Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2014 6303
        (A) (C)
        (B)
        Anlagen zum Stenografischen Bericht
        (D)
        Anlage 1
        Liste der entschuldigten Abgeordneten
        Abgeordnete(r)
        entschuldigt bis
        einschließlich
        Alpers, Agnes DIE LINKE 13.11.2014
        Andreae, Kerstin BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        13.11.2014
        Behrens, Herbert DIE LINKE 13.11.2014
        Bülow, Marco SPD 13.11.2014
        Dağdelen, Sevim DIE LINKE 13.11.2014
        Hänsel, Heike DIE LINKE 13.11.2014
        Helfrich, Mark CDU/CSU 13.11.2014
        Henn, Heidtrud SPD 13.11.2014
        Kömpel, Birgit SPD 13.11.2014
        Dr. Launert, Silke CDU/CSU 13.11.2014
        Dr. Merkel, Angela CDU/CSU 13.11.2014
        Dr. Nick, Andreas CDU/CSU 13.11.2014
        Pau, Petra DIE LINKE 13.11.2014
        Post (Minden),
        Achim
        SPD 13.11.2014
        Schön (St. Wendel),
        Nadine
        CDU/CSU 13.11.2014
        Steinbach, Erika CDU/CSU 13.11.2014
        Strässer, Christoph SPD 13.11.2014
        Strobl (Heilbronn),
        Thomas
        CDU/CSU 13.11.2014
        Tack, Kerstin SPD 13.11.2014
        Dr. Terpe, Harald BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        13.11.2014
        Werner, Katrin DIE LINKE 13.11.2014
        Wöllert, Birgit DIE LINKE 13.11.2014
        Zypries, Brigitte SPD 13.11.2014
        Anlage 2
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung der Beschlussempfehlung und
        des Berichts: Für eine transparente Haushalts-
        kontrolle nachrichtendienstlicher Tätigkeiten
        (Tagesordnungspunkt 14)
        Johannes Kahrs (SPD): Wir diskutieren heute ei-
        nen Antrag der Fraktion Die Linke, der mehr Transpa-
        renz bei den Haushalten der Nachrichtendienste fordert.
        Das klingt zwar erst mal nach einem vernünftigen Vor-
        schlag – Transparenz ist ja immer etwas Schönes und
        steht insbesondere einem Parlament stets gut zu Gesicht.
        Nun gibt es aber auch von dieser Regel Ausnahmen –
        und dazu zählen die Nachrichtendienste. Über diese we-
        nigen Ausnahmen herrschte in den vergangenen Jahr-
        zehnten der Bundesrepublik stets ein weitestgehender
        Konsens im Parlament, der sich darin begründet, dass
        ein gewisser Grad der Geheimhaltung nötig ist, damit
        die Nachrichtendienste effektiv arbeiten können. Auch
        darüber, dass die Arbeit der Nachrichtendienste eben
        jene Effektivität benötigt, gab es in der Vergangenheit ei-
        nen breiten Konsens in unserem Land.
        Diesen Konsens gab es nicht ohne Grund – und dieser
        Grund ist nicht, wie Sie hier suggerieren, dass dem Par-
        lament daran gelegen wäre, Intransparenz zu schaffen
        und die freiheitlich-demokratische Grundordnung in-
        frage zu stellen. Das Gegenteil ist der Fall: Wir brauchen
        effektiv arbeitende Nachrichtendienste, um uns vor inne-
        ren und äußeren Feinden zu schützen, die unserer frei-
        heitlich-demokratischen Grundordnung schaden wollen.
        Denn ohne diesen Schutz und ohne innere und äußere Si-
        cherheit sind Freiheit, Demokratie, Menschenrechte und
        alles, was uns an dieser Republik lieb und teuer ist, in
        Gefahr. Das ist auch ein ganz elementarer Teil der Leh-
        ren, die wir aus unserer Geschichte gezogen haben: Wir
        brauchen eine wehrhafte Demokratie.
        Es geht hier also um mehr als um die durchsichtig
        populistische Forderung nach mehr Transparenz. Der
        Antrag der Linken stellt einen langjährigen Konsens in-
        frage, wenn dort zu lesen ist, dass „... die Haushalte der
        Nachrichtendienste ab dem Haushalt 2015 entsprechend
        den Haushalten der anderen Sicherheitsbehörden öffent-
        lich“ dargestellt werden sollen. Denn natürlich beinhal-
        ten die Haushalte der Nachrichtendienste sicherheits-
        politisch sensible Informationen, aus denen auch
        potenzielle Feinde für sie wertvolle Informationen ge-
        winnen könnten und die somit eine effektive Arbeit der
        Dienste erschweren. Das liegt nun mal im Wesen der
        Nachrichtendienste.
        Ich kann verstehen, dass die Linke, die wegen ihrer
        programmatischen Inhalte und Aussagen einzelner Mit-
        glieder lange Zeit vom Verfassungsschutz beobachtet
        wurde, einen skeptischen Blick auf die Nachrichten-
        dienste hat. Ich will natürlich auch gern zugestehen, dass
        es bei dem Verhältnis von Freiheit und Sicherheit stets
        Anlagen
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        einen Ermessenspielraum und subjektive Meinungen
        gibt. Und selbstverständlich brauchen die Nachrichten-
        dienste gesetzliche Grenzen und Kontrollen. Deshalb
        gibt es nicht nur ein Vertrauensgremium, sondern auch
        ein Parlamentarisches Kontrollgremium und das Mittel
        des Untersuchungsausschusses. Wie in allen Bereichen,
        in denen Menschen arbeiten, verhindert dies natürlich
        nicht, dass zuweilen Einzelne gegen Gesetze verstoßen,
        aber das Parlament hat die Möglichkeit, dies zu erken-
        nen und ein solches Verhalten zu sanktionieren. Ein
        Fehlverhalten Einzelner stellt meiner Meinung nach
        auch nicht die Verdienste unserer Nachrichtendienste für
        die Sicherheit oder deren Loyalität zur Demokratie in-
        frage.
        Mir ist wichtig, dass der Umgang des Parlaments mit
        den Nachrichtendiensten in Hinblick auf die nötige
        Transparenz und die nötige Geheimhaltung stets verant-
        wortungsvoll geschieht, denn wir als Abgeordnete sind
        letztendlich nicht nur unserer freiheitlichen Demokratie,
        sondern auch deren Sicherheit verpflichtet. Dass diese
        Sicherheit nicht selbstverständlich ist, machen uns die
        vielen aktuellen Krisen in der Welt wieder einmal deut-
        lich bewusst. Dieser Linie bleibt die Große Koalition
        selbstverständlich treu, auch wenn die Fraktion der Lin-
        ken einen anderen Eindruck zu vermitteln versucht.
        Zu guter Letzt sei mir noch einmal ein Verweis auf
        die Geschichte erlaubt – diesmal auf die 150-jährige Ge-
        schichte der SPD. Dieser lange Zeitraum hat gezeigt,
        dass sich die SPD bezüglich unserer freiheitlich-demo-
        kratischen Grundordnung nicht belehren lassen muss –
        schon gar nicht von Abgeordneten der Linken, die das
        gleiche über die eigene Geschichte wohl kaum behaup-
        ten können. In der DDR hätte sich jeder mit einem sol-
        chen Antrag, wie Sie ihn hier vorlegen, ganz sicher vor
        Beamten der Stasi wiedergefunden. Zum Glück ist das
        heute nicht mehr so.
        Dr. André Hahn (DIE LINKE): Geheim arbeitende
        Dienste, die einer Regierung unterstehen, sind ganz of-
        fenkundig das Gegenteil von Transparenz. Transparenz
        politischer Entscheidungen und eine wirksame parla-
        mentarische Kontrolle sind jedoch wiederum Grundfes-
        ten demokratischer Staaten.
        Der vorliegende Antrag der Linken beinhaltet daher
        im Kern zwei Punkte: Zum einen wollen wir einen Bun-
        destagsbeschluss herbeiführen, dass die pauschale Mög-
        lichkeit der Flexibilisierung der Haushaltsmittel – anders
        als von der Koalition offenbar beabsichtigt – für die Etats
        der Nachrichtendienste nicht zur Anwendung kommt. Und
        zweitens sind wir der Ansicht, dass die Haushalte der Ge-
        heimdienste nicht länger hinter den verschlossenen Türen
        des sogenannten Vertrauensgremiums verhandelt werden
        sollen, sondern wie die Etats der anderen Sicherheitsbe-
        hörden öffentlich in den Parlamentsausschüssen, und mit
        der entscheidenden Abstimmung letztlich auch hier im
        Plenum des Bundestages beschlossen werden müssen.
        Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, wie pro-
        blematisch das Agieren der Geheimdienste ist, dann ha-
        ben ihn die jüngsten Presseveröffentlichungen über den
        angeblich oder tatsächlich geplanten millionenschweren
        Ankauf von Software-Sicherheitslücken durch den BND
        auf dem Schwarzmarkt geliefert.
        Was da beabsichtigt wird, ist politisch völlig indisku-
        tabel und auch rechtlich höchst fragwürdig. Ich könnte
        dazu jetzt noch sehr viel mehr sagen, will aber ange-
        sichts der leider eng begrenzten Redezeit nur eine kurze
        Passage eines Kommentars von Hans Leyendecker in
        der Süddeutschen Zeitung zitieren. Er sagt zu den Plänen
        des BND: „Das ist keine gute Idee. Die Frage nach der
        Relation von Kosten, Nutzen und Schaden drängt sich
        auf. Wer sich in solchen Märkten tummelt, treibt die
        Preise hoch. Davon können Online-Kriminelle profitie-
        ren und mehr Schwachstellen zum Verkauf erzeugen.
        Die Dienste müssen Bürger und Wirtschaft vor Schaden
        bewahren. Sie sollen Sicherheitslücken transparent ma-
        chen und keine neuen schaffen.“ Genau diese Position
        vertreten auch wir.
        Und genau deshalb haben wir auch ein Problem mit
        der beabsichtigten Flexibilisierung der Haushaltsmittel,
        die nach dem Willen der Bunderegierung mit dem Wirt-
        schaftsplanentwurf für 2015 erstmals auch für die Ge-
        heimdienste zur Anwendung kommen soll.
        Die Einräumung weitestgehender Deckungsmöglich-
        keiten leistet einen wesentlichen Beitrag zur vereinfach-
        ten Mittelverschiebung und Verschleierung von über-
        planmäßigen Ausgaben bei flexibilisierten Titeln – auf
        diese Weise wird der praktische Haushaltsvollzug deut-
        lich erleichtert und die Regierung in die aus ihrer Sicht
        komfortable Lage versetzt, ihre Ausgaben schnell und
        unbürokratisch an ihre eigenen Entscheidungsprozesse
        anzupassen. Bezogen auf die Nachrichtendienste wollen
        wir als Linke das ganz ausdrücklich nicht.
        Wegen der Geheimhaltungsbestimmungen muss ich
        ja immer ein wenig vorsichtig sein und will deshalb nur
        ganz allgemein formulieren: Es kann doch nicht sein,
        dass Gelder, die eigentlich für die Bezahlung von Mitar-
        beiterinnen und Mitarbeitern der Dienste vorgesehen
        sind, aufgrund unbesetzter Stellen plötzlich womöglich
        zur Erhöhung der Prämien für die dubiosen V-Leute ein-
        gesetzt werden oder ungeplant frei zur Verfügung ste-
        hende Mittel für die Verbesserung der Spionageabwehr
        gegen die Ausspähung deutscher Bürgerinnen und Bür-
        ger, zum Beispiel durch die NSA, unter Umgehung des
        Parlamentarischen Kontrollgremiums und des Vertrau-
        ensgremiums vielleicht für den Kauf neuer Überwa-
        chungstechniken eingesetzt werden, die im Zweifel auch
        gegen die eigene Bevölkerung zur Anwendung kommen
        könnten.
        Die Lockerung des Grundsatzes der sachlichen Bin-
        dung von Haushaltsmitteln, wodurch die Voraussetzun-
        gen geschaffen werden, im Haushaltsvollzug eigene
        Schwerpunkte zu setzen, eigenmächtig Ressourcen zu
        verlagern und Ausgaben in priorisierten Bereichen zu
        verstärken, ist gerade im Bereich der Nachrichtendienste
        mehr als problematisch und sollte deshalb unterbleiben.
        Sieht man diese gravierenden Änderungen und die
        daraus resultierenden Einbußen hinsichtlich der parla-
        mentarischen Kontroll- und Steuerungsfunktion vor dem
        Hintergrund der politisch-gesellschaftlichen Erschütte-
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2014 6305
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        rungen der letzten zwei bis drei Jahre – Stichworte NSU/
        V-Männer, NSA, Datenlecks in allen kommerziellen Be-
        reichen – und nimmt dazu die von der Regierung ange-
        kündigten und zum Teil sogar bereits umgesetzten Groß-
        projekte und Maßnahmen wie die Strategische Initiative
        Technik mit einem finanziellen Volumen von 300 Mil-
        lionen Euro, das IT-Sicherheitsgesetz, die faktische Aus-
        trocknung des aus dem BMI herausgenommenen BfDI
        und die organisatorischen Änderungen in den Behörden
        – Stichwort: Aufbau EFI –, zeichnet sich eine ziemlich
        bedrohliche Schwerpunktsetzung ab.
        Obwohl – wie wir erst heute wieder im NSA-Untersu-
        chungsausschuss feststellen mussten – massiver Rechts-
        bruch des BND mittlerweile offenkundig ist und wir le-
        diglich noch nicht genug über sein tatsächliches Ausmaß
        wissen, verfolgt die Bundesregierung konsequent nur ein
        Konzept, nämlich das der Ausweitung der Aktivitäten
        deutscher Nachrichtendienste im In- und Ausland.
        Die Anwendung des Instruments der Flexibilisierung
        auf die Haushalte der Geheimdienste erhöht die Gefahr
        des unkontrollierten und immer unübersichtlicheren Mit-
        teleinsatzes durch diese.
        Dem wollen wir entgegentreten und bitten um Zu-
        stimmung zu unserem Antrag.
        Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Keine
        Frage, auch wir finden die derzeitige Haushaltskontrolle
        unserer Nachrichtendienste sehr unbefriedigend. Daher
        danke ich den Kolleginnen und Kollegen von den Lin-
        ken, dass sie mit ihrem Antrag dieses wichtige Thema
        auf die Tagesordnung des Plenums gesetzt haben.
        Im Bereich der Nachrichtendienste müssen der Grund-
        rechtsschutz und die Sicherheit in einem ausgewogenen
        Verhältnis stehen. Aufgrund der Gesetzgebungs- und
        Kontrollkompetenz des Bundestages über die Nachrich-
        tendienste ist eine enge Kooperation der parlamentari-
        schen Kontrollorgane dringend erforderlich. Ich sehe
        hier noch Nachholbedarf. Und ich wundere mich, warum
        wir nicht bei besonderen Projekten als Parlamentarisches
        Kontrollgremium und Vertrauensgremium auch mal zu-
        sammen tagen. Denn die Kontrolle der Nachrichten-
        dienste ist bei weitem nicht trivial, daher sollte es oberste
        Priorität der parlamentarischen Kontrollorgane sein, in
        diesem Themenbereich zu einer ausgewogenen Ent-
        scheidungsgrundlage zu kommen. Vor dem Hintergrund
        der Auseinandersetzung um die Snowden-Enthüllungen
        gibt es bei der Bevölkerung und in der öffentlichen
        Wahrnehmung Zweifel, wie gut wir überhaupt mit unse-
        rer Kontrolle sind. Das hat auch damit zu tun, dass die
        technischen Weiterentwicklungen das Verhältnis zwi-
        schen Grundrechtschutz und der Tätigkeit der Nachrich-
        tendienste komplizierter machen und zudem mit einer
        hohen zeitlichen Dynamik versehen. Darüber hinaus sind
        auch die Erkenntnisse aus dem NSU-Untersuchungsaus-
        schuss und die Erfahrungen aus dem laufenden NSA-
        Ausschuss eine Aufforderung an uns Parlamentarier,
        unsere Kontrollfähigkeiten bestmöglich weiterzuentwi-
        ckeln und anzupassen.
        Angesichts der steigenden fachlichen und technologi-
        schen Komplexität dieses Bereiches ist dies nicht immer
        leicht. Ein Beispiel bietet die aktuelle Berichterstattung
        über einen möglichen digitalen Fähigkeitsausbau der
        Nachrichtendienste. In einer solchen Diskussion sind die
        parlamentarischen Kontrollgremien aufgefordert, nicht
        nur sicherheitspolitische und haushälterische Argumente
        abzuwägen, sondern immer auch sofort an den Daten-
        schutz der Bevölkerung zu denken. Deswegen sind wir
        davon überzeugt und hielten für richtig, die Bundesbe-
        auftragte für den Datenschutz um ein Gutachten zu bit-
        ten, wenn der Fähigkeitsausbau der Nachrichtendienste
        erörtert wird. Diese Möglichkeit steht uns nach dem
        Bundesdatenschutzgesetz zu: Laut § 26 Absatz 2 des
        Bundesdatenschutzgesetzes kann der Deutsche Bundes-
        tag die Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die
        Informationsfreiheit ersuchen, ein Gutachten zu erstellen
        oder Berichte zu erstatten. Dies ist eine wichtige Mög-
        lichkeit, die Wahrnehmung unserer Kontrollaufgaben zu
        optimieren, die wir gerade jetzt auch nutzen sollten.
        An dieser Stelle sei mir ein kleiner Exkurs erlaubt, da
        zeitgleich zu dieser Debatte der Haushaltsausschuss in
        seiner Bereinigungssitzung tagt. Der Datenschutz hat in
        den letzten Jahren aufgrund neuer technischer Möglich-
        keiten sehr stark an Bedeutung gewonnen. Die Ausstat-
        tung der Landes- und Bundesdienststellen für Daten-
        schutz wird dieser Bedeutung noch nicht gerecht. Ein
        angemessener Datenschutz braucht auch die entspre-
        chende Personalstärke und Sachmittelfinanzierung. Wir
        Grüne haben daher beantragt, in den Haushalt 2015
        2 Millionen Euro mehr Mittel für den Datenschutz ein-
        zustellen.
        Die Haushaltskontrolle von Nachrichtendiensten liegt
        auf dem sehr schmalen Pfad des aus Sicherheitsgründen
        gebotenen Schutzes nachrichtendienstlicher Tätigkeiten
        und der Einhaltung der Bürgerrechte. Ich finde, dass in
        dem Antrag der Linken, insbesondere in dem Punkt fünf,
        die Probleme gut analysiert sind, allerdings glaube ich,
        dass die Folgerungen nicht optimal sind: Die Kritik an
        der sicherlich nicht unproblematischen Flexibilisierung
        und Ausweitung der Deckungsmöglichkeiten hat ihre
        Berechtigung und ist wichtig – aber das alles pauschal
        auszuschließen, halte ich doch für über das Ziel hinaus-
        geschossen. Und was die Quasiveröffentlichung der
        Haushalte angeht, bin ich mir auch nicht sicher, ob das
        unter sicherheitspolitischen Gesichtspunkten nicht auch
        zu einseitig ausgelegt ist.
        Vielmehr ist die richtige Maßnahme, unsere eigenen
        parlamentarischen Kontrollmechanismen intensiver wahr-
        zunehmen. Die Möglichkeiten hierfür habe ich oben be-
        schrieben; hierzu zählt eine verstärkte Zusammenarbeit
        der parlamentarischen Kontrollgremien, die Hinzunahme
        externer Beratung zum Beispiel durch die Datenschutz-
        beauftragte in fachlich oder technisch komplexen Frage-
        stellungen und, hier stimme ich mit der Linken überein,
        mehr Transparenz. Inspiration für eine höhere Transpa-
        renz in der Haushaltskontrolle können wir ganz gezielt
        auch in der Praxis anderer Parlamente suchen, zum Bei-
        spiel der des amerikanischen Kongresses.
        6306 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2014
        (A) (C)
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        An einer transparenten Haushaltskontrolle der Nach-
        richtendienste werden wir intensiv weiterarbeiten und,
        ich hoffe, auch hier im Parlament Mitstreiter finden.
        Anlage 3
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung der Beschlussempfehlungen und
        Berichte:
        – Gute Arbeit weltweit – Verantwortung für
        Produktion und Handel global gerecht wer-
        den
        – Sozial-ökologischen Rahmen für die Aktivi-
        täten transnationaler Unternehmen schaffen
        und durchsetzen
        (Tagesordnungspunkt 15)
        Dr. Georg Kippels (CDU/CSU): Vor zwei Wochen
        war ich in Indien. Dort hatte ich die Gelegenheit, meh-
        rere Tage die Arbeit in einer Textilfabrik hautnah zu
        erleben. Im Rahmen des Programms habe ich auch den
        Arbeits- und den Familienalltag mit einem Arbeiter und
        seinen Angehörigen geteilt. Ich habe Menschen in ihrem
        realen Umfeld erlebt, die mit ihrer Arbeit ihre bescheide-
        nen Bedürfnisse befriedigen, aber auch Wünsche und
        Zukunftsträume verbinden. Das Unternehmen lag mit
        seinen Arbeitsbedingungen schon sehr nah an unseren
        Vorstellungen von guter Arbeit, war also ein Vorzeige-
        unternehmen, wenngleich auch noch deutlich Verbesse-
        rungsbedarf zu erkennen war. Nichtdestotrotz macht
        einem eine solche Erfahrung noch einmal besonders ein-
        drücklich klar, wie eng das Lebensglück der Arbeiter in
        einer solchen Produktionsstätte mit den dort umgesetz-
        ten Richtlinien zusammenhängt. Eingehaltene Arbeits-
        normen plus existenzsichernder Lohn gleich menschen-
        würdiges Leben. So einfach scheint die Rechnung dann
        zu sein, doch die Realität ist komplexer. Diesem Ansin-
        nen tragen wir mit unserem Antrag gerade Rechnung.
        Die Welt ist so nah zusammengerückt. Vor 30 Jahren
        waren uns die Arbeiter im entlegenen Asien noch so
        fern. Heute können wir die Augen nicht mehr so einfach
        vor dem Schicksal dieser Menschen verschließen. Und
        das wollen wir auch nicht mehr. Wir wollen die Welt ein
        Stück weit fairer machen. Wir nehmen das Schicksal der
        Textilarbeiterinnen in Bangladesch ernst. Wir nehmen
        unsere Verantwortung für eine Verbesserung ihrer
        Arbeitsbedingungen ernst. Aber wir müssen uns auch
        darüber im Klaren sein, dass das Vorhandensein von
        Arbeitsplätzen in Entwicklungs- und Schwellenländern
        selbst keineswegs eine Selbstverständlichkeit ist. Auch
        dies müssen wir im Auge behalten. Menschen müssen
        von ihrem Lohn existieren können, ihre Kinder zur
        Schule schicken können und auch Rücklagen bilden
        können. Es braucht dabei nicht viel, um faire Löhne
        durchzusetzen. Der Unterschied kann bei 2 Cent liegen.
        Das erläuterte Minister Müller bei der ersten Beratung
        dieses Antrags. Aber es muss auch sichergestellt sein,
        dass dieser Mehrwert beim Arbeiter an der Maschine
        ankommt. Und dies ist im Rahmen der vertraglichen
        Gestaltungskompetenzen der jeweiligen Vertragsstufe
        wesentlich leichter gesagt als getan.
        Lassen Sie mich die Kernelemente des Antrags dar-
        stellen: Erstens. Beachtung der Menschenrechtskonven-
        tionen und der internationalen Sozial- und Umweltstan-
        dards. Zweitens. Durchgängige Beachtung der deutschen
        arbeitsrechtlichen und kollektivrechtlichen Standards bis
        in das letzte Glied der Produktionskette. Drittens. Trans-
        parenz des weltweiten Handels. Viertens. Das Merkmal
        der „Guten Arbeit“ im Sinne sozialer Nachhaltigkeit bei
        internationalen Großereignissen. Fünftens. Rückblickend
        die Durchsetzung der Entschädigung gegenüber den ver-
        antwortlichen Importeuren für das erlittene Unrecht aus
        Rana Plaza.
        Um diese Ziele aber zu erreichen, bedarf es des Zu-
        sammenspiels einer Reihe von Faktoren. International
        agierende Unternehmen müssen die Wahrung der aner-
        kannten Arbeitsnormen in ihren Produktions- und Lie-
        ferketten durchsetzen. Hier ist der Faktor Wirtschafts-
        macht gefordert. Die Konsumenten müssen sich ihrer
        Verantwortung bewusst werden. Ich sehe es auch als
        Aufgabe der Politik, bei den Bürgerinnen und Bürgern
        Bewusstsein zu schaffen für die Herkunft der Produkte,
        die sie kaufen – egal ob T-Shirt oder Kaffee. Hier geht es
        dann um die moralische Verantwortung. Nur mit dem
        Bewusstsein der Konsumenten kann sich das Kaufver-
        halten nachhaltig ändern. Wir dürfen die Verantwortung
        nicht nur bei den Unternehmen sehen, sie liegt genauso
        beim Verbraucher, und nicht zuletzt natürlich bei den
        Produktionsländern selbst. Auch sie müssen den Spagat
        zwischen Ankurbelung ihrer Wirtschaft und Ausbeutung
        der eigenen Bevölkerung in den Griff bekommen. Hier
        können wir aber schlussendlich nur sensibilisierend tätig
        werden, weil die Gesetzgebung und deren Inhalte nicht
        unserer direkten Einflussnahme unterliegen. Es muss
        aber auch für die Entwicklungs- und Schwellenländer
        eine Frage der internationalen Akzeptanz sein, ihre Bür-
        gerinnen und Bürger von Unrecht und Schaden in der
        Arbeitswelt zu schützen. An dieser Stelle bekommt die
        internationale politische Einflussnahme ihre entschei-
        dende Rolle.
        Sehen wir uns hierzu das Beispiel Bangladesch an.
        Seit dem tragischen Zusammensturz des Rana-Plaza-
        Fabrikgebäudes in Dhaka hat sich in Bangladesch eini-
        ges getan. Ein neues Arbeitsgesetz wurde verabschiedet,
        und Fabrikgebäude wurden vielerorts überprüft sowie
        Verbesserungen durchgeführt. Für eine langfristige
        Veränderung bildet die deutsche Entwicklungszusam-
        menarbeit neu eingestellte staatliche Inspektoren aus.
        Die deutsche EZ berät staatliche Stellen, Unternehmen
        sowie ihre Belegschaften insbesondere im Hinblick auf
        Sozial- und Umweltstandards. Der Textilsektor und die
        Einhaltung nationaler Arbeits- und Umweltgesetze
        sowie internationaler Sozial- und Umweltstandards ste-
        hen hierbei im besonderen Fokus. So konnten bislang
        über ein TZ-Programm seit 2010 direkt mehr als
        200 000 Arbeiterinnen und Arbeiter, Manager und Fa-
        brikbesitzer entsprechend erreicht und geschult werden.
        Durch den persönlichen Einsatz von Herrn Parlamentari-
        schen Staatssekretär Fuchtel aus dem Entwicklungsmi-
        nisterium gewinnt der Prozess an zusätzlicher Dynamik.
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2014 6307
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        So wurde mit der bangladeschischen Regierung die wei-
        tere deutsche Unterstützung für lokale Textilunterneh-
        men bei der Etablierung einer transparenten Lieferkette
        vorbesprochen. Entsprechende Mittel wurden anlässlich
        der Regierungsverhandlungen vom 3. November zuge-
        sagt. Man sieht, dass der Boden bereitet ist, es muss aber
        noch gesät und gedüngt werden. „Gute Arbeit“ muss
        zum internationalen Wert werden.
        Die Schwellen- und Entwicklungsländer brauchen die
        Chancen der Globalisierung für ihre Entwicklung und
        ihr Wachstum. Sie brauchen aber auch faire Rahmen-
        bedingen vor Ort, um von ihnen profitieren zu können.
        Wir müssen die entscheidenden Impulse setzen, aber die
        Umsetzung kann dann nur im eigenen System erfolgen.
        Und damit komme ich zu Ihnen, verehrte Kolleginnen
        und Kollegen der Opposition. Ja, die Produktions- und
        Lieferketten von international agierenden Unternehmen
        sind zunehmend global verzweigt. Ja, die Arbeitsbedin-
        gungen in vielen Produktionsstätten der Entwicklungs-
        und Schwellenländer sind derzeit inakzeptabel. Aber,
        verehrte Kolleginnen und Kollegen der Grünen, „Gute
        Arbeit“ lässt sich nicht durch Ideologie oder Wirt-
        schaftsfeindlichkeit erreichen. Deutsche Unternehmen
        sind keine Monster, denen es entgegenkommt oder je-
        denfalls vollkommen gleichgültig ist, wenn ihre Töchter
        und Zulieferer Menschenrechte verletzen und Sozial-
        und Umweltstandards missachten. Wirtschaft ist keines-
        wegs gewissenlos. Pauschalierung und Polarisierung ist
        der falsche Weg. Es ist nicht zielführend, und meine
        persönliche Erfahrung ist auch eine andere. Sowohl die
        Beobachtungen auf meiner Reise als auch meine Gesprä-
        che haben mir Akteure gezeigt, die sich in höchstem
        Maße dafür engagieren, dass ihre Zulieferunternehmen
        den Werten guter Arbeit entsprechen. Es werden auf-
        wendige Audits durchgeführt und auch Know-how ver-
        mittelt, um die Missstände abzustellen. Dies geschieht
        aber in der Regel lautlos und effektiv. Die Zahl dieser
        Beispiele ist aber leider noch viel zu gering und muss
        deshalb dringend gesteigert werden.
        Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen der
        Opposition, die Katastrophe von Rana Plaza im letzten
        Jahr hat auch mich nachhaltig erschüttert. Keinen
        Menschen können solche Tragödien unberührt lassen.
        Strafrechtliche Sanktionen und Zwang sind aber keine
        geeigneten Mittel für wirtschaftliche Zusammenarbeit.
        Die Diskussion im Zusammenhang mit dem Textilbünd-
        nis hat gezeigt, dass sich die Wirtschaft ihrer – auch in-
        ternationalen – Verantwortung sehr wohl bewusst ist und
        auch die Bereitschaft besteht, sich der Aufgabe zu stel-
        len. Allerdings müssen wir auch daran arbeiten, dass un-
        sere Unternehmen geeignete Mittel an die Hand bekom-
        men, mit denen sie zuverlässig ihrer Aufsichtspflicht
        gerecht werden können. Denn nicht jedes Unternehmen
        hat die internationalen Erfahrungen und Kontakte, die
        lokalen Verhältnisse ausreichend zu durchleuchten. Im
        Rana Plaza gab es auch zahlreiche Zertifikate, die ein-
        fach nur gekauft waren. Die Kontrollverfahren müssen
        belastbar und zuverlässig sein, bevor sie mit Sanktionen
        belegt werden können.
        Dies setzt voraus, dass in den Entwicklungsländern
        die gesellschaftlichen, sozialen und ebenso ordnungs-
        behördlichen Rahmenbedingungen so entwickelt und an-
        gepasst werden, dass ein Umfeld geschaffen wird, in
        dem die Werte der „Guten Arbeit“ überhaupt real umge-
        setzt werden können. Dazu gehört ebenso der Respekt
        vor dem Mitmenschen wie die Beachtung technischer
        Sicherheitsstandards. Die notwendigen Normierungen
        sind in der Verantwortung der lokalen Regierungen und
        politischen Kräfte. Wirtschaftsunternehmen können
        lediglich Impulse geben und innerhalb ihrer Vertrags-
        beziehungen Regelungen treffen. Dies reicht aber für
        eine grundlegende Verbesserung der Arbeits- und Le-
        benssituationen nicht aus. Natürlich darf und muss die
        wirtschaftliche Macht des Einkäufers zur Durchsetzung
        der Standards eingesetzt werden. Wir haben aber auch in
        den Gesprächen mit den Interessenvertretern der Arbei-
        ter der betroffenen Länder die Bitte vernommen, keine
        umfassenden Wirtschaftsboykotts durchzuführen, um
        den Menschen nicht sofort das Einkommen und damit
        die Lebensgrundlage zu entziehen. Dies macht die Aus-
        wahl der Handlungsoptionen besonders schwierig und
        besonders verantwortungsvoll. Hier ist die sensibilisierte
        und motivierte Wirtschaft der bessere Partner als vorver-
        urteilte Akteure.
        Der neue Weg muss gemeinsam und entschlossen
        beschritten werden. Den Wegweiser hierzu liefert der
        Antrag, ausgewogen und nachhaltig, umfassend und
        fundiert – und deshalb erfolgversprechend. Geben Sie
        daher für „Gute Arbeit“ den Startschuss. Geben Sie dem
        Antrag Ihre Zustimmung.
        Dr. Bärbel Kofler (SPD):
        1. Jeder hat das Recht auf Arbeit, auf freie Berufs-
        wahl, auf gerechte und befriedigende Arbeitsbedin-
        gungen sowie auf Schutz vor Arbeitslosigkeit.
        2. Jeder, ohne Unterschied, hat das Recht auf glei-
        chen Lohn für gleiche Arbeit.
        3. Jeder, der arbeitet, hat das Recht auf gerechte und
        befriedigende Entlohnung, die ihm und seiner Fa-
        milie eine der menschlichen Würde entsprechende
        Existenz sichert, gegebenenfalls ergänzt durch an-
        dere soziale Schutzmaßnahmen.
        4. Jeder hat das Recht, zum Schutz seiner Interessen
        Gewerkschaften zu bilden und solchen beizutreten.
        Das ist Artikel 23 der Allgemeinen Erklärung der
        Menschenrechte der Vereinten Nationen vom Dezember
        1948.
        Leider sieht die Realität auch 66 Jahre später noch oft
        anders aus. Hundert Millionen Frauen, Männer und Kin-
        der arbeiten unter lebensgefährlichen Bedingungen, ob
        als Quasileibeigene auf Plantagen in Lateinamerika, in
        von Quecksilber verseuchten Bergwerken in Afrika oder
        in einsturzgefährdeten Textilfabriken in Asien. Allein in
        Asien nähen 15 Millionen Menschen Bekleidung, oft un-
        ter unwürdigen und gefährlichen Bedingungen. Sie er-
        halten dafür einen Lohn, der kaum zum Leben für sie
        und ihre Familien reicht.
        Ich habe erst vor kurzem auf einer Indienreise zum
        Thema „Internationale Normen für Gute Arbeit im Tex-
        6308 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2014
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        tilsektor – Herausforderungen für die Akteure entlang
        der Wertschöpfungskette“ Kontakt mit Textilarbeiterfa-
        milien gehabt und auch einige Tage bei ihnen gelebt.
        Klar ist, dass zwei Akteure gefordert sind, um eine wirk-
        same Verbesserung zu erreichen. Zum einen müssen in-
        ternationale Einkäufer entsprechende Preise bezahlen,
        sodass existenzsichernde Löhne gezahlt werden können,
        zum anderen brauchen wir in den Ländern eine Arbeits-
        gesetzgebung, die es ermöglicht, dass die Arbeitneh-
        merinnen und Arbeitnehmer auch von den höheren Prei-
        sen profitieren.
        Am Beispiel meiner Indienreise kann man die grund-
        sätzliche Problematik deutlich machen, dass in vielen
        Ländern existenzsichernde Löhne fehlen. Auch wenn es
        wie in Indien auf der Ebene der Bundesstaaten Mindest-
        löhne gibt, reichen diese in der Regel nicht aus. Daher
        werden dringend handlungsfähige Gewerkschaften ge-
        braucht, die sich in Verhandlungen mit den Arbeitgebern
        dafür einsetzen könnten, dass die Arbeitnehmerinnen
        und Arbeitnehmer von ihrem Verdienst auch leben kön-
        nen. Mitglieder von Gewerkschaften werden von Betrie-
        ben derzeit oft gar nicht eingestellt. Konkret an diesem
        Beispiel zeigt sich, wie wichtig eine Umsetzung der
        ILO-Kernarbeitsnormen für die Beschäftigten weltweit
        ist. Diese Normen beinhalten für die Mitgliedstaaten der
        ILO unter anderem das Recht auf Vereinigungsfreiheit,
        das Recht auf Gründung von Gewerkschaften, die Besei-
        tigung der Diskriminierung im Arbeitsleben und das Ziel
        von gleichem Lohn für gleiche Arbeit von Frauen und
        Männern. Als Sozialdemokratin und Gewerkschaftsmit-
        glied ist für mich eine Grundvoraussetzung für men-
        schenwürdige Arbeit, dass sich die Arbeitnehmervertre-
        ter in allen Ländern für die Rechte der Beschäftigten vor
        Ort einsetzen können und dies auch tun.
        Um die katastrophalen Zustände in der Arbeitswelt
        wirksam zu verbessern, ist unser Antrag zur Guten Ar-
        beit weltweit, den wir heute abschließend beraten, ein
        erster, aber wichtiger Schritt. Er greift ein Kernanliegen
        sozialdemokratischer Politik auf; daher war es mir ein
        besonderes Anliegen, dass wir ihn als ersten Aufschlag
        noch in diesem Jahr in den Deutschen Bundestag ein-
        bringen und die Punkte klar benennen, wie wir zu mehr
        Verantwortung für Produktion und Handel in unserer
        globalisierten Welt kommen.
        Damit setzen wir auch ein Wahlversprechen um. In
        unserem Wahlprogramm 2013 hat die SPD eine gesetzli-
        che Verankerung der Sorgfaltspflicht von Unternehmen
        gefordert, um von der Rohstoffgewinnung bis zum ferti-
        gen Produkt menschenrechtliche, soziale und ökologi-
        sche Standards für die Arbeits- und Produktionsbedin-
        gungen zu verankern. In den Koalitionsverhandlungen
        haben wir uns für eine Umsetzung der UN-Leitprinzipien
        für Wirtschaft und Menschenrechte und einen entspre-
        chenden nationalen Aktionsplan stark gemacht. Damit
        stehen wir im Wort, der Forderung des UN-Menschen-
        rechtsrats, der EU-Kommission und zahlreicher NGOs
        nach verbindlichen Regelungen nachzukommen und
        nicht – wie die letzte Bundesregierung – einseitig auf
        freiwillige Initiativen der Unternehmen zu setzen.
        Es geht bei allen anstehenden Entscheidungen, sei es
        der staatlichen und privaten Wirtschafts- und Handels-
        kooperation mit Entwicklungs- und Schwellenländern,
        den aktuellen EU-Richtlinien und Verordnungen zu Kon-
        fliktmineralien und CSR oder einem Textilsiegel im
        Kern um die Frage, ob das bisherige Prinzip der Frei-
        willigkeit weiter bestehen bleibt oder ob verbindliche
        Regelungen getroffen werden. Hierzu muss die Bun-
        desregierung eine zwischen den beteiligten Ressorts ab-
        gestimmte Haltung entwickeln und Möglichkeiten auslo-
        ten, wie wir zu Verbindlichkeit kommen können.
        Zu unserem Antrag konkret: Die Produktions- und
        Lieferketten von international agierenden Unternehmen
        sind, wie wir alle wissen, zunehmend global verzweigt
        und durch internationale Arbeitsteilung gekennzeichnet.
        Viele multinationale Unternehmen haben sich selbst einer
        verantwortungsvollen Unternehmensführung verpflichtet,
        der sogenannten CSR, und legen über die ökologischen, so-
        zialen, menschenrechtlichen und ökonomischen Auswir-
        kungen ihrer Geschäftstätigkeit Nachhaltigkeitsberichte
        vor. Das begrüße ich. Auf europäischer Ebene sind wir
        jetzt ein ganzes Stück weitergekommen mit der Ende
        September vom Europäischen Rat angenommene EU-
        Richtlinie, die eine verpflichtende CSR-Berichterstat-
        tung für Unternehmen mit mehr als 500 Beschäftigten
        vorsieht. Die Umsetzung in nationales Recht wird jetzt
        angegangen. Hier müssen wir ein klares Zeichen für
        mehr Verbindlichkeit setzen.
        Zur Frage einer verbesserten Unternehmensverant-
        wortung gehört aber auch, dass die Vorreiterunterneh-
        men im Wettbewerb mit denjenigen stehen, die hohe so-
        ziale Standards nicht einhalten und dadurch Kosten
        sparen. Hier hat der Einsturz des Fabrikkomplexes Rana
        Plaza in Bangladesch im Jahr 2013 wieder gezeigt, dass
        es in einigen Entwicklungsländern Probleme mit der
        staatlichen Schutzpflicht gibt und dass einige multinatio-
        nal agierende Unternehmen ihrer sozialen Verantwortung
        und Sorgfaltspflicht für ihre Lieferkette nicht nachkom-
        men. Lohndumping, Zwangs- und Kinderarbeit, Diskri-
        minierung von Frauen und Minderheiten, unmenschliche
        Arbeitsbedingungen, Organisationsverbote und gravie-
        rende Mängel bei der Sicherheit am Arbeitsplatz prägen
        die Arbeitsbedingungen in vielen Fabriken. Die Verant-
        wortung für die Einhaltung international vereinbarter
        Arbeitsbedingungen und Arbeitnehmerrechte liegt so-
        wohl bei den Unternehmen als auch bei den Regierungen
        und Parlamenten der jeweiligen Länder, welche die
        rechtlichen Rahmenbedingungen zu schaffen und durch-
        zusetzen haben.
        Mit unserem Antrag „Gute Arbeit weltweit – Verant-
        wortung für Produktion und Handel global gerecht wer-
        den“ wollen wir erreichen, dass sich die Bundesregierung
        entsprechend dem Koalitionsvertrag für die Transparenz
        von Lieferketten und die Einhaltung völkerrechtlich ver-
        pflichtender Konventionen einsetzt. Dazu gehört auch,
        dass die Bundesregierung die hier ansässigen Unterneh-
        men, die in den zusammengestürzten Textilfabriken in
        Bangladesh produzieren ließen, auffordert, endlich ihren
        Anteil an Entschädigung der Opfer in den ILO-verwalte-
        ten Fonds zu zahlen.
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2014 6309
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        Mit unserem Antrag fordern wir die Regierung des
        Weiteren auf, Transparenz und international vereinbarte
        Konventionen weiterhin national und international zu
        stärken, was einfach zugängliche Beschwerdemöglich-
        keiten bei der Verletzung dieser Rechte und Standards
        zum Beispiel über die Nationale Kontaktstelle, OECD,
        beinhaltet. Hierzu gehören Transparenz im Rohstoffhan-
        del entsprechend den EU-Richtlinien und EITI-Verein-
        barungen sowie die Einhaltung der Standards bei Vorbe-
        reitung, Auftragsvergabe und Durchführung sportlicher
        Großveranstaltungen.
        Die Bundesregierung soll sich aber auch vor dem
        Hintergrund der aktuellen Diskussion bei der ILO dafür
        einsetzen, dass das Streikrecht als wichtiger Bestandteil
        der Vereinigungsfreiheit international weiterhin aner-
        kannt wird. Auch das ist ein Auftrag der eingangs ge-
        nannten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der
        Vereinten Nationen.
        In den vergangenen Wochen habe ich viele Gespräche
        mit Kolleginnen und Kollegen der beteiligten Ressorts
        Wirtschaft, Justiz, Arbeit und Soziales und Menschen-
        rechte geführt und unser Anliegen für verbindliche so-
        ziale, ökologische und menschenrechtliche Standards
        auch den zuständigen Ministerinnen und Ministern ge-
        schildert. Diese vielen Gespräche stimmen mich opti-
        mistisch, dass nicht nur unser Antrag gut ankommt, son-
        dern das Thema ernst genommen wird.
        Ich sehe eine große Chance darin, dass wir im nächs-
        ten Jahr, dem Europäischen Jahr der Entwicklung, The-
        men auf die Agenda des G-7-Gipfels unter deutscher
        Präsidentschaft setzen können, die unserem Anspruch an
        eine Vorreiterrolle Deutschlands endlich wieder gerecht
        werden. Das ist erstens die Frage der neuen Millen-
        niumsziele für den Prozess der Vereinten Nationen, die
        im September 2015 beschlossen werden, zweitens die
        Pariser Klimakonferenz am Ende des Jahres 2015 und
        drittens das Thema „Gute Arbeit weltweit“ und die
        Frage der Wertschöpfungskette.
        Besonders freue ich mich, dass es Bundesarbeitsmi-
        nisterin Andrea Nahles gelungen ist, ressortübergreifend
        mit dem BMZ hierzu eine Anfang 2015 stattfindende
        Veranstaltung im Vorfeld von G7 zu initiieren. Ich sehe
        das auch als Bestätigung, dass wir das Thema Gute Ar-
        beit und Wertschöpfungskette zu Recht als Schwerpunkt
        der parlamentarischen Arbeit der Arbeitsgruppe wirt-
        schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung der SPD-
        Bundestagsfraktion gesetzt haben.
        Meine Position, wie wir wirksam regieren und die Ar-
        beitsbedingungen weltweit verbessern können, ist klar:
        Wenn es – wie das Beispiel Textilbündnis zeigt – Unter-
        nehmen nicht gelingt, die Arbeitsbedingungen zu ver-
        bessern, muss der Gesetzgeber handeln. Eine freiwillige
        Verpflichtung wird nicht ausreichen. Wir brauchen ge-
        setzliche Mindeststandards.
        Die Süddeutsche Zeitung hat das am 16. Oktober
        2014 unter der Überschrift „Siegel der guten Absicht“
        auf den Punkt gebracht:
        „Erfolg versprechen einzig verbindliche Standards
        in punkto Umweltschutz und Soziales. Das ist die
        Lehre aus den vergangenen zwei Jahrzehnten, in
        denen die Politik immer wieder darauf setzte, dass
        die Unternehmen auf Willensbekundungen auch
        Taten folgen lassen. Natürlich ziehen hier einige
        Unternehmen mit, deren Geschäft dann eben darauf
        beruht, dass sie sich als soziale und grüne Unter-
        nehmen profilieren. Ansonsten hat diese Vorge-
        hensweise viel grüne PR und wenig Veränderungen
        hervorgebracht.“
        Ich möchte dabei nicht missverstanden werden. Na-
        türlich finde ich die Pioniere unter den Unternehmen
        gut, die bereits freiwillig auf menschenwürdige Arbeit
        achten und die nötigen Nachweise bringen, dass ihre
        Produkte ohne Ausbeutung oder Umweltverschmutzung
        hergestellt worden sind. Aber ich bleibe skeptisch, ob
        sich eine ganze Branche wie die Textilindustrie einfach
        von heute auf morgen umkrempeln lässt. Häufig sieht
        die Realität anders aus: Wer voranschreitet, läuft Gefahr,
        aus dem Markt gedrängt zu werden. Denn es gibt viele,
        die keine Skrupel haben, alle legalen Möglichkeiten zur
        Gewinnmaximierung auszuschöpfen. Erst wenn die öko-
        nomischen Rahmenbedingungen für alle Unternehmen
        geändert werden, herrscht wieder ein freies und faires
        Spiel der Kräfte – am besten nicht nur in Deutschland,
        sondern in der Europäischen Union und irgendwann
        weltweit.
        Die Diskussion um die geeigneten Maßnahmen für
        eine Verbesserung der weltweiten Arbeitsbedingungen
        und mehr Transparenz in den Lieferketten ist im vollen
        Gange, das hat nicht zuletzt die Eröffnungskonferenz
        des Auswärtigen Amts für den Nationalen Aktionsplan
        Wirtschaft und Menschenrechte vergangenen Donners-
        tag gezeigt. Damit startet ein auf zwei Jahre angelegter
        Arbeitsprozess unter der breiten Einbindung aller gesell-
        schaftlichen Gruppen. Ich freue mich, dass wir so viele
        engagierte und sachkundige Vertreter von Wirtschaft,
        Politik, Zivilgesellschaft, Verbänden und Wissenschaft
        zusammenbringen können, um gemeinsam unser Ziel zu
        erreichen, die UN-Leitprinzipien in Deutschland umzu-
        setzen und endlich einen Ordnungsrahmen für eine ver-
        besserte Unternehmensverantwortung im Bereich des
        Menschenrechtsschutzes zu entwickeln. Das ist Gute Ar-
        beit, ganz konkret, und sollte weiter Schule machen.
        Niema Movassat (DIE LINKE): „Wenn du nicht
        mehr weiter weißt, gründe einen Arbeitskreis“ scheint
        das Motto der Bundesregierung zu sein. Mit einem lang-
        jährigen Beratungsprozess versucht sie, dem steigenden
        Druck für gesetzliche ökologische, soziale und menschen-
        rechtliche Mindeststandards bei Geschäftstätigkeiten
        deutscher Unternehmen im Ausland etwas entgegenzuset-
        zen, ohne wirklich handeln zu müssen. Letze Woche hat
        sie deshalb im Auswärtigen Amt mit der Konferenz
        „Wirtschaft und Menschenrechte“ einen Dialogprozess
        mit Wirtschaft und Zivilgesellschaft, Wissenschaft Re-
        gierung, Verwaltung und politischen Parteien gestartet.
        Das klingt natürlich hervorragend. Nur leider erweckt es
        ein wenig den Eindruck, als sei auch genau das das pri-
        märe Ziel der ganzen Aktion: dass sie hervorragend
        klingt.
        6310 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2014
        (A) (C)
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        Bis Ende 2016 soll also in mehreren Konferenzen und
        unter Einbeziehung vieler Ministerien dem Kabinett ein
        fertiger Aktionsplan zur Abstimmung vorliegen. Anfang
        2017 wird das Kabinett diesen dann beschließen. Dann
        wird er in eine Hochglanzbroschüre gegossen. Dann
        kommt der Bundestagswahlkampf. Danach gibt es eine
        neue Bundesregierung. Die muss dann erst mal prüfen,
        wie sie zum Aktionsplan der vorherigen Bundesregie-
        rung steht. Das dürfte ungefähr so Mitte bis Ende 2018
        abgeschlossen sein.
        Ich möchte nicht alles schlechtreden: Es ist ein Fort-
        schritt, dass auch die Union im vorliegenden Bundes-
        tagsantrag ankündigt, ein Unternehmensstrafrecht we-
        nigstens zu prüfen. Es ist ein Fortschritt, dass die
        Bundesregierung das Thema Wirtschaft und Menschen-
        rechte auf so breiter Basis zur Debatte stellt. Der kon-
        krete Output für die Arbeiterinnen und Arbeiter in den
        Textilfabriken Asiens ist jedoch gleich null. Die sklavenar-
        tigen Arbeitsbedingungen sind ein dringendes Problem –
        heute! Wir können doch nicht ernsthaft die betroffenen
        Menschen damit abspeisen, dass wir sagen: „Wir haben
        das Problem nun endlich alle erkannt und arbeiten daran.
        Aber sorry, vor 2019 werden wir wohl keine gesetzli-
        chen Änderungen bei uns in die Wege leiten, die euch
        helfen könnten.“
        Es ist ja eben nicht so, dass wir es hier mit einer
        neuen Problematik zu tun hätten, dass wir erst mal Fak-
        ten sammeln, Analysen erstellen und das alles wirken
        lassen müssten. Das Thema steht seit Jahrzehnten auf
        der Tagesordnung der Zivilgesellschaft, von Gewerk-
        schaften und fortschrittlichen Organisationen. Bereits
        vor fünf Jahren, als ich in den Bundestag kam, besuchten
        mich Fischer aus Brasilien, denen Thyssen-Krupp mit
        seinem desaströsen Stahlwerkprojekt die Lebensgrund-
        lage entzogen hatte. Textilarbeiterinnen haben in Ge-
        sprächen mit mir geklagt, sie würden in Fabriken, die für
        deutsche Textilunternehmen produzieren, eingeschlos-
        sen und dürften nur einmal am Tag die Toilette aufsu-
        chen. Die EU-Kommission hat bereits im Jahr 2011 alle
        EU-Mitgliedstaaten aufgefordert, die Umsetzung der
        UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte
        des Sonderbeauftragten John Ruggie voranzutreiben.
        Das war 2011. 2014 startet die Bundesregierung einen
        Beratungsprozess, der bis 2017 andauert. Und am Ende
        wird ein Aktionsplan stehen, der völlig unverbindlich ist.
        Ich halte das ganze Projekt insgesamt deswegen lei-
        der für Augenwischerei. Sicher gibt es innerhalb der
        Union und der SPD Abgeordnete, die gesetzliche Regeln
        für deutsche Unternehmen im Ausland tatsächlich in Er-
        wägung ziehen. Entwicklungsminister Müller hat sich
        auch glaubwürdig für ambitionierte Ziele im Rahmen
        seiner Verhandlungen mit der Wirtschaft um ein Textil-
        siegel eingesetzt. Dennoch ist die Bundesregierung ins-
        gesamt weit davon entfernt, die Interessen der betroffe-
        nen Menschen in den Ländern des globalen Südens
        gegen die Profitinteressen der deutschen Wirtschaft
        durchzusetzen. Es ist sehr bedauerlich, aber freiwillig
        werden auch in Zukunft deutsche Firmen der Profitmaxi-
        mierung im Zweifel immer Vorfahrt geben. Das haben
        sie eben erst bewiesen, als sie Minister Müller kurz vor
        Abschluss des Textilsiegels mit Argumenten von vor
        15 Jahren auflaufen ließen.
        Die Zeit ist überfällig, dass die Politik ihre Aufgabe
        erfüllt und regulierend eingreift. Die Linke fordert das
        auch schon seit vielen Jahren. In der juristischen Fachde-
        batte gibt es auch bereits heute schon ausreichend Vor-
        schläge, um sofort zu handeln, nicht erst in fünf Jahren.
        Es ist sinnvoll, ein Unternehmensstrafrecht einzuführen,
        und im Zivilrecht ist es dringend nötig, Sorgfaltsanfor-
        derungen für die Tätigkeit von Unternehmen zu definie-
        ren. Im Zivilprozessrecht müssen wir dafür sorgen, dass
        die Beweislast nicht einseitig bei den Betroffenen liegt,
        die oft gar nicht nachweisen können, wie unterneh-
        mensintern gehandelt worden ist. Und natürlich müssen
        wir auch europaweit und international für verbindliche
        Standards eintreten und Klagemöglichkeiten für Betrof-
        fenen einrichten.
        Wenn wir nicht handeln, wenn wir nicht konkrete Än-
        derungen auch im deutschen Recht auf den Weg bringen,
        dann wird es weiter die massiven Menschenrechtsverlet-
        zungen gegen Arbeiterinnen und Arbeiter geben, ohne
        dass Unternehmen Konsequenzen zu befürchten haben.
        Das darf nicht länger sein. Bringen Sie also endlich den
        politischen Willen auf, liebe Kolleginnen und Kollegen
        von der CDU und SPD, konkret etwas zu ändern, statt
        weitere Jahre nur zu debattieren.
        Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das
        Thema Unternehmensverantwortung bzw. die Kontrolle
        internationaler Lieferketten ist in den vergangenen Wo-
        chen ausgiebig von uns diskutiert worden. Es wurden
        fundierte Argumente und plumpe Plattitüden ausge-
        tauscht. Kurz: Man könnte den Eindruck gewinnen, es
        sei alles gesagt. Dieser Einschätzung möchte ich ent-
        schieden widersprechen. Menschenwürdige Arbeit und
        der Schutz der Umwelt in der Lieferkette sind Problem-
        stellungen, mit denen wir uns langfristig und immer
        wieder aufs Neue intensiv befassen müssen, wenn wir
        unseren Job ernst nehmen.
        Dass hier dicke Bretter zu bohren sind bestreitet
        keiner. Lieferketten sind komplexe Gebilde. Oft wird ein
        Produkt in hunderten Arbeitsschritten, an völlig unter-
        schiedlichen Standorten, rund um den Globus verteilt,
        hergestellt. Auch die Lieferantenkette in der Textilindus-
        trie ist durchaus komplex. Allerdings ist es möglich, sie
        betriebswirtschaftlich lückenlos zu überwachen. Somit
        muss das auch in Bezug auf die Arbeitsbedingungen
        machbar sein. Außerdem hindert uns niemand daran, an
        der Spitze der Lieferkette mal anzufangen. Die ver-
        meintliche Komplexität darf nämlich nicht als Alibi die-
        nen, verantwortungsvolle Politik hier bei uns zu verhin-
        dern.
        Beim Thema Lieferkette könnte man meinen, die
        Menschen – und insbesondere die Politik – würden sich
        dafür interessieren, wie diese Lieferketten funktionieren
        und wie sie überwacht werden können. Und das tun wir
        auch. Allerdings nur an einem Ende der Lieferkette.
        Nämlich hier bei uns. Wir haben hier in der EU und in
        der Bundesrepublik unzählige Gesetze, Richtlinien und
        Bestimmungen, die garantieren sollen, dass die Pro-
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2014 6311
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        dukte, die auf unsere Märkte kommen, keine Gefahren
        für die Verbraucherinnen und Verbraucher bedeuten.
        Und das ist auch gut so. Es ist die Aufgabe des Staates,
        seine Bürgerinnen und Bürger zu schützen. Wenn man
        jetzt sagt: Warum schützen wir nur die Verbraucherinnen
        und Verbraucher, aber nicht die Arbeiterinnen und
        Arbeiter in den Produktionsländern?, wird man insbe-
        sondere von den Kollegen der CDU-Fraktion verwun-
        dert angeschaut. Das BMZ scheint hier doch deutlich
        weiter zu sein als die Bundestagsfraktion.
        Der Tenor: Wie soll das gehen? Und dann der völlig
        ernst gemeinte Vorschlag: Wir können ja mal bei den
        Unternehmen nachfragen, ob sie nicht auf freiwilliger
        Basis etwas mehr auf Mensch und Umwelt achten wol-
        len. Die Betonung liegt hier ganz klar auf „freiwillig“.
        Denn Freiwilligkeit ist das Zauberwort, wenn wir von
        höheren Produktionsstandards in Schwellen- und Ent-
        wicklungsländern sprechen. Hierzulande würde niemand
        darauf kommen, den Unternehmen auf freiwilliger Basis
        selbst zu überlassen, inwieweit sie Rücksicht auf
        Umwelt- und Sozialstandards nehmen. Die Gewinn-
        maximierungs- oder Optimierungsstrategien der Unter-
        nehmen sind an sich in Ordnung, aber nur dann, wenn
        sie sich an die Gesetze halten. Und es ist völlig klar: Die
        Wirtschaft braucht Regeln, um der Gesellschaft zu die-
        nen. Dieses Haus hat die Verpflichtung und die Möglich-
        keit, solche Regeln zu erarbeiten. Und wir sollten sie
        endlich nutzen. Wer in seiner Wirtschaftspolitik immer
        noch glaubt, dass Unternehmen von sich aus und ohne
        verbindliche Regelungen Mehrkosten zugunsten ihrer
        Arbeiterinnen und Arbeiter in Kauf nehmen oder gar
        karitative Zwecke verfolgen, verschließt sich den Reali-
        täten.
        Das Schlimme ist: Wir wissen es besser. – Um genau
        zu sein, Deutschland ist nur deshalb so erfolgreich, weil
        wir es besser wissen. Die soziale Marktwirtschaft hat
        dieses Land erfolgreich gemacht – keiner wird das be-
        streiten. Die soziale Marktwirtschaft funktionierte, weil
        sie klare Regeln hatte. Aber wir höhlen die Grundprinzi-
        pien dieses Systems immer weiter aus. Und wir verweh-
        ren anderen, auf die gleiche Art Erfolg zu haben. Wir
        pumpen Millionen in die Entwicklungszusammenarbeit,
        aber wollen unser Erfolgsrezept nicht exportieren. Das
        ist doch absurd. Glauben Sie mir: Dem armen Ludwig
        Erhard würde bei einem Blick auf die Abgeordneten-
        ränge der Union heutzutage vor Schreck die Zigarre aus
        dem Mund fallen.
        Ich appelliere daher an Sie: Verschließen sie nicht die
        Augen vor dem, was hinter den jämmerlichen Arbeitsbe-
        dingungen in den Produktionsländern steckt. Es reicht
        nicht aus, immer nur dann schockiert und betroffen zu
        sein, wenn in Bangladesch mal wieder eine Fabrik aus-
        brennt oder zusammenstürzt. Wir müssen unsere Ver-
        hältnisse hier grundlegend ändern, um die Lage der
        Menschen in Entwicklungsländern zu verbessern. Ent-
        wicklungspolitik muss Weltinnenpolitik werden. Mit Ih-
        rem Antrag wird das nicht passieren. Ich verstehe bis
        heute nicht, was das Brimborium soll – insbesondere
        vonseiten der SPD! Da schreiben sie doch tatsächlich ei-
        nen Antrag, in dem sie freiwillige Maßnahmen unterstüt-
        zen wollen, die Regierung über den grünen Klee loben
        und sich darüber freuen, wie erfolgreich dieser Weg
        doch sei. Das wirkt grotesk. Insbesondere nachdem wir
        in den vergangenen Jahren gemeinsam für verbindliche
        Standards gekämpft haben. Freiwillige Maßnahmen
        kann jeder einleiten, dazu braucht man die Regierungs-
        parteien nicht – und einen solchen Antrag schon gar
        nicht.
        Anlage 4
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Antrags: Wirksamkeit von
        Antibiotika erhalten – Einsatz in der Tierhal-
        tung auf vernünftiges Maß reduzieren (Tages-
        ordnungspunkt 16)
        Artur Auernhammer (CDU/CSU): Anti-Biotikum –
        richtet sich gegen das Leben.
        Antibiotikum – schützt das Leben.
        So widersprüchlich uns obige Aussage zunächst er-
        scheinen mag, so widersprüchlich ist jeher das heute von
        Ihnen thematisierte Arzneimittel.
        So heilsbringend und lebensrettend die Vergabe eines
        Antibiotikums wirken kann, so gefahrbringend und
        lebensbedrohlich können die Folgen durch eine ent-
        wickelte Resistenz sein. Da stimme ich mit Ihnen über-
        ein. Und gegen diese Resistenzen müssen wir gemein-
        sam kämpfen.
        Die Europäische Kommission teilte bei der Vorstel-
        lung des letzten Aktionsplanes zur Abwehr der steigen-
        den Gefahr der Antibiotikaresistenz mit, dass jährlich
        über 25 000 Todesfälle auf die Wirkstoffimmunität zu-
        rückzuführen sind. Im Agrarsektor wird gleichermaßen
        eine erhöhte mikrobielle Widerstandsfähigkeit festge-
        stellt.
        Der konkrete Handlungsbedarf besteht. Diese Einig-
        keit in diesem Hause müssen Sie doch aber nicht durch
        einen Seitenhieb auf scheinbare Qualzuchten in der
        Landwirtschaft zunichtemachen. Thematisch ohnehin
        nicht zielführend fordern Sie weitere Verbote.
        Eine artgerechte Tierhaltung ist in der deutschen
        Landwirtschaft gängige Praxis. Die deutsche Agrarwirt-
        schaft arbeitet im gleichen Jahrtausend wie Sie. Zumin-
        dest arbeiten die Landwirte im 21. Jahrhundert. Doch Ihr
        Antrag erweckt den Eindruck – wohl versehentlich –,
        dem wäre nicht so. Ich will Ihnen da keine Absicht un-
        terstellen, will aber zu Beginn diese Fehleinschätzung
        klarstellen.
        Die Bekämpfung der Antibiotikaresistenzen wird uns
        bei einer so starren Fokussierung allein auf die Veteri-
        närmedizin nicht gelingen.
        Liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, meine
        Damen und Herren, die Weltgesundheitsorganisation
        spricht von einem Eine-Gesundheit-Prinzip, und auch
        die Welttiergesundheitsorganisation unterscheidet nicht
        zwischen Tiergesundheit und Menschengesundheit,
        wenn es zu Antibiotikaresistenzen kommt. Das verkennt
        6312 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2014
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        Ihr Antrag leider. Sie sind damit nicht allein. Ich will
        Ihnen eine einfache Rechnung machen, die aufzeigt,
        dass die Frage antibiotischer Medikation in der Human-
        medizin nicht wesentlich verschieden ist von der Veteri-
        närmedizin. Ich greife dabei auf einen Bericht der
        Arbeitsgruppe GERMAP 2012 zurück, die auf Initiative
        des Bundesamtes für Verbraucherschutz und Lebensmit-
        telsicherheit in Zweijahresrhythmen dazu berichtet, und
        auf Zahlen des Statistischen Bundesamtes. Der Jahres-
        verbrauch von Antibiotika im Humanbereich liegt nach
        Schätzungen bei 700 bis 800 Tonnen. Der Jahresver-
        brauch von Antibiotika im Nutztierbereich ist knapp
        doppelt so hoch.
        Die Zahlen belegen die Menge, doch mich interes-
        siert, wie sich diese Medikamentengabe je Kilogramm
        darstellt. Eine plausible Rechnung machte mir folgendes
        deutlich.
        80 Millionen Menschen in Deutschland wiegen bei
        einem angenommenen Durchschnittsgewicht von 50 Ki-
        logramm zirka 4 000 Millionen Kilogramm. Berechnet
        man im Vergleich das Gesamtgewicht des deutschen
        Nutztierbestandes mittels tierart- und nutzungsformspe-
        zifischen Durchschnittsgewichten, kommt man auf et-
        was mehr als 9 850 Millionen Kilogramm.
        Der Nutztierbestand in Deutschland wiegt also mehr
        als das Doppelte des Gewichts der deutschen Bevölke-
        rung.
        Alles nur Statistik? Nein. Es wird deutlich, dass die
        antibiotischen Medikationsmengen von Veterinär- und
        Humanmedizin je Kilogramm im Vergleich beinahe
        übereinstimmen. Wobei bei dieser Berechnung zu erken-
        nen ist, dass die verbrauchten Tierantibiotikamengen
        20 bis 40 Prozent geringer sind als die Jahresantibiotika-
        menge in der Humanmedizin.
        Statistische Berechnungen lassen nie absolute
        Schlüsse zu, aber diese deutliche Tendenz ist belegt.
        Tierärzte verschreiben proportional weniger Antibiotika
        als Humanmediziner. Dieser Trend verstärkt sich, wenn
        wir uns bewusst werden, dass 50 Prozent der in der
        Humanmedizin verschriebenen Antibiotika wirkungs-
        stärkere Reserveantibiotika sind. Diese wirken bereits in
        geringeren Mengen.
        Daher bedarf der Kampf gegen Antibiotikaresisten-
        zen immer einer einheitlichen Betrachtung von Mensch
        und Tier. Das verkennt dieser Antrag leider.
        Liebe Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Bünd-
        nis 90/Die Grünen, in der Zielsetzung stimmen wir über-
        ein, in der Methodik liegen wir auseinander. Ich wün-
        sche mir eine effektive Antibiotikavergabe; dazu hat sich
        auch die Koalition verständigt.
        Wenn wir Antibiotika als einen Wirkstoff bewahren
        wollen, der das Leben rettet, dann müssen wir auch über
        Fraktionsgrenzen hinaus handeln, dann müssen wir auf
        Seitenhiebe verzichten und zum Wohle unserer Bürge-
        rinnen und Bürger ressortübergreifend beraten. Eine
        Debatte zulasten der Landwirte ist einfach unsachlich
        und führt nicht zum Ziel.
        Dieter Stier (CDU/CSU): Wir beraten heute den An-
        trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen: „Wirksamkeit
        von Antibiotika erhalten – Einsatz in der Tierhaltung auf
        vernünftiges Maß reduzieren“.
        Liest man Ihren Antrag, liebe Kollegen und Kollegin-
        nen von den Grünen, dann erkennt man sofort: Sie ha-
        ben den Überblick über die Faktenlage mittlerweile
        vollständig verloren. Anstatt immer wieder aufs Neue
        die Ängste der Verbraucher vor Resistenzen zu schüren,
        sollten Sie sich lieber die tatsächliche Situation ansehen.
        Das Thema Antibiotikaresistenzen ist viel zu ernst – man
        darf es nicht für plakative Kampagnen missbrauchen.
        Gern helfe ich Ihnen, den Durchblick in der Sache zu-
        rückzugewinnen.
        Wir alle stimmen darin überein, dass es drei wissen-
        schaftlich fundierte Gründe für den Einsatz von Antibio-
        tika in der Tierproduktion gibt:
        Erstens. Sie dienen der Sicherstellung der Tiergesund-
        heit.
        Zweitens. Sie haben den Zweck, wirtschaftliche
        Schäden in unseren landwirtschaftlichen Nutztierbestän-
        den zu verhindern.
        Drittens. Sie schützen vor Zoonosen, also den von
        Tieren auf den Menschen übertragbaren Krankheiten.
        Der Einsatz von Antibiotika hat also einen vernünfti-
        gen Hintergrund. Größere Tierbestände auf begrenztem
        Raum bergen nun einmal die Gefahr in sich, dass sich
        Erkrankungen dort schnell verbreiten können. Antibio-
        tika verhindern eine solche weitere Verbreitung. Bis hier
        besteht Konsens.
        Der Blick in Ihren Antrag offenbart nun allerdings
        zwei entscheidende Fehler. Fehler, die Sie immer wieder
        machen:
        Sie behaupten zum einen, es gebe einen rücksichtslo-
        sen und vor allem ungezielten Antibiotikaeinsatz in der
        Tierhaltung, der nicht mehr beherrschbar wäre. Ein Ge-
        neralverdacht, der im Einzelnen überhaupt nicht beleg-
        bar ist.
        Und zum anderen suchen Sie immer nach einem
        Schuldigen, den sie öffentlich vorführen und brandmar-
        ken können. Diesmal sind die Tierärzte dran. Denen
        unterstellen Sie, sie würden aus reinem Profitinteresse
        einen hemmungslosen und ungezügelten Antibiotikaein-
        satz praktizieren. Folglich wären sie mitverantwortlich
        für die multiresistenten Erreger. Das ist Unsinn, und das
        wissen Sie genau.
        Wer solche Bilder malt, disqualifiziert sich als ernst-
        zunehmender Diskussionsteilnehmer. Mit diesen Gru-
        selszenarien erschrecken Sie die Menschen, verunsi-
        chern die Verbraucher und schaden den Tierärzten und
        der landwirtschaftlichen Tierhaltung.
        Eines wird aus Ihrem Antrag deutlich: Bei der Lösung
        des Problems laufen Sie in die völlig falsche Richtung.
        Den Antibiotikaeinsatz senken wir nicht, indem wir den
        Tierärzten neue Restriktionen auferlegen. Denn die Tier-
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2014 6313
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        ärzte sind unsere Partner bei der Minimierung des Anti-
        biotikaeinsatzes und nicht die Gegner.
        Lassen Sie uns die Lage nüchtern betrachten:
        Anzeichen für eine Resistenzproblematik sind unbe-
        stritten, auch wenn bis heute keine verlässlichen und
        wissenschaftlich fundierten Daten vorliegen, in welchem
        Umfang der Einsatz von Antibiotika in der Tierhaltung
        zur Resistenzproblematik in der Humanmedizin beiträgt.
        Weil wir aber in der Union den gesundheitlichen Ver-
        braucherschutz sehr ernst nehmen und ihm den höchsten
        Stellenwert mit einräumen, haben wir genau deshalb in
        der vorausgegangenen Legislaturperiode das Arzneimit-
        telgesetz novelliert.
        Auf den Punkt gebracht lautet die Zielsetzung der
        16. AMG-Novelle: Der Antibiotikaeinsatz in der Tier-
        haltung wird reduziert. Nur das therapeutisch notwen-
        dige Mindestmaß ist in der Tierhaltung akzeptabel. Das
        ist inhaltlich die identische Zielstellung wie in Ihrem
        Antrag. Das bedeutet, wir machen das bereits. Nur unser
        Weg ist besser.
        Gern führe ich Ihnen noch einmal vor, wie wir zum
        Ergebnis kommen:
        Seit dem 1. April dieses Jahres gilt das neue Gesetz.
        Der rechtliche Rahmen für den Einsatz von Antibiotika
        in der Tiermedizin ist damit deutlich verschärft worden.
        Die gewerblichen Tierhalter werden in die Pflicht
        genommen und müssen sich einem Erfassungs- und Ver-
        gleichssystem unterwerfen. Dazu zählt die Verpflich-
        tung, die Häufigkeit der angewendeten Antibiotika zu
        melden. Es gilt, sie mit bundesweiten Kennzahlen abzu-
        gleichen, und es muss im Zusammenwirken mit dem
        Tierarzt der Antibiotikaeinsatz minimiert werden, wenn
        er die vorgegebenen Vergleichswerte übersteigt.
        Bei diesen Vorgaben haben wir es aber nicht belassen.
        Damit das Melde- und Kontrollsystem auch effektiv
        greift, haben wir zugleich das Sanktionsspektrum erwei-
        tert. Die Tierarzneimittelüberwachung der Länderbehör-
        den hat jetzt mehr Befugnisse und kann Verstöße besser
        ahnden: Tierhalter können zu Änderungen in Haltung,
        Fütterung oder Besatzdichte verpflichtet werden, es kön-
        nen Bußgelder bei Nichtanzeigen des Antibiotikaeinsat-
        zes verhängt werden, oder es kann sogar die Einstellung
        der Tierhaltung angeordnet werden. Ein umfassender
        Rechtsrahmen ist somit vorhanden. Einer weiteren Re-
        glementierung, insbesondere die Tierärzte betreffend,
        bedarf es daher nicht.
        Jetzt schon wieder neue Vorschriften zu fordern, wo
        erst vor einem halben Jahr das Änderungsgesetz in Kraft
        getreten ist, das ist absurd und nicht nachvollziehbar.
        Lassen Sie das Gesetz doch erst einmal zur Anwendung
        kommen. Die Ergebnisse werden uns Recht geben.
        Dem Hauptanliegen Ihres Antrages, „den Antibiotika-
        einsatz in der Tierhaltung auf ein vernünftiges Maß zu
        reduzieren“, sind wir von der Union heute viel näher, als
        Sie es jemals waren. Denn wir haben in der AMG-No-
        velle wesentlich geeignetere Maßnahmen festgeschrie-
        ben, als sie in Ihrem Antrag anzubieten haben.
        Sie fordern weiter, die Haltungsbedingungen von
        Nutztieren zu verbessern.
        Auch diese Forderung kann nicht die Bundesregie-
        rung realisieren. Sie liegt vielmehr in den Händen der
        Tierhalter, die überwiegend in unserem Land verantwor-
        tungsbewusst mit ihren Tieren umgehen und die keine
        Kosten und Mühen scheuen, auch aktuellste Neuerungen
        in ihren Ställen einzusetzen. Ich empfehle Ihnen gerade
        unter dem aktuellen Eindruck des Besuchs unserer AG
        in dieser Woche auf der Messe „EuroTier“ in Hannover:
        Schauen Sie sich an, was technisch alles möglich ist. Ich
        sage es hier abermals: Jeder Stallneubau in unserem
        Land schafft einen Fortschritt in den Haltungsbedingun-
        gen.
        Lassen Sie mich abschließend feststellen: Wir sind
        gegenwärtig gut gerüstet, den Antibiotikaeinsatz in der
        Tierhaltung, der bereits aufgrund der eingeleiteten Maß-
        nahmen gesunken ist, weiter herunterzufahren.
        Ich lade Sie ein, dabei konstruktiv mitzuwirken, Ihres
        heute vorliegenden Antrages bedarf es dazu nicht.
        Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD): Für die heutige
        Debatte des Antrags der Grünen-Bundestagsfraktion
        „Wirksamkeit von Antibiotika erhalten – Einsatz in der
        Tierhaltung auf ein vernünftiges Maß reduzieren“ hätte
        ich mir zeitlich einen besseren Debattenplatz mit mehr
        Öffentlichkeit gewünscht. Übrigens haben wir als SPD-
        Fraktion schon 2011 mit einem fast gleichlautenden An-
        trag klar Stellung bezogen.
        Es scheint mir, dass die Frage der Anwendung von
        Antibiotika in der Tierhaltung sehr emotional diskutiert
        wird. Ich finde, es ist daher an der Zeit, die Diskussion
        zu versachlichen. Das Thema taugt nicht für eine Grund-
        satzdebatte, ob Tierhaltung und Veredlung in bestimm-
        ten Haltungsformen noch möglich sind. Bakterien, resis-
        tent oder nicht, lassen sich zwar schwarz, grün oder rot
        färben, haben aber kein politisches Bekenntnis. Sie un-
        terscheiden nicht nach konventionellen, ökologischen,
        großen oder kleinen Betrieben. Die Verordnung und die
        Anwendung von Antibiotika in der Tierhaltung bedürfen
        einer besonderen Sorgfalt, sowohl durch den Tierarzt als
        auch durch den Landwirt. Nur nach gründlicher Untersu-
        chung und Anamnese und einer gesicherten Diagnose
        dürfen Antibiotika verordnet werden, nur dann. Der pro-
        phylaktische Einsatz von Antibiotika in der Tierhaltung
        ist daher EU-weit zu verbieten.
        Der neue EU-Kommissar für Gesundheit und Lebens-
        mittelsicherheit Vytenis Andriukaitis sieht das genauso
        wie ich; das hat mir ein Gespräch mit dem Kommissar
        am Montag dieser Woche bestätigt. Der Einsatz von An-
        tibiotika in der Nutztierhaltung, das Management von
        Antibiotikaresistenzen und die Organisation eines aussa-
        gekräftigen Antibiotikamonitorings sind wichtige Vo-
        raussetzungen, um die Sicherheit tierischer Lebensmittel
        und das Verbrauchervertrauen in sie zu erhalten, nicht
        nur in Deutschland, sondern in ganz Europa.
        Mit der 16. Novelle des Arzneimittelgesetzes vom
        Juni 2013 sind wir darum einen wichtigen Schritt in die
        richtige Richtung gegangen. Die Meldepflicht für den
        6314 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2014
        (A) (C)
        (D)(B)
        Antibiotikaeinsatz und die Anwendung des Therapie-
        indexes auf Grundlage dieser Novelle werden die einge-
        setzte Antibiotikamenge sicher reduzieren. Aber es gibt
        weitere Handlungsoptionen.
        Ich selbst weiß, wovon ich rede. Zum Thema Antibio-
        tikaeinsatz in der Tierhaltung kann ich auf eine langjäh-
        rige Erfahrung als praktizierender Tierarzt mit eigener
        Hausapotheke zurückgreifen. Ich weiß, wie es in der
        Praxis aussieht. Eine mengenmäßige Antibiotikareduk-
        tion allein wird das Problem zunehmender Resistenzen
        nicht lösen. Das erkennt man am Beispiel von Däne-
        mark. Dänemark hat bereits vor vielen Jahren eine
        strikte Reglementierung der Antibiotikaverordnung und
        -abgabe umgesetzt. Trotzdem ist der Befund von
        MRSA-positiven Schlachtschweinen innerhalb weniger
        Jahre von etwa 20 auf mehr als 80 Prozent der unter-
        suchten Schlachtkörper gestiegen. Ursache dafür sind
        mit Sicherheit auch Faktoren wie die Bedingungen des
        Transports zum Schlachthof, aber auch die Zerlegung
        und Weiterverarbeitung im Schlachtbetrieb. Eine Viel-
        zahl von Schlachtkörpern wird offensichtlich während
        der Verarbeitung kontaminiert. Mangelnde Stallhygiene,
        ein schlechtes Stallklima, mangelhafte Haltungsbedin-
        gungen und ein unzureichendes Betriebsmanagement
        machen unsere Tiere krank. Darum brauchen wir einen
        einheitlichen Rechtsrahmen für die Tierhaltung, der die
        Arzneimittelanwendung und die Haltungsbedingungen
        in unseren Ställen regelt.
        Wir brauchen ein Tiergesundheitsgesetz, das seinen
        Namen verdient. Es reicht bei weitem nicht aus, einzelne
        Stellschrauben wie die verordnete Antibiotikamenge zu
        justieren. Nur ein ganzheitlicher Ansatz, der auch Tier-
        wohl und Tierschutz berücksichtigt, kann zum Ziel füh-
        ren.
        Diese Forderung hat die SPD in den Koalitionsvertrag
        geschrieben, und wir werden es mit unserem Koalitions-
        partner umsetzen. Auf der EU-Ebene wird der Bereich
        der Zulassung von Tierarzneimitteln von der Zulassung
        der Humanarzneimittel getrennt werden. Auch das wer-
        den wir in Deutschland umsetzen müssen.
        Der vermehrte Einsatz von Impfstoffen ist eine
        weitere Option. In den letzten 20 Jahren ist nach meiner
        Einschätzung die Anwendung von Antibiotika bereits
        durch den prophylaktischen Einsatz von Impfstoffen be-
        grenzt worden. Das ist ein Erfolg; daran sollten wir an-
        knüpfen! Die Verwendung von Impfstoffen bei Be-
        standserkrankungen ist zwar häufig teurer als der Einsatz
        von Antibiotika. Es ist aber sinnvoll, wenn Impfstoffe
        eine Alternative darstellen, den Einsatz von Impfstoffen
        verpflichtend zu machen und damit den Einsatz von An-
        tibiotika zu verringern. Dennoch muss auch weiterhin si-
        chergestellt sein, dass Tiere, die ernsthaft erkrankt sind,
        angemessen behandelt werden können. Das gebietet al-
        lein schon der Tierschutzgedanke.
        Das Dispensierrecht der Tierärzte ermöglicht den Be-
        zug, das Lagern, die Abgabe und die Herstellung von
        apotheken- und verschreibungspflichtigen Arzneimitteln
        durch den Tierarzt. Es ist eine wichtige wirtschaftliche
        Grundlage für tierärztliche Praxen. Die Abgabe von Arz-
        neimitteln durch den Tierarzt ermöglicht das schnelle
        Reagieren auf akute Krankheitsausbrüche. Das bestätigt
        auch das Gutachten im Auftrag des BMEL zur Überprü-
        fung des tierärztlichen Dispensierrechts vom Oktober
        2014. Nach meiner Einschätzung sollte das Dispensier-
        recht nicht infrage gestellt werden. Es vereinfacht auch
        die Kontrolle des Arzneimittelflusses vom Hersteller
        über den Tierarzt zum Tierhalter und macht diesen über-
        schaubar und nachvollziehbar. Die Kontrollen sind
        durch die entsprechenden Landesbehörden sehr effizient
        organisiert.
        Eine Schlussfolgerung aus dem Gutachten des BMEL
        ist, dass man sich durchaus mit der Preisgestaltung der
        Hersteller und der abgebenden Tierärzte beschäftigen
        sollte. Die Arzneimittelpreisverordnung regelt die
        Höchstzuschläge für den Großhandel sowie für die Tier-
        ärzte; diese orientieren sich in der Regel am Verkaufs-
        preis des pharmazeutischen Unternehmens. Im Gegen-
        satz zu den Apothekern, die bei der Abgabe von
        Tierarzneimitteln an den Preisaufschlag gebunden sind,
        ist der Tierarzt in seiner Preisgestaltung frei. Dadurch
        gibt es einen heftigen Wettbewerb zwischen vielen Be-
        treuungspraxen. Dabei steht häufig nicht die Leistung
        und das Können der jeweiligen Kollegen im Vorder-
        grund, sondern der Abgabepreis. Ich bin der Ansicht, es
        sollte keine zusätzlichen materiellen Anreize geben, die
        den leichtfertigen Einsatz von Tierarzneimitteln, vor al-
        lem von Antibiotika, befördern.
        Bereits 2006 haben wir das Gewähren von Natural-
        rabatten auf den Einkauf und Bezug von Arzneimitteln
        abgeschafft. Die Hersteller von Tierarzneimitteln haben
        darauf flexibel reagiert und einen Ausweg gefunden: Sie
        gewähren den Tierärzten je nach Bezugsmenge ganz un-
        terschiedliche Einkaufspreise. Damit wird ein Anreiz ge-
        schaffen, möglichst große Mengen einzukaufen. Das
        kann dazu führen, dass eine große tierärztliche Betreu-
        ungspraxis im Bereich Schweine- oder Geflügelhaltung
        Arzneimittel zu Preisen an den Tierhalter abgeben kann,
        zu denen Kollegen aus kleineren Praxen noch nicht ein-
        mal einkaufen können. Dieses Vorgehen der Arzneimit-
        telhersteller ist wettbewerbsrechtlich äußerst bedenklich.
        Es stellt unter Umständen die Niederlassungsfreiheit vor
        allem junger Tierärzte mit kleineren Tierarztpraxen in-
        frage. Wir finden heute Tierarztpraxen, deren Umsatz
        aus Arzneimittelabgabe mehr als 75 Prozent des Ge-
        samtumsatzes ausmacht. Schon seit langem werden
        diese Praxen steuerlich nicht wie Freiberufler behandelt,
        sondern die Arzneimittelabgabe dieser Praxen unterliegt
        der Gewerbesteuerpflicht. Im Vordergrund sollte nach
        meiner Auffassung die Honorierung tierärztlicher Leis-
        tung wie Untersuchungen, Diagnosen und die Beratung
        stehen und nicht das Durchhandeln von verordneten
        Arzneimitteln. Darum sollten wir ernsthaft darüber
        nachdenken, dass zukünftig die Arzneimittelhersteller
        und der Großhandel allen Beziehern von Medikamenten
        nach dem Prinzip der Meistbegünstigung Einkaufspreise
        gewähren müssen, die auch großen Praxen eingeräumt
        werden. Auch sollten die in § 10 der Arzneimittelpreis-
        verordnung vorgesehenen Zuschläge angepasst und in
        verbindliche Festzuschläge umgewandelt werden; dies
        entspräche dann den Vorgaben für Apotheken.
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2014 6315
        (A) (C)
        (D)(B)
        Ich finde, dass der Antrag der Grünen ein ernst zu
        nehmender Denkanstoß ist, und ich freue mich auf die
        Beratung im Ausschuss.
        Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Die Anwen-
        dung von Antibiotika ist notwendig und ethisch geboten.
        Unter zwei Voraussetzungen: Eine Infektionskrankheit
        ist zweifelsfrei diagnostiziert, und die Wirksamkeit des
        Wirkstoffs gegen den Erreger ist nachgewiesen. Das gilt
        für Nutztierbestände ebenso wie für die Behandlung von
        Haus- und Heimtieren und selbstverständlich auch für
        die Humanmedizin. Es ist gut und überfällig, dass sich
        Veterinär- und Humanmedizin nun gemeinsam darum
        kümmern, dass der missbräuchliche und sorglose Ge-
        brauch von Antibiotika aufhört.
        Die Entdeckung des Penicillins war ein sehr wertvol-
        les Geschenk an die Menschheit, mit dem plötzlich die
        Geißel verheerender Krankheiten beherrschbar wurde.
        Diese Therapiemöglichkeit darf auf keinen Fall verspielt
        werden.
        Doch dieses Risiko wird tagtäglich eingegangen,
        wenn Antibiotika missbräuchlich oder sorglos ange-
        wandt werden. Zum Beispiel, wenn, statt die Ursachen
        von Infektionskrankheiten in Nutztierbeständen zu behe-
        ben, ganze Bestände häufig, regelmäßig und unsachge-
        mäß behandelt werden. Das damit verbundene Risiko
        der Resistenzbildung und damit der Unwirksamkeit der
        Antibiotika betrifft uns alle. Deshalb fordert die Öffent-
        lichkeit völlig zu Recht, dass wir als Gesetzgeber un-
        seren Teil der Verantwortung übernehmen und, da nö-
        tig, gesetzliche Regeln zum Schutz der Allgemeinheit
        verschärfen und, mindestens ebenso wichtig, ihre
        Durchsetzung auch zu sichern. Denn die seit drei Jahren
        veröffentlichten Antibiotikamengen und das Resistenz-
        monitoring in der Tierhaltung reichen ja offensichtlich
        nicht aus, um das Problem zu lösen.
        Der Heimtierbereich und die Humanmedizin müssen
        zwingend in die strategischen Überlegungen zu Mini-
        mierungskonzepten einbezogen werden. Die Linksfrak-
        tion fordert seit langem, die Wirkstoffe für die Human-
        und die Veterinärmedizin konsequent zu trennen. Auch
        die Resistenzentwicklung bei Desinfektionsmitteln ist
        ein dringendes Forschungsthema.
        Darüber hinaus gehört für die Linksfraktion zum
        Thema auch die Forderung nach gut ausgebildetem und
        fair entlohntem Betreuungspersonal, welches mit den Tie-
        ren arbeitet. Dazu soll auch ein Sachkundenachweis für
        Betriebspersonal ohne landwirtschaftliche Ausbildung
        dienen, der bei nachgewiesenen Verstößen mit Auflagen
        versehen werden oder in schweren Fällen bzw. bei Wie-
        derholung auch entzogen werden kann. Weitere Forde-
        rungen zu einem strategischen Ansatz für mehr Tierge-
        sundheit haben wir bereits 2012 mit dem Antrag
        „Einsatz von Antibiotika in der Tierhaltung reduzieren“
        (Bundestagsdrucksache 17/8348) vorgelegt.
        Angesichts der Bedeutung dieses Themas ist es gut,
        dass der Ton des Antrags der Grünen heute deutlich we-
        niger schrill ist als in der Vergangenheit. Sie halten nun
        am Dispensierrecht fest und verzichten darauf, die Re-
        duktion absoluter Abgabenmengen zu fordern.
        Es ist sinnvoll, Herstellerrabatte zu reduzieren. Auch
        einheitliche Abgabepreise können sinnvollerweise öko-
        nomische Anreize zum übermäßigen Einsatz von antimi-
        krobiellen Wirkstoffen reduzieren. Reserveantibiotika,
        wie beispielsweise Fluorchinolone und Cephalosporine,
        sollten nur noch im absoluten Ausnahmefall eingesetzt
        werden dürfen. Ein Antibiogramm zur Prüfung der
        Wirksamkeit der jeweiligen Wirkstoffe muss zum Stan-
        dard werden.
        Alarmierend ist auch der erstmalige Nachweis von
        Sulfadimidin im Grundwasser im Kreis Cloppenburg, ei-
        nes ausschließlich als Tierarzneimittel verwendeten
        Wirkstoffs, der vor wenigen Tagen veröffentlicht wurde.
        Antibiotikaverbrauch wirksam zu reduzieren heißt
        zwingend, die Haltungsbedingungen der Tiere zu verbes-
        sern. Tiergesundheit muss in den Mittelpunkt gestellt wer-
        den. Dazu gehören Besatzdichten und -größen ebenso auf
        den Prüfstand wie Qualzuchten oder Bestandsmanage-
        ment. Wir brauchen verbindliche Kriterien, die sowohl
        den Anforderungen des Tierschutzes und vernünftigen
        Arbeitsbedingungen, aber auch dem Schutz der Lebens-
        qualität in den Dörfern und einer nachhaltigen Regional-
        entwicklung gerecht werden. Die Größe der Nutztierbe-
        stände an einem Standort, ihre Zahl in der jeweiligen
        Region, ist dabei nur ein, wenn auch wichtiger, Aspekt.
        Unsere Vorschläge zur Definition von Bestandsober-
        grenzen für Tierhaltungen am Standort und in Regionen
        liegen längst auf dem Tisch. Die Öffentlichkeit erwartet
        von uns zu Recht endlich Entscheidungen.
        Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
        NEN): Sie alle wissen, wir Grüne kämpfen für eine
        artgerechte Haltung von Tieren. Doch was sagt man
        dazu: Bei der Eröffnung der weltgrößten Fachmesse für
        Nutztierhaltung, der EuroTier in Hannover, verkündete
        DLG-Präsident Bartmer in dieser Woche, Tierhaltung
        könne gar nicht artgerecht sein. Welche Konsequenzen
        sind nun aus seiner Aussage zu ziehen? Doch das nur ne-
        benbei.
        Ich möchte heute mit Ihnen in erster Linie über unsere
        Aufforderung an Sie diskutieren, die Regelungen beim
        Handel mit Antibiotika für die Tierhaltung umzugestal-
        ten. Denn was ist die Legitimation für Mengenrabattie-
        rungen bei Antibiotika in der Tierhaltung? Der Einsatz
        dieser hochwirksamen Arzneimittel muss auf die akute
        Behandlung des erkrankten Einzeltiers reduziert werden.
        Die Gewährung von hohen Mengenrabatten und die
        großen Spannen bei der Preisgestaltung sind hierfür das
        denkbar falsche Signal und bieten zu viele ökonomische
        Anreize, in hohen Mengen Antibiotika billigst zu ver-
        scherbeln.
        Stellen wir uns kurz vor, ich sei ein Landtierarzt mit
        eigener Praxis: Ich kaufe 40 Flaschen eines Antibioti-
        kums mit dem Listenpreis 20 Euro und bekomme sie für
        18 Euro. Dies führt zu einem Verkaufspreis von 26 Euro,
        der meiner Apotheke einen Rohertrag von 8 Euro ein-
        bringt. Mein Nachbar dagegen, ein Veterinär, der in einer
        6316 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2014
        (A) (C)
        (D)(B)
        Großpraxis mit 10 Kolleginnen und Kollegen Geflügel-
        mastställe „betreut“, kauft 400 Flaschen. Der Listenpreis
        bleibt gleich bei 20 Euro, er bekommt sie aber für
        10 Euro pro Stück. Wenn er sie für 21 Euro an den
        Landwirt abgibt, ist dieser natürlich begeistert über den
        geringen Preis, und die tierärztliche Apotheke kann
        einen Rohertrag von 11 Euro verbuchen. Das ist nicht
        vernünftig, das ist nicht zielführend, das ist Schwach-
        sinn. Und eine Mischung aus unternehmerischem Ehr-
        geiz und menschlicher Gier kann hier leicht dazu führen,
        dass mehr Antibiotika in den Ställen landen als notwen-
        dig. Ich teile die Einschätzung, die 2012 der damalige
        Staatssekretär Gerd Lindemann im BMELV gab: Tier-
        ärztinnen und Tierärzte müssen für ihre medizinische
        Leistung bezahlt werden, nicht für das Ausfüllen von
        Abgabebelegen für Antibiotika.
        Der aktuelle Bericht der Europäischen Arzneimit-
        telagentur macht es deutlich: Deutschland ist Spitzenrei-
        ter beim absoluten Verbrauch von Antibiotika in der
        Tierhaltung. Und bezogen auf den vorhandenen Tierbe-
        stand befinden wir uns in der Spitzengruppe mit Zypern,
        Ungarn, Spanien und Italien. Die Bundesregierung un-
        ternimmt nichts, um daran etwas zu ändern! Es wurde
        zwar als großer Erfolg gefeiert, dass die absoluten Abga-
        bemengen von 2011 auf 2013 gesunken sind. Dabei wird
        allerdings unter den Teppich gekehrt, dass im gleichen
        Zeitraum die Abgabe von Reserveantibiotika sprunghaft
        angestiegen ist. Bei den Cephalosporinen der dritten Ge-
        neration stieg die Abgabe innerhalb von zwei Jahren um
        25 Prozent, bei den Fluorchinolonen sogar um 60 Pro-
        zent. In der Dosierung unterscheiden sich die verschie-
        denen Antibiotika erheblich, und gerade die kritischen
        Reserveantibiotika werden sehr niedrig dosiert. Es wer-
        den bei Tetracyclinen beispielsweise 80 mg pro kg Kör-
        pergewicht eingesetzt, bei Cephalosporinen dagegen nur
        1 bis 2 mg pro kg Körpergewicht. Berücksichtigt man
        diese fachliche Ebene, ist die signifikante Erhöhung der
        Reserveantibiotika geradezu alarmierend und nivelliert
        den Rückgang der absoluten Menge. Deshalb muss die
        Tagesdosis endlich mit erfasst werden. Reserveantibio-
        tika müssen weitestgehend aus der Tierhaltung ver-
        schwinden. Deshalb: Verbieten Sie endlich den Einsatz
        von Reserveantibiotika in der Tierhaltung, mit wenigen
        begründeten Ausnahmen.
        In der letzten Woche mussten wir zur Kenntnis neh-
        men, dass im Landkreis Cloppenburg Sulfadimidin, ein
        Antibiotikum, das nur in der Tierhaltung eingesetzt wird,
        in Trinkwassermessstellen nachgewiesen wurde. In der
        Region mit der höchsten Viehdichte in ganz Europa.
        Und wieder: Die Bundesregierung unternimmt nichts,
        um daran etwas zu ändern. Ganz im Gegenteil: Der Bau-
        ernverbandsvorsitzende der Region behauptete steif und
        fest, die gefundenen Antibiotika kämen aus der Human-
        medizin, obwohl sie dort nachweislich nicht zugelassen
        sind.
        Ich möchte einerseits heute um Ihre Unterstützung
        werben, das Dispensierrecht anzupassen und zu mehr
        Vernunft umzugestalten. Das heißt, das Rabattierungs-
        system muss abgeschafft werden, weil es falsche An-
        reize gibt. Nicht weniger, sondern mehr Verbrauch wird
        hier belohnt.
        Aber andererseits möchte ich Sie fragen, wie wir die
        Tierhaltung in der Landwirtschaft handhaben wollen.
        Sehen wir unsere Bäuerinnen und Bauern, da beziehe ich
        mich mit ein, als Tierhalter, die sich verantwortungsvoll
        um die ihnen anvertrauten Geschöpfe kümmern, ihnen
        ein artgerechtes Leben ermöglichen und so wertvolle
        Lebensmittel erzeugen? Oder degradieren wie sie als
        Mäster oder Ferkelproduzenten, die so in der Tretmühle
        aus Ramschpreisen, Kosteneffizienz und Produktivität
        gefangen sind, dass sie gar keine Wahl haben, als immer
        mehr Tiere zu halten und ihnen eine immer unnatürli-
        chere Leistung abzutrotzen? Es muss Schluss sein damit,
        dass 70 Prozent des Schweinefleischs in Rabattschlach-
        ten verramscht werden.
        Ich sage Nein, und die Mehrheit der Konsumentinnen
        und Konsumenten sagt Nein. Nun bedarf es etwas Mut
        und Rückgrat, um gemachte Fehler einzugestehen und
        die Tierhaltung umzugestalten. Es wäre für alle ein Ge-
        winn, für die Tiere, für die Umwelt und für die Men-
        schen. Nehmen wir den Wunsch der Menschen endlich
        ernst, mit unseren Nutztieren verantwortlich umzugehen.
        Anlage 5
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zum
        Vorschlag für einen Beschluss des Rates über ei-
        nen Dreigliedrigen Sozialgipfel für Wachstum
        und Beschäftigung und zur Aufhebung des Be-
        schlusses 2003/174/EG (Tagesordnungspunkt 17)
        Dr. Martin Pätzold (CDU/CSU): Der Erfolg der so-
        zialen Marktwirtschaft in der Bundesrepublik Deutsch-
        land basiert im Wesentlichen auf der Sozialpartnerschaft
        von Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern. Gemein-
        sam wird verhandelt, abgestimmt und diskutiert, wie
        sich die wirtschaftliche Entwicklung darstellt und wie
        Kapital und Arbeit gerecht verteilt werden können.
        Dadurch ist es uns gelungen, ein beträchtliches Maß an
        Wohlstand für alle zu erreichen.
        Die soziale Marktwirtschaft ist der Ursprung, warum
        die Bundesrepublik Deutschland gestärkt aus der Fi-
        nanzkrise im Jahr 2008 gekommen ist. Und daran hatten
        gerade die Sozialpartner, die sich in Lohnzurückhaltung
        geübt haben, einen wesentlichen Anteil. Auch mit ver-
        nünftigen politischen Instrumenten der Bundesregierung
        wie beispielsweise der Kurzarbeit ist es gelungen, die
        negativen wirtschaftlichen Folgen abzufedern.
        Mit dem Dreigliedrigen Sozialgipfel verfolgt die
        Europäische Union seit einigen Jahren das Ziel, auf
        hochrangiger Ebene eine Abstimmung mit den Sozial-
        partnern in Europa zu gewährleisten. Zweimal jährlich
        werden wirtschaftliche, soziale und beschäftigungspoli-
        tische Fragen diskutiert. Es wird nach Lösungen gesucht,
        die ökonomische Schieflage in Europa zu beheben. Und
        gerade in diesen Zeiten, in denen sich die Jugendarbeits-
        losigkeit auf einem enorm hohen Niveau befindet, die
        wirtschaftlichen Verhältnisse sich nicht annähern,
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2014 6317
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        sondern wieder auseinandergehen, ist ein Austausch auf
        dieser Ebene notwendig.
        Die sozialen Herausforderungen in der Europäischen
        Union sind enorm: Ausufernde Arbeitslosigkeit bei Jung
        und Alt, schwaches Wirtschaftswachstum und zu hohe
        Staatsverschuldungen sind drei Kernprobleme. Die Poli-
        tik hat die Verantwortung, alles dafür zu tun, dass keine
        verlorene Generation in Europa entsteht, die fern von
        Perspektiven ist. Deswegen ist es so bedeutend, die
        Jugendarbeitslosigkeit zu bekämpfen. Dazu sind Struk-
        turanpassungen in den betroffenen Mitgliedstaaten not-
        wendig.
        Um eine gerechtere Gesellschaft in Deutschland und
        in Europa zu schaffen, brauchen wir einen verlässlichen
        Staat, einen Staat, der auch morgen noch in der Lage ist,
        den Schwachen zu helfen, Schulen und Straßen zu bauen
        und die Sicherheit seiner Bürger zu gewährleisten. Die
        Aufgabe der Politik ist es, die Nachhaltigkeit der sozia-
        len Sicherheit zu gewährleisten. Die Generationenge-
        rechtigkeit erfordert aber auch, die Schulden des Staates
        zu begrenzen, um seine Funktionsfähigkeit zu stärken. In
        diesem Spannungsfeld befindet sich die Europäische
        Union derzeit.
        Deswegen ist es nicht richtig, mehr Geld auszugeben
        und mehr Schulden zu machen – das sind die falschen
        Antworten auf die heutigen Probleme. Das sehen wir in
        der Bundesrepublik Deutschland und in den Mitglied-
        staaten der Europäischen Union. Es bedarf tiefgreifender
        Änderungen, bei denen Sozialpartner mitwirken und so
        die Grundlagen für nachhaltiges wirtschaftliches Wachs-
        tum legen: mit dem Ziel, Arbeitslosigkeit zu bekämpfen
        und die Staatsverschuldung einzudämmen.
        Der Dreigliedrige Sozialgipfel für Wachstum und
        Beschäftigung soll eine engere Abstimmung zu diesen
        Fragen sicherstellen. Mit dem Präsidenten des Europäi-
        schen Rates, dem Präsidenten der Europäischen Kom-
        mission, Vertretern des Europäischen Rates sowie einer
        jeweils zehnköpfigen Delegation des Europäischen
        Gewerkschaftsbundes und dem Verband europäischer
        Unternehmen sind Akteure beteiligt, die wesentliche
        Verantwortung für die wirtschaftliche Entwicklung in
        der Europäischen Union tragen.
        Mit diesem Gesetzentwurf soll der Ratsbeschluss
        vom 6. März 2003 an die durch den Vertrag von Lissa-
        bon eingeführten institutionellen Änderungen angepasst
        und den positiven Erfahrungen mit den praktischen
        Modalitäten des Dreigliedrigen Sozialgipfels Rechnung
        getragen werden.
        Dabei geht es schwerpunktmäßig um die Vertretung
        des Europäischen Rates im Dreigliedrigen Sozialgipfel.
        Diese soll nach Schaffung des Amtes des Präsidenten
        des Europäischen Rates durch den Vertrag von Lissabon
        künftig durch diesen und nicht mehr durch den amtieren-
        den Ratsvorsitz wahrgenommen werden. Zusätzlich wird
        der politische Rahmen an die Strategie Europa 2020 an-
        gepasst, die die Strategie von Lissabon ersetzt hat.
        Mit diesem Gesetz wird die Bundesregierung dazu er-
        mächtigt, dieser Anpassung zuzustimmen. Das ist sinn-
        voll und begrüßenswert. Deswegen unterstützt die CDU/
        CSU-Bundestagsfraktion dieses Anliegen.
        Gabriele Schmidt (Ühlingen) (CDU/CSU): Wir be-
        raten den Entwurf eines Gesetzes zum Vorschlag für ei-
        nen Beschluss des Rates über einen Dreigliedrigen So-
        zialgipfel für Wachstum und Beschäftigung und zur
        Aufhebung des Ratsbeschlusses vom 6. März 2003.
        Der Dreigliedrige Sozialgipfel dient als Austausch-
        plattform zwischen, wie der Name schon sagt, drei Pro-
        tagonisten: dem Rat, der Europäischen Kommission und
        den Sozialpartnern. Die Rolle der Sozialpartner und der
        soziale Dialog sollen gefördert werden, und das unter
        Wahrung der Autonomie der Sozialpartner.
        Der Ratsbeschluss aus dem Jahr 2003 zur Einrichtung
        eines Dreigliedrigen Sozialgipfels für Wachstum und
        Beschäftigung stützte sich auf den Vertrag zur Gründung
        der Europäischen Gemeinschaft. Mit dem Vertrag von
        Lissabon ist nun eine Anpassung notwendig geworden.
        Mit dem vorliegenden Vorschlag der Kommission vom
        31. Oktober 2013 soll der Ratsbeschluss an die durch
        den Vertrag von Lissabon eingeführten institutionellen
        Änderungen angepasst werden. Es geht also in erster Li-
        nie um eine institutionelle Anpassung, die bisherige Pra-
        xis wird mit dem Vorschlag nicht angetastet. Die Organi-
        sation und die Funktionsweise nationaler Systeme der
        Arbeitsbeziehungen bleiben unberührt.
        Der Präsident des Europäischen Rates, dessen Amt
        mit dem Vertrag von Lissabon geschaffen wurde, soll
        künftig die Vertretung für den Rat im Rahmen des Drei-
        gliedrigen Sozialgipfels übernehmen. Die alte Regelung,
        wonach der amtierende Ratsvorsitz die Vertretung inne-
        hatte, würde somit entfallen.
        Ein weiterer Vorschlag betrifft eine Überarbeitung,
        mit der der Ablösung der Lissabon-Strategie durch die
        Strategie Europa 2020 Rechnung getragen wird. Europa
        2020 ist die Wachstumsstrategie der EU. Intelligente,
        nachhaltige und integrative Wirtschaft ist das, was wir
        uns für Europa wünschen. Die Strategie enthält ehrgei-
        zige Leitziele für Europa: Beschäftigung, Innovation,
        Bildung, Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgren-
        zung, Klimawandel und nachhaltige Energiewirtschaft.
        Durch konkrete Maßnahmen soll die Strategie in all die-
        sen Bereichen auf EU-Ebene und auf der Ebene der Mit-
        gliedstaaten untermauert werden.
        Diese Ziele können jedoch nicht ohne die Sozialpart-
        ner erreicht werden. Um die Mitverantwortung für die
        Umsetzung der Strategie zu fördern, müssen die Sozial-
        partner, bestehend aus Vertretern branchenübergreifender
        Arbeitnehmer und Arbeitgeberverbände, in die Durchfüh-
        rung der Wirtschafts- und Sozialpolitik eingebunden
        werden. Der Dreigliedrige Sozialgipfel erfüllt genau
        diese Funktion. Die gemachten Erfahrungen zeigen, dass
        der Gipfel einen positiven Beitrag zur Förderung des so-
        zialen Dialogs auf Unionsebene leistet.
        Ich begrüße es ausdrücklich, dass durch das vorlie-
        gende Gesetz die innerstaatlichen Voraussetzungen ge-
        schaffen werden, die dem deutschen Vertreter ermögli-
        chen, dem Beschlussvorschlag im Rat zuzustimmen. Mit
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        der Zustimmung im Rat schaffen wir eine neue Rechts-
        grundlage für die Fortführung des Forums. Die abschlie-
        ßende Beschlussfassung im Rat steht noch aus, da sie
        den Abschluss von Gesetzgebungsverfahren nicht nur in
        Deutschland, sondern auch in einigen anderen EU-Staa-
        ten erfordert.
        Ein gemeinsamer Änderungsantrag der CDU/CSU-
        und der SPD-Fraktionen zur Ermächtigungsgrundlage
        im SGB IX für die Versorgungsmedizin-Verordnung liegt
        ebenfalls zur Abstimmung vor. Um die Zweifel auszu-
        räumen, ob die derzeitige Ermächtigungsgrundlage für
        die Versorgungsmedizin-Verordnung in § 30 Absatz 16
        des Bundesversorgungsgesetzes auch Regelungen ab-
        deckt, die sich auf die medizinische Bewertung des Gra-
        des der Behinderung und die medizinischen Vorausset-
        zungen für die Vergabe von Merkzeichen beziehen, soll
        eine ausdrückliche Ermächtigungsgrundlage auch im
        SGB IX verankert werden. Der Antrag steht zwar in kei-
        nem inhaltlichen Zusammenhang mit dem hier vorlie-
        genden Gesetz zum Vorschlag für einen Beschluss des
        Rates über einen Dreigliedrigen Sozialgipfel, ist aber
        dem Umstand geschuldet, die Anwendung der Versor-
        gungsmedizin-Verordnung nicht zu verzögern. Daher
        sollte auch diesem Antrag unsere Zustimmung erteilt
        werden.
        Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD): Am 23. Okto-
        ber dieses Jahres tagte der Dreigliedrige EU-Sozialgipfel
        in Brüssel. Der Präsident der EU-Kommission, José
        Manuel Barroso, sowie Vertreter der Arbeitgeber- und
        Arbeitnehmerverbände betonten gleichermaßen die Not-
        wendigkeit, das Vertrauen der Menschen in die Europäi-
        sche Union wiederherzustellen und die soziale Dimen-
        sion Europas zu stärken.
        Fakt ist aber, dass diese Forderung leider im klaren
        Widerspruch zur aktuellen Krisenbewältigungsstrategie
        der EU steht. Die Spar- und Austeritätspolitik war und
        ist kein Zukunftskonzept, weder ökonomisch, fiskalisch,
        sozial noch politisch. Ganz im Gegenteil: Sie hat die
        Problemlagen in den Krisenländern zum Teil zusätzlich
        noch verschärft.
        Die Lösungsstrategie der EU zur Überwindung der
        Krise umfasst vor allem Sparpakete und Strukturrefor-
        men, die durch Sozialabbau, Eingriffe in die Tarifauto-
        nomie und die Kürzung von Löhnen und Renten dazu
        geführt haben, dass sich die soziale Schieflage in Europa
        verschärft hat. Insbesondere die unteren Einkommens-
        schichten leiden massiv unter Ausgabenkürzungen im
        Gesundheitsbereich und einer mangelnden sozialen Ab-
        sicherung.
        Die aktuelle Situation in den Mitgliedstaaten erfor-
        dert, dass wir Europa gerechter, demokratischer und
        sozialer gestalten. Die Europäische Union ist mehr als
        eine „Fiskalunion“. Aus diesem Grund müssen die
        Grundwerte der europäischen Idee, wie die Solidarität
        unter den Mitgliedstaaten wieder in gelebtes politisches
        Handeln münden.
        Bereits in unserem Wahlkampfprogramm für die
        Europawahl 2014 haben wir gefordert, dass wirtschaftli-
        che Ungleichgewichte im Euroraum bekämpft werden
        müssen.
        Auf der einen Seite brauchen wir Konjunkturanreize
        und Zukunftsinvestitionen für eine Wachstumsperspek-
        tive. Damit haben wir in Deutschland gute Erfahrungen
        gemacht und sind am besten von allen Mitgliedstaaten
        durch die Krise gekommen. Auf der anderen Seite ge-
        hört zu einer sozial gerechten Investitionspolitik nach
        meiner Ansicht, die Wettbewerbs- und Innovationsfähig-
        keit in den Mitgliedstaaten mit sozial- und beschäfti-
        gungspolitischen Maßnahmen zu verbinden.
        Wirtschaftliche Prosperität und soziale Teilhabe gehö-
        ren zusammen. Wer sie gegeneinander ausspielt, gefähr-
        det den europäischen Einigungsprozess und sorgt
        schlussendlich dafür, dass sich immer mehr Menschen
        von Europa abwenden.
        Die Menschen müssen spürbar erleben, dass es für sie
        einen Mehrwert gibt. Wir wollen den Schutz von sozia-
        len Rechten, nicht deren Abbau. Wir wollen den Schutz
        der Spareinlagen, nicht den Schutz der Banken, und wir
        wollen mehr Demokratie, nicht mehr Bürokratie.
        Perspektivisch müssen wir die soziale Dimension der
        Wirtschafts- und Währungsunion stärken. Dazu gehört
        auch die Vereinbarung gemeinsamer europäischer Ziele
        für nationale Sozialausgaben.
        Diese Debatte gibt mir Gelegenheit, einmal herauszu-
        stellen, dass wir in der EU aber auch schon viel erreicht
        haben. Die Strukturpolitik der EU hat dazu geführt, dass
        die wirtschaftlichen Ungleichgewichte im Euro-Raum
        abgenommen haben. Der europäische Sozialfonds, ESF,
        beispielsweise investiert in der Förderperiode von 2014
        bis 2020 über 80 Milliarden Euro in Beschäftigungs- und
        Bildungsmaßnahmen. Hinzu kommen mindestens
        3,2 Milliarden Euro für die Jugendbeschäftigungshilfe.
        Aufgrund der aktuellen Situation in Griechenland oder
        Spanien, wo jeder zweite Jugendliche zwischen 15 und
        24 Jahren nach einer Ausbildung oder einer Festanstel-
        lung sucht, muss die Bekämpfung der Jugendarbeits-
        losigkeit im Zentrum einer gemeinsamen Sozialpolitik
        stehen.
        Diese jungen Menschen sind darauf angewiesen, dass
        wir die Rahmenbedingungen schaffen, um ihnen die
        Chance auf Bildung, eine qualifizierte Ausbildung und
        gute Jobs zu ermöglichen.
        Unter anderem hängt die Zukunft der Europäischen
        Union auch davon ab, dass wir diese jungen Menschen
        nicht im Stich lassen. Wie sollten sie an einem europäi-
        schen Haus weiterbauen, wenn sie auf dem Weg zum Er-
        wachsenwerden chancenlos bleiben? Aus diesem Grund
        unterstützt die SPD-Fraktion die Anstrengungen der EU-
        Kommission, junge Menschen in qualitativ hochwertige
        Arbeit zu bringen, uneingeschränkt. Was wir brauchen,
        ist eine europäische Jugendgarantie, die vorsieht, dass
        jeder arbeitslose Jugendliche unter 25 Jahren binnen vier
        Monaten ein qualitativ hochwertiges Angebot für einen
        Job, eine Ausbildung oder ein Praktikum bekommt. Der
        Beschluss der EU, die finanzielle Ausstattung der Be-
        schäftigungsinitiative für Jugendliche auf die Jahre 2014
        und 2015 vorzuziehen, ist deshalb durchweg zu begrü-
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2014 6319
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        ßen. Wir dürfen die Sozialpolitik nicht als reinen Kos-
        tenfaktor sehen, sondern als die zentrale Voraussetzung
        zur Überwindung der Krise.
        Selbstverständlich stimmen wir dem vorliegenden
        Gesetzentwurf zu, der lediglich eine institutionelle
        Anpassung vorsieht, und wünschen uns, dass die Er-
        folgsgeschichte der Europäischen Union durch eine so-
        zial gerechtere Politik fortgeschrieben werden kann. Eu-
        ropa braucht neue Ideen und Impulse, um die Ideale der
        Freiheit, des Wohlstands und der sozialen Gerechtigkeit
        für alle Menschen in der EU zu verwirklichen.
        Alexander Ulrich (DIE LINKE): Jeder vierte Euro-
        päer ist heute von Armut betroffen. In einigen ost- und
        südeuropäischen Ländern sind es deutlich über 30 Pro-
        zent, teilweise über 40 Prozent. Vor allem in den letzten
        Jahren hat die Armut rasant zugenommen. Dabei sollte
        mit der Europa-2020-Strategie das Gegenteil erreicht
        werden. Diese Strategie ist gescheitert.
        Beispiel Griechenland: Dort ist die Armutsquote zwi-
        schen 2009 und 2013 von 27,6 auf 35,7 Prozent gestie-
        gen. Und selbst dieser deutliche Anstieg bildet das
        Drama nur teilweise ab. Definiert wird Armut nämlich
        als ein Einkommen, dass niedriger ist als 60 Prozent des
        Durchschnittseinkommens der jeweiligen Gesellschaft.
        Da aber die Einkommen insgesamt stark gesunken sind,
        sind auch das Durchschnittseinkommen und damit die
        Armutsgrenze immer weiter gesunken. So galt 2009 in
        Griechenland noch als arm, wer weniger als 7 521 Euro
        im Jahr bekam. Heute liegt die Grenze nur noch bei
        5 452 Euro.
        Ähnlich ist die Lage in den anderen südeuropäischen
        Ländern auch. In Osteuropa sieht es teilweise noch
        schlimmer aus – und zwar nicht erst seit der Krise.
        Aber Armut ist bei weitem nicht ausschließlich ein
        südosteuropäisches Problem. Auch in Deutschland liegt
        die Armutsquote heute bei über 20 Prozent. 8,6 Prozent
        der Erwerbstätigen arbeiten hierzulande zu Löhnen un-
        terhalb der Armutsgrenze. Unter den Arbeitslosen sind
        dank Hartz IV und Agenda 2010 sogar fast 70 Prozent
        betroffen – deutlich mehr als in jedem anderen EU-Mit-
        gliedstaat.
        Dabei sind das Schlimmste gar nicht einmal die nack-
        ten Zahlen. Es sind nämlich nicht nur immer mehr Men-
        schen von Armut betroffen, die Armut ist auch härter ge-
        worden. Immer häufiger geht sie mit dauerhafter sozialer
        Ausgrenzung, mit Obdachlosigkeit oder Krankheiten
        einher, die heute nur noch bei jenen behandelt werden,
        die es sich leisten können.
        Wo wir also auch hinschauen, wenn es um Armut
        geht, haben wir in Europa dringenden Gesprächsbedarf.
        Insofern ist der Sozialgipfel eine begrüßenswerte Initia-
        tive. Aber wir haben nicht nur Gesprächsbedarf, wir ha-
        ben vor allem Handlungsbedarf. Hier wird uns der Gip-
        fel nicht weiterhelfen.
        Dieser Gipfel ist Ausdruck eines grundlegenden Pro-
        blems, das sich durch die gesamte Geschichte der EU-
        Integration zieht. Während es im Bereich der Wirtschafts-
        und Fiskalpolitik immer weitere Kompetenzübertragun-
        gen auf die EU-Ebene gab, blieb es im Bereich der So-
        zialpolitik bei unverbindlichen Lippenbekenntnissen. So
        ist ein riesiges Ungleichgewicht entstanden. Ökonomische
        Interessen werden sozialen Interessen systematisch über-
        geordnet.
        Dieses Ungleichgewicht können wir heute ganz prak-
        tisch beobachten: Während Gesundheitssysteme kolla-
        bieren, Familien ihre Kinder nicht mehr ernähren kön-
        nen und eine ganze Generation junger Südeuropäer ins
        Exil getrieben wird, haben EU und EU-Mitgliedstaaten
        1 700 Milliarden Euro zur Rettung maroder Banken mo-
        bilisiert und die Steuern auf Vermögen und Profite sogar
        noch weiter gesenkt.
        Da hilft uns auch kein Sozialgipfel weiter, der nur zu
        neuen Lippenbekenntnissen führt. Wir müssen handeln!
        Wir müssen das Europäische Haus vom Kopf auf die
        Füße stellen. Solange der Steuerwettbewerb und die
        Steuerflucht nicht gestoppt werden, solange Maastricht-
        Regeln und Fiskalpakt permanent Druck auf die staatli-
        chen Ausgaben legen, solange Pleitebanken mit Steuergel-
        dern gerettet werden und solange es keine verbindlichen
        sozialen Rechte und keine ernsthafte demokratische
        Kontrolle auf EU-Ebene gibt, so lange werden wir nicht
        in der Lage sein, die schwerwiegenden sozialen Pro-
        bleme in den Griff zu bekommen. Wenn wir die Grund-
        fehler der EU-Integration nicht schnell und entschieden
        beheben, dann wird uns das ganze Projekt bald um die
        Ohren fliegen.
        Was glauben Sie, warum der immense Vertrauensvor-
        schuss, den die Europäische Integration einmal hatte,
        fast vollkommen verpufft ist, warum es in kaum einem
        Mitgliedstaat mehr eine Mehrheit für diese Art der Inte-
        gration gibt? Weil immer mehr Menschen mit Europa
        eine Verschlechterung ihrer Lebensverhältnisse, Armut
        und Ausgrenzung verbinden.
        Europa muss sozial und demokratisch sein! Ein
        Europa der Banken und Konzerne wird scheitern!
        Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN): Wir behandeln heute ein Zustimmungs-
        gesetz, welches nötig ist, damit der deutsche Vertreter im
        Rat einem Beschlussvorschlag im Rat zustimmen kann.
        Bei diesem Beschlussvorschlag geht es um eine Anpas-
        sung des Dreigliedrigen Sozialgipfels an die durch den
        Vertrag von Lissabon veränderten institutionellen Gege-
        benheiten. Daran ist selbstverständlich nichts auszuset-
        zen, auch wenn die Frage erlaubt sein muss, weshalb
        diese Anpassung erst über zehn Jahre nach dem Vertrag
        von Lissabon nun final erfolgen kann.
        Nichtsdestotrotz möchte ich diese Gelegenheit zum
        Anlass nehmen, die Bedeutung der Sozialpartnerschaft
        gerade auch für die Beratungen auf europäischer Ebene
        zu unterstreichen. Wir machen in Deutschland schon
        lange sehr gute Erfahrungen damit, dass die Sozialpart-
        ner eine Vielzahl von Angelegenheiten selbst regeln und
        in anderen wichtige Ansprechpartner für die Politik sind.
        Auch die internationale Arbeitsorganisation kennt schon
        lange das Prinzip der guten Zusammenarbeit zwischen
        6320 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2014
        (A) (C)
        (D)(B)
        Politik, Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbänden. Diese
        Zusammenarbeit hat auch auf der europäischen Ebene
        bereits eine lange Tradition. Seit 1957 tagt als beratendes
        Organ regelmäßig der Europäische Wirtschafts- und So-
        zialausschuss, ab 1970 gab es den Ständigen Ausschuss
        für Beschäftigungsfragen der Europäischen Gemein-
        schaft, welcher – basierend auf einem Vorschlag der So-
        zialpartner – nach der Jahrtausendwende in seine heutige
        Form, den Dreigliedrigen Sozialgipfel, umgebaut wurde.
        Dort treffen sich nun mindestens einmal jährlich Ver-
        treter der Sozialpartner, der Kommission und des Rates.
        Einer der Gründe für diesen Umbau war die Wahrneh-
        mung bei einigen Teilnehmern, dass das frühere Format
        „etwas erlahmt sei“ mit der Zeit.
        So weit die Geschichte und Theorie.
        Aber wie sieht es denn nun in der Praxis aus, was
        kann eine solche Veranstaltung bewirken? Nach eigener
        Darstellung soll der Dreigliedrige Sozialgipfel „einen
        Beitrag zur Effizienz des sozialen Dialogs für die Ausar-
        beitung und Durchführung der Wirtschafts- und Sozial-
        politik der Europäischen Union“ leisten: ein durchaus
        spannendes und ambitioniertes Unterfangen – gerade in
        Krisenzeiten, wie den letzten Jahren –, möchte man mei-
        nen. Kann man also nach zehn Jahren davon sprechen,
        dass der Umbau geglückt ist?
        Offen gestanden habe ich meine Schwierigkeiten, auf
        diese Fragen eine Antwort zu finden: Wenn wir für einen
        Moment auf die zum Teil fatalen sozialen Folgen der
        Krise schauen, kann ich mir schwerlich vorstellen, dass
        es hier einen sozialen Dialog gegeben hat oder dass So-
        zialpartner signifikant eingebunden waren. Im Gegen-
        teil, das Ergebnis ihrer Verhandlungen wurde stellen-
        weise schlicht aufgehoben durch die Krisenpolitik.
        Auch muss ich zu meinem großen Bedauern feststel-
        len, dass von diesem Sozialgipfel selten etwas in den
        Medien zu vernehmen ist. Das erweckt zumindest nicht
        den Anschein, dass es um die Einbindung der Sozialpart-
        ner ums Beste bestellt ist.
        Sehr geehrte Frau Nahles, sicher stimmen Sie mit mir
        darin überein, dass gerade eine effektive Einbindung der
        Sozialpartner dringend vonnöten ist, wenn mit der Ver-
        tiefung der sozialen Dimension in der Wirtschafts- und
        Währungsunion ernst gemacht werden soll. Allerdings
        möchte ich, ohne das zuletzt Gesagte schmälern zu wol-
        len, auch darauf hinweisen, dass es eine Reihe wichtiger,
        weiterer Akteure in der Zivilgesellschaft gibt – darunter
        zuvörderst die Wohlfahrtsverbände –, welche auch in
        entsprechenden Fragen der Sozialpolitik einbezogen
        werden sollten. Dies ist bekanntermaßen auch gute
        Übung hierzulande.
        Daher möchte ich an Sie, Frau Bundesministerin ap-
        pellieren: Setzen Sie sich sowohl in Deutschland als
        auch in der EU für einen funktionierenden sozialen Dia-
        log ein, einen sozialen Dialog, der diesen Namen ver-
        dient und den entsprechenden Akteuren auch hinreichen-
        den Mitwirkungsmöglichkeiten einräumt. Und wenn es
        dafür einer Revision des Sozialgipfels bedarf – die So-
        zialpartner werden dann sicher selbst Vorschläge unter-
        breiten –, bitte ich Sie um eine aktive Rolle. In jedem
        Fall bitte ich Sie, sich dafür einzusetzen, dass der Sozial-
        gipfel im Rahmen des Europäischen Semesters eine
        deutlichere und auch gewichtigere Rolle bekommt – ja,
        und damit eine Rolle, die auch öffentlich wahrgenom-
        men wird.
        Anlage 6
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
        Verbesserung der Rechtsstellung von asylsu-
        chenden und geduldeten Ausländern (Tagesord-
        nungspunkt 18)
        Andrea Lindholz (CDU/CSU): Wir erleben derzeit
        die größte Flüchtlingskatastrophe seit Ende des Zweiten
        Weltkrieges. Die Vereinten Nationen schätzen, dass
        weltweit 50 Millionen Menschen auf der Flucht sind.
        Rund 17 Millionen gelten als Flüchtlinge im völker-
        rechtlichen Sinne. Das entspricht in etwa der Bevölke-
        rung von Nordrhein-Westfalen.
        Europa ist ein Hauptziel für Flüchtlinge, die nicht nur
        ihr Land, sondern auch ihre Heimatregion verlassen.
        Der europäische Kontinent verspricht ihnen Sicherheit,
        Hilfsbereitschaft, Freiheit und Wohlstand.
        Die traurige Wahrheit aber ist, dass die meisten EU-
        Staaten für Flüchtlinge kaum mehr als Transitländer
        sind. Der massive Flüchtlingsdruck konzentriert sich auf
        wenige Länder innerhalb Europas. Jeder zweite Asyl-
        antrag in Europa wird heute in Deutschland oder Schwe-
        den gestellt.
        Deutschland erbringt seit Jahren eine einzigartige
        Leistung beim Flüchtlingsschutz, einerseits mit massiver
        Hilfe vor Ort in den Krisenregionen wie rund um Syrien,
        andererseits durch die großzügige Aufnahme und Inte-
        gration von Flüchtlingen. Der UN-Flüchtlingskommis-
        sar Guterres lobte Deutschland ausdrücklich als Vorbild
        für Europa.
        Bereits 2013 waren die Asylbewerberzahlen hierzu-
        lande um 70 Prozent im Vergleich zum Vorjahr gestie-
        gen. In diesem Jahr sind sie erneut um über 55 Prozent
        gestiegen. Allein im vergangenen Oktober hat das Bun-
        desamt für Migration und Flüchtlinge mehr Asylanträge
        verzeichnet als im gesamten ersten Quartal 2013. Die
        Zeitung Die Welt titelte daher kürzlich: „Deutschland ist
        das Flüchtlingsheim Europas“.
        Greifbar werden diese Zahlen, wenn man in unsere
        Kommunen geht, die den Zustrom an Flüchtlingen mit
        großartigem Einsatz und unglaublicher Hilfsbereitschaft
        bewältigen. Die Leistungen auf der kommunalen Ebene
        können nicht hoch genug bewertet werden.
        Allein in meinem Wahlkreis in der Region Aschaffen-
        burg kommen jede Woche bis zu 30 neue Asylbewerber
        an und werden versorgt. Insgesamt beherbergt Bayern
        derzeit rund 49 600 leistungsberechtigte Flüchtlinge.
        Damit bietet Bayern mehr Flüchtlingen Schutz als Ita-
        lien, Spanien und Griechenland zusammen im laufenden
        Jahr neue Asylanträge angenommen haben.
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        Flüchtlinge erhalten bei uns nicht nur Essen, Klei-
        dung, Unterkunft und eine gute Gesundheitsversor-
        gung. Ihre Kinder werden zudem beschult und Erwach-
        sene in Integrations- und Sprachkursen auf ein Leben in
        Deutschland vorbereitet. Zahllose Helfer in Deutschland
        kümmern sich um die Flüchtlinge. Für diesen Einsatz
        sind wir überaus dankbar.
        In diesem Jahr werden insgesamt über 200 000 Asyl-
        anträge in Deutschland erwartet. In rund 30 Prozent aller
        Fälle wird Schutz gewährt. Ein Rückgang der Flücht-
        lingszahlen und der Gesamtschutzquote ist nicht zu er-
        warten. Die desaströse Lage in Syrien, Afghanistan oder
        Eritrea wird sich auf absehbare Zeit wohl kaum verbes-
        sern. Die Ebolakrise in Westafrika oder der Konflikt in
        der Ostukraine können hingegen zusätzliche Flüchtlings-
        ströme verursachen.
        Angesichts dieses massiven Flüchtlingsdrucks ist es
        elementar wichtig, dass wir unsere begrenzten Mittel ef-
        fektiv einsetzen. Wir müssen unsere Hilfe auf diejenigen
        konzentrieren, die tatsächlich asylberechtigt sind, weil
        sie in ihrer Heimat verfolgt werden. Flucht vor Armut ist
        zwar verständlich, sie ist aber keine Begründung für
        Flüchtlingsschutz. Das deutsche Asylsystem dient dem
        Schutz vor Verfolgung und nicht der Entwicklungshilfe.
        Um die steigende Zahl der sogenannten Wirtschafts-
        flüchtlinge einzudämmen, hatten wir bereits im Juli
        beschlossen, Serbien, Bosnien-Herzegowina und Maze-
        donien zu sicheren Herkunftsstaaten zu erklären. Aus
        diesen Ländern stammen rund 17 Prozent aller Asyl-
        anträge in Deutschland, obwohl die Schutzquote für
        diese Länder seit Jahren quasi bei 0 Prozent liegt. Solche
        aussichtlosen Asylanträge können nun schneller abge-
        schlossen werden.
        Dieses Gesetz war wichtig, weil es zur Entlastung des
        deutschen Asylsystems beiträgt. Damit es in Kraft treten
        konnte, war ein Kompromiss im Bundesrat notwendig.
        Das Ergebnis dieses Kompromisses ist der vorliegende
        Gesetzentwurf zur Verbesserung der Rechtsstellung von
        Asylsuchenden und Geduldeten in Deutschland.
        Im Wesentlichen sieht der Gesetzentwurf drei Verbes-
        serungen vor. Erstens soll die Residenzpflicht nach drei
        Monaten gelockert werden. Die ausgeweitete Bewe-
        gungsfreiheit kann die Integration und die Arbeitsplatz-
        suche fördern. Zweitens wird das Sachleistungsprinzip
        auf Aufnahmeeinrichtungen beschränkt. Sachleistungen
        bleiben aber möglich, um Versorgungsengpässe zu über-
        brücken. Drittens wird die Vorrangprüfung für Asylbe-
        werber oder Geduldete aufgehoben, wenn sie sich seit
        15 Monaten ununterbrochen erlaubt, geduldet oder mit
        einer Aufenthaltsgestattung in Deutschland aufhalten.
        Diese Regelung wird gemäß der Protokollerklärung des
        Bundesrates auf drei Jahre befristet und verfällt, sofern
        sie nicht erneut beschlossen wird. Sollte sich die Ar-
        beitsmarktsituation in Deutschland eintrüben, kann die
        bisher geltende Vorrangprüfung also wieder aufleben.
        Ebenso müssen wir auch die Auswirkungen der anderen
        beiden Verbesserungen genau beobachten und evaluie-
        ren.
        Zweifellos ist es richtig, dass wir die Integration in
        unsere Gesellschaft und in unseren Arbeitsmarkt erleich-
        tern. Das Ziel muss sein, schutzbedürftige Flüchtlinge
        möglichst schnell zu integrieren und auf die eigenen Fü-
        ßen zu stellen.
        Gleichzeitig müssen wir aber darauf achten, dass die
        Verbesserungen auf diejenigen beschränkt bleiben, die
        tatsächlich asylberechtigt sind. Das erreichen wir nur,
        wenn aussichtslose Asylanträge zügig abgeschlossen
        und die Rückführung konsequent durchgeführt wird.
        Dazu müssen wir die Dauer der Asylverfahren auf
        drei Monate reduzieren, so wie es im Koalitionsvertrag
        vereinbart wurde. Das ist genau der Zeitraum, in dem die
        Residenzpflicht auch weiterhin Bestand haben soll.
        Um die Asylverfahren entsprechend zu beschleuni-
        gen, hat die Koalition bereits 650 neue Stellen für das
        zuständige Bundesamt für Migration und Flüchtlinge be-
        willigt. Zusätzlich müssen wir das Asylverfahrensrecht
        vereinfachen und bestehende Vollzugshemmnisse bei
        der Aufenthaltsbeendigung reduzieren. Nur so können
        wir ein ausgewogenes Asylsystem in Deutschland schaf-
        fen, das den wirklich Schutzbedürftigen die beste Hilfe
        bietet.
        Entscheidend bleibt aber die Implementierung und
        Weiterentwicklung des europäischen Asylsystems. So-
        lange nur wenige Mitgliedstaaten der EU den Asylschutz
        so ernst nehmen wie Deutschland, wird es bei der un-
        gleichen Verteilung der Lasten bleiben. Das stellt ein er-
        hebliches Risiko für die Akzeptanz unseres Asylsystems
        in der Bevölkerung dar. Diese Gefahr darf niemand un-
        terschätzen, dem ein funktionierender Asylschutz wirk-
        lich am Herzen liegt.
        Rüdiger Veit (SPD): Vor rund einem Jahr befanden
        wir uns in den Koalitionsverhandlungen. Im Bereich
        Ausländer- und Asylrecht war ich an den Verhandlungen
        für die SPD-Fraktion beteiligt. Viele Punkte, die wir
        gerne für die SPD-Fraktion in den Koalitionsvertrag mit
        hineinverhandelt hätten, wurden damals so strikt nicht
        von dem Koalitionspartner gewollt und kamen somit
        auch nicht in den Koalitionsvertrag. Umso mehr freut es
        uns heute, dass sich einige der Verbesserungen für Asyl-
        bewerber und Geduldete, die wir damals schon gewollt
        haben, nunmehr in dem vorliegenden Gesetzentwurf
        wiederfinden.
        Dabei fing diese Erfolgsgeschichte zunächst mit dem
        Gesetz zur Einstufung weiterer Staaten als sichere
        Herkunftsstaaten und zur Erleichterung des Arbeits-
        marktzuganges für Asylbewerber und Geduldete an. Mit
        Bauchschmerzen haben wir diesem Gesetz zugestimmt,
        in erster Linie und vor allem deshalb, weil wir die in
        dem Gesetz enthaltenen Erleichterungen für die Arbeits-
        aufnahme von Asylbewerbern und Geduldeten für
        notwendig erachten. Es ist an dieser Stelle schon häufig
        gesagt worden, aber weil es gut und richtig ist, sage ich
        es noch einmal: Nunmehr wird die Frist, die ein Asyl-
        bewerber oder Geduldeter warten muss, bis er eine Ar-
        beit aufnehmen kann, auf drei Monate verkürzt werden.
        Bislang mussten Asylbewerber neun und Geduldete
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        zwölf Monate warten, bis sie in Deutschland arbeiten
        konnten. Diese Menschen haben nunmehr die Chance,
        selbst für ihren Unterhalt zu sorgen und ein selbstbe-
        stimmtes Leben zu führen.
        Auch die Mehrheit des Bundesrates hatte große Be-
        denken bezüglich der Aufnahme weiterer Staaten in den
        Katalog der sicheren Herkunftsstaaten. Die notwendige
        Zustimmung konnte nur erfolgen, nachdem die Bundes-
        regierung ganz in unserem Sinne weitere lebensnahe
        Verbesserungen für Asylbewerber und Geduldete zuge-
        sagt hatte, die jetzt in das vorliegende Rechtsstellungs-
        verbesserungsgesetz Eingang gefunden haben.
        So hatten wir bereits in unserem Regierungspro-
        gramm zur Bundestagswahl 2013 unseren Willen bekun-
        det, die sogenannte Residenzpflicht gänzlich abschaffen
        zu wollen. Leider konnten wir diese Position so nicht in
        den Koalitionsvertrag hineinverhandeln, sondern nur in
        einer abgeschwächten Form. Umso besser ist es, dass die
        Residenzpflicht nun doch abgeschafft wird nach einem
        dreimonatigen geduldeten, gestatteten oder erlaubten
        Voraufenthalt. Vollständigkeitshalber sei angemerkt,
        dass ich mir die Abschaffung der Residenzpflicht vom
        ersten Tag an hätte vorstellen können.
        Ich habe immer gesagt – und als ehemaliger Landrat
        weiß ich auch, wovon ich spreche –, dass es nicht nur für
        die Betroffenen von großem Vorteil ist, wenn sie statt
        Sachleistungen Geldleistungen erhalten, sondern auch
        die Kommunen darüber hinaus davon profitieren. Dies
        entspricht unserer Beschlusslage in der letzten Legislatur
        – Drucksache 17/11674: „Menschenwürdige Lebens-
        bedingungen für Asylbewerberinnen und Asylbewerber
        sowie Geduldete sicherstellen – Asylbewerberleistungs-
        gesetz reformieren“. Im Rechtsstellungsverbesserungs-
        gesetz wird nun dementsprechend das bislang geltende
        Prinzip des Vorrangs von Sachleistungen vor Geldleis-
        tungen umgekehrt: Mit Inkrafttreten des Gesetzes sind
        Geldleistungen gegenüber Sachleistungen grundsätzlich
        vorrangig.
        Problematisch ist allerdings die Möglichkeit einer
        Rückausnahme von diesem neuen Grundsatz, nachdem
        anstelle der Geldleistungen, „soweit es nach den
        Umständen erforderlich ist“, wieder Sachleistungen er-
        bracht werden können. Die Formulierung „nach den
        Umständen erforderlich“ ist beliebig weit ausdehnbar.
        Hier bedarf es meiner Ansicht nach einer Konkretisie-
        rung.
        Nicht im Rechtsstellungsverbesserungsgesetz, son-
        dern in einer am Montag dieser Woche durchs Kabinett
        gegangenen Verordnung des Bundesministeriums für
        Arbeit und Soziales wurden – entsprechend der Verein-
        barung des Bundesrates mit der Bundesregierung vom
        19. September 2014 und auch in Fortführung unseres
        Bestrebens, für weitere Erleichterungen bei der Arbeits-
        aufnahme für Geduldete und Asylbewerber zu sorgen –,
        neue Verbesserungen erreicht: Nunmehr ist geregelt,
        dass für Geduldete und Asylbewerber nach 15 Monaten
        Voraufenthalt in Deutschland die Vorrangprüfung ent-
        fällt.
        Die im Rechtsstellungsverbesserungsgesetz enthalte-
        nen guten Regelungen sind ein Erfolg, der nicht nur die
        Handschrift der fordernden grünmitregierten Länder
        trägt, sondern setzt vor allem um, was wir Sozialdemo-
        kratinnen und Sozialdemokraten seit langem an Verbes-
        serungen im Flüchtlingsbereich gefordert haben.
        Es verdient unserer aller Zustimmung.
        Ulla Jelpke (DIE LINKE): Die Bundesregierung legt
        hier heute einen Gesetzentwurf vor, mit dem der so ge-
        nannte „Asylkompromiss“ des Bundesrates umgesetzt
        werden soll. Im September hatte das Land Baden-Würt-
        temberg im Bundesrat der Einstufung von Bosnien-Her-
        zegowina, Mazedonien und Serbien als „sichere Her-
        kunftsstaaten“ gegen alle Kritik auch aus den Reihen der
        Grünen zugestimmt. Im Gegenzug hat sich die Bundes-
        regierung verpflichtet, einen Gesetzentwurf vorzulegen,
        mit dem die Rechtsstellung Asylsuchender und Gedulde-
        ter verbessert werden soll. Im Kern geht es um eine Lo-
        ckerung der Residenzpflicht und die Ablösung des Sach-
        leistungsprinzips im Asylbewerberleistungsgesetz durch
        den Vorrang von Geldleistungen für einen Teil der Leis-
        tungsberechtigten. Der ebenfalls versprochene Wegfall
        der Vorrangprüfung beim Zugang zu Beschäftigung nach
        den ersten 15 Monaten des Aufenthalts in Deutschland
        ist mittlerweile per Verordnung umgesetzt worden, eine
        Neuregelung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen zur
        Entlastung der Länder insbesondere bei der Gesund-
        heitsversorgung von Asylsuchenden und Geduldeten
        steht hingegen noch aus.
        Vorliegend werden also die Residenzpflicht und das
        Asylbewerberleistungsgesetz neu geregelt.
        Die Residenzpflicht für Asylsuchende und Geduldete
        soll nach dem Entwurf nach dreimonatigem Aufenthalt
        erlöschen. Für die Zeit der Unterbringung in einer Erst-
        aufnahmeeinrichtung im Asylverfahren gilt somit weiter
        die Residenzpflicht. Die Betroffenen können den Bezirk
        ihrer Ausländerbehörde nur mit einer Erlaubnis verlas-
        sen. Diese Erlaubnis soll auch weiterhin nur in sehr en-
        gen Grenzen erteilt werden, um beispielsweise Termine
        bei Behörden oder Gerichten wahrnehmen zu können.
        Asylsuchenden bleibt weiter verwehrt, Verwandte oder
        Freunde zu besuchen oder einfach das Land kennenzu-
        lernen, in dem sie zukünftig leben werden.
        Und auch nach den ersten drei Monaten kann die
        Ausländerbehörde weiter Aufenthaltsbeschränkungen
        verfügen. Dazu reicht jedwede rechtskräftige Verurtei-
        lung aufgrund einer Straftat, also auch bei Bagatelldelik-
        ten wie Ladendiebstahl oder Schwarzfahren. Diese Ein-
        schränkung gilt ohne jede zeitliche Befristung; gerade
        langjährig Geduldete bleiben so dauerhaft belastet, wenn
        sie zu Beginn ihrer Zeit in der Bundesrepublik einfache
        Straftaten begangen haben. Das ist vollkommen unver-
        hältnismäßig. Gleiches gilt für die zweite Ausnahmere-
        gelung: Wird Asylsuchenden oder Geduldeten ein Ver-
        stoß gegen das Betäubungsmittelgesetz zur Last gelegt,
        reicht schon der einfache Verdacht, um wieder die Resi-
        denzpflicht zu verhängen. Ebenfalls soll die Residenz-
        pflicht verhängt werden, wenn „aufenthaltsbeendende
        Maßnahmen konkret bevorstehen“. Diese Formulierung
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2014 6323
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        ist dehnbar; darunter kann schon der Versuch der Aus-
        länderbehörde fallen, einen Pass zu besorgen. Auch diese
        Regelung ist unverhältnismäßig und lässt Spielraum für
        willkürliches Behördenhandeln. Außerdem stellt sich die
        Frage, was diese Regelung in Bezug auf Asylsuchende
        soll – sie haben eine Aufenthaltsgestattung und sind im
        Gegensatz zu den Geduldeten nicht ausreisepflichtig.
        Bei ihnen können also aufenthaltsbeendende Maßnah-
        men ohnehin erst ergriffen werden, wenn ihr Asylantrag
        rechtskräftig abgelehnt wurde.
        Solange Betroffene Sozialleistungen beziehen, gelten
        für sie Wohnsitzauflagen, sie können also nicht selbst
        wählen, wo sie in Deutschland leben wollen. Mit der
        Neuregelung soll ihnen sogar eine bestimmte Wohnung
        zugewiesen werden können; das geht über das geltende
        Recht noch hinaus. Der Ministerpräsident von Schles-
        wig-Holstein, Torsten Albig, hat in seiner Rede vor dem
        Bundesrat zu Recht kritisiert, dass durch die Wohnsitz-
        auflage faktisch die Residenzpflicht erhalten bleibt – ein
        Wohnsitzwechsel ist ausgeschlossen, und bei den gerin-
        gen finanziellen Mitteln, die Beziehern von Leistungen
        nach dem Asylbewerberleistungsgesetz zur Verfügung
        stehen, ist es mit ihrer Bewegungsfreiheit dann auch
        nicht weit her. Wer den Wohnort eigenmächtig wechselt,
        soll keine Sozialleistungen mehr erhalten. Wie das mit
        der grundgesetzlich gebotenen menschenwürdigen Exis-
        tenzsicherung vereinbar sein soll, geht aus dem Gesetz-
        entwurf nicht hervor.
        Der Vorrang des Sachleistungsprinzips nach dem
        Asylbewerberleistungsgesetz wird künftig auf die Unter-
        bringung in Erstaufnahmeeinrichtungen beschränkt. Bei
        der Unterbringung außerhalb der Erstaufnahmeeinrich-
        tungen gilt spiegelbildlich der Vorrang der Geldleistung.
        Auch das ist nur ein Fortschritt mit angezogener Hand-
        bremse. Zudem enthält der Gesetzentwurf auch eine Öff-
        nungsklausel, die es Ländern wie Bayern ermöglicht, an
        ihrem ineffizienten und unwürdigen Lagersystem und
        am Sachleistungsprinzip in der Praxis festzuhalten. Da-
        mit gibt es weiterhin keine einheitlichen Lebensbedin-
        gungen für Asylsuchende in Deutschland. Die Koalition
        wird im weiteren Gesetzgebungsverfahren einiges nach-
        zubessern haben, damit das Gesetz seinem hochtraben-
        den Titel wenigstens einigermaßen gerecht werden kann.
        Luise Amtsberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        Die Abschreckungspolitik, wie sie in Deutschland seit
        Jahrzehnten praktiziert wird, ist inhuman und erfolglos.
        Sie setzt sich unter anderem aus folgenden Bestandteilen
        zusammen: Arbeitsverbot, elend lange Wartezeiten auf ei-
        nen Sprachkurs, Sachleistungen statt Bargeld, Einschrän-
        kungen der Bewegungsfreiheit durch die „Residenz-
        pflicht“, gesundheitliche Unterversorgung durch das
        Asylbewerberleistungsgesetz und der Zwang, in Mas-
        senunterkünften wohnen zu müssen.
        Wer aus seinem Heimatland vor Verfolgung und
        Krieg fliehen musste, lässt sich von solchen Schikanen
        aber nicht abhalten. Dennoch stellen sie gravierende
        Eingriffe dar und bedeuten einen ungeheuren – und auch
        teuren – bürokratischen Aufwand.
        All diese Abschreckungsmaßnahmen gehören restlos
        abgeschafft. Denn sie schaden nicht nur den Betroffe-
        nen, sondern der Gesellschaft insgesamt.
        Nun unternimmt die Bundesregierung – nicht ganz
        freiwillig – einen halbherzigen Versuch, einige der
        übelsten Auswüchse einer verfehlten und gescheiterten
        Politik abzumildern.
        Vorgesehen ist, dass die räumliche Beschränkung für
        Asylsuchende und Geduldete – die sogenannte Resi-
        denzpflicht – ab dem vierten Monat des Aufenthalts ab-
        geschafft wird. Das klingt gut. Denn die Residenzpflicht
        verbietet den Betroffenen das Reisen innerhalb Deutsch-
        lands unter Strafandrohung – eine gravierende, europa-
        weit einmalige Schikane, gegen die Flüchtlingsinitiati-
        ven zu Recht seit Jahren ankämpfen.
        Das Recht auf Bewegungsfreiheit soll nach der Neu-
        regelung jedoch nicht uneingeschränkt gelten. Denn für
        Geduldete ist vorgesehen, dass die Residenzpflicht im
        Einzelfall doch angewandt werden kann, wenn „aufent-
        haltsbeendende Maßnahmen … konkret bevorstehen“.
        Mit dieser angeblichen Ausnahme könnte die Residenz-
        pflicht für Geduldete durch die Hintertür wiedereinge-
        führt werden. Denn die Duldung besagt ja gerade, dass
        der Betroffene ausreisepflichtig bleibt und eine Abschie-
        bung theoretisch jederzeit möglich ist. Weiterhin wäre es
        durch restriktive Auslegung der Ausländerbehörde mög-
        lich, von der Schikane „Residenzpflicht“ Gebrauch zu
        machen. Ein klares „Nein“ zur Residenzpflicht sieht an-
        ders aus.
        Außerdem ist vorgesehen, durch eine parallele Ände-
        rung der Beschäftigungsverordnung den Arbeitsmarkt-
        zugang zu erleichtern. Das generelle Arbeitsverbot soll
        auf drei Monate begrenzt werden. Nach 15 Monaten
        Aufenthalt in Deutschland soll auch die Vorrangprüfung,
        wonach Deutsche und Unionsbürger bei der Stellenver-
        gabe grundsätzlich zu bevorzugen sind, vorläufig entfal-
        len. Aber auch hier gibt es zumindest einen gravierenden
        Haken: Denn es bleibt die Regelung unangetastet, wo-
        nach Ausländerbehörden generell die Arbeitsaufnahme
        verbieten können, wenn den Betroffenen vorgeworfen
        wird, sie seien selbst daran Schuld, dass sie bisher nicht
        abgeschoben werden konnten. Wer restriktiv agieren
        will, der hat rechtlich alle Mittel dazu.
        Die Abschaffung des Vorrangs des Sachleistungsprin-
        zips ist sicher ein Fortschritt. Aber auch hier soll es wie-
        der Ausnahmen geben können. Lebensmittelpakete und
        Gutscheine stellen eine unerträgliche Gängelung und
        Bevormundung dar; sie müssen endgültig der Vergan-
        genheit angehören.
        Im Übrigen zeigt der Gesetzentwurf in jeder einzel-
        nen Bestimmung, wie schwer der Bundesregierung der
        lang überfällige Abschied von Restriktionen und Schika-
        nen fällt. Beispielsweise müssen sich geduldete Auslän-
        der, die ihren zugewiesenen Wohnort für mehr als drei
        Tage vorübergehend verlassen wollen, weiterhin vorher
        bei der Ausländerbehörde abmelden. So fallen die Rege-
        lungen insgesamt engherzig und kleingeistig aus und
        überaus bürokratisch, so sehr, dass in der Ressortabstim-
        mung sogar die Länderbürokratien – in diesem Fall
        6324 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2014
        (A) (C)
        (D)(B)
        Rheinland-Pfalz – zu dem Schluss kommen: Die vorge-
        sehene Regelung erscheint zu kompliziert und wird aus
        fachlicher Sicht nicht befürwortet.
        Dies ist nach fachpolitischer Betrachtung nicht der
        große Wurf; es sind kleine Trippelschritte – angeschoben
        von der Opposition.
        Notwendig wäre es vielmehr, das Asylbewerberleis-
        tungsgesetz vollständig aufzuheben und nicht nur das
        Sachleistungsprinzip – ohnehin ein Auslaufmodell – ab-
        zuschaffen. So bleibt das Asylbewerberleistungsgesetz
        immer noch ein zentrales Instrument zur Diskriminie-
        rung und Ausgrenzung. Es ist längst an der Zeit, die Ver-
        sorgung von Flüchtlingen so zu regeln wie die Versor-
        gung anderer hilfsbedürftiger Menschen auch: durch
        Sozialleistungen nach dem Sozialgesetzbuch und men-
        schenwürdige medizinische Versorgung.
        Für den notwendigen Paradigmenwechsel – Inklusion
        statt Ausgrenzung – ist es unerlässlich, Schutzsuchenden
        in unserem Land ein selbstbestimmtes Leben zu ermög-
        lichen. Wir setzen uns daher für weitere Erleichterungen
        beim Arbeitsmarktzugang und frühzeitigen Zugang zu
        Sprachkursen ein. Denn Sprache und Arbeit sind die ent-
        scheidenden Schlüssel für ein selbstbestimmtes Leben in
        Deutschland. Es wird Zeit, dass auch die Bundesregie-
        rung dies begreift.
        Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär beim Bundes-
        minister des Innern: Angesichts der zahlreichen Krisen-
        regionen der Welt und erheblich steigender Asylbe-
        werberzahlen stehen Bund, Länder und Gemeinden vor
        großen Herausforderungen. Die Zahl der Asylbewerber
        in Deutschland steigt seit Jahren stark an: Im Jahr 2013
        wurden beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
        rund 127 000 Asylanträge gestellt. Das waren fast
        50 000 mehr als 2012.
        Von Januar bis Oktober dieses Jahres gab es bereits
        über 158 000 Anträge. Gegenüber dem Vergleichszeit-
        raum 2013 ist die Zahl der Asylanträge damit um rund
        57 Prozent gestiegen. Der Migrationsdruck auf Europa,
        insbesondere über das Mittelmeer, ist hoch und wird al-
        ler Voraussicht nach weiter anhalten. Für 2014 prognos-
        tiziert das BAMF circa 200 000 Anträge, Tendenz stei-
        gend. Die Herausforderungen für Bund, Länder und
        Gemeinden werden daher künftig eher größer als kleiner
        werden.
        Ein großer Teil der Asylbewerber ist tatsächlich
        schutzbedürftig, ein Teil verfolgt aber auch wirtschaftli-
        che Motive mit der Asylantragstellung. Umso wichtiger
        ist es, dass wir eine Asylpolitik verfolgen, die hier aus-
        gewogen reagieren kann.
        Letzte Woche ist das Gesetz in Kraft getreten, mit
        dem die Westbalkanstaaten Serbien, Bosnien-Herzego-
        wina und Mazedonien als sichere Herkunftsstaaten ein-
        gestuft werden. Dies sind Staaten, bei denen die asyl-
        rechtliche Schutzquote bei nahezu null liegt.
        Mit dem Gesetz wurde auch die Wartefrist für den Ar-
        beitsmarktzugang für Asylbewerber und Geduldete auf
        drei Monate abgesenkt. Das Gesetz ist damit ein gutes
        Beispiel für die Balance, die wir im Asyl- und Auslän-
        derrecht gerade jetzt brauchen.
        Zum einen setzt das Gesetz das Signal, dass unser
        Rechtssystem nur den Menschen asylrechtlichen Schutz
        bieten soll, die diesen Schutz auch tatsächlich benötigen.
        Zum anderen ermöglichen wir den Asylbewerbern jetzt
        sehr früh, selbst für sich zu sorgen und sich mit ihren Fä-
        higkeiten am Arbeitsmarkt einzubringen.
        Solch ein ausgewogenes Vorgehen brauchen wir, um
        dem derzeitigen massiven Anstieg der Asylbewerber-
        zahlen zu begegnen und unser Asylsystem funktionsfä-
        hig zu halten. Wir wollen denen effektiv Schutz bieten
        können, die ihn tatsächlich brauchen, und die Vorausset-
        zungen für die Einbindung und Teilhabe der tatsächlich
        Schutzbedürftigen aufrechterhalten.
        Vor diesem Hintergrund hat die Bundesregierung an-
        lässlich der Zustimmung des Bundesrates zum genann-
        ten „Gesetz zu den sicheren Herkunftsstaaten“ am
        19. September 2014 einem Kompromiss zugestimmt.
        Sie hat eine Protokollerklärung abgegeben, mit der wei-
        tere Maßnahmen festgelegt wurden. Damit soll die
        Rechtsstellung von asylsuchenden und geduldeten Aus-
        ländern verbessert werden. Die Kosten für ihre Versor-
        gung werden aber weiter gerecht verteilt. Auch die
        Voraussetzungen, dass die Verwaltungen von Bund, Län-
        dern und Gemeinden weiterhin effizient handeln können,
        bleiben bestehen.
        Der heute diskutierte Gesetzentwurf der Bundesregie-
        rung setzt diese Protokollerklärung – soweit sie gesetzli-
        che Änderungen erfordert – um. Ziel der Bundesregie-
        rung ist es, die gemachten Zusagen möglichst rasch zu
        realisieren. Sie hat für den Gesetzentwurf daher ein stark
        verkürztes Verfahren gewählt und auch den Bundesrat
        um Fristverkürzung gebeten.
        Entsprechend der Protokollerklärung vom 19. Sep-
        tember 2014 enthält der Gesetzentwurf zum einen
        Anpassungen im Asylverfahrensgesetz und im Aufent-
        haltsgesetz bei der räumlichen Beschränkung für Asyl-
        bewerber und Geduldete, der sogenannten Residenz-
        pflicht. Ziel ist die grundsätzliche Abschaffung der
        Residenzpflicht nach drei Monaten Aufenthalt im Bun-
        desgebiet. Um dabei weiterhin eine gerechte Verteilung
        der Sozialkosten zwischen den Ländern zu gewährleis-
        ten, wird eine Wohnsitzauflage für solche Asylbewerber
        und Geduldete eingeführt, deren Lebensunterhalt nicht
        gesichert ist. Sozialleistungen sollen lediglich an dem in
        der Wohnsitzauflage festgelegten Wohnsitz erbracht wer-
        den.
        Des Weiteren sieht der Gesetzentwurf Anpassungen
        im Asylbewerberleistungsgesetz vor. In seiner bisheri-
        gen Form gilt das Sachleistungsprinzip zukünftig nur
        noch während der Zeit, in der sich Asylbewerber in einer
        Erstaufnahmeeinrichtung aufhalten. Im Anschluss sollen
        die Länder und Kommunen Leistungen an den an-
        spruchsberechtigten Personenkreis dann vorrangig als
        Geldleistungen erbringen. Nachrangig sollen Sachleis-
        tungen, zum Beispiel um Versorgungsengpässe aufgrund
        steigender Asylbewerberzahlen zu decken, aber weiter-
        hin möglich bleiben. Leistungen für Unterkunft, Hei-
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2014 6325
        (A) (C)
        (D)(B)
        zung und Hausrat können wahlweise als Geld- oder
        Sachleistung erbracht werden, um hier die Flexibilität
        des Behördenhandelns zu wahren. Schließlich soll nach
        der Protokollerklärung gleichzeitig mit den genannten
        Maßnahmen auch die Vorrangprüfung für den Arbeits-
        marktzugang für Asylbewerber und Geduldete – bei
        Fachkräften gänzlich und bei allen anderen nach einem
        Inlandsaufenthalt von 15 Monaten – entfallen. Die
        hierzu erforderliche Rechtsverordnung der Bundes-
        ministerin für Arbeit und Soziales zur Änderung der
        Beschäftigungsverordnung ist bereits vorgestern, am
        11. November 2014, in Kraft getreten. Auch dieser As-
        pekt der Protokollerklärung ist damit umgesetzt.
        Der Gesetzentwurf stellt damit einen wichtigen Bau-
        stein dar, um unser Asylsystem funktionsfähig zu erhal-
        ten, um Asylmissbrauch zu bekämpfen und die Möglich-
        keit der Teilhabe für Verfolgte zu erhöhen.
        Anlage 7
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
        dem Europäischen Übereinkommen vom 27. No-
        vember 2008 über die Adoption von Kindern
        (revidiert) (Tagesordnungspunkt 19)
        Dr. Sabine Sütterlin-Waack (CDU/CSU): Ich freue
        mich, dass wir heute dem Plenum eine einstimmig ange-
        nommene Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses
        vorlegen können. Über die Fraktionsgrenzen hinweg
        sind wir uns einig, dass Deutschland das revidierte Euro-
        päische Übereinkommen über die Adoption von Kindern
        nach der bereits geleisteten Zeichnung am 23. Mai die-
        ses Jahres nun auch ratifizieren soll.
        Für was steht das revidierte Europäische Überein-
        kommen zur Adoption von Kindern?
        Ziel des Übereinkommens ist die Vereinheitlichung
        der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten des Europa-
        rats bezüglich der Adoption von Kindern.
        Ich möchte besonders darauf hinweisen, dass unser
        deutsches Recht dafür nur in einem einzigen Punkt an
        das Übereinkommen angepasst werden muss: Die Frist
        zur Aufbewahrung der Vermittlungsakten ist anders zu
        berechnen, als es der § 9 b des Adoptionsvermittlungs-
        gesetzes derzeit vorsieht. Dieser geringe Anpassungsbe-
        darf zeigt: Die Bundesrepublik Deutschland hat hohe
        Standards, wenn es um die Adoption von Kindern geht.
        Mit der Zeichnung und Ratifikation unterstützt Deutsch-
        land nun auch die Durchsetzung dieser Standards in den
        Mitgliedsländern des Europarats.
        Deutschland wäre damit das achte Land innerhalb der
        Runde der Mitgliedstaaten des Europarats, welches das
        Übereinkommen umsetzt. 17 Mitgliedstaaten haben das
        Übereinkommen bislang unterzeichnet.
        Das revidierte Übereinkommen ersetzt das Europäi-
        sche Übereinkommen von 1967 über die Adoption von
        Kindern, das bereits früh, insbesondere durch die tief-
        greifenden gesellschaftlichen Veränderungen Ende der
        Sechzigerjahre, nicht mehr als zeitgemäß anzusehen war.
        Um diesem Umstand Abhilfe zu verschaffen, wurde das
        Übereinkommen durch mehrere Übereinkommen erwei-
        tert. Die Rechte der Kinder sind unter anderem durch das
        Europäische Übereinkommen von 1975 über die Recht-
        stellung der unehelichen Kinder, das Übereinkommen
        der Vereinten Nationen vom November 1989 über die
        Rechte des Kindes, das Haager Übereinkommen von
        1993 über den Schutz von Kindern und die Zusammen-
        arbeit auf dem Gebiet der internationalen Adoption und
        das Europäische Übereinkommen von 1996 über die
        Ausübung von Kinderrechten gestärkt worden.
        Geändert hat sich auch die Rechtsposition des nicht-
        ehelichen Vaters. Sie hat sich deutlich verbessert. In vie-
        len Ländern ist nicht mehr nur die Ehe die rechtliche
        Verbindung zwischen zwei Menschen, die zusammen le-
        ben, füreinander Verantwortung übernehmen oder eine
        Familie gründen wollen. In Deutschland können zwei
        gleichgeschlechtliche Partner seit 2001 eine eingetra-
        gene Lebenspartnerschaft begründen.
        Vor diesem Hintergrund wurde es zwangsläufig not-
        wendig, das Adoptionsübereinkommen aus dem Jahr
        1967 im Rahmen des Europarats unter Federführung des
        Europäischen Ausschusses für rechtliche Zusammenar-
        beit zu überarbeiten. Nach Annahme des Übereinkom-
        mens durch das Ministerkomitee des Europarats wurde
        es 2008 zur Zeichnung aufgelegt.
        Wo liegen nun die Unterschiede? Die Kinderrechte
        und das Kindeswohl werden noch stärker in den Mittel-
        punkt gestellt als in der Fassung von 1967. So ist nach
        der neuen Fassung nach Artikel 5 Absatz 1 b nunmehr
        die Zustimmung des Kindes zur Adoption notwendig,
        wenn dieses hinreichend verständig ist. Andernfalls
        – das regelt der Artikel 6 des revidierten Übereinkom-
        mens – ist das Kind dennoch soweit möglich anzuhören,
        und seine Meinung und Wünsche sind zu berücksichti-
        gen.
        Die Rechtsposition nichtehelicher Väter wird eben-
        falls verbessert, da nun auch ihre Zustimmung zur Adop-
        tion erforderlich ist. Im Übereinkommen von 1967 war
        die Zustimmung des Vaters beim „nichtehelichen“ Kind
        überhaupt nicht erforderlich. Dies widerspricht unter an-
        derem der Rechtsprechung des Europäischen Gerichts-
        hofs für Menschenrechte. Die Rechtstellung des Vaters
        eines nichtehelichen Kindes im deutschen Adoptions-
        recht wurde bereits im Zuge der Kindschaftsrechtsre-
        form von 1997 wesentlich gestärkt.
        Weitere zentrale Neuerungen des revidierten Überein-
        kommens beziehen sich auf die in Artikel 7 geregelten
        Bedingungen für die Adoption. In der „neuen“, revidier-
        ten Fassung des Übereinkommens ist etwas vorgesehen,
        das uns in Deutschland fremd erscheint: Auch heterose-
        xuelle Paare, die nicht verheiratet sind, sondern in einer
        eingetragenen Lebenspartnerschaft leben, können Kin-
        der adoptieren. Dies kann selbstverständlich nur dort
        gelten, wo das nationale Recht die Möglichkeit der Ein-
        gehung einer eingetragenen Lebenspartnerschaft für He-
        terosexuelle vorsieht. Wie gesagt, das gibt es in Deutsch-
        land nicht.
        6326 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2014
        (A) (C)
        (D)(B)
        Wie Sie, meine Damen und Herren, sicher schon ver-
        muten, gestattet das „alte“ Übereinkommen von 1967
        nur heterosexuellen Ehepaaren die Adoption. Im neuen
        Abkommen sollen nun auch homosexuelle Partner, die
        entweder verheiratet sind oder in einer eingetragenen Le-
        benspartnerschaft leben – die Regelungen sind innerhalb
        der Mitgliedstatten des Europarats sehr verschieden –,
        Kinder adoptieren dürfen. Das ist auch eine entschei-
        dende Änderung des revidierten Übereinkommens. Es
        wird den Mitgliedstaaten nunmehr freigestellt, die Suk-
        zessivadoption durch Paare, die in einer eingetragenen
        Lebenspartnerschaft, gleich welchen Geschlechts, leben,
        zuzulassen. In Deutschland ist das Gesetz zur Umset-
        zung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
        zur Sukzessivadoption durch Lebenspartner vom
        20. Juni 2014 am 27. Juni desselben Jahres bereits in
        Kraft getreten.
        Zudem besteht nunmehr die Möglichkeit im revidier-
        ten Übereinkommen, fakultativ im jeweiligen Adop-
        tionsrecht der Mitgliedstaaten auch die gemeinsame
        Adoption durch Lebenspartner zuzulassen.
        Soweit geht unser nationales Recht bekanntlich nicht.
        Bekanntermaßen haben wir im Frühsommer das Le-
        benspartnerschaftsgesetz in § 9 Absatz 7 geändert.
        Damit haben wir das Urteil des Bundesverfassungs-
        gerichts umgesetzt, das uns vorgegeben hatte, die Suk-
        zessivadoption für eingetragene Lebenspartner zu re-
        geln. Wir haben damals eine durchaus kontroverse
        Debatte zur Frage geführt, ob wir das deutsche Adop-
        tionsrecht auch dahingehend verändern sollten, eine ge-
        meinsame Adoption durch homosexuelle Paare zuzulas-
        sen. Die Mehrheit der Mitglieder des Deutschen
        Bundestages hat sich im Mai dieses Jahres dagegen aus-
        gesprochen. Die Sachlage hat sich seitdem nicht ent-
        scheidend verändert. Deshalb sieht die CDU/CSU-Frak-
        tion auch nicht im Kontext des revidierten europäischen
        Adoptionsübereinkommens die Notwendigkeit, von die-
        ser Option Gebrauch zu machen. Den Entschließungsan-
        trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen werden wir
        folglich nicht mittragen.
        Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD): Erst letzte Woche
        wurde die Debatte zur Ratifizierung des Europäischen
        Übereinkommens über die Adoption von Kindern zu so
        später Stunde angesetzt, dass die Redebeiträge zu Proto-
        koll gingen. Ich bedauere sehr, dass auch die zweite und
        dritte Lesung ohne mündliche Debatte stattfindet. Ers-
        tens wird dies dem Thema Gleichstellung gleichge-
        schlechtlicher Lebenspartnerschaften bei Weitem nicht
        gerecht, zweitens hat es eine größere Öffentlichkeit
        verdient, und drittens hätte eine öffentliche Auseinander-
        setzung der Diskussion sicherlich gutgetan.
        Ziel des Übereinkommens ist es, „gesellschaftliche
        und rechtliche Entwicklungen zu berücksichtigen und
        gleichzeitig die Europäische Menschenrechtskonven-
        tion einzuhalten“. Gelebte gesellschaftliche Realität ist
        es, dass sich gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaf-
        ten in keiner Weise von der Ehe unterscheiden.
        Dies haben auch der Europäische Gerichtshof sowie
        letztendlich das Bundesverfassungsgericht in seinem
        Urteil vom 19. Februar 2013, in dem es das Verbot der
        Sukzessivadoption durch eingetragene Lebenspartner für
        verfassungswidrig erklärte, bekräftigt. Deshalb überlässt
        das revidierte Übereinkommen es auch den Staaten,
        gleichgeschlechtlichen Lebenspartnern die gemeinsame
        Adoption zu ermöglichen.
        Bereits letzte Woche habe ich in meinem Beitrag
        deutlich gemacht, dass ich die Ratifizierung des Euro-
        päischen Übereinkommens für einen kleinen, aber den-
        noch wichtigen Schritt auf dem Weg hin zur absoluten
        Gleichstellung von gleichgeschlechtlichen Lebenspart-
        nerschaften halte.
        Jedoch ist er leider allenfalls hinreichend. Denn der
        letzte Schritt, Kindern eine fürsorgliche Familie zu
        ermöglichen, also auch die Volladoption für gleich-
        geschlechtliche Lebenspartner, ist mit unserem Koali-
        tionspartner bisher nicht möglich. Doch aufgeben gibt’s
        nicht! Ich werde weiter für die absolute Gleichstellung
        kämpfen.
        Es hat lange genug gedauert, bis Deutschland das re-
        vidierte Europäische Übereinkommen unterzeichnet hat.
        Sogar eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
        war dazu notwendig. Jetzt müssen wir bei der Ratifizie-
        rung mit gutem Beispiel vorangehen. Dem entsprechen-
        den Gesetz stimmen wir Sozialdemokratinnen und
        Sozialdemokraten selbstverständlich zu. Uns zufrieden
        zurücklehnen können und wollen wir jedoch nicht.
        Jörn Wunderlich (DIE LINKE): Ich beziehe mich
        auf die Protokollrede zur ersten Lesung und wiederhole
        und ergänze das dort Geschriebene.
        Das Europäische Übereinkommen vom 27. Novem-
        ber 2008 über die Adoption von Kindern (revidiert) ist
        am 1. September 2011 in Kraft getreten. Es ersetzt und
        modernisiert das Europäische Übereinkommen vom
        24. April 1967 über die Adoption von Kindern, dessen
        Vertragsstaat auch die Bundesrepublik Deutschland ist,
        unter stärkerer Berücksichtigung des Kindeswohls und
        insbesondere im Hinblick auf das Übereinkommen der
        Vereinten Nationen vom 20. November 1989 über die
        Rechte des Kindes, das Haager Übereinkommen vom
        29. Mai 1993 über den Schutz von Kindern und die Zu-
        sammenarbeit auf dem Gebiet der internationalen Adop-
        tion und das Europäische Übereinkommen vom 25. Ja-
        nuar 1996 über die Ausübung von Kinderrechten.
        Durch das Zustimmungsgesetz sollen die erforderli-
        chen Voraussetzungen gemäß Artikel 59 Absatz 2 Satz 1
        Grundgesetz für die Ratifikation des revidierten Über-
        einkommens geschaffen werden.
        Ziel des revidierten Übereinkommens ist, in den Un-
        terzeichnerstaaten – unter anderem Mitgliedstaaten des
        Europarats – gemeinsame Grundsätze hinsichtlich des
        Adoptionsrechts zu schaffen und so auch grenzüber-
        schreitende Adoptionen und deren Anerkennung zu er-
        möglichen.
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        Anpassungsbedarf im deutschen Recht besteht laut
        Bundesregierung nur insoweit, als die Frist zur Aufbe-
        wahrung der Vermittlungsakten anders zu berechnen sei,
        als es § 9 b des Adoptionsvermittlungsgesetzes, AdVer-
        miG, derzeit vorsieht.
        Dem Vertragsgesetz ist zuzustimmen. Das Überein-
        kommen ist recht progressiv und leistet einen Beitrag zu
        hohen Standards bei der Adoption im Sinne des Kindes-
        wohls in den Unterzeichnerstaaten.
        Vor allem begrüßenswert ist der Artikel 7 Absatz 2
        des Übereinkommens. Danach steht es den Staaten frei,
        den Anwendungsbereich des Übereinkommens „auf
        gleichgeschlechtliche Paare zu erstrecken, die miteinan-
        der verheiratet oder eine eingetragene Partnerschaft mit-
        einander eingegangen sind. Es steht den Staaten auch
        frei, den Anwendungsbereich dieses Übereinkommens
        auf verschieden-geschlechtliche Paare und gleichge-
        schlechtliche Paare zu erstrecken, die in einer stabilen
        Beziehung zusammenleben.“
        Da sich in den Ausschussberatungen keine Änderun-
        gen ergeben haben, bleibt es bei der Zustimmung durch
        die Linke.
        Auch wenn eine Verpflichtung dazu nicht durchsetz-
        bar war, ist schon allein die Einräumung dieser Möglich-
        keit ein deutlicher Fortschritt. Und wenn Mitgliedstaaten
        diese Möglichkeit regeln, müssen die anderen Unter-
        zeichnerstaaten dies anerkennen, was ebenfalls ein Fort-
        schritt ist.
        Leider führt die Bundesregierung zur Beschwichti-
        gung konservativer Kreise, eingeschlossen sie selbst, in
        der Gesetzesbegründung aus: „Von der in dem Überein-
        kommen eröffneten Möglichkeit, im nationalen Adop-
        tionsrecht die gemeinsame Adoption durch Lebenspart-
        ner zuzulassen, wird die Bundesregierung keinen
        Gebrauch machen“ (Seite 6).
        Hier will die Regierung nach wie vor bestehende Fa-
        milienstrukturen nicht entsprechend akzeptieren und an-
        erkennen und Kindern dieser Familien gesicherte
        Rechtspositionen, was nur beispielsweise das Erbrecht
        betrifft, verweigern. Aber für diese Gleichberechtigung
        und verbesserte Rechtsposition von Kindern wird Die
        Linke weiter kämpfen, notfalls auch wieder mit Unter-
        stützung des Bundesverfassungsgerichts. Schauen wir
        mal, wie lange die Regierung an ihrer Position festhalten
        will, kann oder darf.
        Und in diese Richtung geht der nun vorliegende An-
        trag der Grünen, die sich ebenso wie die Linke an dieser
        Ungleichbehandlung stören.
        Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        Es ist höchste Zeit, dass wir auch beim Adoptionsrecht
        Lebenspartnerschaften und Ehe hundertprozentig gleich-
        stellen. Mit dem heutigen Gesetzesbeschluss entfallen
        die letzten europarechtlichen Ausreden, dies nicht zu
        tun. 100 Prozent Gleichstellung hatten Sie von der SPD
        doch beschlossen! Stimmen Sie unserem Antrag heute
        zu, dann kann dies für das Adoptionsrecht heute wahr
        werden. Nicht das Bauchgefühl der Kanzlerin, sondern
        das Grundgesetz sollte Sie bei Ihrer Entscheidung leiten.
        Bereits zu Jahresbeginn hat meine Fraktion einen Ge-
        setzentwurf zum Europäischen Übereinkommen über die
        Adoption von Kindern eingebracht. Zu dem Zeitpunkt
        hat die Koalition den Gesetzentwurf allerdings noch ab-
        gelehnt.
        Jetzt fragt man sich, ob die Bundesregierung zur Ein-
        sicht gekommen ist und endlich die verfassungswidrige
        Benachteiligung von Lebenspartnerschaften gegenüber
        Ehen abschaffen will. Doch genau diesen längst notwen-
        digen Schritt in Sachen Gleichberechtigung schließt die
        Koalition in ihrer Antragsbegründung aus: „Von der in
        dem Überabkommen eröffneten Möglichkeit, im natio-
        nalen Adoptionsrecht die gemeinsame Adoption durch
        LebenspartnerInnen möglich zu machen, wird die Bun-
        desregierung keinen Gebrauch machen.“
        Das Bundesverfassungsgericht hat Anfang 2013 ein-
        getragenen Lebenspartnerinnen und -partnern das Recht
        auf Sukzessivadoption eingeräumt. Jetzt muss die Ratifi-
        zierung der revidierten Fassung des Europäischen Adop-
        tionsübereinkommens folgen. Mit der neuen Fassung be-
        kommen die Vertragsstaaten die Möglichkeit,
        gleichgeschlechtlichen Paaren in ihrem nationalen Recht
        Adoption zu erlauben. Die Adoption für gleichge-
        schlechtliche, verpartnerte Paare ist allerdings als Opt-
        out-Option formuliert, das heißt, es bleibt den Mitglied-
        staaten überlassen, ob sie diese Möglichkeit nutzen. Das
        Übereinkommen in der Fassung von 1967 sah die ge-
        meinschaftliche Adoption nur für Verheiratete vor. Es
        war lange Ausrede für SPD wie Union, eine gemein-
        schaftliche Adoption durch eingetragene Lebenspartner
        nicht zuzulassen. Schweden und das Vereinigte König-
        reich haben aus diesem Grund das Übereinkommen vor
        einigen Jahren gekündigt, um nicht gegen diese Passage
        zu verstoßen. Seit 2008 ist nun die revidierte Fassung
        verabschiedet und seit 2011 in Kraft, und es wird Zeit,
        dass auch Deutschland endlich einen gleichstellungspo-
        litischen Schritt voran macht und das Abkommen ratifi-
        ziert.
        Der Bundestag sollte der Bundesregierung in ihrer
        diskriminierenden Stillstandspolitik nicht folgen und
        sich den Auftrag des Bundesverfassungsgerichts zu Her-
        zen nehmen. In seiner Entscheidung vom 19. Februar
        2013 hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt:
        „Unterschiede zwischen Ehe und eingetragener Le-
        benspartnerschaft, welche die ungleiche Ausgestaltung
        der Adoptionsmöglichkeiten rechtfertigen könnten, beste-
        hen nicht“ (BVerfG, 1 BvL 1/11 vom 19. Februar 2013,
        Rn. 104). Genau das wird hier allerdings – mal wieder –
        ignoriert. Das ist nicht nur falsch und beschämend, son-
        dern auch gleich doppelt verfassungswidrig. Nicht nur
        werden Schwule und Lesben in Lebenspartnerschaften
        bei der Sukzessivadoption gegenüber Ehepaaren benach-
        teiligt, sondern auch die gemeinschaftliche Adoption
        wird verweigert. Den Kindern fehlt es dadurch an Si-
        cherheit: Sie leben nicht in einer rechtlich anerkannten
        Familie, und sie werden im Unterhalts- und Erbrecht be-
        nachteiligt. Dabei sind die Bedenken, dass es Kindern in
        Regenbogenfamilien weniger gut gehe, längst ausge-
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        räumt. Sämtliche Studien kommen zu dem Ergebnis,
        dass Kinder, die mit gleichgeschlechtlichen Eltern auf-
        wachsen, keinen Nachteil davon haben. Dies hat sogar
        die Bundesregierung bestätigt. Die Koalition sollte diese
        Gelegenheit nutzen und ihre Blockade bei der Anglei-
        chung des Adoptionsrechts für Lesben und Schwule end-
        lich aufgeben.
        Gerade weil Studien zu Regenbogenfamilien und An-
        hörungen von Experten immer wieder zu dem Schluss
        kommen, dass das Kindeswohl in Regenbogenfamilien
        nicht gefährdet ist, sondern gefördert wird, ist es umso
        absurder, dass CDU/CSU immer wieder diesen ideologi-
        schen Zombie aus der Argumentekiste holen. Ganz of-
        fensichtlich ist das Kindeswohl für CDU/CSU immer
        noch zweitrangig. Ihnen geht es darum, Ressentiments
        zu bedienen, und um die Zustimmung von homophoben
        Stammtischen. Aus Angst vor den Rechtspopulisten der
        AfD wird hier auf dem Rücken von Kindern verfas-
        sungsfeindliche Politik gemacht. Ginge es wirklich um
        den Schutz der Familie und um das Kindeswohl, dann
        würden Sie sich dafür einsetzen, diese Eltern-Kind-Be-
        ziehungen rechtlich abzusichern. Und die SPD, die im
        Wahlkampf 100 Prozent Gleichstellung versprochen hat,
        scheitert, blamiert sich gerade mit der Umsetzung. Die
        ist nämlich nicht nur mangelhaft, liebe SPD, sondern un-
        terirdisch.
        Anlage 8
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
        Umsetzung der Richtlinie 2011/99/EU über die
        Europäische Schutzanordnung, zur Durchfüh-
        rung der Verordnung (EU) Nr. 606/2013 über
        die gegenseitige Anerkennung von Schutzmaß-
        nahmen in Zivilsachen und zur Änderung des
        Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen
        und in den Angelegenheiten der freiwilligen Ge-
        richtsbarkeit (Tagesordnungspunkt 20)
        Dr. Sabine Sütterlin-Waack (CDU/CSU): Der vor-
        liegende Gesetzentwurf dient in erster Linie der Umset-
        zung der Richtlinie über die Europäische Schutzanord-
        nung sowie der Durchführung der Verordnung über die
        gegenseitige Anerkennung von Schutzmaßnahmen in Zi-
        vilsachen.
        Bereits heute gibt es in allen EU-Staaten Opferschutz-
        maßnahmen. Diese können bislang aber nur in dem Mit-
        gliedsstaat durchgesetzt werden, in dem sie erwirkt wor-
        den sind. Derartige Maßnahmen können erwirkt werden,
        wenn das Leben der zu schützenden Person, ihre körper-
        liche oder psychische Unversehrtheit, ihre Freiheit, Si-
        cherheit oder sexuelle Integrität in Gefahr sind. Die ge-
        richtlich festzustellenden Schutzmaßnahmen können
        beispielsweise die Verpflichtung beinhalten, sich der ge-
        fährdeten Person nicht weiter als bis auf eine bestimmte
        Entfernung zu nähern oder bestimmte Orte nicht zu be-
        treten oder – heute ganz wichtig – nicht mit ihr in einen
        wie auch immer gearteten medialen Kontakt zu treten.
        Aufgrund der Richtlinie und der Verordnung kann in Zu-
        kunft jeder, der seinen Wohnort in ein anderes Mitglieds-
        land verlegt, einen ähnlichen Schutz beantragen, den er
        bereits in seinem Heimatland erstritten hat. Es findet
        keine erneute Sachprüfung statt, sodass hier eine wesent-
        liche Erleichterung für die Betroffenen zu verzeichnen
        ist.
        Der entscheidende Unterschied zwischen der Richtli-
        nie und der Verordnung besteht in der Entstehungsart der
        Schutzmaßnahmen. Die Richtlinie ist nur auf Schutz-
        maßnahmen in Strafsachen anwendbar. Diese Schutz-
        maßnahme muss also nach einer strafrechtlichen Ent-
        scheidung bzw. in einem Strafverfahren angeordnet
        worden sein. Ausschlaggebend für die Anordnung einer
        nationalen Schutzmaßnahme ist ausschließlich, dass
        nach dem nationalen Recht strafbares Verhalten vorliegt.
        Das deutsche Recht kennt jedoch nur Gewaltschutzanord-
        nungen nach dem Gewaltschutzgesetz, die auf zivilrecht-
        licher Grundlage ergehen. Das Opfer von Gewalttaten ist
        berechtigt, einen Antrag nach dem Gewaltschutzgesetz
        zu stellen. Dies kann sowohl in einem Verfahren der
        einstweiligen Anordnung als auch in einem Hauptsache-
        verfahren geschehen. Die strafrechtlichen Schutzmaß-
        nahmen sind folglich dem deutschen Recht fremd und
        können auf diese Weise nicht erlassen werden. Aufgrund
        der Richtlinie kommt Deutschland daher lediglich als
        vollstreckender Staat in Betracht. Die Verordnung hinge-
        gen vervollständigt die Richtlinie und regelt die Über-
        tragbarkeit der zivilrechtlichen Gewaltschutzanordnun-
        gen, sodass die in Deutschland erlassenen Maßnahmen
        in anderen Mitgliedsländern einen ähnlichen Schutz ge-
        nießen.
        Am 13. Dezember 2011 verabschiedete die Europäi-
        sche Union die Richtlinie über die Europäische Schutzan-
        ordnung. Am 12. Juni 2013 beschloss sie die Verordnung
        über die gegenseitige Anerkennung von Schutzmaßnah-
        men in Zivilsachen. Diese Rechtsakte sollen sich gegen-
        seitig vervollständigen und gemeinsam einen effektiven,
        europaweiten Schutz der Opfer vor Gewalt gewährleis-
        ten. Diese Richtlinie ist bis zum 11. Januar 2015 umzu-
        setzen. Ab diesem Tag gilt ebenfalls die Verordnung.
        Für die Umsetzung der Richtlinie sowie Durchfüh-
        rung der Verordnung bedarf es nationaler Umsetzungs-
        bzw. ergänzender Durchführungsvorschriften, die dieser
        Gesetzentwurf beinhaltet. Diese Vorschriften werden
        aufgrund der besonderen Bedeutung in einem eigenstän-
        digen Gesetz, namentlich EU-Gewaltschutzverfahrens-
        gesetz, normiert.
        Durch die Richtlinie sollen Schutzmaßnahmen für
        Opfer von Straftaten gewährleistet bleiben, die ihr Recht
        auf Freizügigkeit wahrnehmen und ihren Wohnort in ei-
        nen anderen EU-Mitgliedstaat verlegen. Durch das
        Recht auf Freizügigkeit dürfen den Unionsbürgern keine
        Nachteile durch möglichen Verlust des Schutzes entste-
        hen.
        Die Gewährleistung des Schutzes für die Opfer soll
        wie folgt geregelt werden: Die Behörde eines EU-Staa-
        tes ordnet eine Schutzmaßnahme nach dem nationalen
        Recht an. Im zweiten Schritt erlässt die Behörde des ent-
        sprechenden Staates eine Europäische Schutzanordnung.
        Nach dem Umzug des EU-Bürgers in einen anderen EU-
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2014 6329
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        Staat erkennt dieser Staat die bereits erlassene Schutzan-
        ordnung an und erlässt eine nach dem nationalen Recht
        in einem vergleichbaren Fall vorgesehene Maßnahme.
        Die Verordnung vervollständigt die Richtlinie, indem
        sie die Übertragbarkeit der angesprochenen zivilrechtli-
        chen Gewaltschutzanordnungen regelt. Die Verordnung
        betrifft ebenfalls den Gewaltopferschutz, der in einem
        Mitgliedstaat durch die Justiz- oder eine andere Behörde
        angeordnet wurde und in einem anderen Mitgliedstaat
        anzuerkennen ist.
        Diese Verordnung beseitigt also das bisher erforderli-
        che Exequaturverfahren, in dem die Voraussetzungen der
        Anerkennung der Vollstreckbarkeit im Inland geprüft
        werden. Um eine Schutzmaßnahme in einem anderen
        EU-Mitgliedstaat geltend zu machen, benötigt die zu
        schützende Person eine Bescheinigung, die auf Antrag
        durch die Entscheidungsbehörde des Heimatstaats aus-
        gestellt wird. Mit dieser Bescheinigung kann die gefähr-
        dete Person in dem Mitgliedstaat ihres Aufenthaltes die
        Anerkennung und gegebenenfalls Vollstreckung der
        Schutzmaßnahme beantragen. Entscheidend ist, dass
        keine erneute Sachprüfung stattfindet.
        Die zeitgerechte Umsetzung der Richtlinie und der
        Verordnung ist zu begrüßen. Hierdurch schaffen wir
        Rechtssicherheit und erhöhen das Vertrauen in den
        grenzüberschreitenden Schutz der EU-Bürger. Körperli-
        che und seelische Gewalt bedeutet für das Opfer immer
        einen enormen Einschnitt in das eigene Leben. Beson-
        dere Bedeutung hat diese Gewalt, wenn sie im engen so-
        zialen Umfeld stattfindet. Daher gilt es, die Opfer sol-
        cher Taten effektiv und schnell schützen zu können.
        Meine langjährige anwaltliche Tätigkeit verdeutlichte
        mir, dass die meisten Gewaltschutzverfahren emotional
        belastend und entsprechend aufwendig für die Beteilig-
        ten waren. Aus diesem Grund sollte der Schutz der ge-
        fährdeten Person im Vordergrund stehen. Sie sollte des-
        halb das Verfahren im Falle eines Umzugs in einen EU-
        Mitgliedstaat nicht erneut durchlaufen. Die Anerken-
        nung und Vollstreckung der Schutzmaßnahmen dürfen
        keine wiederholte Belastung für das Opfer darstellen.
        Um diesem notwendigen Schutz der EU-Bürger/innen
        gerecht zu werden, wird die Erleichterung beim Aner-
        kennen und Vollstrecken der Schutzmaßnahmen durch
        die Richtlinie und die Verordnung von unserer Fraktion
        befürwortet.
        Im vorliegenden Entwurf wird ferner eine Änderung
        des FamFG aufgenommen, die das Scheidungsverbund-
        verfahren betrifft.
        Für einen ganz speziellen Fall sollen den Beteiligten
        im Ehescheidungsverbundverfahren Rechtsmittel abge-
        schnitten werden. Damit soll eine mögliche Doppelehe
        vermieden werden. Da aber auch ein wirtschaftliches
        Ungleichgewicht entstehen kann, habe ich Bedenken.
        Dieser Teil unterliegt im Übrigen nicht der bereits ge-
        nannten Umsetzungsfrist zum 11. Januar 2015.
        Das Verbundprinzip soll eine gleichzeitige und ab-
        schließende Regelung aller Folgen einer Ehescheidung
        ermöglichen. An diesem Verfahren wird der Versor-
        gungsträger im Rahmen des Versorgungsausgleichver-
        fahrens ebenfalls beteiligt. Durch diese Beteiligung im
        Verfahren erlangt der Versorgungsträger ein Beschwer-
        derecht, wenn er materiell in seinen Rechten verletzt ist.
        Wird dennoch der Versorgungsträger fälschlicherweise
        nicht beteiligt oder einem beteiligten Versorgungsträger
        die Entscheidung nicht bekannt gegeben, hat er die Mög-
        lichkeit, auch nach vermeintlichem Eintritt der Rechts-
        kraft Rechtsmittel einzulegen, da für ihn nach den allge-
        meinen Rechtsgedanken keine Fristen laufen. Hat nun
        nach vermeintlichem Eintritt der Rechtskraft einer der
        ehemaligen Eheleute erneut geheiratet, besteht die Ge-
        fahr der Doppelehe, da die alte Ehe nicht rechtskräftig
        geschieden worden ist. Dies will der Gesetzentwurf ver-
        hindern.
        Wenn nun allerdings, wie es der Gesetzentwurf vor-
        sieht, die Anschlussrechtsmittel der Beteiligten für die-
        sen speziellen Fall abgeschnitten werden, wird zwar die
        Gefahr der Doppelehe vermieden, das Gesamtkonstrukt
        des Verbundes Ehescheidung, bestehend aus Versor-
        gungsausgleich, Zugewinnausgleich, Kindes- und Ehe-
        gattenunterhalt, könnte aber in Schieflage geraten.
        Stellen Sie sich folgenden Fall vor: Die Beteiligten
        haben eine Gesamtvereinbarung getroffen, in der ein
        ausgeglichenes Verhältnis der zuvor genannten Folgesa-
        chen besteht. Da nun aber der Versorgungsträger die
        Möglichkeit hat, einen Baustein des Konstruktes, näm-
        lich den Versorgungsausgleich, zu ändern, kann das
        Gesamte unausgeglichen werden. Für den Fall der
        nachträglichen Einlegung eines Rechtsmittels des Ver-
        sorgungsträgers müssen die Beteiligten also die Mög-
        lichkeit haben, die anderen Folgesachen auch zu ändern.
        Sie müssen daher die Möglichkeit der Anschlussbe-
        schwerde behalten. Die Rechtskraft der Ehescheidung
        soll unangetastet bleiben.
        Meine Damen und Herren, Sie sehen, die Sache ist
        kompliziert. Es besteht aus unserer Sicht weiterer Dis-
        kussionsbedarf, den wir innerhalb der Umsetzungsfrist
        der Gewaltschutzanordnung nicht sachgerecht bewälti-
        gen können. Deshalb hält es meine Fraktion für notwen-
        dig, den Artikel 5 des Gesetzentwurfs abzutrennen und,
        dem Änderungsantrag folgend, eine mögliche Regelung
        der ursprünglich vorgesehenen Änderung des Gesetzes
        über das Verfahren in Familiensachen vorerst zurückzu-
        stellen.
        Dennis Rohde (SPD): Heute verabschieden wir das
        Gesetz zur Umsetzung der europäischen Richtlinie über
        die Europäische Schutzanordnung. Damit kommen wir
        als deutscher Bundestag unserer Verantwortung nach,
        unseren Beitrag zu Sicherheit und Freiheit in Europa zu
        leisten. Indem wir dafür sorgen, dass auch in Deutsch-
        land der Schutz vor Gewalt und Nachstellung verein-
        facht und verbessert wird, leisten wir heute auch einen
        Beitrag zur fortschreitenden Einigung Europas und zur
        Realisierung der Freizügigkeit.
        Die Richtlinie über die Europäische Schutzanordnung
        normiert ein unkompliziertes, unbürokratisches Verfah-
        ren, mit dem gesetzliche Maßnahmen zum Schutz vor
        Gefährdung innerhalb Europas auch über die Staatsgren-
        zen hinaus anerkannt und angewandt werden können.
        6330 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2014
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        Wer nach Deutschland zieht und an seinem vorherigen
        Wohnort gesetzliche Schutzmaßnahmen genossen hat,
        der soll nicht befürchten müssen, in unserem Land plötz-
        lich ungeschützt dazustehen.
        Bislang war es nötig, in diesem Fall am neuen Wohn-
        ort Schutzmaßnahmen zu beantragen. Bei der damit un-
        trennbar verbundenen zeitlichen Verzögerung konnte
        dies zu realen Gefahren führen. Künftig hingegen soll
        die Anwendung ausländischer Schutzmaßnahmen in un-
        serem Land erheblich vereinfacht werden: Auf Antrag
        der zu schützenden Person beim für ihre Wohngegend
        zuständigen Familiengericht wird eine europäische
        Schutzanordnung erlassen, mit der die in einem anderen
        europäischen Land erlassenen Schutzmaßnahmen auch
        in Deutschland angewandt werden. Abgelehnt werden
        kann dies ausschließlich aus formellen Gründen, wenn
        zum Beispiel relevante Informationen fehlen oder es im
        Land des vorherigen Wohnorts eben gar keine Schutz-
        maßnahmen gegeben hat. In jedem anderen Fall soll die
        Anpassung zügig und unbürokratisch erfolgen.
        Im Vergleich mit dem ursprünglichen Entwurf dieses
        Gesetzes enthält der Änderungsantrag der Fraktionen der
        SPD und der CDU/CSU noch Verbesserungen. Statt der
        wenig konkreten Begriffe „Gläubiger“ und „Schuldner“
        werden die Parteien nun klar und deutlich als „ge-
        schützte Person“ und „gefährdende Person“ bezeichnet.
        Zudem haben wir klargestellt, dass die gefährdende Per-
        son nicht angehört werden muss, ehe eine europäische
        Schutzanordnung erlassen werden kann. Hier setzen wir
        klar auf den Schutz des Opfers.
        Die europäische Einigung sollte gerade daran gemes-
        sen werden, wie sie ganz reale Verbesserungen für
        schutzbedürftige Menschen bringt. Solange Opfer von
        Stalking und Gewalt bei einem Umzug innerhalb Euro-
        pas riskieren, sich wieder schutzlos Gefahren auszuset-
        zen, so lange ist die Freizügigkeit nicht für alle Realität.
        Eine europäische Einigung der Wirtschaft und des Wa-
        renflusses, die dabei die Freiheit und Sicherheit des Ein-
        zelnen ausklammert, ist nicht unsere sozialdemokrati-
        sche Vorstellung von Europa. Erst die Schaffung eines
        europäischen Raums, in dem jeder Mensch sich tatsäch-
        lich frei bewegen kann, ohne durch veraltete rechtliche
        Regelungen Gefahren befürchten zu müssen, verwirk-
        licht die europäische Einigung. Erst dann wächst Europa
        wirklich zusammen.
        Darum ist der heutige Gesetzentwurf auch so wichtig.
        Das Konzept Europäische Schutzanordnung beschäftigt
        dieses Haus nicht zum ersten Mal. Schon im Jahr 2010
        hat der Bundestag sich mit den damals kursierenden Plä-
        nen befasst. Die SPD-Bundestagsfraktion hat damals die
        Europäische Schutzanordnung richtigerweise begrüßt,
        aber auch die noch allzu bürokratischen und komplizier-
        ten Regelungen kritisiert. Ich freue mich, dass wir heute
        eine viel konkretere, einfachere und damit den Bedürf-
        nissen schutzbedürftiger Personen besser angepasste
        Richtlinie umsetzen können. Hier hat sich gezeigt, dass
        es sich lohnt, wenn die nationalen Parlamente sich klar
        zu europäischen Vorhaben positionieren.
        Die Änderung von § 145 des Gesetzes über das Ver-
        fahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten
        der freiwilligen Gerichtsbarkeit, FamFG, die aus prakti-
        schen Erwägungen ursprünglich ebenfalls in diesem Ge-
        setzentwurf enthalten war, nehmen wir zunächst per Än-
        derungsantrag heraus. Wir wollen mit dieser Regelung
        eine Lücke im Familienrecht schließen, bei der durch die
        rechtliche Ausgestaltung von Folgesachen im Schei-
        dungsverbund das Problem auftreten kann, dass durch
        Versehen der Verwaltung Ehescheidungen nicht rechts-
        kräftig werden und so potenziell Doppelehen entstehen
        können. Diese Änderung ist wichtig und richtig. Aber
        wir sind der Meinung, dass es mehr Zeit für weitere Be-
        ratungen bedarf, damit am Ende auf jeden Fall eine zu-
        friedenstellende Lösung steht. Gerade in solchen Fragen
        ist es wichtig, gründlich zu arbeiten.
        Mit der Umsetzung der Richtlinie zur Europäischen
        Schutzanordnung tragen wir als Bundestag dafür Sorge,
        dass in Europa Freizügigkeit, Gleichheit und Sicherheit
        weiter Realität werden. Wir zeigen damit, dass wir fakti-
        sche Hindernisse der Freizügigkeit erkennen und mit
        Augenmaß und Sachverstand beseitigen. In diesem
        Sinne begrüße ich noch einmal den breiten Konsens
        auch über die Fraktionsgrenzen hinaus, den die Europäi-
        sche Schutzanordnung zumindest grundsätzlich erfahren
        hat. Ich würde mich freuen, wenn diese konstruktive Zu-
        sammenarbeit nicht nur bei diesem Thema ausgebaut
        werden könnte.
        Jörn Wunderlich (DIE LINKE): Ich beziehe mich
        auf den Inhalt meiner Protokollrede von der ersten Le-
        sung und wiederhole diesen ausdrücklich.
        In den Beratungen sind die Berichterstatter der Frak-
        tionen zu der Überzeugung gelangt, dass die Änderun-
        gen hinsichtlich des FamFG nicht so schnell behandelt
        werden können, sondern eingehender Beratung bedür-
        fen. Von daher wurde dieser Teil des Gesetzes abgetrennt
        und zunächst zurückgestellt.
        Damit ist ein wesentlicher Teil, der noch Änderungs-
        bedarf hat, vorerst nicht entschieden, sodass dem vorlie-
        genden restlichen Gesetzentwurf zugestimmt werden
        kann.
        Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Bun-
        desregierung legt uns hier ein Gesetz vor, das zum einen
        die EU-Richtlinie über die Europäische Schutzanord-
        nung umsetzen soll und ursprünglich eine Rechtsschutz-
        verkürzung im Scheidungsverfahren beinhaltete.
        Nachdem der Gesetzentwurf zunächst ohne Debatte
        durchs Parlament gehen sollte, haben wir aufgrund von
        Bedenken der Anwaltsverbände hinsichtlich der Rechts-
        schutzverkürzung auf einer Befassung bestanden.
        Hier sollte den geschiedenen Eheleuten die An-
        schlussbeschwerde künftig versagt werden, wenn ein
        Versorgungsträger nach Rechtskraft der Ehescheidung
        Beschwerde gegen den Versorgungsausgleich eingelegt
        hat.
        Diese Konstellation kann sich ohnehin nur dann erge-
        ben, wenn der Versorgungsträger nicht ordnungsgemäß
        am Verfahren beteiligt wurde; denn anderenfalls laufen
        für alle Beteiligten die gleichen Rechtsmittelfristen.
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2014 6331
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        (D)(B)
        Durch den Verbund von Ehescheidung und Versor-
        gungsausgleich soll aber gerade der wirtschaftlich
        schwächere Ehegatte geschützt werden, indem er sich
        auf eine gleichzeitige und abschließende Regelung aller
        Folgen einer Ehescheidung verlassen können soll. Es
        kann nämlich durchaus so sein, dass man sich über an-
        dere Folgesachen, wie bspw. Unterhalt oder Zugewinn
        im Hinblick auf den Versorgungsausgleich, geeinigt hat.
        Die Ehescheidung und die Folgesache sind deshalb im-
        mer als „Paket“ zu betrachten.
        Am Ende sind dann sowohl die Berichterstatterin der
        Union als auch ich selbst zu der übereinstimmenden
        Auffassung gelangt, dass die Änderung des § 145 des
        Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in
        den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit,
        FamFG, nicht zielführend ist.
        Mit einem Änderungsantrag der Mehrheitsfraktionen
        wurde das Problem beseitigt, sodass es jetzt nur noch um
        die Umsetzung der Richtlinie zum Gewaltschutz geht.
        So stellt man sich ein ordnungsgemäßes parlamentari-
        sches Verfahren vor, in dem dann auch sinnvolle Verbes-
        serungen ihren Weg ins Gesetz finden und Fehler recht-
        zeitig erkannt werden. Ich betone das gerade in dieser
        Woche, in der die Große Koalition mal wieder in einer
        komplexen Materie umfangreiche Gesetzesänderungen
        an einem Dienstagnachmittag an den Rechtsausschuss
        übermittelt, um sie Mittwochmorgen beschließen zu las-
        sen.
        Die Umsetzung der Gewaltschutzrichtlinie ist hinge-
        gen weitgehend unstrittig. Dass Schutzmaßnahmen in
        Strafsachen in anderen EU-Ländern leichter anerkannt
        und vollstreckt werden können, ist sicher sinnvoll, zumal
        sich das rot-grüne Gewaltschutzgesetz seit seiner Ein-
        führung sehr bewährt hat.
        Die praktische Bedeutung des grenzüberschreitenden
        Gewaltschutzverfahrensgesetzes dürfte allerdings eher
        gering sein. Es ist daher bedauerlich, dass es nicht gelun-
        gen ist, diese Regelungen in bestehende Gesetze zu inte-
        grieren. So gibt es jetzt ein weiteres gesondertes Gesetz
        zu Fällen, von denen man noch gar nicht weiß, ob sie
        praktisch relevant sind. Dennoch wollen wir dieser Um-
        setzung von EU-Recht nicht im Wege stehen und werden
        dem Gesetz zustimmen.
        Anlage 9
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
        Berichts: Nationales Reformprogramm 2014
        nutzen – Wirtschaftspolitische Steuerung in der
        EU ernst nehmen und Investitionen stärken (Ta-
        gesordnungspunkt 27 a)
        Dr. Andreas Lenz (CDU/CSU): Erneut fordern
        Bündnis 90/Die Grünen in Ihrem Antrag: Nationales Re-
        formprogramm 2014 nutzen. Da auch Sie sich mit Ihrem
        Antrag wiederholen, kann ich Ihnen nur wiederholt ent-
        gegenbringen: Wir nutzen das Reformprogramm, um die
        deutsche Wirtschaft voranzubringen, mehr denn je.
        Der Antrag Ihrer Fraktion ist im Wesentlichen über-
        flüssig. Viele Ihrer Forderungen sind bereits im Koali-
        tionsvertrag aufgenommen und werden bereits umge-
        setzt. Die falschen Dinge, die sie fordern, werden nicht
        richtiger, nur weil Sie sie erneut fordern. Wir nehmen die
        Analyse der EU-Kommission selbstverständlich ernst.
        Wir wissen, dass wir eine zu geringe Investitionsquote
        haben. Unsere Außenhandelsüberschüsse sind hoch, was
        ein Zeichen der hohen Wettbewerbsfähigkeit der deut-
        schen Wirtschaft ist; Sie kritisieren dies. Die Binnen-
        nachfrage steigt bereits – wir wissen aber, dass hier wei-
        tere Steigerungen wünschenswert wären. Die deutschen
        Außenhandelsüberschüsse sind Ausdruck der hohen
        Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen, darunter
        zahlreicher kleiner und mittelständischer Unternehmen,
        die in ihrem Bereich Weltmarktführer sind. Deutsche
        Produkte werden nach wie vor auf den Weltmärkten
        stark nachgefragt. Hier muss noch einmal klar betont
        werden, dass die Kommission für Deutschland eben ge-
        rade keine „zukunfts- und stabilitätsgefährdenden“ Un-
        gleichgewichte festgestellt hat. Es handelt sich laut
        Kommission zwar um Ungleichgewichte, aber um keine
        exzessiven Ungleichgewichte. Von dieser Wettbewerbs-
        fähigkeit profitieren die gesamten EU-Länder.
        Im Übrigen finden 43 Prozent der Wertschöpfung
        deutscher Exportprodukte durch Vorleistungen im EU-
        Ausland statt. Und: 57 Prozent aller deutschen Importe
        stammen aus anderen EU-Mitgliedstaaten.
        Diese Tatsachen bzw. Erfolge schaffen Beschäftigung
        und Wohlstand nicht nur bei uns, sondern auch in den
        anderen EU-Ländern.
        Es lässt sich überdies feststellen, dass der Anteil der
        deutschen Exporte an Länder außerhalb der EU zuneh-
        mend wächst. So beträgt der Anteil der Handelsüber-
        schüsse in Drittländer außerhalb der EU 140,5 Milliar-
        den Euro, also 72 Prozent. Der Anteil des Überschüsse
        in die Nicht-Euro-EU beträgt 42,1 Milliarden Euro, der
        Handelsbilanzüberschuss in die Euro-Länder lediglich
        1 Milliarde Euro. Es schadet also auch hier nicht, eine
        europäische Perspektive einzunehmen. Auch die Euro-
        zone insgesamt konnte einen Handelsüberschuss in
        Höhe von 152 Milliarden Euro erzielen, und das, obwohl
        der Euro rund 7 Prozent an Wert zulegte, sich also die
        Exporte in Relation verteuerten.
        Nicht nur die Kommission, auch die Bundesregierung
        weist auf die international zu niedrige Investitionsquote
        Deutschlands hin. Ich möchte betonen, dass wir die Be-
        lebung der privaten und öffentlichen Investitionen für
        Deutschland zu einem Schwerpunkt dieser Legislaturpe-
        riode erklärt haben. Investitionen sind das Fundament
        für Wachstum und Beschäftigung einer Volkswirtschaft.
        Deshalb besteht eine zentrale wirtschaftspolitische Auf-
        gabe darin, die Investitionen in Deutschland zu stärken.
        Erste umfangreiche Maßnahmen sind bereits durch die
        Umsetzung des Koalitionsvertrags auf den Weg ge-
        bracht: Wir investieren: 4 Milliarden Euro in die For-
        schung, 5 Milliarden Euro in die Verkehrsinfrastruktur,
        5 Milliarden Euro für die Kommunen, 6 Milliarden in
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        die Bildung und Betreuung. In diesem Jahr werden die
        Kommunen durch die Übernahme der Grundsicherung
        im Alter durch den Bund um 1,1 Milliarden Euro ent-
        lastet. Letzte Woche erst bewilligte Bundesminister
        Schäuble für den Zeitraum von 2016 bis 2018 weitere
        zusätzliche Mittel für öffentliche Investitionen in Höhe
        von 10 Milliarden Euro. Diese Investitionen sollen best-
        möglich eingesetzt werden. Hierfür können auch die Er-
        gebnisse einer Expertenkommission aus Unternehmens-
        und Gewerkschaftsvertretern, Verbandsspitzen und Wis-
        senschaft beitragen, die an einem Bericht über die Inves-
        titionslage in Deutschland arbeiten.
        Wenn Sie jetzt glauben, dieses Investitionsprogramm
        sei wegen Ihnen und Ihren Anfragen entstanden, dann ist
        das in etwa so, als wenn der Hahn morgens meint, die
        Sonne ginge wegen seines Krähens auf.
        Darüber hinaus prüft das Bundesministerium für
        Wirtschaft und Energie weitere Handlungsoptionen, um
        die gesamtwirtschaftliche Investitionsdynamik zu stär-
        ken. Es geht dabei zum einen darum, die Rahmenbedin-
        gungen für private Investitionen zu verbessern und In-
        vestitionshemmnisse abzubauen. Zum anderen geht es
        um Konzepte, wie in Zukunft der Erhalt und der Ausbau
        der öffentlichen Infrastruktur finanziert werden kann.
        Dafür soll insbesondere privates Kapital mobilisiert wer-
        den. Nun ist es so, dass von den jährlichen Investitionen
        in Deutschland in Höhe von circa 460 Milliarden Euro
        circa 9 Prozent auf den öffentlichen Sektor fallen. Über
        90 Prozent der Investitionen werden vom privaten Sek-
        tor geleistet. Es gilt also vor allem, ein investitions-
        freundliches Klima zu schaffen.
        Und das machen wir, beispielsweise auch dadurch,
        dass wir die Steuern für Unternehmen nicht erhöht ha-
        ben. Hier sind aber auch noch weitergehende Schritte
        sinnvoll: Das Instrument der degressiven Abschreibung
        kann raschere Ersatzinvestitionen herbeiführen. Aber
        auch Sanierungsprogramme für Gebäude im Rahmen der
        CO2-Minderungsziele werden geprüft. Dies alles steht
        allerdings unter dem Primat der Fortführung einer
        wachstumsfreundlichen Haushaltskonsolidierung. Wir
        stehen zu dem Ziel, 2015 einen ausgeglichenen Haushalt
        vorzulegen. Die Investitionslücke ist nur mithilfe einer
        soliden Wirtschaftspolitik zu schließen. Dafür bedarf es
        eines stabilen Rahmens, genauso wie eines flexiblen und
        aufnahmefähigen Arbeitsmarktes. Auch hier sind bereits
        wichtige Weichen gestellt worden: Wir haben bereits
        heute eine positive Entwicklung bei den Reallöhnen. Mit
        einem Bruttolohnzuwachs von 2,7 Prozent und einem
        Reallohnzuwachs von 1,1 Prozent erwarten wir 2014
        den größten Lohnzuwachs seit 2010. Unser flexibler Ar-
        beitsmarkt ermöglicht erst die Rekordbeschäftigung von
        42,1 Millionen Beschäftigten, welche 2014 erwartet
        werden. Diese Flexibilität dürfen wir nicht gefährden.
        Eine wachstumsfreundliche Wirtschaftspolitik ist im-
        mer noch das beste Investitionsprogramm. Es wird we-
        nig nützen, durch konkrete Maßnahmen private Investi-
        tionen fördern zu wollen, wenn die Unternehmen
        berechtigte Zweifel an der grundsätzlichen Ausrichtung
        der Wirtschaftspolitik hegen – Zweifel, die sie beispiels-
        weise immer wieder durch Ihre wachstumsfeindliche
        Energiepolitik schüren. International liegt Deutschland
        auf der globalen Wettbewerbsfähigkeitsrangliste des
        Weltwirtschaftsforums auf Platz fünf – nur hinter der
        Schweiz, Singapur, den USA und Finnland. Gelobt wer-
        den vor allem die gute Infrastruktur, die Rechtssicher-
        heit, die hohe Kompetenz deutscher Unternehmen bei
        der Organisation von Prozessen und die Stärken bei
        Innovationen sowie Forschung und Entwicklung.
        Um die Wettbewerbsfähigkeit aufrechtzuerhalten,
        müssen wir diese Stärken erhalten, und außerdem neue
        Akzente setzen. Ein wichtiges Signal für den Arbeits-
        markt setzen wir auch mit der Digitalen Agenda 2014 bis
        2017. Die Digitalisierung bietet unzählige Chancen für
        Innovation und Investitionen. Beim Breitbandausbau
        wird es bis 2018 in Deutschland eine flächendeckende
        Grundversorgung mit mindestens 50 Megabit pro Se-
        kunde geben. Außerdem werden wir mehr Investitionssi-
        cherheit für Netzbetreiber im ländlichen Raum schaffen.
        Für die nächsten Jahre kann also mit einer schrittweisen
        Korrektur der Leistungsbilanz auch durch einen stärke-
        ren Wachstumsbeitrag der Binnenwirtschaft gerechnet
        werden.
        Lassen Sie mich noch Folgendes betonen: Man wird
        diese Ungleichgewichte nicht über Nacht abbauen kön-
        nen – da werden auch Ihre Anträge wenig bis gar nichts
        helfen. Wenn die Standortbedingungen für Investoren
        gut sind, kann sich eine Investitionsdynamik im privaten
        Sektor entwickeln, die die Außenhandelsdefizite auto-
        matisch reduziert.
        Wir stehen gerade mitten in einer solchen Dynamik:
        Die Investitionen steigen sowohl im privaten als auch im
        öffentlichen Sektor. Wir legen die Grundlagen für diese
        positive Entwicklung und schaffen Stabilität für Investi-
        tionen.
        Wolfgang Tiefensee (SPD): In den vergangenen
        Jahren ist eine Reihe von neuen Verfahren zur besseren
        Koordinierung der Wirtschafts- und Finanzpolitiken auf
        europäischer Ebene entstanden. Diese Verfahren werden
        jetzt praktisch umgesetzt. Dies gilt auch und insbeson-
        dere für die jährliche Durchführung des Europäischen
        Semesters.
        Ein wichtiger Eckpfeiler des Europäischen Semesters
        ist die Vorlage der Nationalen Reformprogramme, NRP.
        Ein wichtiges Anliegen der Europäischen Kommission
        war es, das NRP auf eine möglichst breite gesellschaftli-
        che Basis zu stellen. Das Kabinett hatte das NRP im
        April des Jahres verabschiedet. Er ist eine Grundlage für
        die nächsten „Länderspezifischen Empfehlungen“ an die
        einzelnen Mitgliedstaaten.
        Die wesentlichen Inhalte des deutschen NRP 2014
        sind die Länderspezifischen Empfehlungen, Europa
        2020 und der Euro-Plus-Pakt: Die Bundesregierung be-
        richtet im NRP über die Umsetzung der Empfehlungen
        des Rates der Europäischen Union an Deutschland. Der
        Bericht macht deutlich: Die Bilanz kann sich sehen las-
        sen. In nahezu allen angesprochenen Bereichen – öffent-
        liche Finanzen, Arbeitsmarkt und Erwerbsbeteiligung,
        Energie und Wettbewerb – kann Deutschland erhebliche
        Fortschritte im Sinne der Empfehlungen vorweisen.
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2014 6333
        (A) (C)
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        Auch im Hinblick auf die Europa-2020-Ziele kann
        Deutschland Erfolge verzeichnen. Zum Beispiel ist das
        Ziel eines Anteils von Forschung und Entwicklung am
        Bruttoinlandsprodukt von 3 Prozent erreicht. In den Be-
        reichen Beschäftigung, Bildung und Armut haben wir
        erneut einige unserer Ziele übererfüllt.
        Die Bundesregierung berichtet im NRP zudem über
        die Umsetzung des Aktionsprogramms 2013 für den
        Euro-Plus-Pakt und stellt das neue Aktionsprogramm
        2014 vor. All dies zeigt: Die Bundesregierung setzt sich
        intensiv mit den europäischen Empfehlungen auseinan-
        der und nimmt ihre Verpflichtungen ernst.
        Im Rahmen des diesjährigen NRP nimmt die Bundes-
        regierung darüber hinaus Stellung zur sogenannten
        vertieften Analyse Deutschlands im Rahmen des Makro-
        ökonomischen Ungleichgewichtsverfahrens. Die Euro-
        päische Kommission hat hier insbesondere den deut-
        schen Leistungsbilanzüberschuss untersucht, und wir
        teilen die Auffassung der Kommission, dass die Wettbe-
        werbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft ein wichtiger
        Stützpfeiler für Europa ist. Mit der Umsetzung der im
        Koalitionsvertrag verabredeten Maßnahmen werden wir
        – wie von der Kommission angeregt – die staatlichen In-
        vestitionen und damit das Wachstumspotenzial stärken.
        Aber kommen wir zu Ihrem Antrag, liebe Kollegin-
        nen und Kollegen, der Fraktion von Bündnis 90/Die
        Grünen.
        Wie ich Ihnen bei der ersten Lesung Ihres Antrags
        mitteilte, sind die Vorwürfe Ihres Antrags, die Bundes-
        regierung habe weder die Ursachen der Leistungsbilanz-
        überschüsse ausreichend analysiert noch konsequent Ge-
        genmaßnahmen eingeleitet, unzutreffend.
        In Ihrem Antragsentwurf wird der deutsche Leis-
        tungsbilanzüberschuss mitverantwortlich für die Krise
        einiger Euro-Länder gemacht, da er zu den Kreditblasen
        in diesen Ländern beigetragen habe. Hauptursächlich für
        die Überschüsse sei die schwache Binnennachfrage. Da-
        hinter stünden die schwache staatliche und private Inves-
        titionstätigkeit sowie die schwache Lohnentwicklung.
        Wir sind allerdings der Meinung, dass die Bundesre-
        gierung die Ursachen der Leistungsbilanzüberschüsse
        sehr umfassend analysiert und sehr konsequent Gegen-
        maßnahmen eingeleitet hat. In dieser Frage unterschei-
        den wir uns von den Autoren dieses Antrags.
        Zu den Maßnahmen, die auch die Binnennachfrage
        stärken, zählen unter anderem die Einführung eines ge-
        setzlichen Mindestlohnes, die Erhöhung der Investitio-
        nen im Bereich öffentliche Infrastruktur – insbesondere
        im Verkehrsbereich. Für Letzteres werden 5 Milliarden
        Euro vom Bund bis 2017 zusätzlich für die Verkehrsin-
        frastruktur eingesetzt. Hinzu kommt die weitere Entlas-
        tung von Kommunen und Ländern, nicht zuletzt durch
        die heute im Parlament verabschiedete Reform des
        BAFöG. So können die Kommunen und Länder ihren
        Aufgaben bei Krippen, Kitas, Schulen und Hochschulen
        besser nachkommen. Dafür sind im Zeitraum bis 2017
        insgesamt rund 10 Milliarden Euro zusätzlich vorgese-
        hen – sowie die Verbesserung der Rahmenbedingungen
        für private Investitionen.
        Etliche dieser Maßnahmen überschneiden sich mit
        den Forderungen Ihrer Fraktion. Daher zeugt Ihr Antrag
        von einer sehr selektiven Lektüre des NRP 2014; dem
        können wir daher nicht zustimmen.
        Die in Ihrem Antrag aufgeführte Forderung, einen
        nationalen Energiesparfonds zur Finanzierung unter an-
        derem von energetischen Sanierungen zu errichten, hatte
        ich bereits in der letzten Debatte abgelehnt. Ich hatte
        schon mitgeteilt, dass das eine recht unüberlegt vorgetra-
        gene Forderung sei, welche die Gretchenfrage, nämlich
        wo so viele finanzielle Mittel herkommen sollen, nicht
        beantwortet. Denn 3 Milliarden aus dem Abbau von
        klima- und umweltschädlichen Subventionen zu gewin-
        nen, ist sehr anspruchsvoll. Wir gehen einen soliden Weg
        und stellen im aktuellen Haushalt für dieses Jahr 1,8
        Milliarden Euro für die Förderung des energetischen
        Bauens und Sanierens bereit. Das sind 1,5 Milliarden aus
        dem KfW-Programm – Zinsvergünstigungen. Dazu
        kommen 300 Millionen Euro Zuschüsse an Privateigen-
        tümer zur Förderung von Maßnahmen zur energetischen
        Gebäudesanierung. Zudem gibt es das Programm „Ener-
        getische Stadtsanierung“, aus dem quartiersbezogene
        Konzepte und deren Umsetzung gefördert werden.
        Auf Ihre Forderung, mehr Investitionsanreize für Un-
        ternehmen zu schaffen, bin ich ebenfalls schon in der
        letzten Debatte eingegangen und möchte dies jetzt nicht
        wiederholen. Denn gerade diese Koalition legt besonde-
        ren Wert auf eine stärkere Ausrichtung der Wirtschafts-
        politik auf Investitionen und Innovationen sowie auf
        eine verstärkte Koordinierung der Wirtschaftspolitik auf
        internationaler Ebene.
        Das BMWi hat erreicht, dass es im Rahmen der Euro-
        päischen Struktur- und Investitionsfonds gelungen ist,
        bis 2020 für Deutschland ausreichend Spielräume
        – 27,5 Milliarden Euro – zu gewinnen, die auch zur In-
        vestitionsförderung eingesetzt werden können. Unsere
        Wirtschaftspolitik ist immer auch Industriepolitik. An-
        fang der 2000er-Jahre haben andere Länder stärker auf
        Dienstleistungen, insbesondere im Finanzbereich, ge-
        setzt. Deutschland hat seine Industrien hingegen nicht
        aufgegeben, sondern weiterentwickelt.
        Auf unserem Programm stehen auch die „Leit-
        märkte“. Damit ist gemeint, dass dort, wo Potenziale für
        Wachstum und Beschäftigung existieren, die Industrie
        gestärkt bzw. erneuert werden soll. Im Wirtschaftskapitel
        werden folgende Leitmärkte definiert: Maschinen- und
        Anlagenbau, neue Werkstoffe, Mobilität und Logistik,
        Informations-und Kommunikationswirtschaft, Energie-
        und Umweltwirtschaft, Medien- und Kreativwirtschaft
        sowie Gesundheitswirtschaft und Medizintechnik.
        Gemeinsam mit den Gewerkschaften und den Unter-
        nehmen wollen wir neue Potenziale erkennen und heben.
        Das gilt zum Beispiel im Hinblick auf das Feld „Indus-
        trie 4.0“, also bei der stärkeren Digitalisierung von Pro-
        duktionsprozessen in klassischen Industrien. Bei der
        Elektromobilität verfolgt die SPD einen technologieoffe-
        nen Ansatz. Dieser kommt auch zum Tragen in der For-
        derung nach einem KfW-Programm zur Förderung be-
        sonders umweltfreundlicher Fahrzeuge. Die Mittel für
        das wichtige Zentrale Innovationsförderprogramm Mit-
        6334 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2014
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        telstand, ZIM, werden im Haushaltsentwurf für 2015
        nochmals angehoben.
        Auch auf Ihr Argument, ein europäisches Investi-
        tionsprogramm zu stärken, bin ich letztes Mal schon ein-
        gegangen. Nun hat aber gerade die deutsche Sozialde-
        mokratie einen erheblichen Anteil daran, dass die Mittel
        der Europäischen Investitionsbank deutlich erhöht wur-
        den. Und dort wird kein Geld nach dem Gießkannen-
        prinzip verteilt, sondern Geld geht in sinnvolle Projekte,
        die in einem sorgfältigen Prozess ausgewählt wurden
        und maßgeblichen positiven Einfluss auf die Infrastruk-
        tur und die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit von Emp-
        fängerländern haben.
        Zu Jahresbeginn wurde der Mehrjährige Finanzrah-
        men der EU in Kraft gesetzt. Damit steht frisches Geld
        über die Struktur- und Investitionsfonds zur Verfügung.
        Deshalb bleiben die Mitgliedstaaten aufgerufen, zügig
        ihre Projekt- und Programmvorstellungen zu entwickeln
        und das Geld abzurufen.
        Zu guter Letzt möchte ich Sie noch auf die Arbeit ei-
        nes Expertengremiums beim Bundesminister für Wirt-
        schaft und Energie hinweisen, das sich um die Stärkung
        der Investitionen in Deutschland kümmern und entspre-
        chende Vorschläge erarbeiten soll. Entgegen Ihrer Auf-
        fassung ist es ein wichtiges Anliegen Sigmar Gabriels,
        zu einer weiteren Stärkung der privaten und öffentlichen
        Investitionen beizutragen. Denn Investitionen sind ein
        Schlüsselfaktor für eine Stärkung von Wachstum und
        Beschäftigung in Deutschland.
        In den nächsten Monaten wird das Bundesministe-
        rium für Wirtschaft und Energie weitere Handlungs-
        optionen prüfen, um die gesamtwirtschaftliche Investi-
        tionsdynamik zu stärken. Es geht dabei zum einen darum,
        die Rahmenbedingungen für private Investitionen zu ver-
        bessern und Investitionshemmnisse abzubauen. Zum an-
        deren geht es um Konzepte, wie in Zukunft der Erhalt
        und der Ausbau der öffentlichen Infrastruktur finanziert
        werden kann. Dafür soll insbesondere privates Kapital
        mobilisiert werden.
        Thomas Nord (DIE LINKE): Mit Beginn der dritten
        Stufe der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion
        am 1. Januar 1999 sind die Geld- und die Wechselkurs-
        politik in die gemeinschaftliche Verantwortung überge-
        gangen. Um realwirtschaftliche Verwerfungen innerhalb
        der WWU zu vermeiden und die Stabilität der gemein-
        samen Währung zu sichern, sehen der Vertrag über die
        Arbeitsweise der Europäischen Union, AEUV, und der
        Stabilitäts- und Wachstumspakt eine verstärkte haus-
        haltspolitische Überwachung und Koordinierung der
        Wirtschaftspolitiken der Mitgliedstaaten der EU vor.
        Die Nationalen Reformprogramme, NRP, bilden das
        wirtschaftspolitische Gegenstück zu den Stabilitäts- und
        Konvergenzprogrammen. In den jährlich erstellten Na-
        tionalen Reformprogrammen stellen die Mitgliedstaaten
        dar, mit welchen Reformmaßnahmen sie die Ziele der
        Europa-2020-Strategie und die sogenannten integrierten
        Leitlinien – Grundzüge der Wirtschaftspolitik, beschäfti-
        gungspolitische Leitlinien – erreichen wollen und wel-
        che Fortschritte sie im vergangenen Jahr erreicht haben.
        Nun will ich hier die Kritik der Linken an der Strategie
        „Europa 2020“ nicht detailliert wiederholen, sie ist die
        Fortführung der gescheiterten Lissabon-Strategie und in-
        sofern aus unserer Sicht kein guter Bewertungsmaßstab
        für ein stabiles und soziales Europa.
        Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen thematisiert
        aus Sicht der Linken eine wichtige Kritik und benennt
        die auch aus unserer Sicht hochproblematischen makro-
        ökonomischen Ungleichgewichte als eine Ursache der
        derzeitigen Krise der EU. Was dem einen sein Haben, ist
        dem anderen sein Soll. Wenn auf der einen Seite ein
        hoher Überschuss entsteht, also ein sehr hohes Haben,
        dann ist es nur logisch, das auf der anderen Seite ein sehr
        hohes Soll entsteht. Das Ungleichgewicht kann eine
        solch große Schlagseite bekommen, dass die Asym-
        metrie der Leistungsbilanzungleichgewichte vollständig
        technisch, aber eben auch politisch, wirtschaftlich und
        sozial dysfunktional wird. In einer solchen Situation
        steht die Fortdauer des Euro, aber auch die jetzige
        Verfasstheit der Europäischen Union auf dem Spiel. Und
        die momentanen politischen Spannungen zwischen
        Deutschland und Frankreich belegen dies eindrucksvoll,
        wenn nicht schon gar ein bisschen beängstigend, wenn
        man an die 30 Prozent Umfragewerte für Marine Le Pen
        und ihr Programm zur Einführung eines neuen Franc
        denkt.
        Nun gibt es zwei Möglichkeiten, für einen Ausgleich
        der Bilanzen in einer gemeinsamen Wirtschafts- und
        Währungsunion zu sorgen. Die eine Möglichkeit ist es,
        zwischen den Mitgliedstaaten des Euro einen Ausgleich
        zu organisieren, in etwa nach dem Vorbild des Länder-
        finanzausgleichs. Aber dazu fehlt der politische Wille in
        allen Staaten. Die andere Möglichkeit ist es, die Unter-
        schiede zwischen den Mitgliedstaaten zu akzeptieren
        und eine Form des Ausgleichs innerhalb der Bilanzen
        der jeweiligen Mitgliedstaaten zu organisieren. Nun hat
        gerade die Bundesregierung unter Kanzlerin Merkel sich
        dafür stark gemacht, das in der neuen Economic Gover-
        nance der EU die Bilanzüberschüsse nicht sanktionsfä-
        hig sind, sondern nur die Defizite. Wenn man aber von
        Gleichgewichten spricht und zugleich das Modell
        der mitgliedstaatsbezogenen Austarierung befürwortet,
        muss man schon beide Seiten betrachten. Das heißt hier,
        die Binnenseite der Bilanz zu stärken.
        Der Euro bietet der traditionell stark außenpolitisch
        orientierten deutschen Wirtschaft einen globalen Wettbe-
        werbsvorteil. Denn hätte nur Deutschland den Euro oder
        eine Alleinwährung, müsste es diese im Vergleich erheb-
        lich aufwerten, worunter die Exportvorteile schwinden
        würden. Die Wirtschaft ist in Deutschland von 2000 bis
        2013 um fast 14 Prozent gewachsen. Die Unternehmens-
        und Vermögenseinkommen haben in diesem Zeitraum
        um rund 31 Prozent zugelegt. Die Bruttolöhne und -ge-
        hälter je Beschäftigtem hingegen sind um rund 2 Prozent
        gesunken. Einkommenszuwächse gab es nur bei den
        Spitzeneinkommen. Am unteren Ende der Einkommens-
        skala kam es zu weiteren Rückgängen. Jeder vierte Be-
        schäftigte in Deutschland arbeitet für einen Niedriglohn.
        Die Einführung von Hartz IV hat ein Angstregime eta-
        bliert, mit dem bei Arbeitnehmern und Arbeitnehmerin-
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2014 6335
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        nen die Bereitschaft zur Lohnzurückhaltung gestärkt
        wurde.
        Laut EU-Kommission haben die privaten Haushalte
        in Deutschland mehr gespart; für eine ausgeglichene
        Bilanz ist es notwendig, die Verteilung von Einkommen
        und Vermögen gerechter zu gestalten. Aber auch die
        privaten Unternehmen investieren zu wenig, die öffent-
        lichen Investitionen sind viel zu gering. Die Binnen-
        nachfrage sollte durch öffentliche Investitionen – insbe-
        sondere Infrastrukturmaßnahmen – gesteigert werden.
        Deutliche Lohnsteigerungen sind gerade für Arbeitneh-
        merinnen und Arbeitnehmer am unteren Ende der Lohn-
        skala nötig. Dies erfordert ein konsequentes Verbot von
        Leiharbeit und sachgrundlosen Befristungen, die Verhin-
        derung des Missbrauchs von Werkverträgen sowie die
        Abschaffung des Zwangssystems Hartz IV. Die Stabili-
        tätswarnung der EU-Kommission hat bei der Bundesre-
        gierung dazu geführt, dass sie ein Mindestlöhnchen ein-
        geführt hat, man solle ja nicht meinen, in der schwarz-
        roten Koalition wäre über Nacht ein sozialpolitisches
        Denken eingezogen. Die Linke fordert 10 Euro pro
        Stunde ohne Ausnahmen für die Stärkung der Binnen-
        nachfrage. Die Steuerpolitik muss gerechter gestaltet
        werden durch eine höhere Besteuerung von großen Erb-
        schaften und Finanzgeschäften sowie die Einführung ei-
        ner Millionärssteuer. Die Linke fordert außerdem ein
        nachhaltiges Investitionsprogramm für den sozialökolo-
        gischen Umbau und zugunsten von Bildung, Gesundheit,
        Klimaschutz, Infrastruktur und Verkehr.
        Im Antrag von Bündnis 90/Die Grünen ist aus unserer
        Sicht das Problem in einer zutreffenden Weise benannt,
        allerdings wird darin aus unserer Sicht die aus dieser
        Analyse zu ziehende politische Konsequenz gescheut,
        und deshalb enthält sich die Fraktion Die Linke in der
        Abstimmung über diesen Antrag.
        Katharina Dröge (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es
        ist noch nicht so lange her, da haben wir schon einmal
        über EU-Verfahren zu den makroökonomischen Un-
        gleichgewichten diskutiert. Ich habe Sie als Regierungs-
        fraktionen und die Bundesregierung damals aufgefor-
        dert, die wirtschaftspolitische Steuerung in der EU
        endlich ernst zu nehmen und im Rahmen des Nationalen
        Reformprogramms eine Antwort darauf zu formulieren,
        wie die deutsche Investitionsschwäche behoben werden
        kann. Das war im April, also vor etwas mehr als einem
        halben Jahr. Damals erzählten Sie uns, sehr geehrte Kol-
        leginnen und Kollegen von Union und SPD, dass das mit
        den Investitionen doch alles kein Problem sei. Die Bun-
        desregierung würde hier alles Nötige tun, um das Pro-
        blem zu lösen. Unsere Forderungen seien quasi erledigt.
        Nur ein paar Monate später stellen wir fest, wie viel
        Gehalt in diesen Worten steckte: reichlich wenig. Alle
        Mahnungen führender nationaler und internationaler
        Wissenschaftler und Institutionen wie der EZB, des IWF
        und der Europäischen Kommission für eine aktivere Fis-
        kalpolitik, für ein entschlossenes Vorgehen gegen die In-
        vestitionsschwäche haben Sie bisher ignoriert.
        Jetzt trübt sich die Konjunktur in Deutschland ein,
        und die Gefahr der Deflation im Euro-Raum wird immer
        konkreter. Das ist auch Ihre Verantwortung, meine Da-
        men und Herren von Union und SPD. Durch Untätigkeit
        und Zögern haben Sie das Problem der schwachen Bin-
        nennachfrage und der mangelnden Investitionen in
        Deutschland verschärft, und dies hat auch Auswirkun-
        gen auf den gesamten Euro-Raum. Sehr geehrte Kolle-
        ginnen und Kollegen von CDU und SPD, man muss den
        Eindruck gewinnen, dass die ökonomischen Zeichen lei-
        der tatsächlich so deutlich werden mussten, damit Sie es
        nicht mehr schaffen, sie komplett zu ignorieren.
        Jetzt ringen Sie sich durch, zusätzliche Investitionen
        zu tätigen – 10 Milliarden Euro in den kommenden drei
        Jahren. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung, zwei-
        fellos. Allein, er ändert rein gar nichts an den großen He-
        rausforderungen, vor denen unser Land steht. Bildung,
        Infrastruktur, Klimaschutz – wer jetzt nicht investiert,
        verspielt unsere Zukunft. Da reichen 10 Milliarden Euro,
        noch dazu über drei Jahre verteilt, hinten und vorne
        nicht. Wie wenig entschlossen Sie handeln, zeigt ein
        Beispiel: Allein durch den Abbau umweltschädlicher
        Subventionen und die Abschaffung des Betreuungsgel-
        des könnten Sie kurzfristig ein Dreifaches des von Ihrer
        Regierung angepeilten Betrags finanzieren.
        Das ist ein weiterer Trippelschritt in Angela Merkels
        Wirtschaftspolitik, die weder Ziel noch Richtung kennt.
        Sie versucht nur, der wirtschaftlichen Entwicklung hin-
        terherzulaufen. Dabei ist es gerade in der Wirtschafts-
        politik entscheidend, dass die Politik auch einen Kurs
        vorgibt und den Unternehmen und Beschäftigten Ziele
        aufzeigt, an denen sie sich orientieren können, und Ver-
        trauen in die Zukunft erzeugt. Gerade private Investitio-
        nen fußen auf Erwartungen in künftige Entwicklungen:
        der Konjunktur, der Nachfrage und der Preise, aber auch
        der Fachkräfte und der Infrastruktur eines Standorts.
        Diese Erwartungen könnten Frau Merkel, Herr Schäuble
        und Ihre Bundesregierung mit klaren Zielen zu öffentli-
        chen Investitionen in den Breitbandausbau, in Klima-
        schutz und Energieeffizienz, in die Bildung und Betreu-
        ung stabilisieren.
        Stattdessen haben Sie versucht, Ihr Nichthandeln mit
        einem durchschaubaren Manöver zu verdecken. Sie ha-
        ben den ausgeglichenen Haushalt – keine neuen Schul-
        den 2015 – zu ihrem Prestigeobjekt erklärt, weil Sie wis-
        sen, dass das erst mal gut klingt, erzählen Sie davon
        landauf, landab. Aber Ihr Haushalt ist durch die falschen
        Prioritäten im Gegenteil weder ausgeglichen noch nach-
        haltig. Sie verschieben die Schulden lediglich in die Zu-
        kunft. Sie verschulden sich bei künftigen Generationen,
        indem Sie heute notwendige Investitionen in die Instand-
        haltung von Brücken und Schienen oder in die Sanierung
        maroder Schulgebäude nicht heute tätigen, obwohl sie
        jetzt anstehen. Sie verschieben das alles auf übermorgen;
        damit müssen kommende Generationen Ihre Rechnung
        bezahlen.
        Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von der
        Union und der SPD, Europa braucht eine Wirtschafts-
        politik in Deutschland, die jetzt entschlossen handelt.
        Wachen Sie endlich auf aus Ihrem Dornröschenschlaf,
        und nehmen Sie die makroökonomischen Probleme
        ernst, die Ihnen die EU-Kommission in ihrem Bericht
        aufgeschrieben hat.
        66. Sitzung
        Inhaltsverzeichnis
        TOP 3 Vereinbarte Debatte zum Thema: Sterbebegleitung
        TOP 4 Langzeitarbeitslosigkeit
        TOP 21 Mietrecht
        ZP 2 Überweisungen im vereinfachten Verfahren
        TOP 27 Abschließende Beratungen ohne Aussprache
        TOP 6 Wahl Stiftung „Deutsches Historisches Museum“
        ZP 3 Aktuelle Stunde zur Abschaltung von Kohlekraftwerken und zu Klimazielen
        TOP 7 Änderung des Grundgesetzes (Artikel 91b)
        TOP 8 Partizipationsrechte für Kinder und Jugendliche
        TOP 13 Änderung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes
        TOP 10 Sanktionen gegen Russland
        TOP 9 Bundeswehreinsatz in Südsudan (UNMISS)
        TOP 27 a Investitionsquote und Binnennachfrage
        TOP 11 Bundeswehreinsatz in Darfur (UNAMID)
        TOP 14 Haushaltskontrolle nachrichtendienstlicher Tätigkeit
        TOP 15 Verantwortung für Produktion in Entwicklungsländern
        TOP 16 Antibiotika in der Tierhaltung
        TOP 17 Dreigliedriger EU-Sozialgipfel
        TOP 18 Rechtsstellung von asylsuchenden Ausländern
        TOP 19 EU-Übereinkommen über die Adoption von Kindern
        TOP 20 EU-Richtlinie über europäische Schutzanordnung
        Anlagen