermeiden.
In den Berichterstattergesprächen zum Zollkodex-
Anpassungsgesetz konnten wir uns mit unserem Koali-
tionspartner bereits auf konkrete Eckwerte für eine Neu-
regelung bei Einbringungen nach dem Umwandlungs-
steuerrecht einigen. Der jetzige Vorschlag sieht vor, dass
die Gegenleistungen bei Einbringungen auf 25 Prozent
oder 300 000 Euro des Buchwerts des eingebrachten Be-
triebsvermögens begrenzt werden sollen.
Ich erwarte, dass es bei diesem Punkt nur noch um
Detailfragen gehen wird. Auch unser Koalitionspartner
sollte ein großes Interesse daran haben, dass ein An-
teilstausch wie im Falle des VW-Porsche-Deals nicht
mehr systemwidrig steuerfrei gestaltet werden kann. Ich
freue mich in dieser Frage auf konstruktive Verhandlun-
gen. Denn Bund und Länder können hier gemeinsam ein
wichtiges Zeichen gegen Steuervermeidung und Steuer-
hinterziehung setzen. Hier gilt unverändert die Devise:
Je früher, desto besser.
Dieser Grundsatz gilt auch für andere gesetzgeberi-
sche Schritte gegen Steuertricks: Im Gesetzgebungsver-
fahren zum Zollkodex-Anpassungsgesetz haben sich die
Regierungskoalitionen gemeinsam mit den Ländern da-
rauf geeinigt, eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe einzu-
richten, die konkrete Vorschläge für einen Gesetzentwurf
zur Umsetzung des BEPS-Maßnahmenpaketes der OECD
erarbeitet. Wir begrüßen die Einrichtung der Arbeits-
gruppe ausdrücklich.
Wir teilen aber auch die kritischen Hinweise der Län-
der in ihren Empfehlungen zu dem vorliegenden Gesetz-
entwurf. Denn bisher hat die Bund-Länder-Arbeits-
gruppe schlicht nicht oft genug getagt, um eine Vorlage
für einen Gesetzentwurf auszuarbeiten. In der Protokoll-
erklärung zum Zollkodex-Anpassungsgesetz ist aber
festgehalten, dass die Arbeitsgruppe zeitnah einen Vor-
schlag vorlegt. Das war eine der Bedingungen für die
SPD-Bundestagfraktion und die SPD-geführten Länder,
auf eine Regelung gegen hybride Finanzierungen im
Steuerrecht im Verfahren zum Zollkodex-Anpassungs-
gesetz zu verzichten. Jetzt muss die Arbeitsgruppe auch
liefern. Und das funktioniert nur, wenn diese regelmäßig
tagt.
Sicherlich intensiv diskutieren werden wir innerhalb
der Regierungskoalition über eine Maßnahme im Ge-
setzentwurf, die die Abschaffung des Investitionsbenen-
nungserfordernisses beim Investitionsabzugsbetrag – ge-
regelt im § 7 g im Einkommensteuergesetz – vorsieht.
Bisher war es für den Abzugsbetrag notwendig, dass
die Funktion des begünstigenden Wirtschaftsgutes ange-
geben werden musste. Auf diese Angabe soll nunmehr
verzichtet werden. Das hätte zur Folge, dass der Steuer-
pflichtige zukünftig ohne weitere Angaben Abzugsbe-
träge für künftige Investitionen bis zu einem unveränder-
ten Höchstbetrag von 200 000 Euro gewinnmindernd
abziehen könnte.
Auch wenn sich an den sonstigen Regelungen zum
Investitionsabzugsbetrag nichts ändert: Es gibt gute
Gründe dafür, die in der Gesetzesbegründung angegebe-
nen steuerlichen Mindereinnahmen von 40 Millionen
Euro jährlich anzuzweifeln. Dass die Angabe der Inves-
titionsabsicht wegfällt, birgt die Gefahr, dass Investi-
tionsabzugsbeträge missbräuchlich in Anspruch genom-
men werden, um beispielsweise Steuerzahlungen um bis
zu drei Jahre hinauszuzögern. Wir teilen hier deshalb die
Bedenken der Länder.
Bei der Anwendung der 44-Euro-Freigrenze für Sach-
bezüge wird es auch weiterhin bei der bisherigen Praxis
bleiben. Der Bundesrat schlägt hier erneut – wie im Ver-
fahren zum Zollkodex-Anpassungsgesetz – vor, die
Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes bei der Abgren-
zung von Sachbezügen und Geldleistungen einzuschrän-
10226 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015
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ken. Dieser hat mit einigen Urteilen Gutscheine, die dem
Arbeitnehmer vom Arbeitgeber gestellt werden, den
Sachbezügen zugeordnet. Damit sind diese Leistungen
bis 44 Euro monatlich für den Arbeitnehmer steuerfrei.
Viele Beschäftigte freuen sich über diese kleine finan-
zielle Entlastung. Diese Steuerfreiheit wieder abzuschaf-
fen, würde Arbeitnehmer unnötig belasten. Hier teilen wir
die Einschätzung der Bunderegierung uneingeschränkt.
Diesen Antrag des Bundesrates werden wir deshalb er-
neut ablehnen.
Ich bin zuversichtlich, dass wir am Ende der Verhand-
lungen zu einer guten Lösung kommen werden.
Richard Pitterle (DIE LINKE): Hinter diesem „Ent-
wurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Protokollerklä-
rung zum Gesetz zur Anpassung der Abgabenordnung
an den Zollkodex der Union und zur Änderung weiterer
steuerlicher Vorschriften“ verbirgt sich ein weiteres Jah-
ressteuergesetz. Leider scheut sich die Bundesregierung
mal wieder, das Kind dann auch beim Namen zu nennen
und wählt stattdessen diesen umständlichen Namen.
Aber auch das lenkt nicht davon ab, dass die Steuerpoli-
tik der Großen Koalition ein einziges Chaos ist. Meine
Damen und Herren von der Bundesregierung, Sie
schleppen sich von Jahressteuergesetz zu Jahressteuer-
gesetz, ohne dass Sie nennenswert vorankämen – das ist
eine Flickschusterei sondergleichen!
Diese Flickschusterei geht zudem zum Teil auf einen
traurigen Zweikampf zwischen Bundestag und Bundes-
rat zurück. Mit seinem Entwurf eines Steuervereinfa-
chungsgesetzes hat der Bundesrat bereits 2013 verschie-
dene Vorschläge in den Bundestag eingebracht. Doch die
Große Koalition im Bundestag hat sich bisher sehr
schwergetan, angemessen darauf einzugehen, und auch
dieser Gesetzentwurf ist da ein eher halbherziger Ver-
such. Zu Recht hat sich der Bundesrat beschwert, dass
seine Vorlage in verfassungsrechtlich fragwürdiger
Weise einfach ignoriert wurde. Denn nach Artikel 76 des
Grundgesetzes hat der Bundestag über Vorlagen in ange-
messener Frist zu beraten und Beschluss zu fassen. An
dieser Stelle möchte ich Ihnen, meine Damen und Her-
ren von Union und SPD, raten, vielleicht etwas öfter ei-
nen Blick ins Grundgesetz zu werfen; Sie scheinen da
stets ein wenig unsicher zu sein, wenn es um dessen Ein-
haltung geht.
Von diesem chaotischen Verfahrensgang einmal abge-
sehen, erscheint Ihr Gesetzentwurf, meine Damen und
Herren von der Bundesregierung, bislang auch inhaltlich
wenig überzeugend. Auffallend ist vor allem, dass Sie
Maßnahmen gegen Steuerumgehung mal wieder ver-
schieben, anstatt hier endlich Handfestes zu liefern. Zum
Beispiel versäumen Sie es, sich endlich der Neutralisie-
rung der Effekte hybrider Gestaltungen anzunehmen und
ermöglichen es grenzüberschreitend tätigen Unterneh-
men, auf diese Weise weiterhin eine doppelte Nichtbe-
steuerung oder einen doppelten Betriebsausgabenabzug
zu erreichen. Stattdessen errichten Sie zu diesem Thema
erst mal eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe, die bisher
noch keine nennenswerten Ergebnisse hervorgebracht
hat. Auch die Steuerpflicht für Veräußerungsgewinne
aus Streubesitzanteilen haben Sie auf die lange Bank ge-
schoben, obwohl hier ein bekanntes Steuerschlupfloch
besteht. Ob Sie Ihre Ankündigung, dies dann in der Re-
form des Investmentsteuergesetzes anzugehen, auch
wahrmachen, bleibt noch abzuwarten.
An dieser Stelle müssen Sie sich mal wieder fragen
lassen, meine Damen und Herren von der Bundesregie-
rung, für wen Sie eigentlich Politik machen in diesem
Land? Für die vielen ehrlichen Steuerzahlerinnen und
Steuerzahler oder für grenzüberschreitend tätige Kon-
zerne, denen Sie weiterhin Zeit geben, um weiter auf
Kosten der Allgemeinheit Kasse zu machen.
Damit ist die Liste Ihrer Versäumnisse leider noch
nicht am Ende. Auch um eine Befassung mit der vom
Bundesrat wiederholt angemahnten Erhöhung des Ar-
beitnehmer-Pauschbetrages und der Pauschbeträge für
behinderte Menschen haben Sie sich gedrückt.
Meine Damen und Herren von der Großen Koalition,
bei den Beratungen haben Sie die Gelegenheit, meine
Kritik durch Taten zu widerlegen. Daher bin ich auf die
kommenden Beratungen bereits gespannt.
Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Hinter dem Namen Zollkodex-Anpassungsgesetz
verbirgt sich das Jahressteuergesetz der Bundesregie-
rung aus dem letzten Jahr, in dem verschiedene steuerli-
che Änderungen vorgenommen wurden. Dieses Gesetz
hat mal wieder bestätigt, dass die Bundesregierung steu-
erpolitisch keinerlei Ambitionen hat. Dabei sind eine
Reihe von wichtigen Themen längst überfällig, auf die
wir auch in unserem Entschließungsantrag hingewiesen
hatten: zum Beispiel bei der Umsatzsteuer die unsinni-
gen Branchensubventionen abzuschaffen oder bei den
Unternehmensteuern die Bevorzugung großer Konzerne
zulasten der kleinen und mittleren Unternehmen zu be-
seitigen. Es ist schon bemerkenswert, wie untätig der Fi-
nanzminister sich hier gibt.
Auch die Bundesländer sahen zu Recht viele ihrer
wichtigen Anliegen, insbesondere zur Bekämpfung von
Steuergestaltung, nicht berücksichtigt und wollten daher
den Vermittlungsausschuss anrufen. Dazu kam es aber
nicht. Anstelle von zeitgerechten und wichtigen Korrek-
turen einigte man sich nach langem Hin und Her darauf,
dass die Bundesregierung in einer Protokollerklärung
versprach, noch offene und zu prüfende Ländervor-
schläge Anfang 2015 in einem Steuergesetz aufzugrei-
fen.
Über dieses Projekt diskutieren wir heute. Es heißt
„Gesetz zur Umsetzung der Protokollerklärung zum Ge-
setz zur Anpassung der Abgabenordnung an den Zollko-
dex der Union und zur Änderung weiterer steuerlicher
Vorschriften“ – man muss sich dieses Wortungetüm ein-
mal auf der Zunge zergehen lassen. Die zentrale Bot-
schaft dieser Überschrift ist: Nur etwas für Spezialisten,
nichts für den normalen Bürger.
Wir Grünen erwarten jetzt, dass die Bundesregierung
den Kampf gegen Steuergestaltung nicht länger ver-
schleppt, sondern gute Vorschläge vorlegt. Aber ist dies
der Fall?
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10227
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Die Gestaltungsmöglichkeiten im Umwandlungssteu-
errecht werden mit diesem Gesetz eingeschränkt. Dies
begrüßen wir; damit ist eine unserer Forderungen umge-
setzt worden.
Ein zweiter wichtiger offener Punkt war, hybride Ge-
staltungen endlich zu besteuern. Auch hierauf haben wir
in unserem Entschließungsantrag Ende letzten Jahres
hingewiesen. Aktuell werden diese Finanzinstrumente
vielfach nicht besteuert, weil die Steuersysteme der ein-
zelnen Länder sehr unterschiedlich sind. So ist zum Bei-
spiel in einem Land eine Zinszahlung eine abziehbare
Betriebsausgabe und in dem anderen Land wird diese als
Dividendenertrag freigestellt. Diese Unterschiede bei
der Qualifizierung bestimmter Zahlungen sind seit vie-
len Jahren bekannt. Die Lösung ist, sogenannte Korres-
pondenzregelungen einzuführen, das heißt die unter-
schiedlichen Regelungen der Länder zu verzahnen.
Hierzu hat die OECD im Rahmen des BEPS-Projektes
Vorschläge gemacht. Das würde bedeuten, den Betriebs-
ausgabenabzug von Zahlungen ins Ausland zu versagen,
wenn diese Zahlung beim Empfänger steuerfrei gestellt
ist. So wird verhindert, dass Unternehmen in keinem der
beiden Länder Steuern zahlen.
Die Bundesregierung hatte in ihrer Protokollerklä-
rung versprochen, Anfang 2015 eine Bund-Länder-Ar-
beitsgruppe ins Leben zu rufen. Wenn wir hier etwas
misstrauisch sind, dann aus gutem Grund: In den Bund-
Länder-Arbeitsgruppen wurde in der Vergangenheit der
politische Prozess nicht unbedingt beschleunigt, zudem
war die Arbeitsweise oft intransparent. Es verstreichen
Wochen und Monate – und das Ziel gerät aus dem Blick-
feld.
Dies scheint auch hier wieder die Taktik zu sein. Die
Arbeitsgruppe wurde zwar einberufen, tagte allerdings
erst ein Mal, und zwar am 16. Januar – ohne irgendwel-
che inhaltlichen Ergebnisse zu erzielen. Zeitnah sollte
ein Gesetzentwurf erarbeitet werden – dieser liegt bisher
nicht vor. Das ist ein untragbarer Zustand und ein wei-
teres Indiz dafür, dass diese Bundesregierung und ins-
besondere Bundesfinanzminister Schäuble bei der Ein-
dämmung von Steuergestaltung und Steuervermeidung
keineswegs eine Vorreiterrolle einnimmt, sondern im ab-
soluten Schneckentempo dahinschleicht.
Wir fordern die Bundesregierung auf, das Thema Ein-
dämmung von Steuergestaltung endlich anzugehen und
Korrespondenzregelungen zur Vermeidung von hybriden
Gestaltungen nun zeitnah umzusetzen, um weitere Steu-
erausfälle zu verhindern, und diese Maßnahmen nicht
wieder zu verschleppen.
Der Bundesrat hat in das vorliegende Gesetz in seiner
Stellungnahme sein Steuervereinfachungspaket von 2013
eingebracht. Dieses wurde bisher nicht im Bundestag
parlamentarisch beraten. Es enthält einige begrüßens-
werte Vorschläge.
Herausgreifen möchte ich dabei heute die Nachbesse-
rungen bei der Gewerbesteuerzerlegung bei Erneuer-
bare-Energien-Anlagen. Hier geht es darum, die Stand-
ortgemeinden von Wind- oder Sonnenenergieanlagen
angemessen an der Gewerbesteuer des Betreibers zu
beteiligen. Es zeigte sich, dass die Regelungen der Ge-
werbesteuerzerlegung nicht sachgerecht sind und die
Zielsetzung einer angemessenen Beteiligung der Stand-
ortkommunen am Steueraufkommen mit der bisherigen
Regelung nicht erreicht wird. Die Bundesländer schla-
gen deshalb vor, statt des Buchwertes des Sachanlage-
vermögens künftig die installierte Leistung als Maßstab
zu nehmen. Dies soll zu einer gerechteren Verteilung des
Steueraufkommens zwischen den Gemeinden führen.
Wir halten das für einen guten Ansatz, der aber im
weiteren Verlauf der Beratungen noch einmal sorgfältig
geprüft werden muss. Wir sollten uns bei diesem wichti-
gen Detail, das zu einer höheren Akzeptanz der Kommu-
nen in Hinblick auf die Belastungen durch den Betrieb
von Erneuerbare-Energie-Erzeugung führen soll, wirk-
lich vergewissern, dass die vom Bundesrat vorgeschla-
gene Regelung sachgerecht ist. Wenn wir uns die Unsi-
cherheit anschauen, die die CSU bei den Kommunen mit
ihrem unsäglichen Zirkus um Trassen und die Abstands-
regelung bei Windrädern – Stichwort 10 Horst – entfacht
hat, so ist hier Sorgfalt und Augenmaß gefragt.
Wir Grünen werden bei dem vorliegenden Gesetz
sorgfältig darauf achten, dass längst überfällige Maßnah-
men zur Verhinderung von Steuergestaltung auch auf na-
tionaler Ebene umgesetzt werden. Darum wird es in den
anstehenden Beratungen zu diesem Gesetz gehen.
Dr. Michael Meister, Parl. Staatssekretär beim Bun-
desminister der Finanzen: Mit dem vorliegenden Ge-
setzentwurf soll die Protokollerklärung der Bundesregie-
rung vom 19. Dezember 2014 gegenüber dem Bundesrat
zum Zollkodex-Anpassungsgesetz umgesetzt werden.
Der Gesetzentwurf enthält insbesondere Maßnahmen,
die der Bundesrat bereits im Rahmen des Zollkodex-An-
passungsgesetzes vorgeschlagen hatte, deren fachliche
Prüfung zum Abschluss des damaligen Gesetzgebungs-
verfahrens noch andauerte. Nachdem die von der Bun-
desregierung zugesagte Prüfung nunmehr abgeschlossen
ist, werden diese Maßnahmen – wie in der Protokoll-
erklärung angekündigt – jetzt umgesetzt.
Dies betrifft unter anderem folgende Maßnahmen:
Erstens. Schließung von Lücken im Umwandlungs-
steuergesetz (§ 20 Absatz 2, § 21 Absatz 1, § 24 Absatz 2
und § 27 Absatz 11 UmwStG): Das Umwandlungssteu-
ergesetz verfolgt den Zweck, betriebswirtschaftlich sinn-
volle Umstrukturierungen nicht durch steuerliche Folgen
zu behindern. In einzelnen Punkten ist das Umwand-
lungssteuergesetz aber nicht folgerichtig ausgestaltet. Es
hat sich gezeigt, dass die daraus resultierenden Gesetzes-
lücken gezielt für Steuergestaltungen ausgenutzt werden.
Vor diesem Hintergrund hatten wir in unserem Koali-
tionsvertrag vereinbart, zu prüfen, wie verhindert werden
kann, dass im Umwandlungssteuerrecht Anteilstausch
und Umwandlungen mit finanziellen Gegenleistungen
systemwidrig steuerfrei gestaltet werden können.
Mit der Änderung des Umwandlungssteuergesetzes
wird die bisherige Möglichkeit, sonstige Gegenleistun-
gen in Höhe des Buchwerts des eingebrachten Wirt-
schaftsguts erbringen zu können, ohne die Steuerneutra-
10228 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015
(A) (C)
lität der Einbringung zu gefährden, eingeschränkt. Dabei
wird die Zuzahlungsmöglichkeit auf 25 Prozent des
Buchwerts des eingebrachten Betriebsvermögens oder
auf maximal 300 000 Euro begrenzt.
Die Änderungen greifen ein Petitum des Bundesrates
zum Entwurf des Gesetzes zur Anpassung der Abgaben-
ordnung an den Zollkodex der Union und zur Änderung
weiterer steuerlicher Vorschriften auf und setzen einen
Vorschlag um, den eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe er-
arbeitet hat.
Zweitens. Verlustabzugsbeschränkung bei Körper-
schaften; Ausdehnung der Konzernklausel (§ 8 c Ab-
satz 1 Satz 5 KStG): Mit der Neuregelung wird die
Konzernklausel – das heißt die Ausnahme von der Ver-
lustverrechnungsbeschränkung – unter anderem auf Fall-
konstellationen ausgedehnt, in denen die Konzernspitze
Erwerber oder Veräußerer ist. Außerdem wird generell
auch eine Personenhandelsgesellschaft als Konzern-
spitze zugelassen. Die Änderung entspricht der bereits
bei Einführung der Ausnahmeregelung bestehenden ge-
setzgeberischen Intention, Verlustvorträge bei konzern-
internen Umstrukturierungsmaßnahmen zu erhalten.
Drittens. Grunderwerbsteuer bei Änderungen im Ge-
sellschafterbestand (§ 1 Absatz 2 a Satz 2 bis 4 GrEStG):
Die Regelung präzisiert den für die Tatbestandserfüllung
der Grunderwerbsteuer notwendigen Umfang einer mit-
telbaren Änderung der Beteiligungsverhältnisse. Die
Änderung des § 1 Absatz 2 a GrEStG erfolgt zur Schlie-
ßung der bestehenden Regelungslücke und zur Anpas-
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Vertrieb: Bundesanzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Te
sung an die BFH-Rechtsprechung. Damit wird die für
den Rechtsanwender dringend erforderliche Rechts-
sicherheit geschaffen.
In begrenztem Umfang werden außerdem auch Rege-
lungen umgesetzt, die nicht bereits Gegenstand der Be-
ratungen zum Zollkodex-Anpassungsgesetz waren. Dies
betrifft beispielsweise die Abschaffung des Funktionsbe-
nennungserfordernisses beim Investitionsabzugsbetrag
(§ 7 g EStG): Investitionsabzugsbeträge nach § 7 g EStG
ermöglichen die Vorverlagerung von Abschreibungsvo-
lumen in ein Wirtschaftsjahr vor Anschaffung oder Her-
stellung eines begünstigten Wirtschaftsgutes.
Durch die vorgesehene Neuregelung ist es künftig
nicht mehr erforderlich, dass bei der Anwendung des
§ 7 g EStG das Wirtschaftsgut, für das der Abzugsbetrag
in Anspruch genommen werden soll, seiner Funktion
nach zu benennen ist. Kurz: Das Funktionsbenennungs-
erfordernis beim Investitionsabzugsbetrag wird abge-
schafft. Dadurch wird die Wettbewerbssituation kleiner
und mittlerer Betriebe verbessert, deren Liquidität und
Eigenkapitalbildung unterstützt und die Investitions- und
Innovationskraft gestärkt.
Insgesamt wird die Anwendung der Vorschrift verein-
facht: Dies wird daran deutlich, dass sich der Erfüllungs-
aufwand für die Wirtschaft durch die Abschaffung des
Funktionsbenennungserfordernisses um jährlich rund
162 000 Euro verringert.
Ich möchte Sie daher ganz herzlich um Unterstützung
dieses Gesetzentwurfs bitten.
(B)
(D)
kerei, Bessemerstraße 83–91, 1
lefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de
22
106. Sitzung
Inhaltsverzeichnis
TOP 4 Eidesleistung des Wehrbeauftragten
TOP 5 Regierungserklärung zu Gipfeln Östliche Partnerschaft, G7- sowie EU-CELAC
TOP 6 Leiharbeit und Werkverträge
TOP 7 Berufliche und akademische Bildung
TOP 33, ZP 2 Überweisungen im vereinfachten Verfahren
TOP 34, ZP 3 Abschließende Beratungen ohne Aussprache
ZP 4 Aktuelle Stunde zur Freigabe der NSA-Selektoren-Liste
TOP 8 Nachtragshaushalt und Unterstützung von Kommunen
TOP 9 Studienförderung und Studienfinanzierung
TOP 10, ZP 5 Europäischer Fonds für strategische Investitionen
TOP 11 Finanzierung der Beseitigung von Rüstungsaltlasten
TOP 12 Bundeswehreinsatz Operation Atalanta
TOP 13 Rückführung von Wertstoffen in den Abfallkreislauf
TOP 14 Bundeswehreinsatz UNMIL in Liberia
TOP 15 Menschenrechte in Mexiko
TOP 16, ZP 6 Erneuerbare-Energien-Gesetz
TOP 17 Völkermord an den Rohingya
TOP 18 Änderung soldatenrechtlicher Vorschriften
TOP 19 Internationales Staateninsolvenzverfahren
TOP 20 Entsorgung von Elektrogeräten
TOP 22 Vernachlässigte armutsassoziierte Erkrankungen
TOP 23 Bundesverfassungsgerichtsgesetz
TOP 24 Gesetz zum Internationalen Erbrecht
TOP 25 Anpassung der Abgabenordnung an den EU-Zollkodex
Anlagen