(D)
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2014 4301
(A) (C)
(B)
Anlagen zum Stenografischen Bericht
(D)
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Alpers, Agnes DIE LINKE 04.07.2014
Bätzing-Lichtenthäler,
Sabine
SPD 04.07.2014
Bosbach, Wolfgang CDU/CSU 04.07.2014
Dörner, Katja BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
04.07.2014
Flisek, Christian SPD 04.07.2014
Flosbach, Klaus-Peter CDU/CSU 04.07.2014
Freitag, Dagmar SPD 04.07.2014
Gabriel, Sigmar SPD 04.07.2014
Gohlke, Nicole DIE LINKE 04.07.2014
Hartmann, Michael SPD 04.07.2014
Dr. Hirte, Heribert CDU/CSU 04.07.2014
Irlstorfer, Erich CDU/CSU 04.07.2014
Kühn (Tübingen),
Christian
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
04.07.2014
Maag, Karin CDU/CSU 04.07.2014
Mortler, Marlene CDU/CSU 04.07.2014
Reiche (Potsdam),
Katherina
CDU/CSU 04.07.2014
Rief, Josef CDU/CSU 04.07.2014
Dr. Schröder, Ole CDU/CSU 04.07.2014
Werner, Katrin DIE LINKE 04.07.2014
Wicklein, Andrea SPD 04.07.2014
Winkelmeier-Becker,
Elisabeth
CDU/CSU 04.07.2014
Wolff (Wolmirstedt),
Waltraud
SPD 04.07.2014
Anlage 2
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Dr. Ute Finckh-Krämer und
Daniela Kolbe (Leipzig) (beide SPD) zur na-
mentlichen Abstimmung über den Änderungs-
antrag der Abgeordneten Jutta Krellmann,
Klaus Ernst, Sabine Zimmermann (Zwickau),
Matthias W. Birkwald, Susanna Karawanskij,
Thomas Lutze, Thomas Nord, Richard Pitterle,
Michael Schlecht, Azize Tank, Dr. Axel Troost
und der Fraktion DIE LINKE zu dem von der
Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines
Gesetzes zur Stärkung der Tarifautonomie (Tarif-
autonomiestärkungsgesetz) (Drucksache 18/2019)
(Tagesordnungspunkt 4 a)
Die Einführung des einheitlichen gesetzlichen Min-
destlohnes ist ein wichtiger und historischer Schritt, um
Niedriglöhne zu bekämpfen und die Ordnung am Ar-
beitsmarkt wiederherzustellen.
Wir begrüßen es, dass während der Gesetzesberatun-
gen vereinbart werden konnte, eine erste Anpassung des
Mindestlohns bereits zum Januar 2017 durch die Min-
destlohnkommission durchzuführen. Das ist ein Jahr frü-
her als ursprünglich vorgesehen. Die Mindestlohnkom-
mission hat über die Anpassung bis zum 30. Juni 2016
zu entscheiden. Wir haben in den Beratungen zudem die
Aufgaben der Mindestlohnkommission dahin gehend er-
weitert, dass es eine laufende Evaluation der Auswirkun-
gen des Mindestlohns auf den Arbeitsmarkt gibt und
eine erste Evaluation bereits zum 1. Juni 2016 erfolgen
wird. Mit der Übernahme der Regelung des Arbeitneh-
mer-Entsendegesetzes zur Haftung des Auftraggebers in
§ 13 Mindestlohngesetz, MiLoG, haben wir zudem eine
klare und verbindliche Haftungsregelung durchgesetzt.
Dies wird die Arbeit des Zolls erleichtern und gewähr-
leistet die konsequente Durchsetzung des Mindestlohnes
in allen Branchen. Mit der frühen Evaluation schaffen
wir die Voraussetzung, dass regelmäßig auch die in § 22
MiLoG vorgesehenen Ausnahmen für einzelne Perso-
nengruppen überprüft und geändert werden können. Mit
den während der Beratungen ausgehandelten neuen Re-
gelungen im Bereich der Praktikantinnen und Praktikan-
ten beenden wir den Missbrauch von Praktika. Für frei-
willige Praktika im Rahmen von Ausbildung und
Studium mit einer maximalen Dauer von drei Monaten
muss der Mindestlohn nicht gezahlt werden. Aber der
Mindestlohn gilt für alle Praktika, die darüber hinausge-
hen oder nach einer abgeschlossenen Berufsausbildung
bzw. einem abgeschlossenen Hochschulstudium geleis-
tet werden. Dank der SPD ist die Zeit, in der Praktikan-
tinnen und Praktikanten trotz abgeschlossener Berufs-
ausbildung ausgebeutet und ohne Vergütung beschäftigt
wurden, vorbei.
Wir freuen uns, dass es der SPD-Fraktion und Bun-
desministerin Andrea Nahles gemeinsam mit den Ge-
werkschaften gelungen ist, Branchenausnahmen zu ver-
hindern. Mit den Übergangsregelungen für einzelne
Anlagen
4302 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2014
(A) (C)
(D)(B)
Branchen geben wir diesen die Möglichkeit, schrittweise
Anpassungen vorzunehmen, um spätestens zum 1. Ja-
nuar 2017 einen Mindestlohn von 8,50 Euro zu errei-
chen.
Es ist uns zudem gelungen, die Ausnahmen im Be-
reich der Langzeitarbeitslosen zugunsten dieser Perso-
nengruppe leicht zu entschärfen. Gerade diese Gruppe
ist am Arbeitsmarkt in einer schwachen Position, sodass
sie eines besonderen Schutzes vor Ausbeutung bedarf.
Sie können für sechs Monate nur dann vom Mindestlohn
ausgenommen werden, wenn sie in einem nicht tarifge-
bundenen Betrieb arbeiten. In den letzten Verhandlungen
konnte zudem erreicht werden, dass Langzeitarbeitslose
nicht von Betrieb zu Betrieb weitergereicht werden kön-
nen, indem wir § 18 SGB III dahin gehend geändert ha-
ben, dass Eingliederungsmaßnahmen im Sinne von § 45
SGB III, die länger als sechs Wochen gehen, und ent-
sprechend lange Erwerbstätigkeit die Arbeitslosigkeit
unterbrechen. Eine Langzeitarbeitslose oder ein Lang-
zeitarbeitsloser gilt dann nicht mehr als solcher und
muss bei einer neuen Beschäftigung nach Mindestlohn
vergütet werden. Die Bundesregierung wurde des Weite-
ren verpflichtet, bereits zum 1. Juni 2016 einen Bericht
abzugeben, inwiefern die Ausnahmeregelung der Inte-
gration in den Arbeitsmarkt diente. Gleichwohl bleibt
die Ausnahme für Langzeitarbeitslose für uns Sozialde-
mokratinnen und Sozialdemokraten schmerzhaft.
Bedauerlicherweise gab es im Gesetzgebungsverfah-
ren keine Änderung bei den vorgesehenen Ausnahmen
in Bezug auf unter 18-Jährige, die keinen Anspruch auf
diesen Mindestlohn haben werden. Wir teilen nicht die
Einschätzung, dass jugendliche Arbeitnehmer und Ar-
beitnehmerinnen durch den Mindestlohn auf eine Aus-
bildung verzichten würden. Die Schulabgängerinnen
und Schulabgänger in Deutschland sind sich der Stärken
des dualen Ausbildungssystems sehr wohl bewusst. Sie
werden auch nach der Einführung eines Mindestlohns
zum übergroßen Teil eine Ausbildung oder ein Studium
aufnehmen. Eine abgeschlossene Berufsausbildung
schafft Sicherheit, Anerkennung und Einkommensmög-
lichkeiten weit jenseits der Niedrigeinkommen von
8,50 Euro Stundenlohn.
Die Verabschiedung des gesetzlichen, flächendecken-
den Mindestlohns in Höhe von 8,50 Euro ist eine Ent-
scheidung von historischem Ausmaß. 3,7 Millionen Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland
werden davon profitieren. Mit Inkrafttreten zum
1. Januar 2015 wird es in unserem Land wieder gerech-
ter zugehen. Im Rahmen der bis 2017 anstehenden Über-
prüfungen des Gesetzes werden wir uns weiterhin für die
Korrektur der vorgesehenen Ausnahmen einsetzen. In-
folgedessen lehnen wir den Änderungsantrag der Frak-
tion Die Linke ab.
Anlage 3
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Cansel Kiziltepe (SPD) zur
namentlichen Abstimmung über den Ände-
rungsantrag der Abgeordneten Jutta
Krellmann, Klaus Ernst, Sabine Zimmermann
(Zwickau), Matthias W. Birkwald, Susanna
Karawanskij, Thomas Lutze, Thomas Nord,
Richard Pitterle, Michael Schlecht, Azize Tank,
Dr. Axel Troost und der Fraktion DIE LINKE
zu dem von der Bundesregierung eingebrach-
ten Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der
Tarifautonomie (Tarifautonomiestärkungsge-
setz) (Drucksache 18/2019) (Tagesordnungs-
punkt 4 a)
Die Einführung des einheitlichen gesetzlichen Min-
destlohnes ist ein wichtiger und historischer Schritt, um
Niedriglöhne zu bekämpfen und die Ordnung am Ar-
beitsmarkt wiederherzustellen.
Für mich von großer Bedeutung ist die gleichzeitige
Stärkung der Tarifautonomie. Mit der Streichung des 50-
Prozent-Quorums für die Allgemeinverbindlicherklä-
rung von Tarifverträgen wird es angesichts niedriger Ta-
rifbindung möglich, die tarifliche Ordnung zu stützen
und zu stärken. Durch die Ausweitung des Arbeitneh-
mer-Entsendegesetzes, AEntG, auf alle Branchen – bis-
her gibt es nur in 14 Branchen Mindestlöhne nach dem
AEntG – wird es möglich sein, Tarifverträge durch
Rechtsverordnung zugunsten inländischer und ausländi-
scher Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen auf alle
Branchen zu erstrecken.
Ich begrüße es, dass während der Gesetzesberatungen
vereinbart werden konnte, eine erste Anpassung des
Mindestlohns bereits zum Januar 2017 durch die Min-
destlohnkommission durchzuführen. Das ist ein Jahr frü-
her als ursprünglich vorgesehen. Die Mindestlohnkom-
mission hat über die Anpassung bis zum 30. Juni 2016
zu entscheiden. Wir haben in den Beratungen zudem die
Aufgaben der Mindestlohnkommission dahin gehend er-
weitert, dass es eine laufende Evaluation der Auswirkun-
gen des Mindestlohnes auf den Arbeitsmarkt gibt und
eine erste Evaluation bereits zum 1. Juni 2016 erfolgen
wird. Mit der Übernahme der Regelung des Arbeitneh-
mer-Entsendegesetzes zur Haftung des Auftraggebers in
§ 13 Mindestlohngesetz, MiLoG, haben wir zudem eine
klare und verbindliche Haftungsregelung durchgesetzt.
Dies wird die Arbeit des Zolls erleichtern und gewähr-
leistet die konsequente Durchsetzung des Mindestlohnes
in allen Branchen. Mit der frühen Evaluation schaffen
wir die Voraussetzung, dass regelmäßig auch die in § 22
MiLoG vorgesehenen Ausnahmen für einzelne Perso-
nengruppen überprüft und geändert werden können. Mit
den während der Beratungen ausgehandelten neuen Re-
gelungen im Bereich der Praktikantinnen und Praktikan-
ten beenden wir den Missbrauch von Praktika. Für frei-
willige Praktika im Rahmen von Ausbildung und
Studium mit einer maximalen Dauer von drei Monaten
muss der Mindestlohn nicht gezahlt werden. Aber der
Mindestlohn gilt für alle Praktika, die darüber hinausge-
hen oder nach einer abgeschlossenen Berufsausbildung
beziehungsweise einem abgeschlossenen Hochschulstu-
dium geleistet werden. Dank der SPD ist die Zeit, in der
Praktikantinnen und Praktikanten trotz abgeschlossener
Berufsausbildung ausgebeutet und ohne Vergütung be-
schäftigt wurden, vorbei.
Ich freue mich, dass es der SPD-Fraktion und Bun-
desministerin Andrea Nahles gemeinsam mit den Ge-
werkschaften gelungen ist, Branchenausnahmen zu ver-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2014 4303
(A) (C)
(D)(B)
hindern. Mit den Übergangsregelungen für einzelne
Branchen geben wir diesen die Möglichkeit, schrittweise
Anpassungen vorzunehmen, um spätestens zum 1. Ja-
nuar 2017 einen Mindestlohn von 8,50 Euro zu errei-
chen.
Es ist uns zudem gelungen, die Ausnahmen im Be-
reich der Langzeitarbeitslosen zugunsten dieser Perso-
nengruppe leicht zu entschärfen. Gerade diese Gruppe
ist am Arbeitsmarkt in einer schwachen Position, sodass
sie eines besonderen Schutzes vor Ausbeutung bedarf.
Sie können für sechs Monate nur dann vom Mindestlohn
ausgenommen werden, wenn sie in einem nicht tarifge-
bundenen Betrieb arbeiten. In den letzten Verhandlungen
konnte zudem erreicht werden, dass Langzeitarbeitslose
nicht von Betrieb zu Betrieb weitergereicht werden kön-
nen, indem wir § 18 SGB III dahin gehend geändert ha-
ben, dass Eingliederungsmaßnahmen im Sinne von § 45
SGB III, die länger als sechs Wochen gehen, und ent-
sprechend lange Erwerbstätigkeit die Arbeitslosigkeit
unterbrechen. Eine Langzeitarbeitslose oder ein Lang-
zeitarbeitsloser gilt dann nicht mehr als solcher und
muss bei einer neuen Beschäftigung nach Mindestlohn
vergütet werden. Die Bundesregierung wurde des Weite-
ren verpflichtet, bereits zum 1. Juni 2016 einen Bericht
abzugeben, inwiefern die Ausnahmeregelung der Inte-
gration in den Arbeitsmarkt diente. Gleichwohl bleibt
die Ausnahme für Langzeitarbeitslose für uns Sozialde-
mokraten schmerzhaft.
Bedauerlicherweise gab es im Gesetzgebungsverfah-
ren keine Änderung bei den vorgesehenen Ausnahmen
in Bezug auf unter 18-Jährige, die keinen Anspruch auf
diesen Mindestlohn haben werden. Ich teile nicht die
Einschätzung, dass jugendliche Arbeitnehmer und Ar-
beitnehmerinnen durch den Mindestlohn auf eine Aus-
bildung verzichten würden. Die Schulabgängerinnen
und Schulabgänger in Deutschland sind sich der Stärken
des dualen Ausbildungssystems sehr wohl bewusst. Sie
werden auch nach der Einführung eines Mindestlohns
zum übergroßen Teil eine Ausbildung oder ein Studium
aufnehmen. Eine abgeschlossene Berufsausbildung
schafft Sicherheit, Anerkennung und Einkommensmög-
lichkeiten weit jenseits der Niedrigeinkommen von
8,50 Euro Stundenlohn.
Die Verabschiedung des gesetzlichen flächendecken-
den Mindestlohns in Höhe von 8,50 Euro ist eine Ent-
scheidung von historischem Ausmaß. 3,7 Millionen Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland
werden davon profitieren. Mit Inkrafttreten zum 1. Ja-
nuar 2015 wird es in unserem Land wieder gerechter zu-
gehen. Im Rahmen der bis 2017 anstehenden Überprü-
fungen des Gesetzes werde ich mich weiterhin für die
Korrektur der vorgesehenen Ausnahmen einsetzen. In-
folgedessen lehne ich den Änderungsantrag der Fraktion
Die Linke ab.
Anlage 4
Erklärung nach § 31 GO
des Abgeordneten Marco Bülow (SPD) zu den
namentlichen Abstimmungen über: Änderungs-
antrag der Abgeordneten Jutta Krellmann,
Klaus Ernst, Sabine Zimmermann (Zwickau),
Matthias W. Birkwald, Susanna Karawanskij,
Thomas Lutze, Thomas Nord, Richard Pitterle,
Michael Schlecht, Azize Tank, Dr. Axel Troost
und der Fraktion DIE LINKE zu dem Entwurf
eines Gesetzes zur Stärkung der Tarifautonomie
(Tarifautonomiestärkungsgesetz) (Drucksache
18/2019) (Tagesordnungspunkt 4 a)
In dieser Woche wird in 2. und 3. Lesung die Einfüh-
rung des flächendeckenden Mindestlohns beschlossen.
Ab dem 1. Januar 2015 gilt ein Mindestlohn von
8,50 Euro die Stunde. Abweichungen sind bis Ende
2016 grundsätzlich nur möglich, wenn ein entsprechen-
der Tarifvertrag dies vorsieht und dieser nach dem Ar-
beitnehmer-Entsendegesetz für allgemeinverbindlich er-
klärt wurde. Ab 1. Januar 2017 gilt der Mindestlohn
dann flächendeckend in ganz Deutschland für alle voll-
jährigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer – und
zwar für alle Branchen. Es ist ein Erfolg, dass es nach
jahrelangen Diskussionen endlich auch in Deutschland
den überfälligen Einstieg in den Mindestlohn gibt.
Ich werde dem Gesetzentwurf der Bundesregierung
zustimmen, weil die Einführung des Mindestlohns ein
richtiger und überfälliger Schritt ist. Den Antrag der Lin-
ken halte ich zwar auch für richtig, werde ihn aber leider
ablehnen müssen, um das eigentliche Gesetz nicht zu ge-
fährden. Auch wenn ich die geplanten Ausnahmen für
falsch halte, die Union würde ohne sie nicht für das Ge-
setz stimmen. Damit würde es den Mindestlohn nicht ge-
ben. Deshalb bin ich bereit, den Preis zu zahlen – wenn-
gleich ich mich weiterhin dafür einsetzen werde, dass es
erstens nicht bei 8,50 Euro bleibt und zweitens die Aus-
nahmen abgebaut werden.
Gut finde ich, dass wir auch bei den Praktika weiter-
gekommen sind und Praktikantinnen und Praktikanten
zumindest teilweise den Mindestlohn bekommen.
Grundsätzlich bin ich allerdings gegen Ausnahmen und
Einschränkungen beim Mindestlohn. Vor allem, dass der
Mindestlohn für Langzeitarbeitslose in den ersten sechs
Monaten nach einer Neueinstellung nicht gilt, halte ich
für problematisch. Wer solche Ausnahmen zulässt, ris-
kiert Missbrauch. Der Mindestlohn soll vor Lohndum-
ping schützen; das muss auch für Langzeitarbeitslose
gelten. Menschen, die länger als ein Jahr ohne Job sind,
müssen damit weiterhin befristet für weniger als
8,50 Euro pro Stunde arbeiten. Ich befürchte, dass Un-
ternehmen Langzeitarbeitslose als „Niedriglöhner“ nut-
zen könnten und dann nach fünf Monaten wieder entlas-
sen. Sicher gibt es für jede Ausnahme Argumente. Ich
bin froh, dass die Ministerin und die SPD viele weitere
einschränkende Vorschläge der Union abgewehrt haben
und so kein Flickenteppich entsteht. Dennoch, immerhin
gilt nun für etwa 2 Millionen Langzeitarbeitslose im
Bund und etwa 31 300 Langzeitarbeitslose in Dortmund
der Mindestlohn nicht, sollten sie einen Job finden.
Auch die Ausnahmen bei den Zeitungszustellerinnen
und -zustellern, bei den Saisonkräften in der Landwirt-
schaft, bei den Erntehelferinnen und -helfern sowie den
Praktikantinnen und Praktikanten sind nicht notwendig
und nur ein Zugeständnis an die CDU/CSU und unter
4304 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2014
(A) (C)
(D)(B)
anderem an die Zeitungsverlage. Dies trifft die
Schwächsten. Hier müssen wir auf eine Überprüfung po-
chen und die Möglichkeit bekommen, diese Ausnahmen
zurückzunehmen.
Ich hoffe sehr, dass zum Mindestlohn im Bundestag
noch nicht das letzte Wort gesprochen ist. Ich werde
mich jedenfalls weiterhin für einen flächendeckenden
Mindestlohn ohne Ausnahmen stark machen.
Anlage 5
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Heike Brehmer, Manfred
Grund, Frank Heinrich (Chemnitz), Jörg
Hellmuth, Matthias Lietz, Eckhardt Rehberg,
Dr. Klaus-Peter Schulze, Tino Sorge, Carola
Stauche, Dieter Stier, Arnold Vaatz, Volkmar
Vogel (Kleinsaara) und Kees de Vries (alle
CDU/CSU) zur namentlichen Abstimmung
über den von der Bundesregierung eingebrach-
ten Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der
Tarifautonomie (Tarifautonomiestärkungsge-
setz) (Tagesordnungspunkt 4 a)
Wir stehen zum Koalitionsvertrag und stimmen dem
Gesetz zur Stärkung der Tarifautonomie, allerdings nur
unter erheblichen Bedenken, zu. Wir gönnen den Be-
schäftigten, die von der Einführung des flächendecken-
den gesetzlichen Mindestlohns profitieren werden, die-
sen hart erarbeiteten Lohnzuwachs in vollem Maße. Wir
sehen jedoch die Gefahr, dass die Einführung des flä-
chendeckenden gesetzlichen Mindestlohns zu massiven
Arbeitsplatzverlusten in Ostdeutschland führen könnte.
Nach Informationen, die uns von sehr vielen ostdeut-
schen Unternehmen zugegangen sind, stehen mit der
Einführung des flächendeckenden gesetzlichen Mindest-
lohns Arbeitsplätze, Wachstum und Wohlstand in weiten
Teilen Ostdeutschlands auf dem Spiel. Nach wie vor be-
stehen erhebliche strukturelle ökonomische Unter-
schiede zwischen Ost- und Westdeutschland. Produktion
und Einkommen je Einwohner und je Beschäftigtem
sind in den ostdeutschen Ländern deutlich niedriger. Die
Arbeitslosenquote ist deutlich höher als in den westdeut-
schen Ländern. In Ostdeutschland sind 22,4 Prozent der
abhängig Beschäftigten von der Mindestlohnregelung
betroffen, in Westdeutschland hingegen nur 10,7 Pro-
zent. Es scheint uns nicht ausgeschlossen, dass sich
infolge der Einführung von Mindestlöhnen auch im über
dem Mindestlohn liegenden Lohnbereich starke Steige-
rungen ergeben könnten, die neben dem Mindestlohn an
sich zu Arbeitsplatzverlusten führen könnten.
Andererseits erkennen wir an, dass einigen unserer
Forderungen zur Ausgestaltung des Mindestlohns in den
Verhandlungen Rechnung getragen wurde, wie zum Bei-
spiel: rechtzeitige Evaluation zu den Auswirkungen des
Gesetzes auf den deutschen Arbeitsmarkt, keine unver-
hältnismäßige Haftung aller Arbeitgeber für alle beauf-
tragten Dienstleistungsunternehmen und Werkunterneh-
mer sowie deren Subunternehmer, Ausnahme vom
Mindestlohn für Praktika von bis zu drei Monaten und
für Langzeitarbeitslose.
Folgende unserer Forderungen konnten leider nicht
umgesetzt werden:
Keine Verdrängung bestehender Tarifverträge – Si-
cherstellung der Weitergeltung auch außerhalb des Ar-
beitnehmer-Entsendegesetzes; wir erwarteten bei der
Mindestlohnregelung, dass bislang gültige Haustarifver-
träge als Tarifverträge repräsentativer Tarifpartner auf
Branchenebene im Sinne des Koalitionsvertrages aner-
kannt werden und bis zum 31. Dezember 2016 gültig
bleiben.
Altersstaffelung – Keinen Fehlanreiz für Jugendliche
setzen; wir forderten, dass die Bereitschaft junger Men-
schen mit Vermittlungshemmnissen, eine Berufsausbil-
dung aufzunehmen, nicht konterkariert werden darf, in-
dem der Anreiz geschaffen wird, ein vermeintlich
attraktiveres Arbeitsverhältnis zu Mindestlohnbedingun-
gen aufzunehmen. Daher sollten Arbeitsverhältnisse mit
jungen Menschen zumindest bis zur Vollendung ihres
25. Lebensjahres wie in anderen EU-Ländern nicht vom
Mindestlohn erfasst werden.
Ob die Neuregelung für eine Allgemeinverbindlich
erklärung von Tarifverträgen ein taugliches Mittel ist,
muss sich in der Praxis noch zeigen.
Hinzu kommt, dass auch das von CDU-Seite in die
Koalitionsverhandlungen hineinverhandelte Morato-
rium, das eine Abweichung und Heranführung an den
gesetzlichen Mindestlohn bis zum 31. Dezember 2016
vorsieht, Bedingungen enthält, die es weitestgehend zur
Makulatur machen. Ferner ist zu bezweifeln, ob dieser
massive staatliche Eingriff in die bisherige Form der Ta-
rifautonomie tatsächlich langfristig die Tarifautonomie
stärkt, wie das der Gesetzestitel verheißt. Die geringe
Tarifbindung in Ostdeutschland war historisch keine
Folge von fehlenden Mindestlöhnen, sondern entwi-
ckelte sich aus der Sorge um den Erhalt des eigenen Ar-
beitsplatzes angesichts von Lohnentwicklungen, die die
Produktivität der Arbeitnehmer überforderten.
Trotz dieser offenen Fragen halten wir das Gesetz für
vertretbar, solange keine negativen Effekte auf dem Ar-
beitsmarkt erkennbar sind. Sollten sich diese aber auf-
grund der Evaluierung des Gesetzes durch die Bundes-
regierung zeigen, erwarten wir sofortiges Handeln.
Anlage 6
Erklärungen nach § 31 GO
zur namentlichen Abstimmung über den von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurf ei-
nes Gesetzes zur Stärkung der Tarifautonomie
(Tarifautonomiestärkungsgesetz) (Tagesord-
nungspunkt 4 a)
Günter Baumann (CDU/CSU): Ich stehe zum Ko-
alitionsvertrag und stimme dem Gesetz zur Stärkung der
Tarifautonomie, allerdings nur unter erheblichen Beden-
ken, zu. Ich gönne den Beschäftigten, die von der Ein-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2014 4305
(A) (C)
(D)(B)
führung des flächendeckenden gesetzlichen Mindest-
lohns profitieren werden, diesen hart erarbeiteten
Lohnzuwachs in vollem Maße. Ich sehe jedoch die Ge-
fahr, dass die Einführung des flächendeckenden gesetzli-
chen Mindestlohns zu massiven Arbeitsplatzverlusten in
Ostdeutschland führen könnte.
Nach Informationen, die mir von sehr vielen ostdeut-
schen Unternehmen zugegangen sind, stehen mit der
Einführung des flächendeckenden gesetzlichen Mindest-
lohns Arbeitsplätze, Wachstum und Wohlstand in weiten
Teilen Ostdeutschlands auf dem Spiel. Nach wie vor be-
stehen erhebliche strukturelle ökonomische Unter-
schiede zwischen Ost- und Westdeutschland. Produktion
und Einkommen je Einwohner und je Beschäftigtem
sind in den ostdeutschen Ländern deutlich niedriger. Die
Arbeitslosenquote ist deutlich höher als in den westdeut-
schen Ländern. In Ostdeutschland sind 22,4 Prozent der
abhängig Beschäftigten von der Mindestlohnregelung
betroffen, in Westdeutschland hingegen nur 10,7 Pro-
zent. Es scheint mir nicht ausgeschlossen, dass sich in-
folge der Einführung von Mindestlöhnen auch im über
dem Mindestlohn liegenden Lohnbereich starke Steige-
rungen ergeben könnten, die neben dem Mindestlohn an
sich zu Arbeitsplatzverlusten führen könnten.
Andererseits erkenne ich an, dass einigen meiner For-
derungen zur Ausgestaltung des Mindestlohns in den
Verhandlungen Rechnung getragen wurde, wie zum Bei-
spiel: rechtzeitige Evaluation zu den Auswirkungen des
Gesetzes auf den deutschen Arbeitsmarkt, keine unver-
hältnismäßige Haftung aller Arbeitgeber für alle beauf-
tragten Dienstleistungsunternehmen und Werkunterneh-
mer sowie deren Subunternehmer, Ausnahme vom
Mindestlohn für Praktika von bis zu drei Monaten und
für Langzeitarbeitslose.
Folgende meiner Forderungen konnten leider nicht
umgesetzt werden:
– Ermöglichung von Stücklohnvereinbarungen in den
Fällen, in denen der am Monatsende ausbezahlte
Lohn bei „Normalleistung“ den gesetzlich vorgegebe-
nen Mindestlohn erreicht
– Einführung von Übergangsfristen bis zum 31. De-
zember 2016 mit dem Ziel, eigene Tarifverträge zu
vereinbaren, die eine stufenweise Heranführung an
den gesetzlichen Mindestlohn beinhalten;
– Keine Verdrängung bestehender Tarifverträge – Si-
cherstellung der Weitergeltung auch außerhalb des
Arbeitnehmer-Entsendegesetzes: Ich erwartete bei der
Mindestlohnregelung, dass bislang gültige Haustarif-
verträge als Tarifverträge repräsentativer Tarifpartner
auf Branchenebene im Sinne des Koalitionsvertrages
anerkannt werden und bis zum 31. Dezember 2016
gültig bleiben;
– Altersstaffelung – Keinen Fehlanreiz für Jugendliche
setzen: Ich forderte, dass die Bereitschaft junger Men-
schen mit Vermittlungshemmnissen, eine Berufsaus-
bildung aufzunehmen, nicht konterkariert werden
darf, indem der Anreiz geschaffen wird, ein vermeint-
lich attraktiveres Arbeitsverhältnis zu Mindestlohnbe-
dingungen aufzunehmen. Daher sollten Arbeitsver-
hältnisse mit jungen Menschen zumindest bis zur
Vollendung ihres 25. Lebensjahres wie in anderen
EU-Ländern nicht vom Mindestlohn erfasst werden.
Ob die Neuregelung für eine Allgemeinverbindlich-
keitserklärung von Tarifverträgen ein taugliches Mittel
ist, muss sich in der Praxis noch zeigen.
Hinzu kommt, dass auch das von CDU-Seite in die
Koalitionsverhandlungen hineinverhandelte Morato-
rium, das eine Abweichung und Heranführung an den
gesetzlichen Mindestlohn bis zum 31. Dezember 2016
vorsieht, Bedingungen enthält, die es weitestgehend zur
Makulatur machen. Ferner ist zu bezweifeln, ob dieser
massive staatliche Eingriff in die bisherige Form der Ta-
rifautonomie tatsächlich langfristig die Tarifautonomie
stärkt, wie das der Gesetzestitel verheißt. Die geringe
Tarifbindung in Ostdeutschland war historisch keine
Folge von fehlenden Mindestlöhnen, sondern entwi-
ckelte sich aus der Sorge um den Erhalt des eigenen Ar-
beitsplatzes angesichts von Lohnentwicklungen, die die
Produktivität der Arbeitnehmer überforderte.
Trotz dieser offenen Fragen halte ich das Gesetz für
vertretbar, solange keine negativen Effekte auf dem Ar-
beitsmarkt erkennbar sind. Sollten sich diese aber auf-
grund der Evaluierung des Gesetzes durch die Bundes-
regierung zeigen, erwarte ich sofortiges Handeln.
Veronika Bellmann (CDU/CSU): Neben der Ein-
führung der doppelten Staatsbürgerschaft und der Rente
mit 63 sehe ich in der Einführung des einheitlichen ge-
setzlichen flächendeckenden – allgemeinen – Mindest-
lohns einen ordnungspolitischen Verstoß gegen die Re-
geln der sozialen Marktwirtschaft. Dieser liegt allerdings
schon im Koalitionsvertrag begründet, der an diesen
Stellen schlecht verhandelt wurde und ganz und gar
nicht dem Wahlergebnis entspricht. Die Menschen haben
die Union wegen ihres Wahlprogrammes, unter anderem
auch ihrer Vorschläge für einen branchen- und regional
differenzierten Mindestlohn gewählt.
Meine seinerzeitige grundsätzliche Zustimmung zum
Koalitionsvertrag hieß deshalb auch nicht, dass ich nicht
Teilen daraus weiterhin kritisch gegenüberstehe und dies
in meinem Abstimmungsverhalten zum Ausdruck bringe,
falls nicht im konkreten Gesetzgebungsverfahren grund-
legende Mängel behoben wurden. Dass das in diesem
Gesetz an einigen Stellen, insbesondere durch die Fach-
politiker der Union, erfolgt ist, will ich gerne anerken-
nen. Auch deshalb werde ich nicht, wie ursprünglich
angekündigt, mit Ablehnung, sondern mit Enthaltung
votieren. Nur dieses differenzierte Abstimmungsverhal-
ten kann ich als Vorstandsmitglied der Mittelstandsverei-
nigung Mittelsachsens verantworten.
Ich bin ein Anhänger des Mindestlohnes, und ich
weiß, dass die Menschen zu Recht eine gerechte Entloh-
nung erwarten. Ich gönne den Beschäftigten, die davon
profitieren, ihre hart erarbeiteten Lohnzuwächse in vol-
lem Maße. Meine Anhängerschaft gilt aber regional- und
branchenbezogenen differenzierten Mindestlöhnen, durch
die negative Beschäftigungseffekte von Mindestlohnver-
einbarungen vermieden werden, die außerdem nicht weg
4306 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2014
(A) (C)
(D)(B)
von Produktivität, Wertschöpfung und der Positionie-
rung auf den jeweiligen Dienstleistungs- und Produkt-
märkten staatlich pauschal verordnet werden. Meine
Mindestlohnanhängerschaft gilt der Tarifautonomie und
der Koalitionsfreiheit, Tarifgemeinschaften zu bilden
und in ihnen Lohnuntergrenzen festzulegen. Das vorlie-
gende „Gesetz zur Stärkung der Tarifautonomie“ kann
diesen Anspruch nur unzureichend erfüllen.
Außerdem befürchte ich, dass durch einen allgemei-
nen Mindestlohn insbesondere im Osten Arbeitsplätze,
vor allem die von Geringqualifizierten, vernichtet wer-
den, weil Lohnkostensteigerungen zu 30 Prozent für so
manchen Kleinunternehmer oder Handwerker, die bisher
auch für einfache Tätigkeiten Menschen statt Maschinen
beschäftigt haben, nicht verkraftbar sind. Es sind ja nicht
nur die 8,50 Euro pro Stunde pro Arbeitnehmer, es ist ja
auch die Verkürzung des Lohnabstandes zu den Fach-
kräften, die angepasst werden muss, um der höheren
Qualifikation Rechnung zu tragen und den Abstand zu
den unteren Lohngruppen wiederherzustellen. Der allge-
meine Mindestlohn vermindert die Entgeltunterschiede
im Betrieb, wenn etwa eine Spülerin in der Restaurant-
küche genauso viel bekommt, wie eine qualifizierte Ser-
vicekraft im Gastraum. Dieser so entstehende „Fahr-
stuhleffekt“ in den Personalkosten wird die kleinen und
mittleren Unternehmen überfordern, was dort, wo es
möglich ist, zu Betriebsverlagerung ins kostengünstigere
Ausland, zum Wegfall von Arbeitsplätzen oder gar zu
Betriebsaufgaben führen kann. Das bedeutet Abbau von
Einkommen, Wachstum, Wohlstand und Vielfalt in der
nach der Wiedervereinigung mühselig aufgebauten Wirt-
schaftsstruktur, und zwar zugunsten der großen und zu-
lasten der kleinen Unternehmereinheiten. Da helfen auch
kaum die Ausnahmen für Praktikanten, Langzeitarbeits-
lose, Saisonarbeiter oder die zweijährige Übergangszeit,
falls bundesweite Tarifverträge vorliegen, die für allge-
meingültig erklärt wurden.
Dieses Gesetz beinhaltet das, was nicht sein sollte –
einen politischen Mindestlohn. Das zeigt die Ausnahme-
regelung für die Zeitungszusteller, die darüber hinaus
noch prinzipienlos ist. Übergangszeiten bis 2017 sollte
nur bekommen, wer einen oben genannten bundesweiten
Tarifvertrag abgeschlossen hat. Die Zeitungsverlage, üb-
rigens ganz überwiegend mit SPD-Beteiligung in Ihren
Eigentümerstrukturen, sträuben sich aber gegen den Ab-
schluss eines Tarifvertrages – welche Ironie. Zum „Dank“
bekommen sie eine außertarifliche stufenweise Über-
gangslösung geschenkt. Die Begründung, die grundge-
setzlich verbürgte Pressefreiheit müsse durch Zustellung
von Zeitungen, Zeitschriften am Erscheinungstag ge-
schützt werden, ist meines Erachtens fragwürdig. Denn
höherrangig ist das Grundgesetz hinsichtlich der Gleich-
behandlung: Wenn Zeitungsvertriebe ihren Zustellern
die 8,50 Euro erst mit zeitlicher Verzögerung zahlen
müssen und dann auch noch ohne die Vorgabe eines Ta-
rifvertrages, fragen sich Arbeitgeber im Gastgewerbe,
im Handel oder anderen Gewerken, wie beim Floristen
um die Ecke, zu Recht, warum sie das nicht dürfen. Zu-
dem gab es einen Grundkonsens, Übergangsregeln nicht
über das Jahr 2017 hinaus gelten zu lassen und dass eben
nur mit einem Tarifvertrag vom Mindestlohn abgewi-
chen werden kann.
Es hätte mit Sicherheit nicht eines allgemeinen Min-
destlohns bedurft, um im Hochlohnland Deutschland
diejenigen Unternehmen, die auf Kosten ihrer Mitarbei-
ter ihre Profitgier ausleben, einzufangen.
Auch die ostdeutsche Wirtschaft besteht nicht nur aus
Schmutzkonkurrenz mit Hungerlöhnen. Die arbeits-
marktpolitischen Erfolge gingen nur zeitweise einher mit
dem Anstieg des Niedriglohnsektors. Der Trend ist seit
einigen Jahren gestoppt. Die Zahl der Beschäftigten, die
2011/2012 weniger als 8,50 Euro pro Stunde verdienen,
ist um eine halbe Million zurückgegangen. Ursache ist
die Tariflohndynamik, die seit 2008 an Fahrt aufgenom-
men hat und die sich bis dahin noch an der Produktivi-
tätsentwicklung orientiert hat. Der Fachkräftemangel
und die demografische Situation kurbeln die Lohnsteige-
rung zusätzlich an. Viele KMU im Osten leisten für ihre
Mitarbeiter inzwischen auch Sonderzahlungen und ver-
suchen, betriebliche Altersversorgungssysteme aufzu-
bauen, um ihre Mitarbeiter zu halten bzw. Fachkräfte an-
zuwerben. Das alles passiert oftmals in kleinen Schritten
entsprechend der wirtschaftlichen Leistungskraft. Diese
Entwicklung wird durch das Aufdiktieren eines allge-
meinen Mindestlohnes für viele ostdeutsche Unterneh-
men empfindlich gestört, vor allem in den Branchen, in
denen die Lohnsteigerung nicht über höhere Preise auf
Kunden abgewälzt werden kann. Im Übrigen dürfte das
allgemeine Preisniveau ohnehin steigen, ebenso die
Steuerpflicht, sodass der allgemeine Mindestlohn für
viele der erwarteten vier Millionen Mindestlohnempfän-
ger ein Nullsummenspiel werden dürfte.
Grundsätzlich führt ein Mindestlohn – wie jeder Min-
destpreis, der über dem Marktpreis liegt – zu einer gerin-
geren Nachfrage, also weniger Arbeit. So trifft der Min-
destlohn Arbeitsplätze, die bisher aus guten Gründen
geringer entlohnt werden, entweder wegen fehlender
Zahlungsbereitschaft der Kunden oder auch mangelnder
Leistungsfähigkeit der Arbeitnehmer. Einige Beschäf-
tigte werden künftig tatsächlich mehr Lohn erhalten,
wenn Kunden mehr zahlen oder der Arbeitgeber auf Ein-
kommen verzichtet. Dort, wo das nicht geht, wird der
Arbeitsplatz verschwinden. Auch die Ausnahmen für
Langzeitarbeitslose, Saisonkräfte, Erntehelfer, Prakti-
kanten oder Zeitungszusteller oder die vorgesehene Min-
destlohn-Kommission ändern nichts an der grundsätzlich
falschen Richtung einer ausschließlich staatlichen Lohn-
festsetzung. Wir haben unsere Wirtschaft und die unter
Sozialpartnern autonom vereinbarten Mindestlöhne sta-
bilisiert. Wo das nicht gelingt, greift das Arbeitslosen-
geld II als Grundsicherung – kein Mindestlohn, aber ein
Mindesteinkommen.
Viele mögen über die „Aufstocker“ klagen, die Lohn
von Arbeitgeber und Jobcenter erhalten. Daran wird al-
lerdings auch der Mindestlohn nicht viel ändern. Der Zu-
verdienst kann eine Brücke in die Beschäftigung bauen –
ein allgemeiner Mindestlohn bricht Brücken ab und ge-
fährdet Beschäftigung ausgerechnet für die schwächsten
Glieder am Arbeitsmarkt. Nötig sind stattdessen staats-
ferne Lösungen, die sicherstellen, dass Tarifverträge
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2014 4307
(A) (C)
(D)(B)
nicht von Entscheidungen des Gesetzgebers oder einer
Mindestlohn-Kommission verdrängt werden. Entschei-
dungen der Kommission dürfen keine Präjudizien für
künftige Tarifverhandlungen setzen. Das vorliegende
Gesetz schwächt und zerstört gewaltsam regionale Tarif-
strukturen, weshalb es den Namen „Tarifautonomiestär-
kungsgesetz“ nicht verdient.
Schwierig bleibt auch die Regelung für Jugendliche.
Für sie sollte der Mindestlohn nicht schon ab dem
18. Lebensjahr gelten, sondern erst nach abgeschlosse-
ner Berufsausbildung oder einem akademischen Ab-
schluss. Dies wäre notwendig gewesen, damit Jugendli-
che nicht Helferjobs für 8,50 Euro annehmen, statt eine
Berufsausbildung zu absolvieren, und sich späterhin in
den Reihen der Geringqualifizierten mit geringen Chan-
cen am Arbeitsmarkt wiederzufinden.
Mit der vorgesehenen Möglichkeit, Tarifverträge zu-
künftig einfacher für allgemeinverbindlich zu erklären,
wird außerdem die Koalitionsfreiheit, sich zu Tarifge-
meinschaften zusammenzuschließen – positive Koali-
tionsfreiheit – oder eigene Standards zu setzen – negative
Koalitionsfreiheit –, eingeschränkt. Allerdings ist auch
das eine der kritisch zu bewertenden Festlegungen des
Koalitionsvertrages. Zukünftig kann die Bundesarbeits-
ministerin einen Tarifvertrag für allgemeinverbindlich
erklären, wenn ein sogenanntes „öffentliches Interesse“
besteht. Bisher ging das nur, wenn mindestens die Hälfte
der Arbeitnehmer einer Branche in tarifgebundenen Be-
trieben arbeitete. Dadurch wurde verhindert, dass eine
Minderheit einer Mehrheit ihren Tarifwillen aufzwingen
konnte. Das entfällt zukünftig. Die gesetzliche Auswei-
tung von Tariflöhnen dürfte deshalb wiederum vor allem
kleinere bisher nicht tarifgebundene Firmen Ostdeutsch-
lands treffen, die sich zwar meist an einen Tarifvertrag
„anlehnen“, aber beispielsweise bei den Arbeitszeiten ei-
gene Wege gehen. Den kleinen Firmen wird es zukünftig
schwerfallen, ihre Interessen ausreichend durchzusetzen.
Nicht unerwähnt bleiben dürfen bei dem Mindest-
lohngesetz deshalb auch der Erfüllungsaufwand von
9,6 Milliarden Euro und die umfangreichen bürokrati-
schen Dokumentations- und Aufbewahrungspflichten, die
der Wirtschaft auferlegt werden – selbst bei der derzeiti-
gen guten Konjunkturlage muss diese Summe erst ein-
mal erwirtschaftet werden –, ganz zu schweigen von den
steuerlichen Belastungen, die durch den Bürokratie- und
Kontrollaufwand beim Staat zu Buche schlagen. Laut
dem Vorsitzenden der Deutschen Zoll- und Finanzge-
werkschaft, Dieter Dewes, werden mindestens 2 100 Stel-
len erforderlich – 1 600 Stellen hat Bundesfinanzminis-
ter Schäuble bereits zugesagt. Bei Arbeitskosten von
rund 75 000 Euro je Mitarbeiter wären das zusätzliche
Personalkosten von circa 160 Millionen Euro im Jahr.
Schätzungsweise steht die Hälfte der benötigten Zollbe-
amten noch gar nicht auf dem Arbeitsmarkt zur Verfü-
gung, weshalb auch noch Ausbildungskosten in Millio-
nenhöhe dazu kommen dürften.
Dr. Christoph Bergner (CDU/CSU): Ich stehe zum
Koalitionsvertrag und stimme dem Gesetz zur Stärkung
der Tarifautonomie, allerdings nur unter erheblichen Be-
denken, zu. Ich gönne den Beschäftigten, die von der Ein-
führung des flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns
profitieren werden, diesen hart erarbeiteten Lohnzu-
wachs in vollem Maße. Ich sehe jedoch die Gefahr, dass
die Einführung des flächendeckenden gesetzlichen Min-
destlohns zu massiven Arbeitsplatzverlusten in Ost-
deutschland führen könnte, und ich fürchte, dass der Ar-
beitsplatzverlust sehr häufig ältere Arbeitnehmer aus
dem unterem Lohnbereich mit geringen Lohnersatzleis-
tungsansprüchen und schlechten Vermittlungschancen
am Arbeitsmarkt betreffen wird.
Nach Informationen, die mir von sehr vielen ostdeut-
schen Unternehmen zugegangen sind, stehen mit der
Einführung des flächendeckenden gesetzlichen Mindest-
lohns Arbeitsplätze, Wachstum und Wohlstand in weiten
Teilen Ostdeutschlands auf dem Spiel. Nach wie vor
bestehen erhebliche strukturelle ökonomische Unter-
schiede zwischen Ost- und Westdeutschland. Produktion
und Einkommen je Einwohner und je Beschäftigtem
sind in den ostdeutschen Ländern deutlich niedriger. Die
Arbeitslosenquote ist deutlich höher als in den westdeut-
schen Ländern. In Ostdeutschland sind 22,4 Prozent der
abhängig Beschäftigten von der Mindestlohnregelung
betroffen, in Westdeutschland hingegen nur 10,7 Pro-
zent. Es scheint mir nicht ausgeschlossen, dass sich in-
folge der Einführung von Mindestlöhnen auch im über
dem Mindestlohn liegenden Lohnbereich starke Steige-
rungen ergeben könnten, die neben dem Mindestlohn an
sich zu Arbeitsplatzverlusten führen könnten.
Andererseits erkenne ich an, dass einigen Forderun-
gen ostdeutscher CDU-Abgeordneter zur Ausgestaltung
des Mindestlohns in den Verhandlungen Rechnung ge-
tragen wurde, wie zum Beispiel: Eine rechtzeitige Eva-
luation zu den Auswirkungen des Gesetzes auf den deut-
schen Arbeitsmarkt, keine unverhältnismäßige Haftung
aller Arbeitgeber für alle beauftragten Dienstleistungs-
unternehmen und Werkunternehmer sowie deren Subun-
ternehmer, Ausnahme vom Mindestlohn für Praktika
von bis zu drei Monaten und für Langzeitarbeitslose.
Andere unserer Forderungen konnten leider nicht um-
gesetzt werden, wie ich erhofft hatte:
Keine Verdrängung bestehender Tarifverträge – Si-
cherstellung der Weitergeltung auch außerhalb des
Arbeitnehmer-Entsendegesetzes; ich erwartete bei der
Mindestlohnregelung, dass bislang gültige Haustarifver-
träge als Tarifverträge repräsentativer Tarifpartner auf
Branchenebene im Sinne des Koalitionsvertrages aner-
kannt werden und bis zum 31. Dezember 2016 gültig
bleiben. Unsere Forderung nach Altersstaffelung; wir
sollten keinen Fehlanreiz für Jugendliche setzen, denn
die Bereitschaft junger Menschen mit Vermittlungs-
hemmnissen, eine Berufsausbildung aufzunehmen, darf
nicht konterkariert werden, indem der Anreiz geschaffen
wird, ein vermeintlich attraktiveres Arbeitsverhältnis zu
Mindestlohnbedingungen aufzunehmen, daher forderten
wir, dass Arbeitsverhältnisse mit jungen Menschen zu-
mindest bis zur Vollendung ihres 25. Lebensjahres wie
in anderen EU-Ländern nicht vom Mindestlohn erfasst
werden.
4308 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2014
(A) (C)
(D)(B)
Ob die Neuregelung für eine Allgemeinverbindlich-
erklärung von Tarifverträgen ein taugliches Mittel ist,
muss sich in der Praxis noch zeigen.
Hinzu kommt, dass auch das von CDU-Seite in die
Koalitionsverhandlungen hineinverhandelte Morato-
rium, das eine Abweichung und Heranführung an den
gesetzlichen Mindestlohn bis zum 31. Dezember 2016
vorsieht, Bedingungen enthält, die es weitestgehend zur
Makulatur machen. Ferner ist zu bezweifeln, ob dieser
massive staatliche Eingriff in die bisherige Form der
Tarifautonomie tatsächlich langfristig die Tarifautono-
mie stärkt, wie das der Gesetzestitel verheißt. Die ge-
ringe Tarifbindung in Ostdeutschland war historisch
keine Folge von fehlenden Mindestlöhnen, sondern ent-
wickelte sich aus der Sorge um den Erhalt des eigenen
Arbeitsplatzes angesichts von Lohnentwicklungen, die
die Produktivität der Arbeitnehmer überforderte.
Trotz dieser offenen Fragen halte ich das Gesetz für
vertretbar, solange keine negativen Effekte auf dem Ar-
beitsmarkt erkennbar sind. Sollten sich diese aber auf-
grund der Evaluierung des Gesetzes durch die Bundes-
regierung zeigen, erwarte ich sofortiges Handeln.
Klaus Brähmig (CDU/CSU): Ich stehe zum Koali-
tionsvertrag und stimme dem Gesetz zur Stärkung der
Tarifautonomie, allerdings nur unter erheblichen Beden-
ken, zu. Ich gönne den Beschäftigten, die von der Ein-
führung des flächendeckenden gesetzlichen Mindest-
lohns profitieren werden, diesen hart erarbeiteten
Lohnzuwachs in vollem Maße. Ich sehe jedoch die Ge-
fahr dass die Einführung des flächendeckenden gesetzli-
chen Mindestlohns zu massiven Arbeitsplatzverlusten in
Ostdeutschland führen könnte.
Nach Informationen, die mir von sehr vielen ostdeut-
schen Unternehmen zugegangen sind, stehen mit der
Einführung des flächendeckenden gesetzlichen Mindest-
lohns Arbeitsplätze, Wachstum und Wohlstand in weiten
Teilen Ostdeutschlands auf dem Spiel. Nach wie vor be-
stehen erhebliche strukturelle ökonomische Unter-
schiede zwischen Ost- und Westdeutschland. Produktion
und Einkommen je Einwohner und je Beschäftigtem
sind in den ostdeutschen Ländern deutlich niedriger. Die
Arbeitslosenquote ist deutlich höher als in den westdeut-
schen Ländern. In Ostdeutschland sind 22,4 Prozent der
abhängig Beschäftigten von der Mindestlohnregelung
betroffen, in Westdeutschland hingegen nur 10,7 Pro-
zent. Es scheint mir nicht ausgeschlossen, dass sich in-
folge der Einführung von Mindestlöhnen auch im über
dem Mindestlohn liegenden Lohnbereich starke Steige-
rungen ergeben könnten, die neben dem Mindestlohn an
sich zu Arbeitsplatzverlusten führen könnten.
Persönlich bedauere ich es sehr, dass die ostdeutschen
Ministerpräsidenten es verpasst haben, bereits in den
Koalitionsverhandlungen eine Sonderregelung für Ost-
deutschland zu verhandeln. Andererseits erkenne ich an,
dass einigen meiner Forderungen zur Ausgestaltung des
Mindestlohns in den Verhandlungen Rechnung getragen
wurde, wie zum Beispiel: rechtzeitige Evaluation zu den
Auswirkungen des Gesetzes auf den deutschen Arbeits-
markt, keine unverhältnismäßige Haftung aller Arbeitge-
ber für alle beauftragten Dienstleistungsuntemehmen
und Werkuntemehmer sowie deren Subunternehmer,
Ausnahme vom Mindestlohn für Praktika von bis zu drei
Monaten und für Langzeitarbeitslose.
Folgende meiner Forderungen konnten leider nicht
umgesetzt werden: Keine Verdrängung bestehender Ta-
rifverträge – Sicherstellung der Weitergeltung auch au-
ßerhalb des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes; ich erwar-
tete bei der Mindestlohnregelung, dass bislang gültige
Haustarifverträge als Tarifverträge repräsentativer Tarif-
partner auf Branchenebene im Sinne des Koalitionsver-
trages anerkannt werden und bis zum 31. Dezember
2016 gültig bleiben.
Altersstaffelung – Keinen Fehlanreiz für Jugendliche
setzen; ich forderte, dass die Bereitschaft junger Men-
schen mit Vermittlungshemmnissen, eine Berufsausbil-
dung aufzunehmen, nicht konterkariert werden darf, in-
dem der Anreiz geschaffen wird, ein vermeintlich
attraktiveres Arbeitsverhältnis zu Mindestlohnbedingun-
gen aufzunehmen. Daher sollten Arbeitsverhältnisse mit
jungen Menschen zumindest bis zur Vollendung ihres
25. Lebensjahres wie in anderen EU- Ländern nicht vom
Mindestlohn erfasst werden.
Ob die Neuregelung für eine Allgemeinverbindlich-
erklärung von Tarifverträgen ein taugliches Mittel ist,
muss sich in der Praxis noch zeigen.
Hinzu kommt, dass auch das von CDU-Seite in die
Koalitionsverhandlungen hineinverhandelte Morato-
rium, das eine Abweichung und Heranführung an den
gesetzlichen Mindestlohn bis zum 31. Dezember 2016
vorsieht, Bedingungen enthält, die es weitestgehend zur
Makulatur machen. Ferner ist zu bezweifeln, ob dieser
massive staatliche Eingriff in die bisherige Form der Ta-
rifautonomie tatsächlich langfristig die Tarifautonomie
stärkt, wie das der Gesetzestitel verheißt. Die geringe
Tarifbindung in Ostdeutschland war historisch keine
Folge von fehlenden Mindestlöhnen, sondern entwi-
ckelte sich aus der Sorge um den Erhalt des eigenen Ar-
beitsplatzes angesichts von Lohnentwicklungen, die die
Produktivität der Arbeitnehmer überforderten.
Trotz dieser offenen Fragen halte ich das Gesetz für
vertretbar, solange keine negativen Effekte auf dem Ar-
beitsmarkt erkennbar sind. Sollten sich diese aber auf-
grund der Evaluierung des Gesetzes durch die Bundes-
regierung zeigen, erwarte ich sofortiges Handeln, wie es
in der Beratung des Gesetzes nachweisbar vereinbart
wurde.
Dr. Thomas Feist (CDU/CSU): Ich stehe zum Ko-
alitionsvertrag und hätte daher dem Gesetz zur Stärkung
der Tarifautonomie gern zugestimmt. Ich gönne den Be-
schäftigten, die von der Einführung des flächendecken-
den gesetzlichen Mindestlohns profitieren werden, die-
sen hart erarbeiteten Lohnzuwachs in vollem Maße. Ich
sehe dabei jedoch auch die Gefahr, dass die Einführung
des flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns zu
massiven Arbeitsplatzverlusten in Ostdeutschland füh-
ren könnte.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2014 4309
(A) (C)
(D)(B)
Ich hätte das Gesetz für vertretbar gehalten, wenn
durch seine Inkraftsetzung weder negative Effekte auf
dem Arbeitsmarkt noch im Ausbildungssektor zu erwar-
ten wären. Während eventuell negative Effekte auf den
Arbeitsmarkt in der für 2017 vereinbarten Evaluation
korrigiert und behoben werden können, gilt dies für den
Fehlanreiz junger Menschen zur Aufnahme einer unge-
lernten Beschäftigung zulasten einer beruflichen Ausbil-
dung nicht in gleicher Weise.
Die Einführung des Mindestlohns ab 18 Jahren für Ju-
gendliche ohne abgeschlossene Berufsausbildung ist ein
solcher Fehlanreiz, der vor allem Jugendliche, die aus
bildungsunerfahrenen Familien stammen, verleiten wird,
einen Anlernjob anzunehmen, statt eine berufliche Aus-
bildung zu durchlaufen. Zwar verdienen sie zunächst
etwa das Doppelte wie Auszubildende. Auf ein Erwerbs-
leben bezogen bekommen sie allerdings rund ein Drittel
weniger, und ihr Arbeitslosigkeitsrisiko ist um das Vier-
fache erhöht. Der durchschnittliche Ausbildungsanfän-
ger ist knapp 20 Jahre alt. Drei Viertel der Jugendlichen,
die eine Ausbildung beginnen, sind 18 Jahre und älter.
Insgesamt sind schon heute über 300 000 unter 25-Jäh-
rige sozialversicherungspflichtig beschäftigt, die sich
weder in Ausbildung befinden noch über eine abge-
schlossene Ausbildung verfügen. Es kann nicht in unse-
rem Interesse liegen, dass sich diese Zahl erhöht.
Das Gesetz wird durch diese Fehlsteuerung die starke
duale Ausbildungslandschaft in Deutschland über ein er-
trägliches Maß hinaus schwächen, und zwar langfristig
und voraussichtlich irreparabel. Dies ist nicht nur meine
persönliche Meinung, sondern wird ausdrücklich und
einstimmig von den bildungspolitischen Sprechern der
CDU/CSU-Landtagsfraktionen geteilt. Die von mir als
zuständigem Berichterstatter der Fraktion formulierte
Position der AG Bildung, die eine Anhebung der Alters-
grenze für Jugendliche ohne Ausbildung im geplanten
Mindestlohngesetz für unumgänglich hält bzw. fordert,
dass Mindestlohn eine Mindestqualifikation im Sinne
einer beruflichen oder akademischen Ausbildung vo-
raussetzt, wurde am 4. April 2014 in einer gemeinsamen
Sitzung der AG Bildung der CDU/CSU-Bundestagsfrak-
tion mit den bildungspolitischen Sprechern der CDU/
CSU-Landtagsfraktionen in einer gemeinsamen Erklä-
rung verabschiedet. Der Freistaat Sachsen forderte im
Antrag 841. AS / TOP 5 / SN im Deutschen Bundesrat,
die Altersgrenze für Menschen ohne abgeschlossene Be-
rufsausbildung zumindest auf 25 Jahre anzuheben. Mit
dieser Regelung, die einen Kompromiss darstellt, wäre
es mir eher möglich gewesen, dem Gesetz zuzustimmen.
Leider wurde diesem Punkt nicht stattgegeben.
Von vornherein wurde seitens der SPD signalisiert,
dass bei der Verschiebung der Altersgrenze oder der von
mir in die Diskussion eingebrachten Forderung „Min-
destlohn braucht Mindestqualifikation“ keine Ge-
sprächsbereitschaft besteht. Die Bezugnahme des Ge-
setzentwurfs hinsichtlich der Altersgrenze von 18 Jahren
nimmt fälschlicherweise Bezug auf das Jugendarbeits-
schutzgesetz. Diese Begründung ist irreführend, hat
doch dieses Gesetz eine völlig andere Schutzrichtung.
So sollen die dort verankerten Beschäftigungsverbote
Gesundheit und Leben der Jugendlichen bei der Arbeit
schützen. Damit ist aber nichts über das Alter ausgesagt,
das als angemessener Anknüpfungspunkt für eine Len-
kung hin zur Aufnahme einer Ausbildung dienen kann.
Die Festsetzung der Altersgrenze auf 25 Jahre wäre
ein angemessener Kompromiss gewesen, wenn ich auch
weiterhin dazu stehe, dass ein mit dem Mindestlohn ver-
bundenes Anreizsystem für das Erreichen einer abge-
schlossenen Erstausbildung der bessere Weg ist. In der
Begründung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung
wird zur Altersgrenze mit 18 ausgeführt, dass typischer-
weise von jungen Menschen nach Abschluss der Sekun-
darstufe I wichtige Weichen für ihren späteren berufli-
chen Werdegang gestellt werden. Allerdings entspricht
es nicht der Lebenswirklichkeit, für die Typisierung auf
eine Altersgrenze von 18 Jahren abzustellen. 2013 lag
der durchschnittliche Ausbildungsbeginn bereits bei
20,1 Jahren – bei steigender Tendenz. Über die Hälfte
der Auszubildenden war beim erfolgreichen Abschluss
der Ausbildung älter als 22 Jahre. Typischerweise wird
somit die Entscheidung über eine Berufsausbildung ak-
tuell wesentlich später getroffen als mit 18 Jahren.
Auch wenn hinsichtlich der Ausnahmetatbestände für
Praktikanten und Studenten an den Berufsakademien im
vorliegenden Gesetz wesentliche Verbesserungen er-
reicht wurden, die ich durchaus anerkenne, ist hinsicht-
lich der Aufhebung oder zumindest der Verschiebung
der Altersgrenze von 18 Jahren und einer damit einher-
gehenden Vorbeugung gegenüber den genannten Fehl-
anreizen ein für mich zentraler Punkt im Gesetz nicht ge-
ändert worden. Ich kann daher dem Gesetz nicht
zustimmen.
Mark Hauptmann (CDU/CSU): Heute fand im
Deutschen Bundestag die Abstimmung zum Gesetzent-
wurf der Bundesregierung zur Stärkung der Tarifautono-
mie statt. Als Mitglied der Regierungsfraktion stehe ich
zum Koalitionsvertrag, in dem der gesetzlich festge-
schriebene Mindestlohn vereinbart ist, und stimme dem
Gesetz zur Stärkung der Tarifautonomie, allerdings nur
unter erheblichen Bedenken, zu.
Persönlich habe ich für das Modell der Thüringer Mi-
nisterpräsidentin Christine Lieberknecht geworben, mit
dem Politiker bewusst auf eine gesetzliche Festschrei-
bung des Mindestlohns verzichten sollten, um die De-
batte über eine angemessene Höhe allein in die Hände
der Tarifpartner legen zu können. Die Festlegung der
Lohnhöhe durch die Tarifpartner hat sich in den vergan-
genen Jahren für Deutschland bewährt. Die Regelung
zum Mindestlohn hingegen wird ihre Tragfähigkeit in
den nächsten Jahren erst beweisen müssen.
Ich gönne den Beschäftigten, die von der Einführung
des flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns profi-
tieren werden, diesen hart erarbeiteten Lohnzuwachs in
vollem Maße. Ich sehe jedoch die Gefahr, dass die Ein-
führung des flächendeckenden gesetzlichen Mindest-
lohns zu massiven Arbeitsplatzverlusten in Ostdeutsch-
land führen könnte.
Nach Informationen, die mir von sehr vielen Unter-
nehmen zugegangen sind, stehen mit der Einführung des
4310 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2014
(A) (C)
(D)(B)
flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns Arbeits-
plätze, Wachstum und Wohlstand in weiten Teilen
Ostdeutschlands auf dem Spiel. Nach wie vor beste-
hen erhebliche strukturelle ökonomische Unterschiede
zwischen Ost- und Westdeutschland. Produktion und
Einkommen je Einwohner und je Beschäftigten sind in
den ostdeutschen Ländern deutlich niedriger. Die Ar-
beitslosenquote ist deutlich höher als in den westdeut-
schen Ländern. In Ostdeutschland sind 22,4 Prozent der
abhängig Beschäftigten von der Mindestlohnregelung
betroffen, in Westdeutschland hingegen nur 10,7 Pro-
zent. Es scheint mir nicht ausgeschlossen, dass sich in-
folge der Einführung von Mindestlöhnen auch im über
dem Mindestlohn liegenden Lohnbereich starke Steige-
rungen ergeben könnten, die neben dem Mindestlohn an
sich zu Arbeitsplatzverlusten führen könnten.
Andererseits erkenne ich an, dass einigen meiner For-
derungen zur Ausgestaltung des Mindestlohns in den
Verhandlungen Rechnung getragen wurde, wie zum Bei-
spiel: rechtzeitige Evaluation zu den Auswirkungen des
Gesetzes auf den deutschen Arbeitsmarkt, keine unver-
hältnismäßige Haftung aller Arbeitgeber für alle beauf-
tragten Dienstleistungsunternehmen und Werkunterneh-
mer sowie deren Subunternehmer, Ausnahme vom
Mindestlohn für Praktika von bis zu drei Monaten und
für Langzeitarbeitslose.
Folgende meiner Forderungen konnten leider nicht
umgesetzt werden:
Keine Verdrängung bestehender Tarifverträge – Si-
cherstellung der Weitergeltung auch außerhalb des Ar-
beitnehmerentsendegesetzes; ich erwartete bei der Min-
destlohnregelung, dass bislang gültige Haustarifverträge
als Tarifverträge repräsentativer Tarifpartner auf Bran-
chenebene im Sinne des Koalitionsvertrages anerkannt
werden und bis zum 31. Dezember 2016 gültig bleiben.
Altersstaffelung – Keinen Fehlanreiz für Jugendliche
setzen; ich forderte, dass die Bereitschaft junger Men-
schen mit Vermittlungshemmnissen, eine Berufsaus-
bildung aufzunehmen, nicht konterkariert werden darf,
indem der Anreiz geschaffen wird, ein vermeintlich at-
traktiveres Arbeitsverhältnis zu Mindestlohnbedingun-
gen aufzunehmen. Daher sollten Arbeitsverhältnisse mit
jungen Menschen zumindest bis zur Vollendung ihres
25. Lebensjahres wie in anderen EU-Ländern nicht vom
Mindestlohn erfasst werden.
Ob die Neuregelung für eine Allgemeinverbindlich-
erklärung von Tarifverträgen ein taugliches Mittel ist,
muss sich in der Praxis noch zeigen. Hinzu kommt, dass
auch das von CDU-Seite in die Koalitionsverhandlungen
hineinverhandelte Moratorium, das eine Abweichung
und Heranführung an den gesetzlichen Mindestlohn bis
zum 31. Dezember 2016 vorsieht, Bedingungen enthält,
die es weitestgehend zur Makulatur machen. Ferner ist
zu bezweifeln, ob dieser massive staatliche Eingriff in
die bisherige Form der Tarifautonomie tatsächlich
langfristig die Tarifautonomie stärkt, wie das der Ge-
setzestitel verheißt. Die geringe Tarifbindung in Ost-
deutschland war historisch keine Folge von fehlenden
Mindestlöhnen, sondern entwickelte sich aus der Sorge
um den Erhalt des eigenen Arbeitsplatzes angesichts von
Lohnentwicklungen, die die Produktivität der Arbeitneh-
mer überforderte.
Trotz dieser offenen Fragen halte ich das Gesetz für
vertretbar, solange keine negativen Effekte auf dem Ar-
beitsmarkt erkennbar sind. Sollten sich diese aber auf-
grund der Evaluierung des Gesetzes durch die Bundesre-
gierung zeigen, erwarte ich sofortiges Handeln.
Uda Heller (CDU/CSU): Ich stehe zum Koalitions-
vertrag und stimme dem Gesetz zur Stärkung der Tarif-
autonomie, allerdings nur unter erheblichen Bedenken,
zu. Ich gönne den Beschäftigten, die von der Einführung
des flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns profi-
tieren werden, diesen hart erarbeiteten Lohnzuwachs in
vollem Maße. Ich sehe jedoch die Gefahr dass die
Einführung des flächendeckenden gesetzlichen Mindest-
lohns zu massiven Arbeitsplatzverlusten in Ostdeutsch-
land führen könnte.
Nach Informationen, die mir von sehr vielen ostdeut-
schen Unternehmen zugegangen sind, stehen mit der
Einführung des flächendeckenden gesetzlichen Mindest-
lohns Arbeitsplätze, Wachstum und Wohlstand in weiten
Teilen Ostdeutschlands auf dem Spiel. Nach wie vor be-
stehen erhebliche strukturelle ökonomische Unter-
schiede zwischen Ost- und Westdeutschland. Produktion
und Einkommen je Einwohner und je Beschäftigtem
sind in den ostdeutschen Ländern deutlich niedriger. Die
Arbeitslosenquote ist deutlich höher als in den westdeut-
schen Ländern. In Ostdeutschland sind 22,4 Prozent der
abhängig Beschäftigten von der Mindestlohnregelung
betroffen, in Westdeutschland hingegen nur 10,7 Pro-
zent. Es scheint mir nicht ausgeschlossen, dass sich in-
folge der Einführung von Mindestlöhnen auch im über
dem Mindestlohn liegenden Lohnbereich starke Steige-
rungen ergeben könnten, die neben dem Mindestlohn an
sich zu Arbeitsplatzverlusten führen könnten.
Andererseits erkenne ich an, dass einigen meiner
Forderungen zur Ausgestaltung des Mindestlohns in den
Verhandlungen Rechnung getragen wurde, wie zum Bei-
spiel: rechtzeitige Evaluation zu den Auswirkungen des
Gesetzes auf den deutschen Arbeitsmarkt, keine unver-
hältnismäßige Haftung aller Arbeitgeber für alle beauf-
tragten Dienstleistungsunternehmen und Werkunterneh-
mer sowie deren Subunternehmer, Ausnahme vom
Mindestlohn für Praktika von bis zu drei Monaten und
für Langzeitarbeitslose, Anrechnung von Kost und Logis
bei der Mindestlohnvergütung von Saisonarbeitern in
der Landwirtschaft.
Folgende meiner Forderungen konnten leider nicht
umgesetzt werden:
Keine Verdrängung bestehender Tarifverträge – Si-
cherstellung der Weitergeltung auch außerhalb des Ar-
beitnehmer-Entsendegesetzes: Ich erwartete bei der
Mindestlohnregelung, dass bislang gültige Haustarifver-
träge als Tarifverträge repräsentativer Tarifpartner auf
Branchenebene im Sinne des Koalitionsvertrages aner-
kannt werden und bis zum 31. Dezember 2016 gültig
bleiben.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2014 4311
(A) (C)
(D)(B)
Altersstaffelung – Keinen Fehlanreiz für Jugendliche
setzen: Ich forderte, dass die Bereitschaft junger
Menschen, eine Berufsausbildung aufzunehmen, nicht
konterkariert werden darf, indem der Anreiz geschaffen
wird, ein vermeintlich attraktiveres Arbeitsverhältnis zu
Mindestlohnbedingungen aufzunehmen. Ich bin der
Auffassung, dass jeder Jugendliche nach seinem Schul-
abschluss eine qualifizierte Berufsausbildung absolvie-
ren sollte. Das Durchschnittsalter bei Ausbildungsbe-
ginn liegt in Deutschland bei 20,1 Jahren. Daher sollten
Arbeitsverhältnisse mit jungen Menschen zumindest bis
zur Vollendung ihres 25. Lebensjahres wie in anderen
EU-Ländern nicht vom Mindestlohn erfasst werden. Da-
rüber hinaus sollte der Mindestlohn auch an eine Min-
destanforderung wie eine Berufsausbildung geknüpft
werden, um sich von gering qualifizierter Arbeit zu un-
terscheiden und Anreize für eine abgeschlossene Berufs-
ausbildung zu schaffen.
Ob die Neuregelung für eine allgemeinverbindliche
Erklärung von Tarifverträgen ein taugliches Mittel ist,
muss sich in der Praxis noch zeigen.
Hinzu kommt, dass auch das von CDU-Seite in die
Koalitionsverhandlungen hineinverhandelte Morato-
rium, das eine Abweichung und Heranführung an den
gesetzlichen Mindestlohn bis zum 31. Dezember 2016
vorsieht, Bedingungen enthält, die es weitestgehend zur
Makulatur machen. Ferner ist zu bezweifeln, ob dieser
massive staatliche Eingriff in die bisherige Form der
Tarifautonomie tatsächlich langfristig die Tarifautono-
mie stärkt, wie das der Gesetzestitel verheißt. Die ge-
ringe Tarifbindung in Ostdeutschland war historisch
keine Folge von fehlenden Mindestlöhnen, sondern ent-
wickelte sich aus der Sorge um den Erhalt des eigenen
Arbeitsplatzes angesichts von Lohnentwicklungen, die
die Produktivität der Arbeitnehmer überforderten.
Trotz dieser offenen Fragen halte ich das Gesetz für
vertretbar, solange keine negativen Effekte auf dem
Arbeitsmarkt erkennbar sind. Sollten sich diese aber
aufgrund der Evaluierung des Gesetzes durch die Bun-
desregierung zeigen, erwarte ich sofortiges Handeln.
Robert Hochbaum (CDU/CSU): Ich spreche mich
für den Gesetzentwurf zum Mindestlohn aus. Mögliche
Ausnahmen lehne ich jedoch ab, da ich der Überzeugung
bin, dass eine Lohnuntergrenze allen Beschäftigten zu-
gutekommen sollte.
Ausnahmen zu bestimmten Personengruppen wie bei-
spielsweise Praktikanten oder Zustellern führen lediglich
dazu, dass Schlupflöcher – zumindest zeitweise – zur
Umgehung der Regelungen genutzt werden.
Dem Gesetzentwurf stimme ich zu, denn die Einfüh-
rung eines Mindestlohnes war für mich schon immer ein
wichtiges politisches Ziel.
Carsten Körber (CDU/CSU): Ich stehe zum Koali-
tionsvertrag und stimme dem Gesetz zur Stärkung der
Tarifautonomie, allerdings nur unter erheblichen Beden-
ken, zu. Ich gönne den Beschäftigten, die von der Ein-
führung des flächendeckenden gesetzlichen Mindest-
lohns profitieren werden, diesen hart erarbeiteten
Lohnzuwachs in vollem Maße. Ich sehe jedoch die Ge-
fahr, dass die Einführung des flächendeckenden gesetzli-
chen Mindestlohns zu massiven Arbeitsplatzverlusten in
Ostdeutschland führen wird.
Nach Informationen, die mir von sehr vielen ostdeut-
schen Unternehmen zugegangen sind, stehen mit der
Einführung des flächendeckenden gesetzlichen Mindest-
lohns Arbeitsplätze, Wachstum und Wohlstand in weiten
Teilen Ostdeutschlands auf dem Spiel. Nach wie vor be-
stehen erheblich strukturelle ökonomische Unterschiede
zwischen Ost- und Westdeutschland. Produktion und
Einkommen je Einwohner und je Beschäftigten sind in
den ostdeutschen Ländern deutlich niedriger. Die Ar-
beitslosenquote ist deutlich höher als in den westdeut-
schen Ländern. In Ostdeutschland sind 22,4 Prozent der
abhängig Beschäftigten von der Mindestlohnregelung
betroffen, in Westdeutschland hingegen nur 10,7 Pro-
zent. Es scheint mir nicht ausgeschlossen, dass sich in-
folge der Einführung von Mindestlöhnen auch im über
dem Mindestlohn liegenden Lohnbereich starke Steige-
rungen ergeben könnten, die neben dem Mindestlohn an
sich zu Arbeitsplatzverlusten führen könnten.
Andererseits erkenne ich an, dass einigen meiner For-
derungen zur Ausgestaltung des Mindestlohns in den
Verhandlungen Rechnung getragen wurde, wie zum Bei-
spiel: rechtzeitige Evaluation zu den Auswirkungen des
Gesetzes auf den deutschen Arbeitsmarkt, keine unver-
hältnismäßige Haftung aller Arbeitgeber für alle beauf-
tragten Dienstleistungsunternehmen und Werkunterneh-
mer sowie deren Subunternehmer, Ausnahme vom
Mindestlohn für Praktika von bis zu drei Monaten und
für Langzeitarbeitslose.
Folgende meiner Forderungen konnten leider nicht
umgesetzt werden:
Keine Verdrängung bestehender Tarifverträge – Si-
cherstellung der Weitergeltung auch außerhalb des Ar-
beitnehmer-Entsendegesetzes; ich erwartete bei der Min-
destlohnregelung, dass bislang gültige Haustarifverträge
als Tarifverträge repräsentativer Tarifpartner auf Bran-
chenebene im Sinne des Koalitionsvertrages anerkannt
werden und bis zum 31. Dezember 2016 gültig bleiben.
Altersstaffelung – Keinen Fehlanreiz für Jugendliche
setzen; ich forderte, dass die Bereitschaft junger Men-
schen mit Vermittlungshemmnissen, eine Berufsausbil-
dung aufzunehmen, nicht konterkariert werden darf, in-
dem der Anreiz geschaffen wird, ein vermeintlich
attraktiveres Arbeitsverhältnis zu Mindestlohnbedingun-
gen aufzunehmen. Daher sollten Arbeitsverhältnisse mit
jungen Menschen zumindest bis zur Vollendung ihres
25. Lebensjahres wie in anderen EU-Ländern nicht vom
Mindestlohn erfasst werden.
Ob die Neuregelung für eine Allgemeinverbindlich-
keitserklärung von Tarifverträgen ein taugliches Mittel
ist, muss sich in der Praxis noch zeigen.
Hinzu kommt, dass auch das von CDU-Seite in die
Koalitionsverhandlungen hineinverhandelte Morato-
rium, das eine Abweichung und Heranführung an den
gesetzlichen Mindestlohn bis zum 31. Dezember 2016
4312 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2014
(A) (C)
(D)(B)
vorsieht, Bedingungen enthält, die es weitestgehend zur
Makulatur machen. Ferner ist zu bezweifeln, ob dieser
massive staatliche Eingriff in die bisherige Form der Ta-
rifautonomie tatsächlich langfristig die Tarifautonomie
stärkt, wie das der Gesetzestitel verheißt. Die geringe
Tarifbindung in Ostdeutschland war historisch keine
Folge von fehlenden Mindestlöhnen, sondern entwi-
ckelte sich aus der Sorge um den Erhalt des eigenen Ar-
beitsplatzes angesichts von Lohnentwicklungen, die die
Produktivität der Arbeitnehmer überforderten.
Sollten sich jedoch bei der Evaluierung des Gesetzes
durch die Bundesregierung negative Effekte auf den Ar-
beitsmarkt zeigen, erwarte ich sofortiges Handeln.
Katharina Landgraf (CDU/CSU): Dem Tarifauto-
nomiestärkungsgesetz mit dem Gesetz zur Regelung ei-
nes allgemeinen Mindestlohns, MiLoG, gebe ich nicht
meine Zustimmung.
Vorbemerkung:
Es ist aus meiner Sicht unbestritten, dass jeder
Mensch im erwerbsfähigen Alter durch seine Arbeit in
der Lage sein soll, seinen Lebensunterhalt durch einen
auskömmlichen Lohn und durch ein entsprechendes Ge-
halt bei guter Haushaltsführung ohne weitere staatliche
Unterstützung zu sichern. In aller Entschiedenheit lehne
ich die Zahlung von sittenwidrigen Löhnen ab. Die Ent-
lohnung muss dem Grundprinzip der sozialen Markt-
wirtschaft entsprechen, Wohlstand für alle anzustreben.
Das ist eine im höchsten Maße moralische Frage für die
Unternehmerschaft, die sich zu unserem Gesellschafts-
bild bekennt und bekennen sollte. Das trifft ebenso auf
die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu, die durch
Arbeit ihren Beitrag zur Solidargemeinschaft leisten.
Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland
gewährleistet im Artikel 9 Absatz 3 die Freiheit zum ge-
deihlichen Miteinander für die wirtschaftliche Entwick-
lung unseres Landes und verbietet in letzter Konsequenz
die Einflussnahme des Staates in diese Freiheit, mit der
die Tarifautonomie begründet ist. Die Bedeutung dieses
Grundpfeilers unserer freiheitlich-demokratischen Grund-
ordnung ist in den zurückliegenden Jahren vor allem
durch Arbeitgeber und durch ihre Organisationen leider
stark gemindert worden. Eine falsche Interpretation der
Freiwilligkeit zur Tarifpartnerschaft hat den Boden für
die Zahlung von sittenwidrigen Löhnen wesentlich be-
reitet. Wir alle stehen vor der Herausforderung, die per
Grundgesetz gesicherte Tarifautonomie in das Bewusst-
sein der Gesellschaft neu zu implementieren und zu fes-
tigen. Mit staatlichem Zwang dies zu erreichen, ist frag-
würdig und entspricht schlussendlich nicht dem Geist
der sozialen Marktwirtschaft. Ich vertrete jedoch auch
die Auffassung, dass bei extremen und die Gesellschaft
stark beeinträchtigenden Entwicklungen eine entspre-
chende Regelungsverantwortung seitens des Gesetzge-
bers wahrgenommen werden sollte. Entscheidend dabei
ist für mich die Verhältnismäßigkeit des Eingriffes des
Staates in die Freiheiten der Beteiligten und Betroffenen.
Begründung zur Abstimmung:
Das vorliegende „Gesetz zur Stärkung der Tarifauto-
nomie“ ist darauf gerichtet, allen Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmern ungeachtet ihrer Qualifikation
und der zu erbringenden Leistung und ohne Berück-
sichtigung der Wertschöpfung einen Mindestlohn von
8,50 Euro zu sichern. Dieses grundsätzliche Anliegen,
auf diese Weise die Zahlung von sittenwidrigen Löhnen
ein für alle Mal zu verhindern, ist unbestritten. Der per
Gesetz festgelegte Preis einer Arbeitsstunde verletzt al-
lerdings grundlegende ökonomische Gesetze und erin-
nert an die Staatsplanwirtschaft der DDR und an die da-
maligen Versuche der absoluten Gleichmacherei.
Nicht zustimmungsfähig sind für mich der festgelegte
Verfahrensweg und die Tragweite des Gesetzes für die
künftige Ausgestaltung der Tarifautonomie und des ge-
samten Arbeitsrechts und dessen Anwendung bezogen
auf alle Arbeitsverhältnisse.
Das Gesetz weitet die staatliche Einflussnahme auf
das wirtschaftliche Leben in ungebührlicher Weise aus.
Völlig unakzeptabel ist, dass in der Begründung im
Abschnitt „Reform der Allgemeinverbindlichkeitserklä-
rung nach dem Tarifvertragsgesetz“ festgestellt wird,
dass der Allgemeinverbindlichkeitserklärung gegenüber
anderen Tarifverträgen eine „verdrängende Vorrangwir-
kung“ zukomme.
Unklar ist das mehrfach in die gesetzlichen Regelun-
gen eingebrachte Kriterium „wenn es im öffentlichen In-
teresse steht“. Wer diesen subjektiven Faktor jeweils de-
finiert, wird nicht einmal in Ansätzen erwähnt. Ein
solcher Begriff ist dehn- und interpretierbar und schützt
nicht vor willkürlichem Gebrauch.
Die getroffenen Ausnahmeregelungen tragen den tat-
sächlichen Verhältnissen vor allem in der Wirtschaft der
neuen Bundesländer nicht annähernd Rechnung. Die
festgelegten Ausnahmeregelungen beispielsweise für
Erntehelfer sind unzureichend und tragen nicht dazu bei,
dass die betroffenen Unternehmen ihre wirtschaftliche
Existenz sichern können.
Mangelhaft ist die lückenhafte Quantifizierung des
gesamten Aufwandes in der staatlichen Verwaltung und
in der betroffenen Wirtschaft. Das vorliegende Gesetzes-
werk trägt insgesamt nicht zum nachhaltigen Bürokratie-
abbau bei.
Der parlamentarische Beratungsprozess wurde nicht
mit der erforderlichen Solidität bewältigt. Eine Bearbei-
tung des Gesetzentwurfes und der eingebrachten Ände-
rungsanträge konnte meinerseits nicht im gebührenden
Maße erledigt werden, vor allem auch deshalb, weil die
letzten Änderungsanträge erst 24 Stunden vor der 2. und
3. Lesung und Abstimmung in meinem Büro vorlagen.
Eine gründliche Befassung war so nicht möglich.
Dr. Andreas Lenz (CDU/CSU): Die Arbeit aller
Menschen gilt es wertzuschätzen. Dies soll sich auch in
einer dementsprechenden finanziellen Vergütung des je-
weiligen Beschäftigungsverhältnisses zeigen. Die Tarif-
vertragsparteien stehen hierzu in Deutschland in der Ver-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2014 4313
(A) (C)
(D)(B)
antwortung. Dieses Prinzip hat sich in Deutschland
bewährt, deshalb sollte prinzipiell auch daran festgehal-
ten werden. Es gilt die Tarifautonomie dementsprechend
zu stärken. Jeder Mensch in Vollzeitbeschäftigung soll
auch von seiner Arbeit leben können. Besonders im Be-
reich der einfachen Tätigkeiten sind die Tarifvertrags-
parteien oftmals nicht in der Lage, Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer vor unangemessen niedrigen Löhnen
zu schützen. Es ist notwendig, von staatlicher Seite
Sorge zu tragen, dass dieser Schutz vor unangemessen
niedrigen Löhnen auch gewährleistet wird. Dieses Ziel,
das durch das Gesetz zur Stärkung der Tarifautonomie
verfolgt wird, ist zu begrüßen.
Allerdings ist es auch notwendig, dass die oft komple-
xen Lebensrealitäten in einem solchen Gesetz auch dem-
entsprechend abgebildet werden. Es ist deshalb zu be-
grüßen, dass durch das Hinwirken der Unionsfraktion
zahlreiche Ausnahmen in den Gesetzentwurf aufgenom-
men wurden. Diese spiegeln die Lebenswirklichkeiten
im Bereich der Saisonarbeitskräfte und im Bereich der
Praktikaregelungen zumindest teilweise wider.
Die Regelungen hinsichtlich der Praktika für Studie-
rende sind dahingehend bedenklich, dass ein Praktikum
auch zum Erwerb von Erfahrungen, Einblicken und
Kompetenzen dient. Die Erwerbstätigkeit steht hier nicht
zwangsläufig im Vordergrund. Dies sollte dementspre-
chend in der gesetzlichen Regelung berücksichtigt wer-
den. Die Ausnahmeregelungen für Pflichtpraktika mit
einer Begrenzung auf drei Monate sind dementspre-
chend zu gering. Gerade im Bereich der geisteswissen-
schaftlichen Studiengänge wird dies dazu führen, dass
Einblicke in die Praxis weniger häufig wahrgenommen
werden können. Hinzu kommt, dass die Notwendigkeit,
Pflichtpraktika in den Studienordnungen der Hochschu-
len zu verankern, zu weniger Flexibilität und tendenziell
zu längeren Studienzeiten führen kann.
Ebenso ist die Altersgrenze von 18 Jahren zu niedrig
angesetzt, um gerade für junge Menschen einen Anreiz
zu setzen, eine Ausbildung einer Hilfsarbeitertätigkeit
vorzuziehen.
Ich halte es für bedenklich, dass durch die Überprü-
fung der neuen Regelungen im Mindestlohnbereich zu-
sätzlich 1 600 Mitarbeiter bei der Zollverwaltung einge-
stellt werden sollen. Das entspricht einer zusätzlichen
Belastung von circa 80 Millionen Euro.
Es muss bei der Umsetzung dieses Vorhabens darauf
geachtet werden, dass Unternehmer nicht in General-
verdacht gestellt werden und sich der Erfüllungsaufwand
in Grenzen hält.
Auch im Bereich der Saisonarbeitskräfte wurden
durch die Haftungsneuregelung, durch die Höchstaufent-
haltsdauer in Höhe von 70 Tagen und die Abzugsfähig-
keit von Verpflegung und Unterbringung richtig Akzente
gesetzt. Im Bereich der Saisonarbeitskräfte ist der Tat-
bestand, Menschen vor unangemessen niedrigen Löhnen
schützen zu müssen, jedoch nicht in der Art gegeben wie
für Inländer. Die Löhne, die während der Zeit der
Saisonarbeit in Deutschland bezahlt werden, sind ent-
sprechend im Herkunftsland auch wesentlich mehr wert,
die Kaufkraft, die durch die Erwerbstätigkeit entsteht, im
Herkunftsland entsprechend höher.
Dr. Carsten Linnemann (CDU/CSU): Der flächen-
deckende Mindestlohn mit einer politisch gesetzten Ein-
stiegshöhe stellt einen erheblichen staatlichen Eingriff in
die Ökonomie des Arbeitsmarktes dar. Insbesondere die
Tatsache, dass der erste Mindestlohn vom Parlament und
nicht von den Tarifpartnern festgelegt wird, kommt
einem Systembruch gleich. Es ist offenkundig, dass eine
Lohnuntergrenze, die von den Tarifpartnern ausgehan-
delt wird und regionale sowie branchenspezifische Un-
terschiede aufgreift, die Wettbewerbsfähigkeit Deutsch-
lands weniger stark herausgefordert hätte.
Insofern begrüße ich ausdrücklich die im parlamenta-
rischen Verfahren eingebrachten Veränderungen. Insbe-
sondere die ausgehandelte Stärkung der Mindestlohn-
kommission durch eine laufende Evaluation der
Beschäftigungswirkungen auf bestimmte Branchen und
Regionen ist ein wichtiger Schritt, um dem Namen des
Gesetzes – Tarifautonomiestärkungsgesetz – wenigstens
ansatzweise gerecht zu werden. Neben den nachträglich
erreichten Verbesserungen in den Bereichen Bürokratie-
und Erfüllungsaufwand für den Mittelstand in Deutsch-
land ist dies einer der wesentlichen Punkte, die mir heute
eine Zustimmung trotz weiterer Bedenken zum Gesetz
möglich machen.
Yvonne Magwas (CDU/CSU): Ich stimme dem Ge-
setz zur Stärkung der Tarifautonomie und damit dem
Mindestlohn zu, denn für mich gilt der Grundsatz „Gutes
Geld für gute Arbeit“. Ich sehe jedoch die Gefahr, dass
einige wenige Branchen, wie zum Beispiel die Textil-
und Bekleidungsindustrie sowie einige Bereiche des
Handels, den Mindestlohn von 8,50 Euro aufgrund der
Weltmarktsituation und der besonderen Situation vor Ort
nicht zahlen können.
Nach Informationen, die mir von sehr vielen Unter-
nehmen aus meiner Heimat, dem Vogtland, zugegangen
sind, stehen mit der Einführung des flächendeckenden
gesetzlichen Mindestlohns Arbeitsplätze auf dem Spiel,
da sich die betroffenen Unternehmen hauptsächlich in
direkter Konkurrenz zu asiatischen Herstellern behaup-
ten müssen. Die noch in Deutschland produzierenden
Textil- und Bekleidungsunternehmen und bestimmte Be-
reiche des Handels geben oftmals gerade den Menschen
Arbeit, die aufgrund ihres Alters oder ihres Wohnortes
keine andere Beschäftigung finden. Dazu kommt, dass in
einigen Fällen selbst die Inhaber ein Einkommen unter-
halb der Mindestlohngrenze erzielen.
Ich erwartete, dass für diese oft über Generationen
hinweg familiengeführten Unternehmen in struktur-
schwachen Regionen der Übergang zum Mindestlohn im
Zeitraum vom 1. Januar 2015 bis zum 31. Dezember
2016 abgefedert wird. Dafür sollte die auf den genannten
Zeitraum befristete Ausnahmeregelung der Beschäftig-
ten, die unter das Arbeitnehmer-Entsendegesetz fallen,
auch auf die Textil- und Bekleidungsindustrie und be-
stimmte Bereiche des Handels Anwendung finden. Die-
ses Vorgehen gäbe den Unternehmen die Chance, den
4314 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2014
(A) (C)
(D)(B)
Mindestlohn wenigstens schrittweise bis zum 1. Januar
2017 einzuführen und in der gewonnen Zeit die Unter-
nehmen neu aufzustellen.
Bei grundsätzlicher Zustimmung zum Mindestlohn
scheint es mir nicht ausgeschlossen, dass das Gesetz in
der vorliegenden Form zu Betriebsschließungen führt
und weitere negativen Auswirkungen für die Menschen
gerade in ländlichen Räumen wie meiner vogtländischen
Heimat verursacht.
Maria Michalk (CDU/CSU): Der Koalitionsvertrag
als Handlungsgrundlage für die politische Arbeit in die-
ser Wahlperiode ist für mich bindend. Gleichwohl habe
ich Sorge, dass der flächendeckende Mindestlohn vor al-
lem in Ostdeutschland Arbeitsplätze gefährdet.
Grundsätzlich will auch ich Rahmenbedingungen, die
Beschäftigten auskömmliche Löhne für ihre Arbeit si-
chern. Die Praxis mancher Unternehmen, von vornhe-
rein mit Lohnkostenzuschüssen und Aufstockerleistun-
gen zu rechnen, ist gerade in Zeiten eines drohenden
Fachkräftemangels nicht länger hinnehmbar.
Ich werde dem Tarifautonomiestärkungsgesetz zu-
stimmen. Meine Bedenken habe ich an vielen Stellen der
parlamentarischen Arbeit angemerkt. So sind im Ver-
gleich zum Gesetzentwurf jetzt erhebliche Klarstellun-
gen erreicht worden.
Mir ist wichtig, dass die staatliche Festlegung des
Mindestlohns nur einmal am Anfang mit diesem Gesetz
geschieht und dann die neu einzusetzende Kommission
die Tarifautonomie der Arbeitgeber- und Arbeitnehmer-
vertretung entsprechend den wirtschaftlichen Erforder-
nissen in unserem Land vollzieht. Die geringe Tarifbin-
dung in Ostdeutschland ist historisch keine Folge von
fehlenden Mindestlöhnen, sondern entwickelte sich aus
Sorge um den Erhalt der Arbeitsplätze. Das muss be-
rücksichtigt werden. Deshalb ist die Evaluation von An-
fang an wichtig, um im Gesetz mögliche Korrekturen
einzuleiten.
Dietrich Monstadt (CDU/CSU): Ich stimme dem
Gesetz zur Stärkung der Tarifautonomie, allerdings nur
unter erheblichen Bedenken, zu. Ich begrüße sehr, dass
viele Beschäftigte von der Einführung des flächende-
ckenden gesetzlichen Mindestlohns profitieren werden.
Sie haben diesen hart erarbeiteten Lohnzuwachs in vol-
lem Maße verdient. Ich sehe jedoch die Gefahr, dass die
Einführung des flächendeckenden gesetzlichen Mindest-
lohns zu massiven Arbeitsplatzverlusten in Ostdeutsch-
land führen könnte.
Nach Informationen, die mir von sehr vielen ostdeut-
schen Unternehmen zugegangen sind, stehen mit der
Einführung des flächendeckenden gesetzlichen Mindest-
lohns Arbeitsplätze, Wachstum und Wohlstand in weiten
Teilen Ostdeutschlands auf dem Spiel. Nach wie vor be-
stehen erhebliche strukturelle ökonomische Unter-
schiede zwischen Ost- und Westdeutschland. Produktion
und Einkommen je Einwohner und je Beschäftigtem
sind in den ostdeutschen Ländern deutlich niedriger. Die
Arbeitslosenquote ist deutlich höher als in den westdeut-
schen Ländern. In Ostdeutschland sind 22,4 Prozent der
abhängig Beschäftigten von der Mindestlohnregelung
betroffen, in Westdeutschland hingegen nur 10,7 Pro-
zent. Es scheint mir nicht ausgeschlossen, dass sich in-
folge der Einführung von Mindestlöhnen auch im über
dem Mindestlohn liegenden Lohnbereich starke Steige-
rungen ergeben könnten, die neben dem Mindestlohn an
sich zu Arbeitsplatzverlusten führen könnten.
Andererseits erkenne ich an, dass einigen meiner For-
derungen zur Ausgestaltung des Mindestlohns in den
Verhandlungen Rechnung getragen wurde, wie zum Bei-
spiel: rechtzeitige Evaluation zu den Auswirkungen des
Gesetzes auf den deutschen Arbeitsmarkt, keine unver-
hältnismäßige Haftung aller Arbeitgeber für alle beauf-
tragten Dienstleistungsunternehmen und Werkunter-
nehmer sowie deren Subunternehmer, Ausnahme vom
Mindestlohn für Praktika von bis zu drei Monaten und
für Langzeitarbeitslose, Erhalt der Möglichkeit zur Ver-
einbarung von Arbeitszeitkonten.
Folgende meiner Forderungen konnten leider nicht
umgesetzt werden:
Keine Verdrängung bestehender Tarifverträge – Si-
cherstellung der Weitergeltung auch außerhalb des Ar-
beitnehmer-Entsendegesetzes; ich erwartete bei der Min-
destlohnregelung, dass bislang gültige Haustarifverträge
als Tarifverträge repräsentativer Tarifpartner auf Bran-
chenebene im Sinne des Koalitionsvertrages anerkannt
werden und bis zum 31. Dezember 2016 gültig bleiben.
Altersstaffelung – Keinen Fehlanreiz für Jugendliche
setzen; ich forderte, dass die Bereitschaft junger Men-
schen mit Vermittlungshemmnissen, eine Berufsausbil-
dung aufzunehmen, nicht konterkariert werden darf, in-
dem der Anreiz geschaffen wird, ein vermeintlich
attraktiveres Arbeitsverhältnis zu Mindestlohnbedingun-
gen aufzunehmen. Daher sollten Arbeitsverhältnisse mit
jungen Menschen zumindest bis zur Vollendung ihres
25. Lebensjahres wie in anderen EU-Ländern nicht vom
Mindestlohn erfasst werden.
Keine gesetzliche Klarstellung bei Stücklohnverein-
barungen; ich forderte eine gesetzliche Klarstellung,
dass Stücklohnkostenvereinbarungen weiter in den Fäl-
len möglich sind, in denen der am Monatsende ausge-
zahlte Lohn bei einer „Normalleistung“ des Arbeitneh-
mers den gesetzlich vorgegebenen Mindestlohn erreicht;
die Nicht-Klarstellung dieses Sachverhaltes kann zu
Fehlanreizen führen, die im Gegensatz zum Grundsatz
einer leistungsorientierten Vergütung stehen.
Keine Einschränkung der Dokumentationspflichten;
ich forderte die Einschränkung der im Gesetzentwurf
enthaltenen umfassenden Dokumentationspflichten, die
unnötige Bürokratie verursachen würden. Darunter lei-
den kleine und mittelständische Unternehmen beson-
ders, insbesondere, weil die Dokumentationspflichten
nicht nur den Mindestlohn, sondern alle Lohngruppen
umfassen. Gleiches gilt für die umfassenden Aufzeich-
nungspflichten für geringfügig Beschäftigte.
Ob die Neuregelung für eine Allgemeinverbindlicher-
klärung von Tarifverträgen ein taugliches Mittel ist,
muss sich in der Praxis noch zeigen.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2014 4315
(A) (C)
(D)(B)
Hinzu kommt, dass auch das von CDU-Seite in die
Koalitionsverhandlungen hineinverhandelte Moratorium,
das eine Abweichung und Heranführung an den gesetzli-
chen Mindestlohn bis zum 31. Dezember 2016 vorsieht,
Bedingungen enthält, die es weitestgehend zur Makula-
tur machen. Ferner ist zu bezweifeln, ob dieser massive
staatliche Eingriff in die bisherige Form der Tarifautono-
mie tatsächlich langfristig die Tarifautonomie stärkt, wie
das der Gesetzestitel verheißt. Die geringe Tarifbindung
in Ostdeutschland war historisch keine Folge von fehlen-
den Mindestlöhnen, sondern entwickelte sich aus der
Sorge um den Erhalt des eigenen Arbeitsplatzes ange-
sichts von Lohnentwicklungen, die die Produktivität der
Arbeitnehmer überforderten.
Trotz dieser offenen Fragen halte ich das Gesetz für
vertretbar, solange keine negativen Effekte auf dem Ar-
beitsmarkt erkennbar sind. Sollten sich diese aber auf-
grund der Evaluierung des Gesetzes durch die Bundes-
regierung zeigen, erwarte ich sofortiges Handeln.
Martin Patzelt (CDU/CSU): Ich stehe zum Koali-
tionsvertrag und stimme dem Gesetz zur Stärkung der
Tarifautonomie, allerdings nur unter erheblichen Beden-
ken, zu. Ich gönne den Beschäftigten, die von der Ein-
führung des flächendeckenden gesetzlichen Mindest-
lohns profitieren werden, diesen hart erarbeiteten
Lohnzuwachs in vollem Maße. Ich sehe jedoch die Ge-
fahr, dass die Einführung des flächendeckenden gesetzli-
chen Mindestlohns zu massiven Arbeitsplatzverlusten in
Ostdeutschland führen könnte.
Nach Informationen, die mir von sehr vielen ostdeut-
schen Unternehmen zugegangen sind, stehen mit der
Einführung des flächendeckenden gesetzlichen Mindest-
lohns Arbeitsplätze, Wachstum und Wohlstand in weiten
Teilen Ostdeutschlands auf dem Spiel. Nach wie vor be-
stehen erhebliche strukturelle ökonomische Unter-
schiede zwischen Ost- und Westdeutschland. Produktion
und Einkommen je Einwohner und je Beschäftigtem
sind in den ostdeutschen Ländern deutlich niedriger. Die
Arbeitslosenquote ist deutlich höher als in den westdeut-
schen Ländern. In Ostdeutschland sind 22,4 Prozent der
abhängig Beschäftigten von der Mindestlohnregelung
betroffen, in Westdeutschland hingegen nur 10,7 Pro-
zent. Es scheint mir nicht ausgeschlossen, dass sich in-
folge der Einführung von Mindestlöhnen auch im über
dem Mindestlohn liegenden Lohnbereich starke Steige-
rungen ergeben könnten, die neben dem Mindestlohn an
sich zu Arbeitsplatzverlusten führen könnten.
Dennoch bin ich zufrieden, dass einigen unserer For-
derungen zur Ausgestaltung des Mindestlohns in den
Verhandlungen Rechnung getragen wurde, wie zum Bei-
spiel: rechtzeitige Evaluation zu den Auswirkungen des
Gesetzes auf den deutschen Arbeitsmarkt, keine unver-
hältnismäßige Haftung aller Arbeitgeber für alle beauf-
tragten Dienstleistungsunternehmen und Werkunter-
nehmer sowie deren Subunternehmer, Ausnahme vom
Mindestlohn für Praktika von bis zu drei Monaten und
für Langzeitarbeitslose.
Folgende unserer Forderungen konnten leider nicht
umgesetzt werden:
Keine Verdrängung bestehender Tarifverträge – Si-
cherstellung der Weitergeltung auch außerhalb des Ar-
beitnehmer-Entsendegesetzes; wir erwarteten bei der
Mindestlohnregelung, dass bislang gültige Haustarifver-
träge als Tarifverträge repräsentativer Tarifpartner auf
Branchenebene im Sinne des Koalitionsvertrages aner-
kannt werden und bis zum 31. Dezember 2016 gültig
bleiben.
Altersstaffelung – Keinen Fehlanreiz für Jugendliche
setzen; die Bereitschaft junger Menschen mit Vermitt-
lungshemmnissen, eine Berufsausbildung aufzunehmen,
darf nicht konterkariert werden, indem der Anreiz ge-
schaffen wird, ein vermeintlich attraktiveres Arbeitsver-
hältnis zu Mindestlohnbedingungen aufzunehmen; daher
sollten Arbeitsverhältnisse mit jungen Menschen zumin-
dest bis zur Vollendung ihres 25. Lebensjahres wie in an-
deren EU-Ländern nicht vom Mindestlohn erfasst wer-
den.
Ob die Neuregelung für eine Allgemeinverbindlich-
erklärung von Tarifverträgen ein taugliches Mittel ist,
muss sich in der Praxis noch zeigen.
Hinzu kommt, dass auch das von unserer Seite in den
Koalitionsverhandlungen hineinverhandelte Morato-
rium, das eine Abweichung und Heranführung an den
gesetzlichen Mindestlohn bis zum 31. Dezember 2016
vorsieht, Bedingungen enthält, die es weitestgehend zur
Makulatur machen. Ferner ist zu bezweifeln, ob dieser
massive staatliche Eingriff in die bisherige Form der Ta-
rifautonomie tatsächlich langfristig die Tarifautonomie
stärkt, wie das der Gesetzestitel verheißt. Die geringe
Tarifbindung in Ostdeutschland war historisch keine
Folge von fehlenden Mindestlöhnen, sondern entwi-
ckelte sich aus der Sorge um den Erhalt des eigenen Ar-
beitsplatzes angesichts von Lohnentwicklungen, die die
Produktivität der Arbeitnehmer überforderten.
Trotz dieser offenen Fragen halte ich das Gesetz für
vertretbar, solange keine negativen Effekte auf dem Ar-
beitsmarkt erkennbar sind. Sollten sich diese aber auf-
grund der Evaluierung des Gesetzes durch die Bundes-
regierung zeigen, erwarte ich sofortiges Handeln.
Jana Schimke (CDU/CSU): Als Abgeordnete aus
den neuen Bundesländern stehen die Schaffung und
Sicherung von Arbeitsplätzen sowie gute Löhne und
Gehälter im Mittelpunkt meiner Arbeit. Doch was aus-
gegeben wird, muss auch erwirtschaftet werden. Wir
wissen, dass der Osten über eine unterschiedliche Bran-
chen- und Lohnstruktur verfügt, die das, was politisch
wünschenswert ist, nicht immer leisten kann. So ent-
spricht der Mindestlohn in den alten Ländern rund
54 Prozent des Medianlohns, was auch im internationa-
len Vergleich ein üblicher Wert ist. In den neuen Ländern
hingegen beträgt er 71 Prozent des Medianlohns. Schon
heute ist damit absehbar, dass ein flächendeckender
Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde ab dem 1. Januar
2015 im Osten Arbeitsplätze kosten wird.
Die britischen Erfahrungen bei der Einführung des
Mindestlohns haben mich nochmals darin bestärkt, dass
das deutsche Mindestlohngesetz über drei entscheidende
Konstruktionsfehler verfügt: Zunächst galt bei der Ein-
4316 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2014
(A) (C)
(D)(B)
führung des Mindestlohns in England die Prämisse, dass
keine Arbeitsplätze verloren gehen. Diese Bedingung
zog sich durch alle Entscheidungen, die den Mindest-
lohn in England betrafen. In Deutschland hingegen wird
der Verlust von Arbeitsplätzen jedoch in Kauf genom-
men, sollten Unternehmen die steigenden Kosten nicht
schultern können. Das ist nicht mein Verständnis einer
vernünftigen und weitsichtigen Politik. Weiterhin wurde
bereits der erstmalige Mindestlohn in England durch die
Low Pay Commission auf einem zunächst niedrigen
Niveau festgelegt und damit behutsam eingeführt. In
Deutschland hingegen wurde der Mindestlohn politisch
festgelegt und damit ohne Berücksichtigung regionaler
und gesamtwirtschaftlicher Bedingungen. Schließlich
verfügen in der Low Pay Commission Arbeitgeber,
Arbeitnehmer und die Wissenschaft über gleiches
Stimmrecht. Beschlüsse werden einstimmig gefasst. Die
Wissenschaft als objektive Kontrollinstanz fehlt leider in
unserer Mindestlohnkommission.
Mein Anspruch ist es, dass sich die Vielfalt unserer
Wirtschaft zugunsten von Beschäftigung und zum Wohl
der Menschen auch in Gesetzen abbildet. Dies kann ich
beim vorliegenden Gesetzentwurf nicht erkennen. Nach
gründlicher Abwägung bin ich deshalb zu dem Ent-
schluss gekommen, dem vorliegenden Gesetzentwurf
nicht zuzustimmen.
Tankred Schipanski (CDU/CSU): Ich stehe zum
Koalitionsvertrag und stimme dem Gesetz zur Stärkung
der Tarifautonomie, allerdings nur unter Bedenken, zu.
Das grundsätzliche Ziel, dass jemand, der Vollzeit arbei-
tet, damit auch ein Einkommen erwirtschaften können
sollte, das über dem Niveau der Grundsicherung liegt, ist
richtig. Dies ist letztlich auch eine Frage der Leistungs-
gerechtigkeit. Der gefundene Kompromiss führt gleich-
wohl teilweise zu problematischen Effekten. Meine dies-
bezüglichen Bedenken möchte ich hiermit niederlegen.
Insbesondere sehe ich die Gefahr, dass die Einfüh-
rung des flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns
zu Arbeitsplatzverlusten in Ostdeutschland führen
könnte. Nach Informationen, die mir von vielen ostdeut-
schen Unternehmen zugegangen sind, stehen mit der
Einführung des flächendeckenden gesetzlichen Mindest-
lohns Arbeitsplätze, Wachstum und Wohlstand in weiten
Teilen Ostdeutschlands auf dem Spiel. Nach wie vor be-
stehen strukturelle ökonomische Unterschiede zwischen
Ost- und Westdeutschland. Produktion und Einkommen
je Einwohner und je Beschäftigten sind in den ostdeut-
schen Ländern deutlich niedriger, und die Arbeitslosen-
quote ist höher als in den westdeutschen Ländern. In
Ostdeutschland sind 22,4 Prozent der abhängig Beschäf-
tigten von der Mindestlohnregelung betroffen, in West-
deutschland hingegen nur 10,7 Prozent. Es scheint mir
nicht ausgeschlossen, dass sich infolge der Einführung
von Mindestlöhnen auch im über dem Mindestlohn lie-
genden Lohnbereich starke Steigerungen ergeben könn-
ten, die neben dem Mindestlohn an sich zu Arbeitsplatz-
verlusten führen könnten.
Andererseits erkenne ich an, dass einigen meiner For-
derungen zur Ausgestaltung des Mindestlohns in den
Verhandlungen Rechnung getragen wurde, wie zum Bei-
spiel: rechtzeitige Evaluation zu den Auswirkungen des
Gesetzes auf den deutschen Arbeitsmarkt, keine unver-
hältnismäßige Haftung aller Arbeitgeber für alle beauf-
tragten Dienstleistungsunternehmen und Werkunterneh-
mer sowie deren Subunternehmer, Ausnahme vom
Mindestlohn für Praktika von bis zu drei Monaten und
für Langzeitarbeitslose.
Folgende meiner Forderungen konnten leider nicht
umgesetzt werden:
Keine Verdrängung bestehender Tarifverträgesicher-
stellung der Weitergeltung auch außerhalb des Arbeit-
nehmer-Entsendegesetzes: Ich erwarte bei der Mindest-
lohnregelung, dass bislang gültige Haustarifverträge als
Tarifverträge repräsentativer Tarifpartner auf Branchen-
ebene im Sinne des Koalitionsvertrages anerkannt wer-
den und bis zum 31. Dezember 2016 gültig bleiben.
Altersstaffelung – keinen Fehlanreiz für Jugendliche
setzen: Ich forderte, dass die Bereitschaft junger Men-
schen mit Vermittlungshemmnissen, eine Berufsausbil-
dung aufzunehmen, nicht konterkariert werden darf, in-
dem der Anreiz geschaffen wird, ein vermeintlich
attraktiveres Arbeitsverhältnis zu Mindestlohnbedingun-
gen aufzunehmen. Daher sollten Arbeitsverhältnisse mit
jungen Menschen zumindest bis zur Vollendung ihres
25. Lebensjahres oder bis zum Abschluss einer Berufs-
qualifikation wie in anderen EU-Ländern nicht vom
Mindestlohn erfasst werden.
Ob die Neuregelung für eine Allgemeinverbindlich-
erklärung von Tarifverträgen ein taugliches Mittel ist,
muss sich in der Praxis noch zeigen.
Hinzu kommt, dass auch das von CDU-Seite in die
Koalitionsverhandlungen hineinverhandelte Morato-
rium, das eine Abweichung und Heranführung an den
gesetzlichen Mindestlohn bis zum 31. Dezember 2016
vorsieht, Bedingungen enthält, die es weitestgehend zur
Makulatur machen. Ferner ist zu bezweifeln, ob dieser
massive staatliche Eingriff in die bisherige Form der
Tarifautonomie tatsächlich langfristig die Tarifautono-
mie stärkt, wie das der Gesetzestitel verheißt. Die ge-
ringe Tarifbindung in Ostdeutschland war historisch
keine Folge von fehlenden Mindestlöhnen, sondern ent-
wickelte sich aus der Sorge um den Erhalt des eigenen
Arbeitsplatzes angesichts von Lohnentwicklungen, die
die Produktivität der Arbeitnehmer überforderte.
Trotz dieser offenen Fragen halte ich das Gesetz für
vertretbar, solange keine negativen Effekte auf dem
Arbeitsmarkt erkennbar sind. Sollten sich diese aber auf-
grund der Evaluierung des Gesetzes durch die Bundesre-
gierung zeigen, erwarte ich sofortiges Handeln.
Christel Voßbeck-Kayser (CDU/CSU): Dem von
der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf eines
„Gesetzes zur Stärkung der Tarifautonomie“ auf Bun-
destagsdrucksache 18/1558, über den am Donnerstag,
dem 3. Juli 2014 abgestimmt werden wird, stimme ich
zu, möchte aber Folgendes dazu erklären:
Ich bedaure, dass mit dem vorliegenden Gesetzent-
wurf ein tiefer Eingriff in eine seit Jahrzehnten gut funk-
tionierende Tarifpartnerschaft zwischen Arbeitgebern
und Gewerkschaften stattfindet. Meine Bedenken gelten
den zu erwartenden Auswirkungen des Gesetzes und
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2014 4317
(A) (C)
(D)(B)
wurden in zahlreichen Gesprächen in meinem Wahlkreis
von Unternehmern und Beschäftigten der unterschied-
lichsten Branchen geteilt.
Innerhalb der Koalition sind wir uns dessen bewusst,
dass die Tarifautonomie ein sehr hohes Gut und eines der
Kernelemente der sozialen Marktwirtschaft ist. Mit der
Festsetzung des Mindestlohns durch eine Mindestlohn-
kommission werden die wichtigen Vereinbarungen zwi-
schen den Tarifpartnern, die branchen- und regionalspe-
zifische Löhne zum Ergebnis hatten, konterkariert und
finden nicht mehr statt. Gerade diese Vereinbarungen
hatten für uns aber erhebliche positive Auswirkungen in
der Bewältigung der Wirtschaftskrise 2008/2009.
Mit der Verabschiedung dieses Gesetzes findet eine
„Operation am offenen Herzen“ der Sozialen Marktwirt-
schaft statt, die mich sehr nachdenklich stimmt. Ich
hoffe, dass die Mindestlohnkommission negative Ent-
wicklungen und Wettbewerbsverzerrungen erkennt und
diesen mit energischen Nachbesserungen des Gesetzes
entgegenwirkt.
Auch die geringe Anzahl von Personen, die die Min-
destlohnkommission bilden, beunruhigt mich. Denn die
Befugnisse dieser Personen sind erheblich.
Die Befürchtungen eines Teiles der CDU/CSU-Bun-
destagsfraktion für die vom Mindestlohn betroffenen Ar-
beitnehmer bleiben aus meiner Sicht weiterhin bestehen.
Michael Groß (SPD): Die Verabschiedung des Ge-
setzes zur Stärkung der Tarifautonomie ist ein großer
Schritt für mehr Gerechtigkeit am Arbeitsmarkt. Nach
einem langen Weg werden sozialdemokratische Grund-
sätze umgesetzt. Für viele Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmer wird mehr Einkommensgerechtigkeit herge-
stellt und der Wert der Arbeit besser vergütet. Auch eine
Gerechtigkeitslücke zwischen Ost und West ist damit ge-
schlossen. Ab dem 1. Januar wird mit der Umsetzung
des vorliegenden Gesetzes und der Einführung des Min-
destlohnes für etwa 3,7 Millionen Menschen das Nied-
riglohnzeitalter beendet.
Ich halte einen flächendeckenden gesetzlichen Min-
destlohn für den richtigen Weg. Dies trifft auch für unter
18-Jährige zu, genau wie für Langzeitarbeitslose. Bei der
Einführung des flächendeckenden gesetzlichen Mindest-
lohns in Höhe von 8,50 Euro je Stunde müssen aus-
nahmslos alle profitieren.
Ausnahmen wirken meiner Meinung nach diskrimi-
nierend und bergen die Gefahr neuer Geschäftsmodelle
im Niedriglohnsektor. Ausnahmen vom Mindestlohn wi-
dersprechen der Intention und dem Ziel des Mindest-
lohns selbst.
In der Abwägung der Argumente und politischen
Durchsetzungsfähigkeit werde ich dem von der Bundes-
regierung vorgelegten Gesetzentwurf zustimmen.
Anlage 7
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Inge Höger und Ulla Jelpke
(beide DIE LINKE) zur namentlichen Abstim-
mung über den von der Bundesregierung einge-
brachten Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung
der Tarifautonomie (Tarifautonomiestärkungs-
gesetz) (Tagesordnungspunkt 4 a)
Echter Mindestlohn statt schwarz-rote Mogelpa-
ckung: Dem Mindestlohngesetz von Union und SPD
können wir nicht zustimmen. Die Linke tritt seit ihrer
Gründung für einen existenzsichernden und flächende-
ckenden Mindestlohn ein.
Das, was die Bundesregierung hier vorlegt, ist weder
existenzsichernd noch flächendeckend. Die Mindestlohn-
höhe von 8,50 Euro unterschreitet die Armutsgrenze –
Existenzsicherung sieht anders aus. Etwa jeder sechste
Deutsche lebt heute am Rande der Armutsgrenze. Die
8,50 Euro der Koalition schaffen dagegen keine Abhilfe.
Noch schlimmer ist, dass bestimmte Gruppen noch
schlechtergestellt werden sollen: Die Ausnahmen für Ta-
rifgebundene und die willkürlichen Sonderregelungen
für Minderjährige, Langzeiterwerbslose, Praktikantinnen
und Praktikanten, Zeitungszustellerinnen und -zusteller
und Saisonarbeiterinnen und -arbeiter öffnen einer wei-
teren Unterbezahlung Tor und Tür.
Wir stehen weiterhin zu den Forderungen des Linke-
Bundestagswahlprogrammes: Wir brauchen sofort einen
Mindestlohn für alle in Höhe von 10 Euro. Bis spätes-
tens 2017 sollte er auf 12 Euro angehoben werden.
Anlage 8
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Ulrike Bahr, Klaus
Barthel, Dr. Matthias Bartke, Bärbel Bas,
Dr. Karl-Heinz Brunner, Marco Bülow,
Dr. Lars Castellucci, Petra Crone, Sabine
Dittmar, Michael Gerdes, Martin Gerster,
Michael Groß, Dr. Ute Finckh-Krämer,
Bettina Hagedorn, Ulrich Hampel, Gabriela
Heinrich, Gabriele Hiller-Ohm, Frank Junge,
Josip Juratovic, Ralf Kapschack, Gabriele
Katzmarek, Cansel Kiziltepe, Daniela Kolbe,
Steffen-Claudio Lemme, Hiltrud Lotze,
Kirsten Lühmann, Hilde Mattheis, Klaus
Mindrup, Markus Paschke, Dr. Simone
Raatz, Gerold Reichenbach, Andreas Rimkus,
Annette Sawade, Dr. Dorothee Schlegel,
Ewald Schurer, Stefan Schwartze, Ursula
Schulte, Norbert Spinrath, Martina Stamm-
Fibich, Kerstin Tack, Bernd Westphal,
Waltraud Wolff (Wolmirstedt) und Gülistan
Yüksel (alle SPD) zur namentlichen Abstim-
mung über den von den Abgeordneten Klaus
Ernst, Susanna Karawanskij, Jutta
Krellmann, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurf
eines Gesetzes zur Abschaffung der sachgrund-
losen Befristung (Tagesordnungspunkt 6 b)
In der letzten Legislaturperiode hat sich die SPD-
Bundestagsfraktion unter anderem mit dem Antrag
„Langfristige Perspektive statt sachgrundlose Befris-
4318 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2014
(A) (C)
(D)(B)
tung“ – Drucksache 17/1769 – klar für die Abschaffung
der sachgrundlosen Befristung ausgesprochen.
Und auch im SPD-Wahlprogramm zur Bundestags-
wahl 2013 ist diese Position ebenso klar formuliert wor-
den: „Die Möglichkeit der sachgrundlosen Befristung
von Arbeitsverträgen wollen wir abschaffen, den Kata-
log möglicher Befristungsgründe überprüfen.“ Dafür
tritt die SPD auch inhaltlich weiterhin ein.
Es ist bedauerlich, dass in den Koalitionsverhandlun-
gen mit CDU und CSU keine Abschaffung der sach-
grundlosen Befristung vereinbart werden konnte und in
der aktuellen Regierungskoalition daher derzeit leider
keine parlamentarische Mehrheit dafür vorhanden ist.
Im Koalitionsvertrag der Großen Koalition von
CDU/CSU und SPD konnten jedoch viele wichtige und
lange geforderte Verbesserungen für Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer vereinbart werden, die für gute
Arbeit und gegen prekäre Beschäftigung, wozu auch die
sachgrundlose Befristung zählt, wirken werden. Bei-
spielsweise der gesetzliche Mindestlohn, die Auswei-
tung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes auf alle Bran-
chen – wodurch höhere Branchenmindestlöhne möglich
sind – sowie die erleichterte Möglichkeit der Allge-
meinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen, die
dann für alle Beschäftigten und Arbeitgeber einer Bran-
che gelten. Zudem werden Werkverträge und Leiharbeit
stärker reguliert bzw. wird gegen deren Missbrauch vor-
gegangen.
Im Koalitionsvertrag haben sich die Bundestagsfrak-
tionen von CDU/CSU und SPD auf ein einheitliches Ab-
stimmungsverhalten im Deutschen Bundestag verstän-
digt. Daher werden wir dem Gesetzentwurf der Fraktion
Die Linke nicht zustimmen.
Die Abschaffung der sachgrundlosen Befristung wird
aber auch weiterhin unser erklärtes politisches Ziel blei-
ben, wofür wir uns auch zukünftig einsetzen werden.
Anlage 9
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Kerstin Griese und Dr. Martin
Rosemann (beide SPD) zur namentlichen Ab-
stimmung über den von den Abgeordneten
Klaus Ernst, Susanna Karawanskij, Jutta
Krellmann, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion Die Linke eingebrachten Entwurf ei-
nes Gesetzes zur Abschaffung der sachgrundlo-
sen Befristung (Tagesordnungspunkt 6 b)
In der letzten Legislaturperiode hat sich die SPD-
Bundestagsfraktion unter anderem mit dem Antrag
„Langfristige Perspektive statt sachgrundlose Befris-
tung“ – Drucksache 17/1769 – für die Abschaffung der
sachgrundlosen Befristung ausgesprochen.
Auch im SPD-Wahlprogramm zur Bundestagswahl
2013 ist diese Position formuliert worden: „Die Mög-
lichkeit der sachgrundlosen Befristung von Arbeitsver-
trägen wollen wir abschaffen, den Katalog möglicher
Befristungsgründe überprüfen.“ Dafür tritt die SPD auch
inhaltlich weiterhin ein.
Es ist bedauerlich, dass in den Koalitionsverhandlun-
gen mit CDU und CSU keine Abschaffung der sach-
grundlosen Befristung vereinbart werden konnte und in
der aktuellen Regierungskoalition daher derzeit leider
keine parlamentarische Mehrheit dafür vorhanden ist.
Dies ist umso bedauerlicher, als in der öffentlichen An-
hörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zum
Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke deutlich wurde,
dass die 14 möglichen Sachgründe alle von den Arbeit-
gebern vorgebrachten Gründe für Befristungen abde-
cken.
Im Koalitionsvertrag der Großen Koalition von CDU/
CSU und SPD konnten jedoch viele wichtige und lange
geforderte Verbesserungen für Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer vereinbart werden, die für gute Arbeit und
gegen prekäre Beschäftigung wirken werden: beispiels-
weise der gesetzliche Mindestlohn, die Ausweitung des
Arbeitnehmer-Entsendegesetzes auf alle Branchen – wo-
durch höhere Branchenmindestlöhne möglich sind – so-
wie die erleichterte Möglichkeit der Allgemeinverbind-
licherklärung von Tarifverträgen, die dann für alle
Beschäftigten und Arbeitgeber einer Branche gelten. Zu-
dem werden Werkverträge und Leiharbeit stärker regu-
liert bzw. wird gegen deren Missbrauch vorgegangen.
Im Koalitionsvertrag haben sich die Bundestagsfrak-
tionen von CDU/CSU und SPD auf ein einheitliches Ab-
stimmungsverhalten im Deutschen Bundestag verstän-
digt. Daher werden wir dem Gesetzentwurf der Fraktion
Die Linke nicht zustimmen.
Anlage 10
Erklärung nach § 31 GO
des Abgeordneten Lothar Binding (Heidelberg)
(SPD) zur namentlichen Abstimmung über den
von den Abgeordneten Klaus Ernst, Susanna
Karawanskij, Jutta Krellmann, weiteren Abge-
ordneten und der Fraktion DIE LINKE einge-
brachten Entwurf eines Gesetzes zur Abschaffung
der sachgrundlosen Befristung (Tagesordnungs-
punkt 6 b)
In der vergangenen Legislaturperiode hat sich die
SPD-Bundestagsfraktion unter anderem mit dem Antrag
„Langfristige Perspektive statt sachgrundlose Befris-
tung“ – Drucksache 17/1769 – für die Abschaffung der
sachgrundlosen Befristung ausgesprochen. Und auch im
SPD-Regierungsprogramm 2013 bis 2017 zur Bundes-
tagswahl 2013 ist diese Position klar formuliert: „Die
Möglichkeit der sachgrundlosen Befristung von Arbeits-
verträgen wollen wir abschaffen, den Katalog möglicher
Befristungsgründe überprüfen.“ Würde die SPD Frak-
tion im Bundestag eine Mehrheit haben, wäre dies be-
reits gesetzlich geregelt.
In den Koalitionsverhandlungen mit CDU und CSU
konnte die Abschaffung der sachgrundlosen Befristung
nicht vereinbart werden, sodass in der aktuellen Regie-
rungskoalition derzeit keine parlamentarische Mehrheit
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2014 4319
(A) (C)
(D)(B)
dafür vorhanden ist. Das ist ärgerlich, aber dem Kom-
promiss in der Koalition geschuldet. Über andere Ziele
wurde sehr erfolgreich verhandelt: Im Koalitionsvertrag
der Großen Koalition von CDU/CSU und SPD konnten
viele wichtige und lange geforderte Verbesserungen für
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vereinbart wer-
den, die für gute Arbeit und gegen prekäre Beschäfti-
gung, wozu auch die sachgrundlose Befristung zählt, wir-
ken werden: beispielsweise der gesetzliche Mindestlohn,
die Ausweitung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes auf
alle Branchen – wodurch höhere Branchenmindestlöhne
möglich sind – sowie die erleichterte Möglichkeit der All-
gemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen, die
dann für alle Beschäftigten und Arbeitgeber einer Bran-
che gelten. Zudem werden Werkverträge und Leiharbeit
stärker reguliert bzw. gegen deren Missbrauch vorgegan-
gen. Das sind große Erfolge – und so wie ich von der
CDU/CSU-Fraktion erwarte, dass für sie schwierige
Punkte aus dem Koalitionsvertrag mitgetragen werden,
werde ich auch den Gesetzentwurf der Fraktion Die
Linke „Entwurf eines Gesetzes zur Abschaffung der
sachgrundlosen Befristung“ ablehnen. Und die Linke
verhält sich in Koalitionen ebenso – andernfalls würde
die Linke einen Vertragsbruch an den anderen reihen.
Und da die Fraktion Die Linke diesen Sachverhalt kennt,
ist es ein durchschaubares Manöver, mich in die Position
zu drängen, anders abstimmen zu müssen, als ich es bei
entsprechenden Mehrheiten tun würde.
Im Koalitionsvertrag haben sich die Bundestagsfrak-
tionen von CDU/CSU und SPD darauf verständigt, dem
Gesetzentwurf der Fraktion Die Linken nicht zuzustim-
men.
Die Abschaffung der sachgrundlosen Befristung wird
gleichwohl auch weiterhin eines meiner politischen
Ziele bleiben.
Anlage 11
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Dr. Petra Sitte (DIE LINKE)
zur Abstimmung über die dritte Beschlussemp-
fehlung des Wahlprüfungsausschusses zu Ein-
sprüchen gegen die Gültigkeit der Wahl zum
18. Deutschen Bundestag am 22. September
2013 (Tagesordnungspunkt 33 k)
Ich stimme der Beschlussempfehlung des Wahlprü-
fungsausschusses zu, die aus den Anlagen ersichtlichen
Beschlussempfehlungen zu den Wahleinsprüchen anzu-
nehmen und damit alle betroffenen Wahleinsprüche zu-
rückzuweisen. Ich stimme dem hier im Plenum zu, habe
mich im Wahlprüfungsausschuss als Vertreterin der
Fraktion Die Linke jedoch bei den Abstimmungen über
die Zurückweisung derjenigen Wahleinsprüche, die sich
allein gegen die 5-Prozent-Sperrklausel bei der Bundes-
tagswahl richten, enthalten.
Mein Abstimmungsverhalten begründe ich wie folgt:
Die 5-Prozent-Sperrklausel bei der Bundestagswahl be-
gegnet meines Erachtens nicht nur verfassungspoliti-
schen, sondern auch verfassungsrechtlichen Bedenken.
Sie ist unter den gegenwärtigen Verhältnissen in der
Bundesrepublik nicht haltbar. Wie das Bundesverfas-
sungsgericht über die 5-Prozent-Sperrklausel zukünftig
entscheidet, können wir nicht genau wissen. Es hat zwar
zuletzt in der Entscheidung über die Verfassungswidrig-
keit der 3-Prozent-Hürde bei der Europawahl an seiner
ständigen Rechtsprechung zu den Sperrklauseln festge-
halten. Aber es hatte die Frage der Sperrklausel für die
Bundestagswahl gar nicht zu entscheiden.
Die Auffassung des Wahlprüfungsausschusses, dass
die 5-Prozent-Sperrklausel bei der Bundestagswahl ver-
fassungsrechtlich nicht zu beanstanden sei, teile ich
nicht. Um dies zu verdeutlichen, habe ich mich dort ent-
halten.
Aus meiner Sicht ist es ohnehin schon gar nicht erfor-
derlich, Parteien von der Sitzverteilung im Bundestag
auszuschließen, um dessen Aufgabenerfüllung, also die
Fähigkeit zur Regierungsbildung und seine Funktionsfä-
higkeit als Gesetzgeber, zu sichern. Demokratie setzt
doch das Aufeinandertreffen verschiedener Positionen
und das Finden von Kompromissen gerade voraus. Wa-
rum dies allein deshalb nicht möglich sein soll, wenn so-
genannte Splitterparteien einziehen, ist schon theoretisch
für mich nicht nachvollziehbar. Aber auch rein tatsäch-
lich sind von der Sperrklausel aufgrund deren Höhe ja
auch Parteien mit beachtlicher Größe – 4,8 und 4,7 Pro-
zent der Zweitstimmen bei der Bundestagswahl 2013 –
betroffen. Würde der Einzug solcher Parteien eine Funk-
tionsunfähigkeit des Parlaments bewirken? Der Akt der
Wahl ist der wichtigste Integrationsvorgang in der De-
mokratie. Dies ist aus meiner Sicht gefährdet, wenn über
15 Prozent der Stimmen der Wahlbevölkerung sich nicht
im Parlament wiederfinden. Das lässt an der Verhältnis-
mäßigkeit der Sperrklausel zweifeln. Es sind mittler-
weile Zweitstimmen in einer Größenordnung betroffen,
die einen ganz erheblichen Eingriff in die Wahlrechts-
gleichheit und die Chancengleichheit der Parteien be-
deuten. Und dass dies das Bundesverfassungsgericht
nicht in die Abwägung einstellt, halte ich nicht für sehr
wahrscheinlich. Damit abzuwägen ist die Sicherung der
Funktionsfähigkeit des Parlaments, die angeblich durch
die Sperrklausel erfolgt.
Die Sperrklausel führt dazu, dass gewichtige Anlie-
gen der Bevölkerung von der Volksvertretung ausge-
schlossen werden. Das schadet der Demokratie. Zu be-
denken ist auch der – allerdings vom Gesetzgeber bisher
erwünschte – Effekt, dass Wählerinnen und Wähler den
kleinen und vor allem neuen Parteien ihre Stimme
deshalb nicht geben, weil sie um deren Überwindung der
5-Prozent-Klausel fürchten (müssen). Das erschwert ins-
besondere neuen Parteien den Einzug in den Bundestag.
Eine gewisse Hürde, in den Bundestag zu kommen, liegt
doch ohnehin schließlich in der „natürlichen“ Sperrklau-
sel, die darin liegt, dass die jeweils notwendige Anzahl
von Stimmen für einen Bundestagssitz zu erringen ist.
Zu berücksichtigen ist außerdem, dass es sich bei der
Sperrklausel auch um eine Gesetzgebung in eigener Sa-
che handelt; das Bundesverfassungsgericht berücksich-
tigt auch diesen Umstand. Die aufgezählten Gründe
sprechen dagegen, dass die Sperrklausel verfassungs-
4320 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2014
(A) (C)
(D)(B)
rechtlich wirklich unbedenklich ist, wie es vom Wahl-
prüfungsausschuss dargestellt wird.
Im Ergebnis ist es aber dennoch vertretbar, wenn der
Bundestag die Wahleinsprüche zurückweist, da die ein-
fachgesetzlichen Wahlvorschriften ordnungsgemäß und
nach der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfas-
sungsgerichts auch verfassungsgemäß angewendet wor-
den sind.
Damit wird im Ergebnis die Prüfung der Verfassungs-
mäßigkeit der Sperrklausel im geltenden Wahlrecht
– wie in ständiger Praxis im Rahmen der Wahlprüfung
üblich – dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten.
Für die Änderung der Rechtslage ist der Bundestag in
seiner Eigenschaft als Gesetzgeber, nicht im Rahmen der
Wahlprüfung gefragt.
Festzuhalten ist: Jenseits der Wahlprüfung kann der
Bundestag als Gesetzgeber seine Verantwortung für ver-
fassungskonforme Gesetze nicht zurückweisen. Der
Bundestag muss daher – wie es die Fraktion Die Linke
zuletzt in der 17.Wahlperiode (Bundestagsdrucksache
17/5896) mit vielen überzeugenden historischen, syste-
matischen und demokratietheoretischen Gründen gefor-
dert hat – die Sperrklausel im Wahlrecht abschaffen. Das
stärkt die Demokratie.
Anlage 12
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Ulrike Bahr, Marco Bülow,
Petra Crone, Dr. Daniela De Ridder,
Dr. Karamba Diaby, Petra Ernstberger, Saskia
Esken, Elke Ferner, Christian Flisek, Kerstin
Griese, Gabriele Groneberg, Josip Juratovic,
Christina Kampmann, Steffen-Claudio Lemme,
Caren Marks, Katja Mast, Klaus Mindrup, Ulli
Nissen, Dr. Simone Raatz, Andreas Rimkus,
Sönke Rix, Johann Saathoff, Dagmar Schmidt
(Wetzlar), Ursula Schulte, Svenja Stadler, Sonja
Steffen und Gülistan Yüksel (alle SPD) zur na-
mentlichen Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines
Gesetzes zur Einstufung weiterer Staaten als si-
chere Herkunftsstaaten und zur Erleichterung
des Arbeitsmarktzugangs für Asylbewerber
und geduldete Ausländer (Zusatztagesord-
nungspunkt 6 a)
Mit diesem Gesetz sollen zwei verschiedene Punkte
geregelt werden. Wir begrüßen ausdrücklich, dass mit
der Erlaubnis zur Arbeitsaufnahme für Asylbewerberin-
nen und Asylbewerber und für geduldete Ausländerin-
nen und Ausländer nach drei Monaten Aufenthalt in
Deutschland der Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtert
wird. Damit wird den Menschen, die nach Deutschland
geflohen sind, ermöglicht, ihren Lebensunterhalt zu ver-
dienen und durch Erwerbsarbeit ihre Integration zu er-
leichtern.
Den zweiten in diesem Gesetz vorgeschlagenen
Punkt, die Einstufung von Bosnien-Herzegowina, Ser-
bien und Mazedonien als sichere Herkunftsstaaten, se-
hen wir problematisch. Zum einen halten wir es ange-
sichts der Erfahrungen besonders der Gruppe der Roma
in diesen Ländern für nicht gesichert, dass sie dort nicht
weiter Diskriminierung, sogar Verfolgung und Gewalt
ausgesetzt sind. Für die Roma in diesen Ländern, aber
auch in den südosteuropäischen EU-Mitgliedstaaten,
muss endlich eine nachhaltige und langfristig wirksame
Möglichkeit gefunden werden, dass Vorurteile, Ausgren-
zung und Diskriminierung überwunden werden, dass sie
Zugang zu Bildung, Wohnen, Gesundheitsleistungen
und Erwerbsarbeit erhalten und dass ihre Fluchtursachen
in den Herkunftsländern wirksam bekämpft werden. So-
lange das nicht der Fall ist, bleibt der Wunsch von Fami-
lien bestehen, aus bitterer Armut und Not nach Deutsch-
land zu fliehen.
Wir haben außerdem aus grundsätzlichen Gründen
Probleme mit der Ausweitung des Systems sicherer Her-
kunftsstaaten. Das Recht auf Asyl ist ein individuelles
Recht, das eine Einzelfallprüfung zwingend verlangt.
Dieses Recht sollte unseres Erachtens nicht einge-
schränkt werden. Auch wenn die Anerkennungsquote
von Flüchtlingen aus den im Gesetz genannten Ländern
sehr gering ist, verdient jeder Einzelfall Beachtung. Wir
sind besorgt, dass mit der Ausweitung der Liste der si-
cheren Herkunftsstaaten eine falsche Richtung einge-
schlagen wird. Stattdessen brauchen wir eine europäi-
sche Flüchtlingspolitik, die legale Einwanderung
ermöglicht und die die Flüchtlinge innerhalb Europas
verteilt. Die Erfahrung zeigt, dass unser Land von Zu-
wanderung profitiert und dass die weitaus größte Zahl
der Zuwandernden in Deutschland Arbeit findet.
In dieser Diskussion muss darauf hingewiesen werden,
dass Deutschland zwar in absoluten Zahlen die meisten
Flüchtlinge in Europa aufnimmt, im Vergleich zur Bevöl-
kerungszahl kommen aber mehr Flüchtlinge in die EU-
Staaten Schweden, Malta, Österreich, Luxemburg, Un-
garn, Belgien sowie in die europäischen Länder Norwe-
gen und die Schweiz – Zahlen aus 2013. Deshalb geht es
um eine gerechte Verteilung der Flüchtlinge in Europa
und nicht um Ängste vor zu hohen Flüchtlingszahlen.
Den Großstädten in Deutschland, die besondere Pro-
bleme haben, müssen wir helfen, damit sie Möglichkei-
ten der Unterbringung und der medizinischen Versor-
gung zur Verfügung stellen können.
Mit dieser persönlichen Erklärung bringen wir unsere
Kritik an der Ausweitung sicherer Herkunftsstaaten zum
Ausdruck. Dem Gesetz werden wir aufgrund der Koali-
tionsvereinbarung und wegen seiner Regelungen zum
Arbeitsmarktzugang zustimmen.
Anlage 13
Erklärungen nach § 31 GO
zur namentlichen Abstimmung über den von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurf
eines Gesetzes zur Einstufung weiterer Staaten
als sichere Herkunftsstaaten und zur Erleichte-
rung des Arbeitsmarktzugangs für Asylbewer-
ber und geduldete Ausländer (Zusatztagesord-
nungspunkt 6 a)
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2014 4321
(A) (C)
(D)(B)
Heike Baehrens (SPD): Mit diesem Gesetz werden
zwei verschiedene Punkte geregelt. Ich begrüße aus-
drücklich, dass mit der Erlaubnis zur Arbeitsaufnahme
für Asylbewerberinnen und Asylbewerber und für gedul-
dete Ausländerinnen und Ausländer nach drei Monaten
Aufenthalt in Deutschland der Zugang zum Arbeits-
markt erleichtert wird. Damit wird den Menschen, die
nach Deutschland geflohen sind, ermöglicht, ihren
Lebensunterhalt zu verdienen und durch Erwerbsarbeit
ihre Integration zu erleichtern.
Den zweiten in diesem Gesetz vorgeschlagenen
Punkt, die Einstufung von Bosnien-Herzegowina, Ser-
bien und Mazedonien als sichere Herkunftsstaaten, sehe
ich als problematisch an. Zum einen halte ich es ange-
sichts der Erfahrungen besonders der Gruppe der Roma
in diesen Ländern für nicht gesichert, dass sie dort nicht
weiter Diskriminierung, sogar Verfolgung und Gewalt
ausgesetzt sind. Für die Roma in diesen Ländern, aber
auch in den südosteuropäischen EU-Mitgliedstaaten,
muss endlich eine nachhaltige und langfristig wirksame
Möglichkeit gefunden werden, um Vorurteile, Ausgren-
zung und Diskriminierung zu überwinden, ihnen Zugang
zu Bildung, Wohnen, Gesundheitsleistungen und
Erwerbsarbeit zu ermöglichen und ihre Fluchtursachen
in den Herkunftsländern wirksam zu bekämpfen. So-
lange das nicht der Fall ist, bleibt der Wunsch von Fami-
lien bestehen, aus bitterer Armut und Not nach Deutsch-
land zu fliehen.
Ich habe außerdem aus grundsätzlicher Überzeugung
Probleme mit der Ausweitung des Systems sicherer Her-
kunftsstaaten. Das Recht auf Asyl ist ein individuelles
Recht, das eine Einzelfallprüfung zwingend verlangt.
Dieses Recht sollte meines Erachtens nicht einge-
schränkt werden. Auch wenn die Anerkennungsquote
von Flüchtlingen aus den im Gesetz genannten Ländern
sehr gering ist, verdient jeder Einzelfall Beachtung. Ich
bin besorgt, dass mit der Ausweitung der Liste der siche-
ren Herkunftsstaaten eine falsche Richtung eingeschla-
gen wird. Stattdessen brauchen wir eine europäische
Flüchtlingspolitik, die legale Einwanderung ermöglicht
und die die Flüchtlinge innerhalb Europas verteilt. Die
Erfahrung zeigt, dass unser Land von Zuwanderung pro-
fitiert und dass die weitaus größte Zahl der Zuwandern-
den in Deutschland Arbeit findet.
Mit dieser persönlichen Erklärung bringe ich meine
Kritik an der Ausweitung sicherer Herkunftsstaaten zum
Ausdruck. Dem Gesetz werde ich aufgrund der Koali-
tionsvereinbarung und wegen seiner Regelungen zum
Arbeitsmarktzugang zustimmen.
Bärbel Bas (SPD): Mit diesem Gesetz sollen zwei
verschiedene Punkte geregelt werden. Ich begrüße aus-
drücklich, dass mit der Erlaubnis zur Arbeitsaufnahme
für Asylbewerberinnen und Asylbewerber und für gedul-
dete Ausländerinnen und Ausländer nach drei Monaten
Aufenthalt in Deutschland der Zugang zum Arbeits-
markt erleichtert wird. Damit wird den Menschen, die
nach Deutschland geflohen sind, ermöglicht, ihren Le-
bensunterhalt zu verdienen und durch Erwerbsarbeit ihre
Integration zu erleichtern.
Den zweiten in diesem Gesetz vorgeschlagenen
Punkt, die Einstufung von Bosnien-Herzegowina, Ser-
bien und Mazedonien als sichere Herkunftsstaaten, sehe
ich problematisch. Zum einen halte ich es angesichts der
Erfahrungen besonders der Gruppe der Roma in diesen
Ländern für nicht gesichert, dass sie dort nicht weiter
Diskriminierung, sogar Verfolgung und Gewalt ausge-
setzt sind. Für die Roma in diesen Ländern, aber auch in
den südosteuropäischen EU-Mitgliedstaaten, muss end-
lich eine nachhaltige und langfristig wirksame Möglich-
keit gefunden werden, dass Vorurteile, Ausgrenzung und
Diskriminierung überwunden werden, dass sie Zugang
zu Bildung, Wohnen, Gesundheitsleistungen und Er-
werbsarbeit erhalten und dass ihre Fluchtursachen in den
Herkunftsländern wirksam bekämpft werden. Solange
das nicht der Fall ist, bleibt der Wunsch von Familien
bestehen, aus bitterer Armut und Not nach Deutschland
zu fliehen.
Ich habe außerdem aus grundsätzlichen Gründen Pro-
bleme mit der Ausweitung des Systems sicherer Her-
kunftsstaaten. Das Recht auf Asyl ist ein individuelles
Recht, das eine Einzelfallprüfung zwingend verlangt.
Dieses Recht sollte meines Erachtens nicht einge-
schränkt werden. Auch wenn die Anerkennungsquote
von Flüchtlingen aus den im Gesetz genannten Ländern
sehr gering ist, verdient jeder Einzelfall Beachtung. Ich
bin besorgt, dass mit der Ausweitung der Liste der siche-
ren Herkunftsstaaten eine falsche Richtung eingeschla-
gen wird. Stattdessen brauchen wir eine europäische
Flüchtlingspolitik, die legale Einwanderung ermöglicht
und die die Flüchtlinge innerhalb Europas verteilt. Die
Erfahrung zeigt, dass unser Land von Zuwanderung pro-
fitiert und dass die weitaus größte Zahl der Zuwandern-
den in Deutschland Arbeit findet.
In dieser Diskussion muss darauf hingewiesen wer-
den, dass Deutschland zwar in absoluten Zahlen die
meisten Flüchtlinge in Europa aufnimmt, im Vergleich
zur Bevölkerungszahl kommen aber mehr Flüchtlinge
in die EU-Staaten Schweden, Malta, Österreich,
Luxemburg, Ungarn, Belgien sowie in die europäischen
Länder Norwegen und die Schweiz (Zahlen aus 2013).
Deshalb geht es um eine gerechte Verteilung der Flücht-
linge in Europa und nicht um Ängste vor zu hohen
Flüchtlingszahlen. Den Großstädten in Deutschland, die
besondere Probleme haben, müssen wir helfen, damit sie
Möglichkeiten der Unterbringung und der medizinischen
Versorgung zur Verfügung stellen können. Städte wie
Duisburg, die bereits eine starke Zuwanderung aus Süd-
osteuropa bewältigen, stoßen schon jetzt an die Grenzen
ihrer Belastungsfähigkeit.
Mit dieser persönlichen Erklärung bringe ich meine
Kritik an der Ausweitung sicherer Herkunftsstaaten zum
Ausdruck. Dem Gesetz werde ich aufgrund der Koali-
tionsvereinbarung und wegen seiner Regelungen zum
Arbeitsmarktzugang zustimmen.
Karl-Heinz Brunner (SPD): Mit diesem Gesetz sol-
len zwei verschiedene Punkte geregelt werden. Ich be-
grüße ausdrücklich, dass mit der Erlaubnis zur Arbeits-
aufnahme für Asylbewerberinnen und Asylbewerber und
4322 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2014
(A) (C)
(D)(B)
für geduldete Ausländerinnen und Ausländer nach drei
Monaten Aufenthalt in Deutschland der Zugang zum Ar-
beitsmarkt erleichtert wird. Damit wird den Menschen,
die nach Deutschland geflohen sind, ermöglicht, ihren
Lebensunterhalt zu verdienen und durch Erwerbsarbeit
ihre Integration zu erleichtern.
Den zweiten, in diesem Gesetz vorgeschlagenen
Punkt, die Einstufung von Bosnien-Herzegowina, Ser-
bien und Mazedonien als sichere Herkunftsstaaten, sehe
ich problematisch. So halte ich es für nicht gesichert,
dass Roma dort nicht weiter Diskriminierung, Verfol-
gung und Gewalt ausgesetzt werden. Zum anderen be-
steht weiterhin ein hoher Grad an Diskriminierung und
Gewaltbereitschaft gegenüber homo-, bi-, trans- oder in-
tersexuellen Menschen auf dem Westbalkan. Paraden
werden teilweise verboten, die Justiz unternimmt wenig,
um vor gewaltsamen Übergriffen zu schützen, Men-
schenrechte werden allein durch die sexuelle Identität in-
frage gestellt. Solange dies der Fall ist, bleibt der
Wunsch vieler Menschen, nach Deutschland zu fliehen,
verständlich.
Mit dieser persönlichen Erklärung bringe ich meine
Sorge an der Ausweitung sicherer Herkunftsstaaten zum
Ausdruck. Dem Gesetz werde ich aufgrund der Koali-
tionsvereinbarung und wegen seiner Regelungen zum
Arbeitsmarktzugang zustimmen.
Dr. Lars Castellucci (SPD): Mit diesem Gesetz sol-
len zwei verschiedene Punkte geregelt werden. Ich be-
grüße ausdrücklich, dass mit der Erlaubnis zur Arbeits-
aufnahme für Asylbewerberinnen und Asylbewerber und
für geduldete Ausländerinnen und Ausländer der Zugang
zum Arbeitsmarkt erleichtert wird. Die Wartefrist beträgt
künftig drei statt zwölf Monate Aufenthalt in Deutsch-
land. Damit werden mehr Betroffene ihren Lebensunter-
halt ganz oder teilweise selbst erwirtschaften können,
sinnvoll beschäftigt und besser integriert sein; es wird
den Fachkräftebedarf sichern helfen, und es wird die Ab-
hängigkeit von Sozialleistungen mindern und damit
Haushaltsmittel einsparen. Gleichzeitig bleibt die Vor-
rangprüfung zugunsten hier ansässiger Arbeitskräfte be-
stehen. Es wird folglich zu evaluieren sein, wie viel sich
in der Realität tatsächlich ändert.
Der wesentlichere Punkt in diesem Gesetz ist die Ein-
stufung von Bosnien-Herzegowina, Serbien und EJR
Mazedonien als sichere Herkunftsstaaten. Dieses Vorha-
ben ist bereits im Koalitionsvertrag festgeschrieben wor-
den. Ich halte es im Wortsinn für grundsätzlich proble-
matisch. Man macht ein Grundrecht nicht besser, indem
man es einschränkt. Das Recht auf Asyl ist ein individu-
elles Recht, das eine Einzelfallprüfung zwingend ver-
langt. Dies gilt auch, wenn die Anerkennungsquote von
Flüchtlingen aus den im Gesetz genannten Ländern sehr
gering ist. Die Ausweitung der Liste der sicheren Her-
kunftsstaaten ist keine Antwort auf die drängenden Fra-
gen von Migration und Flucht. Stattdessen brauchen wir
eine europäische Flüchtlingspolitik, die unter anderem
auch legale Einwanderung ermöglicht, die Flüchtlinge
innerhalb Europas gerechter verteilt und Fluchtursachen
bekämpft, nicht Flüchtlinge.
In dieser Diskussion muss auch darauf hingewiesen
werden, dass Deutschland zwar in absoluten Zahlen die
meisten Flüchtlinge in Europa aufnimmt, im Vergleich
zur Bevölkerungszahl aber hinter Schweden, Malta, Ös-
terreich, Luxemburg, Ungarn, Belgien, Norwegen und
der Schweiz liegt – Zahlen aus 2013. Die Zahl der Asyl-
anträge liegt meilenweit entfernt von den Zahlen zu Be-
ginn der 1990er-Jahre. Gleichzeitig sehen wir weltweit
Höchststände bei Flucht und Migration. Deutschland hat
historisch begründet eine besondere Verantwortung zu
helfen, und Deutschland kann als wirtschaftlich starkes
Land auch helfen. Die Großstädte in Deutschland, die
besondere Probleme haben, müssen wir unterstützen, da-
mit sie Möglichkeiten der Unterbringung und der medi-
zinischen Versorgung zur Verfügung stellen können.
Gleichzeitig können die Probleme der Welt nicht in
Deutschland und auch nicht in Europa alleine gelöst
werden. Das Asylrecht ist nicht dazu geeignet oder be-
stimmt, Migration aus sozialen und wirtschaftlichen
Gründen zu steuern. Auch Asylbewerberinnen und Asyl-
bewerber aus sogenannten sicheren Herkunftsländern
werden einzelfallgeprüft, wenn auch in einem verkürz-
ten Verfahren. Schon heute beträgt die Schutzquote für
Antragstellende der drei genannten Staaten nicht mehr
als 0,5 Prozent. Dabei vertraue ich der Kompetenz der
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Bundesamts für
Migration und Flüchtlinge, deren Arbeit nicht auf Ab-
wehr zielt, sondern darauf, die wirklich Schutzbedürfti-
gen zu schützen. Vor diesem Hintergrund hoffe ich, dass
die frei werdenden Ressourcen zu kürzeren Bearbei-
tungszeiten führen, die dann beispielsweise den Bürger-
kriegsflüchtlingen aus Syrien zugutekommen.
Schließlich sollte die Bundesregierung gemeinsam
mit der Europäischen Kommission in den laufenden Bei-
trittsverhandlungen mit EJR Mazedonien und Serbien
sowie über den Kandidatenstatus Bosniens und Herzego-
winas insbesondere mit Blick auf die zu verhandelnden
Kapitel 23 – Judikative und Grundrechte – und 24 – Jus-
tiz, Freiheit und Sicherheit – der Verhandlungsagenda
nachdrücklich vermitteln, dass die Einstufung als sichere
Herkunftsstaaten nicht bedeutet, dass diese Staaten den
Besitzstand der Europäischen Union in diesen wichtigen
Bereichen bereits erfüllen.
Ein Koalitionsvertrag enthält meist auch Zumutungen
für beide Seiten. Wir können als Sozialdemokratinnen
und Sozialdemokraten auch viel Gutes erreichen für ein
vorurteilsfreieres Miteinander aller hier Lebenden und
für mehr Humanität gegenüber denen, die zu uns kom-
men wollen. Dies kommt auch in dem vorliegenden Ge-
setzentwurf zum Ausdruck, dem ich mit diesen Ausfüh-
rungen heute zustimmen werde.
Mechthild Rawert (SPD): Die Erlaubnis zur Ar-
beitsaufnahme für Asylbewerberinnen und Asylbewer-
ber und für geduldete Ausländerinnen und Ausländer
wird in Zukunft bereits nach drei Monaten Aufenthalt in
Deutschland gewährt. Diese neue Regelung im Gesetz
begrüße ich nachdrücklich. Sie erleichtert den Zugang
zum Arbeitsmarkt und ermöglicht nach Deutschland ge-
flohenen Menschen, ihren Lebensunterhalt zu verdienen
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2014 4323
(A) (C)
(D)(B)
und durch Erwerbsarbeit ihre Integration zu beschleuni-
gen.
Bosnien-Herzegowina, Mazedonien und Serbien sol-
len nun gemäß Unionswunsch asylrechtlich als sichere
Herkunftsländer eingestuft werden. Sichere Herkunft-
staaten sind nach dem Asylverfahrensgesetz Staaten, bei
denen aufgrund der allgemeinen politischen Verhältnisse
die gesetzliche Vermutung besteht, dass dort weder poli-
tische Verfolgung noch unmenschliche oder erniedri-
gende Bestrafung oder Behandlung stattfindet (§ 29 a
AsylVfG). Mazedonien beispielsweise ist aber zerrissen
von nationalen Konflikten, Gewerkschaften können
nicht frei agieren, die Meinungs- und Pressefreiheit wird
eingeschränkt. Diese Fluchtursachen in den Herkunfts-
ländern von nach Deutschland kommenden Flüchtlin-
gen, zum Beispiel Roma, sind wirksam zu bekämpfen.
Es bestand der Eindruck, dass das Ziel der Auswei-
tung des Prinzips der „sicheren Herkunftsstaaten“ die
Einschränkung des Asylrechts ist. Das Asylrecht fordert,
den individuellen Asylgründen gerecht zu werden.
Hierzu ist jeweils eine Einzelfallprüfung notwendig.
Dieses Recht darf nicht eingeschränkt werden. Dies gilt
auch für die Gruppe der Roma. Mir ist bekannt, dass die
Anerkennungsquote von Flüchtlingen aus den im Gesetz
genannten Ländern sehr gering ist. Aber jeder Einzelfall
verdient gebührende Beachtung.
Ich kritisiere die Ausweitung der „sicheren Her-
kunftsstaaten“. Dem Gesetz stimme ich wegen der ho-
hen Beteiligung der SPD-Mitglieder beim Mitgliedervo-
tum (knapp 78 Prozent) und ihrer hohen Zustimmung
(76 Prozent) zur Koalitionsvereinbarung und insbeson-
dere wegen seiner Regelungen zum Arbeitsmarktzugang
zu.
Dr. Martin Rosemann (SPD): Mit diesem Gesetz
sollen zwei verschiedene Punkte geregelt werden, die in
keinem Sachzusammenhang stehen.
Ich begrüße ausdrücklich, dass mit der Erlaubnis zur
Arbeitsaufnahme für Asylbewerberinnen und Asylbe-
werber und für geduldete Ausländerinnen und Ausländer
nach drei Monaten Aufenthalt in Deutschland der
Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtert wird. Damit wird
den Menschen, die nach Deutschland geflohen sind, er-
möglicht, ihren Lebensunterhalt zu verdienen und durch
Erwerbsarbeit ihre Integration zu erleichtern.
Den zweiten in diesem Gesetz geregelten Punkt, die
Einstufung von Bosnien-Herzegowina, Serbien und
Mazedonien als sichere Herkunftsstaaten, sehe ich pro-
blematisch. Zum einen halte ich es angesichts der Erfah-
rungen besonders der Gruppe der Roma in diesen Län-
dern für nicht gesichert, dass sie dort nicht weiter
Diskriminierung, sogar Verfolgung und Gewalt ausge-
setzt sind. Für die Roma in diesen Ländern, aber auch in
den südosteuropäischen EU-Mitgliedstaaten, muss end-
lich eine nachhaltige und langfristig wirksame Möglich-
keit gefunden werden, dass Vorurteile, Ausgrenzung und
Diskriminierung überwunden werden, dass sie Zugang
zu Bildung, Wohnen, Gesundheitsleistungen und Er-
werbsarbeit erhalten und dass ihre Fluchtursachen in den
Herkunftsländern wirksam bekämpft werden.
Zum anderen bin ich besorgt, dass mit der Auswei-
tung der Liste der sicheren Herkunftsstaaten generell
eine falsche Richtung eingeschlagen wird. Stattdessen
brauchen wir eine europäische Flüchtlingspolitik, die le-
gale Einwanderung ermöglicht und die die Flüchtlinge
innerhalb Europas gerecht verteilt. Die Erfahrung zeigt,
dass unser Land von Zuwanderung profitiert und dass
die weitaus größte Zahl der Zuwandernden in Deutsch-
land Arbeit findet.
In dieser Diskussion muss darauf hingewiesen wer-
den, dass Deutschland zwar in absoluten Zahlen die
meisten Flüchtlinge in Europa aufnimmt, im Vergleich
zur Bevölkerungszahl kommen aber mehr Flüchtlinge
in die EU-Staaten Schweden, Malta, Österreich,
Luxemburg, Ungarn, Belgien sowie in die europäischen
Länder Norwegen und die Schweiz – Zahlen aus 2013.
Deshalb geht es um eine gerechte Verteilung der Flücht-
linge in Europa und nicht um Ängste vor zu hohen
Flüchtlingszahlen. Den Großstädten in Deutschland, die
besondere Probleme haben, müssen wir helfen, damit sie
Möglichkeiten der Unterbringung und der medizinischen
Versorgung zur Verfügung stellen können.
Dem Gesetz werde ich aufgrund des aus meiner Sicht
für die Integration von Flüchtlingen zentralen verbesser-
ten Arbeitsmarktzugangs zustimmen.
Susann Rüthrich (SPD): Mit diesem Gesetz sollen
zwei verschiedene Punkte geregelt werden. Ich begrüße
ausdrücklich, dass mit der Erlaubnis zur Arbeitsauf-
nahme für Asylbewerberinnen und Asylbewerber und
für geduldete Ausländerinnen und Ausländer nach drei
Monaten Aufenthalt in Deutschland der Zugang zum Ar-
beitsmarkt erleichtert wird. Damit wird den Menschen,
die nach Deutschland geflohen sind, ermöglicht, ihren
Lebensunterhalt zu verdienen und durch Erwerbsarbeit
ihre Integration zu erleichtern.
Den zweiten in diesem Gesetz vorgeschlagenen
Punkt, die Einstufung von Bosnien-Herzegowina, Ser-
bien und Mazedonien als sichere Herkunftsstaaten, sehe
ich problematisch. Zum einen halte ich es angesichts der
Erfahrungen besonders der Gruppe der Roma in diesen
Ländern für nicht gesichert, dass sie dort nicht weiter
Diskriminierung, sogar Verfolgung und Gewalt ausge-
setzt sind. Für die Roma in diesen Ländern, aber auch in
den südosteuropäischen EU-Mitgliedstaaten, muss end-
lich eine nachhaltige und langfristig wirksame Möglich-
keit gefunden werden, dass Vorurteile, Ausgrenzung und
Diskriminierung überwunden werden, dass sie Zugang
zu Bildung, Wohnen, Gesundheitsleistungen und Er-
werbsarbeit erhalten und dass ihre Fluchtursachen in den
Herkunftsländern wirksam bekämpft werden. Solange
das nicht der Fall ist, bleibt der Wunsch von Familien
bestehen, aus bitterer Armut und Not nach Deutschland
zu fliehen.
Ich habe außerdem aus grundsätzlichen Gründen Pro-
bleme mit der Ausweitung des Systems sicherer Her-
kunftsstaaten. Das Recht auf Asyl ist ein individuelles
4324 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2014
(A) (C)
(D)(B)
Recht, das eine Einzelfallprüfung zwingend verlangt.
Dieses Recht sollte meines Erachtens nicht einge-
schränkt werden. Auch wenn die Anerkennungsquote
von Flüchtlingen aus den im Gesetz genannten Ländern
sehr gering ist, verdient jeder Einzelfall Beachtung. Ich
bin besorgt, dass mit der Ausweitung der Liste der siche-
ren Herkunftsstaaten eine falsche Richtung eingeschla-
gen wird. Stattdessen brauchen wir eine europäische
Flüchtlingspolitik, die legale Einwanderung ermöglicht
und die die Flüchtlinge innerhalb Europas verteilt. Die
Erfahrung zeigt, dass unser Land von Zuwanderung pro-
fitiert und dass die weitaus größte Zahl der Zuwandern-
den in Deutschland Arbeit findet.
In dieser Diskussion muss darauf hingewiesen wer-
den, dass Deutschland zwar in absoluten Zahlen die
meisten Flüchtlinge in Europa aufnimmt, im Vergleich zur
Bevölkerungszahl kommen aber mehr Flüchtlinge in die
EU-Staaten Schweden, Malta, Österreich, Luxemburg,
Ungarn, Belgien sowie in die europäischen Länder Nor-
wegen und die Schweiz – Zahlen aus 2013. Deshalb geht
es um eine gerechte Verteilung der Flüchtlinge in Europa
und nicht um Ängste vor zu hohen Flüchtlingszahlen.
Den Großstädten in Deutschland, die besondere Pro-
bleme haben, müssen wir helfen, damit sie Möglichkei-
ten der Unterbringung und der medizinischen Versor-
gung zur Verfügung stellen können.
Mit dieser persönlichen Erklärung möchte ich meine
schweren Bedenken hinsichtlich der im Gesetz beabsich-
tigen Ausweitung sicherer Herkunftsstaaten zum Aus-
druck bringen.
Dr. Carsten Sieling (SPD): Mit diesem Gesetz sol-
len zwei verschiedene Punkte geregelt werden. Ich be-
grüße ausdrücklich, dass mit der Erlaubnis zur Arbeits-
aufnahme für Asylbewerberinnen und Asylbewerber und
für geduldete Ausländerinnen und Ausländer nach drei
Monaten Aufenthalt in Deutschland der Zugang zum Ar-
beitsmarkt erleichtert wird. Damit wird den Menschen,
die nach Deutschland geflohen sind, ermöglicht, ihren
Lebensunterhalt zu verdienen und durch Erwerbsarbeit
ihre Integration zu erleichtern.
Den zweiten in diesem Gesetz vorgeschlagenen
Punkt, die Einstufung von Bosnien-Herzegowina, Ser-
bien und Mazedonien als sichere Herkunftsstaaten, sehe
ich aus grundsätzlichen Erwägungen als problematisch
an, da die Ausweitung des Systems sicherer Herkunfts-
staaten das Recht auf Asyl schwächt. Das Recht auf Asyl
ist ein individuelles Recht, das eine Einzelfallprüfung
zwingend verlangt. Dieses Recht sollte meines Erach-
tens nicht eingeschränkt werden. Auch wenn die Aner-
kennungsquote von Flüchtlingen aus den im Gesetz ge-
nannten Ländern sehr gering ist, verdient jeder Einzelfall
Beachtung. Ich bin besorgt, dass mit der Ausweitung der
Liste der sicheren Herkunftsstaaten eine falsche Rich-
tung eingeschlagen wird. Stattdessen brauchen wir eine
europäische Flüchtlingspolitik, die legale Einwande-
rung ermöglicht und die die Flüchtlinge innerhalb Euro-
pas verteilt. Die Erfahrung zeigt, dass unser Land von
Zuwanderung profitiert und dass die weitaus größte Zahl
der Zuwandernden in Deutschland Arbeit findet.
Anlage 14
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Veronika Bellmann (CDU/
CSU) zur namentlichen Abstimmung über den
von der Bundesregierung eingebrachten Ent-
wurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des
Staatsangehörigkeitsgesetzes (Zusatztagesord-
nungspunkt 7 a)
Ja, es stimmt, auch ich habe dem Koalitionsvertrag
zugestimmt. Dass ich das nicht mit großer Freude getan
habe, ist allgemein bekannt. Sowohl im Koalitionsver-
trag als auch im konkreten Gesetzgebungsverfahren
steckt einiges, was ich mit meinem Verständnis von Uni-
onspolitik nicht vereinbaren kann.
Nun stellt sich in vielem heraus, dass die Zweifel
durchaus angebracht waren bei der Rente mit 63, dem
Mindestlohn und nun auch bei der doppelten Staats-
bürgerschaft – so zum Beispiel in Bezug auf die
Abschaffung der Optionspflicht der Kinder aus Zuwan-
derfamilien, mit 23 Jahren zu entscheiden, welcher
Staatsbürgerschaft sie angehören möchten. Im Koali-
tionsvertrag wurde vereinbart, dass jeder, der in
Deutschland geboren und aufgewachsen ist, seinen deut-
schen Pass nicht verlieren und keiner Optionspflicht un-
terliegen soll.
Schon damit haben wir uns weit von unserer bisheri-
gen Position entfernt, da sich die Optionspflicht bewährt
hat und wir daran aus gutem Grund festhalten sollten.
Mehrstaatlichkeit, das wissen wir, erschwert die Integra-
tion und führt zu Rosinenpickerei, weil man auf die
jeweiligen Vorteile der verschiedenen Länder zurück-
greifen kann. Bestes Beispiel ist die Aussetzung der
Wehrpflicht in Deutschland und das Fortbestehen der
Wehrpflicht in der Türkei. Es ist davon auszugehen, dass
sich ein Großteil der Jugendlichen, die sich bisher ohne
Probleme für die deutsche Staatsbürgerschaft entschie-
den haben, von dieser Form der Integration aus Gründen
oberflächlicher Vorteilsnahme einfach verabschieden
wird. Davon abgesehen hat überhaupt keine Not bestan-
den, die Optionspflicht abzuschaffen. Denn in der Ver-
gangenheit haben sich ungefähr 98 Prozent der Betroffe-
nen für die deutsche Staatsbürgerschaft entschieden. Wir
lösen mit dem Koalitionsvertrag und dem dazugehörigen
Gesetz sozusagen ein Problem, was überhaupt nicht be-
standen hat. Aber wir schaffen eine Unmenge neuer Pro-
bleme, vom wiederholten Opfern unserer eigenen Prinzi-
pien ganz abgesehen. Und wir tragen dazu bei, den bis
dahin unauflösbaren Zusammenhang zwischen der
Staatsangehörigkeit und den damit verbundenen Pflich-
ten und Rechten aufzuweichen.
Bisher mussten sich Jugendliche im Alter von 23 Jah-
ren, wenn sie ihre volle sittliche und geistige Reife er-
reicht haben, entscheiden, welche Staatsbürgerschaft sie
tragen wollen. Jetzt soll es reichen, gerade einmal sechs
Jahre in Deutschland aufgewachsen zu sein, um die
deutsche und weitere Staatsbürgerschaften zu behalten.
Auch sollen Kinder die deutsche Staatsbürgerschaft be-
kommen, die im Ausland geboren sind und deren Eltern
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2014 4325
(A) (C)
(D)(B)
die deutsche Staatsbürgerschaft nur aufgrund der Tatsa-
che besitzen, dass sie acht Jahre in Deutschland gelebt
haben. Daraus können unmöglich aufrichtige Bekennt-
nisse zum Grundgesetz, unseren Werten und Grundsät-
zen und ein ebenso aufrichtiger Wille, sich in unsere Ge-
sellschaft zu integrieren, erwachsen. Wir werden weder
gesellschaftlich noch rechtlich Integrationsverweigerern
wirksam entgegentreten können. Der Hilfeschrei der Po-
lizistin Tania Kambouri aus Bochum, die gegenüber der
Staatsgewalt über respektlose moslemische Jugendliche
klagt, ist ein beredtes Zeugnis dafür. Stattdessen werden
wir tatenlos zusehen müssen, wie sich Parallelgesell-
schaften unkontrolliert und unkorrigiert entwickeln und
weiterverbreiten, deren Mitglieder zwar in unserem
Land und von unserem Land, aber nie mit unserem Land
leben (wollen).
Anlage 15
Erklärung nach § 31 GO
des Abgeordneten Hubert Hüppe (CDU/CSU)
zur Abstimmung über den Antrag der Fraktio-
nen der CDU/CSU und SPD: 20 Jahre nach
Kairo – Bevölkerungspolitik im Kontext interna-
tionaler Entwicklungszusammenarbeit und der
Post-2015-Agenda (Tagesordnungspunkt 31)
Der Antrag verwendet den Begriff „sexuelle und re-
produktive Gesundheit und Rechte“, der allerdings im
Aktionsprogramm von Kairo nicht verwendet wird. Hin-
gegen definiert das Aktionsprogramm die Begriffe „re-
produktive Rechte“ und „sexuelle und reproduktive
Gesundheit“. Die Terminologie im Kairoer Schlussdo-
kument ist – als Ergebnis der Verhandlungen zwischen
mit offiziellem Mandat der VN-Mitgliedstaaten ausge-
statteten Delegationen – bis heute die maßgebliche inter-
national legitimierte Grundlage.
Radikale Gruppen propagieren unter dem Begriff
„sexuelle und reproduktive Gesundheit und Rechte“,
SRHR, Vorstellungen, die sich nicht auf den im Aktions-
programm von Kairo vereinbarten internationalen Kon-
sens berufen können, und sind bemüht, mit der SRHR-
Terminologie diese Vorstellungen in Beschlüsse und
Dokumente internationaler, regionaler und nationaler
Gremien einfließen zu lassen. Zu diesen radikalen Vor-
stellungen zählt ein behauptetes Menschenrecht auf Ab-
treibung ohne jegliche gesetzliche Beschränkungen, wie
es etwa in der aktuellen IPPF-Kampagne „I decide“ er-
klärt wird. Eine IPPF-Jugendbroschüre „Healthy, happy
and hot. A young person’s guide to their rights, sexuality
and living with HIV“ erklärt, dass zu den „sexuellen
Rechten“ HIV-positiver Jugendlicher das Recht gehört,
ihre Sexualpartner über ihre HIV-Infektion nicht zu in-
formieren.
In den Beratungen über den Antragsentwurf wurde
verdeutlicht, dass der Bundestag keine vermeintliche In-
terpretationshoheit radikaler Gruppen wie IPPF über die
Terminologie anerkennen will.
Deshalb wird im Antrag klargestellt, dass der Begriff
„sexuelle und reproduktive Gesundheit und Rechte“ als
identisch mit den im Aktionsprogramm von Kairo defi-
nierten Begriffen „reproduktive Rechte“ und „sexuelle
und reproduktive Gesundheit“ zu verstehen ist und keine
über diese Definitionen hinausgehende Bedeutung hat,
insbesondere kein Recht auf Schwangerschaftsabbruch
statuiert.
Damit ist jeder Spekulation die Grundlage entzogen,
der Bundestag bekenne sich zu einem beliebig interpre-
tierbaren Begriff „sexuelle und reproduktive Gesundheit
und Rechte“ und böte so radikalen Interpretationen Carte
blanche. Dieses Ergebnis begrüße ich.
Ich hätte mir gewünscht, dass die Berücksichtigung
von Gruppen mit Migrationshintergrund und deren be-
sonderen Bedürfnissen, was den Kairoer Beschlüssen
entspräche, erwähnt wird. Weiterhin hätte ich befürwor-
tet, auch das weltweit zunehmende Problem des uner-
füllten Kinderwunsches als Bereich der sexuellen und
reproduktiven Gesundheit und der Wahrnehmung repro-
duktiver Rechte anzusprechen.
Zwangsabtreibungen und Zwangssterilisationen, über
die bis in die letzte Zeit hinein von den Medien berichtet
wurde, werden im Feststellungsteil als Menschenrechts-
verletzungen angesprochen, was zu begrüßen ist. Ich
hätte mir gewünscht, dass die naheliegenden Konse-
quenzen – eine unparteiische Aufklärung dieser Vor-
gänge und wirksame Abhilfe für die Zukunft – ebenfalls
angesprochen werden. Insbesondere wäre zu fordern,
dass sowohl im Handeln von UNFPA als auch in den
von UNFPA geförderten nationalen und regionalen Pro-
grammen sowie von den von UNFPA geförderten Nicht-
regierungsorganisationen die im Kairoer Aktionsplan
enthaltenen Prinzipien der Freiwilligkeit, der Freiheit
von Zwang und der Nichtförderung von Abtreibung als
Familienplanungsinstrument respektiert werden.
Anlage 16
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Bundesbesol-
dungs- und -versorgungsanpassungsgesetzes
2014/2015 (BBVAnpG 2014/2015) (Tagesord-
nungspunkt 9)
Armin Schuster (Weil am Rhein) (CDU/CSU): Ich
hoffe auch in diesem Jahr, dass wir mit der Besoldungs-
und Versorgungsanpassung im öffentlichen Dienst nicht
zum Topthema an den Stammtischen landauf, landab
werden. Ist zwar populär, wäre aber dennoch nicht ge-
rechtfertigt. Tatsächlich geht es uns bei diesem Gesetz
darum, eine starke Marke, nämlich unser „Made in Ger-
many“ weiter zu fördern. Welcher ausländische Unter-
nehmer schätzt zum Beispiel nicht die Verlässlichkeit
der deutschen Verwaltung, wenn er sich hier niederlas-
sen will? Aus Sicht von Industrie und Wirtschaft gehört
der feste und stabile Ordnungsrahmen zu den Trümpfen
Deutschlands. Der öffentliche Dienst ist ein hervorra-
gender Standortfaktor. Und unsere Bürgerinnen und Bür-
ger unterscheiden bei ihren Erwartungen doch längst
nicht mehr zwischen einer hochleistungsfähigen Wirt-
4326 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2014
(A) (C)
(D)(B)
schaft, wie wir sie haben, und einer ebenso leistungsfähi-
gen Verwaltung. Wer aber in einem Hochleistungsland
diesen Anforderungen standhalten will, braucht leis-
tungsfähiges Personal. Die Frage ist also nicht: Bekom-
men die Beamten schon wieder mehr Geld? Die Frage
ist: Haben die Personalchefs in unseren Behörden die
Möglichkeiten und Mittel, die sie brauchen, um hoch-
qualifizierte Fachkräfte zu gewinnen? Eine sehr gut
funktionierende Verwaltung ist aktive Wirtschaftspolitik,
und sie ist die Voraussetzung für Lebensqualität in unse-
rem Land. Deshalb ist sich die Union sicher, dass wir mit
diesem Gesetz heute genau am richtigen Punkt investie-
ren.
IT-Systeme auf dem Stand der Technik erwarte ich
bei der Bundespolizei oder dem Bundesamt für Verfas-
sungsschutz. Für unsere Strategie Digitale Verwaltung
2020 brauchen wir Geschäftsmodelle mit dem Geist vom
Silicon Valley. Wir müssen attraktiv sein für hochspezia-
lisierte IT-Fachkräfte. Wenn wir im Bereich der organi-
sierten Kriminalität bei der Vermögensabschöpfung aus
Straftaten und von Straftätern weiterkommen wollen,
geht das nicht ohne versierte Wirtschaftswissenschaftler,
Juristen und Steuerexperten.
Ich glaube nicht, dass der öffentliche Dienst allein im
Bereich Vergütung mit der Wirtschaft konkurrieren kann
oder je können wird. Wir merken das schmerzlich, wenn
wir nur mühsam dringend benötigten Nachwuchs in na-
turwissenschaftlichen Bereichen finden. Die CDU/CSU
verfolgt seit Jahren eine andere, erfolgversprechende
Strategie: Wir wollen mit einem ganzen Bündel an Maß-
nahmen für gute Vereinbarkeit von Familie und Beruf,
moderne, attraktive Arbeitsbedingungen und eine ad-
äquate Vergütung den Bewerbern eine bestens ausbalan-
cierte Attraktivität bieten. Und: Wir haben in den letzten
Jahren in dieser Hinsicht schon viel erreicht. Mit dem
Fachkräftegewinnungsgesetz haben wir Anreize bei der
Besoldung gesetzt, mit dem Familienpflegezeitgesetz
haben wir für bessere Vereinbarkeit von Dienst und
Pflege von Angehörigen gesorgt, und wir haben den Ein-
tritt in den Ruhestand flexibler gestaltet.
Gestern hieß es in der FAZ: Eine führende Unterneh-
mensberatung hat im Frühjahr dieses Jahres knapp vier-
einhalbtausend Studenten in ganz Deutschland befragt.
Und wissen Sie, was dabei herausgekommen ist? Knapp
ein Drittel der Studenten will später in den öffentlichen
Dienst. Diese 32 Prozent wollen später nicht in die Pri-
vatwirtschaft. Hier darf die Union sagen: Wir sind mit
unserer Beamtenpolitik mitten in einem Reformprozess,
und der ist offensichtlich erfolgreich. Ansonsten hätte so
eine Befragung anders ausgesehen.
Die Steigerungsraten sind besorgniserregend: Allein
im April 2014 gab es insgesamt 37 Gewalttaten gegen
die Polizei in Deutschland. Wie viele Repräsentanten un-
seres Staates in Arbeitsagenturen oder bei den Rettungs-
diensten und Feuerwehren in Ausübung ihres Amtes
nicht mehr den Respekt erfahren, den die Menschen in
unseren Verwaltungen zu Recht erwarten dürfen, wissen
wir letztlich nicht. Aber dass eine rote Linie unterschrit-
ten ist, das wissen wir. „Mehr Achtung für Menschen,
die unseren Staat repräsentieren“ ist deshalb ein innen-
politischer Schwerpunkt der Unionsfraktion in dieser Pe-
riode.
Die Union schreibt die verantwortliche Politik der
letzten fünf Jahre fort. Wir beraten heute den dritten Ge-
setzentwurf in Folge, mit dem wir das Tarifergebnis für
den öffentlichen Dienst zeit- und inhaltsgleich auf die
Beamtinnen und Beamten, Richterinnen und Richter,
Soldatinnen und Soldaten und Versorgungsempfängerin-
nen und Versorgungsempfänger des Bundes übertragen.
Die Dienst- und Versorgungsbezüge werden in zwei
Schritten steigen: im ersten Schritt rückwirkend ab 1. März
2014 um 2,8 Prozent und nicht weniger als 90 Euro-So-
ckelbetrag. Im zweiten Schritt ab 1. März 2015 sollen
die Bezüge um weitere 2,2 Prozent steigen. Mit dem Ab-
schlag von 0,2 Prozent pro Anpassungsschritt leisten die
Beamten ihren Beitrag zur Versorgungsrücklage des
Bundes, und sie helfen dabei, die Beamtenversorgung
langfristig auf solide Füße zu stellen. Das ist gut und
richtig; leider wird wenig darüber berichtet.
Faire Besoldung sollte uns am Herzen liegen; sie
macht uns am Arbeitsmarkt wettbewerbsfähig, stärkt das
Binnenklima unserer Behörden und ist gerecht. Ich be-
danke mich deshalb bei unserem Koalitionspartner. Dass
vorausschauende Beamtenpolitik nicht in allen Ländern
so reibungslos funktioniert, liegt vielleicht auch an der
Partnerwahl, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD.
Drum prüfe, wer sich ewig bindet! Diese Koalition und
die CDU/CSU-Fraktion im Besonderen tun dem öffentli-
chen Dienst jedenfalls gut. Und so soll es bleiben!
Mahmut Özdemir (Duisburg) (SPD): Wir beraten
heute in erster Lesung das Bundesbesoldungs- und -ver-
sorgungsanpassungsgesetz für die Jahre 2014/2015. Es
ist uns ein zentrales Anliegen, dass wir dieses Gesetz
hier und heute debattieren. Denn dieser gesetzgeberische
Akt sollte nicht nur als Selbstverständlichkeit gelten,
sondern auch und gerade als eine bewusste Entscheidung
des Bundestages mit der Regelungskompetenz zum Bun-
desbeamtenrecht und als Haushaltsgesetzgeber, seine
Staatsdiener und deren Arbeit zu würdigen.
Zu Beginn betone ich, dass sich eine solche Würdi-
gung der Arbeit für den Staat nicht ausschließlich in
Geld ausdrücken lässt. Dennoch ist und war uns bereits
im Rahmen der vorhergehenden Plenardebatte vom
20. März 2014 anlässlich der Tarifverhandlungen für die
Beschäftigten im öffentlichen Dienst des Bundes und der
Kommunen im Deutschen Bundestag gewiss, dass es ein
Mehr auch für die Beamtinnen und Beamten geben wird.
Die Tarifautonomie in unserem Land funktioniert und
wird zumindest von weit überwiegenden Teilen des
Deutschen Bundestages auch entsprechend respektiert.
Ebendieser Respekt gegenüber dem erfreulich erfolg-
ten Tarifabschluss für den öffentlichen Dienst vom
1. April 2014 gebietet es daher, alle – und ich betone:
alle – diejenigen, die „öffentliche Aufgaben“ im Dienste
des Staates verrichten, in jedem Falle und damit unge-
achtet ihres offiziellen Dienststatus gleich zu behandeln.
In dieser Tradition stehen die bisherigen und langjährig
praktizierten Übertragungen der Tarifergebnisse im öf-
fentlichen Dienst auf die Beamtinnen und Beamten,
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2014 4327
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Richterinnen und Richter sowie Soldatinnen und Solda-
ten.
Der öffentliche Dienst des Bundes bietet hervorra-
gende Arbeitsbedingungen, seien es – um nur einige
Punkte zu nennen – die Möglichkeit zur flexiblen
Arbeitszeitgestaltung oder aber auch die vorbildliche
Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
Die Arbeitsbedingungen einschließlich der Entloh-
nung machen den öffentlichen Dienst attraktiv und auch
zu einem unverzichtbaren Bestandteil und Garanten ei-
nes funktionierenden Staates. Über 1,9 Millionen Be-
amte in ganz Deutschland und davon alleine 250 000 in
der unmittelbaren Bundesverwaltung sorgen tagtäglich
dafür, dass diejenigen Gesetze, die wir Abgeordneten für
die Menschen im Land beschließen, auch in die Tat um-
gesetzt werden, dass die Gesetze, die wir beschließen,
im Einzelfall im Verhältnis unter Privaten oder aber auch
im Verhältnis der Bürgerinnen und Bürger zum Staat von
Richterinnen und Richtern unabhängig entschieden wer-
den, dass transatlantische und europäische Bündnisse
von Soldatinnen und Soldaten repräsentiert werden, die
in letzter und wesentlicher Instanz dem Einsatzbefehl
des Parlamentes unterstehen.
Diese anspruchsvollen Aufgaben sind nur mit gut
ausgebildetem Personal zu stemmen, und damit dieses
Personal auch täglich zufrieden an den Dienst geht, gilt
es für uns als Deutschen Bundestag, die Arbeitsbedin-
gungen beginnend bei der Mitbestimmung im öffentli-
chen Dienst und der Besoldung sowie darüber hinaus bei
der Versorgung der Beamtinnen und Beamten sicherzu-
stellen. Eine solche Sicherstellung der Qualität, Attrakti-
vität und Stabilität der Verwaltung erzielen wir nicht zu-
letzt mit diesem Gesetzentwurf, wie er heute vorliegt.
Dieses Vorgehen entspricht im Übrigen einer lange
gepflegten Praxis. Der Haushaltsvorbehalt ist kein
Selbstzweck, und noch viel weniger darf er eine Recht-
fertigung für ein zaghaftes Verhalten der Politik sein,
Ansprüche per se anzunehmen oder abzulehnen.
Die aktuelle Übertragung des Tarifabschlusses vom
1. April 2014 sieht vor, dass rückwirkend zum 1. März
2014 eine Erhöhung der Bezüge von 2,8 Prozent, min-
destens jedoch um 90 Euro, und ab dem 1. März 2015
2,2 Prozent Erhöhung der Bezüge auf die Beamtenschaft
übertragen werden. Die Bildung und Anpassung der
Versorgungsrücklage wiederum speist sich aus beiden
Stufen der Übertragung mit jeweils 0,2 Prozent. Dies
stellt eine systemimmanente inhalts- bzw. wirkungs-
gleiche Übertragung dar, in Würdigung des geltenden
Beamtenrechts.
Seit Jahrzehnten wird die soeben vorgestellte Anpas-
sung nach jeder Tarifrunde im öffentlichen Dienst auch
zum Anfang des Monats auf dem Konto der Beamtinnen
und Beamten, Richterinnen und Richter und Soldatinnen
und Soldaten in Gänze spürbar. Dabei gibt es diese
Übertragung natürlich nicht zum Nulltarif. Jedoch
können wir aus den vorgenannten Gründen, die die Leis-
tungsbereitschaft und Leistungsfähigkeit des öffentli-
chen Dienstes beschreiben, als zuständige Innenpolitiker
selbstbewusst in jeder Haushaltsrunde etwaige Mehr-
belastungen guten Gewissens vertreten.
Die Mehrbelastungen für die Anpassung der Dienst-
und Versorgungsbezüge im Bundeshaushalt stellen sich
wie folgt dar: Im Jahre 2014 wird die Anpassung mit
542 Millionen Euro etatisiert, im Jahre 2015 mit
1,05 Milliarden Euro und im Haushaltsjahr 2016 mit
1,13 Milliarden Euro. Die Versorgungsrücklage wird in
den Haushaltsjahren 2014 und 2015 hierbei mit rund
105 Millionen Euro gespeist werden.
Diese Zahlen machen deutlich, dass wir uns den öf-
fentlichen Dienst sprichwörtlich „etwas kosten lassen“.
Dies geschieht jedoch niemals, ohne zugleich die haus-
halterische Vernünftigkeit sowie die Leistungsmerkmale
ins Verhältnis zu setzen. Stellen Sie sich vor, es gäbe
keine hoheitliche Instanz, die die Steuergesetze, die wir
beschließen, auch durch Staatsdiener vollstreckt. Stellen
Sie sich vor, es gäbe keine Zollbeamten, die Schwarzar-
beit verfolgen und zur Ahndung vorbereiten würden.
„Stellen Sie sich vor“ – diese Liste wäre derart lang, dass
die Redezeit aller Redner nicht ausreichen würde, das
Aufgabenprofil des öffentlichen Dienstes angemessen zu
umreißen.
Mit diesem Gesetz und den künftigen Haushalten drü-
cken wir neben den Tarifbeschäftigten, die im März
2014 aufrecht mit dem Bund verhandelt haben, auch den
Staatsdienern im Beamtenstatus die ihnen gebührende
Wertschätzung aus. Dies zeigt, dass die kompromissori-
entierte Kooperation zwischen dem Bundesministerium
des Innern, dem Bundestag und den Beschäftigten im öf-
fentlichen Dienst des Bundes eine verlässliche Grund-
lage ist, auf der die deutsche Verwaltung und letztlich
der Staat als solcher fußt.
Matthias Schmidt (Berlin) (SPD): Als ich Mitte der
80er-Jahre in den öffentlichen Dienst kam, hatte dieser
noch ein anderes Gesicht. Die Büros hießen Amtsstuben,
anstelle eines PCs war an der Schreibtischkante ein Blei-
stiftspitzer angeschraubt. Obrigkeitshörigkeit, so schien
es, war stets wichtiger als die Sache. Dieses Bild des öf-
fentlichen Dienstes hält sich zwar hartnäckig in vielen
Vorurteilen, es hat aber mit der heutigen Situation nichts
mehr gemein. Wir alle haben zahlreiche Kontakte zu
Verwaltungen in Bund, Ländern und Gemeinden. Ich
hoffe, Sie teilen meine Einschätzung, dass wir uns – von
wenigen Ausnahme abgesehen – auf allen Ebenen auf ei-
nen effizienten, beratenden und verwaltenden öffentli-
chen Dienst verlassen können. Oftmals sind es Beamtin-
nen und Beamte, die uns zuarbeiten und beraten. Es ist
nur gerecht, dass dieses in angemessenem Rahmen
durch Erhöhung der Besoldung entlohnt wird. Im vorge-
legten Gesetzentwurf greift die Bundesregierung auf das
Ergebnis des Tarifabschlusses für den öffentlichen
Dienst des Bundes zurück, und das ist auch gut so! Wir
haben mit der Tarifpartnerschaft ein starkes Prinzip in
unserer Gesellschaft verankert.
Die Übernahme der Ergebnisse der Tarifverhandlun-
gen ist also erfreulich: 2,8 Prozent rückwirkend zum
1. März 2014 und 2,2 Prozent ab März 2015 bei einem
Mindestbetrag von 90 Euro. Von Letzterem werden die
unteren Besoldungsstufen profitieren, und das ist richtig.
Es ist ein gutes Signal in Richtung Attraktivität der vie-
4328 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2014
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len Berufsbilder im Dienst der Bundesbehörden. Junge
Menschen orientieren sich bei ihrer Berufswahl nicht nur
an den beruflichen Inhalten, sondern auch an den finan-
ziellen Perspektiven. Das ist doch vollkommen klar und
verständlich. Und der Nimbus des Berufsbeamtentums
hat durch vielerlei Einflüsse schon lange an Glanz verlo-
ren. Personalabbau, Leihbeamte, Ausstattungsmängel –
das sind Schlagworte aus heutiger Zeit, die den Berufs-
wunsch „Bundesbeamter“ schmälern. Natürlich stehen
die Begriffe für eine sehr eingeschränkte Sicht auf die
Dinge, in der öffentlichen Wahrnehmung des Berufsbil-
des spielen sie dennoch eine wichtige Rolle. Der öffent-
liche Dienst muss also wie die Privatwirtschaft um seine
Attraktivität kämpfen, und das gilt besonders mit Blick
auf die demografische Entwicklung. Der öffentliche
Dienst steht vor einer dramatischen Pensionierungswelle
und damit vor immensen Herausforderungen. Es ist vor
diesem Hintergrund ein richtiger Schritt, dass auch die
Anwärterbezüge steigen. Reichen wird das jedoch nicht.
Lassen Sie mich an dieser Stelle insbesondere einen
Punkt nennen, der den Beschäftigten im öffentlichen
Dienst unter den Nägeln brennt. Der Anteil der befristet
Beschäftigten hat deutlich zugenommen. Das bedeutet
nicht nur eine Herausforderung für eine nachhaltige Per-
sonalpolitik, sondern stellt auch den Faktor immer mehr
infrage, der lange Zeit als der Garant im öffentlichen
Dienst galt: die Beschäftigungssicherheit. Dieser Faktor
verliert durch die Befristungspraxis der letzten Jahre an
Gewicht, und das ist keine gute Botschaft in Richtung
Nachwuchssicherung. Lassen Sie uns darüber nachden-
ken, ob das der richtige Weg für eine gute Personalpoli-
tik ist. Wir Sozialdemokraten haben da Zweifel.
Ich möchte somit zum Schluss das klare Signal in
Richtung unserer Beamtinnen und Beamten senden: Uns
ist bewusst: Mit der Übertragung der Tarifergebnisse ist
die Arbeit noch nicht gemacht. Wir bleiben dran.
Frank Tempel (DIE LINKE): Es ist ausgesprochen
begrüßenswert, dass die Bundesregierung auch in die-
sem Jahr die Tarifergebnisse zeitnah und inhaltsgleich
für die Beamten übernimmt. Die Zugewinne für die
niedrigen Besoldungsgruppen freut uns ebenso wie die
angekündigte Vereinheitlichung der Urlaubstage auf
30 pro Jahr. Leider wird immer noch der Anteil für die
Versorgungsrücklage von 0,2 Prozent bei jeder Stufe der
Erhöhung abgezogen. Eine einmalige Berechnung pro
Tarifrunde wäre deutlich gerechter. Mit dem Folgegesetz
ab 2016 sollte dies geändert werden!
Ich gehe nun aber fest davon aus, dass es den persön-
lichen Überzeugungen des Innenministers Dr. Thomas
de Maizière entspricht, auch in kommenden Jahren die
Übernahme der Tarifergebnisse genauso zu gestalten wie
in diesem Jahr. Das ist aber kein Grund, sich jedes Mal
als Fraktion so überschwänglich selbst zu feiern, wie es
zum Beispiel der Kollege Schuster gern macht. Jede
Menge Hausaufgaben sind noch offen: Die größte Unzu-
friedenheit bei den Bundesbeamten ist die Wochenar-
beitszeit. Die 41 Wochenstunden der Beamten sollten
auf das Maß der Tarifbeschäftigten des öffentlichen
Dienstes (West) mit 38,5 Wochenstunden abgesenkt
werden. Es gibt, wie es der Vorsitzende des Deutschen
Beamtenbundes, dbb, Klaus Dauderstädt, im Gespräch
mit dem Innenausschuss des Bundestages vor wenigen
Tagen formulierte, „keinen Grund für geldwerte Son-
deropfer der Beamten“. Eine Absenkung der Arbeitszei-
ten würde die Attraktivität des öffentlichen Dienstes er-
heblich steigern.
Sie wissen so gut wie ich, dass die öffentliche Hand
im Wettbewerb um Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
weniger mit Gehaltssteigerungen als vielmehr mit fami-
lienfreundlichen Arbeitsbedingungen, flexiblen Lebens-
arbeitszeitregelungen und einer besonders ausgeprägten
Kultur der Mitbestimmung gewinnen kann. Angesichts
der demografischen Entwicklung steht das Problem im-
mer schärfer auf der Tagesordnung. In den kommenden
zehn Jahren fehlen rund 700 000 Beschäftigte.
Die Arbeitszeitregelungen sind da ein zentrales Ele-
ment der Attraktivitätssteigerung, aber auch Maßnah-
men wie die Übernahme der Regelungen zur Mütterrente
und der Rente mit 63 aus dem Bereich der Angestellten.
In der Vergangenheit ist die Beamtenversorgung stets
einbezogen worden, wenn es um Einschnitte in die Al-
tersversorgung ging. Gerechterweise muss diese Über-
tragung vom Rentenbereich zur Beamtenversorgung
auch gelten, wenn es zu Verbesserungen kommt.
Die mangelnde Attraktivität des öffentlichen Dienstes
korrespondiert mit dem Problem der viel zu schmalen
Einstellungskorridore. Wenn nicht im gleichen Maße
ausgebildet und eingestellt wird, wie Beamte in die Ver-
sorgung gehen, nimmt die Arbeitsverdichtung immer
mehr zu. Weniger Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind
für eine gleichbleibende oder gar ansteigende Menge
von Aufgaben zuständig. Das hat auf die Dauer physi-
sche und psychische Überforderungen, eine Qualitätsab-
nahme der Dienstleistungen und mittelfristig eine Ge-
fährdung der öffentlichen Vorsorge zur Folge. Leider
habe ich in den letzten vier Jahren meiner Tätigkeit im
Bundestag nicht den politischen Willen auf Regierungs-
seite gesehen, grundhaft umzusteuern. Der Koalitions-
vertrag, aber auch das bisherige Handeln der Großen
Koalition macht mir allerdings keinen Mut, dass sich
dies ändern wird.
Irene Mihalic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die
Anpassung der Dienst- und Versorgungsbezüge ist zwei-
fellos eine gute Sache. Es gibt für Sie, liebe Kolleginnen
und Kollegen der Koalition, keinen Grund, sich hier be-
sonders auf die Schulter zu klopfen. Denn es ist schlicht
Ihr gesetzlicher Auftrag, die Besoldung und Versorgung
regelmäßig an die allgemeinen wirtschaftlichen und fi-
nanziellen Verhältnisse anzupassen.
Das gilt im Wesentlichen auch für die Übertragung
des Tarifabschlusses des öffentlichen Dienstes. Auch
hier erfüllen Sie nur Ihre rechtliche Verpflichtung, die
Beamtenbesoldung von der Einkommensentwicklung
nicht abzukoppeln. Das ist eine Frage der Angemessen-
heit der Besoldung und damit der Wertschätzung unserer
Beschäftigten.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2014 4329
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Zugleich machen Sie es sich hier aber auch reichlich
einfach. Die Attraktivität des öffentlichen Dienstes allein
mit dem Öffnen der Geldbörse zu erhöhen, funktioniert
nur in den Zeiten, in denen die Staatskassen ausreichend
gefüllt sind. Sowohl die demografische Entwicklung als
auch der Wettbewerb mit der Wirtschaft um die besten
Köpfe erfordern aber viel mehr. Das Durchschnittsalter
im öffentlichen Dienst liegt inzwischen bei rund 45 Jah-
ren – Tendenz steigend. Wir brauchen dringend ein Um-
steuern bei der Gewinnung von Beschäftigten. Welche
Ideen bringen Sie denn mit, um die Attraktivität im
öffentlichen Dienst zu erhöhen? Wie wollen Sie denn
konkret für familienfreundliche und moderne Arbeitsbe-
dingungen sorgen, wie Sie es im Koalitionsvertrag ver-
einbart haben?
Lassen Sie mich dazu mal einen Blick auf das Bun-
deskriminalamt und die Bundespolizei werfen. Die Ant-
wort der Bundesregierung auf unsere Kleine Anfrage zur
Situation von Frauen in der Bundespolizei und dem
BKA spricht hier Bände: Frauen sind eklatant unterre-
präsentiert. Und sie werden auch noch schlechter beur-
teilt. Dabei ist die Beurteilung doch Grundlage jeder Be-
förderung. Vor allem in Führungspositionen findet
Gleichberechtigung quasi nicht statt. Bei der Bundes-
polizei zum Beispiel waren im Jahr 2014 insgesamt we-
niger als 14 Prozent Frauen beschäftigt. Das muss man
sich einmal vorstellen. Im höheren Dienst waren gerade
mal 6 Prozent der Beschäftigten weiblich, im gehobenen
Dienst noch gut 9 Prozent, und im mittleren Dienst wa-
ren es 17 Prozent. Also haben wir hier sowieso schon
kaum Frauen, und je höher es geht, desto weniger. Au-
ßerdem wurden Spitzennoten bei dienstlichen Beurtei-
lungen an Frauen viel seltener vergeben als an ihre
männlichen Kollegen. Das ist eine strukturelle Unge-
rechtigkeit, und das darf nicht so bleiben!
Die vom Bundesinnenministerium beanspruchte
„Vorbildfunktion des öffentlichen Dienstes für familien-
freundliche Arbeitszeiten“ widerlegt die Antwort auf un-
sere Kleine Anfrage übrigens gleich mit. Denn darin
kann man sehen, dass Teilzeitarbeit fast ausschließlich
von Frauen wahrgenommen wird und dass Teilzeitarbeit
dienstlich schlechter beurteilt wird als Vollzeitarbeit.
Deutlich wird die Problematik auch hier anhand schnö-
der Zahlen. Im BKA befinden sich nur 5 von 197 Be-
schäftigten in Leitungsfunktionen in Teilzeit.
Polizistinnen und Verwaltungsbeamtinnen werden
also in doppelter Weise schlechter behandelt als ihre
männlichen Kollegen: Sie werden ohnehin – warum
auch immer – schlechter beurteilt als Männer, und dann
auch noch zusätzlich schlechter durch die häufigere Teil-
zeitarbeit.
Doch wenn man die Bundesregierung danach fragt,
welche Konsequenzen aus diesen Erkenntnissen gezo-
gen werden, dann steht sie einfach blank da. Es gibt von
ihrer Seite keine konkreten Vorschläge, diese Missstände
zu beseitigen. Können wir uns das leisten? Ich meine,
nicht. Sie verschenken damit nicht nur das Potenzial der
Hälfte der Bevölkerung, sondern sie kommen auch Ih-
rem verfassungsrechtlichen Auftrag zur Gleichberechti-
gung nicht nach.
Lassen Sie mich zum Schluss noch darauf hinweisen,
dass Sie sich auch den Ländern gegenüber aus der Ver-
antwortung stehlen. Dem Bund, dem insgesamt nur
11 Prozent aller Beschäftigten im öffentlichen Dienst zu-
zurechnen sind, fällt es leichter, Tarifabschlüsse auf
seine Beamten zu übertragen. Schwieriger ist das für die
Länder und Gemeinden, bei denen Personalkosten einen
Großteil der Ausgaben ausmachen. Genau deren Haus-
haltslage ist aber häufig angespannt, und sie haben es be-
sonders schwer, die Schuldenbremse einzuhalten. An-
stelle den Flickenteppich an Vergütungsregelungen zu
ignorieren, ist eine zukunfts- und generationengerechte
Finanzierung des öffentlichen Dienstes eine gesamtstaat-
liche Aufgabe, für die ich von einer so großen Koali-
tionsmehrheit konstruktive Vorschläge erwarte.
Dr. Günter Krings, Parl. Staatssekretär beim Bun-
desminister des Innern: Die Bundesregierung hat rasch
nach den Tarifverhandlungen den vorliegenden Gesetz-
entwurf eingebracht. Wie Sie wissen, haben sich die
Tarifvertragsparteien nach schwierigen Verhandlungen
am 1. April 2014 für die Tarifbeschäftigten von Bund
und Kommunen auf einen Abschluss verständigt, der mit
5,4 Prozent Entgelterhöhung im Rahmen vergleichbarer
Tarifabschlüsse anderer Branchen liegt. Dies war ein gu-
tes, weil faires Ergebnis – fair gegenüber den Beschäf-
tigten von Bund und Kommunen, die sich zu Recht mehr
Lohn wünschen, fair aber auch gegenüber den Steuer-
zahlern, die hierfür aufkommen.
Der Tarifvertrag hat eine Laufzeit von zwei Jahren.
Dementsprechend deckt auch die Anpassung für Besol-
dungs- und Versorgungsempfänger den Zeitraum bis
2015 ab. Das gibt Stabilität und Planungssicherheit. Ge-
lungen ist das ohne Schlichtung und Erzwingungs-
streiks. Die Sozialpartnerschaft hat funktioniert.
Diese Erhöhung, die natürlich auch eine Anerken-
nung der Leistungen der Beschäftigten darstellt, soll nun
auf die Besoldungs- und Versorgungsempfängerinnen
und -empfänger des Bundes übertragen werden.
Mit dem Gesetzentwurf werden die Dienst- und Ver-
sorgungsbezüge im Bund für die Jahre 2014 und 2015 in
zwei Schritten um insgesamt 5 Prozent angehoben. Im
ersten Schritt werden sie rückwirkend zum 1. März 2014
um 2,8 Prozent erhöht, jedoch mindestens um 90 Euro.
Im zweiten Schritt steigen sie zum 1. März 2015 um
2,2 Prozent.
Damit wird das Ergebnis der Tarifverhandlungen zeit-
und inhaltsgleich übernommen. Die Bezüge werden so
an die Entwicklung der allgemeinen wirtschaftlichen
und finanziellen Verhältnisse für die nächsten zwei Jahre
angepasst. Alle Statusgruppen – Tarifbeschäftigte, Be-
amte, Richter, Soldaten – nehmen gleichgerichtet an der
Anpassung teil. Der öffentliche Dienst des Bundes bildet
eine Einheit – daran halten wir fest.
Mit dem vereinbarten Mindestbetrag in Höhe von
90 Euro enthält das Tarifergebnis eine soziale Kompo-
nente für die unteren Einkommensgruppen, die in den
Tarifverhandlungen besonders umkämpft war. Diese
Komponente enthält jetzt auch das vorliegende Anpas-
4330 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2014
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sungsgesetz. Für die Zukunft müssen wir bei solchen
Vereinbarungen zweierlei im Auge behalten:
Erstens müssen wir prüfen, ob im Vergleich der Ver-
dienststrukturen des öffentlichen Dienstes mit denen der
gewerblichen Wirtschaft tatsächlich ein entsprechender
Korrekturbedarf besteht.
Zweitens müssen wir auch die innere Stimmigkeit des
öffentlichen Gehaltssystems bewahren. Das Besoldungs-
recht spricht hier von Ämtergefüge, was letztlich nichts
anderes bedeutet als das Gebot, auch in der Vergütung
nicht alle Unterschiede zwischen den Verantwortungs-
stufen einzuebnen. Denn eigentlich sind verbesserte
Bedingungen für Fachkräfte das Gebot der Stunde. Das
räumen auch die Gewerkschaften ein, die aber dennoch
die soziale Komponente forderten, selbst wenn davon
Fachkräfte wenig profitieren.
Die vorgesehenen Erhöhungen liegen jeweils 0,2 Pro-
zentpunkte unter der Anpassung im Tarifbereich. Die
Verminderung hat ihren Grund in gesetzlichen Vorgaben,
wonach die Bezügeanpassung um 0,2 Prozentpunkte zu-
gunsten der Versorgungsrücklage des Bundes zu vermin-
dern ist. Die entsprechenden Beträge fließen in die seit
1999 bestehende Versorgungsrücklage des Bundes. Dies
entspricht der Strategie der Bundesregierung zur nach-
haltigen Sicherung der Finanzierungsgrundlagen der Be-
amtenversorgung und kommt letztlich allen Besoldungs-
und Versorgungsempfängern zugute.
Die Anwärterbezüge erhöhen sich entsprechend dem
Ergebnis der Tarifverhandlungen zum 1. März 2014 um
40 Euro und zum 1. März 2015 um 20 Euro. Dies ist ein
Signal für den Nachwuchs im öffentlichen Dienst des
Bundes.
Die Attraktivität des öffentlichen Dienstes folgt nicht
allein aus der Bezahlung. Interessante und herausfor-
dernde Aufgaben sowie angemessene, den Lebensent-
würfen der Menschen gerecht werdende Arbeitsbedin-
gungen stellen ebenso gewichtige Elemente für die
Anziehungskraft eines Arbeitsplatzes dar. Gleichwohl
können die Beschäftigten – dies gilt für Tarifbeschäftigte
und Beamte gleichermaßen – eine Teilhabe an der allge-
meinen wirtschaftlichen Entwicklung erwarten. Mit dem
Tarifabschluss und diesem Gesetzentwurf stellt der Bund
dies sicher. Ich bitte deshalb um Ihre Zustimmung zu
dem Gesetzentwurf.
Anlage 17
Zu Protokoll gegebene Rede
zur Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Achten Gesetzes zur
Änderung des Weingesetzes (Tagesordnungs-
punkt 15)
Roland Claus (DIE LINKE): Es gibt nicht viele poli-
tische Sachverhalte hier im Hohen Hause, über die ein so
großes Einvernehmen besteht wie beim Wein. Wir ste-
hen derzeit vor der Aufgabe, EU-rechtliche Änderungen
angemessen in nationales Recht zu übertragen. Und da
sage ich: Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung trägt dieser Aufgabe Rechnung. Dies wird auch
durch die Fachverbände im Bereich des Weinanbaus be-
stätigt: Der Gesetzentwurf der Bundesregierung wird all-
gemein als Verbesserung der bislang geltenden gesetzli-
chen Regelungen bewertet.
Meine Fraktion begrüßt dabei, dass im Zuge der
Rechtsangleichung die Bundesanstalt für Landwirtschaft
und Ernährung, BLE, in ihrer Funktion als Gesundheits-
behörde mithilfe eines Sachverständigenausschusses
zukünftig Aussagen zu den Auswirkungen des Weinkon-
sums auf die Gesundheit und das Verhalten der Konsu-
mierenden bewerten wird. Die Linke hielte jedoch,
ebenso wie der Deutsche Weinbauverband, die Teil-
nahme eines Sachverständigen der Weinwirtschaft am
Sachverständigenausschuss für sinnvoll. Durch die Er-
weiterung des Sachverständigenausschusses um eine
Fachkraft der Weinwirtschaft würden deren spezifische
Kenntnisse Bestandteil der Gesamturteilsfindung des
Gremiums. Die Gefahr einer überdimensionierten Ein-
flussnahme der Weinwirtschaft auf die Tätigkeit des
Sachverständigenausschusses sieht die Linke, ebenso
wie der Deutsche Weinbauverband, nicht.
Die Weiterentwicklung der Weinwirtschaft, der
Schutz des Kulturgutes Wein und die gesundheitliche
Aufklärung und Vorsorge im Umgang mit Alkohol gehö-
ren für uns zusammen. Deshalb wird die Linke dem Ge-
setzentwurf zustimmen.
Lassen Sie mich noch auf zwei Dinge hinweisen: Ers-
tens hat sich am Montag dieser Woche, am 30. Juni
2014, das Parlamentarische Weinforum der Abgeordne-
ten des Deutschen Bundestages mit einer ersten und, wie
ich finde, sehr erfolgreichen Veranstaltung ganz im Zei-
chen des Weinanbaus an Saale und Unstrut konstituiert.
Wie ich eingangs schon sagte: Beim Wein besteht über
die Fraktionsgrenzen hinweg großes Einvernehmen. Je-
weils ein Mitglied aller im Bundestag vertretenen Frak-
tionen ist zugleich Mitglied des Parlamentarischen
Weinforums. Bei den von uns gemeinsam veranstalteten
Parlamentarischen Abenden sind Winzerinnen und Win-
zer, Vertreterinnen der Weinbauverbände, des Deutschen
Weininstituts, Weinköniginnen und Weinprinzessinnen
ebenso Gast wie Abgeordnete aller Fraktionen und inte-
ressierte Journalistinnen und Journalisten. Auf ein Neues
und weiterhin so erfolgreich im Namen des deutschen
Weines!
Aber, nicht erst wir beschäftigen uns intensiv mit der
Gesetzgebung zum Wein. Auch andere Politiker vor uns
haben dies bereits getan. Friedrich Engels etwa suchte
nach einer Gesetzmäßigkeit des Zusammenhangs von
geistigen Getränken und politischer Tätigkeit. Ich zi-
tiere: „Ernstliche und besonders erfolgreiche Aufstände
kamen nur in Weinländern oder in solchen deutschen
Staaten vor, die sich durch Zölle vor preußischem
Schnaps mehr oder weniger geschützt hatten.“ (Marx-
Engels-Werke; Band 19; Seite 41–42; Dietz 1982). Und
ernstliche gesellschaftliche Veränderungen brauchen wir
auch in Europa und in Deutschland. Wenn der Genuss
guten Weins dazu führt, dass die zunehmende soziale
Spaltung der Gesellschaft überwunden und die zuneh-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2014 4331
(A) (C)
(D)(B)
mende Verwicklung Deutschlands in militärische Aben-
teuer verhindert wird, dann sollten wir hier im Bundes-
tag noch viele dem Weine dienliche Gesetzesnovellen
verabschieden.
Anlage 18
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: LKW-Maut nach-
haltig und ökologisch ausrichten (Tagesord-
nungspunkt 22)
Steffen Bilger (CDU/CSU): „Ohne mich wäre die
Autobahn schön leer. Genau wie Ihr Kühlschrank.“ So
steht es auf einigen Lastern, denen wir als Autofahrer
gelegentlich auf der Autobahn hinterherfahren. Und der
Spruch stimmt – es bringt überhaupt nichts, den Laster
zu verteufeln. Natürlich wollen auch wir mehr Güter auf
Bahn und Binnenschiff verlagern. Aber erstens muss uns
allen klar sein, dass dies nicht von jetzt auf gleich geht,
und zweitens sollen dabei weiterhin alle Gütertranspor-
ter ihre Stärken ausspielen dürfen. Wir brauchen beides,
den Transport auf der Straße wie auch den auf Schiene
und Wasserwegen. Dazu ist allen Beteiligten klar, dass
der Lkw seinen Beitrag zur Straßennutzung leisten muss.
Und das tut er ja bereits in sehr großem Umfang: Zur
Straßenbenutzungsgebühr kommen auch noch die Mine-
ralölsteuer und die Kraftfahrzeugsteuer. Dabei sind uns
selbstverständlich alle Gutachten bekannt, die auf die
immensen – errechneten – externen Kosten hinweisen.
Das neue Wegekostengutachten 2013 enthält ja bereits
Berechnungen zu den externen Kosten aus Luftver-
schmutzung und Lärmbelastung, die seit einer Änderung
des EU-Rechts im Jahr 2011 zusätzlich angelastet wer-
den können. Dass dabei erst einmal nur die Kosten der
Luftverschmutzung angelastet werden sollen, beruht auf
technischen Voraussetzungen für eine Anlastung der
Lärmbelastungskosten. Eine schnelle Umsetzung der
Einbeziehung der Lärmbelastung wäre nicht möglich ge-
wesen. Außerdem ist einmal anzumerken, dass der Lkw
nicht nur externe Kosten, sondern auch externe Nutzen
hat. Um ein bekanntes Sprichwort abzuwandeln, könnte
man auch sagen: Nicht nur die Stoßstange ist aller Laster
Anfang – auch die von der Wirtschaft bezahlten Steuern
beginnen oft mit Lastwagen.
Eine Lieblingsforderung der Grünen ist und bleibt die
sogenannte Internalisierung der externen Staukosten.
Stau entsteht aber bekanntlich durch viele Fahrzeuge auf
zu wenigen Fahrbahnen. Lkw würden also doppelt be-
straft: einerseits durch staubedingten Zeit- und Geldver-
lust sowie andererseits dadurch, dass diese auch noch
zusätzlich bezahlt werden müssten. Dabei sollte nicht
vergessen werden: Auch diese Kosten würde am Ende
der Verbraucher bezahlen. Zudem kann die Logistik-
branche noch nicht einmal etwas für nicht vom Staat
ausgebaute Strecken. In William Shakespeares Hamlet
heißt es einmal: „Ist dies schon Irrsinn, so hat es doch
Methode.“
Als Union sind wir weiterhin für den Ausbau der
Schiene und eine Verlagerung auf diesen ökologischen
Verkehrsträger. Aber: Die Schiene ist auch kein Allheil-
mittel! Zum einen ist die Bahn oftmals systembedingt
einfach nicht mit dem Lkw konkurrenzfähig. Die Bahn
ist vor allem auf längeren Strecken bei größeren Güter-
mengen gut bzw. wenn der Zeitverbrauch weniger eine
Rolle spielt. Daneben wäre eine baldige Verlagerung von
größeren Gütermengen von der Straße auf die Schiene
– wie sie letztendlich der Antrag der Grünen fordert –
gar nicht leistbar. Es geht nicht nur um Verlagerung, son-
dern um Bewältigung des auf uns zukommenden Ver-
kehrswachstums. Schon heute gibt es auf vielen Stre-
cken Stau auf der Schiene. Wir arbeiten dabei am Abbau
von Engpässen und dem Ausbau wichtiger Abschnitte.
Das alles kostet neben viel Geld vor allem auch viel Zeit.
Es bringt deshalb nichts, jetzt umfassend die Lkw-Kos-
ten in die Höhe zu treiben, wenn eine echte Alternative
fehlt.
Man muss sich schon manches Mal wundern, was so
in Anträgen steht. Die Grünen beklagen, dass das Wege-
kostengutachten für niedrigere Lkw-Mautsätze verant-
wortlich sei – bei angeblich steigenden Kosten für den
Erhalt der Straßen. Die steigenden Kosten wurden in ers-
ter Linie durch fehlende frühere Sanierungen verursacht
und erst an zweiter Stelle durch mehr Lkw. Der Bundes-
verkehrsminister ist sicher nicht verantwortlich dafür,
dass unabhängige Gutachter im Einklang mit EU-Recht
niedrige Mautsätze festlegen. Und an den historisch
niedrigen Zinsen – der Grund für die niedrigeren Maut-
sätze – ist der Minister genauso wenig schuld. Dazu ver-
schweigt der Antrag ebenfalls, dass die ganze Lkw-Maut
aus grün-roter Regierungszeit stammt. Viele Forderun-
gen aus dem Antrag hätten also schon damals gleich er-
ledigt werden können.
Es ist aber nicht alles schlecht, was im Antrag steht.
Einige Ideen sind so gut, dass wir sogar selbst schon vor-
her darauf gekommen sind. Bereits im April – und damit
zwei Monate vor Einbringung des grünen Antrags – hat
Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt angekün-
digt, dass er sich bei der EU-Kommission dafür starkma-
chen wird, dass wir das Wegekostengutachten auf neue
Beine stellen dürfen. Dabei hat er unsere volle Unterstüt-
zung.
Zu guter Letzt will ich natürlich noch einmal daran
erinnern, dass wir als CDU/CSU-Verkehrspolitiker un-
sere Verantwortung der Verkehrsinfrastruktur gegenüber
sehr ernst nehmen. Viele Forderungen des Antrags wer-
den wir in dieser Wahlperiode sowieso angehen. Immer-
hin haben wir bisher schon mehr Mittel durchsetzen kön-
nen als die Vorgängerregierungen. Auch bei der Zukunft
von Toll Collect wird Bundesverkehrsminister Dobrindt
in Abstimmung mit uns anderen Verkehrspolitikern der
Koalition ein tragfähiges Konzept vorlegen. Aus den ge-
nannten Gründen lehnen wir den Antrag der Grünen des-
halb ab.
Karl Holmeier (CDU/CSU): Ich bin sehr verwun-
dert, in welchem Maße die Grünen versuchen, Ge-
schichte umzuschreiben, wohl um von eigenen Fehlern
abzulenken. Die Lkw-Maut wurde von einer Bundesre-
gierung eingeführt, in der die Grünen in der Verantwor-
4332 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2014
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tung standen. Die Grünen haben es damals zum Beispiel
zugelassen, dass die Details des Mautbetreibervertrages
geheim waren, selbst für die Abgeordneten des Deut-
schen Bundestages. Erst nach ausufernden Spekulatio-
nen in der Öffentlichkeit und dem Druck der Unions-
fraktion wurde der Vertrag den Mitgliedern des
Verkehrsausschusses zugänglich gemacht. Was hat uns
Ihr geheimer Betreibervertrag gebracht, meine Damen
und Herren von den Grünen? Ein Schiedsverfahren we-
gen der verspäteten Einführung der Maut, in dem der
Bund eine Forderung gegen die Mautbetreiber in Höhe
von 5 Milliarden Euro plus Zinsen geltend macht, eine
Summe, die uns heute bei Erhalt und Ausbau der Ver-
kehrsinfrastruktur fehlt. Das ist die Realität grüner Infra-
strukturpolitik.
Die deutsche Verkehrspolitik steht tatsächlich vor ge-
waltigen Herausforderungen, vor allem bei der Straßen-
infrastruktur. Hier bedarf es enormer Anstrengungen.
Dies hat die Union mit ihren CSU-Verkehrsministern
Dr. Peter Raumsauer und Alexander Dobrindt erkannt.
Wir haben es angepackt. Wir werden besondere Anstren-
gungen unternehmen, um zusätzliche Ausgaben für eine
moderne, sichere und leistungsstarke Verkehrsinfra-
struktur auf den Weg zu bringen. Damit werden wir Stra-
ßen, Schienen- und Wasserwege erhalten und ausbauen.
Diesem Ziel dient auch die Ausweitung der Lkw-Maut.
In der Tat stellt die neue Wegekostenstudie eine neue
Herausforderung dar: Die Mautsätze müssen reduziert
werden; bis 2017 werden 2 Milliarden Euro fest einge-
planter Einnahmen fehlen. Wir stehen aber zu den An-
sprüchen, die wir selbst an unsere Verkehrspolitik ge-
stellt haben: Unser Bundesfinanzminister Wolfgang
Schäuble hat bereits zugesichert, diese Lücke aus dem
allgemeinen Bundeshaushalt zu schließen. So sieht ver-
antwortliche Infrastrukturpolitik der Union aus, ressort-
übergreifend.
Wir werden die im Koalitionsvertrag zugesagten
5 Milliarden Euro für die dringend notwendigen Investi-
tionen in die öffentliche Verkehrsinfrastruktur verwen-
den. Natürlich wäre ein höherer Betrag besser. Wir kön-
nen und wollen aber nicht weiter Geld ausgeben, das wir
nicht haben. Unser haushaltspolitisches Ziel steht: netto-
schuldenfreier Haushalt für das Jahr 2015. Das sind wir
den nachfolgenden Generationen schuldig.
Bei den Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur
werden wir weiter Wege gehen, die bislang noch sehr zu-
rückhaltend beschritten werden: Mit der mittelstands-
freundlichen Fortentwicklung von öffentlich-privaten
Partnerschaften können wir Synergieeffekte erzeugen,
die der Verkehrsinfrastruktur zugute kommen. Auch dies
ist ein Bestandteil verantwortungsvoller Infrastrukturpo-
litik der Union.
Unter dem Strich kann ich zum Antrag der Grünen
feststellen, dass er im Großen und Ganzen nur das wie-
derholt, was bereits realisiert wird oder kurz vor der
Umsetzung steht. Wir werden die Maut in Deutschland
im Einklang mit dem europäischen Recht reformieren.
Bei der Lkw-Maut werden wir die externen Kosten für
Luftverschmutzung und Lärm anrechnen; wir gehen von
zusätzlichen Einnahmen in Höhe von 400 Millionen
Euro pro Jahr aus. Ab dem 1. Juli 2015 werden weitere
1 000 Kilometer autobahnähnliche Bundesstraßen maut-
pflichtig; die Einnahmen betragen rund 500 Millionen
Euro bis 2017. Zum 1. Oktober 2015 wird die Grenze, ab
der die Lkw-Maut zu zahlen ist, auf 7,5 Tonnen abge-
senkt; das sind rund 200 Millionen Euro Mehreinnah-
men bis 2017. Am 1. Juli 2018 kommt die Mautpflicht
für Lkw auf allen Bundesstraßen, wie im Koalitionsver-
trag vereinbart. Zudem werden wir den Umweltfaktor
beim Lkw-Verkehr stärken, indem wir besonders um-
weltfreundliche Fahrzeuge der Euro-VI-Klasse durch
eine eigene günstige Mautklasse fördern. Bei der Re-
form des Mautwesens wird auch die Angleichung der
Mautsätze auf Bundesautobahnen und Bundesstraßen
Berücksichtigung finden.
Ich stelle also fest: Unser Verkehrsminister und die
Große Koalition haben die Situation fest im Griff. Ver-
meintlich guter Vorschläge der Grünen bedarf es nicht,
und populistische Schuldzuweisungen sind vollkommen
fehl am Platz. Wir werden die Maut in Deutschland zu-
kunftssicher weiterentwickeln.
Sebastian Hartmann (SPD): Jedem Ansinnen, die
Lkw-Maut weiterzuentwickeln, gebührt Lob und Aner-
kennung. Eine solche Weiterentwicklung hat zwei ent-
scheidende Dimensionen: Zum einen ist dies die Berech-
nung der Wegekosten und damit auch eine europäische
Systematik. Die zweite Dimension ist die Effizienz der
Mauterhebung und damit verbunden die Frage der Zu-
kunft der TollCollect GmbH.
Greifen wir einen der Gedanken im Antrag der Grü-
nen auf: Auf einsamen ländlichen Bundesstraßen fährt
eine Handvoll Lkw herum, deren Kostenanteil an den
verursachten Schäden höher sein muss, weil sie sie nur
unter sich aufteilen können. Aus horrenden Mautgebüh-
ren, die demnächst dabei entstehen, wird in durchaus be-
merkenswerter Logik die theoretische Möglichkeit abge-
leitet, dass entlegene Regionen nun – Zitat – „verstärkt
fordern, an eine Autobahn angeschlossen zu werden“.
Aus dem Wegekostengutachten sind tatsächlich eine
Reihe von Schlussfolgerungen zu ziehen. Dass sich aber
aus ihm ergibt, demnächst Autobahnen bauen zu müs-
sen, um Mautgebühren zu sparen, halte ich für unzutref-
fend.
Und da sind wir bei der Entscheidung. Entweder sind
Ihnen die Berechnungsgrundlagen des Wegekostengut-
achtens zu niedrig oder die Auswirkungen zu hoch.
88,2 Milliarden Euro an externen Kosten hat die TU
Dresden zusammengerechnet, indem sie jede einzelne
Nebenwirkung von Verkehr betrachtet. Entlang einer
Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung würde man dann
allerdings erst recht dazu neigen, Ihre „Kostenwahrheit“
auch auf entlegene Regionen auszudehnen – dieselben
Regionen, in denen auch die von Ihnen geforderte Ab-
senkung der Gewichtsgrenze auf 3,5 Tonnen am stärks-
ten durchschlagen würde.
Das Ziel der Maut ist eine dauerhafte Finanzierung
der tatsächlichen Kosten. Dazu zählen nicht nur die
Finanzierungskosten bei Wiederbeschaffung – das ist
richtig –, sondern auch die externen Kosten wie Lärm-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2014 4333
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und Umweltschutz, die in die Berechnung hineingehö-
ren. Dies sieht die SPD-Bundestagsfraktion genauso.
Die Zinsfixierung der Bau- und Beschaffungskosten ist
ein systematisches Problem der Wegekostenberechnung,
das wir durch Anrechnung der anderen Faktoren in ange-
messener Weise korrigieren müssen. Aber man darf
nicht an der einen Stelle einer finanziellen Überlastung
des Transportgewerbes das Wort reden, um es an anderer
Stelle zu beklagen.
In Wahrheit ist es doch so: Gerade in ländlichen Re-
gionen ist der Ausbau von Bundesstraßen nötig. Dass
man daran diejenigen beteiligt, die sie benutzen, er-
scheint mir logisch. Es ist daran zu erinnern, dass sich
unter wohlfahrtsökonomischen Aspekten ein solcher
Beitrag in vielfacher Hinsicht auszahlt: Eine gute Infra-
struktur im ländlichen Raum schafft ja überhaupt erst die
Voraussetzungen, Handel und Gewerbe vorwärtszubrin-
gen. Das gilt für Straßen und Schienen übrigens im sel-
ben Maße wie für die Breitbandversorgung.
Die Ausweitung der Lkw-Maut auf alle Bundesstra-
ßen ist eine Forderung, die die SPD schon vor Jahren
aufgestellt hat und die uns in den Koalitionsverhandlun-
gen besonders wichtig war. Wir freuen uns, dass der
Minister diesen Auftrag ernst nimmt und die Umsetzung
in der schnellsten ihm möglichen Weise angekündigt hat,
nämlich zum Ende dieser Legislaturperiode. Ich finde,
wir halten uns in der Debatte häufig mit Fragen auf, die
mit dem Ziel wenig zu tun haben, sondern nur mit unter-
schiedlichen Auffassungen über den Weg dahin. Übri-
gens ist die Erweiterung um 30 000 Kilometer auch im
Sinne nicht nur ökonomischer, sondern auch ökologi-
scher Betrachtung vernünftig. Sie hat auch Nebenef-
fekte, die nicht außer Acht gelassen werden sollten, wie
eine Vermeidung oder immerhin Reduzierung von Ver-
kehrsverlagerung und Lärm.
Ich habe es letzte Woche an dieser Stelle gesagt, und
ich stehe dazu: Zur konzeptionellen Weiterentwicklung
der Maut gehört auch die Ziehung der Call-Option zur
zumindest zeitweiligen Übernahme der TollCollect
GmbH in Bundeseigentum. Es würde uns in die Lage
versetzen, dauerhaft die Mauteinnahmen zu sichern und
die Ausweitung und Vertiefung der Maut zu ermögli-
chen. Allerdings glaube ich nicht, dass am Ende das ge-
samte System der Mauteinnahme zusammenbricht,
wenn wir die Call-Option nicht noch in dieser Woche
ziehen.
Leitlinie des Vorgehens sind drei Dinge: Wir wollen
die Mauteinnahmen über den vertraglich vereinbarten
Betriebszeitraum hinaus sichern, wir wollen so bald wie
möglich die zusätzlichen Einnahmen aus der Erweite-
rung auf das gesamte Verkehrsnetz der Bundesstraßen
vornehmen, und wir wollen die Erhebung der Maut in
möglichst effizienter Weise organisieren. Ich bin ein An-
hänger der Idee, dass die TollCollect GmbH in Bundes-
eigentum übernommen werden muss, um diese drei
Ziele zu erreichen; aber ich stelle nicht in Abrede, dass
dieselben Ziele vielleicht auch anders zu erreichen sind.
Selbstverständlich ist dies eine Übergangsphase. Der
Mautbetrieb ist erneut auszuschreiben und ein, zwei
starke Partner sind zu gewinnen.
Die Weiterentwicklung der Maut muss auf europäi-
scher Ebene stattfinden. Wir unterhalten uns dieser Tage
über die Umsetzung der EU-Richtlinie für den europäi-
schen elektronischen Mautdienst in Deutschland. Der
Gesetzentwurf liegt dazu dankenswerterweise auf dem
Tisch und befindet sich derzeit in der Verbändeanhö-
rung.
Was wir bei der Lkw-Maut wollen, ist völlig geklärt:
Wir wollen das beste europäische System mit den ge-
ringsten möglichen Erhebungskosten.
Die faire Abbildung der Kosten aller Verkehrsträger
ist unsere Aufgabe. Der Hinweis auf die Transparenz an-
derer Kostenarten und ihrer Berechnung wie bei den
Trassenpreisen im Schienenverkehr ist zulässig, aber an
dieser Stelle nicht sinnvoll. Wir müssen hier die Kosten
der Lkw realistisch darstellen, wenn wir über die Maut
in Bezug auf den Verschleiß der Verkehrsinfrastruktur
und die Folgen für die Umwelt reden; aber die Belastung
der anderen Verkehrsträger sollte man lieber in einer an-
deren parlamentarischen Initiative thematisieren als in
einem Antrag zur Lkw-Maut.
Ich fasse zusammen: Die Ermittlung der tatsächlichen
Wegekosten ist im Interesse des Systems der Nutzer-
finanzierung. Es darf aber zu keiner Überbelastung der
Spediteure kommen. Beim Beitrag zur Finanzierung der
Infrastruktur muss aber auch berücksichtigt werden, dass
die Leistungen und Angebote von Handel und Gewerbe
von der Existenz einer hervorragenden verkehrlichen
Anbindung abhängen – die im wirklich entlegenen
Raum übrigens regelmäßig ohne Autobahnanschluss
auskommen wird, Frau Wilms. Die Wertschöpfung, die
auf der Basis dieser Anbindung erst ermöglicht wird, ist
einer Gesamtbetrachtung im wohlfahrtsökonomischen
Sinn zuzurechnen.
Die Grünen werfen die Frage auf, in welcher Weise
die Bundesregierung den Rückbau des Verkehrsnetzes
zu treiben gedenkt, wenn die Finanzierung von Erhalt,
Betrieb und Sanierung nicht gewährleistet werden kann.
Bevor wir dieses Schreckgespenst an die Wand werfen,
schlage ich einen anderen Weg vor: Sorgen wir für aus-
kömmliche Einnahmen, indem wir die Maut und ihre Er-
hebung weiterentwickeln und verstärken! Mehr Mut!
Wir schaffen das!
Herbert Behrens (DIE LINKE): Es ist nicht das
erste Mal am heutigen Tage, dass wir uns mit dem
Thema der Nutzerfinanzierung im Bereich der Straßen-
verkehrsinfrastruktur befassen. Im Gegensatz zur De-
batte am Nachmittag zu den Plänen der Koalition zur
Einführung einer Pkw-Maut geht es jetzt jedoch um et-
was Substanzielles.
Wir alle wissen, dass die Zeit drängt. Zum einen ver-
fällt die Verkehrsinfrastruktur zusehends, und der Nach-
holbedarf bei der Sanierung von Straßen, Schienen und
Wasserstraßen ist enorm. Wenn der Sanierungsstau nicht
unverzüglich aufgelöst wird, drohen gravierende Kapa-
zitätsengpässe im deutschen Verkehrsnetz. Zweitens
pressiert die Frage, wie es denn weitergehen soll mit der
Lkw-Maut. Im Verkehrsministerium wird jedoch seit
4334 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2014
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Jahren so getan, als ob man auf die jährlichen Nettoein-
nahmen von mehr als drei Milliarden Euro verzichten
könnte. Es wird der Eindruck aufrechterhalten, dass man
sich noch entscheiden könnte, den Vertrag mit Toll
Collect zu verlängern, das System neu auszuschreiben
oder die sogenannte Call-Option zu ziehen.
Dies leugnet jedoch die Fakten. Wie im Antrag völlig
richtig ausgeführt wird, muss Toll Collect spätestens bis
zum 28. Februar nächsten Jahres vom Bund übernom-
men werden. Mit einer Vertragsverlängerung kann die
Lkw-Maut nämlich nicht auf alle Bundesstraßen erwei-
tert werden, wie es SPD und die Unionsfraktionen im
Koalitionsvertrag festgeschrieben haben. Für eine Neu-
ausschreibung des Systems ist es inzwischen zu spät, das
heißt, sie wäre gleichbedeutend mit einem kompletten
Ausfall der Mauteinnahmen über mehrere Jahre. Davor
sollte auch die Große Koalition nicht mehr die Augen
verschließen. Wenn das immer noch nicht arbeitsfähige
Verkehrsministerium hier nicht tätig wird, muss die
Kanzlerin ein Machtwort sprechen und auf die Über-
nahme von Toll Collect drängen. Denn hier ist Angela
Merkels Lieblingsvokabel, bei der sich mir die Nacken-
haare sträuben, ausnahmsweise mal angebracht – näm-
lich die Alternativlosigkeit.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen,
Ihre Forderung, die Call-Option zu ziehen, trifft den
Kern des Problems, und wir unterstützen selbige ohne
Vorbehalte. Leider haben Sie eine entscheidende Frage
nicht bedacht: Warum ist die Bundesregierung nicht ge-
willt, zu tun, worüber inhaltlich eigentlich Konsens
herrscht?
Mit anderen Worten, Sie haben es schlicht unterlas-
sen, eine zentrale Forderung zu stellen, nämlich die nach
der Beendigung der Schiedsverfahren zwischen dem
Bund und dem Betreiber des Mautsystems. Es ist klar,
dass, solange die Bundesregierung auf Zahlungen von
Toll Collect in Milliardenhöhe hofft, sie keine Anstalten
machen wird, den einzig logischen Schritt der vorüber-
gehenden Verstaatlichung von Toll Collect zu machen.
Die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt.
Die Gesellschafter von Toll Collect haben freilich
kein Interesse an einer Übernahme durch den Bund und
spielen daher die Verzögerungskarte im Schiedsverfah-
ren wirklich sehr geschickt. Die Telekom, Daimler und
Vinci wissen genau, dass ein Schiedsspruch zulasten von
Toll Collect nach einer Verstaatlichung den Bund vor ein
Dilemma stellt. Zum einen würde er dann gegen sich
selbst Ansprüche geltend machen, was an Ironie kaum
zu überbieten wäre. Zum anderen macht dies eine an-
schließende Reprivatisierung unmöglich, denn niemand
übernimmt ein Unternehmen mit einer Hypothek im
zehnstelligen Bereich. Warum haben die Gesellschafter
von Toll Collect wohl keine Rücklagen für Schadenser-
satzzahlungen gebildet? Weil sie am längeren Hebel sit-
zen und den Bund am Nasenring durch die Arena ziehen
können.
Die Beendigung des Schiedsverfahrens ist eine uner-
lässliche Bedingung für das Ziehen der Call-Option. Den
Vertrag mit Toll Collect jetzt zu verlängern, verschiebt
das Problem nur in die Zukunft, löst es aber nicht. Jetzt
muss abgewogen werden, ob man, um die Zukunft des
Mautsystems nicht zu verspielen, den Traum von den
Milliarden aus dem Schiedsverfahren nicht begräbt und
einen Vergleich schließt, der den wechselseitigen Ver-
zicht auf Schadensersatz zum Inhalt hat. Dies ist zumin-
dest der Extremfall, über den man angesichts des knap-
pen Zeitrahmens sehr bald wird debattieren müssen.
Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne
Ende! Anders könnte man den Zustand nämlich nicht be-
schreiben, ab 2018 ganz ohne Mautsystem dazustehen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, wir un-
terstützen Ihren Antrag, der mit unseren Vorstellungen
zur Zukunft des Mautsystems weitgehend überein-
stimmt. Aber eine sichere Zukunft wird die Lkw-Maut
nur haben, wenn die Schiedsverfahren mit Toll Collect
noch vor März 2015 beendet werden und damit erst der
Weg für eine vorübergehende Verstaatlichung frei ge-
macht wird.
Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Jahrzehnte haben wir die Verkehrsinfrastruktur immer
nur auf Verschleiß gefahren und das begrenzte Geld nur
in schöne neue Leuchtturmprojekte in den Wahlkreisen
gesteckt. Das rächt sich jetzt. Nur bei der Regierung
scheint diese Erkenntnis noch nicht angekommen zu
sein. Sie fahren munter den bisherigen Kurs weiter.
Unser Problem ist: Trotz Maut fehlen uns Milliarden
für die Straßeninfrastruktur, wie die Daehre- und die
Bodewig-Kommissionen zweifelsfrei belegt haben. Ei-
nen Teil des Problems könnte man sicherlich schon lö-
sen, wenn man mit den vorhandenen Mitteln besser um-
gehen würde.
Wir werden aber nicht darum herumkommen, insge-
samt mehr Gelder für die Verkehrsinfrastruktur bereit-
stellen zu müssen. Dafür können und müssen wir die
Mitfinanzierung durch die Nutzer stärken, und zwar
durch diejenigen Nutzer, die entscheidend zum Ver-
schleiß der Straßen beitragen, also die Lkw.
Die Lkw-Maut ist konsequent und richtig, weil sie
den Ansatz der verursachergerechten Anlastung an den
Unterhaltungskosten verfolgt. Mittlerweile werden die
erzielten Einnahmen zweckgebunden verwendet. Die
Idee, dass der Verursacher für die von ihm verursachten
Kosten anteilig herangezogen wird, ist einleuchtend und
steht für eine nachhaltige Politik.
Wir meinen: Das Mautsystem ist noch ausbaufähig.
Bisher werden die externe Kosten etwa für Gesundheits-
schäden gar nicht ausreichend berücksichtigt. Diese
Kosten trägt immer noch die Gesellschaft, also wir alle,
und nicht der Lkw-Betreiber. Nur durch eine konse-
quente Internalisierung der externen Kosten, wie die
Fachkreise dazu sagen, kann eine Wettbewerbsgleichheit
zwischen den verschiedenen Verkehrsträgern wie Straße,
Schiene, Wasserstraße und Luftverkehr erreicht werden.
Verkehrsträgern, die mehr Schäden verursachen, sollen
auch die wahren höheren Kosten auferlegt werden.
Verursachergerechtigkeit muss für alle Lkw gelten,
auf allen Bundesfernstraßen. Weil es inzwischen immer
mehr Schwertransporte gibt, müssen wir uns die Frage
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2014 4335
(A) (C)
(B)
stellen: Was machen wir mit den richtig schweren Trans-
porten mit über 100 Tonnen über unsere Straßen?
Derzeit entrichten sie ihren Mautsatz wie ein norma-
ler Sattelzug, obwohl die Schwertransporte unsere Brü-
cken und Straßen deutlich stärker belasten. So sind schon
Autobahnbrücken für Schwertransporte gesperrt worden,
weil sie unter den hohen Lasten der Schwertransporte
zusammenbrechen würden. Wo bleibt da endlich eine
verursachergerechte Lösung?
Zu guter Letzt: Es fehlt immer noch eine klare Aus-
sage aus dem Verkehrsministerium, wie es mit dem
Mauterfassungssystem Toll Collect weitergeht, wenn der
Vertrag Ende August nächsten Jahres ausläuft. Wollen
Sie sich dann etwa einen neuen Betreiber suchen? Oder
wollen sie gar auf die Einnahmen aus der Lkw-Maut ver-
zichten? Ich denke, nein. Denn zu groß ist das Risiko,
dass wir am Ende ohne Mauteinnahmen dastehen. Dann
fehlen 4,5 Milliarden in der Kasse. Woher wollen Sie die
dann nehmen?
Viel Zeit ist nicht mehr, und es bleibt auch nur noch
eine realistische Lösung übrig. Daher brauchen wir im
Herbst eine klare Entscheidung, auch im Interesse der
Mitarbeiter von Toll Collect. Das geht nur noch über die
Nutzung der vertraglich vereinbarten Call-Option.
Nehmen wir Toll Collect in Bundeshand, so wie es
der Vertrag mit dem Konsortium vorsieht. Nur so kön-
nen wir das System Maut und Straßen aus einer Hand
sinnvoll weiterentwickeln. Das erwarten die Menschen
und die Wirtschaft im Land von der Politik.
(D)
46. Sitzung
Inhaltsverzeichnis
TOP 4 Einführung eines Mindestlohnes
TOP 5 Ausbau des schnellen Internets
TOP 6 Befristung von Arbeitsverhältnissen
TOP 32, ZP 3 Überweisungen im vereinfachten Verfahren
TOP 33, ZP 4 Abschließende Beratungen ohne Aussprache
TOP 7 Gremienwahl (Standortauswahlgesetz)
ZP 5 Aktuelle Stunde zu EU-Einwänden gegen PKW-Maut
ZP 6 Einstufung sicherer Herkunftsstaaten
ZP 7 Staatsangehörigkeitsgesetz
TOP 10 Geschlechtergerechte Besetzung von Führungsgremien
TOP 30 Renten in Ostdeutschland
TOP 12 100 Jahre Erster Weltkrieg
TOP 13 Fortentwicklung des Meldewesens
TOP 14 Erkenntnisse des NSU-Untersuchungsausschusses
TOP 9 Bundesbesoldungs- und -versorgungsanpassungsgesetz
TOP 16 Teilhabesicherung
TOP 15 Weingesetz
TOP 18 Aufnahme syrischer Flüchtlinge
TOP 17 Anpassung steuerrechtlicher Vorschriften
TOP 20 Bestandsobergrenzen für Tierhaltungen
TOP 19 Bericht der Stelle zur Verhütung von Folter
TOP 22 LKW-Maut
TOP 21 Stabilisierung des Künstlersozialabgabesatzes
TOP 23 Europäische Perspektive für die Republik Moldau
TOP 24 Schutz von Elefanten und Nashörnern vor Wilderei
TOP 25 Verringerung der Abhängigkeit von Ratings
TOP 31 Bevölkerungspolitik 20 Jahre nach Kairo
Anlagen