Rede von
Wolfgang
Gehrcke
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(DIE LINKE.)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (DIE LINKE.)
Sie haben mir doch zugehört: Ich habe die prekäre so-
ziale Lage genannt und die Verzweiflung, die daraus er-
wächst. Daraus resultiert der Wunsch gerade vieler jun-
ger Menschen, Zugang zu Europa zu erhalten, um das,
was sie im eigenen Land nicht realisieren konnten, in an-
deren Teilen Europas zu realisieren.
Wenn wir etwas tun wollen – das sage ich hier ganz
ernsthaft; das ist in etwa eine Nagelprobe –, dann lassen
Sie uns sofort für die Visafreiheit für Menschen aus der
Ukraine eintreten.
Wir dürfen nicht drumherum reden und dürfen diese
Menschen nicht wieder vertrösten. Ähnlich wie Sie, Herr
Sarrazin, habe ich viele Freunde in der Ukraine. Ich war
in verschiedenen Teilen der Ukraine unterwegs und habe
sehr unterschiedliche Bilder vor Augen. Der Wunsch,
ungehindert in andere, auch westeuropäische Länder rei-
sen zu können, ist überall manifest. Warum fangen wir
nicht damit an, ihnen das zu ermöglichen?
Wäre es nicht eine große Geste des Deutschen Bundesta-
ges, die Beschränkungen zurückzunehmen, sodass die
Bürgerinnen und Bürger der Ukraine visafrei nach
Deutschland kommen könnten? Das verstehe ich unter
einer Politik des Nichtzündelns: auf die Menschen ein-
gehen und über Werte diskutieren.
Bevor ich auf die Werte zu sprechen komme, komme
ich auf die unterschiedlichen Motive der Demonstranten
zurück. Die Menschen müssen das Recht haben, zu de-
monstrieren. Sie haben ein Recht auf Gewaltfreiheit und
darauf, nicht eingesperrt zu werden. Ich will mir nicht
den Spaß erlauben, darüber zu debattieren, was in
Deutschland passieren würde, wenn hier Ministerien be-
setzt würden – ich träume manchmal davon, dass es pas-
siert – und wie man hier reagieren würde. Es muss mit
gleichem Maß gemessen werden.
Ich möchte hier in aller Deutlichkeit sagen: Ich be-
nutze nicht für alle Demonstranten den Begriff „Frei-
heitskämpfer“. Ein Teil der Demonstranten ist rechtsra-
dikales, nationalistisches Pack, mit dem ich mich nicht
verbünde, sondern gegen das ich dagegenhalte.
Das muss auch einmal zur Kenntnis genommen werden.
Dass die jüdischen Gemeinden in Kiew einen empören-
den und ängstlichen Brief geschrieben haben, dass sie
sich am Holocaust-Gedenktag nicht mehr getraut haben,
Veranstaltungen durchzuführen, weil sie unter Druck
und Angst standen, das muss uns doch erschrecken.
Uns müssen die Nazifeiern, die auch stattfinden, erschre-
cken. Wir müssen uns klar davon distanzieren und sa-
gen, der Begriff „Demonstrant“ alleine sagt noch nicht
aus, für was demonstriert wird. Wir wollen mit allen zu-
sammenarbeiten, die gewaltfrei eine andere, eine bessere
Ukraine wollen, die ein anderes Europa wollen. Ich will
aber nicht mit Rechtsradikalen zusammenarbeiten. Das
ist den Preis nicht wert. Das möchte ich hier ganz deut-
lich machen.