Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2014 6303
(A) (C)
(B)
Anlagen zum Stenografischen Bericht
(D)
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Alpers, Agnes DIE LINKE 13.11.2014
Andreae, Kerstin BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
13.11.2014
Behrens, Herbert DIE LINKE 13.11.2014
Bülow, Marco SPD 13.11.2014
Dağdelen, Sevim DIE LINKE 13.11.2014
Hänsel, Heike DIE LINKE 13.11.2014
Helfrich, Mark CDU/CSU 13.11.2014
Henn, Heidtrud SPD 13.11.2014
Kömpel, Birgit SPD 13.11.2014
Dr. Launert, Silke CDU/CSU 13.11.2014
Dr. Merkel, Angela CDU/CSU 13.11.2014
Dr. Nick, Andreas CDU/CSU 13.11.2014
Pau, Petra DIE LINKE 13.11.2014
Post (Minden),
Achim
SPD 13.11.2014
Schön (St. Wendel),
Nadine
CDU/CSU 13.11.2014
Steinbach, Erika CDU/CSU 13.11.2014
Strässer, Christoph SPD 13.11.2014
Strobl (Heilbronn),
Thomas
CDU/CSU 13.11.2014
Tack, Kerstin SPD 13.11.2014
Dr. Terpe, Harald BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
13.11.2014
Werner, Katrin DIE LINKE 13.11.2014
Wöllert, Birgit DIE LINKE 13.11.2014
Zypries, Brigitte SPD 13.11.2014
Anlage 2
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und
des Berichts: Für eine transparente Haushalts-
kontrolle nachrichtendienstlicher Tätigkeiten
(Tagesordnungspunkt 14)
Johannes Kahrs (SPD): Wir diskutieren heute ei-
nen Antrag der Fraktion Die Linke, der mehr Transpa-
renz bei den Haushalten der Nachrichtendienste fordert.
Das klingt zwar erst mal nach einem vernünftigen Vor-
schlag – Transparenz ist ja immer etwas Schönes und
steht insbesondere einem Parlament stets gut zu Gesicht.
Nun gibt es aber auch von dieser Regel Ausnahmen –
und dazu zählen die Nachrichtendienste. Über diese we-
nigen Ausnahmen herrschte in den vergangenen Jahr-
zehnten der Bundesrepublik stets ein weitestgehender
Konsens im Parlament, der sich darin begründet, dass
ein gewisser Grad der Geheimhaltung nötig ist, damit
die Nachrichtendienste effektiv arbeiten können. Auch
darüber, dass die Arbeit der Nachrichtendienste eben
jene Effektivität benötigt, gab es in der Vergangenheit ei-
nen breiten Konsens in unserem Land.
Diesen Konsens gab es nicht ohne Grund – und dieser
Grund ist nicht, wie Sie hier suggerieren, dass dem Par-
lament daran gelegen wäre, Intransparenz zu schaffen
und die freiheitlich-demokratische Grundordnung in-
frage zu stellen. Das Gegenteil ist der Fall: Wir brauchen
effektiv arbeitende Nachrichtendienste, um uns vor inne-
ren und äußeren Feinden zu schützen, die unserer frei-
heitlich-demokratischen Grundordnung schaden wollen.
Denn ohne diesen Schutz und ohne innere und äußere Si-
cherheit sind Freiheit, Demokratie, Menschenrechte und
alles, was uns an dieser Republik lieb und teuer ist, in
Gefahr. Das ist auch ein ganz elementarer Teil der Leh-
ren, die wir aus unserer Geschichte gezogen haben: Wir
brauchen eine wehrhafte Demokratie.
Es geht hier also um mehr als um die durchsichtig
populistische Forderung nach mehr Transparenz. Der
Antrag der Linken stellt einen langjährigen Konsens in-
frage, wenn dort zu lesen ist, dass „... die Haushalte der
Nachrichtendienste ab dem Haushalt 2015 entsprechend
den Haushalten der anderen Sicherheitsbehörden öffent-
lich“ dargestellt werden sollen. Denn natürlich beinhal-
ten die Haushalte der Nachrichtendienste sicherheits-
politisch sensible Informationen, aus denen auch
potenzielle Feinde für sie wertvolle Informationen ge-
winnen könnten und die somit eine effektive Arbeit der
Dienste erschweren. Das liegt nun mal im Wesen der
Nachrichtendienste.
Ich kann verstehen, dass die Linke, die wegen ihrer
programmatischen Inhalte und Aussagen einzelner Mit-
glieder lange Zeit vom Verfassungsschutz beobachtet
wurde, einen skeptischen Blick auf die Nachrichten-
dienste hat. Ich will natürlich auch gern zugestehen, dass
es bei dem Verhältnis von Freiheit und Sicherheit stets
Anlagen
6304 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2014
(A) (C)
(D)(B)
einen Ermessenspielraum und subjektive Meinungen
gibt. Und selbstverständlich brauchen die Nachrichten-
dienste gesetzliche Grenzen und Kontrollen. Deshalb
gibt es nicht nur ein Vertrauensgremium, sondern auch
ein Parlamentarisches Kontrollgremium und das Mittel
des Untersuchungsausschusses. Wie in allen Bereichen,
in denen Menschen arbeiten, verhindert dies natürlich
nicht, dass zuweilen Einzelne gegen Gesetze verstoßen,
aber das Parlament hat die Möglichkeit, dies zu erken-
nen und ein solches Verhalten zu sanktionieren. Ein
Fehlverhalten Einzelner stellt meiner Meinung nach
auch nicht die Verdienste unserer Nachrichtendienste für
die Sicherheit oder deren Loyalität zur Demokratie in-
frage.
Mir ist wichtig, dass der Umgang des Parlaments mit
den Nachrichtendiensten in Hinblick auf die nötige
Transparenz und die nötige Geheimhaltung stets verant-
wortungsvoll geschieht, denn wir als Abgeordnete sind
letztendlich nicht nur unserer freiheitlichen Demokratie,
sondern auch deren Sicherheit verpflichtet. Dass diese
Sicherheit nicht selbstverständlich ist, machen uns die
vielen aktuellen Krisen in der Welt wieder einmal deut-
lich bewusst. Dieser Linie bleibt die Große Koalition
selbstverständlich treu, auch wenn die Fraktion der Lin-
ken einen anderen Eindruck zu vermitteln versucht.
Zu guter Letzt sei mir noch einmal ein Verweis auf
die Geschichte erlaubt – diesmal auf die 150-jährige Ge-
schichte der SPD. Dieser lange Zeitraum hat gezeigt,
dass sich die SPD bezüglich unserer freiheitlich-demo-
kratischen Grundordnung nicht belehren lassen muss –
schon gar nicht von Abgeordneten der Linken, die das
gleiche über die eigene Geschichte wohl kaum behaup-
ten können. In der DDR hätte sich jeder mit einem sol-
chen Antrag, wie Sie ihn hier vorlegen, ganz sicher vor
Beamten der Stasi wiedergefunden. Zum Glück ist das
heute nicht mehr so.
Dr. André Hahn (DIE LINKE): Geheim arbeitende
Dienste, die einer Regierung unterstehen, sind ganz of-
fenkundig das Gegenteil von Transparenz. Transparenz
politischer Entscheidungen und eine wirksame parla-
mentarische Kontrolle sind jedoch wiederum Grundfes-
ten demokratischer Staaten.
Der vorliegende Antrag der Linken beinhaltet daher
im Kern zwei Punkte: Zum einen wollen wir einen Bun-
destagsbeschluss herbeiführen, dass die pauschale Mög-
lichkeit der Flexibilisierung der Haushaltsmittel – anders
als von der Koalition offenbar beabsichtigt – für die Etats
der Nachrichtendienste nicht zur Anwendung kommt. Und
zweitens sind wir der Ansicht, dass die Haushalte der Ge-
heimdienste nicht länger hinter den verschlossenen Türen
des sogenannten Vertrauensgremiums verhandelt werden
sollen, sondern wie die Etats der anderen Sicherheitsbe-
hörden öffentlich in den Parlamentsausschüssen, und mit
der entscheidenden Abstimmung letztlich auch hier im
Plenum des Bundestages beschlossen werden müssen.
Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, wie pro-
blematisch das Agieren der Geheimdienste ist, dann ha-
ben ihn die jüngsten Presseveröffentlichungen über den
angeblich oder tatsächlich geplanten millionenschweren
Ankauf von Software-Sicherheitslücken durch den BND
auf dem Schwarzmarkt geliefert.
Was da beabsichtigt wird, ist politisch völlig indisku-
tabel und auch rechtlich höchst fragwürdig. Ich könnte
dazu jetzt noch sehr viel mehr sagen, will aber ange-
sichts der leider eng begrenzten Redezeit nur eine kurze
Passage eines Kommentars von Hans Leyendecker in
der Süddeutschen Zeitung zitieren. Er sagt zu den Plänen
des BND: „Das ist keine gute Idee. Die Frage nach der
Relation von Kosten, Nutzen und Schaden drängt sich
auf. Wer sich in solchen Märkten tummelt, treibt die
Preise hoch. Davon können Online-Kriminelle profitie-
ren und mehr Schwachstellen zum Verkauf erzeugen.
Die Dienste müssen Bürger und Wirtschaft vor Schaden
bewahren. Sie sollen Sicherheitslücken transparent ma-
chen und keine neuen schaffen.“ Genau diese Position
vertreten auch wir.
Und genau deshalb haben wir auch ein Problem mit
der beabsichtigten Flexibilisierung der Haushaltsmittel,
die nach dem Willen der Bunderegierung mit dem Wirt-
schaftsplanentwurf für 2015 erstmals auch für die Ge-
heimdienste zur Anwendung kommen soll.
Die Einräumung weitestgehender Deckungsmöglich-
keiten leistet einen wesentlichen Beitrag zur vereinfach-
ten Mittelverschiebung und Verschleierung von über-
planmäßigen Ausgaben bei flexibilisierten Titeln – auf
diese Weise wird der praktische Haushaltsvollzug deut-
lich erleichtert und die Regierung in die aus ihrer Sicht
komfortable Lage versetzt, ihre Ausgaben schnell und
unbürokratisch an ihre eigenen Entscheidungsprozesse
anzupassen. Bezogen auf die Nachrichtendienste wollen
wir als Linke das ganz ausdrücklich nicht.
Wegen der Geheimhaltungsbestimmungen muss ich
ja immer ein wenig vorsichtig sein und will deshalb nur
ganz allgemein formulieren: Es kann doch nicht sein,
dass Gelder, die eigentlich für die Bezahlung von Mitar-
beiterinnen und Mitarbeitern der Dienste vorgesehen
sind, aufgrund unbesetzter Stellen plötzlich womöglich
zur Erhöhung der Prämien für die dubiosen V-Leute ein-
gesetzt werden oder ungeplant frei zur Verfügung ste-
hende Mittel für die Verbesserung der Spionageabwehr
gegen die Ausspähung deutscher Bürgerinnen und Bür-
ger, zum Beispiel durch die NSA, unter Umgehung des
Parlamentarischen Kontrollgremiums und des Vertrau-
ensgremiums vielleicht für den Kauf neuer Überwa-
chungstechniken eingesetzt werden, die im Zweifel auch
gegen die eigene Bevölkerung zur Anwendung kommen
könnten.
Die Lockerung des Grundsatzes der sachlichen Bin-
dung von Haushaltsmitteln, wodurch die Voraussetzun-
gen geschaffen werden, im Haushaltsvollzug eigene
Schwerpunkte zu setzen, eigenmächtig Ressourcen zu
verlagern und Ausgaben in priorisierten Bereichen zu
verstärken, ist gerade im Bereich der Nachrichtendienste
mehr als problematisch und sollte deshalb unterbleiben.
Sieht man diese gravierenden Änderungen und die
daraus resultierenden Einbußen hinsichtlich der parla-
mentarischen Kontroll- und Steuerungsfunktion vor dem
Hintergrund der politisch-gesellschaftlichen Erschütte-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2014 6305
(A) (C)
(D)(B)
rungen der letzten zwei bis drei Jahre – Stichworte NSU/
V-Männer, NSA, Datenlecks in allen kommerziellen Be-
reichen – und nimmt dazu die von der Regierung ange-
kündigten und zum Teil sogar bereits umgesetzten Groß-
projekte und Maßnahmen wie die Strategische Initiative
Technik mit einem finanziellen Volumen von 300 Mil-
lionen Euro, das IT-Sicherheitsgesetz, die faktische Aus-
trocknung des aus dem BMI herausgenommenen BfDI
und die organisatorischen Änderungen in den Behörden
– Stichwort: Aufbau EFI –, zeichnet sich eine ziemlich
bedrohliche Schwerpunktsetzung ab.
Obwohl – wie wir erst heute wieder im NSA-Untersu-
chungsausschuss feststellen mussten – massiver Rechts-
bruch des BND mittlerweile offenkundig ist und wir le-
diglich noch nicht genug über sein tatsächliches Ausmaß
wissen, verfolgt die Bundesregierung konsequent nur ein
Konzept, nämlich das der Ausweitung der Aktivitäten
deutscher Nachrichtendienste im In- und Ausland.
Die Anwendung des Instruments der Flexibilisierung
auf die Haushalte der Geheimdienste erhöht die Gefahr
des unkontrollierten und immer unübersichtlicheren Mit-
teleinsatzes durch diese.
Dem wollen wir entgegentreten und bitten um Zu-
stimmung zu unserem Antrag.
Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Keine
Frage, auch wir finden die derzeitige Haushaltskontrolle
unserer Nachrichtendienste sehr unbefriedigend. Daher
danke ich den Kolleginnen und Kollegen von den Lin-
ken, dass sie mit ihrem Antrag dieses wichtige Thema
auf die Tagesordnung des Plenums gesetzt haben.
Im Bereich der Nachrichtendienste müssen der Grund-
rechtsschutz und die Sicherheit in einem ausgewogenen
Verhältnis stehen. Aufgrund der Gesetzgebungs- und
Kontrollkompetenz des Bundestages über die Nachrich-
tendienste ist eine enge Kooperation der parlamentari-
schen Kontrollorgane dringend erforderlich. Ich sehe
hier noch Nachholbedarf. Und ich wundere mich, warum
wir nicht bei besonderen Projekten als Parlamentarisches
Kontrollgremium und Vertrauensgremium auch mal zu-
sammen tagen. Denn die Kontrolle der Nachrichten-
dienste ist bei weitem nicht trivial, daher sollte es oberste
Priorität der parlamentarischen Kontrollorgane sein, in
diesem Themenbereich zu einer ausgewogenen Ent-
scheidungsgrundlage zu kommen. Vor dem Hintergrund
der Auseinandersetzung um die Snowden-Enthüllungen
gibt es bei der Bevölkerung und in der öffentlichen
Wahrnehmung Zweifel, wie gut wir überhaupt mit unse-
rer Kontrolle sind. Das hat auch damit zu tun, dass die
technischen Weiterentwicklungen das Verhältnis zwi-
schen Grundrechtschutz und der Tätigkeit der Nachrich-
tendienste komplizierter machen und zudem mit einer
hohen zeitlichen Dynamik versehen. Darüber hinaus sind
auch die Erkenntnisse aus dem NSU-Untersuchungsaus-
schuss und die Erfahrungen aus dem laufenden NSA-
Ausschuss eine Aufforderung an uns Parlamentarier,
unsere Kontrollfähigkeiten bestmöglich weiterzuentwi-
ckeln und anzupassen.
Angesichts der steigenden fachlichen und technologi-
schen Komplexität dieses Bereiches ist dies nicht immer
leicht. Ein Beispiel bietet die aktuelle Berichterstattung
über einen möglichen digitalen Fähigkeitsausbau der
Nachrichtendienste. In einer solchen Diskussion sind die
parlamentarischen Kontrollgremien aufgefordert, nicht
nur sicherheitspolitische und haushälterische Argumente
abzuwägen, sondern immer auch sofort an den Daten-
schutz der Bevölkerung zu denken. Deswegen sind wir
davon überzeugt und hielten für richtig, die Bundesbe-
auftragte für den Datenschutz um ein Gutachten zu bit-
ten, wenn der Fähigkeitsausbau der Nachrichtendienste
erörtert wird. Diese Möglichkeit steht uns nach dem
Bundesdatenschutzgesetz zu: Laut § 26 Absatz 2 des
Bundesdatenschutzgesetzes kann der Deutsche Bundes-
tag die Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die
Informationsfreiheit ersuchen, ein Gutachten zu erstellen
oder Berichte zu erstatten. Dies ist eine wichtige Mög-
lichkeit, die Wahrnehmung unserer Kontrollaufgaben zu
optimieren, die wir gerade jetzt auch nutzen sollten.
An dieser Stelle sei mir ein kleiner Exkurs erlaubt, da
zeitgleich zu dieser Debatte der Haushaltsausschuss in
seiner Bereinigungssitzung tagt. Der Datenschutz hat in
den letzten Jahren aufgrund neuer technischer Möglich-
keiten sehr stark an Bedeutung gewonnen. Die Ausstat-
tung der Landes- und Bundesdienststellen für Daten-
schutz wird dieser Bedeutung noch nicht gerecht. Ein
angemessener Datenschutz braucht auch die entspre-
chende Personalstärke und Sachmittelfinanzierung. Wir
Grüne haben daher beantragt, in den Haushalt 2015
2 Millionen Euro mehr Mittel für den Datenschutz ein-
zustellen.
Die Haushaltskontrolle von Nachrichtendiensten liegt
auf dem sehr schmalen Pfad des aus Sicherheitsgründen
gebotenen Schutzes nachrichtendienstlicher Tätigkeiten
und der Einhaltung der Bürgerrechte. Ich finde, dass in
dem Antrag der Linken, insbesondere in dem Punkt fünf,
die Probleme gut analysiert sind, allerdings glaube ich,
dass die Folgerungen nicht optimal sind: Die Kritik an
der sicherlich nicht unproblematischen Flexibilisierung
und Ausweitung der Deckungsmöglichkeiten hat ihre
Berechtigung und ist wichtig – aber das alles pauschal
auszuschließen, halte ich doch für über das Ziel hinaus-
geschossen. Und was die Quasiveröffentlichung der
Haushalte angeht, bin ich mir auch nicht sicher, ob das
unter sicherheitspolitischen Gesichtspunkten nicht auch
zu einseitig ausgelegt ist.
Vielmehr ist die richtige Maßnahme, unsere eigenen
parlamentarischen Kontrollmechanismen intensiver wahr-
zunehmen. Die Möglichkeiten hierfür habe ich oben be-
schrieben; hierzu zählt eine verstärkte Zusammenarbeit
der parlamentarischen Kontrollgremien, die Hinzunahme
externer Beratung zum Beispiel durch die Datenschutz-
beauftragte in fachlich oder technisch komplexen Frage-
stellungen und, hier stimme ich mit der Linken überein,
mehr Transparenz. Inspiration für eine höhere Transpa-
renz in der Haushaltskontrolle können wir ganz gezielt
auch in der Praxis anderer Parlamente suchen, zum Bei-
spiel der des amerikanischen Kongresses.
6306 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2014
(A) (C)
(D)(B)
An einer transparenten Haushaltskontrolle der Nach-
richtendienste werden wir intensiv weiterarbeiten und,
ich hoffe, auch hier im Parlament Mitstreiter finden.
Anlage 3
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlungen und
Berichte:
– Gute Arbeit weltweit – Verantwortung für
Produktion und Handel global gerecht wer-
den
– Sozial-ökologischen Rahmen für die Aktivi-
täten transnationaler Unternehmen schaffen
und durchsetzen
(Tagesordnungspunkt 15)
Dr. Georg Kippels (CDU/CSU): Vor zwei Wochen
war ich in Indien. Dort hatte ich die Gelegenheit, meh-
rere Tage die Arbeit in einer Textilfabrik hautnah zu
erleben. Im Rahmen des Programms habe ich auch den
Arbeits- und den Familienalltag mit einem Arbeiter und
seinen Angehörigen geteilt. Ich habe Menschen in ihrem
realen Umfeld erlebt, die mit ihrer Arbeit ihre bescheide-
nen Bedürfnisse befriedigen, aber auch Wünsche und
Zukunftsträume verbinden. Das Unternehmen lag mit
seinen Arbeitsbedingungen schon sehr nah an unseren
Vorstellungen von guter Arbeit, war also ein Vorzeige-
unternehmen, wenngleich auch noch deutlich Verbesse-
rungsbedarf zu erkennen war. Nichtdestotrotz macht
einem eine solche Erfahrung noch einmal besonders ein-
drücklich klar, wie eng das Lebensglück der Arbeiter in
einer solchen Produktionsstätte mit den dort umgesetz-
ten Richtlinien zusammenhängt. Eingehaltene Arbeits-
normen plus existenzsichernder Lohn gleich menschen-
würdiges Leben. So einfach scheint die Rechnung dann
zu sein, doch die Realität ist komplexer. Diesem Ansin-
nen tragen wir mit unserem Antrag gerade Rechnung.
Die Welt ist so nah zusammengerückt. Vor 30 Jahren
waren uns die Arbeiter im entlegenen Asien noch so
fern. Heute können wir die Augen nicht mehr so einfach
vor dem Schicksal dieser Menschen verschließen. Und
das wollen wir auch nicht mehr. Wir wollen die Welt ein
Stück weit fairer machen. Wir nehmen das Schicksal der
Textilarbeiterinnen in Bangladesch ernst. Wir nehmen
unsere Verantwortung für eine Verbesserung ihrer
Arbeitsbedingungen ernst. Aber wir müssen uns auch
darüber im Klaren sein, dass das Vorhandensein von
Arbeitsplätzen in Entwicklungs- und Schwellenländern
selbst keineswegs eine Selbstverständlichkeit ist. Auch
dies müssen wir im Auge behalten. Menschen müssen
von ihrem Lohn existieren können, ihre Kinder zur
Schule schicken können und auch Rücklagen bilden
können. Es braucht dabei nicht viel, um faire Löhne
durchzusetzen. Der Unterschied kann bei 2 Cent liegen.
Das erläuterte Minister Müller bei der ersten Beratung
dieses Antrags. Aber es muss auch sichergestellt sein,
dass dieser Mehrwert beim Arbeiter an der Maschine
ankommt. Und dies ist im Rahmen der vertraglichen
Gestaltungskompetenzen der jeweiligen Vertragsstufe
wesentlich leichter gesagt als getan.
Lassen Sie mich die Kernelemente des Antrags dar-
stellen: Erstens. Beachtung der Menschenrechtskonven-
tionen und der internationalen Sozial- und Umweltstan-
dards. Zweitens. Durchgängige Beachtung der deutschen
arbeitsrechtlichen und kollektivrechtlichen Standards bis
in das letzte Glied der Produktionskette. Drittens. Trans-
parenz des weltweiten Handels. Viertens. Das Merkmal
der „Guten Arbeit“ im Sinne sozialer Nachhaltigkeit bei
internationalen Großereignissen. Fünftens. Rückblickend
die Durchsetzung der Entschädigung gegenüber den ver-
antwortlichen Importeuren für das erlittene Unrecht aus
Rana Plaza.
Um diese Ziele aber zu erreichen, bedarf es des Zu-
sammenspiels einer Reihe von Faktoren. International
agierende Unternehmen müssen die Wahrung der aner-
kannten Arbeitsnormen in ihren Produktions- und Lie-
ferketten durchsetzen. Hier ist der Faktor Wirtschafts-
macht gefordert. Die Konsumenten müssen sich ihrer
Verantwortung bewusst werden. Ich sehe es auch als
Aufgabe der Politik, bei den Bürgerinnen und Bürgern
Bewusstsein zu schaffen für die Herkunft der Produkte,
die sie kaufen – egal ob T-Shirt oder Kaffee. Hier geht es
dann um die moralische Verantwortung. Nur mit dem
Bewusstsein der Konsumenten kann sich das Kaufver-
halten nachhaltig ändern. Wir dürfen die Verantwortung
nicht nur bei den Unternehmen sehen, sie liegt genauso
beim Verbraucher, und nicht zuletzt natürlich bei den
Produktionsländern selbst. Auch sie müssen den Spagat
zwischen Ankurbelung ihrer Wirtschaft und Ausbeutung
der eigenen Bevölkerung in den Griff bekommen. Hier
können wir aber schlussendlich nur sensibilisierend tätig
werden, weil die Gesetzgebung und deren Inhalte nicht
unserer direkten Einflussnahme unterliegen. Es muss
aber auch für die Entwicklungs- und Schwellenländer
eine Frage der internationalen Akzeptanz sein, ihre Bür-
gerinnen und Bürger von Unrecht und Schaden in der
Arbeitswelt zu schützen. An dieser Stelle bekommt die
internationale politische Einflussnahme ihre entschei-
dende Rolle.
Sehen wir uns hierzu das Beispiel Bangladesch an.
Seit dem tragischen Zusammensturz des Rana-Plaza-
Fabrikgebäudes in Dhaka hat sich in Bangladesch eini-
ges getan. Ein neues Arbeitsgesetz wurde verabschiedet,
und Fabrikgebäude wurden vielerorts überprüft sowie
Verbesserungen durchgeführt. Für eine langfristige
Veränderung bildet die deutsche Entwicklungszusam-
menarbeit neu eingestellte staatliche Inspektoren aus.
Die deutsche EZ berät staatliche Stellen, Unternehmen
sowie ihre Belegschaften insbesondere im Hinblick auf
Sozial- und Umweltstandards. Der Textilsektor und die
Einhaltung nationaler Arbeits- und Umweltgesetze
sowie internationaler Sozial- und Umweltstandards ste-
hen hierbei im besonderen Fokus. So konnten bislang
über ein TZ-Programm seit 2010 direkt mehr als
200 000 Arbeiterinnen und Arbeiter, Manager und Fa-
brikbesitzer entsprechend erreicht und geschult werden.
Durch den persönlichen Einsatz von Herrn Parlamentari-
schen Staatssekretär Fuchtel aus dem Entwicklungsmi-
nisterium gewinnt der Prozess an zusätzlicher Dynamik.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2014 6307
(A) (C)
(D)(B)
So wurde mit der bangladeschischen Regierung die wei-
tere deutsche Unterstützung für lokale Textilunterneh-
men bei der Etablierung einer transparenten Lieferkette
vorbesprochen. Entsprechende Mittel wurden anlässlich
der Regierungsverhandlungen vom 3. November zuge-
sagt. Man sieht, dass der Boden bereitet ist, es muss aber
noch gesät und gedüngt werden. „Gute Arbeit“ muss
zum internationalen Wert werden.
Die Schwellen- und Entwicklungsländer brauchen die
Chancen der Globalisierung für ihre Entwicklung und
ihr Wachstum. Sie brauchen aber auch faire Rahmen-
bedingen vor Ort, um von ihnen profitieren zu können.
Wir müssen die entscheidenden Impulse setzen, aber die
Umsetzung kann dann nur im eigenen System erfolgen.
Und damit komme ich zu Ihnen, verehrte Kolleginnen
und Kollegen der Opposition. Ja, die Produktions- und
Lieferketten von international agierenden Unternehmen
sind zunehmend global verzweigt. Ja, die Arbeitsbedin-
gungen in vielen Produktionsstätten der Entwicklungs-
und Schwellenländer sind derzeit inakzeptabel. Aber,
verehrte Kolleginnen und Kollegen der Grünen, „Gute
Arbeit“ lässt sich nicht durch Ideologie oder Wirt-
schaftsfeindlichkeit erreichen. Deutsche Unternehmen
sind keine Monster, denen es entgegenkommt oder je-
denfalls vollkommen gleichgültig ist, wenn ihre Töchter
und Zulieferer Menschenrechte verletzen und Sozial-
und Umweltstandards missachten. Wirtschaft ist keines-
wegs gewissenlos. Pauschalierung und Polarisierung ist
der falsche Weg. Es ist nicht zielführend, und meine
persönliche Erfahrung ist auch eine andere. Sowohl die
Beobachtungen auf meiner Reise als auch meine Gesprä-
che haben mir Akteure gezeigt, die sich in höchstem
Maße dafür engagieren, dass ihre Zulieferunternehmen
den Werten guter Arbeit entsprechen. Es werden auf-
wendige Audits durchgeführt und auch Know-how ver-
mittelt, um die Missstände abzustellen. Dies geschieht
aber in der Regel lautlos und effektiv. Die Zahl dieser
Beispiele ist aber leider noch viel zu gering und muss
deshalb dringend gesteigert werden.
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen der
Opposition, die Katastrophe von Rana Plaza im letzten
Jahr hat auch mich nachhaltig erschüttert. Keinen
Menschen können solche Tragödien unberührt lassen.
Strafrechtliche Sanktionen und Zwang sind aber keine
geeigneten Mittel für wirtschaftliche Zusammenarbeit.
Die Diskussion im Zusammenhang mit dem Textilbünd-
nis hat gezeigt, dass sich die Wirtschaft ihrer – auch in-
ternationalen – Verantwortung sehr wohl bewusst ist und
auch die Bereitschaft besteht, sich der Aufgabe zu stel-
len. Allerdings müssen wir auch daran arbeiten, dass un-
sere Unternehmen geeignete Mittel an die Hand bekom-
men, mit denen sie zuverlässig ihrer Aufsichtspflicht
gerecht werden können. Denn nicht jedes Unternehmen
hat die internationalen Erfahrungen und Kontakte, die
lokalen Verhältnisse ausreichend zu durchleuchten. Im
Rana Plaza gab es auch zahlreiche Zertifikate, die ein-
fach nur gekauft waren. Die Kontrollverfahren müssen
belastbar und zuverlässig sein, bevor sie mit Sanktionen
belegt werden können.
Dies setzt voraus, dass in den Entwicklungsländern
die gesellschaftlichen, sozialen und ebenso ordnungs-
behördlichen Rahmenbedingungen so entwickelt und an-
gepasst werden, dass ein Umfeld geschaffen wird, in
dem die Werte der „Guten Arbeit“ überhaupt real umge-
setzt werden können. Dazu gehört ebenso der Respekt
vor dem Mitmenschen wie die Beachtung technischer
Sicherheitsstandards. Die notwendigen Normierungen
sind in der Verantwortung der lokalen Regierungen und
politischen Kräfte. Wirtschaftsunternehmen können
lediglich Impulse geben und innerhalb ihrer Vertrags-
beziehungen Regelungen treffen. Dies reicht aber für
eine grundlegende Verbesserung der Arbeits- und Le-
benssituationen nicht aus. Natürlich darf und muss die
wirtschaftliche Macht des Einkäufers zur Durchsetzung
der Standards eingesetzt werden. Wir haben aber auch in
den Gesprächen mit den Interessenvertretern der Arbei-
ter der betroffenen Länder die Bitte vernommen, keine
umfassenden Wirtschaftsboykotts durchzuführen, um
den Menschen nicht sofort das Einkommen und damit
die Lebensgrundlage zu entziehen. Dies macht die Aus-
wahl der Handlungsoptionen besonders schwierig und
besonders verantwortungsvoll. Hier ist die sensibilisierte
und motivierte Wirtschaft der bessere Partner als vorver-
urteilte Akteure.
Der neue Weg muss gemeinsam und entschlossen
beschritten werden. Den Wegweiser hierzu liefert der
Antrag, ausgewogen und nachhaltig, umfassend und
fundiert – und deshalb erfolgversprechend. Geben Sie
daher für „Gute Arbeit“ den Startschuss. Geben Sie dem
Antrag Ihre Zustimmung.
Dr. Bärbel Kofler (SPD):
1. Jeder hat das Recht auf Arbeit, auf freie Berufs-
wahl, auf gerechte und befriedigende Arbeitsbedin-
gungen sowie auf Schutz vor Arbeitslosigkeit.
2. Jeder, ohne Unterschied, hat das Recht auf glei-
chen Lohn für gleiche Arbeit.
3. Jeder, der arbeitet, hat das Recht auf gerechte und
befriedigende Entlohnung, die ihm und seiner Fa-
milie eine der menschlichen Würde entsprechende
Existenz sichert, gegebenenfalls ergänzt durch an-
dere soziale Schutzmaßnahmen.
4. Jeder hat das Recht, zum Schutz seiner Interessen
Gewerkschaften zu bilden und solchen beizutreten.
Das ist Artikel 23 der Allgemeinen Erklärung der
Menschenrechte der Vereinten Nationen vom Dezember
1948.
Leider sieht die Realität auch 66 Jahre später noch oft
anders aus. Hundert Millionen Frauen, Männer und Kin-
der arbeiten unter lebensgefährlichen Bedingungen, ob
als Quasileibeigene auf Plantagen in Lateinamerika, in
von Quecksilber verseuchten Bergwerken in Afrika oder
in einsturzgefährdeten Textilfabriken in Asien. Allein in
Asien nähen 15 Millionen Menschen Bekleidung, oft un-
ter unwürdigen und gefährlichen Bedingungen. Sie er-
halten dafür einen Lohn, der kaum zum Leben für sie
und ihre Familien reicht.
Ich habe erst vor kurzem auf einer Indienreise zum
Thema „Internationale Normen für Gute Arbeit im Tex-
6308 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2014
(A) (C)
(D)(B)
tilsektor – Herausforderungen für die Akteure entlang
der Wertschöpfungskette“ Kontakt mit Textilarbeiterfa-
milien gehabt und auch einige Tage bei ihnen gelebt.
Klar ist, dass zwei Akteure gefordert sind, um eine wirk-
same Verbesserung zu erreichen. Zum einen müssen in-
ternationale Einkäufer entsprechende Preise bezahlen,
sodass existenzsichernde Löhne gezahlt werden können,
zum anderen brauchen wir in den Ländern eine Arbeits-
gesetzgebung, die es ermöglicht, dass die Arbeitneh-
merinnen und Arbeitnehmer auch von den höheren Prei-
sen profitieren.
Am Beispiel meiner Indienreise kann man die grund-
sätzliche Problematik deutlich machen, dass in vielen
Ländern existenzsichernde Löhne fehlen. Auch wenn es
wie in Indien auf der Ebene der Bundesstaaten Mindest-
löhne gibt, reichen diese in der Regel nicht aus. Daher
werden dringend handlungsfähige Gewerkschaften ge-
braucht, die sich in Verhandlungen mit den Arbeitgebern
dafür einsetzen könnten, dass die Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer von ihrem Verdienst auch leben kön-
nen. Mitglieder von Gewerkschaften werden von Betrie-
ben derzeit oft gar nicht eingestellt. Konkret an diesem
Beispiel zeigt sich, wie wichtig eine Umsetzung der
ILO-Kernarbeitsnormen für die Beschäftigten weltweit
ist. Diese Normen beinhalten für die Mitgliedstaaten der
ILO unter anderem das Recht auf Vereinigungsfreiheit,
das Recht auf Gründung von Gewerkschaften, die Besei-
tigung der Diskriminierung im Arbeitsleben und das Ziel
von gleichem Lohn für gleiche Arbeit von Frauen und
Männern. Als Sozialdemokratin und Gewerkschaftsmit-
glied ist für mich eine Grundvoraussetzung für men-
schenwürdige Arbeit, dass sich die Arbeitnehmervertre-
ter in allen Ländern für die Rechte der Beschäftigten vor
Ort einsetzen können und dies auch tun.
Um die katastrophalen Zustände in der Arbeitswelt
wirksam zu verbessern, ist unser Antrag zur Guten Ar-
beit weltweit, den wir heute abschließend beraten, ein
erster, aber wichtiger Schritt. Er greift ein Kernanliegen
sozialdemokratischer Politik auf; daher war es mir ein
besonderes Anliegen, dass wir ihn als ersten Aufschlag
noch in diesem Jahr in den Deutschen Bundestag ein-
bringen und die Punkte klar benennen, wie wir zu mehr
Verantwortung für Produktion und Handel in unserer
globalisierten Welt kommen.
Damit setzen wir auch ein Wahlversprechen um. In
unserem Wahlprogramm 2013 hat die SPD eine gesetzli-
che Verankerung der Sorgfaltspflicht von Unternehmen
gefordert, um von der Rohstoffgewinnung bis zum ferti-
gen Produkt menschenrechtliche, soziale und ökologi-
sche Standards für die Arbeits- und Produktionsbedin-
gungen zu verankern. In den Koalitionsverhandlungen
haben wir uns für eine Umsetzung der UN-Leitprinzipien
für Wirtschaft und Menschenrechte und einen entspre-
chenden nationalen Aktionsplan stark gemacht. Damit
stehen wir im Wort, der Forderung des UN-Menschen-
rechtsrats, der EU-Kommission und zahlreicher NGOs
nach verbindlichen Regelungen nachzukommen und
nicht – wie die letzte Bundesregierung – einseitig auf
freiwillige Initiativen der Unternehmen zu setzen.
Es geht bei allen anstehenden Entscheidungen, sei es
der staatlichen und privaten Wirtschafts- und Handels-
kooperation mit Entwicklungs- und Schwellenländern,
den aktuellen EU-Richtlinien und Verordnungen zu Kon-
fliktmineralien und CSR oder einem Textilsiegel im
Kern um die Frage, ob das bisherige Prinzip der Frei-
willigkeit weiter bestehen bleibt oder ob verbindliche
Regelungen getroffen werden. Hierzu muss die Bun-
desregierung eine zwischen den beteiligten Ressorts ab-
gestimmte Haltung entwickeln und Möglichkeiten auslo-
ten, wie wir zu Verbindlichkeit kommen können.
Zu unserem Antrag konkret: Die Produktions- und
Lieferketten von international agierenden Unternehmen
sind, wie wir alle wissen, zunehmend global verzweigt
und durch internationale Arbeitsteilung gekennzeichnet.
Viele multinationale Unternehmen haben sich selbst einer
verantwortungsvollen Unternehmensführung verpflichtet,
der sogenannten CSR, und legen über die ökologischen, so-
zialen, menschenrechtlichen und ökonomischen Auswir-
kungen ihrer Geschäftstätigkeit Nachhaltigkeitsberichte
vor. Das begrüße ich. Auf europäischer Ebene sind wir
jetzt ein ganzes Stück weitergekommen mit der Ende
September vom Europäischen Rat angenommene EU-
Richtlinie, die eine verpflichtende CSR-Berichterstat-
tung für Unternehmen mit mehr als 500 Beschäftigten
vorsieht. Die Umsetzung in nationales Recht wird jetzt
angegangen. Hier müssen wir ein klares Zeichen für
mehr Verbindlichkeit setzen.
Zur Frage einer verbesserten Unternehmensverant-
wortung gehört aber auch, dass die Vorreiterunterneh-
men im Wettbewerb mit denjenigen stehen, die hohe so-
ziale Standards nicht einhalten und dadurch Kosten
sparen. Hier hat der Einsturz des Fabrikkomplexes Rana
Plaza in Bangladesch im Jahr 2013 wieder gezeigt, dass
es in einigen Entwicklungsländern Probleme mit der
staatlichen Schutzpflicht gibt und dass einige multinatio-
nal agierende Unternehmen ihrer sozialen Verantwortung
und Sorgfaltspflicht für ihre Lieferkette nicht nachkom-
men. Lohndumping, Zwangs- und Kinderarbeit, Diskri-
minierung von Frauen und Minderheiten, unmenschliche
Arbeitsbedingungen, Organisationsverbote und gravie-
rende Mängel bei der Sicherheit am Arbeitsplatz prägen
die Arbeitsbedingungen in vielen Fabriken. Die Verant-
wortung für die Einhaltung international vereinbarter
Arbeitsbedingungen und Arbeitnehmerrechte liegt so-
wohl bei den Unternehmen als auch bei den Regierungen
und Parlamenten der jeweiligen Länder, welche die
rechtlichen Rahmenbedingungen zu schaffen und durch-
zusetzen haben.
Mit unserem Antrag „Gute Arbeit weltweit – Verant-
wortung für Produktion und Handel global gerecht wer-
den“ wollen wir erreichen, dass sich die Bundesregierung
entsprechend dem Koalitionsvertrag für die Transparenz
von Lieferketten und die Einhaltung völkerrechtlich ver-
pflichtender Konventionen einsetzt. Dazu gehört auch,
dass die Bundesregierung die hier ansässigen Unterneh-
men, die in den zusammengestürzten Textilfabriken in
Bangladesh produzieren ließen, auffordert, endlich ihren
Anteil an Entschädigung der Opfer in den ILO-verwalte-
ten Fonds zu zahlen.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2014 6309
(A) (C)
(D)(B)
Mit unserem Antrag fordern wir die Regierung des
Weiteren auf, Transparenz und international vereinbarte
Konventionen weiterhin national und international zu
stärken, was einfach zugängliche Beschwerdemöglich-
keiten bei der Verletzung dieser Rechte und Standards
zum Beispiel über die Nationale Kontaktstelle, OECD,
beinhaltet. Hierzu gehören Transparenz im Rohstoffhan-
del entsprechend den EU-Richtlinien und EITI-Verein-
barungen sowie die Einhaltung der Standards bei Vorbe-
reitung, Auftragsvergabe und Durchführung sportlicher
Großveranstaltungen.
Die Bundesregierung soll sich aber auch vor dem
Hintergrund der aktuellen Diskussion bei der ILO dafür
einsetzen, dass das Streikrecht als wichtiger Bestandteil
der Vereinigungsfreiheit international weiterhin aner-
kannt wird. Auch das ist ein Auftrag der eingangs ge-
nannten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der
Vereinten Nationen.
In den vergangenen Wochen habe ich viele Gespräche
mit Kolleginnen und Kollegen der beteiligten Ressorts
Wirtschaft, Justiz, Arbeit und Soziales und Menschen-
rechte geführt und unser Anliegen für verbindliche so-
ziale, ökologische und menschenrechtliche Standards
auch den zuständigen Ministerinnen und Ministern ge-
schildert. Diese vielen Gespräche stimmen mich opti-
mistisch, dass nicht nur unser Antrag gut ankommt, son-
dern das Thema ernst genommen wird.
Ich sehe eine große Chance darin, dass wir im nächs-
ten Jahr, dem Europäischen Jahr der Entwicklung, The-
men auf die Agenda des G-7-Gipfels unter deutscher
Präsidentschaft setzen können, die unserem Anspruch an
eine Vorreiterrolle Deutschlands endlich wieder gerecht
werden. Das ist erstens die Frage der neuen Millen-
niumsziele für den Prozess der Vereinten Nationen, die
im September 2015 beschlossen werden, zweitens die
Pariser Klimakonferenz am Ende des Jahres 2015 und
drittens das Thema „Gute Arbeit weltweit“ und die
Frage der Wertschöpfungskette.
Besonders freue ich mich, dass es Bundesarbeitsmi-
nisterin Andrea Nahles gelungen ist, ressortübergreifend
mit dem BMZ hierzu eine Anfang 2015 stattfindende
Veranstaltung im Vorfeld von G7 zu initiieren. Ich sehe
das auch als Bestätigung, dass wir das Thema Gute Ar-
beit und Wertschöpfungskette zu Recht als Schwerpunkt
der parlamentarischen Arbeit der Arbeitsgruppe wirt-
schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung der SPD-
Bundestagsfraktion gesetzt haben.
Meine Position, wie wir wirksam regieren und die Ar-
beitsbedingungen weltweit verbessern können, ist klar:
Wenn es – wie das Beispiel Textilbündnis zeigt – Unter-
nehmen nicht gelingt, die Arbeitsbedingungen zu ver-
bessern, muss der Gesetzgeber handeln. Eine freiwillige
Verpflichtung wird nicht ausreichen. Wir brauchen ge-
setzliche Mindeststandards.
Die Süddeutsche Zeitung hat das am 16. Oktober
2014 unter der Überschrift „Siegel der guten Absicht“
auf den Punkt gebracht:
„Erfolg versprechen einzig verbindliche Standards
in punkto Umweltschutz und Soziales. Das ist die
Lehre aus den vergangenen zwei Jahrzehnten, in
denen die Politik immer wieder darauf setzte, dass
die Unternehmen auf Willensbekundungen auch
Taten folgen lassen. Natürlich ziehen hier einige
Unternehmen mit, deren Geschäft dann eben darauf
beruht, dass sie sich als soziale und grüne Unter-
nehmen profilieren. Ansonsten hat diese Vorge-
hensweise viel grüne PR und wenig Veränderungen
hervorgebracht.“
Ich möchte dabei nicht missverstanden werden. Na-
türlich finde ich die Pioniere unter den Unternehmen
gut, die bereits freiwillig auf menschenwürdige Arbeit
achten und die nötigen Nachweise bringen, dass ihre
Produkte ohne Ausbeutung oder Umweltverschmutzung
hergestellt worden sind. Aber ich bleibe skeptisch, ob
sich eine ganze Branche wie die Textilindustrie einfach
von heute auf morgen umkrempeln lässt. Häufig sieht
die Realität anders aus: Wer voranschreitet, läuft Gefahr,
aus dem Markt gedrängt zu werden. Denn es gibt viele,
die keine Skrupel haben, alle legalen Möglichkeiten zur
Gewinnmaximierung auszuschöpfen. Erst wenn die öko-
nomischen Rahmenbedingungen für alle Unternehmen
geändert werden, herrscht wieder ein freies und faires
Spiel der Kräfte – am besten nicht nur in Deutschland,
sondern in der Europäischen Union und irgendwann
weltweit.
Die Diskussion um die geeigneten Maßnahmen für
eine Verbesserung der weltweiten Arbeitsbedingungen
und mehr Transparenz in den Lieferketten ist im vollen
Gange, das hat nicht zuletzt die Eröffnungskonferenz
des Auswärtigen Amts für den Nationalen Aktionsplan
Wirtschaft und Menschenrechte vergangenen Donners-
tag gezeigt. Damit startet ein auf zwei Jahre angelegter
Arbeitsprozess unter der breiten Einbindung aller gesell-
schaftlichen Gruppen. Ich freue mich, dass wir so viele
engagierte und sachkundige Vertreter von Wirtschaft,
Politik, Zivilgesellschaft, Verbänden und Wissenschaft
zusammenbringen können, um gemeinsam unser Ziel zu
erreichen, die UN-Leitprinzipien in Deutschland umzu-
setzen und endlich einen Ordnungsrahmen für eine ver-
besserte Unternehmensverantwortung im Bereich des
Menschenrechtsschutzes zu entwickeln. Das ist Gute Ar-
beit, ganz konkret, und sollte weiter Schule machen.
Niema Movassat (DIE LINKE): „Wenn du nicht
mehr weiter weißt, gründe einen Arbeitskreis“ scheint
das Motto der Bundesregierung zu sein. Mit einem lang-
jährigen Beratungsprozess versucht sie, dem steigenden
Druck für gesetzliche ökologische, soziale und menschen-
rechtliche Mindeststandards bei Geschäftstätigkeiten
deutscher Unternehmen im Ausland etwas entgegenzuset-
zen, ohne wirklich handeln zu müssen. Letze Woche hat
sie deshalb im Auswärtigen Amt mit der Konferenz
„Wirtschaft und Menschenrechte“ einen Dialogprozess
mit Wirtschaft und Zivilgesellschaft, Wissenschaft Re-
gierung, Verwaltung und politischen Parteien gestartet.
Das klingt natürlich hervorragend. Nur leider erweckt es
ein wenig den Eindruck, als sei auch genau das das pri-
märe Ziel der ganzen Aktion: dass sie hervorragend
klingt.
6310 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2014
(A) (C)
(D)(B)
Bis Ende 2016 soll also in mehreren Konferenzen und
unter Einbeziehung vieler Ministerien dem Kabinett ein
fertiger Aktionsplan zur Abstimmung vorliegen. Anfang
2017 wird das Kabinett diesen dann beschließen. Dann
wird er in eine Hochglanzbroschüre gegossen. Dann
kommt der Bundestagswahlkampf. Danach gibt es eine
neue Bundesregierung. Die muss dann erst mal prüfen,
wie sie zum Aktionsplan der vorherigen Bundesregie-
rung steht. Das dürfte ungefähr so Mitte bis Ende 2018
abgeschlossen sein.
Ich möchte nicht alles schlechtreden: Es ist ein Fort-
schritt, dass auch die Union im vorliegenden Bundes-
tagsantrag ankündigt, ein Unternehmensstrafrecht we-
nigstens zu prüfen. Es ist ein Fortschritt, dass die
Bundesregierung das Thema Wirtschaft und Menschen-
rechte auf so breiter Basis zur Debatte stellt. Der kon-
krete Output für die Arbeiterinnen und Arbeiter in den
Textilfabriken Asiens ist jedoch gleich null. Die sklavenar-
tigen Arbeitsbedingungen sind ein dringendes Problem –
heute! Wir können doch nicht ernsthaft die betroffenen
Menschen damit abspeisen, dass wir sagen: „Wir haben
das Problem nun endlich alle erkannt und arbeiten daran.
Aber sorry, vor 2019 werden wir wohl keine gesetzli-
chen Änderungen bei uns in die Wege leiten, die euch
helfen könnten.“
Es ist ja eben nicht so, dass wir es hier mit einer
neuen Problematik zu tun hätten, dass wir erst mal Fak-
ten sammeln, Analysen erstellen und das alles wirken
lassen müssten. Das Thema steht seit Jahrzehnten auf
der Tagesordnung der Zivilgesellschaft, von Gewerk-
schaften und fortschrittlichen Organisationen. Bereits
vor fünf Jahren, als ich in den Bundestag kam, besuchten
mich Fischer aus Brasilien, denen Thyssen-Krupp mit
seinem desaströsen Stahlwerkprojekt die Lebensgrund-
lage entzogen hatte. Textilarbeiterinnen haben in Ge-
sprächen mit mir geklagt, sie würden in Fabriken, die für
deutsche Textilunternehmen produzieren, eingeschlos-
sen und dürften nur einmal am Tag die Toilette aufsu-
chen. Die EU-Kommission hat bereits im Jahr 2011 alle
EU-Mitgliedstaaten aufgefordert, die Umsetzung der
UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte
des Sonderbeauftragten John Ruggie voranzutreiben.
Das war 2011. 2014 startet die Bundesregierung einen
Beratungsprozess, der bis 2017 andauert. Und am Ende
wird ein Aktionsplan stehen, der völlig unverbindlich ist.
Ich halte das ganze Projekt insgesamt deswegen lei-
der für Augenwischerei. Sicher gibt es innerhalb der
Union und der SPD Abgeordnete, die gesetzliche Regeln
für deutsche Unternehmen im Ausland tatsächlich in Er-
wägung ziehen. Entwicklungsminister Müller hat sich
auch glaubwürdig für ambitionierte Ziele im Rahmen
seiner Verhandlungen mit der Wirtschaft um ein Textil-
siegel eingesetzt. Dennoch ist die Bundesregierung ins-
gesamt weit davon entfernt, die Interessen der betroffe-
nen Menschen in den Ländern des globalen Südens
gegen die Profitinteressen der deutschen Wirtschaft
durchzusetzen. Es ist sehr bedauerlich, aber freiwillig
werden auch in Zukunft deutsche Firmen der Profitmaxi-
mierung im Zweifel immer Vorfahrt geben. Das haben
sie eben erst bewiesen, als sie Minister Müller kurz vor
Abschluss des Textilsiegels mit Argumenten von vor
15 Jahren auflaufen ließen.
Die Zeit ist überfällig, dass die Politik ihre Aufgabe
erfüllt und regulierend eingreift. Die Linke fordert das
auch schon seit vielen Jahren. In der juristischen Fachde-
batte gibt es auch bereits heute schon ausreichend Vor-
schläge, um sofort zu handeln, nicht erst in fünf Jahren.
Es ist sinnvoll, ein Unternehmensstrafrecht einzuführen,
und im Zivilrecht ist es dringend nötig, Sorgfaltsanfor-
derungen für die Tätigkeit von Unternehmen zu definie-
ren. Im Zivilprozessrecht müssen wir dafür sorgen, dass
die Beweislast nicht einseitig bei den Betroffenen liegt,
die oft gar nicht nachweisen können, wie unterneh-
mensintern gehandelt worden ist. Und natürlich müssen
wir auch europaweit und international für verbindliche
Standards eintreten und Klagemöglichkeiten für Betrof-
fenen einrichten.
Wenn wir nicht handeln, wenn wir nicht konkrete Än-
derungen auch im deutschen Recht auf den Weg bringen,
dann wird es weiter die massiven Menschenrechtsverlet-
zungen gegen Arbeiterinnen und Arbeiter geben, ohne
dass Unternehmen Konsequenzen zu befürchten haben.
Das darf nicht länger sein. Bringen Sie also endlich den
politischen Willen auf, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der CDU und SPD, konkret etwas zu ändern, statt
weitere Jahre nur zu debattieren.
Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das
Thema Unternehmensverantwortung bzw. die Kontrolle
internationaler Lieferketten ist in den vergangenen Wo-
chen ausgiebig von uns diskutiert worden. Es wurden
fundierte Argumente und plumpe Plattitüden ausge-
tauscht. Kurz: Man könnte den Eindruck gewinnen, es
sei alles gesagt. Dieser Einschätzung möchte ich ent-
schieden widersprechen. Menschenwürdige Arbeit und
der Schutz der Umwelt in der Lieferkette sind Problem-
stellungen, mit denen wir uns langfristig und immer
wieder aufs Neue intensiv befassen müssen, wenn wir
unseren Job ernst nehmen.
Dass hier dicke Bretter zu bohren sind bestreitet
keiner. Lieferketten sind komplexe Gebilde. Oft wird ein
Produkt in hunderten Arbeitsschritten, an völlig unter-
schiedlichen Standorten, rund um den Globus verteilt,
hergestellt. Auch die Lieferantenkette in der Textilindus-
trie ist durchaus komplex. Allerdings ist es möglich, sie
betriebswirtschaftlich lückenlos zu überwachen. Somit
muss das auch in Bezug auf die Arbeitsbedingungen
machbar sein. Außerdem hindert uns niemand daran, an
der Spitze der Lieferkette mal anzufangen. Die ver-
meintliche Komplexität darf nämlich nicht als Alibi die-
nen, verantwortungsvolle Politik hier bei uns zu verhin-
dern.
Beim Thema Lieferkette könnte man meinen, die
Menschen – und insbesondere die Politik – würden sich
dafür interessieren, wie diese Lieferketten funktionieren
und wie sie überwacht werden können. Und das tun wir
auch. Allerdings nur an einem Ende der Lieferkette.
Nämlich hier bei uns. Wir haben hier in der EU und in
der Bundesrepublik unzählige Gesetze, Richtlinien und
Bestimmungen, die garantieren sollen, dass die Pro-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2014 6311
(A) (C)
(D)(B)
dukte, die auf unsere Märkte kommen, keine Gefahren
für die Verbraucherinnen und Verbraucher bedeuten.
Und das ist auch gut so. Es ist die Aufgabe des Staates,
seine Bürgerinnen und Bürger zu schützen. Wenn man
jetzt sagt: Warum schützen wir nur die Verbraucherinnen
und Verbraucher, aber nicht die Arbeiterinnen und
Arbeiter in den Produktionsländern?, wird man insbe-
sondere von den Kollegen der CDU-Fraktion verwun-
dert angeschaut. Das BMZ scheint hier doch deutlich
weiter zu sein als die Bundestagsfraktion.
Der Tenor: Wie soll das gehen? Und dann der völlig
ernst gemeinte Vorschlag: Wir können ja mal bei den
Unternehmen nachfragen, ob sie nicht auf freiwilliger
Basis etwas mehr auf Mensch und Umwelt achten wol-
len. Die Betonung liegt hier ganz klar auf „freiwillig“.
Denn Freiwilligkeit ist das Zauberwort, wenn wir von
höheren Produktionsstandards in Schwellen- und Ent-
wicklungsländern sprechen. Hierzulande würde niemand
darauf kommen, den Unternehmen auf freiwilliger Basis
selbst zu überlassen, inwieweit sie Rücksicht auf
Umwelt- und Sozialstandards nehmen. Die Gewinn-
maximierungs- oder Optimierungsstrategien der Unter-
nehmen sind an sich in Ordnung, aber nur dann, wenn
sie sich an die Gesetze halten. Und es ist völlig klar: Die
Wirtschaft braucht Regeln, um der Gesellschaft zu die-
nen. Dieses Haus hat die Verpflichtung und die Möglich-
keit, solche Regeln zu erarbeiten. Und wir sollten sie
endlich nutzen. Wer in seiner Wirtschaftspolitik immer
noch glaubt, dass Unternehmen von sich aus und ohne
verbindliche Regelungen Mehrkosten zugunsten ihrer
Arbeiterinnen und Arbeiter in Kauf nehmen oder gar
karitative Zwecke verfolgen, verschließt sich den Reali-
täten.
Das Schlimme ist: Wir wissen es besser. – Um genau
zu sein, Deutschland ist nur deshalb so erfolgreich, weil
wir es besser wissen. Die soziale Marktwirtschaft hat
dieses Land erfolgreich gemacht – keiner wird das be-
streiten. Die soziale Marktwirtschaft funktionierte, weil
sie klare Regeln hatte. Aber wir höhlen die Grundprinzi-
pien dieses Systems immer weiter aus. Und wir verweh-
ren anderen, auf die gleiche Art Erfolg zu haben. Wir
pumpen Millionen in die Entwicklungszusammenarbeit,
aber wollen unser Erfolgsrezept nicht exportieren. Das
ist doch absurd. Glauben Sie mir: Dem armen Ludwig
Erhard würde bei einem Blick auf die Abgeordneten-
ränge der Union heutzutage vor Schreck die Zigarre aus
dem Mund fallen.
Ich appelliere daher an Sie: Verschließen sie nicht die
Augen vor dem, was hinter den jämmerlichen Arbeitsbe-
dingungen in den Produktionsländern steckt. Es reicht
nicht aus, immer nur dann schockiert und betroffen zu
sein, wenn in Bangladesch mal wieder eine Fabrik aus-
brennt oder zusammenstürzt. Wir müssen unsere Ver-
hältnisse hier grundlegend ändern, um die Lage der
Menschen in Entwicklungsländern zu verbessern. Ent-
wicklungspolitik muss Weltinnenpolitik werden. Mit Ih-
rem Antrag wird das nicht passieren. Ich verstehe bis
heute nicht, was das Brimborium soll – insbesondere
vonseiten der SPD! Da schreiben sie doch tatsächlich ei-
nen Antrag, in dem sie freiwillige Maßnahmen unterstüt-
zen wollen, die Regierung über den grünen Klee loben
und sich darüber freuen, wie erfolgreich dieser Weg
doch sei. Das wirkt grotesk. Insbesondere nachdem wir
in den vergangenen Jahren gemeinsam für verbindliche
Standards gekämpft haben. Freiwillige Maßnahmen
kann jeder einleiten, dazu braucht man die Regierungs-
parteien nicht – und einen solchen Antrag schon gar
nicht.
Anlage 4
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Wirksamkeit von
Antibiotika erhalten – Einsatz in der Tierhal-
tung auf vernünftiges Maß reduzieren (Tages-
ordnungspunkt 16)
Artur Auernhammer (CDU/CSU): Anti-Biotikum –
richtet sich gegen das Leben.
Antibiotikum – schützt das Leben.
So widersprüchlich uns obige Aussage zunächst er-
scheinen mag, so widersprüchlich ist jeher das heute von
Ihnen thematisierte Arzneimittel.
So heilsbringend und lebensrettend die Vergabe eines
Antibiotikums wirken kann, so gefahrbringend und
lebensbedrohlich können die Folgen durch eine ent-
wickelte Resistenz sein. Da stimme ich mit Ihnen über-
ein. Und gegen diese Resistenzen müssen wir gemein-
sam kämpfen.
Die Europäische Kommission teilte bei der Vorstel-
lung des letzten Aktionsplanes zur Abwehr der steigen-
den Gefahr der Antibiotikaresistenz mit, dass jährlich
über 25 000 Todesfälle auf die Wirkstoffimmunität zu-
rückzuführen sind. Im Agrarsektor wird gleichermaßen
eine erhöhte mikrobielle Widerstandsfähigkeit festge-
stellt.
Der konkrete Handlungsbedarf besteht. Diese Einig-
keit in diesem Hause müssen Sie doch aber nicht durch
einen Seitenhieb auf scheinbare Qualzuchten in der
Landwirtschaft zunichtemachen. Thematisch ohnehin
nicht zielführend fordern Sie weitere Verbote.
Eine artgerechte Tierhaltung ist in der deutschen
Landwirtschaft gängige Praxis. Die deutsche Agrarwirt-
schaft arbeitet im gleichen Jahrtausend wie Sie. Zumin-
dest arbeiten die Landwirte im 21. Jahrhundert. Doch Ihr
Antrag erweckt den Eindruck – wohl versehentlich –,
dem wäre nicht so. Ich will Ihnen da keine Absicht un-
terstellen, will aber zu Beginn diese Fehleinschätzung
klarstellen.
Die Bekämpfung der Antibiotikaresistenzen wird uns
bei einer so starren Fokussierung allein auf die Veteri-
närmedizin nicht gelingen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, meine
Damen und Herren, die Weltgesundheitsorganisation
spricht von einem Eine-Gesundheit-Prinzip, und auch
die Welttiergesundheitsorganisation unterscheidet nicht
zwischen Tiergesundheit und Menschengesundheit,
wenn es zu Antibiotikaresistenzen kommt. Das verkennt
6312 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2014
(A) (C)
(D)(B)
Ihr Antrag leider. Sie sind damit nicht allein. Ich will
Ihnen eine einfache Rechnung machen, die aufzeigt,
dass die Frage antibiotischer Medikation in der Human-
medizin nicht wesentlich verschieden ist von der Veteri-
närmedizin. Ich greife dabei auf einen Bericht der
Arbeitsgruppe GERMAP 2012 zurück, die auf Initiative
des Bundesamtes für Verbraucherschutz und Lebensmit-
telsicherheit in Zweijahresrhythmen dazu berichtet, und
auf Zahlen des Statistischen Bundesamtes. Der Jahres-
verbrauch von Antibiotika im Humanbereich liegt nach
Schätzungen bei 700 bis 800 Tonnen. Der Jahresver-
brauch von Antibiotika im Nutztierbereich ist knapp
doppelt so hoch.
Die Zahlen belegen die Menge, doch mich interes-
siert, wie sich diese Medikamentengabe je Kilogramm
darstellt. Eine plausible Rechnung machte mir folgendes
deutlich.
80 Millionen Menschen in Deutschland wiegen bei
einem angenommenen Durchschnittsgewicht von 50 Ki-
logramm zirka 4 000 Millionen Kilogramm. Berechnet
man im Vergleich das Gesamtgewicht des deutschen
Nutztierbestandes mittels tierart- und nutzungsformspe-
zifischen Durchschnittsgewichten, kommt man auf et-
was mehr als 9 850 Millionen Kilogramm.
Der Nutztierbestand in Deutschland wiegt also mehr
als das Doppelte des Gewichts der deutschen Bevölke-
rung.
Alles nur Statistik? Nein. Es wird deutlich, dass die
antibiotischen Medikationsmengen von Veterinär- und
Humanmedizin je Kilogramm im Vergleich beinahe
übereinstimmen. Wobei bei dieser Berechnung zu erken-
nen ist, dass die verbrauchten Tierantibiotikamengen
20 bis 40 Prozent geringer sind als die Jahresantibiotika-
menge in der Humanmedizin.
Statistische Berechnungen lassen nie absolute
Schlüsse zu, aber diese deutliche Tendenz ist belegt.
Tierärzte verschreiben proportional weniger Antibiotika
als Humanmediziner. Dieser Trend verstärkt sich, wenn
wir uns bewusst werden, dass 50 Prozent der in der
Humanmedizin verschriebenen Antibiotika wirkungs-
stärkere Reserveantibiotika sind. Diese wirken bereits in
geringeren Mengen.
Daher bedarf der Kampf gegen Antibiotikaresisten-
zen immer einer einheitlichen Betrachtung von Mensch
und Tier. Das verkennt dieser Antrag leider.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen, in der Zielsetzung stimmen wir über-
ein, in der Methodik liegen wir auseinander. Ich wün-
sche mir eine effektive Antibiotikavergabe; dazu hat sich
auch die Koalition verständigt.
Wenn wir Antibiotika als einen Wirkstoff bewahren
wollen, der das Leben rettet, dann müssen wir auch über
Fraktionsgrenzen hinaus handeln, dann müssen wir auf
Seitenhiebe verzichten und zum Wohle unserer Bürge-
rinnen und Bürger ressortübergreifend beraten. Eine
Debatte zulasten der Landwirte ist einfach unsachlich
und führt nicht zum Ziel.
Dieter Stier (CDU/CSU): Wir beraten heute den An-
trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen: „Wirksamkeit
von Antibiotika erhalten – Einsatz in der Tierhaltung auf
vernünftiges Maß reduzieren“.
Liest man Ihren Antrag, liebe Kollegen und Kollegin-
nen von den Grünen, dann erkennt man sofort: Sie ha-
ben den Überblick über die Faktenlage mittlerweile
vollständig verloren. Anstatt immer wieder aufs Neue
die Ängste der Verbraucher vor Resistenzen zu schüren,
sollten Sie sich lieber die tatsächliche Situation ansehen.
Das Thema Antibiotikaresistenzen ist viel zu ernst – man
darf es nicht für plakative Kampagnen missbrauchen.
Gern helfe ich Ihnen, den Durchblick in der Sache zu-
rückzugewinnen.
Wir alle stimmen darin überein, dass es drei wissen-
schaftlich fundierte Gründe für den Einsatz von Antibio-
tika in der Tierproduktion gibt:
Erstens. Sie dienen der Sicherstellung der Tiergesund-
heit.
Zweitens. Sie haben den Zweck, wirtschaftliche
Schäden in unseren landwirtschaftlichen Nutztierbestän-
den zu verhindern.
Drittens. Sie schützen vor Zoonosen, also den von
Tieren auf den Menschen übertragbaren Krankheiten.
Der Einsatz von Antibiotika hat also einen vernünfti-
gen Hintergrund. Größere Tierbestände auf begrenztem
Raum bergen nun einmal die Gefahr in sich, dass sich
Erkrankungen dort schnell verbreiten können. Antibio-
tika verhindern eine solche weitere Verbreitung. Bis hier
besteht Konsens.
Der Blick in Ihren Antrag offenbart nun allerdings
zwei entscheidende Fehler. Fehler, die Sie immer wieder
machen:
Sie behaupten zum einen, es gebe einen rücksichtslo-
sen und vor allem ungezielten Antibiotikaeinsatz in der
Tierhaltung, der nicht mehr beherrschbar wäre. Ein Ge-
neralverdacht, der im Einzelnen überhaupt nicht beleg-
bar ist.
Und zum anderen suchen Sie immer nach einem
Schuldigen, den sie öffentlich vorführen und brandmar-
ken können. Diesmal sind die Tierärzte dran. Denen
unterstellen Sie, sie würden aus reinem Profitinteresse
einen hemmungslosen und ungezügelten Antibiotikaein-
satz praktizieren. Folglich wären sie mitverantwortlich
für die multiresistenten Erreger. Das ist Unsinn, und das
wissen Sie genau.
Wer solche Bilder malt, disqualifiziert sich als ernst-
zunehmender Diskussionsteilnehmer. Mit diesen Gru-
selszenarien erschrecken Sie die Menschen, verunsi-
chern die Verbraucher und schaden den Tierärzten und
der landwirtschaftlichen Tierhaltung.
Eines wird aus Ihrem Antrag deutlich: Bei der Lösung
des Problems laufen Sie in die völlig falsche Richtung.
Den Antibiotikaeinsatz senken wir nicht, indem wir den
Tierärzten neue Restriktionen auferlegen. Denn die Tier-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2014 6313
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(D)(B)
ärzte sind unsere Partner bei der Minimierung des Anti-
biotikaeinsatzes und nicht die Gegner.
Lassen Sie uns die Lage nüchtern betrachten:
Anzeichen für eine Resistenzproblematik sind unbe-
stritten, auch wenn bis heute keine verlässlichen und
wissenschaftlich fundierten Daten vorliegen, in welchem
Umfang der Einsatz von Antibiotika in der Tierhaltung
zur Resistenzproblematik in der Humanmedizin beiträgt.
Weil wir aber in der Union den gesundheitlichen Ver-
braucherschutz sehr ernst nehmen und ihm den höchsten
Stellenwert mit einräumen, haben wir genau deshalb in
der vorausgegangenen Legislaturperiode das Arzneimit-
telgesetz novelliert.
Auf den Punkt gebracht lautet die Zielsetzung der
16. AMG-Novelle: Der Antibiotikaeinsatz in der Tier-
haltung wird reduziert. Nur das therapeutisch notwen-
dige Mindestmaß ist in der Tierhaltung akzeptabel. Das
ist inhaltlich die identische Zielstellung wie in Ihrem
Antrag. Das bedeutet, wir machen das bereits. Nur unser
Weg ist besser.
Gern führe ich Ihnen noch einmal vor, wie wir zum
Ergebnis kommen:
Seit dem 1. April dieses Jahres gilt das neue Gesetz.
Der rechtliche Rahmen für den Einsatz von Antibiotika
in der Tiermedizin ist damit deutlich verschärft worden.
Die gewerblichen Tierhalter werden in die Pflicht
genommen und müssen sich einem Erfassungs- und Ver-
gleichssystem unterwerfen. Dazu zählt die Verpflich-
tung, die Häufigkeit der angewendeten Antibiotika zu
melden. Es gilt, sie mit bundesweiten Kennzahlen abzu-
gleichen, und es muss im Zusammenwirken mit dem
Tierarzt der Antibiotikaeinsatz minimiert werden, wenn
er die vorgegebenen Vergleichswerte übersteigt.
Bei diesen Vorgaben haben wir es aber nicht belassen.
Damit das Melde- und Kontrollsystem auch effektiv
greift, haben wir zugleich das Sanktionsspektrum erwei-
tert. Die Tierarzneimittelüberwachung der Länderbehör-
den hat jetzt mehr Befugnisse und kann Verstöße besser
ahnden: Tierhalter können zu Änderungen in Haltung,
Fütterung oder Besatzdichte verpflichtet werden, es kön-
nen Bußgelder bei Nichtanzeigen des Antibiotikaeinsat-
zes verhängt werden, oder es kann sogar die Einstellung
der Tierhaltung angeordnet werden. Ein umfassender
Rechtsrahmen ist somit vorhanden. Einer weiteren Re-
glementierung, insbesondere die Tierärzte betreffend,
bedarf es daher nicht.
Jetzt schon wieder neue Vorschriften zu fordern, wo
erst vor einem halben Jahr das Änderungsgesetz in Kraft
getreten ist, das ist absurd und nicht nachvollziehbar.
Lassen Sie das Gesetz doch erst einmal zur Anwendung
kommen. Die Ergebnisse werden uns Recht geben.
Dem Hauptanliegen Ihres Antrages, „den Antibiotika-
einsatz in der Tierhaltung auf ein vernünftiges Maß zu
reduzieren“, sind wir von der Union heute viel näher, als
Sie es jemals waren. Denn wir haben in der AMG-No-
velle wesentlich geeignetere Maßnahmen festgeschrie-
ben, als sie in Ihrem Antrag anzubieten haben.
Sie fordern weiter, die Haltungsbedingungen von
Nutztieren zu verbessern.
Auch diese Forderung kann nicht die Bundesregie-
rung realisieren. Sie liegt vielmehr in den Händen der
Tierhalter, die überwiegend in unserem Land verantwor-
tungsbewusst mit ihren Tieren umgehen und die keine
Kosten und Mühen scheuen, auch aktuellste Neuerungen
in ihren Ställen einzusetzen. Ich empfehle Ihnen gerade
unter dem aktuellen Eindruck des Besuchs unserer AG
in dieser Woche auf der Messe „EuroTier“ in Hannover:
Schauen Sie sich an, was technisch alles möglich ist. Ich
sage es hier abermals: Jeder Stallneubau in unserem
Land schafft einen Fortschritt in den Haltungsbedingun-
gen.
Lassen Sie mich abschließend feststellen: Wir sind
gegenwärtig gut gerüstet, den Antibiotikaeinsatz in der
Tierhaltung, der bereits aufgrund der eingeleiteten Maß-
nahmen gesunken ist, weiter herunterzufahren.
Ich lade Sie ein, dabei konstruktiv mitzuwirken, Ihres
heute vorliegenden Antrages bedarf es dazu nicht.
Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD): Für die heutige
Debatte des Antrags der Grünen-Bundestagsfraktion
„Wirksamkeit von Antibiotika erhalten – Einsatz in der
Tierhaltung auf ein vernünftiges Maß reduzieren“ hätte
ich mir zeitlich einen besseren Debattenplatz mit mehr
Öffentlichkeit gewünscht. Übrigens haben wir als SPD-
Fraktion schon 2011 mit einem fast gleichlautenden An-
trag klar Stellung bezogen.
Es scheint mir, dass die Frage der Anwendung von
Antibiotika in der Tierhaltung sehr emotional diskutiert
wird. Ich finde, es ist daher an der Zeit, die Diskussion
zu versachlichen. Das Thema taugt nicht für eine Grund-
satzdebatte, ob Tierhaltung und Veredlung in bestimm-
ten Haltungsformen noch möglich sind. Bakterien, resis-
tent oder nicht, lassen sich zwar schwarz, grün oder rot
färben, haben aber kein politisches Bekenntnis. Sie un-
terscheiden nicht nach konventionellen, ökologischen,
großen oder kleinen Betrieben. Die Verordnung und die
Anwendung von Antibiotika in der Tierhaltung bedürfen
einer besonderen Sorgfalt, sowohl durch den Tierarzt als
auch durch den Landwirt. Nur nach gründlicher Untersu-
chung und Anamnese und einer gesicherten Diagnose
dürfen Antibiotika verordnet werden, nur dann. Der pro-
phylaktische Einsatz von Antibiotika in der Tierhaltung
ist daher EU-weit zu verbieten.
Der neue EU-Kommissar für Gesundheit und Lebens-
mittelsicherheit Vytenis Andriukaitis sieht das genauso
wie ich; das hat mir ein Gespräch mit dem Kommissar
am Montag dieser Woche bestätigt. Der Einsatz von An-
tibiotika in der Nutztierhaltung, das Management von
Antibiotikaresistenzen und die Organisation eines aussa-
gekräftigen Antibiotikamonitorings sind wichtige Vo-
raussetzungen, um die Sicherheit tierischer Lebensmittel
und das Verbrauchervertrauen in sie zu erhalten, nicht
nur in Deutschland, sondern in ganz Europa.
Mit der 16. Novelle des Arzneimittelgesetzes vom
Juni 2013 sind wir darum einen wichtigen Schritt in die
richtige Richtung gegangen. Die Meldepflicht für den
6314 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2014
(A) (C)
(D)(B)
Antibiotikaeinsatz und die Anwendung des Therapie-
indexes auf Grundlage dieser Novelle werden die einge-
setzte Antibiotikamenge sicher reduzieren. Aber es gibt
weitere Handlungsoptionen.
Ich selbst weiß, wovon ich rede. Zum Thema Antibio-
tikaeinsatz in der Tierhaltung kann ich auf eine langjäh-
rige Erfahrung als praktizierender Tierarzt mit eigener
Hausapotheke zurückgreifen. Ich weiß, wie es in der
Praxis aussieht. Eine mengenmäßige Antibiotikareduk-
tion allein wird das Problem zunehmender Resistenzen
nicht lösen. Das erkennt man am Beispiel von Däne-
mark. Dänemark hat bereits vor vielen Jahren eine
strikte Reglementierung der Antibiotikaverordnung und
-abgabe umgesetzt. Trotzdem ist der Befund von
MRSA-positiven Schlachtschweinen innerhalb weniger
Jahre von etwa 20 auf mehr als 80 Prozent der unter-
suchten Schlachtkörper gestiegen. Ursache dafür sind
mit Sicherheit auch Faktoren wie die Bedingungen des
Transports zum Schlachthof, aber auch die Zerlegung
und Weiterverarbeitung im Schlachtbetrieb. Eine Viel-
zahl von Schlachtkörpern wird offensichtlich während
der Verarbeitung kontaminiert. Mangelnde Stallhygiene,
ein schlechtes Stallklima, mangelhafte Haltungsbedin-
gungen und ein unzureichendes Betriebsmanagement
machen unsere Tiere krank. Darum brauchen wir einen
einheitlichen Rechtsrahmen für die Tierhaltung, der die
Arzneimittelanwendung und die Haltungsbedingungen
in unseren Ställen regelt.
Wir brauchen ein Tiergesundheitsgesetz, das seinen
Namen verdient. Es reicht bei weitem nicht aus, einzelne
Stellschrauben wie die verordnete Antibiotikamenge zu
justieren. Nur ein ganzheitlicher Ansatz, der auch Tier-
wohl und Tierschutz berücksichtigt, kann zum Ziel füh-
ren.
Diese Forderung hat die SPD in den Koalitionsvertrag
geschrieben, und wir werden es mit unserem Koalitions-
partner umsetzen. Auf der EU-Ebene wird der Bereich
der Zulassung von Tierarzneimitteln von der Zulassung
der Humanarzneimittel getrennt werden. Auch das wer-
den wir in Deutschland umsetzen müssen.
Der vermehrte Einsatz von Impfstoffen ist eine
weitere Option. In den letzten 20 Jahren ist nach meiner
Einschätzung die Anwendung von Antibiotika bereits
durch den prophylaktischen Einsatz von Impfstoffen be-
grenzt worden. Das ist ein Erfolg; daran sollten wir an-
knüpfen! Die Verwendung von Impfstoffen bei Be-
standserkrankungen ist zwar häufig teurer als der Einsatz
von Antibiotika. Es ist aber sinnvoll, wenn Impfstoffe
eine Alternative darstellen, den Einsatz von Impfstoffen
verpflichtend zu machen und damit den Einsatz von An-
tibiotika zu verringern. Dennoch muss auch weiterhin si-
chergestellt sein, dass Tiere, die ernsthaft erkrankt sind,
angemessen behandelt werden können. Das gebietet al-
lein schon der Tierschutzgedanke.
Das Dispensierrecht der Tierärzte ermöglicht den Be-
zug, das Lagern, die Abgabe und die Herstellung von
apotheken- und verschreibungspflichtigen Arzneimitteln
durch den Tierarzt. Es ist eine wichtige wirtschaftliche
Grundlage für tierärztliche Praxen. Die Abgabe von Arz-
neimitteln durch den Tierarzt ermöglicht das schnelle
Reagieren auf akute Krankheitsausbrüche. Das bestätigt
auch das Gutachten im Auftrag des BMEL zur Überprü-
fung des tierärztlichen Dispensierrechts vom Oktober
2014. Nach meiner Einschätzung sollte das Dispensier-
recht nicht infrage gestellt werden. Es vereinfacht auch
die Kontrolle des Arzneimittelflusses vom Hersteller
über den Tierarzt zum Tierhalter und macht diesen über-
schaubar und nachvollziehbar. Die Kontrollen sind
durch die entsprechenden Landesbehörden sehr effizient
organisiert.
Eine Schlussfolgerung aus dem Gutachten des BMEL
ist, dass man sich durchaus mit der Preisgestaltung der
Hersteller und der abgebenden Tierärzte beschäftigen
sollte. Die Arzneimittelpreisverordnung regelt die
Höchstzuschläge für den Großhandel sowie für die Tier-
ärzte; diese orientieren sich in der Regel am Verkaufs-
preis des pharmazeutischen Unternehmens. Im Gegen-
satz zu den Apothekern, die bei der Abgabe von
Tierarzneimitteln an den Preisaufschlag gebunden sind,
ist der Tierarzt in seiner Preisgestaltung frei. Dadurch
gibt es einen heftigen Wettbewerb zwischen vielen Be-
treuungspraxen. Dabei steht häufig nicht die Leistung
und das Können der jeweiligen Kollegen im Vorder-
grund, sondern der Abgabepreis. Ich bin der Ansicht, es
sollte keine zusätzlichen materiellen Anreize geben, die
den leichtfertigen Einsatz von Tierarzneimitteln, vor al-
lem von Antibiotika, befördern.
Bereits 2006 haben wir das Gewähren von Natural-
rabatten auf den Einkauf und Bezug von Arzneimitteln
abgeschafft. Die Hersteller von Tierarzneimitteln haben
darauf flexibel reagiert und einen Ausweg gefunden: Sie
gewähren den Tierärzten je nach Bezugsmenge ganz un-
terschiedliche Einkaufspreise. Damit wird ein Anreiz ge-
schaffen, möglichst große Mengen einzukaufen. Das
kann dazu führen, dass eine große tierärztliche Betreu-
ungspraxis im Bereich Schweine- oder Geflügelhaltung
Arzneimittel zu Preisen an den Tierhalter abgeben kann,
zu denen Kollegen aus kleineren Praxen noch nicht ein-
mal einkaufen können. Dieses Vorgehen der Arzneimit-
telhersteller ist wettbewerbsrechtlich äußerst bedenklich.
Es stellt unter Umständen die Niederlassungsfreiheit vor
allem junger Tierärzte mit kleineren Tierarztpraxen in-
frage. Wir finden heute Tierarztpraxen, deren Umsatz
aus Arzneimittelabgabe mehr als 75 Prozent des Ge-
samtumsatzes ausmacht. Schon seit langem werden
diese Praxen steuerlich nicht wie Freiberufler behandelt,
sondern die Arzneimittelabgabe dieser Praxen unterliegt
der Gewerbesteuerpflicht. Im Vordergrund sollte nach
meiner Auffassung die Honorierung tierärztlicher Leis-
tung wie Untersuchungen, Diagnosen und die Beratung
stehen und nicht das Durchhandeln von verordneten
Arzneimitteln. Darum sollten wir ernsthaft darüber
nachdenken, dass zukünftig die Arzneimittelhersteller
und der Großhandel allen Beziehern von Medikamenten
nach dem Prinzip der Meistbegünstigung Einkaufspreise
gewähren müssen, die auch großen Praxen eingeräumt
werden. Auch sollten die in § 10 der Arzneimittelpreis-
verordnung vorgesehenen Zuschläge angepasst und in
verbindliche Festzuschläge umgewandelt werden; dies
entspräche dann den Vorgaben für Apotheken.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2014 6315
(A) (C)
(D)(B)
Ich finde, dass der Antrag der Grünen ein ernst zu
nehmender Denkanstoß ist, und ich freue mich auf die
Beratung im Ausschuss.
Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Die Anwen-
dung von Antibiotika ist notwendig und ethisch geboten.
Unter zwei Voraussetzungen: Eine Infektionskrankheit
ist zweifelsfrei diagnostiziert, und die Wirksamkeit des
Wirkstoffs gegen den Erreger ist nachgewiesen. Das gilt
für Nutztierbestände ebenso wie für die Behandlung von
Haus- und Heimtieren und selbstverständlich auch für
die Humanmedizin. Es ist gut und überfällig, dass sich
Veterinär- und Humanmedizin nun gemeinsam darum
kümmern, dass der missbräuchliche und sorglose Ge-
brauch von Antibiotika aufhört.
Die Entdeckung des Penicillins war ein sehr wertvol-
les Geschenk an die Menschheit, mit dem plötzlich die
Geißel verheerender Krankheiten beherrschbar wurde.
Diese Therapiemöglichkeit darf auf keinen Fall verspielt
werden.
Doch dieses Risiko wird tagtäglich eingegangen,
wenn Antibiotika missbräuchlich oder sorglos ange-
wandt werden. Zum Beispiel, wenn, statt die Ursachen
von Infektionskrankheiten in Nutztierbeständen zu behe-
ben, ganze Bestände häufig, regelmäßig und unsachge-
mäß behandelt werden. Das damit verbundene Risiko
der Resistenzbildung und damit der Unwirksamkeit der
Antibiotika betrifft uns alle. Deshalb fordert die Öffent-
lichkeit völlig zu Recht, dass wir als Gesetzgeber un-
seren Teil der Verantwortung übernehmen und, da nö-
tig, gesetzliche Regeln zum Schutz der Allgemeinheit
verschärfen und, mindestens ebenso wichtig, ihre
Durchsetzung auch zu sichern. Denn die seit drei Jahren
veröffentlichten Antibiotikamengen und das Resistenz-
monitoring in der Tierhaltung reichen ja offensichtlich
nicht aus, um das Problem zu lösen.
Der Heimtierbereich und die Humanmedizin müssen
zwingend in die strategischen Überlegungen zu Mini-
mierungskonzepten einbezogen werden. Die Linksfrak-
tion fordert seit langem, die Wirkstoffe für die Human-
und die Veterinärmedizin konsequent zu trennen. Auch
die Resistenzentwicklung bei Desinfektionsmitteln ist
ein dringendes Forschungsthema.
Darüber hinaus gehört für die Linksfraktion zum
Thema auch die Forderung nach gut ausgebildetem und
fair entlohntem Betreuungspersonal, welches mit den Tie-
ren arbeitet. Dazu soll auch ein Sachkundenachweis für
Betriebspersonal ohne landwirtschaftliche Ausbildung
dienen, der bei nachgewiesenen Verstößen mit Auflagen
versehen werden oder in schweren Fällen bzw. bei Wie-
derholung auch entzogen werden kann. Weitere Forde-
rungen zu einem strategischen Ansatz für mehr Tierge-
sundheit haben wir bereits 2012 mit dem Antrag
„Einsatz von Antibiotika in der Tierhaltung reduzieren“
(Bundestagsdrucksache 17/8348) vorgelegt.
Angesichts der Bedeutung dieses Themas ist es gut,
dass der Ton des Antrags der Grünen heute deutlich we-
niger schrill ist als in der Vergangenheit. Sie halten nun
am Dispensierrecht fest und verzichten darauf, die Re-
duktion absoluter Abgabenmengen zu fordern.
Es ist sinnvoll, Herstellerrabatte zu reduzieren. Auch
einheitliche Abgabepreise können sinnvollerweise öko-
nomische Anreize zum übermäßigen Einsatz von antimi-
krobiellen Wirkstoffen reduzieren. Reserveantibiotika,
wie beispielsweise Fluorchinolone und Cephalosporine,
sollten nur noch im absoluten Ausnahmefall eingesetzt
werden dürfen. Ein Antibiogramm zur Prüfung der
Wirksamkeit der jeweiligen Wirkstoffe muss zum Stan-
dard werden.
Alarmierend ist auch der erstmalige Nachweis von
Sulfadimidin im Grundwasser im Kreis Cloppenburg, ei-
nes ausschließlich als Tierarzneimittel verwendeten
Wirkstoffs, der vor wenigen Tagen veröffentlicht wurde.
Antibiotikaverbrauch wirksam zu reduzieren heißt
zwingend, die Haltungsbedingungen der Tiere zu verbes-
sern. Tiergesundheit muss in den Mittelpunkt gestellt wer-
den. Dazu gehören Besatzdichten und -größen ebenso auf
den Prüfstand wie Qualzuchten oder Bestandsmanage-
ment. Wir brauchen verbindliche Kriterien, die sowohl
den Anforderungen des Tierschutzes und vernünftigen
Arbeitsbedingungen, aber auch dem Schutz der Lebens-
qualität in den Dörfern und einer nachhaltigen Regional-
entwicklung gerecht werden. Die Größe der Nutztierbe-
stände an einem Standort, ihre Zahl in der jeweiligen
Region, ist dabei nur ein, wenn auch wichtiger, Aspekt.
Unsere Vorschläge zur Definition von Bestandsober-
grenzen für Tierhaltungen am Standort und in Regionen
liegen längst auf dem Tisch. Die Öffentlichkeit erwartet
von uns zu Recht endlich Entscheidungen.
Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Sie alle wissen, wir Grüne kämpfen für eine
artgerechte Haltung von Tieren. Doch was sagt man
dazu: Bei der Eröffnung der weltgrößten Fachmesse für
Nutztierhaltung, der EuroTier in Hannover, verkündete
DLG-Präsident Bartmer in dieser Woche, Tierhaltung
könne gar nicht artgerecht sein. Welche Konsequenzen
sind nun aus seiner Aussage zu ziehen? Doch das nur ne-
benbei.
Ich möchte heute mit Ihnen in erster Linie über unsere
Aufforderung an Sie diskutieren, die Regelungen beim
Handel mit Antibiotika für die Tierhaltung umzugestal-
ten. Denn was ist die Legitimation für Mengenrabattie-
rungen bei Antibiotika in der Tierhaltung? Der Einsatz
dieser hochwirksamen Arzneimittel muss auf die akute
Behandlung des erkrankten Einzeltiers reduziert werden.
Die Gewährung von hohen Mengenrabatten und die
großen Spannen bei der Preisgestaltung sind hierfür das
denkbar falsche Signal und bieten zu viele ökonomische
Anreize, in hohen Mengen Antibiotika billigst zu ver-
scherbeln.
Stellen wir uns kurz vor, ich sei ein Landtierarzt mit
eigener Praxis: Ich kaufe 40 Flaschen eines Antibioti-
kums mit dem Listenpreis 20 Euro und bekomme sie für
18 Euro. Dies führt zu einem Verkaufspreis von 26 Euro,
der meiner Apotheke einen Rohertrag von 8 Euro ein-
bringt. Mein Nachbar dagegen, ein Veterinär, der in einer
6316 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2014
(A) (C)
(D)(B)
Großpraxis mit 10 Kolleginnen und Kollegen Geflügel-
mastställe „betreut“, kauft 400 Flaschen. Der Listenpreis
bleibt gleich bei 20 Euro, er bekommt sie aber für
10 Euro pro Stück. Wenn er sie für 21 Euro an den
Landwirt abgibt, ist dieser natürlich begeistert über den
geringen Preis, und die tierärztliche Apotheke kann
einen Rohertrag von 11 Euro verbuchen. Das ist nicht
vernünftig, das ist nicht zielführend, das ist Schwach-
sinn. Und eine Mischung aus unternehmerischem Ehr-
geiz und menschlicher Gier kann hier leicht dazu führen,
dass mehr Antibiotika in den Ställen landen als notwen-
dig. Ich teile die Einschätzung, die 2012 der damalige
Staatssekretär Gerd Lindemann im BMELV gab: Tier-
ärztinnen und Tierärzte müssen für ihre medizinische
Leistung bezahlt werden, nicht für das Ausfüllen von
Abgabebelegen für Antibiotika.
Der aktuelle Bericht der Europäischen Arzneimit-
telagentur macht es deutlich: Deutschland ist Spitzenrei-
ter beim absoluten Verbrauch von Antibiotika in der
Tierhaltung. Und bezogen auf den vorhandenen Tierbe-
stand befinden wir uns in der Spitzengruppe mit Zypern,
Ungarn, Spanien und Italien. Die Bundesregierung un-
ternimmt nichts, um daran etwas zu ändern! Es wurde
zwar als großer Erfolg gefeiert, dass die absoluten Abga-
bemengen von 2011 auf 2013 gesunken sind. Dabei wird
allerdings unter den Teppich gekehrt, dass im gleichen
Zeitraum die Abgabe von Reserveantibiotika sprunghaft
angestiegen ist. Bei den Cephalosporinen der dritten Ge-
neration stieg die Abgabe innerhalb von zwei Jahren um
25 Prozent, bei den Fluorchinolonen sogar um 60 Pro-
zent. In der Dosierung unterscheiden sich die verschie-
denen Antibiotika erheblich, und gerade die kritischen
Reserveantibiotika werden sehr niedrig dosiert. Es wer-
den bei Tetracyclinen beispielsweise 80 mg pro kg Kör-
pergewicht eingesetzt, bei Cephalosporinen dagegen nur
1 bis 2 mg pro kg Körpergewicht. Berücksichtigt man
diese fachliche Ebene, ist die signifikante Erhöhung der
Reserveantibiotika geradezu alarmierend und nivelliert
den Rückgang der absoluten Menge. Deshalb muss die
Tagesdosis endlich mit erfasst werden. Reserveantibio-
tika müssen weitestgehend aus der Tierhaltung ver-
schwinden. Deshalb: Verbieten Sie endlich den Einsatz
von Reserveantibiotika in der Tierhaltung, mit wenigen
begründeten Ausnahmen.
In der letzten Woche mussten wir zur Kenntnis neh-
men, dass im Landkreis Cloppenburg Sulfadimidin, ein
Antibiotikum, das nur in der Tierhaltung eingesetzt wird,
in Trinkwassermessstellen nachgewiesen wurde. In der
Region mit der höchsten Viehdichte in ganz Europa.
Und wieder: Die Bundesregierung unternimmt nichts,
um daran etwas zu ändern. Ganz im Gegenteil: Der Bau-
ernverbandsvorsitzende der Region behauptete steif und
fest, die gefundenen Antibiotika kämen aus der Human-
medizin, obwohl sie dort nachweislich nicht zugelassen
sind.
Ich möchte einerseits heute um Ihre Unterstützung
werben, das Dispensierrecht anzupassen und zu mehr
Vernunft umzugestalten. Das heißt, das Rabattierungs-
system muss abgeschafft werden, weil es falsche An-
reize gibt. Nicht weniger, sondern mehr Verbrauch wird
hier belohnt.
Aber andererseits möchte ich Sie fragen, wie wir die
Tierhaltung in der Landwirtschaft handhaben wollen.
Sehen wir unsere Bäuerinnen und Bauern, da beziehe ich
mich mit ein, als Tierhalter, die sich verantwortungsvoll
um die ihnen anvertrauten Geschöpfe kümmern, ihnen
ein artgerechtes Leben ermöglichen und so wertvolle
Lebensmittel erzeugen? Oder degradieren wie sie als
Mäster oder Ferkelproduzenten, die so in der Tretmühle
aus Ramschpreisen, Kosteneffizienz und Produktivität
gefangen sind, dass sie gar keine Wahl haben, als immer
mehr Tiere zu halten und ihnen eine immer unnatürli-
chere Leistung abzutrotzen? Es muss Schluss sein damit,
dass 70 Prozent des Schweinefleischs in Rabattschlach-
ten verramscht werden.
Ich sage Nein, und die Mehrheit der Konsumentinnen
und Konsumenten sagt Nein. Nun bedarf es etwas Mut
und Rückgrat, um gemachte Fehler einzugestehen und
die Tierhaltung umzugestalten. Es wäre für alle ein Ge-
winn, für die Tiere, für die Umwelt und für die Men-
schen. Nehmen wir den Wunsch der Menschen endlich
ernst, mit unseren Nutztieren verantwortlich umzugehen.
Anlage 5
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zum
Vorschlag für einen Beschluss des Rates über ei-
nen Dreigliedrigen Sozialgipfel für Wachstum
und Beschäftigung und zur Aufhebung des Be-
schlusses 2003/174/EG (Tagesordnungspunkt 17)
Dr. Martin Pätzold (CDU/CSU): Der Erfolg der so-
zialen Marktwirtschaft in der Bundesrepublik Deutsch-
land basiert im Wesentlichen auf der Sozialpartnerschaft
von Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern. Gemein-
sam wird verhandelt, abgestimmt und diskutiert, wie
sich die wirtschaftliche Entwicklung darstellt und wie
Kapital und Arbeit gerecht verteilt werden können.
Dadurch ist es uns gelungen, ein beträchtliches Maß an
Wohlstand für alle zu erreichen.
Die soziale Marktwirtschaft ist der Ursprung, warum
die Bundesrepublik Deutschland gestärkt aus der Fi-
nanzkrise im Jahr 2008 gekommen ist. Und daran hatten
gerade die Sozialpartner, die sich in Lohnzurückhaltung
geübt haben, einen wesentlichen Anteil. Auch mit ver-
nünftigen politischen Instrumenten der Bundesregierung
wie beispielsweise der Kurzarbeit ist es gelungen, die
negativen wirtschaftlichen Folgen abzufedern.
Mit dem Dreigliedrigen Sozialgipfel verfolgt die
Europäische Union seit einigen Jahren das Ziel, auf
hochrangiger Ebene eine Abstimmung mit den Sozial-
partnern in Europa zu gewährleisten. Zweimal jährlich
werden wirtschaftliche, soziale und beschäftigungspoli-
tische Fragen diskutiert. Es wird nach Lösungen gesucht,
die ökonomische Schieflage in Europa zu beheben. Und
gerade in diesen Zeiten, in denen sich die Jugendarbeits-
losigkeit auf einem enorm hohen Niveau befindet, die
wirtschaftlichen Verhältnisse sich nicht annähern,
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2014 6317
(A) (C)
(D)(B)
sondern wieder auseinandergehen, ist ein Austausch auf
dieser Ebene notwendig.
Die sozialen Herausforderungen in der Europäischen
Union sind enorm: Ausufernde Arbeitslosigkeit bei Jung
und Alt, schwaches Wirtschaftswachstum und zu hohe
Staatsverschuldungen sind drei Kernprobleme. Die Poli-
tik hat die Verantwortung, alles dafür zu tun, dass keine
verlorene Generation in Europa entsteht, die fern von
Perspektiven ist. Deswegen ist es so bedeutend, die
Jugendarbeitslosigkeit zu bekämpfen. Dazu sind Struk-
turanpassungen in den betroffenen Mitgliedstaaten not-
wendig.
Um eine gerechtere Gesellschaft in Deutschland und
in Europa zu schaffen, brauchen wir einen verlässlichen
Staat, einen Staat, der auch morgen noch in der Lage ist,
den Schwachen zu helfen, Schulen und Straßen zu bauen
und die Sicherheit seiner Bürger zu gewährleisten. Die
Aufgabe der Politik ist es, die Nachhaltigkeit der sozia-
len Sicherheit zu gewährleisten. Die Generationenge-
rechtigkeit erfordert aber auch, die Schulden des Staates
zu begrenzen, um seine Funktionsfähigkeit zu stärken. In
diesem Spannungsfeld befindet sich die Europäische
Union derzeit.
Deswegen ist es nicht richtig, mehr Geld auszugeben
und mehr Schulden zu machen – das sind die falschen
Antworten auf die heutigen Probleme. Das sehen wir in
der Bundesrepublik Deutschland und in den Mitglied-
staaten der Europäischen Union. Es bedarf tiefgreifender
Änderungen, bei denen Sozialpartner mitwirken und so
die Grundlagen für nachhaltiges wirtschaftliches Wachs-
tum legen: mit dem Ziel, Arbeitslosigkeit zu bekämpfen
und die Staatsverschuldung einzudämmen.
Der Dreigliedrige Sozialgipfel für Wachstum und
Beschäftigung soll eine engere Abstimmung zu diesen
Fragen sicherstellen. Mit dem Präsidenten des Europäi-
schen Rates, dem Präsidenten der Europäischen Kom-
mission, Vertretern des Europäischen Rates sowie einer
jeweils zehnköpfigen Delegation des Europäischen
Gewerkschaftsbundes und dem Verband europäischer
Unternehmen sind Akteure beteiligt, die wesentliche
Verantwortung für die wirtschaftliche Entwicklung in
der Europäischen Union tragen.
Mit diesem Gesetzentwurf soll der Ratsbeschluss
vom 6. März 2003 an die durch den Vertrag von Lissa-
bon eingeführten institutionellen Änderungen angepasst
und den positiven Erfahrungen mit den praktischen
Modalitäten des Dreigliedrigen Sozialgipfels Rechnung
getragen werden.
Dabei geht es schwerpunktmäßig um die Vertretung
des Europäischen Rates im Dreigliedrigen Sozialgipfel.
Diese soll nach Schaffung des Amtes des Präsidenten
des Europäischen Rates durch den Vertrag von Lissabon
künftig durch diesen und nicht mehr durch den amtieren-
den Ratsvorsitz wahrgenommen werden. Zusätzlich wird
der politische Rahmen an die Strategie Europa 2020 an-
gepasst, die die Strategie von Lissabon ersetzt hat.
Mit diesem Gesetz wird die Bundesregierung dazu er-
mächtigt, dieser Anpassung zuzustimmen. Das ist sinn-
voll und begrüßenswert. Deswegen unterstützt die CDU/
CSU-Bundestagsfraktion dieses Anliegen.
Gabriele Schmidt (Ühlingen) (CDU/CSU): Wir be-
raten den Entwurf eines Gesetzes zum Vorschlag für ei-
nen Beschluss des Rates über einen Dreigliedrigen So-
zialgipfel für Wachstum und Beschäftigung und zur
Aufhebung des Ratsbeschlusses vom 6. März 2003.
Der Dreigliedrige Sozialgipfel dient als Austausch-
plattform zwischen, wie der Name schon sagt, drei Pro-
tagonisten: dem Rat, der Europäischen Kommission und
den Sozialpartnern. Die Rolle der Sozialpartner und der
soziale Dialog sollen gefördert werden, und das unter
Wahrung der Autonomie der Sozialpartner.
Der Ratsbeschluss aus dem Jahr 2003 zur Einrichtung
eines Dreigliedrigen Sozialgipfels für Wachstum und
Beschäftigung stützte sich auf den Vertrag zur Gründung
der Europäischen Gemeinschaft. Mit dem Vertrag von
Lissabon ist nun eine Anpassung notwendig geworden.
Mit dem vorliegenden Vorschlag der Kommission vom
31. Oktober 2013 soll der Ratsbeschluss an die durch
den Vertrag von Lissabon eingeführten institutionellen
Änderungen angepasst werden. Es geht also in erster Li-
nie um eine institutionelle Anpassung, die bisherige Pra-
xis wird mit dem Vorschlag nicht angetastet. Die Organi-
sation und die Funktionsweise nationaler Systeme der
Arbeitsbeziehungen bleiben unberührt.
Der Präsident des Europäischen Rates, dessen Amt
mit dem Vertrag von Lissabon geschaffen wurde, soll
künftig die Vertretung für den Rat im Rahmen des Drei-
gliedrigen Sozialgipfels übernehmen. Die alte Regelung,
wonach der amtierende Ratsvorsitz die Vertretung inne-
hatte, würde somit entfallen.
Ein weiterer Vorschlag betrifft eine Überarbeitung,
mit der der Ablösung der Lissabon-Strategie durch die
Strategie Europa 2020 Rechnung getragen wird. Europa
2020 ist die Wachstumsstrategie der EU. Intelligente,
nachhaltige und integrative Wirtschaft ist das, was wir
uns für Europa wünschen. Die Strategie enthält ehrgei-
zige Leitziele für Europa: Beschäftigung, Innovation,
Bildung, Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgren-
zung, Klimawandel und nachhaltige Energiewirtschaft.
Durch konkrete Maßnahmen soll die Strategie in all die-
sen Bereichen auf EU-Ebene und auf der Ebene der Mit-
gliedstaaten untermauert werden.
Diese Ziele können jedoch nicht ohne die Sozialpart-
ner erreicht werden. Um die Mitverantwortung für die
Umsetzung der Strategie zu fördern, müssen die Sozial-
partner, bestehend aus Vertretern branchenübergreifender
Arbeitnehmer und Arbeitgeberverbände, in die Durchfüh-
rung der Wirtschafts- und Sozialpolitik eingebunden
werden. Der Dreigliedrige Sozialgipfel erfüllt genau
diese Funktion. Die gemachten Erfahrungen zeigen, dass
der Gipfel einen positiven Beitrag zur Förderung des so-
zialen Dialogs auf Unionsebene leistet.
Ich begrüße es ausdrücklich, dass durch das vorlie-
gende Gesetz die innerstaatlichen Voraussetzungen ge-
schaffen werden, die dem deutschen Vertreter ermögli-
chen, dem Beschlussvorschlag im Rat zuzustimmen. Mit
6318 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2014
(A) (C)
(D)(B)
der Zustimmung im Rat schaffen wir eine neue Rechts-
grundlage für die Fortführung des Forums. Die abschlie-
ßende Beschlussfassung im Rat steht noch aus, da sie
den Abschluss von Gesetzgebungsverfahren nicht nur in
Deutschland, sondern auch in einigen anderen EU-Staa-
ten erfordert.
Ein gemeinsamer Änderungsantrag der CDU/CSU-
und der SPD-Fraktionen zur Ermächtigungsgrundlage
im SGB IX für die Versorgungsmedizin-Verordnung liegt
ebenfalls zur Abstimmung vor. Um die Zweifel auszu-
räumen, ob die derzeitige Ermächtigungsgrundlage für
die Versorgungsmedizin-Verordnung in § 30 Absatz 16
des Bundesversorgungsgesetzes auch Regelungen ab-
deckt, die sich auf die medizinische Bewertung des Gra-
des der Behinderung und die medizinischen Vorausset-
zungen für die Vergabe von Merkzeichen beziehen, soll
eine ausdrückliche Ermächtigungsgrundlage auch im
SGB IX verankert werden. Der Antrag steht zwar in kei-
nem inhaltlichen Zusammenhang mit dem hier vorlie-
genden Gesetz zum Vorschlag für einen Beschluss des
Rates über einen Dreigliedrigen Sozialgipfel, ist aber
dem Umstand geschuldet, die Anwendung der Versor-
gungsmedizin-Verordnung nicht zu verzögern. Daher
sollte auch diesem Antrag unsere Zustimmung erteilt
werden.
Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD): Am 23. Okto-
ber dieses Jahres tagte der Dreigliedrige EU-Sozialgipfel
in Brüssel. Der Präsident der EU-Kommission, José
Manuel Barroso, sowie Vertreter der Arbeitgeber- und
Arbeitnehmerverbände betonten gleichermaßen die Not-
wendigkeit, das Vertrauen der Menschen in die Europäi-
sche Union wiederherzustellen und die soziale Dimen-
sion Europas zu stärken.
Fakt ist aber, dass diese Forderung leider im klaren
Widerspruch zur aktuellen Krisenbewältigungsstrategie
der EU steht. Die Spar- und Austeritätspolitik war und
ist kein Zukunftskonzept, weder ökonomisch, fiskalisch,
sozial noch politisch. Ganz im Gegenteil: Sie hat die
Problemlagen in den Krisenländern zum Teil zusätzlich
noch verschärft.
Die Lösungsstrategie der EU zur Überwindung der
Krise umfasst vor allem Sparpakete und Strukturrefor-
men, die durch Sozialabbau, Eingriffe in die Tarifauto-
nomie und die Kürzung von Löhnen und Renten dazu
geführt haben, dass sich die soziale Schieflage in Europa
verschärft hat. Insbesondere die unteren Einkommens-
schichten leiden massiv unter Ausgabenkürzungen im
Gesundheitsbereich und einer mangelnden sozialen Ab-
sicherung.
Die aktuelle Situation in den Mitgliedstaaten erfor-
dert, dass wir Europa gerechter, demokratischer und
sozialer gestalten. Die Europäische Union ist mehr als
eine „Fiskalunion“. Aus diesem Grund müssen die
Grundwerte der europäischen Idee, wie die Solidarität
unter den Mitgliedstaaten wieder in gelebtes politisches
Handeln münden.
Bereits in unserem Wahlkampfprogramm für die
Europawahl 2014 haben wir gefordert, dass wirtschaftli-
che Ungleichgewichte im Euroraum bekämpft werden
müssen.
Auf der einen Seite brauchen wir Konjunkturanreize
und Zukunftsinvestitionen für eine Wachstumsperspek-
tive. Damit haben wir in Deutschland gute Erfahrungen
gemacht und sind am besten von allen Mitgliedstaaten
durch die Krise gekommen. Auf der anderen Seite ge-
hört zu einer sozial gerechten Investitionspolitik nach
meiner Ansicht, die Wettbewerbs- und Innovationsfähig-
keit in den Mitgliedstaaten mit sozial- und beschäfti-
gungspolitischen Maßnahmen zu verbinden.
Wirtschaftliche Prosperität und soziale Teilhabe gehö-
ren zusammen. Wer sie gegeneinander ausspielt, gefähr-
det den europäischen Einigungsprozess und sorgt
schlussendlich dafür, dass sich immer mehr Menschen
von Europa abwenden.
Die Menschen müssen spürbar erleben, dass es für sie
einen Mehrwert gibt. Wir wollen den Schutz von sozia-
len Rechten, nicht deren Abbau. Wir wollen den Schutz
der Spareinlagen, nicht den Schutz der Banken, und wir
wollen mehr Demokratie, nicht mehr Bürokratie.
Perspektivisch müssen wir die soziale Dimension der
Wirtschafts- und Währungsunion stärken. Dazu gehört
auch die Vereinbarung gemeinsamer europäischer Ziele
für nationale Sozialausgaben.
Diese Debatte gibt mir Gelegenheit, einmal herauszu-
stellen, dass wir in der EU aber auch schon viel erreicht
haben. Die Strukturpolitik der EU hat dazu geführt, dass
die wirtschaftlichen Ungleichgewichte im Euro-Raum
abgenommen haben. Der europäische Sozialfonds, ESF,
beispielsweise investiert in der Förderperiode von 2014
bis 2020 über 80 Milliarden Euro in Beschäftigungs- und
Bildungsmaßnahmen. Hinzu kommen mindestens
3,2 Milliarden Euro für die Jugendbeschäftigungshilfe.
Aufgrund der aktuellen Situation in Griechenland oder
Spanien, wo jeder zweite Jugendliche zwischen 15 und
24 Jahren nach einer Ausbildung oder einer Festanstel-
lung sucht, muss die Bekämpfung der Jugendarbeits-
losigkeit im Zentrum einer gemeinsamen Sozialpolitik
stehen.
Diese jungen Menschen sind darauf angewiesen, dass
wir die Rahmenbedingungen schaffen, um ihnen die
Chance auf Bildung, eine qualifizierte Ausbildung und
gute Jobs zu ermöglichen.
Unter anderem hängt die Zukunft der Europäischen
Union auch davon ab, dass wir diese jungen Menschen
nicht im Stich lassen. Wie sollten sie an einem europäi-
schen Haus weiterbauen, wenn sie auf dem Weg zum Er-
wachsenwerden chancenlos bleiben? Aus diesem Grund
unterstützt die SPD-Fraktion die Anstrengungen der EU-
Kommission, junge Menschen in qualitativ hochwertige
Arbeit zu bringen, uneingeschränkt. Was wir brauchen,
ist eine europäische Jugendgarantie, die vorsieht, dass
jeder arbeitslose Jugendliche unter 25 Jahren binnen vier
Monaten ein qualitativ hochwertiges Angebot für einen
Job, eine Ausbildung oder ein Praktikum bekommt. Der
Beschluss der EU, die finanzielle Ausstattung der Be-
schäftigungsinitiative für Jugendliche auf die Jahre 2014
und 2015 vorzuziehen, ist deshalb durchweg zu begrü-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2014 6319
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ßen. Wir dürfen die Sozialpolitik nicht als reinen Kos-
tenfaktor sehen, sondern als die zentrale Voraussetzung
zur Überwindung der Krise.
Selbstverständlich stimmen wir dem vorliegenden
Gesetzentwurf zu, der lediglich eine institutionelle
Anpassung vorsieht, und wünschen uns, dass die Er-
folgsgeschichte der Europäischen Union durch eine so-
zial gerechtere Politik fortgeschrieben werden kann. Eu-
ropa braucht neue Ideen und Impulse, um die Ideale der
Freiheit, des Wohlstands und der sozialen Gerechtigkeit
für alle Menschen in der EU zu verwirklichen.
Alexander Ulrich (DIE LINKE): Jeder vierte Euro-
päer ist heute von Armut betroffen. In einigen ost- und
südeuropäischen Ländern sind es deutlich über 30 Pro-
zent, teilweise über 40 Prozent. Vor allem in den letzten
Jahren hat die Armut rasant zugenommen. Dabei sollte
mit der Europa-2020-Strategie das Gegenteil erreicht
werden. Diese Strategie ist gescheitert.
Beispiel Griechenland: Dort ist die Armutsquote zwi-
schen 2009 und 2013 von 27,6 auf 35,7 Prozent gestie-
gen. Und selbst dieser deutliche Anstieg bildet das
Drama nur teilweise ab. Definiert wird Armut nämlich
als ein Einkommen, dass niedriger ist als 60 Prozent des
Durchschnittseinkommens der jeweiligen Gesellschaft.
Da aber die Einkommen insgesamt stark gesunken sind,
sind auch das Durchschnittseinkommen und damit die
Armutsgrenze immer weiter gesunken. So galt 2009 in
Griechenland noch als arm, wer weniger als 7 521 Euro
im Jahr bekam. Heute liegt die Grenze nur noch bei
5 452 Euro.
Ähnlich ist die Lage in den anderen südeuropäischen
Ländern auch. In Osteuropa sieht es teilweise noch
schlimmer aus – und zwar nicht erst seit der Krise.
Aber Armut ist bei weitem nicht ausschließlich ein
südosteuropäisches Problem. Auch in Deutschland liegt
die Armutsquote heute bei über 20 Prozent. 8,6 Prozent
der Erwerbstätigen arbeiten hierzulande zu Löhnen un-
terhalb der Armutsgrenze. Unter den Arbeitslosen sind
dank Hartz IV und Agenda 2010 sogar fast 70 Prozent
betroffen – deutlich mehr als in jedem anderen EU-Mit-
gliedstaat.
Dabei sind das Schlimmste gar nicht einmal die nack-
ten Zahlen. Es sind nämlich nicht nur immer mehr Men-
schen von Armut betroffen, die Armut ist auch härter ge-
worden. Immer häufiger geht sie mit dauerhafter sozialer
Ausgrenzung, mit Obdachlosigkeit oder Krankheiten
einher, die heute nur noch bei jenen behandelt werden,
die es sich leisten können.
Wo wir also auch hinschauen, wenn es um Armut
geht, haben wir in Europa dringenden Gesprächsbedarf.
Insofern ist der Sozialgipfel eine begrüßenswerte Initia-
tive. Aber wir haben nicht nur Gesprächsbedarf, wir ha-
ben vor allem Handlungsbedarf. Hier wird uns der Gip-
fel nicht weiterhelfen.
Dieser Gipfel ist Ausdruck eines grundlegenden Pro-
blems, das sich durch die gesamte Geschichte der EU-
Integration zieht. Während es im Bereich der Wirtschafts-
und Fiskalpolitik immer weitere Kompetenzübertragun-
gen auf die EU-Ebene gab, blieb es im Bereich der So-
zialpolitik bei unverbindlichen Lippenbekenntnissen. So
ist ein riesiges Ungleichgewicht entstanden. Ökonomische
Interessen werden sozialen Interessen systematisch über-
geordnet.
Dieses Ungleichgewicht können wir heute ganz prak-
tisch beobachten: Während Gesundheitssysteme kolla-
bieren, Familien ihre Kinder nicht mehr ernähren kön-
nen und eine ganze Generation junger Südeuropäer ins
Exil getrieben wird, haben EU und EU-Mitgliedstaaten
1 700 Milliarden Euro zur Rettung maroder Banken mo-
bilisiert und die Steuern auf Vermögen und Profite sogar
noch weiter gesenkt.
Da hilft uns auch kein Sozialgipfel weiter, der nur zu
neuen Lippenbekenntnissen führt. Wir müssen handeln!
Wir müssen das Europäische Haus vom Kopf auf die
Füße stellen. Solange der Steuerwettbewerb und die
Steuerflucht nicht gestoppt werden, solange Maastricht-
Regeln und Fiskalpakt permanent Druck auf die staatli-
chen Ausgaben legen, solange Pleitebanken mit Steuergel-
dern gerettet werden und solange es keine verbindlichen
sozialen Rechte und keine ernsthafte demokratische
Kontrolle auf EU-Ebene gibt, so lange werden wir nicht
in der Lage sein, die schwerwiegenden sozialen Pro-
bleme in den Griff zu bekommen. Wenn wir die Grund-
fehler der EU-Integration nicht schnell und entschieden
beheben, dann wird uns das ganze Projekt bald um die
Ohren fliegen.
Was glauben Sie, warum der immense Vertrauensvor-
schuss, den die Europäische Integration einmal hatte,
fast vollkommen verpufft ist, warum es in kaum einem
Mitgliedstaat mehr eine Mehrheit für diese Art der Inte-
gration gibt? Weil immer mehr Menschen mit Europa
eine Verschlechterung ihrer Lebensverhältnisse, Armut
und Ausgrenzung verbinden.
Europa muss sozial und demokratisch sein! Ein
Europa der Banken und Konzerne wird scheitern!
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN): Wir behandeln heute ein Zustimmungs-
gesetz, welches nötig ist, damit der deutsche Vertreter im
Rat einem Beschlussvorschlag im Rat zustimmen kann.
Bei diesem Beschlussvorschlag geht es um eine Anpas-
sung des Dreigliedrigen Sozialgipfels an die durch den
Vertrag von Lissabon veränderten institutionellen Gege-
benheiten. Daran ist selbstverständlich nichts auszuset-
zen, auch wenn die Frage erlaubt sein muss, weshalb
diese Anpassung erst über zehn Jahre nach dem Vertrag
von Lissabon nun final erfolgen kann.
Nichtsdestotrotz möchte ich diese Gelegenheit zum
Anlass nehmen, die Bedeutung der Sozialpartnerschaft
gerade auch für die Beratungen auf europäischer Ebene
zu unterstreichen. Wir machen in Deutschland schon
lange sehr gute Erfahrungen damit, dass die Sozialpart-
ner eine Vielzahl von Angelegenheiten selbst regeln und
in anderen wichtige Ansprechpartner für die Politik sind.
Auch die internationale Arbeitsorganisation kennt schon
lange das Prinzip der guten Zusammenarbeit zwischen
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Politik, Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbänden. Diese
Zusammenarbeit hat auch auf der europäischen Ebene
bereits eine lange Tradition. Seit 1957 tagt als beratendes
Organ regelmäßig der Europäische Wirtschafts- und So-
zialausschuss, ab 1970 gab es den Ständigen Ausschuss
für Beschäftigungsfragen der Europäischen Gemein-
schaft, welcher – basierend auf einem Vorschlag der So-
zialpartner – nach der Jahrtausendwende in seine heutige
Form, den Dreigliedrigen Sozialgipfel, umgebaut wurde.
Dort treffen sich nun mindestens einmal jährlich Ver-
treter der Sozialpartner, der Kommission und des Rates.
Einer der Gründe für diesen Umbau war die Wahrneh-
mung bei einigen Teilnehmern, dass das frühere Format
„etwas erlahmt sei“ mit der Zeit.
So weit die Geschichte und Theorie.
Aber wie sieht es denn nun in der Praxis aus, was
kann eine solche Veranstaltung bewirken? Nach eigener
Darstellung soll der Dreigliedrige Sozialgipfel „einen
Beitrag zur Effizienz des sozialen Dialogs für die Ausar-
beitung und Durchführung der Wirtschafts- und Sozial-
politik der Europäischen Union“ leisten: ein durchaus
spannendes und ambitioniertes Unterfangen – gerade in
Krisenzeiten, wie den letzten Jahren –, möchte man mei-
nen. Kann man also nach zehn Jahren davon sprechen,
dass der Umbau geglückt ist?
Offen gestanden habe ich meine Schwierigkeiten, auf
diese Fragen eine Antwort zu finden: Wenn wir für einen
Moment auf die zum Teil fatalen sozialen Folgen der
Krise schauen, kann ich mir schwerlich vorstellen, dass
es hier einen sozialen Dialog gegeben hat oder dass So-
zialpartner signifikant eingebunden waren. Im Gegen-
teil, das Ergebnis ihrer Verhandlungen wurde stellen-
weise schlicht aufgehoben durch die Krisenpolitik.
Auch muss ich zu meinem großen Bedauern feststel-
len, dass von diesem Sozialgipfel selten etwas in den
Medien zu vernehmen ist. Das erweckt zumindest nicht
den Anschein, dass es um die Einbindung der Sozialpart-
ner ums Beste bestellt ist.
Sehr geehrte Frau Nahles, sicher stimmen Sie mit mir
darin überein, dass gerade eine effektive Einbindung der
Sozialpartner dringend vonnöten ist, wenn mit der Ver-
tiefung der sozialen Dimension in der Wirtschafts- und
Währungsunion ernst gemacht werden soll. Allerdings
möchte ich, ohne das zuletzt Gesagte schmälern zu wol-
len, auch darauf hinweisen, dass es eine Reihe wichtiger,
weiterer Akteure in der Zivilgesellschaft gibt – darunter
zuvörderst die Wohlfahrtsverbände –, welche auch in
entsprechenden Fragen der Sozialpolitik einbezogen
werden sollten. Dies ist bekanntermaßen auch gute
Übung hierzulande.
Daher möchte ich an Sie, Frau Bundesministerin ap-
pellieren: Setzen Sie sich sowohl in Deutschland als
auch in der EU für einen funktionierenden sozialen Dia-
log ein, einen sozialen Dialog, der diesen Namen ver-
dient und den entsprechenden Akteuren auch hinreichen-
den Mitwirkungsmöglichkeiten einräumt. Und wenn es
dafür einer Revision des Sozialgipfels bedarf – die So-
zialpartner werden dann sicher selbst Vorschläge unter-
breiten –, bitte ich Sie um eine aktive Rolle. In jedem
Fall bitte ich Sie, sich dafür einzusetzen, dass der Sozial-
gipfel im Rahmen des Europäischen Semesters eine
deutlichere und auch gewichtigere Rolle bekommt – ja,
und damit eine Rolle, die auch öffentlich wahrgenom-
men wird.
Anlage 6
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Verbesserung der Rechtsstellung von asylsu-
chenden und geduldeten Ausländern (Tagesord-
nungspunkt 18)
Andrea Lindholz (CDU/CSU): Wir erleben derzeit
die größte Flüchtlingskatastrophe seit Ende des Zweiten
Weltkrieges. Die Vereinten Nationen schätzen, dass
weltweit 50 Millionen Menschen auf der Flucht sind.
Rund 17 Millionen gelten als Flüchtlinge im völker-
rechtlichen Sinne. Das entspricht in etwa der Bevölke-
rung von Nordrhein-Westfalen.
Europa ist ein Hauptziel für Flüchtlinge, die nicht nur
ihr Land, sondern auch ihre Heimatregion verlassen.
Der europäische Kontinent verspricht ihnen Sicherheit,
Hilfsbereitschaft, Freiheit und Wohlstand.
Die traurige Wahrheit aber ist, dass die meisten EU-
Staaten für Flüchtlinge kaum mehr als Transitländer
sind. Der massive Flüchtlingsdruck konzentriert sich auf
wenige Länder innerhalb Europas. Jeder zweite Asyl-
antrag in Europa wird heute in Deutschland oder Schwe-
den gestellt.
Deutschland erbringt seit Jahren eine einzigartige
Leistung beim Flüchtlingsschutz, einerseits mit massiver
Hilfe vor Ort in den Krisenregionen wie rund um Syrien,
andererseits durch die großzügige Aufnahme und Inte-
gration von Flüchtlingen. Der UN-Flüchtlingskommis-
sar Guterres lobte Deutschland ausdrücklich als Vorbild
für Europa.
Bereits 2013 waren die Asylbewerberzahlen hierzu-
lande um 70 Prozent im Vergleich zum Vorjahr gestie-
gen. In diesem Jahr sind sie erneut um über 55 Prozent
gestiegen. Allein im vergangenen Oktober hat das Bun-
desamt für Migration und Flüchtlinge mehr Asylanträge
verzeichnet als im gesamten ersten Quartal 2013. Die
Zeitung Die Welt titelte daher kürzlich: „Deutschland ist
das Flüchtlingsheim Europas“.
Greifbar werden diese Zahlen, wenn man in unsere
Kommunen geht, die den Zustrom an Flüchtlingen mit
großartigem Einsatz und unglaublicher Hilfsbereitschaft
bewältigen. Die Leistungen auf der kommunalen Ebene
können nicht hoch genug bewertet werden.
Allein in meinem Wahlkreis in der Region Aschaffen-
burg kommen jede Woche bis zu 30 neue Asylbewerber
an und werden versorgt. Insgesamt beherbergt Bayern
derzeit rund 49 600 leistungsberechtigte Flüchtlinge.
Damit bietet Bayern mehr Flüchtlingen Schutz als Ita-
lien, Spanien und Griechenland zusammen im laufenden
Jahr neue Asylanträge angenommen haben.
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Flüchtlinge erhalten bei uns nicht nur Essen, Klei-
dung, Unterkunft und eine gute Gesundheitsversor-
gung. Ihre Kinder werden zudem beschult und Erwach-
sene in Integrations- und Sprachkursen auf ein Leben in
Deutschland vorbereitet. Zahllose Helfer in Deutschland
kümmern sich um die Flüchtlinge. Für diesen Einsatz
sind wir überaus dankbar.
In diesem Jahr werden insgesamt über 200 000 Asyl-
anträge in Deutschland erwartet. In rund 30 Prozent aller
Fälle wird Schutz gewährt. Ein Rückgang der Flücht-
lingszahlen und der Gesamtschutzquote ist nicht zu er-
warten. Die desaströse Lage in Syrien, Afghanistan oder
Eritrea wird sich auf absehbare Zeit wohl kaum verbes-
sern. Die Ebolakrise in Westafrika oder der Konflikt in
der Ostukraine können hingegen zusätzliche Flüchtlings-
ströme verursachen.
Angesichts dieses massiven Flüchtlingsdrucks ist es
elementar wichtig, dass wir unsere begrenzten Mittel ef-
fektiv einsetzen. Wir müssen unsere Hilfe auf diejenigen
konzentrieren, die tatsächlich asylberechtigt sind, weil
sie in ihrer Heimat verfolgt werden. Flucht vor Armut ist
zwar verständlich, sie ist aber keine Begründung für
Flüchtlingsschutz. Das deutsche Asylsystem dient dem
Schutz vor Verfolgung und nicht der Entwicklungshilfe.
Um die steigende Zahl der sogenannten Wirtschafts-
flüchtlinge einzudämmen, hatten wir bereits im Juli
beschlossen, Serbien, Bosnien-Herzegowina und Maze-
donien zu sicheren Herkunftsstaaten zu erklären. Aus
diesen Ländern stammen rund 17 Prozent aller Asyl-
anträge in Deutschland, obwohl die Schutzquote für
diese Länder seit Jahren quasi bei 0 Prozent liegt. Solche
aussichtlosen Asylanträge können nun schneller abge-
schlossen werden.
Dieses Gesetz war wichtig, weil es zur Entlastung des
deutschen Asylsystems beiträgt. Damit es in Kraft treten
konnte, war ein Kompromiss im Bundesrat notwendig.
Das Ergebnis dieses Kompromisses ist der vorliegende
Gesetzentwurf zur Verbesserung der Rechtsstellung von
Asylsuchenden und Geduldeten in Deutschland.
Im Wesentlichen sieht der Gesetzentwurf drei Verbes-
serungen vor. Erstens soll die Residenzpflicht nach drei
Monaten gelockert werden. Die ausgeweitete Bewe-
gungsfreiheit kann die Integration und die Arbeitsplatz-
suche fördern. Zweitens wird das Sachleistungsprinzip
auf Aufnahmeeinrichtungen beschränkt. Sachleistungen
bleiben aber möglich, um Versorgungsengpässe zu über-
brücken. Drittens wird die Vorrangprüfung für Asylbe-
werber oder Geduldete aufgehoben, wenn sie sich seit
15 Monaten ununterbrochen erlaubt, geduldet oder mit
einer Aufenthaltsgestattung in Deutschland aufhalten.
Diese Regelung wird gemäß der Protokollerklärung des
Bundesrates auf drei Jahre befristet und verfällt, sofern
sie nicht erneut beschlossen wird. Sollte sich die Ar-
beitsmarktsituation in Deutschland eintrüben, kann die
bisher geltende Vorrangprüfung also wieder aufleben.
Ebenso müssen wir auch die Auswirkungen der anderen
beiden Verbesserungen genau beobachten und evaluie-
ren.
Zweifellos ist es richtig, dass wir die Integration in
unsere Gesellschaft und in unseren Arbeitsmarkt erleich-
tern. Das Ziel muss sein, schutzbedürftige Flüchtlinge
möglichst schnell zu integrieren und auf die eigenen Fü-
ßen zu stellen.
Gleichzeitig müssen wir aber darauf achten, dass die
Verbesserungen auf diejenigen beschränkt bleiben, die
tatsächlich asylberechtigt sind. Das erreichen wir nur,
wenn aussichtslose Asylanträge zügig abgeschlossen
und die Rückführung konsequent durchgeführt wird.
Dazu müssen wir die Dauer der Asylverfahren auf
drei Monate reduzieren, so wie es im Koalitionsvertrag
vereinbart wurde. Das ist genau der Zeitraum, in dem die
Residenzpflicht auch weiterhin Bestand haben soll.
Um die Asylverfahren entsprechend zu beschleuni-
gen, hat die Koalition bereits 650 neue Stellen für das
zuständige Bundesamt für Migration und Flüchtlinge be-
willigt. Zusätzlich müssen wir das Asylverfahrensrecht
vereinfachen und bestehende Vollzugshemmnisse bei
der Aufenthaltsbeendigung reduzieren. Nur so können
wir ein ausgewogenes Asylsystem in Deutschland schaf-
fen, das den wirklich Schutzbedürftigen die beste Hilfe
bietet.
Entscheidend bleibt aber die Implementierung und
Weiterentwicklung des europäischen Asylsystems. So-
lange nur wenige Mitgliedstaaten der EU den Asylschutz
so ernst nehmen wie Deutschland, wird es bei der un-
gleichen Verteilung der Lasten bleiben. Das stellt ein er-
hebliches Risiko für die Akzeptanz unseres Asylsystems
in der Bevölkerung dar. Diese Gefahr darf niemand un-
terschätzen, dem ein funktionierender Asylschutz wirk-
lich am Herzen liegt.
Rüdiger Veit (SPD): Vor rund einem Jahr befanden
wir uns in den Koalitionsverhandlungen. Im Bereich
Ausländer- und Asylrecht war ich an den Verhandlungen
für die SPD-Fraktion beteiligt. Viele Punkte, die wir
gerne für die SPD-Fraktion in den Koalitionsvertrag mit
hineinverhandelt hätten, wurden damals so strikt nicht
von dem Koalitionspartner gewollt und kamen somit
auch nicht in den Koalitionsvertrag. Umso mehr freut es
uns heute, dass sich einige der Verbesserungen für Asyl-
bewerber und Geduldete, die wir damals schon gewollt
haben, nunmehr in dem vorliegenden Gesetzentwurf
wiederfinden.
Dabei fing diese Erfolgsgeschichte zunächst mit dem
Gesetz zur Einstufung weiterer Staaten als sichere
Herkunftsstaaten und zur Erleichterung des Arbeits-
marktzuganges für Asylbewerber und Geduldete an. Mit
Bauchschmerzen haben wir diesem Gesetz zugestimmt,
in erster Linie und vor allem deshalb, weil wir die in
dem Gesetz enthaltenen Erleichterungen für die Arbeits-
aufnahme von Asylbewerbern und Geduldeten für
notwendig erachten. Es ist an dieser Stelle schon häufig
gesagt worden, aber weil es gut und richtig ist, sage ich
es noch einmal: Nunmehr wird die Frist, die ein Asyl-
bewerber oder Geduldeter warten muss, bis er eine Ar-
beit aufnehmen kann, auf drei Monate verkürzt werden.
Bislang mussten Asylbewerber neun und Geduldete
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zwölf Monate warten, bis sie in Deutschland arbeiten
konnten. Diese Menschen haben nunmehr die Chance,
selbst für ihren Unterhalt zu sorgen und ein selbstbe-
stimmtes Leben zu führen.
Auch die Mehrheit des Bundesrates hatte große Be-
denken bezüglich der Aufnahme weiterer Staaten in den
Katalog der sicheren Herkunftsstaaten. Die notwendige
Zustimmung konnte nur erfolgen, nachdem die Bundes-
regierung ganz in unserem Sinne weitere lebensnahe
Verbesserungen für Asylbewerber und Geduldete zuge-
sagt hatte, die jetzt in das vorliegende Rechtsstellungs-
verbesserungsgesetz Eingang gefunden haben.
So hatten wir bereits in unserem Regierungspro-
gramm zur Bundestagswahl 2013 unseren Willen bekun-
det, die sogenannte Residenzpflicht gänzlich abschaffen
zu wollen. Leider konnten wir diese Position so nicht in
den Koalitionsvertrag hineinverhandeln, sondern nur in
einer abgeschwächten Form. Umso besser ist es, dass die
Residenzpflicht nun doch abgeschafft wird nach einem
dreimonatigen geduldeten, gestatteten oder erlaubten
Voraufenthalt. Vollständigkeitshalber sei angemerkt,
dass ich mir die Abschaffung der Residenzpflicht vom
ersten Tag an hätte vorstellen können.
Ich habe immer gesagt – und als ehemaliger Landrat
weiß ich auch, wovon ich spreche –, dass es nicht nur für
die Betroffenen von großem Vorteil ist, wenn sie statt
Sachleistungen Geldleistungen erhalten, sondern auch
die Kommunen darüber hinaus davon profitieren. Dies
entspricht unserer Beschlusslage in der letzten Legislatur
– Drucksache 17/11674: „Menschenwürdige Lebens-
bedingungen für Asylbewerberinnen und Asylbewerber
sowie Geduldete sicherstellen – Asylbewerberleistungs-
gesetz reformieren“. Im Rechtsstellungsverbesserungs-
gesetz wird nun dementsprechend das bislang geltende
Prinzip des Vorrangs von Sachleistungen vor Geldleis-
tungen umgekehrt: Mit Inkrafttreten des Gesetzes sind
Geldleistungen gegenüber Sachleistungen grundsätzlich
vorrangig.
Problematisch ist allerdings die Möglichkeit einer
Rückausnahme von diesem neuen Grundsatz, nachdem
anstelle der Geldleistungen, „soweit es nach den
Umständen erforderlich ist“, wieder Sachleistungen er-
bracht werden können. Die Formulierung „nach den
Umständen erforderlich“ ist beliebig weit ausdehnbar.
Hier bedarf es meiner Ansicht nach einer Konkretisie-
rung.
Nicht im Rechtsstellungsverbesserungsgesetz, son-
dern in einer am Montag dieser Woche durchs Kabinett
gegangenen Verordnung des Bundesministeriums für
Arbeit und Soziales wurden – entsprechend der Verein-
barung des Bundesrates mit der Bundesregierung vom
19. September 2014 und auch in Fortführung unseres
Bestrebens, für weitere Erleichterungen bei der Arbeits-
aufnahme für Geduldete und Asylbewerber zu sorgen –,
neue Verbesserungen erreicht: Nunmehr ist geregelt,
dass für Geduldete und Asylbewerber nach 15 Monaten
Voraufenthalt in Deutschland die Vorrangprüfung ent-
fällt.
Die im Rechtsstellungsverbesserungsgesetz enthalte-
nen guten Regelungen sind ein Erfolg, der nicht nur die
Handschrift der fordernden grünmitregierten Länder
trägt, sondern setzt vor allem um, was wir Sozialdemo-
kratinnen und Sozialdemokraten seit langem an Verbes-
serungen im Flüchtlingsbereich gefordert haben.
Es verdient unserer aller Zustimmung.
Ulla Jelpke (DIE LINKE): Die Bundesregierung legt
hier heute einen Gesetzentwurf vor, mit dem der so ge-
nannte „Asylkompromiss“ des Bundesrates umgesetzt
werden soll. Im September hatte das Land Baden-Würt-
temberg im Bundesrat der Einstufung von Bosnien-Her-
zegowina, Mazedonien und Serbien als „sichere Her-
kunftsstaaten“ gegen alle Kritik auch aus den Reihen der
Grünen zugestimmt. Im Gegenzug hat sich die Bundes-
regierung verpflichtet, einen Gesetzentwurf vorzulegen,
mit dem die Rechtsstellung Asylsuchender und Gedulde-
ter verbessert werden soll. Im Kern geht es um eine Lo-
ckerung der Residenzpflicht und die Ablösung des Sach-
leistungsprinzips im Asylbewerberleistungsgesetz durch
den Vorrang von Geldleistungen für einen Teil der Leis-
tungsberechtigten. Der ebenfalls versprochene Wegfall
der Vorrangprüfung beim Zugang zu Beschäftigung nach
den ersten 15 Monaten des Aufenthalts in Deutschland
ist mittlerweile per Verordnung umgesetzt worden, eine
Neuregelung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen zur
Entlastung der Länder insbesondere bei der Gesund-
heitsversorgung von Asylsuchenden und Geduldeten
steht hingegen noch aus.
Vorliegend werden also die Residenzpflicht und das
Asylbewerberleistungsgesetz neu geregelt.
Die Residenzpflicht für Asylsuchende und Geduldete
soll nach dem Entwurf nach dreimonatigem Aufenthalt
erlöschen. Für die Zeit der Unterbringung in einer Erst-
aufnahmeeinrichtung im Asylverfahren gilt somit weiter
die Residenzpflicht. Die Betroffenen können den Bezirk
ihrer Ausländerbehörde nur mit einer Erlaubnis verlas-
sen. Diese Erlaubnis soll auch weiterhin nur in sehr en-
gen Grenzen erteilt werden, um beispielsweise Termine
bei Behörden oder Gerichten wahrnehmen zu können.
Asylsuchenden bleibt weiter verwehrt, Verwandte oder
Freunde zu besuchen oder einfach das Land kennenzu-
lernen, in dem sie zukünftig leben werden.
Und auch nach den ersten drei Monaten kann die
Ausländerbehörde weiter Aufenthaltsbeschränkungen
verfügen. Dazu reicht jedwede rechtskräftige Verurtei-
lung aufgrund einer Straftat, also auch bei Bagatelldelik-
ten wie Ladendiebstahl oder Schwarzfahren. Diese Ein-
schränkung gilt ohne jede zeitliche Befristung; gerade
langjährig Geduldete bleiben so dauerhaft belastet, wenn
sie zu Beginn ihrer Zeit in der Bundesrepublik einfache
Straftaten begangen haben. Das ist vollkommen unver-
hältnismäßig. Gleiches gilt für die zweite Ausnahmere-
gelung: Wird Asylsuchenden oder Geduldeten ein Ver-
stoß gegen das Betäubungsmittelgesetz zur Last gelegt,
reicht schon der einfache Verdacht, um wieder die Resi-
denzpflicht zu verhängen. Ebenfalls soll die Residenz-
pflicht verhängt werden, wenn „aufenthaltsbeendende
Maßnahmen konkret bevorstehen“. Diese Formulierung
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2014 6323
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ist dehnbar; darunter kann schon der Versuch der Aus-
länderbehörde fallen, einen Pass zu besorgen. Auch diese
Regelung ist unverhältnismäßig und lässt Spielraum für
willkürliches Behördenhandeln. Außerdem stellt sich die
Frage, was diese Regelung in Bezug auf Asylsuchende
soll – sie haben eine Aufenthaltsgestattung und sind im
Gegensatz zu den Geduldeten nicht ausreisepflichtig.
Bei ihnen können also aufenthaltsbeendende Maßnah-
men ohnehin erst ergriffen werden, wenn ihr Asylantrag
rechtskräftig abgelehnt wurde.
Solange Betroffene Sozialleistungen beziehen, gelten
für sie Wohnsitzauflagen, sie können also nicht selbst
wählen, wo sie in Deutschland leben wollen. Mit der
Neuregelung soll ihnen sogar eine bestimmte Wohnung
zugewiesen werden können; das geht über das geltende
Recht noch hinaus. Der Ministerpräsident von Schles-
wig-Holstein, Torsten Albig, hat in seiner Rede vor dem
Bundesrat zu Recht kritisiert, dass durch die Wohnsitz-
auflage faktisch die Residenzpflicht erhalten bleibt – ein
Wohnsitzwechsel ist ausgeschlossen, und bei den gerin-
gen finanziellen Mitteln, die Beziehern von Leistungen
nach dem Asylbewerberleistungsgesetz zur Verfügung
stehen, ist es mit ihrer Bewegungsfreiheit dann auch
nicht weit her. Wer den Wohnort eigenmächtig wechselt,
soll keine Sozialleistungen mehr erhalten. Wie das mit
der grundgesetzlich gebotenen menschenwürdigen Exis-
tenzsicherung vereinbar sein soll, geht aus dem Gesetz-
entwurf nicht hervor.
Der Vorrang des Sachleistungsprinzips nach dem
Asylbewerberleistungsgesetz wird künftig auf die Unter-
bringung in Erstaufnahmeeinrichtungen beschränkt. Bei
der Unterbringung außerhalb der Erstaufnahmeeinrich-
tungen gilt spiegelbildlich der Vorrang der Geldleistung.
Auch das ist nur ein Fortschritt mit angezogener Hand-
bremse. Zudem enthält der Gesetzentwurf auch eine Öff-
nungsklausel, die es Ländern wie Bayern ermöglicht, an
ihrem ineffizienten und unwürdigen Lagersystem und
am Sachleistungsprinzip in der Praxis festzuhalten. Da-
mit gibt es weiterhin keine einheitlichen Lebensbedin-
gungen für Asylsuchende in Deutschland. Die Koalition
wird im weiteren Gesetzgebungsverfahren einiges nach-
zubessern haben, damit das Gesetz seinem hochtraben-
den Titel wenigstens einigermaßen gerecht werden kann.
Luise Amtsberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Die Abschreckungspolitik, wie sie in Deutschland seit
Jahrzehnten praktiziert wird, ist inhuman und erfolglos.
Sie setzt sich unter anderem aus folgenden Bestandteilen
zusammen: Arbeitsverbot, elend lange Wartezeiten auf ei-
nen Sprachkurs, Sachleistungen statt Bargeld, Einschrän-
kungen der Bewegungsfreiheit durch die „Residenz-
pflicht“, gesundheitliche Unterversorgung durch das
Asylbewerberleistungsgesetz und der Zwang, in Mas-
senunterkünften wohnen zu müssen.
Wer aus seinem Heimatland vor Verfolgung und
Krieg fliehen musste, lässt sich von solchen Schikanen
aber nicht abhalten. Dennoch stellen sie gravierende
Eingriffe dar und bedeuten einen ungeheuren – und auch
teuren – bürokratischen Aufwand.
All diese Abschreckungsmaßnahmen gehören restlos
abgeschafft. Denn sie schaden nicht nur den Betroffe-
nen, sondern der Gesellschaft insgesamt.
Nun unternimmt die Bundesregierung – nicht ganz
freiwillig – einen halbherzigen Versuch, einige der
übelsten Auswüchse einer verfehlten und gescheiterten
Politik abzumildern.
Vorgesehen ist, dass die räumliche Beschränkung für
Asylsuchende und Geduldete – die sogenannte Resi-
denzpflicht – ab dem vierten Monat des Aufenthalts ab-
geschafft wird. Das klingt gut. Denn die Residenzpflicht
verbietet den Betroffenen das Reisen innerhalb Deutsch-
lands unter Strafandrohung – eine gravierende, europa-
weit einmalige Schikane, gegen die Flüchtlingsinitiati-
ven zu Recht seit Jahren ankämpfen.
Das Recht auf Bewegungsfreiheit soll nach der Neu-
regelung jedoch nicht uneingeschränkt gelten. Denn für
Geduldete ist vorgesehen, dass die Residenzpflicht im
Einzelfall doch angewandt werden kann, wenn „aufent-
haltsbeendende Maßnahmen … konkret bevorstehen“.
Mit dieser angeblichen Ausnahme könnte die Residenz-
pflicht für Geduldete durch die Hintertür wiedereinge-
führt werden. Denn die Duldung besagt ja gerade, dass
der Betroffene ausreisepflichtig bleibt und eine Abschie-
bung theoretisch jederzeit möglich ist. Weiterhin wäre es
durch restriktive Auslegung der Ausländerbehörde mög-
lich, von der Schikane „Residenzpflicht“ Gebrauch zu
machen. Ein klares „Nein“ zur Residenzpflicht sieht an-
ders aus.
Außerdem ist vorgesehen, durch eine parallele Ände-
rung der Beschäftigungsverordnung den Arbeitsmarkt-
zugang zu erleichtern. Das generelle Arbeitsverbot soll
auf drei Monate begrenzt werden. Nach 15 Monaten
Aufenthalt in Deutschland soll auch die Vorrangprüfung,
wonach Deutsche und Unionsbürger bei der Stellenver-
gabe grundsätzlich zu bevorzugen sind, vorläufig entfal-
len. Aber auch hier gibt es zumindest einen gravierenden
Haken: Denn es bleibt die Regelung unangetastet, wo-
nach Ausländerbehörden generell die Arbeitsaufnahme
verbieten können, wenn den Betroffenen vorgeworfen
wird, sie seien selbst daran Schuld, dass sie bisher nicht
abgeschoben werden konnten. Wer restriktiv agieren
will, der hat rechtlich alle Mittel dazu.
Die Abschaffung des Vorrangs des Sachleistungsprin-
zips ist sicher ein Fortschritt. Aber auch hier soll es wie-
der Ausnahmen geben können. Lebensmittelpakete und
Gutscheine stellen eine unerträgliche Gängelung und
Bevormundung dar; sie müssen endgültig der Vergan-
genheit angehören.
Im Übrigen zeigt der Gesetzentwurf in jeder einzel-
nen Bestimmung, wie schwer der Bundesregierung der
lang überfällige Abschied von Restriktionen und Schika-
nen fällt. Beispielsweise müssen sich geduldete Auslän-
der, die ihren zugewiesenen Wohnort für mehr als drei
Tage vorübergehend verlassen wollen, weiterhin vorher
bei der Ausländerbehörde abmelden. So fallen die Rege-
lungen insgesamt engherzig und kleingeistig aus und
überaus bürokratisch, so sehr, dass in der Ressortabstim-
mung sogar die Länderbürokratien – in diesem Fall
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(D)(B)
Rheinland-Pfalz – zu dem Schluss kommen: Die vorge-
sehene Regelung erscheint zu kompliziert und wird aus
fachlicher Sicht nicht befürwortet.
Dies ist nach fachpolitischer Betrachtung nicht der
große Wurf; es sind kleine Trippelschritte – angeschoben
von der Opposition.
Notwendig wäre es vielmehr, das Asylbewerberleis-
tungsgesetz vollständig aufzuheben und nicht nur das
Sachleistungsprinzip – ohnehin ein Auslaufmodell – ab-
zuschaffen. So bleibt das Asylbewerberleistungsgesetz
immer noch ein zentrales Instrument zur Diskriminie-
rung und Ausgrenzung. Es ist längst an der Zeit, die Ver-
sorgung von Flüchtlingen so zu regeln wie die Versor-
gung anderer hilfsbedürftiger Menschen auch: durch
Sozialleistungen nach dem Sozialgesetzbuch und men-
schenwürdige medizinische Versorgung.
Für den notwendigen Paradigmenwechsel – Inklusion
statt Ausgrenzung – ist es unerlässlich, Schutzsuchenden
in unserem Land ein selbstbestimmtes Leben zu ermög-
lichen. Wir setzen uns daher für weitere Erleichterungen
beim Arbeitsmarktzugang und frühzeitigen Zugang zu
Sprachkursen ein. Denn Sprache und Arbeit sind die ent-
scheidenden Schlüssel für ein selbstbestimmtes Leben in
Deutschland. Es wird Zeit, dass auch die Bundesregie-
rung dies begreift.
Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär beim Bundes-
minister des Innern: Angesichts der zahlreichen Krisen-
regionen der Welt und erheblich steigender Asylbe-
werberzahlen stehen Bund, Länder und Gemeinden vor
großen Herausforderungen. Die Zahl der Asylbewerber
in Deutschland steigt seit Jahren stark an: Im Jahr 2013
wurden beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
rund 127 000 Asylanträge gestellt. Das waren fast
50 000 mehr als 2012.
Von Januar bis Oktober dieses Jahres gab es bereits
über 158 000 Anträge. Gegenüber dem Vergleichszeit-
raum 2013 ist die Zahl der Asylanträge damit um rund
57 Prozent gestiegen. Der Migrationsdruck auf Europa,
insbesondere über das Mittelmeer, ist hoch und wird al-
ler Voraussicht nach weiter anhalten. Für 2014 prognos-
tiziert das BAMF circa 200 000 Anträge, Tendenz stei-
gend. Die Herausforderungen für Bund, Länder und
Gemeinden werden daher künftig eher größer als kleiner
werden.
Ein großer Teil der Asylbewerber ist tatsächlich
schutzbedürftig, ein Teil verfolgt aber auch wirtschaftli-
che Motive mit der Asylantragstellung. Umso wichtiger
ist es, dass wir eine Asylpolitik verfolgen, die hier aus-
gewogen reagieren kann.
Letzte Woche ist das Gesetz in Kraft getreten, mit
dem die Westbalkanstaaten Serbien, Bosnien-Herzego-
wina und Mazedonien als sichere Herkunftsstaaten ein-
gestuft werden. Dies sind Staaten, bei denen die asyl-
rechtliche Schutzquote bei nahezu null liegt.
Mit dem Gesetz wurde auch die Wartefrist für den Ar-
beitsmarktzugang für Asylbewerber und Geduldete auf
drei Monate abgesenkt. Das Gesetz ist damit ein gutes
Beispiel für die Balance, die wir im Asyl- und Auslän-
derrecht gerade jetzt brauchen.
Zum einen setzt das Gesetz das Signal, dass unser
Rechtssystem nur den Menschen asylrechtlichen Schutz
bieten soll, die diesen Schutz auch tatsächlich benötigen.
Zum anderen ermöglichen wir den Asylbewerbern jetzt
sehr früh, selbst für sich zu sorgen und sich mit ihren Fä-
higkeiten am Arbeitsmarkt einzubringen.
Solch ein ausgewogenes Vorgehen brauchen wir, um
dem derzeitigen massiven Anstieg der Asylbewerber-
zahlen zu begegnen und unser Asylsystem funktionsfä-
hig zu halten. Wir wollen denen effektiv Schutz bieten
können, die ihn tatsächlich brauchen, und die Vorausset-
zungen für die Einbindung und Teilhabe der tatsächlich
Schutzbedürftigen aufrechterhalten.
Vor diesem Hintergrund hat die Bundesregierung an-
lässlich der Zustimmung des Bundesrates zum genann-
ten „Gesetz zu den sicheren Herkunftsstaaten“ am
19. September 2014 einem Kompromiss zugestimmt.
Sie hat eine Protokollerklärung abgegeben, mit der wei-
tere Maßnahmen festgelegt wurden. Damit soll die
Rechtsstellung von asylsuchenden und geduldeten Aus-
ländern verbessert werden. Die Kosten für ihre Versor-
gung werden aber weiter gerecht verteilt. Auch die
Voraussetzungen, dass die Verwaltungen von Bund, Län-
dern und Gemeinden weiterhin effizient handeln können,
bleiben bestehen.
Der heute diskutierte Gesetzentwurf der Bundesregie-
rung setzt diese Protokollerklärung – soweit sie gesetzli-
che Änderungen erfordert – um. Ziel der Bundesregie-
rung ist es, die gemachten Zusagen möglichst rasch zu
realisieren. Sie hat für den Gesetzentwurf daher ein stark
verkürztes Verfahren gewählt und auch den Bundesrat
um Fristverkürzung gebeten.
Entsprechend der Protokollerklärung vom 19. Sep-
tember 2014 enthält der Gesetzentwurf zum einen
Anpassungen im Asylverfahrensgesetz und im Aufent-
haltsgesetz bei der räumlichen Beschränkung für Asyl-
bewerber und Geduldete, der sogenannten Residenz-
pflicht. Ziel ist die grundsätzliche Abschaffung der
Residenzpflicht nach drei Monaten Aufenthalt im Bun-
desgebiet. Um dabei weiterhin eine gerechte Verteilung
der Sozialkosten zwischen den Ländern zu gewährleis-
ten, wird eine Wohnsitzauflage für solche Asylbewerber
und Geduldete eingeführt, deren Lebensunterhalt nicht
gesichert ist. Sozialleistungen sollen lediglich an dem in
der Wohnsitzauflage festgelegten Wohnsitz erbracht wer-
den.
Des Weiteren sieht der Gesetzentwurf Anpassungen
im Asylbewerberleistungsgesetz vor. In seiner bisheri-
gen Form gilt das Sachleistungsprinzip zukünftig nur
noch während der Zeit, in der sich Asylbewerber in einer
Erstaufnahmeeinrichtung aufhalten. Im Anschluss sollen
die Länder und Kommunen Leistungen an den an-
spruchsberechtigten Personenkreis dann vorrangig als
Geldleistungen erbringen. Nachrangig sollen Sachleis-
tungen, zum Beispiel um Versorgungsengpässe aufgrund
steigender Asylbewerberzahlen zu decken, aber weiter-
hin möglich bleiben. Leistungen für Unterkunft, Hei-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2014 6325
(A) (C)
(D)(B)
zung und Hausrat können wahlweise als Geld- oder
Sachleistung erbracht werden, um hier die Flexibilität
des Behördenhandelns zu wahren. Schließlich soll nach
der Protokollerklärung gleichzeitig mit den genannten
Maßnahmen auch die Vorrangprüfung für den Arbeits-
marktzugang für Asylbewerber und Geduldete – bei
Fachkräften gänzlich und bei allen anderen nach einem
Inlandsaufenthalt von 15 Monaten – entfallen. Die
hierzu erforderliche Rechtsverordnung der Bundes-
ministerin für Arbeit und Soziales zur Änderung der
Beschäftigungsverordnung ist bereits vorgestern, am
11. November 2014, in Kraft getreten. Auch dieser As-
pekt der Protokollerklärung ist damit umgesetzt.
Der Gesetzentwurf stellt damit einen wichtigen Bau-
stein dar, um unser Asylsystem funktionsfähig zu erhal-
ten, um Asylmissbrauch zu bekämpfen und die Möglich-
keit der Teilhabe für Verfolgte zu erhöhen.
Anlage 7
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
dem Europäischen Übereinkommen vom 27. No-
vember 2008 über die Adoption von Kindern
(revidiert) (Tagesordnungspunkt 19)
Dr. Sabine Sütterlin-Waack (CDU/CSU): Ich freue
mich, dass wir heute dem Plenum eine einstimmig ange-
nommene Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses
vorlegen können. Über die Fraktionsgrenzen hinweg
sind wir uns einig, dass Deutschland das revidierte Euro-
päische Übereinkommen über die Adoption von Kindern
nach der bereits geleisteten Zeichnung am 23. Mai die-
ses Jahres nun auch ratifizieren soll.
Für was steht das revidierte Europäische Überein-
kommen zur Adoption von Kindern?
Ziel des Übereinkommens ist die Vereinheitlichung
der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten des Europa-
rats bezüglich der Adoption von Kindern.
Ich möchte besonders darauf hinweisen, dass unser
deutsches Recht dafür nur in einem einzigen Punkt an
das Übereinkommen angepasst werden muss: Die Frist
zur Aufbewahrung der Vermittlungsakten ist anders zu
berechnen, als es der § 9 b des Adoptionsvermittlungs-
gesetzes derzeit vorsieht. Dieser geringe Anpassungsbe-
darf zeigt: Die Bundesrepublik Deutschland hat hohe
Standards, wenn es um die Adoption von Kindern geht.
Mit der Zeichnung und Ratifikation unterstützt Deutsch-
land nun auch die Durchsetzung dieser Standards in den
Mitgliedsländern des Europarats.
Deutschland wäre damit das achte Land innerhalb der
Runde der Mitgliedstaaten des Europarats, welches das
Übereinkommen umsetzt. 17 Mitgliedstaaten haben das
Übereinkommen bislang unterzeichnet.
Das revidierte Übereinkommen ersetzt das Europäi-
sche Übereinkommen von 1967 über die Adoption von
Kindern, das bereits früh, insbesondere durch die tief-
greifenden gesellschaftlichen Veränderungen Ende der
Sechzigerjahre, nicht mehr als zeitgemäß anzusehen war.
Um diesem Umstand Abhilfe zu verschaffen, wurde das
Übereinkommen durch mehrere Übereinkommen erwei-
tert. Die Rechte der Kinder sind unter anderem durch das
Europäische Übereinkommen von 1975 über die Recht-
stellung der unehelichen Kinder, das Übereinkommen
der Vereinten Nationen vom November 1989 über die
Rechte des Kindes, das Haager Übereinkommen von
1993 über den Schutz von Kindern und die Zusammen-
arbeit auf dem Gebiet der internationalen Adoption und
das Europäische Übereinkommen von 1996 über die
Ausübung von Kinderrechten gestärkt worden.
Geändert hat sich auch die Rechtsposition des nicht-
ehelichen Vaters. Sie hat sich deutlich verbessert. In vie-
len Ländern ist nicht mehr nur die Ehe die rechtliche
Verbindung zwischen zwei Menschen, die zusammen le-
ben, füreinander Verantwortung übernehmen oder eine
Familie gründen wollen. In Deutschland können zwei
gleichgeschlechtliche Partner seit 2001 eine eingetra-
gene Lebenspartnerschaft begründen.
Vor diesem Hintergrund wurde es zwangsläufig not-
wendig, das Adoptionsübereinkommen aus dem Jahr
1967 im Rahmen des Europarats unter Federführung des
Europäischen Ausschusses für rechtliche Zusammenar-
beit zu überarbeiten. Nach Annahme des Übereinkom-
mens durch das Ministerkomitee des Europarats wurde
es 2008 zur Zeichnung aufgelegt.
Wo liegen nun die Unterschiede? Die Kinderrechte
und das Kindeswohl werden noch stärker in den Mittel-
punkt gestellt als in der Fassung von 1967. So ist nach
der neuen Fassung nach Artikel 5 Absatz 1 b nunmehr
die Zustimmung des Kindes zur Adoption notwendig,
wenn dieses hinreichend verständig ist. Andernfalls
– das regelt der Artikel 6 des revidierten Übereinkom-
mens – ist das Kind dennoch soweit möglich anzuhören,
und seine Meinung und Wünsche sind zu berücksichti-
gen.
Die Rechtsposition nichtehelicher Väter wird eben-
falls verbessert, da nun auch ihre Zustimmung zur Adop-
tion erforderlich ist. Im Übereinkommen von 1967 war
die Zustimmung des Vaters beim „nichtehelichen“ Kind
überhaupt nicht erforderlich. Dies widerspricht unter an-
derem der Rechtsprechung des Europäischen Gerichts-
hofs für Menschenrechte. Die Rechtstellung des Vaters
eines nichtehelichen Kindes im deutschen Adoptions-
recht wurde bereits im Zuge der Kindschaftsrechtsre-
form von 1997 wesentlich gestärkt.
Weitere zentrale Neuerungen des revidierten Überein-
kommens beziehen sich auf die in Artikel 7 geregelten
Bedingungen für die Adoption. In der „neuen“, revidier-
ten Fassung des Übereinkommens ist etwas vorgesehen,
das uns in Deutschland fremd erscheint: Auch heterose-
xuelle Paare, die nicht verheiratet sind, sondern in einer
eingetragenen Lebenspartnerschaft leben, können Kin-
der adoptieren. Dies kann selbstverständlich nur dort
gelten, wo das nationale Recht die Möglichkeit der Ein-
gehung einer eingetragenen Lebenspartnerschaft für He-
terosexuelle vorsieht. Wie gesagt, das gibt es in Deutsch-
land nicht.
6326 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2014
(A) (C)
(D)(B)
Wie Sie, meine Damen und Herren, sicher schon ver-
muten, gestattet das „alte“ Übereinkommen von 1967
nur heterosexuellen Ehepaaren die Adoption. Im neuen
Abkommen sollen nun auch homosexuelle Partner, die
entweder verheiratet sind oder in einer eingetragenen Le-
benspartnerschaft leben – die Regelungen sind innerhalb
der Mitgliedstatten des Europarats sehr verschieden –,
Kinder adoptieren dürfen. Das ist auch eine entschei-
dende Änderung des revidierten Übereinkommens. Es
wird den Mitgliedstaaten nunmehr freigestellt, die Suk-
zessivadoption durch Paare, die in einer eingetragenen
Lebenspartnerschaft, gleich welchen Geschlechts, leben,
zuzulassen. In Deutschland ist das Gesetz zur Umset-
zung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
zur Sukzessivadoption durch Lebenspartner vom
20. Juni 2014 am 27. Juni desselben Jahres bereits in
Kraft getreten.
Zudem besteht nunmehr die Möglichkeit im revidier-
ten Übereinkommen, fakultativ im jeweiligen Adop-
tionsrecht der Mitgliedstaaten auch die gemeinsame
Adoption durch Lebenspartner zuzulassen.
Soweit geht unser nationales Recht bekanntlich nicht.
Bekanntermaßen haben wir im Frühsommer das Le-
benspartnerschaftsgesetz in § 9 Absatz 7 geändert.
Damit haben wir das Urteil des Bundesverfassungs-
gerichts umgesetzt, das uns vorgegeben hatte, die Suk-
zessivadoption für eingetragene Lebenspartner zu re-
geln. Wir haben damals eine durchaus kontroverse
Debatte zur Frage geführt, ob wir das deutsche Adop-
tionsrecht auch dahingehend verändern sollten, eine ge-
meinsame Adoption durch homosexuelle Paare zuzulas-
sen. Die Mehrheit der Mitglieder des Deutschen
Bundestages hat sich im Mai dieses Jahres dagegen aus-
gesprochen. Die Sachlage hat sich seitdem nicht ent-
scheidend verändert. Deshalb sieht die CDU/CSU-Frak-
tion auch nicht im Kontext des revidierten europäischen
Adoptionsübereinkommens die Notwendigkeit, von die-
ser Option Gebrauch zu machen. Den Entschließungsan-
trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen werden wir
folglich nicht mittragen.
Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD): Erst letzte Woche
wurde die Debatte zur Ratifizierung des Europäischen
Übereinkommens über die Adoption von Kindern zu so
später Stunde angesetzt, dass die Redebeiträge zu Proto-
koll gingen. Ich bedauere sehr, dass auch die zweite und
dritte Lesung ohne mündliche Debatte stattfindet. Ers-
tens wird dies dem Thema Gleichstellung gleichge-
schlechtlicher Lebenspartnerschaften bei Weitem nicht
gerecht, zweitens hat es eine größere Öffentlichkeit
verdient, und drittens hätte eine öffentliche Auseinander-
setzung der Diskussion sicherlich gutgetan.
Ziel des Übereinkommens ist es, „gesellschaftliche
und rechtliche Entwicklungen zu berücksichtigen und
gleichzeitig die Europäische Menschenrechtskonven-
tion einzuhalten“. Gelebte gesellschaftliche Realität ist
es, dass sich gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaf-
ten in keiner Weise von der Ehe unterscheiden.
Dies haben auch der Europäische Gerichtshof sowie
letztendlich das Bundesverfassungsgericht in seinem
Urteil vom 19. Februar 2013, in dem es das Verbot der
Sukzessivadoption durch eingetragene Lebenspartner für
verfassungswidrig erklärte, bekräftigt. Deshalb überlässt
das revidierte Übereinkommen es auch den Staaten,
gleichgeschlechtlichen Lebenspartnern die gemeinsame
Adoption zu ermöglichen.
Bereits letzte Woche habe ich in meinem Beitrag
deutlich gemacht, dass ich die Ratifizierung des Euro-
päischen Übereinkommens für einen kleinen, aber den-
noch wichtigen Schritt auf dem Weg hin zur absoluten
Gleichstellung von gleichgeschlechtlichen Lebenspart-
nerschaften halte.
Jedoch ist er leider allenfalls hinreichend. Denn der
letzte Schritt, Kindern eine fürsorgliche Familie zu
ermöglichen, also auch die Volladoption für gleich-
geschlechtliche Lebenspartner, ist mit unserem Koali-
tionspartner bisher nicht möglich. Doch aufgeben gibt’s
nicht! Ich werde weiter für die absolute Gleichstellung
kämpfen.
Es hat lange genug gedauert, bis Deutschland das re-
vidierte Europäische Übereinkommen unterzeichnet hat.
Sogar eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
war dazu notwendig. Jetzt müssen wir bei der Ratifizie-
rung mit gutem Beispiel vorangehen. Dem entsprechen-
den Gesetz stimmen wir Sozialdemokratinnen und
Sozialdemokraten selbstverständlich zu. Uns zufrieden
zurücklehnen können und wollen wir jedoch nicht.
Jörn Wunderlich (DIE LINKE): Ich beziehe mich
auf die Protokollrede zur ersten Lesung und wiederhole
und ergänze das dort Geschriebene.
Das Europäische Übereinkommen vom 27. Novem-
ber 2008 über die Adoption von Kindern (revidiert) ist
am 1. September 2011 in Kraft getreten. Es ersetzt und
modernisiert das Europäische Übereinkommen vom
24. April 1967 über die Adoption von Kindern, dessen
Vertragsstaat auch die Bundesrepublik Deutschland ist,
unter stärkerer Berücksichtigung des Kindeswohls und
insbesondere im Hinblick auf das Übereinkommen der
Vereinten Nationen vom 20. November 1989 über die
Rechte des Kindes, das Haager Übereinkommen vom
29. Mai 1993 über den Schutz von Kindern und die Zu-
sammenarbeit auf dem Gebiet der internationalen Adop-
tion und das Europäische Übereinkommen vom 25. Ja-
nuar 1996 über die Ausübung von Kinderrechten.
Durch das Zustimmungsgesetz sollen die erforderli-
chen Voraussetzungen gemäß Artikel 59 Absatz 2 Satz 1
Grundgesetz für die Ratifikation des revidierten Über-
einkommens geschaffen werden.
Ziel des revidierten Übereinkommens ist, in den Un-
terzeichnerstaaten – unter anderem Mitgliedstaaten des
Europarats – gemeinsame Grundsätze hinsichtlich des
Adoptionsrechts zu schaffen und so auch grenzüber-
schreitende Adoptionen und deren Anerkennung zu er-
möglichen.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2014 6327
(A) (C)
(D)(B)
Anpassungsbedarf im deutschen Recht besteht laut
Bundesregierung nur insoweit, als die Frist zur Aufbe-
wahrung der Vermittlungsakten anders zu berechnen sei,
als es § 9 b des Adoptionsvermittlungsgesetzes, AdVer-
miG, derzeit vorsieht.
Dem Vertragsgesetz ist zuzustimmen. Das Überein-
kommen ist recht progressiv und leistet einen Beitrag zu
hohen Standards bei der Adoption im Sinne des Kindes-
wohls in den Unterzeichnerstaaten.
Vor allem begrüßenswert ist der Artikel 7 Absatz 2
des Übereinkommens. Danach steht es den Staaten frei,
den Anwendungsbereich des Übereinkommens „auf
gleichgeschlechtliche Paare zu erstrecken, die miteinan-
der verheiratet oder eine eingetragene Partnerschaft mit-
einander eingegangen sind. Es steht den Staaten auch
frei, den Anwendungsbereich dieses Übereinkommens
auf verschieden-geschlechtliche Paare und gleichge-
schlechtliche Paare zu erstrecken, die in einer stabilen
Beziehung zusammenleben.“
Da sich in den Ausschussberatungen keine Änderun-
gen ergeben haben, bleibt es bei der Zustimmung durch
die Linke.
Auch wenn eine Verpflichtung dazu nicht durchsetz-
bar war, ist schon allein die Einräumung dieser Möglich-
keit ein deutlicher Fortschritt. Und wenn Mitgliedstaaten
diese Möglichkeit regeln, müssen die anderen Unter-
zeichnerstaaten dies anerkennen, was ebenfalls ein Fort-
schritt ist.
Leider führt die Bundesregierung zur Beschwichti-
gung konservativer Kreise, eingeschlossen sie selbst, in
der Gesetzesbegründung aus: „Von der in dem Überein-
kommen eröffneten Möglichkeit, im nationalen Adop-
tionsrecht die gemeinsame Adoption durch Lebenspart-
ner zuzulassen, wird die Bundesregierung keinen
Gebrauch machen“ (Seite 6).
Hier will die Regierung nach wie vor bestehende Fa-
milienstrukturen nicht entsprechend akzeptieren und an-
erkennen und Kindern dieser Familien gesicherte
Rechtspositionen, was nur beispielsweise das Erbrecht
betrifft, verweigern. Aber für diese Gleichberechtigung
und verbesserte Rechtsposition von Kindern wird Die
Linke weiter kämpfen, notfalls auch wieder mit Unter-
stützung des Bundesverfassungsgerichts. Schauen wir
mal, wie lange die Regierung an ihrer Position festhalten
will, kann oder darf.
Und in diese Richtung geht der nun vorliegende An-
trag der Grünen, die sich ebenso wie die Linke an dieser
Ungleichbehandlung stören.
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Es ist höchste Zeit, dass wir auch beim Adoptionsrecht
Lebenspartnerschaften und Ehe hundertprozentig gleich-
stellen. Mit dem heutigen Gesetzesbeschluss entfallen
die letzten europarechtlichen Ausreden, dies nicht zu
tun. 100 Prozent Gleichstellung hatten Sie von der SPD
doch beschlossen! Stimmen Sie unserem Antrag heute
zu, dann kann dies für das Adoptionsrecht heute wahr
werden. Nicht das Bauchgefühl der Kanzlerin, sondern
das Grundgesetz sollte Sie bei Ihrer Entscheidung leiten.
Bereits zu Jahresbeginn hat meine Fraktion einen Ge-
setzentwurf zum Europäischen Übereinkommen über die
Adoption von Kindern eingebracht. Zu dem Zeitpunkt
hat die Koalition den Gesetzentwurf allerdings noch ab-
gelehnt.
Jetzt fragt man sich, ob die Bundesregierung zur Ein-
sicht gekommen ist und endlich die verfassungswidrige
Benachteiligung von Lebenspartnerschaften gegenüber
Ehen abschaffen will. Doch genau diesen längst notwen-
digen Schritt in Sachen Gleichberechtigung schließt die
Koalition in ihrer Antragsbegründung aus: „Von der in
dem Überabkommen eröffneten Möglichkeit, im natio-
nalen Adoptionsrecht die gemeinsame Adoption durch
LebenspartnerInnen möglich zu machen, wird die Bun-
desregierung keinen Gebrauch machen.“
Das Bundesverfassungsgericht hat Anfang 2013 ein-
getragenen Lebenspartnerinnen und -partnern das Recht
auf Sukzessivadoption eingeräumt. Jetzt muss die Ratifi-
zierung der revidierten Fassung des Europäischen Adop-
tionsübereinkommens folgen. Mit der neuen Fassung be-
kommen die Vertragsstaaten die Möglichkeit,
gleichgeschlechtlichen Paaren in ihrem nationalen Recht
Adoption zu erlauben. Die Adoption für gleichge-
schlechtliche, verpartnerte Paare ist allerdings als Opt-
out-Option formuliert, das heißt, es bleibt den Mitglied-
staaten überlassen, ob sie diese Möglichkeit nutzen. Das
Übereinkommen in der Fassung von 1967 sah die ge-
meinschaftliche Adoption nur für Verheiratete vor. Es
war lange Ausrede für SPD wie Union, eine gemein-
schaftliche Adoption durch eingetragene Lebenspartner
nicht zuzulassen. Schweden und das Vereinigte König-
reich haben aus diesem Grund das Übereinkommen vor
einigen Jahren gekündigt, um nicht gegen diese Passage
zu verstoßen. Seit 2008 ist nun die revidierte Fassung
verabschiedet und seit 2011 in Kraft, und es wird Zeit,
dass auch Deutschland endlich einen gleichstellungspo-
litischen Schritt voran macht und das Abkommen ratifi-
ziert.
Der Bundestag sollte der Bundesregierung in ihrer
diskriminierenden Stillstandspolitik nicht folgen und
sich den Auftrag des Bundesverfassungsgerichts zu Her-
zen nehmen. In seiner Entscheidung vom 19. Februar
2013 hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt:
„Unterschiede zwischen Ehe und eingetragener Le-
benspartnerschaft, welche die ungleiche Ausgestaltung
der Adoptionsmöglichkeiten rechtfertigen könnten, beste-
hen nicht“ (BVerfG, 1 BvL 1/11 vom 19. Februar 2013,
Rn. 104). Genau das wird hier allerdings – mal wieder –
ignoriert. Das ist nicht nur falsch und beschämend, son-
dern auch gleich doppelt verfassungswidrig. Nicht nur
werden Schwule und Lesben in Lebenspartnerschaften
bei der Sukzessivadoption gegenüber Ehepaaren benach-
teiligt, sondern auch die gemeinschaftliche Adoption
wird verweigert. Den Kindern fehlt es dadurch an Si-
cherheit: Sie leben nicht in einer rechtlich anerkannten
Familie, und sie werden im Unterhalts- und Erbrecht be-
nachteiligt. Dabei sind die Bedenken, dass es Kindern in
Regenbogenfamilien weniger gut gehe, längst ausge-
6328 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2014
(A) (C)
(D)(B)
räumt. Sämtliche Studien kommen zu dem Ergebnis,
dass Kinder, die mit gleichgeschlechtlichen Eltern auf-
wachsen, keinen Nachteil davon haben. Dies hat sogar
die Bundesregierung bestätigt. Die Koalition sollte diese
Gelegenheit nutzen und ihre Blockade bei der Anglei-
chung des Adoptionsrechts für Lesben und Schwule end-
lich aufgeben.
Gerade weil Studien zu Regenbogenfamilien und An-
hörungen von Experten immer wieder zu dem Schluss
kommen, dass das Kindeswohl in Regenbogenfamilien
nicht gefährdet ist, sondern gefördert wird, ist es umso
absurder, dass CDU/CSU immer wieder diesen ideologi-
schen Zombie aus der Argumentekiste holen. Ganz of-
fensichtlich ist das Kindeswohl für CDU/CSU immer
noch zweitrangig. Ihnen geht es darum, Ressentiments
zu bedienen, und um die Zustimmung von homophoben
Stammtischen. Aus Angst vor den Rechtspopulisten der
AfD wird hier auf dem Rücken von Kindern verfas-
sungsfeindliche Politik gemacht. Ginge es wirklich um
den Schutz der Familie und um das Kindeswohl, dann
würden Sie sich dafür einsetzen, diese Eltern-Kind-Be-
ziehungen rechtlich abzusichern. Und die SPD, die im
Wahlkampf 100 Prozent Gleichstellung versprochen hat,
scheitert, blamiert sich gerade mit der Umsetzung. Die
ist nämlich nicht nur mangelhaft, liebe SPD, sondern un-
terirdisch.
Anlage 8
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Umsetzung der Richtlinie 2011/99/EU über die
Europäische Schutzanordnung, zur Durchfüh-
rung der Verordnung (EU) Nr. 606/2013 über
die gegenseitige Anerkennung von Schutzmaß-
nahmen in Zivilsachen und zur Änderung des
Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen
und in den Angelegenheiten der freiwilligen Ge-
richtsbarkeit (Tagesordnungspunkt 20)
Dr. Sabine Sütterlin-Waack (CDU/CSU): Der vor-
liegende Gesetzentwurf dient in erster Linie der Umset-
zung der Richtlinie über die Europäische Schutzanord-
nung sowie der Durchführung der Verordnung über die
gegenseitige Anerkennung von Schutzmaßnahmen in Zi-
vilsachen.
Bereits heute gibt es in allen EU-Staaten Opferschutz-
maßnahmen. Diese können bislang aber nur in dem Mit-
gliedsstaat durchgesetzt werden, in dem sie erwirkt wor-
den sind. Derartige Maßnahmen können erwirkt werden,
wenn das Leben der zu schützenden Person, ihre körper-
liche oder psychische Unversehrtheit, ihre Freiheit, Si-
cherheit oder sexuelle Integrität in Gefahr sind. Die ge-
richtlich festzustellenden Schutzmaßnahmen können
beispielsweise die Verpflichtung beinhalten, sich der ge-
fährdeten Person nicht weiter als bis auf eine bestimmte
Entfernung zu nähern oder bestimmte Orte nicht zu be-
treten oder – heute ganz wichtig – nicht mit ihr in einen
wie auch immer gearteten medialen Kontakt zu treten.
Aufgrund der Richtlinie und der Verordnung kann in Zu-
kunft jeder, der seinen Wohnort in ein anderes Mitglieds-
land verlegt, einen ähnlichen Schutz beantragen, den er
bereits in seinem Heimatland erstritten hat. Es findet
keine erneute Sachprüfung statt, sodass hier eine wesent-
liche Erleichterung für die Betroffenen zu verzeichnen
ist.
Der entscheidende Unterschied zwischen der Richtli-
nie und der Verordnung besteht in der Entstehungsart der
Schutzmaßnahmen. Die Richtlinie ist nur auf Schutz-
maßnahmen in Strafsachen anwendbar. Diese Schutz-
maßnahme muss also nach einer strafrechtlichen Ent-
scheidung bzw. in einem Strafverfahren angeordnet
worden sein. Ausschlaggebend für die Anordnung einer
nationalen Schutzmaßnahme ist ausschließlich, dass
nach dem nationalen Recht strafbares Verhalten vorliegt.
Das deutsche Recht kennt jedoch nur Gewaltschutzanord-
nungen nach dem Gewaltschutzgesetz, die auf zivilrecht-
licher Grundlage ergehen. Das Opfer von Gewalttaten ist
berechtigt, einen Antrag nach dem Gewaltschutzgesetz
zu stellen. Dies kann sowohl in einem Verfahren der
einstweiligen Anordnung als auch in einem Hauptsache-
verfahren geschehen. Die strafrechtlichen Schutzmaß-
nahmen sind folglich dem deutschen Recht fremd und
können auf diese Weise nicht erlassen werden. Aufgrund
der Richtlinie kommt Deutschland daher lediglich als
vollstreckender Staat in Betracht. Die Verordnung hinge-
gen vervollständigt die Richtlinie und regelt die Über-
tragbarkeit der zivilrechtlichen Gewaltschutzanordnun-
gen, sodass die in Deutschland erlassenen Maßnahmen
in anderen Mitgliedsländern einen ähnlichen Schutz ge-
nießen.
Am 13. Dezember 2011 verabschiedete die Europäi-
sche Union die Richtlinie über die Europäische Schutzan-
ordnung. Am 12. Juni 2013 beschloss sie die Verordnung
über die gegenseitige Anerkennung von Schutzmaßnah-
men in Zivilsachen. Diese Rechtsakte sollen sich gegen-
seitig vervollständigen und gemeinsam einen effektiven,
europaweiten Schutz der Opfer vor Gewalt gewährleis-
ten. Diese Richtlinie ist bis zum 11. Januar 2015 umzu-
setzen. Ab diesem Tag gilt ebenfalls die Verordnung.
Für die Umsetzung der Richtlinie sowie Durchfüh-
rung der Verordnung bedarf es nationaler Umsetzungs-
bzw. ergänzender Durchführungsvorschriften, die dieser
Gesetzentwurf beinhaltet. Diese Vorschriften werden
aufgrund der besonderen Bedeutung in einem eigenstän-
digen Gesetz, namentlich EU-Gewaltschutzverfahrens-
gesetz, normiert.
Durch die Richtlinie sollen Schutzmaßnahmen für
Opfer von Straftaten gewährleistet bleiben, die ihr Recht
auf Freizügigkeit wahrnehmen und ihren Wohnort in ei-
nen anderen EU-Mitgliedstaat verlegen. Durch das
Recht auf Freizügigkeit dürfen den Unionsbürgern keine
Nachteile durch möglichen Verlust des Schutzes entste-
hen.
Die Gewährleistung des Schutzes für die Opfer soll
wie folgt geregelt werden: Die Behörde eines EU-Staa-
tes ordnet eine Schutzmaßnahme nach dem nationalen
Recht an. Im zweiten Schritt erlässt die Behörde des ent-
sprechenden Staates eine Europäische Schutzanordnung.
Nach dem Umzug des EU-Bürgers in einen anderen EU-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2014 6329
(A) (C)
(D)(B)
Staat erkennt dieser Staat die bereits erlassene Schutzan-
ordnung an und erlässt eine nach dem nationalen Recht
in einem vergleichbaren Fall vorgesehene Maßnahme.
Die Verordnung vervollständigt die Richtlinie, indem
sie die Übertragbarkeit der angesprochenen zivilrechtli-
chen Gewaltschutzanordnungen regelt. Die Verordnung
betrifft ebenfalls den Gewaltopferschutz, der in einem
Mitgliedstaat durch die Justiz- oder eine andere Behörde
angeordnet wurde und in einem anderen Mitgliedstaat
anzuerkennen ist.
Diese Verordnung beseitigt also das bisher erforderli-
che Exequaturverfahren, in dem die Voraussetzungen der
Anerkennung der Vollstreckbarkeit im Inland geprüft
werden. Um eine Schutzmaßnahme in einem anderen
EU-Mitgliedstaat geltend zu machen, benötigt die zu
schützende Person eine Bescheinigung, die auf Antrag
durch die Entscheidungsbehörde des Heimatstaats aus-
gestellt wird. Mit dieser Bescheinigung kann die gefähr-
dete Person in dem Mitgliedstaat ihres Aufenthaltes die
Anerkennung und gegebenenfalls Vollstreckung der
Schutzmaßnahme beantragen. Entscheidend ist, dass
keine erneute Sachprüfung stattfindet.
Die zeitgerechte Umsetzung der Richtlinie und der
Verordnung ist zu begrüßen. Hierdurch schaffen wir
Rechtssicherheit und erhöhen das Vertrauen in den
grenzüberschreitenden Schutz der EU-Bürger. Körperli-
che und seelische Gewalt bedeutet für das Opfer immer
einen enormen Einschnitt in das eigene Leben. Beson-
dere Bedeutung hat diese Gewalt, wenn sie im engen so-
zialen Umfeld stattfindet. Daher gilt es, die Opfer sol-
cher Taten effektiv und schnell schützen zu können.
Meine langjährige anwaltliche Tätigkeit verdeutlichte
mir, dass die meisten Gewaltschutzverfahren emotional
belastend und entsprechend aufwendig für die Beteilig-
ten waren. Aus diesem Grund sollte der Schutz der ge-
fährdeten Person im Vordergrund stehen. Sie sollte des-
halb das Verfahren im Falle eines Umzugs in einen EU-
Mitgliedstaat nicht erneut durchlaufen. Die Anerken-
nung und Vollstreckung der Schutzmaßnahmen dürfen
keine wiederholte Belastung für das Opfer darstellen.
Um diesem notwendigen Schutz der EU-Bürger/innen
gerecht zu werden, wird die Erleichterung beim Aner-
kennen und Vollstrecken der Schutzmaßnahmen durch
die Richtlinie und die Verordnung von unserer Fraktion
befürwortet.
Im vorliegenden Entwurf wird ferner eine Änderung
des FamFG aufgenommen, die das Scheidungsverbund-
verfahren betrifft.
Für einen ganz speziellen Fall sollen den Beteiligten
im Ehescheidungsverbundverfahren Rechtsmittel abge-
schnitten werden. Damit soll eine mögliche Doppelehe
vermieden werden. Da aber auch ein wirtschaftliches
Ungleichgewicht entstehen kann, habe ich Bedenken.
Dieser Teil unterliegt im Übrigen nicht der bereits ge-
nannten Umsetzungsfrist zum 11. Januar 2015.
Das Verbundprinzip soll eine gleichzeitige und ab-
schließende Regelung aller Folgen einer Ehescheidung
ermöglichen. An diesem Verfahren wird der Versor-
gungsträger im Rahmen des Versorgungsausgleichver-
fahrens ebenfalls beteiligt. Durch diese Beteiligung im
Verfahren erlangt der Versorgungsträger ein Beschwer-
derecht, wenn er materiell in seinen Rechten verletzt ist.
Wird dennoch der Versorgungsträger fälschlicherweise
nicht beteiligt oder einem beteiligten Versorgungsträger
die Entscheidung nicht bekannt gegeben, hat er die Mög-
lichkeit, auch nach vermeintlichem Eintritt der Rechts-
kraft Rechtsmittel einzulegen, da für ihn nach den allge-
meinen Rechtsgedanken keine Fristen laufen. Hat nun
nach vermeintlichem Eintritt der Rechtskraft einer der
ehemaligen Eheleute erneut geheiratet, besteht die Ge-
fahr der Doppelehe, da die alte Ehe nicht rechtskräftig
geschieden worden ist. Dies will der Gesetzentwurf ver-
hindern.
Wenn nun allerdings, wie es der Gesetzentwurf vor-
sieht, die Anschlussrechtsmittel der Beteiligten für die-
sen speziellen Fall abgeschnitten werden, wird zwar die
Gefahr der Doppelehe vermieden, das Gesamtkonstrukt
des Verbundes Ehescheidung, bestehend aus Versor-
gungsausgleich, Zugewinnausgleich, Kindes- und Ehe-
gattenunterhalt, könnte aber in Schieflage geraten.
Stellen Sie sich folgenden Fall vor: Die Beteiligten
haben eine Gesamtvereinbarung getroffen, in der ein
ausgeglichenes Verhältnis der zuvor genannten Folgesa-
chen besteht. Da nun aber der Versorgungsträger die
Möglichkeit hat, einen Baustein des Konstruktes, näm-
lich den Versorgungsausgleich, zu ändern, kann das
Gesamte unausgeglichen werden. Für den Fall der
nachträglichen Einlegung eines Rechtsmittels des Ver-
sorgungsträgers müssen die Beteiligten also die Mög-
lichkeit haben, die anderen Folgesachen auch zu ändern.
Sie müssen daher die Möglichkeit der Anschlussbe-
schwerde behalten. Die Rechtskraft der Ehescheidung
soll unangetastet bleiben.
Meine Damen und Herren, Sie sehen, die Sache ist
kompliziert. Es besteht aus unserer Sicht weiterer Dis-
kussionsbedarf, den wir innerhalb der Umsetzungsfrist
der Gewaltschutzanordnung nicht sachgerecht bewälti-
gen können. Deshalb hält es meine Fraktion für notwen-
dig, den Artikel 5 des Gesetzentwurfs abzutrennen und,
dem Änderungsantrag folgend, eine mögliche Regelung
der ursprünglich vorgesehenen Änderung des Gesetzes
über das Verfahren in Familiensachen vorerst zurückzu-
stellen.
Dennis Rohde (SPD): Heute verabschieden wir das
Gesetz zur Umsetzung der europäischen Richtlinie über
die Europäische Schutzanordnung. Damit kommen wir
als deutscher Bundestag unserer Verantwortung nach,
unseren Beitrag zu Sicherheit und Freiheit in Europa zu
leisten. Indem wir dafür sorgen, dass auch in Deutsch-
land der Schutz vor Gewalt und Nachstellung verein-
facht und verbessert wird, leisten wir heute auch einen
Beitrag zur fortschreitenden Einigung Europas und zur
Realisierung der Freizügigkeit.
Die Richtlinie über die Europäische Schutzanordnung
normiert ein unkompliziertes, unbürokratisches Verfah-
ren, mit dem gesetzliche Maßnahmen zum Schutz vor
Gefährdung innerhalb Europas auch über die Staatsgren-
zen hinaus anerkannt und angewandt werden können.
6330 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2014
(A) (C)
(D)(B)
Wer nach Deutschland zieht und an seinem vorherigen
Wohnort gesetzliche Schutzmaßnahmen genossen hat,
der soll nicht befürchten müssen, in unserem Land plötz-
lich ungeschützt dazustehen.
Bislang war es nötig, in diesem Fall am neuen Wohn-
ort Schutzmaßnahmen zu beantragen. Bei der damit un-
trennbar verbundenen zeitlichen Verzögerung konnte
dies zu realen Gefahren führen. Künftig hingegen soll
die Anwendung ausländischer Schutzmaßnahmen in un-
serem Land erheblich vereinfacht werden: Auf Antrag
der zu schützenden Person beim für ihre Wohngegend
zuständigen Familiengericht wird eine europäische
Schutzanordnung erlassen, mit der die in einem anderen
europäischen Land erlassenen Schutzmaßnahmen auch
in Deutschland angewandt werden. Abgelehnt werden
kann dies ausschließlich aus formellen Gründen, wenn
zum Beispiel relevante Informationen fehlen oder es im
Land des vorherigen Wohnorts eben gar keine Schutz-
maßnahmen gegeben hat. In jedem anderen Fall soll die
Anpassung zügig und unbürokratisch erfolgen.
Im Vergleich mit dem ursprünglichen Entwurf dieses
Gesetzes enthält der Änderungsantrag der Fraktionen der
SPD und der CDU/CSU noch Verbesserungen. Statt der
wenig konkreten Begriffe „Gläubiger“ und „Schuldner“
werden die Parteien nun klar und deutlich als „ge-
schützte Person“ und „gefährdende Person“ bezeichnet.
Zudem haben wir klargestellt, dass die gefährdende Per-
son nicht angehört werden muss, ehe eine europäische
Schutzanordnung erlassen werden kann. Hier setzen wir
klar auf den Schutz des Opfers.
Die europäische Einigung sollte gerade daran gemes-
sen werden, wie sie ganz reale Verbesserungen für
schutzbedürftige Menschen bringt. Solange Opfer von
Stalking und Gewalt bei einem Umzug innerhalb Euro-
pas riskieren, sich wieder schutzlos Gefahren auszuset-
zen, so lange ist die Freizügigkeit nicht für alle Realität.
Eine europäische Einigung der Wirtschaft und des Wa-
renflusses, die dabei die Freiheit und Sicherheit des Ein-
zelnen ausklammert, ist nicht unsere sozialdemokrati-
sche Vorstellung von Europa. Erst die Schaffung eines
europäischen Raums, in dem jeder Mensch sich tatsäch-
lich frei bewegen kann, ohne durch veraltete rechtliche
Regelungen Gefahren befürchten zu müssen, verwirk-
licht die europäische Einigung. Erst dann wächst Europa
wirklich zusammen.
Darum ist der heutige Gesetzentwurf auch so wichtig.
Das Konzept Europäische Schutzanordnung beschäftigt
dieses Haus nicht zum ersten Mal. Schon im Jahr 2010
hat der Bundestag sich mit den damals kursierenden Plä-
nen befasst. Die SPD-Bundestagsfraktion hat damals die
Europäische Schutzanordnung richtigerweise begrüßt,
aber auch die noch allzu bürokratischen und komplizier-
ten Regelungen kritisiert. Ich freue mich, dass wir heute
eine viel konkretere, einfachere und damit den Bedürf-
nissen schutzbedürftiger Personen besser angepasste
Richtlinie umsetzen können. Hier hat sich gezeigt, dass
es sich lohnt, wenn die nationalen Parlamente sich klar
zu europäischen Vorhaben positionieren.
Die Änderung von § 145 des Gesetzes über das Ver-
fahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten
der freiwilligen Gerichtsbarkeit, FamFG, die aus prakti-
schen Erwägungen ursprünglich ebenfalls in diesem Ge-
setzentwurf enthalten war, nehmen wir zunächst per Än-
derungsantrag heraus. Wir wollen mit dieser Regelung
eine Lücke im Familienrecht schließen, bei der durch die
rechtliche Ausgestaltung von Folgesachen im Schei-
dungsverbund das Problem auftreten kann, dass durch
Versehen der Verwaltung Ehescheidungen nicht rechts-
kräftig werden und so potenziell Doppelehen entstehen
können. Diese Änderung ist wichtig und richtig. Aber
wir sind der Meinung, dass es mehr Zeit für weitere Be-
ratungen bedarf, damit am Ende auf jeden Fall eine zu-
friedenstellende Lösung steht. Gerade in solchen Fragen
ist es wichtig, gründlich zu arbeiten.
Mit der Umsetzung der Richtlinie zur Europäischen
Schutzanordnung tragen wir als Bundestag dafür Sorge,
dass in Europa Freizügigkeit, Gleichheit und Sicherheit
weiter Realität werden. Wir zeigen damit, dass wir fakti-
sche Hindernisse der Freizügigkeit erkennen und mit
Augenmaß und Sachverstand beseitigen. In diesem
Sinne begrüße ich noch einmal den breiten Konsens
auch über die Fraktionsgrenzen hinaus, den die Europäi-
sche Schutzanordnung zumindest grundsätzlich erfahren
hat. Ich würde mich freuen, wenn diese konstruktive Zu-
sammenarbeit nicht nur bei diesem Thema ausgebaut
werden könnte.
Jörn Wunderlich (DIE LINKE): Ich beziehe mich
auf den Inhalt meiner Protokollrede von der ersten Le-
sung und wiederhole diesen ausdrücklich.
In den Beratungen sind die Berichterstatter der Frak-
tionen zu der Überzeugung gelangt, dass die Änderun-
gen hinsichtlich des FamFG nicht so schnell behandelt
werden können, sondern eingehender Beratung bedür-
fen. Von daher wurde dieser Teil des Gesetzes abgetrennt
und zunächst zurückgestellt.
Damit ist ein wesentlicher Teil, der noch Änderungs-
bedarf hat, vorerst nicht entschieden, sodass dem vorlie-
genden restlichen Gesetzentwurf zugestimmt werden
kann.
Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Bun-
desregierung legt uns hier ein Gesetz vor, das zum einen
die EU-Richtlinie über die Europäische Schutzanord-
nung umsetzen soll und ursprünglich eine Rechtsschutz-
verkürzung im Scheidungsverfahren beinhaltete.
Nachdem der Gesetzentwurf zunächst ohne Debatte
durchs Parlament gehen sollte, haben wir aufgrund von
Bedenken der Anwaltsverbände hinsichtlich der Rechts-
schutzverkürzung auf einer Befassung bestanden.
Hier sollte den geschiedenen Eheleuten die An-
schlussbeschwerde künftig versagt werden, wenn ein
Versorgungsträger nach Rechtskraft der Ehescheidung
Beschwerde gegen den Versorgungsausgleich eingelegt
hat.
Diese Konstellation kann sich ohnehin nur dann erge-
ben, wenn der Versorgungsträger nicht ordnungsgemäß
am Verfahren beteiligt wurde; denn anderenfalls laufen
für alle Beteiligten die gleichen Rechtsmittelfristen.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2014 6331
(A) (C)
(D)(B)
Durch den Verbund von Ehescheidung und Versor-
gungsausgleich soll aber gerade der wirtschaftlich
schwächere Ehegatte geschützt werden, indem er sich
auf eine gleichzeitige und abschließende Regelung aller
Folgen einer Ehescheidung verlassen können soll. Es
kann nämlich durchaus so sein, dass man sich über an-
dere Folgesachen, wie bspw. Unterhalt oder Zugewinn
im Hinblick auf den Versorgungsausgleich, geeinigt hat.
Die Ehescheidung und die Folgesache sind deshalb im-
mer als „Paket“ zu betrachten.
Am Ende sind dann sowohl die Berichterstatterin der
Union als auch ich selbst zu der übereinstimmenden
Auffassung gelangt, dass die Änderung des § 145 des
Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in
den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit,
FamFG, nicht zielführend ist.
Mit einem Änderungsantrag der Mehrheitsfraktionen
wurde das Problem beseitigt, sodass es jetzt nur noch um
die Umsetzung der Richtlinie zum Gewaltschutz geht.
So stellt man sich ein ordnungsgemäßes parlamentari-
sches Verfahren vor, in dem dann auch sinnvolle Verbes-
serungen ihren Weg ins Gesetz finden und Fehler recht-
zeitig erkannt werden. Ich betone das gerade in dieser
Woche, in der die Große Koalition mal wieder in einer
komplexen Materie umfangreiche Gesetzesänderungen
an einem Dienstagnachmittag an den Rechtsausschuss
übermittelt, um sie Mittwochmorgen beschließen zu las-
sen.
Die Umsetzung der Gewaltschutzrichtlinie ist hinge-
gen weitgehend unstrittig. Dass Schutzmaßnahmen in
Strafsachen in anderen EU-Ländern leichter anerkannt
und vollstreckt werden können, ist sicher sinnvoll, zumal
sich das rot-grüne Gewaltschutzgesetz seit seiner Ein-
führung sehr bewährt hat.
Die praktische Bedeutung des grenzüberschreitenden
Gewaltschutzverfahrensgesetzes dürfte allerdings eher
gering sein. Es ist daher bedauerlich, dass es nicht gelun-
gen ist, diese Regelungen in bestehende Gesetze zu inte-
grieren. So gibt es jetzt ein weiteres gesondertes Gesetz
zu Fällen, von denen man noch gar nicht weiß, ob sie
praktisch relevant sind. Dennoch wollen wir dieser Um-
setzung von EU-Recht nicht im Wege stehen und werden
dem Gesetz zustimmen.
Anlage 9
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts: Nationales Reformprogramm 2014
nutzen – Wirtschaftspolitische Steuerung in der
EU ernst nehmen und Investitionen stärken (Ta-
gesordnungspunkt 27 a)
Dr. Andreas Lenz (CDU/CSU): Erneut fordern
Bündnis 90/Die Grünen in Ihrem Antrag: Nationales Re-
formprogramm 2014 nutzen. Da auch Sie sich mit Ihrem
Antrag wiederholen, kann ich Ihnen nur wiederholt ent-
gegenbringen: Wir nutzen das Reformprogramm, um die
deutsche Wirtschaft voranzubringen, mehr denn je.
Der Antrag Ihrer Fraktion ist im Wesentlichen über-
flüssig. Viele Ihrer Forderungen sind bereits im Koali-
tionsvertrag aufgenommen und werden bereits umge-
setzt. Die falschen Dinge, die sie fordern, werden nicht
richtiger, nur weil Sie sie erneut fordern. Wir nehmen die
Analyse der EU-Kommission selbstverständlich ernst.
Wir wissen, dass wir eine zu geringe Investitionsquote
haben. Unsere Außenhandelsüberschüsse sind hoch, was
ein Zeichen der hohen Wettbewerbsfähigkeit der deut-
schen Wirtschaft ist; Sie kritisieren dies. Die Binnen-
nachfrage steigt bereits – wir wissen aber, dass hier wei-
tere Steigerungen wünschenswert wären. Die deutschen
Außenhandelsüberschüsse sind Ausdruck der hohen
Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen, darunter
zahlreicher kleiner und mittelständischer Unternehmen,
die in ihrem Bereich Weltmarktführer sind. Deutsche
Produkte werden nach wie vor auf den Weltmärkten
stark nachgefragt. Hier muss noch einmal klar betont
werden, dass die Kommission für Deutschland eben ge-
rade keine „zukunfts- und stabilitätsgefährdenden“ Un-
gleichgewichte festgestellt hat. Es handelt sich laut
Kommission zwar um Ungleichgewichte, aber um keine
exzessiven Ungleichgewichte. Von dieser Wettbewerbs-
fähigkeit profitieren die gesamten EU-Länder.
Im Übrigen finden 43 Prozent der Wertschöpfung
deutscher Exportprodukte durch Vorleistungen im EU-
Ausland statt. Und: 57 Prozent aller deutschen Importe
stammen aus anderen EU-Mitgliedstaaten.
Diese Tatsachen bzw. Erfolge schaffen Beschäftigung
und Wohlstand nicht nur bei uns, sondern auch in den
anderen EU-Ländern.
Es lässt sich überdies feststellen, dass der Anteil der
deutschen Exporte an Länder außerhalb der EU zuneh-
mend wächst. So beträgt der Anteil der Handelsüber-
schüsse in Drittländer außerhalb der EU 140,5 Milliar-
den Euro, also 72 Prozent. Der Anteil des Überschüsse
in die Nicht-Euro-EU beträgt 42,1 Milliarden Euro, der
Handelsbilanzüberschuss in die Euro-Länder lediglich
1 Milliarde Euro. Es schadet also auch hier nicht, eine
europäische Perspektive einzunehmen. Auch die Euro-
zone insgesamt konnte einen Handelsüberschuss in
Höhe von 152 Milliarden Euro erzielen, und das, obwohl
der Euro rund 7 Prozent an Wert zulegte, sich also die
Exporte in Relation verteuerten.
Nicht nur die Kommission, auch die Bundesregierung
weist auf die international zu niedrige Investitionsquote
Deutschlands hin. Ich möchte betonen, dass wir die Be-
lebung der privaten und öffentlichen Investitionen für
Deutschland zu einem Schwerpunkt dieser Legislaturpe-
riode erklärt haben. Investitionen sind das Fundament
für Wachstum und Beschäftigung einer Volkswirtschaft.
Deshalb besteht eine zentrale wirtschaftspolitische Auf-
gabe darin, die Investitionen in Deutschland zu stärken.
Erste umfangreiche Maßnahmen sind bereits durch die
Umsetzung des Koalitionsvertrags auf den Weg ge-
bracht: Wir investieren: 4 Milliarden Euro in die For-
schung, 5 Milliarden Euro in die Verkehrsinfrastruktur,
5 Milliarden Euro für die Kommunen, 6 Milliarden in
6332 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2014
(A) (C)
(D)(B)
die Bildung und Betreuung. In diesem Jahr werden die
Kommunen durch die Übernahme der Grundsicherung
im Alter durch den Bund um 1,1 Milliarden Euro ent-
lastet. Letzte Woche erst bewilligte Bundesminister
Schäuble für den Zeitraum von 2016 bis 2018 weitere
zusätzliche Mittel für öffentliche Investitionen in Höhe
von 10 Milliarden Euro. Diese Investitionen sollen best-
möglich eingesetzt werden. Hierfür können auch die Er-
gebnisse einer Expertenkommission aus Unternehmens-
und Gewerkschaftsvertretern, Verbandsspitzen und Wis-
senschaft beitragen, die an einem Bericht über die Inves-
titionslage in Deutschland arbeiten.
Wenn Sie jetzt glauben, dieses Investitionsprogramm
sei wegen Ihnen und Ihren Anfragen entstanden, dann ist
das in etwa so, als wenn der Hahn morgens meint, die
Sonne ginge wegen seines Krähens auf.
Darüber hinaus prüft das Bundesministerium für
Wirtschaft und Energie weitere Handlungsoptionen, um
die gesamtwirtschaftliche Investitionsdynamik zu stär-
ken. Es geht dabei zum einen darum, die Rahmenbedin-
gungen für private Investitionen zu verbessern und In-
vestitionshemmnisse abzubauen. Zum anderen geht es
um Konzepte, wie in Zukunft der Erhalt und der Ausbau
der öffentlichen Infrastruktur finanziert werden kann.
Dafür soll insbesondere privates Kapital mobilisiert wer-
den. Nun ist es so, dass von den jährlichen Investitionen
in Deutschland in Höhe von circa 460 Milliarden Euro
circa 9 Prozent auf den öffentlichen Sektor fallen. Über
90 Prozent der Investitionen werden vom privaten Sek-
tor geleistet. Es gilt also vor allem, ein investitions-
freundliches Klima zu schaffen.
Und das machen wir, beispielsweise auch dadurch,
dass wir die Steuern für Unternehmen nicht erhöht ha-
ben. Hier sind aber auch noch weitergehende Schritte
sinnvoll: Das Instrument der degressiven Abschreibung
kann raschere Ersatzinvestitionen herbeiführen. Aber
auch Sanierungsprogramme für Gebäude im Rahmen der
CO2-Minderungsziele werden geprüft. Dies alles steht
allerdings unter dem Primat der Fortführung einer
wachstumsfreundlichen Haushaltskonsolidierung. Wir
stehen zu dem Ziel, 2015 einen ausgeglichenen Haushalt
vorzulegen. Die Investitionslücke ist nur mithilfe einer
soliden Wirtschaftspolitik zu schließen. Dafür bedarf es
eines stabilen Rahmens, genauso wie eines flexiblen und
aufnahmefähigen Arbeitsmarktes. Auch hier sind bereits
wichtige Weichen gestellt worden: Wir haben bereits
heute eine positive Entwicklung bei den Reallöhnen. Mit
einem Bruttolohnzuwachs von 2,7 Prozent und einem
Reallohnzuwachs von 1,1 Prozent erwarten wir 2014
den größten Lohnzuwachs seit 2010. Unser flexibler Ar-
beitsmarkt ermöglicht erst die Rekordbeschäftigung von
42,1 Millionen Beschäftigten, welche 2014 erwartet
werden. Diese Flexibilität dürfen wir nicht gefährden.
Eine wachstumsfreundliche Wirtschaftspolitik ist im-
mer noch das beste Investitionsprogramm. Es wird we-
nig nützen, durch konkrete Maßnahmen private Investi-
tionen fördern zu wollen, wenn die Unternehmen
berechtigte Zweifel an der grundsätzlichen Ausrichtung
der Wirtschaftspolitik hegen – Zweifel, die sie beispiels-
weise immer wieder durch Ihre wachstumsfeindliche
Energiepolitik schüren. International liegt Deutschland
auf der globalen Wettbewerbsfähigkeitsrangliste des
Weltwirtschaftsforums auf Platz fünf – nur hinter der
Schweiz, Singapur, den USA und Finnland. Gelobt wer-
den vor allem die gute Infrastruktur, die Rechtssicher-
heit, die hohe Kompetenz deutscher Unternehmen bei
der Organisation von Prozessen und die Stärken bei
Innovationen sowie Forschung und Entwicklung.
Um die Wettbewerbsfähigkeit aufrechtzuerhalten,
müssen wir diese Stärken erhalten, und außerdem neue
Akzente setzen. Ein wichtiges Signal für den Arbeits-
markt setzen wir auch mit der Digitalen Agenda 2014 bis
2017. Die Digitalisierung bietet unzählige Chancen für
Innovation und Investitionen. Beim Breitbandausbau
wird es bis 2018 in Deutschland eine flächendeckende
Grundversorgung mit mindestens 50 Megabit pro Se-
kunde geben. Außerdem werden wir mehr Investitionssi-
cherheit für Netzbetreiber im ländlichen Raum schaffen.
Für die nächsten Jahre kann also mit einer schrittweisen
Korrektur der Leistungsbilanz auch durch einen stärke-
ren Wachstumsbeitrag der Binnenwirtschaft gerechnet
werden.
Lassen Sie mich noch Folgendes betonen: Man wird
diese Ungleichgewichte nicht über Nacht abbauen kön-
nen – da werden auch Ihre Anträge wenig bis gar nichts
helfen. Wenn die Standortbedingungen für Investoren
gut sind, kann sich eine Investitionsdynamik im privaten
Sektor entwickeln, die die Außenhandelsdefizite auto-
matisch reduziert.
Wir stehen gerade mitten in einer solchen Dynamik:
Die Investitionen steigen sowohl im privaten als auch im
öffentlichen Sektor. Wir legen die Grundlagen für diese
positive Entwicklung und schaffen Stabilität für Investi-
tionen.
Wolfgang Tiefensee (SPD): In den vergangenen
Jahren ist eine Reihe von neuen Verfahren zur besseren
Koordinierung der Wirtschafts- und Finanzpolitiken auf
europäischer Ebene entstanden. Diese Verfahren werden
jetzt praktisch umgesetzt. Dies gilt auch und insbeson-
dere für die jährliche Durchführung des Europäischen
Semesters.
Ein wichtiger Eckpfeiler des Europäischen Semesters
ist die Vorlage der Nationalen Reformprogramme, NRP.
Ein wichtiges Anliegen der Europäischen Kommission
war es, das NRP auf eine möglichst breite gesellschaftli-
che Basis zu stellen. Das Kabinett hatte das NRP im
April des Jahres verabschiedet. Er ist eine Grundlage für
die nächsten „Länderspezifischen Empfehlungen“ an die
einzelnen Mitgliedstaaten.
Die wesentlichen Inhalte des deutschen NRP 2014
sind die Länderspezifischen Empfehlungen, Europa
2020 und der Euro-Plus-Pakt: Die Bundesregierung be-
richtet im NRP über die Umsetzung der Empfehlungen
des Rates der Europäischen Union an Deutschland. Der
Bericht macht deutlich: Die Bilanz kann sich sehen las-
sen. In nahezu allen angesprochenen Bereichen – öffent-
liche Finanzen, Arbeitsmarkt und Erwerbsbeteiligung,
Energie und Wettbewerb – kann Deutschland erhebliche
Fortschritte im Sinne der Empfehlungen vorweisen.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2014 6333
(A) (C)
(D)(B)
Auch im Hinblick auf die Europa-2020-Ziele kann
Deutschland Erfolge verzeichnen. Zum Beispiel ist das
Ziel eines Anteils von Forschung und Entwicklung am
Bruttoinlandsprodukt von 3 Prozent erreicht. In den Be-
reichen Beschäftigung, Bildung und Armut haben wir
erneut einige unserer Ziele übererfüllt.
Die Bundesregierung berichtet im NRP zudem über
die Umsetzung des Aktionsprogramms 2013 für den
Euro-Plus-Pakt und stellt das neue Aktionsprogramm
2014 vor. All dies zeigt: Die Bundesregierung setzt sich
intensiv mit den europäischen Empfehlungen auseinan-
der und nimmt ihre Verpflichtungen ernst.
Im Rahmen des diesjährigen NRP nimmt die Bundes-
regierung darüber hinaus Stellung zur sogenannten
vertieften Analyse Deutschlands im Rahmen des Makro-
ökonomischen Ungleichgewichtsverfahrens. Die Euro-
päische Kommission hat hier insbesondere den deut-
schen Leistungsbilanzüberschuss untersucht, und wir
teilen die Auffassung der Kommission, dass die Wettbe-
werbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft ein wichtiger
Stützpfeiler für Europa ist. Mit der Umsetzung der im
Koalitionsvertrag verabredeten Maßnahmen werden wir
– wie von der Kommission angeregt – die staatlichen In-
vestitionen und damit das Wachstumspotenzial stärken.
Aber kommen wir zu Ihrem Antrag, liebe Kollegin-
nen und Kollegen, der Fraktion von Bündnis 90/Die
Grünen.
Wie ich Ihnen bei der ersten Lesung Ihres Antrags
mitteilte, sind die Vorwürfe Ihres Antrags, die Bundes-
regierung habe weder die Ursachen der Leistungsbilanz-
überschüsse ausreichend analysiert noch konsequent Ge-
genmaßnahmen eingeleitet, unzutreffend.
In Ihrem Antragsentwurf wird der deutsche Leis-
tungsbilanzüberschuss mitverantwortlich für die Krise
einiger Euro-Länder gemacht, da er zu den Kreditblasen
in diesen Ländern beigetragen habe. Hauptursächlich für
die Überschüsse sei die schwache Binnennachfrage. Da-
hinter stünden die schwache staatliche und private Inves-
titionstätigkeit sowie die schwache Lohnentwicklung.
Wir sind allerdings der Meinung, dass die Bundesre-
gierung die Ursachen der Leistungsbilanzüberschüsse
sehr umfassend analysiert und sehr konsequent Gegen-
maßnahmen eingeleitet hat. In dieser Frage unterschei-
den wir uns von den Autoren dieses Antrags.
Zu den Maßnahmen, die auch die Binnennachfrage
stärken, zählen unter anderem die Einführung eines ge-
setzlichen Mindestlohnes, die Erhöhung der Investitio-
nen im Bereich öffentliche Infrastruktur – insbesondere
im Verkehrsbereich. Für Letzteres werden 5 Milliarden
Euro vom Bund bis 2017 zusätzlich für die Verkehrsin-
frastruktur eingesetzt. Hinzu kommt die weitere Entlas-
tung von Kommunen und Ländern, nicht zuletzt durch
die heute im Parlament verabschiedete Reform des
BAFöG. So können die Kommunen und Länder ihren
Aufgaben bei Krippen, Kitas, Schulen und Hochschulen
besser nachkommen. Dafür sind im Zeitraum bis 2017
insgesamt rund 10 Milliarden Euro zusätzlich vorgese-
hen – sowie die Verbesserung der Rahmenbedingungen
für private Investitionen.
Etliche dieser Maßnahmen überschneiden sich mit
den Forderungen Ihrer Fraktion. Daher zeugt Ihr Antrag
von einer sehr selektiven Lektüre des NRP 2014; dem
können wir daher nicht zustimmen.
Die in Ihrem Antrag aufgeführte Forderung, einen
nationalen Energiesparfonds zur Finanzierung unter an-
derem von energetischen Sanierungen zu errichten, hatte
ich bereits in der letzten Debatte abgelehnt. Ich hatte
schon mitgeteilt, dass das eine recht unüberlegt vorgetra-
gene Forderung sei, welche die Gretchenfrage, nämlich
wo so viele finanzielle Mittel herkommen sollen, nicht
beantwortet. Denn 3 Milliarden aus dem Abbau von
klima- und umweltschädlichen Subventionen zu gewin-
nen, ist sehr anspruchsvoll. Wir gehen einen soliden Weg
und stellen im aktuellen Haushalt für dieses Jahr 1,8
Milliarden Euro für die Förderung des energetischen
Bauens und Sanierens bereit. Das sind 1,5 Milliarden aus
dem KfW-Programm – Zinsvergünstigungen. Dazu
kommen 300 Millionen Euro Zuschüsse an Privateigen-
tümer zur Förderung von Maßnahmen zur energetischen
Gebäudesanierung. Zudem gibt es das Programm „Ener-
getische Stadtsanierung“, aus dem quartiersbezogene
Konzepte und deren Umsetzung gefördert werden.
Auf Ihre Forderung, mehr Investitionsanreize für Un-
ternehmen zu schaffen, bin ich ebenfalls schon in der
letzten Debatte eingegangen und möchte dies jetzt nicht
wiederholen. Denn gerade diese Koalition legt besonde-
ren Wert auf eine stärkere Ausrichtung der Wirtschafts-
politik auf Investitionen und Innovationen sowie auf
eine verstärkte Koordinierung der Wirtschaftspolitik auf
internationaler Ebene.
Das BMWi hat erreicht, dass es im Rahmen der Euro-
päischen Struktur- und Investitionsfonds gelungen ist,
bis 2020 für Deutschland ausreichend Spielräume
– 27,5 Milliarden Euro – zu gewinnen, die auch zur In-
vestitionsförderung eingesetzt werden können. Unsere
Wirtschaftspolitik ist immer auch Industriepolitik. An-
fang der 2000er-Jahre haben andere Länder stärker auf
Dienstleistungen, insbesondere im Finanzbereich, ge-
setzt. Deutschland hat seine Industrien hingegen nicht
aufgegeben, sondern weiterentwickelt.
Auf unserem Programm stehen auch die „Leit-
märkte“. Damit ist gemeint, dass dort, wo Potenziale für
Wachstum und Beschäftigung existieren, die Industrie
gestärkt bzw. erneuert werden soll. Im Wirtschaftskapitel
werden folgende Leitmärkte definiert: Maschinen- und
Anlagenbau, neue Werkstoffe, Mobilität und Logistik,
Informations-und Kommunikationswirtschaft, Energie-
und Umweltwirtschaft, Medien- und Kreativwirtschaft
sowie Gesundheitswirtschaft und Medizintechnik.
Gemeinsam mit den Gewerkschaften und den Unter-
nehmen wollen wir neue Potenziale erkennen und heben.
Das gilt zum Beispiel im Hinblick auf das Feld „Indus-
trie 4.0“, also bei der stärkeren Digitalisierung von Pro-
duktionsprozessen in klassischen Industrien. Bei der
Elektromobilität verfolgt die SPD einen technologieoffe-
nen Ansatz. Dieser kommt auch zum Tragen in der For-
derung nach einem KfW-Programm zur Förderung be-
sonders umweltfreundlicher Fahrzeuge. Die Mittel für
das wichtige Zentrale Innovationsförderprogramm Mit-
6334 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2014
(A) (C)
(D)(B)
telstand, ZIM, werden im Haushaltsentwurf für 2015
nochmals angehoben.
Auch auf Ihr Argument, ein europäisches Investi-
tionsprogramm zu stärken, bin ich letztes Mal schon ein-
gegangen. Nun hat aber gerade die deutsche Sozialde-
mokratie einen erheblichen Anteil daran, dass die Mittel
der Europäischen Investitionsbank deutlich erhöht wur-
den. Und dort wird kein Geld nach dem Gießkannen-
prinzip verteilt, sondern Geld geht in sinnvolle Projekte,
die in einem sorgfältigen Prozess ausgewählt wurden
und maßgeblichen positiven Einfluss auf die Infrastruk-
tur und die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit von Emp-
fängerländern haben.
Zu Jahresbeginn wurde der Mehrjährige Finanzrah-
men der EU in Kraft gesetzt. Damit steht frisches Geld
über die Struktur- und Investitionsfonds zur Verfügung.
Deshalb bleiben die Mitgliedstaaten aufgerufen, zügig
ihre Projekt- und Programmvorstellungen zu entwickeln
und das Geld abzurufen.
Zu guter Letzt möchte ich Sie noch auf die Arbeit ei-
nes Expertengremiums beim Bundesminister für Wirt-
schaft und Energie hinweisen, das sich um die Stärkung
der Investitionen in Deutschland kümmern und entspre-
chende Vorschläge erarbeiten soll. Entgegen Ihrer Auf-
fassung ist es ein wichtiges Anliegen Sigmar Gabriels,
zu einer weiteren Stärkung der privaten und öffentlichen
Investitionen beizutragen. Denn Investitionen sind ein
Schlüsselfaktor für eine Stärkung von Wachstum und
Beschäftigung in Deutschland.
In den nächsten Monaten wird das Bundesministe-
rium für Wirtschaft und Energie weitere Handlungs-
optionen prüfen, um die gesamtwirtschaftliche Investi-
tionsdynamik zu stärken. Es geht dabei zum einen darum,
die Rahmenbedingungen für private Investitionen zu ver-
bessern und Investitionshemmnisse abzubauen. Zum an-
deren geht es um Konzepte, wie in Zukunft der Erhalt
und der Ausbau der öffentlichen Infrastruktur finanziert
werden kann. Dafür soll insbesondere privates Kapital
mobilisiert werden.
Thomas Nord (DIE LINKE): Mit Beginn der dritten
Stufe der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion
am 1. Januar 1999 sind die Geld- und die Wechselkurs-
politik in die gemeinschaftliche Verantwortung überge-
gangen. Um realwirtschaftliche Verwerfungen innerhalb
der WWU zu vermeiden und die Stabilität der gemein-
samen Währung zu sichern, sehen der Vertrag über die
Arbeitsweise der Europäischen Union, AEUV, und der
Stabilitäts- und Wachstumspakt eine verstärkte haus-
haltspolitische Überwachung und Koordinierung der
Wirtschaftspolitiken der Mitgliedstaaten der EU vor.
Die Nationalen Reformprogramme, NRP, bilden das
wirtschaftspolitische Gegenstück zu den Stabilitäts- und
Konvergenzprogrammen. In den jährlich erstellten Na-
tionalen Reformprogrammen stellen die Mitgliedstaaten
dar, mit welchen Reformmaßnahmen sie die Ziele der
Europa-2020-Strategie und die sogenannten integrierten
Leitlinien – Grundzüge der Wirtschaftspolitik, beschäfti-
gungspolitische Leitlinien – erreichen wollen und wel-
che Fortschritte sie im vergangenen Jahr erreicht haben.
Nun will ich hier die Kritik der Linken an der Strategie
„Europa 2020“ nicht detailliert wiederholen, sie ist die
Fortführung der gescheiterten Lissabon-Strategie und in-
sofern aus unserer Sicht kein guter Bewertungsmaßstab
für ein stabiles und soziales Europa.
Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen thematisiert
aus Sicht der Linken eine wichtige Kritik und benennt
die auch aus unserer Sicht hochproblematischen makro-
ökonomischen Ungleichgewichte als eine Ursache der
derzeitigen Krise der EU. Was dem einen sein Haben, ist
dem anderen sein Soll. Wenn auf der einen Seite ein
hoher Überschuss entsteht, also ein sehr hohes Haben,
dann ist es nur logisch, das auf der anderen Seite ein sehr
hohes Soll entsteht. Das Ungleichgewicht kann eine
solch große Schlagseite bekommen, dass die Asym-
metrie der Leistungsbilanzungleichgewichte vollständig
technisch, aber eben auch politisch, wirtschaftlich und
sozial dysfunktional wird. In einer solchen Situation
steht die Fortdauer des Euro, aber auch die jetzige
Verfasstheit der Europäischen Union auf dem Spiel. Und
die momentanen politischen Spannungen zwischen
Deutschland und Frankreich belegen dies eindrucksvoll,
wenn nicht schon gar ein bisschen beängstigend, wenn
man an die 30 Prozent Umfragewerte für Marine Le Pen
und ihr Programm zur Einführung eines neuen Franc
denkt.
Nun gibt es zwei Möglichkeiten, für einen Ausgleich
der Bilanzen in einer gemeinsamen Wirtschafts- und
Währungsunion zu sorgen. Die eine Möglichkeit ist es,
zwischen den Mitgliedstaaten des Euro einen Ausgleich
zu organisieren, in etwa nach dem Vorbild des Länder-
finanzausgleichs. Aber dazu fehlt der politische Wille in
allen Staaten. Die andere Möglichkeit ist es, die Unter-
schiede zwischen den Mitgliedstaaten zu akzeptieren
und eine Form des Ausgleichs innerhalb der Bilanzen
der jeweiligen Mitgliedstaaten zu organisieren. Nun hat
gerade die Bundesregierung unter Kanzlerin Merkel sich
dafür stark gemacht, das in der neuen Economic Gover-
nance der EU die Bilanzüberschüsse nicht sanktionsfä-
hig sind, sondern nur die Defizite. Wenn man aber von
Gleichgewichten spricht und zugleich das Modell
der mitgliedstaatsbezogenen Austarierung befürwortet,
muss man schon beide Seiten betrachten. Das heißt hier,
die Binnenseite der Bilanz zu stärken.
Der Euro bietet der traditionell stark außenpolitisch
orientierten deutschen Wirtschaft einen globalen Wettbe-
werbsvorteil. Denn hätte nur Deutschland den Euro oder
eine Alleinwährung, müsste es diese im Vergleich erheb-
lich aufwerten, worunter die Exportvorteile schwinden
würden. Die Wirtschaft ist in Deutschland von 2000 bis
2013 um fast 14 Prozent gewachsen. Die Unternehmens-
und Vermögenseinkommen haben in diesem Zeitraum
um rund 31 Prozent zugelegt. Die Bruttolöhne und -ge-
hälter je Beschäftigtem hingegen sind um rund 2 Prozent
gesunken. Einkommenszuwächse gab es nur bei den
Spitzeneinkommen. Am unteren Ende der Einkommens-
skala kam es zu weiteren Rückgängen. Jeder vierte Be-
schäftigte in Deutschland arbeitet für einen Niedriglohn.
Die Einführung von Hartz IV hat ein Angstregime eta-
bliert, mit dem bei Arbeitnehmern und Arbeitnehmerin-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2014 6335
(A) (C)
(D)(B)
nen die Bereitschaft zur Lohnzurückhaltung gestärkt
wurde.
Laut EU-Kommission haben die privaten Haushalte
in Deutschland mehr gespart; für eine ausgeglichene
Bilanz ist es notwendig, die Verteilung von Einkommen
und Vermögen gerechter zu gestalten. Aber auch die
privaten Unternehmen investieren zu wenig, die öffent-
lichen Investitionen sind viel zu gering. Die Binnen-
nachfrage sollte durch öffentliche Investitionen – insbe-
sondere Infrastrukturmaßnahmen – gesteigert werden.
Deutliche Lohnsteigerungen sind gerade für Arbeitneh-
merinnen und Arbeitnehmer am unteren Ende der Lohn-
skala nötig. Dies erfordert ein konsequentes Verbot von
Leiharbeit und sachgrundlosen Befristungen, die Verhin-
derung des Missbrauchs von Werkverträgen sowie die
Abschaffung des Zwangssystems Hartz IV. Die Stabili-
tätswarnung der EU-Kommission hat bei der Bundesre-
gierung dazu geführt, dass sie ein Mindestlöhnchen ein-
geführt hat, man solle ja nicht meinen, in der schwarz-
roten Koalition wäre über Nacht ein sozialpolitisches
Denken eingezogen. Die Linke fordert 10 Euro pro
Stunde ohne Ausnahmen für die Stärkung der Binnen-
nachfrage. Die Steuerpolitik muss gerechter gestaltet
werden durch eine höhere Besteuerung von großen Erb-
schaften und Finanzgeschäften sowie die Einführung ei-
ner Millionärssteuer. Die Linke fordert außerdem ein
nachhaltiges Investitionsprogramm für den sozialökolo-
gischen Umbau und zugunsten von Bildung, Gesundheit,
Klimaschutz, Infrastruktur und Verkehr.
Im Antrag von Bündnis 90/Die Grünen ist aus unserer
Sicht das Problem in einer zutreffenden Weise benannt,
allerdings wird darin aus unserer Sicht die aus dieser
Analyse zu ziehende politische Konsequenz gescheut,
und deshalb enthält sich die Fraktion Die Linke in der
Abstimmung über diesen Antrag.
Katharina Dröge (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es
ist noch nicht so lange her, da haben wir schon einmal
über EU-Verfahren zu den makroökonomischen Un-
gleichgewichten diskutiert. Ich habe Sie als Regierungs-
fraktionen und die Bundesregierung damals aufgefor-
dert, die wirtschaftspolitische Steuerung in der EU
endlich ernst zu nehmen und im Rahmen des Nationalen
Reformprogramms eine Antwort darauf zu formulieren,
wie die deutsche Investitionsschwäche behoben werden
kann. Das war im April, also vor etwas mehr als einem
halben Jahr. Damals erzählten Sie uns, sehr geehrte Kol-
leginnen und Kollegen von Union und SPD, dass das mit
den Investitionen doch alles kein Problem sei. Die Bun-
desregierung würde hier alles Nötige tun, um das Pro-
blem zu lösen. Unsere Forderungen seien quasi erledigt.
Nur ein paar Monate später stellen wir fest, wie viel
Gehalt in diesen Worten steckte: reichlich wenig. Alle
Mahnungen führender nationaler und internationaler
Wissenschaftler und Institutionen wie der EZB, des IWF
und der Europäischen Kommission für eine aktivere Fis-
kalpolitik, für ein entschlossenes Vorgehen gegen die In-
vestitionsschwäche haben Sie bisher ignoriert.
Jetzt trübt sich die Konjunktur in Deutschland ein,
und die Gefahr der Deflation im Euro-Raum wird immer
konkreter. Das ist auch Ihre Verantwortung, meine Da-
men und Herren von Union und SPD. Durch Untätigkeit
und Zögern haben Sie das Problem der schwachen Bin-
nennachfrage und der mangelnden Investitionen in
Deutschland verschärft, und dies hat auch Auswirkun-
gen auf den gesamten Euro-Raum. Sehr geehrte Kolle-
ginnen und Kollegen von CDU und SPD, man muss den
Eindruck gewinnen, dass die ökonomischen Zeichen lei-
der tatsächlich so deutlich werden mussten, damit Sie es
nicht mehr schaffen, sie komplett zu ignorieren.
Jetzt ringen Sie sich durch, zusätzliche Investitionen
zu tätigen – 10 Milliarden Euro in den kommenden drei
Jahren. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung, zwei-
fellos. Allein, er ändert rein gar nichts an den großen He-
rausforderungen, vor denen unser Land steht. Bildung,
Infrastruktur, Klimaschutz – wer jetzt nicht investiert,
verspielt unsere Zukunft. Da reichen 10 Milliarden Euro,
noch dazu über drei Jahre verteilt, hinten und vorne
nicht. Wie wenig entschlossen Sie handeln, zeigt ein
Beispiel: Allein durch den Abbau umweltschädlicher
Subventionen und die Abschaffung des Betreuungsgel-
des könnten Sie kurzfristig ein Dreifaches des von Ihrer
Regierung angepeilten Betrags finanzieren.
Das ist ein weiterer Trippelschritt in Angela Merkels
Wirtschaftspolitik, die weder Ziel noch Richtung kennt.
Sie versucht nur, der wirtschaftlichen Entwicklung hin-
terherzulaufen. Dabei ist es gerade in der Wirtschafts-
politik entscheidend, dass die Politik auch einen Kurs
vorgibt und den Unternehmen und Beschäftigten Ziele
aufzeigt, an denen sie sich orientieren können, und Ver-
trauen in die Zukunft erzeugt. Gerade private Investitio-
nen fußen auf Erwartungen in künftige Entwicklungen:
der Konjunktur, der Nachfrage und der Preise, aber auch
der Fachkräfte und der Infrastruktur eines Standorts.
Diese Erwartungen könnten Frau Merkel, Herr Schäuble
und Ihre Bundesregierung mit klaren Zielen zu öffentli-
chen Investitionen in den Breitbandausbau, in Klima-
schutz und Energieeffizienz, in die Bildung und Betreu-
ung stabilisieren.
Stattdessen haben Sie versucht, Ihr Nichthandeln mit
einem durchschaubaren Manöver zu verdecken. Sie ha-
ben den ausgeglichenen Haushalt – keine neuen Schul-
den 2015 – zu ihrem Prestigeobjekt erklärt, weil Sie wis-
sen, dass das erst mal gut klingt, erzählen Sie davon
landauf, landab. Aber Ihr Haushalt ist durch die falschen
Prioritäten im Gegenteil weder ausgeglichen noch nach-
haltig. Sie verschieben die Schulden lediglich in die Zu-
kunft. Sie verschulden sich bei künftigen Generationen,
indem Sie heute notwendige Investitionen in die Instand-
haltung von Brücken und Schienen oder in die Sanierung
maroder Schulgebäude nicht heute tätigen, obwohl sie
jetzt anstehen. Sie verschieben das alles auf übermorgen;
damit müssen kommende Generationen Ihre Rechnung
bezahlen.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von der
Union und der SPD, Europa braucht eine Wirtschafts-
politik in Deutschland, die jetzt entschlossen handelt.
Wachen Sie endlich auf aus Ihrem Dornröschenschlaf,
und nehmen Sie die makroökonomischen Probleme
ernst, die Ihnen die EU-Kommission in ihrem Bericht
aufgeschrieben hat.
66. Sitzung
Inhaltsverzeichnis
TOP 3 Vereinbarte Debatte zum Thema: Sterbebegleitung
TOP 4 Langzeitarbeitslosigkeit
TOP 21 Mietrecht
ZP 2 Überweisungen im vereinfachten Verfahren
TOP 27 Abschließende Beratungen ohne Aussprache
TOP 6 Wahl Stiftung „Deutsches Historisches Museum“
ZP 3 Aktuelle Stunde zur Abschaltung von Kohlekraftwerken und zu Klimazielen
TOP 7 Änderung des Grundgesetzes (Artikel 91b)
TOP 8 Partizipationsrechte für Kinder und Jugendliche
TOP 13 Änderung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes
TOP 10 Sanktionen gegen Russland
TOP 9 Bundeswehreinsatz in Südsudan (UNMISS)
TOP 27 a Investitionsquote und Binnennachfrage
TOP 11 Bundeswehreinsatz in Darfur (UNAMID)
TOP 14 Haushaltskontrolle nachrichtendienstlicher Tätigkeit
TOP 15 Verantwortung für Produktion in Entwicklungsländern
TOP 16 Antibiotika in der Tierhaltung
TOP 17 Dreigliedriger EU-Sozialgipfel
TOP 18 Rechtsstellung von asylsuchenden Ausländern
TOP 19 EU-Übereinkommen über die Adoption von Kindern
TOP 20 EU-Richtlinie über europäische Schutzanordnung
Anlagen