Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013 30457
(A) (C)
(D)(B)
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Anlage 2
Erklärung
des Abgeordneten Marco Bülow (SPD) zur na-
mentlichen Abstimmung über den Entwurf eines
Gesetzes zu dem Vertrag vom 9. Dezember 2011
über den Beitritt der Republik Kroatien zur
Europäischen Union (Tagesordnungspunkt 7 a)
Bei der namentlichen Abstimmung habe ich verse-
hentlich mit Enthaltung gestimmt. Mein Votum lautet
aber Ja.
Anlage 3
Erklärungen nach § 31 GO
zur namentlichen Abstimmung über den Ent-
wurf eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 9. De-
zember 2011 über den Beitritt der Republik
Kroatien zur Europäischen Union (Tagesord-
nungspunkt 7 a)
Annette Groth (DIE LINKE): Ich habe mich heute
bei dem Antrag enthalten, da ich große Sorgen habe,
dass der jetzige Beitritt von Kroatien weder den Men-
schen im Land noch der heutigen Europäischen Union
helfen wird. Als überzeugte Europäerin habe ich mich
seit meiner frühen Jugend für das Ideal eines geeinten
Europas, das die Interessen der Menschen und der Um-
welt in den Mittelpunkt seiner Politik stellt, eingesetzt.
Mit großer Sorge sehe ich jedoch, dass die heutige Euro-
päische Union dieses Ideal faktisch aufgegeben hat und
unter dem neoliberalen Diktat der herrschenden Eliten
zu einem Instrument für die Durchsetzung der Interessen
der großen transnationalen Unternehmen deformiert ist.
Ich habe große Sorgen, dass auf Kroatien durch den EU-
Beitritt dieselben Probleme zukommen können wie auf
Italien, Portugal, Griechenland, Bulgarien oder Rumä-
nien.
Die heutige Wirtschaftsdynamik innerhalb der EU
führt dazu, dass mit Ausnahme weniger Staaten die Ver-
armung eines immer größeren Teils der Bevölkerung zu-
nimmt. Die heutige EU wird immer mehr dazu miss-
braucht, auf Kosten der Bevölkerung ein Sparpaket nach
dem anderen zur Sicherung der Gewinne von Banken
und Investoren durchzusetzen.
Innerhalb der EU wurden die Demokratie und die Ta-
rifautonomie in einzelnen Staaten immer weiter einge-
schränkt. Unter dem Diktat der Troika werden Staaten
gezwungen, geltende Tarifverträge auszusetzen, und Ge-
werkschaften in ihren Rechten eingeschränkt.
In den südlichen Ländern der EU steigt die Jugendar-
beitslosigkeit in unvorstellbare Höhen. Mehr als zwei
Drittel der Jugendlichen sind in Griechenland arbeitslos,
mehr als 50 Prozent in Spanien. Ein Ende dieser be-
schäftigungspolitischen Katastrophe ist aufgrund der
Austeritätspolitik nicht abzusehen. Die falsche Politik
der EU produziert eine „verlorene Generation“.
Ich habe mich heute bei dem Antrag enthalten, weil
ich die politische Seite der Kopenhagener Kriterien als
nicht erfüllt ansehe. Insbesondere die fortdauernde Dis-
kriminierung der serbischen Minderheit stellt ein großes
Problem dar. Durch den EU-Beitritt droht diese Diskri-
minierungspraxis jetzt auch noch mit einem Plazet der
EU versehen zu werden. Die Bestätigung dieser Diskri-
minierungspraxis von Minderheiten könnte auch ein ver-
heerendes Präjudiz hinsichtlich eines EU-Beitritts der
Türkei sein. Es kann nicht sein, dass die Kopenhagener
Kriterien an einem so wichtigen Punkt einfach ausgehe-
belt werden. Wohin das führt, sehen wir an der verstärk-
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Aigner, Ilse CDU/CSU 16.05.2013
Beck (Reutlingen),
Ernst-Reinhard
CDU/CSU 16.05.2013
Bellmann, Veronika CDU/CSU 16.05.2013
Bleser, Peter CDU/CSU 16.05.2013
Dağdelen, Sevim DIE LINKE 16.05.2013
Hiller-Ohm, Gabriele SPD 16.05.2013
Hintze, Peter CDU/CSU 16.05.2013
Koch, Harald DIE LINKE 16.05.2013
Möller, Kornelia DIE LINKE 16.05.2013
Neumann (Bremen),
Bernd
CDU/CSU 16.05.2013
Pieper, Cornelia FDP 16.05.2013
Schirmbeck, Georg CDU/CSU 16.05.2013
Schlecht, Michael DIE LINKE 16.05.2013
Schmidt (Eisleben),
Silvia
SPD 16.05.2013
Schulte-Drüggelte,
Bernhard
CDU/CSU 16.05.2013
Zylajew, Willi CDU/CSU 16.05.2013
Anlagen
30458 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013
(A) (C)
(D)(B)
ten Diskriminierung von Minderheiten nach einem EU-
Beitritt sowohl in Bulgarien und Rumänien als auch im
Baltikum. Zudem ist der Grenzverlauf zwischen Kroa-
tien und Serbien auf der Donau weiterhin umstritten, so-
dass eine künftige EU-Erweiterung auf dem Balkan mit
zusätzlichen Problemen belastet würde.
Ich bin ausdrücklich für den Beitritt aller Staaten des
Balkans, wenn sie dies wünschen. Gleichzeitig bin ich
jedoch der Überzeugung, dass ein solcher Beitritt nur
dann für die Menschen in der Region Vorteile bringt,
wenn es gelingt, einen Neustart innerhalb der EU durch-
zusetzen und gleichzeitig mit einer reformierten Wirt-
schafts-, Sozial- und Regionalpolitik der EU eine wirkli-
che Entwicklung der Ökonomie und der sozialen
Situation in diesen Ländern möglich zu machen.
Aus diesem Grund habe ich mich bei diesem Antrag
enthalten.
Heike Hänsel (DIE LINKE): Ich kann einem EU-
Beitritt zu Kroatien unter den vorliegenden Bedingungen
nicht zustimmen und werde mich bei der Abstimmung
zum Antrag der Bundesregierung „GE 17/11872“ der
Stimme enthalten.
Es ist nicht erkennbar, dass Kroatien die politische
Seite der Kopenhagener Kriterien, insbesondere was die
Situation der serbischen Minderheit angeht, erfüllt hat.
Dies ist aber eine der Voraussetzungen für einen EU-
Beitritt. Ich befürchte zudem, dass hier ein Präzedenzfall
für einen möglichen EU-Beitritt der Türkei und ihren
Umgang mit der kurdischen Minderheit geschaffen wird.
Des Weiteren bleibt im Bereich der Justiz die Bereit-
schaft Kroatiens ungeklärt, Prozesse vor dem Sonderge-
richt für Kriegsverbrechen in Kroatien auch nach dem
EU-Beitritt fortzuführen. Es ist nicht nachvollziehbar,
wie vor diesem Hintergrund die EU-Kommission grünes
Licht für einen EU-Beitritt Kroatiens im Bereich „Jus-
tiz“ erteilen konnte.
Ferner ist die Frage des Grenzverlaufs zwischen
Kroatien und Serbien entlang der Donau nach wie vor
umstritten geblieben. Damit wird ein künftiger Konflikt
im Falle eines EU-Beitritts Kroatiens nach dem Vorbild
Slowenien-Kroatien in der Adria geradezu heraufbe-
schworen.
Frank Heinrich (CDU/CSU): Die Fortschritte auf
dem Weg zu einem EU-Beitritt Kroatiens auszuwerten,
erscheint in der derzeitigen politischen Großwetterlage
eigentümlich unwirklich und unzeitgemäß. Die Zukunft
und der Verbleib im Euro-Raum steht bei einer Reihe
von Ländern auf tönernen Füßen – und wir reden über
Kroatien.
Das ist den Bürgern schwer zu vermitteln, und doch
ist es richtig und konsequent. Denn wir müssen fair blei-
ben. Die Versäumnisse in vorangegangen Aufnahmepro-
zessen dürfen sich nicht einseitig zulasten der neuen
Mitgliedskandidaten auswirken. Zusagen vonseiten der
EU sind einzuhalten.
Doch müssen wir hier konsequenter sein als früher:
Nur wer alle Bedingungen erfüllt, kann der EU beitreten.
Zu wichtig ist das Projekt der europäischen Einheit, als
dass wir es durch Nachlässigkeiten gefährden dürften.
Daher schließe ich mich den fachlichen Forderungen
an, die mein Fraktionskollege Gunther Krichbaum, der
Vorsitzende des Ausschusses für die Angelegenheiten
der Europäischen Union, formuliert hat:
Kroatien hat während des EU-Beitrittsprozesses um-
fangreiche Reformen vorgenommen, es hat EU-Richtli-
nien übernommen, die Leistungsfähigkeit seiner Justiz
und Verwaltung gesteigert, die Korruption bekämpft und
seine Wirtschaft auf den Beitritt vorbereitet. Es ist daher
zu begrüßen, dass Kroatien das 28. Mitglied der Euro-
päischen Union wird. Doch es muss sichergestellt wer-
den, dass die bereits vorgenommenen Reformen nicht
zurückgenommen oder ausgehöhlt werden.
Zwar werden im Rahmen des Europäischen Semes-
ters auch für Kroatien länderspezifische Empfehlungen
zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit und der ma-
kroökonomischen Stabilität veröffentlicht, doch auch die
Rechtsstaatlichkeit muss regelmäßig in den Blick ge-
nommen werden. Der Antikorruptionsbericht der Europäi-
schen Kommission wird nur alle zwei Jahre vorgelegt – zu
selten, um aktuelle Entwicklungen darstellen zu können.
Ein jährlich erscheinender Kurzbericht wäre hier hilf-
reich. Auch das EU-Justizbarometer, das die Funktions-
weise der Justizsysteme in den Mitgliedstaaten unter-
sucht, erscheint nur in unregelmäßigen Abständen.
Zudem wurde hier bisher Kroatien nicht berücksichtigt,
weshalb man auf einen Bericht über das kroatische Jus-
tizsystem auf unbestimmte Zeit wird warten müssen.
Eine einmalige Sonderausgabe des Justizbarometers für
Kroatien noch 2013 wäre vor diesem Hintergrund wün-
schenswert.
Die genannten Berichte müssen zudem mit den Sank-
tionsmechanismen des Beitrittsvertrags verbunden wer-
den. In Art. 38 und 39 des Beitrittsvertrags sind für den
Zeitraum von drei Jahren nach dem Beitritt – nicht näher
spezifizierte – Maßnahmen vorgesehen, um den Euro-
päischen Binnenmarkt und den „Raum der Freiheit, der
Sicherheit und des Rechts“ zu schützen – ein dazugehö-
riges Berichtswesen, das diese Sanktionen auslöst, fehlt
jedoch. Nur durch die Verbindung dieser Sanktionsmög-
lichkeiten mit den Berichten der Europäischen Kommis-
sion kann hieraus ein effektives Instrument entstehen,
um die wirtschaftliche und rechtsstaatliche Situation in
Kroatien zu verbessern.
Robert Hochbaum (CDU/CSU): Der Beitritt Kroa-
tiens als 28. Mitglied der Europäischen Union ist zu be-
grüßen. Im Laufe des EU-Beitrittsprozesses hat das
Land bereits umfangreiche Reformen vorgenommen,
EU-Richtlinien wurden übernommen, die Leistungsfä-
higkeit von Justiz und Verwaltung gesteigert, Korruption
bekämpft und die Wirtschaft Kroatiens auf den Beitritt
zur Europäischen Union vorbereitet. Kroatien hat in den
vergangenen Jahren viel geleistet, um den Anforderun-
gen für die Aufnahme in die EU gerecht zu werden.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013 30459
(A) (C)
(D)(B)
Ich stimme meinem Kollegen Gunther Krichbaum al-
lerdings dahin gehend zu, dass dieser Reformeifer der
letzten Jahre nach dem Beitritt Kroatiens nicht erlahmen
darf. Wie die Erfahrung zeigt, ist dabei besonders wich-
tig, dass vorgenommene Reformen nicht zurückgenom-
men oder abgeschwächt werden. Vorhandene Berichts-
instrumente sollten besser genutzt und miteinander
verzahnt werden, damit gewährleistet werden kann, dass
Kroatien bestehende Reformen aufrechterhält und mög-
lichst weiter ausbaut.
So bin auch ich der Ansicht, dass ein jährlich erschei-
nender Antikorruptionsbericht der Europäischen Kom-
mission hilfreich wäre, um aktuelle Entwicklungen bes-
ser darstellen und verfolgen zu können. Weiterhin teile
ich die Ansicht meines Kollegen Krichbaum, dass eine
Sonderausgabe des Justizbarometers für Kroatien noch
in diesem Jahr wünschenswert wäre, da dies eine Unter-
suchung der Funktionsweise des Justizsystems in
Kroatien voraussetzen würde.
Um die Sanktionsmechanismen des Beitrittsvertrages,
die unter anderem den europäischen Binnenmarkt schüt-
zen sollen, besser überprüfen und gewährleisten zu kön-
nen, sollten die oben genannten Berichte der Europäi-
schen Kommission als Grundlage für die Überprüfung
der Durchführung der Sanktionsmechanismen Verwen-
dung finden.
Inge Höger (DIE LINKE): Heute werde ich für den
EU-Beitritt Kroatiens stimmen.
Dennoch gebe ich zu bedenken, dass die EU-Mit-
gliedschaft eine schlechte Nachricht für die dortige Be-
völkerung ist. Wie jeder andere Beitrittskandidat musste
auch Kroatien den gesamten „gemeinschaftlichen Be-
sitzstand“ – acquis communautaire – der EU in sein ei-
genes Rechtssystem übernehmen. Dazu gehören Dere-
gulierung der Wirtschaft, Privatisierungen und der
Abbau des öffentlichen Dienstes. Der EU-Beitritt bedeu-
tet für die Masse der Bevölkerung Kroatiens mehr Wett-
bewerb und mehr Armut.
Ich stand im Vorfeld des kroatischen Referendums
zum EU-Beitritt auf der Seite der linken EU-Gegner, die
zu Recht fürchten, Kroatien könnte in eine ähnliche Not-
lage wie Griechenland geraten. Ich respektiere allerdings
den Ausgang des Referendums und stimme deshalb
heute mit Ja. Ein anderes Stimmverhalten wäre Wasser
auf die Mühlen derjenigen, die die Abstimmung als
Druckmittel für eine noch brutalere neoliberale Politik
Kroatiens nutzen wollen. Ich finde es einen Skandal,
dass die EU-Kommission von der kroatischen Regierung
erwartet, noch bis zum Beitrittsdatum 1. Juli 2013 ihre
Schiffswerften zu privatisieren. Das Verscherbeln öffent-
lichen Eigentums steht im Widerspruch zu einer sozia-
len, humanen Entwicklung und dient allein dem Inte-
resse privater Großunternehmer.
Ich finde es zwar bedauerlich, dass sich beim Refe-
rendum eine Mehrheit für den EU-Beitritt Kroatiens ge-
funden hat. Allerdings ist es in Teilen verständlich, dass
sich die Bevölkerung nach den Vorteilen der Reisefrei-
heit sehnt, die in der Sozialistischen Föderativen Repu-
blik Jugoslawien Normalität war – eine Reisefreiheit
freilich, von der aufgrund der heute voranschreitenden
Verarmung immer weniger Menschen in Kroatien Ge-
brauch machen können.
In den Tagen, in denen die Abstimmung im Deut-
schen Bundestag stattfindet, versammeln sich Hunderte
Aktivistinnen und Aktivisten in Zagreb zum Balkan-Fo-
rum im Rahmen des „Subversive Film Festivals“. Sie
gehören zu sozialen Bewegungen und linken Gruppen
aus allen Balkan-Ländern und versuchen, ein linkes
Netzwerk über ethnische und nationale Grenzen hinweg
aufzubauen. Sie wollen nicht zwischen der „euro-atlanti-
schen Integration“ einerseits und dem grassierenden
Ethnonationalismus andererseits wählen. Es handelt sich
hier um Scheinalternativen, um zwei Seiten einer Me-
daille, des neoliberalen Kapitalismus. Die Linke unter-
stützt den Prozess des Balkan-Forums. Ein weiterer
Grund zur Hoffnung ist der Achtungserfolg, den die
Kroatische Arbeiterpartei – laburisti – bei den Europa-
wahlen im April errungen hat.
Ich freue mich darauf, gemeinsam mit der kroatischen
Linken, gemeinsam mit der Linken der gesamten Bal-
kan-Region für die Komplettrevision der europäischen
Verträge und für eine solidarische Neugründung der Eu-
ropäischen Union zu kämpfen.
Gunther Krichbaum (CDU/CSU): Kroatien hat
während des EU-Beitrittsprozesses umfangreiche Refor-
men vorgenommen, es hat EU-Richtlinien übernommen,
die Leistungsfähigkeit seiner Justiz und Verwaltung ge-
steigert, die Korruption bekämpft und seine Wirtschaft
auf den Beitritt vorbereitet. Es ist daher sehr zu begrü-
ßen, dass Kroatien das 28. Mitglied der Europäischen
Union wird. Doch der Reformeifer in Kroatien darf nach
dem Beitritt nicht erlahmen. Auch muss sichergestellt
werden, dass die bereits vorgenommenen Reformen
nicht zurückgenommen oder ausgehöhlt werden, wie
dies leider in anderen Fällen geschehen ist. Um dies zu
gewährleisten, sollten vorhandene Berichtsinstrumente
besser genutzt und miteinander verzahnt werden.
Zwar werden im Rahmen des Europäischen Semes-
ters auch für Kroatien länderspezifische Empfehlungen
zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit und der ma-
kroökonomischen Stabilität veröffentlicht. Doch auch
die Rechtsstaatlichkeit muss regelmäßig in den Blick
genommen werden. Der Antikorruptionsbericht der
Europäischen Kommission wird nur alle zwei Jahre vor-
gelegt – zu selten, um aktuelle Entwicklungen darstellen
zu können. Ein jährlich erscheinender Kurzbericht wäre
hier hilfreich. Auch das EU-Justizbarometer, das die
Funktionsweise der Justizsysteme in den Mitgliedstaaten
untersucht, erscheint nur in unregelmäßigen Abständen.
Zudem wurde hier bisher Kroatien nicht berücksichtigt,
weshalb man auf einen Bericht über das kroatische Jus-
tizsystem unbestimmte Zeit wird warten müssen. Eine
einmalige Sonderausgabe des Justizbarometers für Kroa-
tien noch 2013 wäre vor diesem Hintergrund wün-
schenswert.
Die genannten Berichte müssen zudem mit den Sank-
tionsmechanismen des Beitrittsvertrags verbunden wer-
30460 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013
(A) (C)
(D)(B)
den. In Art. 38 und 39 des Beitrittsvertrags sind für einen
Zeitraum von drei Jahren nach dem Beitritt – nicht näher
spezifizierte – Maßnahmen vorgesehen, um den europäi-
schen Binnenmarkt und den „Raum der Freiheit, der Si-
cherheit und des Rechts“ zu schützen – ein dazugehöri-
ges Berichtswesen, das diese Sanktionen auslöst, fehlt
jedoch. Nur durch die Verbindung dieser Sanktionsmög-
lichkeiten mit den Berichten der Europäischen Kommis-
sion kann hieraus ein effektives Instrument entstehen,
um die wirtschaftliche und rechtsstaatliche Situation in
Kroatien weiter zu verbessern. In künftigen Beitrittsver-
trägen sollte dieses Junktim von Beginn an Berücksichti-
gung finden.
Andreas Lämmel (CDU/CSU): Dem Gesetz zum
Vertrag vom 9. Dezember 2011 über den Beitritt der Re-
publik Kroatien zur Europäischen Union – Bundestags-
drucksache 17/11872 – stimme ich zu. Jedoch verbinde
ich meine Zustimmung mit dieser Erklärung:
Laut den Berichten der Europäischen Kommission er-
füllt Kroatien die formalen Kriterien für einen Beitritt
zur Europäischen Union. Persönlich habe ich jedoch er-
hebliche Zweifel, ob die formale Erfüllung der Beitritts-
kriterien auch die Realität in der Republik Kroatien ge-
genwärtig widerspiegelt. Die Verabschiedung einzelner
Gesetzespakete heißt noch lange nicht, dass diese zum
Standard des staatlichen Handelns gehören. In der Ver-
gangenheit hat dieses formale Vorgehen der Europäi-
schen Union schon mehrfach zu verfrühten Beitritten ge-
führt – zum Beispiel Griechenland, Zypern, Bulgarien,
Rumänien. Auch den Zeitpunkt des Beitritts halte ich an-
gesichts des momentanen Zustands der Europäischen
Union für schwierig. Aus meiner Sicht gilt es zunächst
die Probleme innerhalb der Europäischen Union zu lö-
sen, bevor eine Erweiterung erfolgen kann.
Der Beitritt der Republik Kroatiens darf unter keinen
Umständen eine Vorentscheidung für die schnelle Eröff-
nung von Beitrittsverhandlungen mit weiteren Staaten
sein.
Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Aus meiner Sicht
ist Kroatien nicht beitrittsreif und die EU derzeit nicht in
der Lage, neue Mitglieder aufzunehmen.
Diese Auffassung war in der Fraktion nicht mehr-
heitsfähig. Deshalb stimme ich gegen meine Überzeu-
gung zu.
Stefanie Vogelsang (CDU/CSU): Ich stehe dem
Beitritt der Republik Kroatiens zur Europäischen Union
kritisch gegenüber, da ich denke, dass die Europäische
Union zurzeit eine Pause bei ihrer Erweiterung braucht,
um die vielen Probleme zu lösen, die innerhalb der Ge-
meinschaft bestehen.
Ich denke auch, dass die Republik Kroatien mit ihrer
Entwicklung noch Zeit braucht, bevor sie die wesentli-
chen Standards erfüllen kann.
Ich stimme heute dem Gesetz zu, da meine Fraktion
mit sehr großer Mehrheit diesen Weg beschlossen hat.
Marco Wanderwitz (CDU/CSU): Kroatien hat wäh-
rend des EU-Beitrittsprozesses umfangreiche Reformen
vorgenommen, es hat EU-Richtlinien übernommen, die
Leistungsfähigkeit seiner Justiz und Verwaltung gestei-
gert, die Korruption bekämpft und seine Wirtschaft auf
den Beitritt vorbereitet. Es ist daher sehr zu begrüßen,
dass Kroatien das 28. Mitglied der Europäischen Union
wird. Doch der Reformeifer in Kroatien darf nach dem
Beitritt nicht erlahmen. Auch muss sichergestellt wer-
den, dass die bereits vorgenommenen Reformen nicht
zurückgenommen oder ausgehöhlt werden, wie dies lei-
der in anderen Fällen geschehen ist. Um dies zu gewähr-
leisten, sollten vorhandene Berichtsinstrumente besser
genutzt und miteinander verzahnt werden. Wir müssen
unsere gelernte Lektion insbesondere aus dem Beitritt
von Rumänien und Bulgarien zeigen, auch in Richtung
dieser beiden Länder, wo der Umgang nun mit Kroatien
sehr genau verfolgt wird.
Zwar werden im Rahmen des Europäischen Semes-
ters auch für Kroatien länderspezifische Empfehlungen
zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit und der ma-
kroökonomischen Stabilität veröffentlicht, doch auch die
Rechtsstaatlichkeit muss regelmäßig in den Blick ge-
nommen werden. Der Antikorruptionsbericht der Euro-
päischen Kommission wird nur alle zwei Jahre vorge-
legt – zu selten, um aktuelle Entwicklungen darstellen zu
können. Ein jährlich erscheinender Kurzbericht wäre
hier hilfreich. Auch das EU-Justizbarometer, das die
Funktionsweise der Justizsysteme in den Mitgliedstaaten
untersucht, erscheint nur in unregelmäßigen Abständen.
Zudem wurde hier bisher Kroatien nicht berücksichtigt,
weshalb man auf einen Bericht über das kroatische Jus-
tizsystem unbestimmte Zeit wird warten müssen. Eine
einmalige Sonderausgabe des Justizbarometers für Kroa-
tien noch 2013 wäre vor diesem Hintergrund wün-
schenswert.
Die genannten Berichte müssen zudem mit den Sank-
tionsmechanismen des Beitrittsvertrags verbunden wer-
den. In Art. 38 und 39 des Beitrittsvertrags sind für einen
Zeitraum von drei Jahren nach dem Beitritt – nicht näher
spezifizierte – Maßnahmen vorgesehen, um den europäi-
schen Binnenmarkt und den „Raum der Freiheit, der Si-
cherheit und des Rechts“ zu schützen – ein dazugehöri-
ges Berichtswesen, das diese Sanktionen auslöst, fehlt
jedoch. Nur durch die Verbindung dieser Sanktionsmög-
lichkeiten mit den Berichten der europäischen Kommis-
sion kann hieraus ein effektives Instrument entstehen,
um die wirtschaftliche und rechtsstaatliche Situation in
Kroatien weiter zu verbessern. In künftigen Beitrittsver-
trägen sollte dieses Junktim von Beginn an Berücksichti-
gung finden.
Anlage 4
Erklärungen nach § 31 GO
des Abgeordneten Dr. Hans-Peter Bartels (SPD)
zur namentlichen Abstimmung über die Be-
schlussempfehlung zu dem Antrag: Fortsetzung
der Beteiligung bewaffneter deutscher Streit-
kräfte an der EU-geführten Operation Atalanta
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013 30461
(A) (C)
(D)(B)
zur Bekämpfung der Piraterie vor der Küste
Somalias auf Grundlage des Seerechtsüberein-
kommens der Vereinten Nationen (VN) von
1982 und der Resolutionen 1814 (2008) vom
15. Mai 2008, 1816 (2008) vom 2. Juni 2008,
1838 (2008) vom 7. Oktober 2008, 1846 (2008)
vom 2. Dezember 2008, 1851 (2008) vom 16. De-
zember 2008, 1897 (2009) vom 30. November
2009, 1950 (2010) vom 23. November 2010, 2020
(2011) vom 22. November 2011, 2077 (2012) vom
21. November 2012 und nachfolgender Resolu-
tionen des Sicherheitsrates der VN in Verbin-
dung mit der Gemeinsamen Aktion 2008/851/
GASP des Rates der Europäischen Union (EU)
vom 10. November 2008, dem Beschluss 2009/
907/GASP des Rates der EU vom 8. Dezember
2009, dem Beschluss 2010/437/GASP des Rates
der EU vom 30. Juli 2010, dem Beschluss 2010/
766/GASP des Rates der EU vom 7. Dezember
2010 und dem Beschluss 2012/174/GASP des
Rates der EU vom 23. März 2012 (Tagesord-
nungspunkt 9)
Dem vorliegenden Antrag – Drucksache 17/13111 –
der Bundesregierung werde ich, entgegen der Mehrheit
meiner Fraktion, zustimmen.
Am 19. Dezember 2008 stimmte der Deutsche Bun-
destag einem Mandat zur Teilnahme an der Pirateriebe-
kämpfung im Rahmen der EU-Mission Atalanta zu.
Deutschland beteiligte sich in der Folge regelmäßig mit
Einheiten der Marine.
Der Auftrag des EU-Geschwaders im Indischen
Ozean ist zuerst der Schutz aller Schiffe des UN-Welt-
ernährungsprogramms, die mit Hilfsgütern für Somalia
unterwegs sind. Hier verweist die EU auf eine 100-pro-
zentige Erfolgsquote. Seit Beginn der Operation wurden
200 Schiffe des Welternährungsprogramms mit über
1,2 Millionen Tonnen Lebensmittel nach Somalia eskor-
tiert. Kein Schiff des Welternährungsprogramms ging an
Piraten verloren.
Darüber hinaus ist die übrige Handelsschifffahrt im
Seegebiet vor der Küste Somalias durch bewachte „Kor-
ridore“ zu schützen – auch gemeinsam mit Kriegsschif-
fen anderer Nationen: einem Nato-Verband, einer US-
Task-Group und diversen Schiffen weiterer Staaten (In-
dien, China).
Dieses Verfahren – im Verbund mit Schutzmaßnah-
men der Reeder – bietet neue Sicherheit: Wurden im Re-
kordjahr 2010 insgesamt 47 Handelsschiffe entführt, wa-
ren es 2011 noch 25 und 2012 fünf Schiffe. Im 1. Quartal
2013 konnten die Seeräuber lediglich ein Schiff tatsäch-
lich in ihre Gewalt bringen. Auch die Zahl der versuch-
ten Kaperungen nimmt weiter ab. 2010: 127, 2013: bis-
her 3 (Stand 5. April 2013).
Die Atalanta-Mission ist eine Erfolgsgeschichte. Be-
fürchtete Gefährdungen durch die Erweiterung der EU-
Regeln 2012 sind nicht eingetreten und nicht zu erwar-
ten.
Anlage 5
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Monika Lazar und Hans-
Christian Ströbele (beide BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN) zur namentlichen Abstimmung über
die Beschlussempfehlung zu dem Antrag: Fort-
setzung der Beteiligung bewaffneter deutscher
Streitkräfte an der EU-geführten Operation
Atalanta zur Bekämpfung der Piraterie vor der
Küste Somalias auf Grundlage des Seerechts-
übereinkommens der Vereinten Nationen (VN)
von 1982 und der Resolutionen 1814 (2008) vom
15. Mai 2008, 1816 (2008) vom 2. Juni 2008,
1838 (2008) vom 7. Oktober 2008, 1846 (2008)
vom 2. Dezember 2008, 1851 (2008) vom 16. De-
zember 2008, 1897 (2009) vom 30. November
2009, 1950 (2010) vom 23. November 2010, 2020
(2011) vom 22. November 2011, 2077 (2012) vom
21. November 2012 und nachfolgender Resolu-
tionen des Sicherheitsrates der VN in Verbin-
dung mit der Gemeinsamen Aktion 2008/851/
GASP des Rates der Europäischen Union (EU)
vom 10. November 2008, dem Beschluss 2009/
907/GASP des Rates der EU vom 8. Dezember
2009, dem Beschluss 2010/437/GASP des Rates
der EU vom 30. Juli 2010, dem Beschluss 2010/
766/GASP des Rates der EU vom 7. Dezember
2010 und dem Beschluss 2012/174/GASP des
Rates der EU vom 23. März 2012 (Tagesord-
nungspunkt 9)
Den Antrag der Bundesregierung lehnen wir ab und
stimmen mit Nein. Dies ist die siebte Abstimmung zum
Atalanta-Einsatz der Bundeswehr, wenn wir richtig ge-
zählt haben. Wir stimmen wieder mit Nein, wie die sechs
Male vorher.
Der Einsatz der Bundeswehr im Golf von Aden und
inzwischen im ganzen Indischen Ozean ist politisch
falsch und nicht notwendig zum Schutz der Schiffe des
Welternährungsprogramms vor Piraterie. Vor allem war
er von Anfang an nicht das letzte mögliche Mittel, die
Ultima Ratio, um die Schiffe zu schützen und Piraterie
wirksam zu bekämpfen.
Die Bundesregierung erklärt, die Zahl der erfolgrei-
chen Schiffsentführungen durch Piraten am Horn von
Afrika sei im vergangenen Jahr stark zurückgegangen.
Das stimmt, der Rückgang beträgt sogar 66 Prozent. Was
aber nicht stimmt, ist die Behauptung, der Grund sei die
durchgängige Präsenz von Kriegsschiffen der Operation
Atalanta im Golf von Aden. Die Bundesregierung legt
dafür auch keine Beweise vor. Es ist schlicht eine An-
nahme – eine falsche.
In Wahrheit hat der Rückgang der Kaperungen ganz
andere Gründe, und die Bundesregierung weiß das. Es
gibt geeignete „zivile“ Maßnahmen, um das Risiko von
Piraterieangriffen zu verringern. Das Einhalten der soge-
nannten Best Management Practices – das Fahren im
Konvoi oder mit hoher Geschwindigkeit sowie die Absi-
cherung von Reling und Außenbord, etwa durch Stachel-
30462 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013
(A) (C)
(D)(B)
draht, und das Anbringen von Scheinwerfern – hilft
schon viel. In den letzten Jahren konnte kein Schiff von
Piraten aufgebracht werden, das sich an diese Regeln ge-
halten hat.
Der Schutz der Transporte des Welternährungspro-
gramms – WFP – von Hilfsgütern und Nahrungsmitteln
nach Somalia kann außerdem dadurch verbessert wer-
den, dass das WFP mit besseren und schnelleren Schif-
fen ausgestattet wird. Der Schutz von Handelsschiffen
auf gefährlichen Routen durch zivile Sicherheitsdienste
an Bord, die nicht schwer bewaffnet sein müssen, wird
seit Jahren empfohlen. Nach Schätzungen sind inzwi-
schen fast 80 Prozent der Schiffe in der gefährdeten Re-
gion mit zivilen Sicherheitsdiensten an Bord unterwegs.
Endlich werden die Best Management Practices zum
Schutz vor Piraterieüberfällen weitgehend eingehalten.
Sie wurden bereits seit Jahren gefordert, aber nicht prak-
tiziert – aus Kostengründen. Der Reedereiverband soll
ihnen zugestimmt haben, aber die Reedereien haben sich
lange geweigert, diese wichtigen Schutzmaßnahmen zu
finanzieren. Stattdessen verlangten sie den Schutz durch
die internationale Armada aus Kriegsschiffen, der drei-
stellige Millionenbeträge verschlingt und Krieg bedeu-
tet.
Im letzten Jahr wurde das Mandat der Operation
Atalanta sogar erweitert: vom militärischen Kampfein-
satz vor der Küste Somalias auf einen Küstenstreifen an
Land von zwei Kilometern Breite. Zwar beschränkt sich
diese Erweiterung des Mandats auf Angriffe nur aus der
Luft mittels Hubschraubern lediglich auf die Logistik
von Piraten. Nothilfeeinsätze an Land, um abgeschos-
sene Hubschrauberbesatzungen zu retten, bleiben aber
erlaubt. Die Erweiterung bedeutet daher ein zusätzliches
Eskalationsrisiko.
Jahr um Jahr entscheidet sich der Bundestag nun
schon für diesen Kriegseinsatz, der aber letztlich nur die
Symptome von Piraterie bekämpft. Deren Ursachen hin-
gegen, die man politisch angehen kann, werden weitge-
hend ignoriert. Dazu gehört die Überfischung der Ge-
wässer vor Somalia. Modern ausgestattete Fangflotten
aus der EU, aus Japan oder Taiwan rauben den lokalen
Fischern die Existenzgrundlage. Zusätzlich kommt es
durch illegale (Gift-)Müllentsorgung vor der Küste So-
malias zu massivem Fischsterben, Menschen erkranken.
Auch europäische Firmen sind in die Müllverseuchung
verwickelt. Und an Land herrschen noch immer Armut,
Hunger, Gewalt und politische Unsicherheit. Wen wun-
dert, dass da die Aussicht, mit Schiffsentführungen harte
Dollars zu verdienen, verlockend ist.
Kriegsschiffe und Militäreinsätze sind jedoch nicht
das richtige Mittel und nicht nötig, um die Piraterie
wirksam zu bekämpfen. Der Einsatz der Bundesmarine
ist umgehend zu beenden.
Anlage 6
Erklärung nach § 31 GO
des Abgeordneten Herbert Behrens (DIE
LINKE) zur Abstimmung über den Entwurf ei-
nes Ersten Gesetzes zur Änderung des Ausfüh-
rungsgesetzes zu dem Übereinkommen vom
9. September 1996 über die Sammlung, Abgabe
und Annahme von Abfällen in der Rhein- und
Binnenschifffahrt (Tagesordnungspunkt 57 c)
Meine Fraktion hat heute gegen die Gesetzesände-
rung gestimmt, weil darin eine Kompetenz von der Was-
ser- und Schifffahrtsdirektion Südwest auf die General-
direktion Wasserstraße übertragen werden soll. Diese
Generaldirektion wurde ohne Beschlussfassung des
Bundestages und Bundesrates am 1. Mai gegründet.
Es ist Bestandteil der umstrittenen Reform der Was-
ser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes, die von den
Beschäftigten und ihren Interessenvertretungen, vielen
Fachverbänden und mit einstimmigen Votum der Ver-
kehrsministerkonferenz, VMK, der Bundesländer abge-
lehnt wurde. Am 10. und 11. April 2013 in Flensburg er-
neuerte die VMK hierzu ihre Kritik vom 4. Oktober
2012. Auch der Bundesrat hat hierzu in der 909. Sitzung
am 3. Mal 2013 mit einer Entschließung zur Neuord-
nung der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bun-
des – Drucksache 340/13 – „die Nichtberücksichtigung
der sachlichen Kritik der Länder“ kritisiert sowie „ver-
fassungsrechtliche Zweifel“ angemeldet und geht von
„einem nicht hinnehmbaren Verlust in der Verkehrsqua-
lität“ aus.
Die vorgesehene Trennung der Wasser- und Schiff-
fahrtsämter in Ämter für Betrieb und Unterhaltung einer-
seits und Ämter mit revierbezogenen Aufgaben anderer-
seits führt zu zusätzlichen Schnittstellen, Mehraufwand
und zu einer geminderten Leistungsfähigkeit der Bun-
deswasserstraßen. Der Abbau der regionalen Zentralen
– Wasser- und Schifffahrtsdirektionen – führt zum Ver-
lust regionaler Kompetenz. Die im Zusammenhang mit
der Neuordnung der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung
vorgelegte Kategorisierung der Wasserstraßen des Bun-
des ist nicht nachvollziehbar. Insbesondere besteht die
Gefahr, dass durch die Abschaffung der regionalen Wasser-
und Schifffahrtsdirektionen das regionalspezifische Know-
how verloren geht. Da die derzeitige organisatorische Um-
gestaltung der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des
Bundes gegen den erklärten Willen der Bundesländer statt-
findet, würde eine notwendige Nachzeichnung durch ein
Zuständigkeitsanpassungsgesetz auch später keine Mehr-
heit in der Länderkammer erhalten. Die Bundesregie-
rung sollte daher die Rechtsunsicherheit durch Unwirk-
samkeit der organisatorischen Umgestaltung vermeiden
und auf die Zuständigkeitsänderung der Kompetenzen
an diese Behörde in diesem Gesetz verzichten.
Eine Reform der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung
unter Berücksichtigung einer ökologischen Ausrichtung
der Verwaltung ist nur zu erreichen, wenn das vorhan-
dene Know-how umfassend in den Reformprozess ein-
bezogen wird und den Anforderungen der EU an eine
ökologische Gewässerschutzpolitik gerecht wird.
Die Linke lehnt diese Reform der Wasser- und Schiff-
fahrtsverwaltung ausdrücklich ab und stimmt daher ge-
gen die heutige Gesetzesänderung. Dem eigentlichen
Übereinkommen zur Sammlung, Abgabe und Annahme
von Abfällen in der Rhein- und Binnenschifffahrt stim-
men wir inhaltlich selbstverständlich zu.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013 30463
(A) (C)
(D)(B)
Anlage 7
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Doris Barnett, Dr. Hans-
Peter Bartels, Sören Bartol, Bärbel Bas, Uwe
Beckmeyer, Edelgard Bulmahn, Dr. Peter
Danckert, Ingo Egloff, Elke Ferner Ulrike
Gottschalck, Gabriele Groneberg, Michael
Groß, Bettina Hagedorn, Michael Hartmann
(Wackernheim), Wolfgang Hellmich,
Dr. Barbara Hendricks, Gustav Herzog, Frank
Hofmann (Volkach), Lars Klingbeil, Astrid
Klug, Angelika Krüger-Leißner, Gabriele
Lösekrug-Möller, Caren Marks, Dr. Matthias
Miersch, Manfred Nink, Stefan Rebmann,
Gerold Reichenbach, Dr. Carola Reimann,
Karin Roth (Esslingen), Ewald Schurer,
Dr. Carsten Sieling, Sonja Steffen, Christoph
Strässer, Kerstin Tack, Rüdiger Veit, Ute Vogt,
Dr. Marlies Volkmer, Waltraud Wolff (Wol-
mirstedt), Dagmar Ziegler und Brigitte Zypries
(alle SPD) zur Abstimmung über den Entwurf
eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Aus-
führungsgesetzes zu dem Übereinkommen vom
9. September 1996 über die Sammlung, Abgabe
und Annahme von Abfällen in der Rhein- und
Binnenschifffahrt (Tagesordnungspunkt 57 c)
Wir halten die mit dem heute beschlossenen Gesetz
vorgenommene Anpassung der Regelungen zur Finan-
zierung der Entsorgung von öl- und fetthaltigen Schiffs-
betriebsabfällen in der Rhein- und Binnenschifffahrt
sowie die Aufnahme einer datenschutzrechtlichen Rege-
lung im Hinblick auf die Aufgabenerfüllung durch die
Zollverwaltung für richtig und geboten. Dem von der
Bundesregierung vorgelegten Gesetzentwurf sowie dem
Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen haben wir
dennoch nicht zugestimmt, weil:
– der Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens unsere ver-
fassungsrechtlichen Bedenken an der vom Bundes-
ministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung,
BMVBS, vorgenommenen Neuordnung der Wasser-
und Schifffahrtsverwaltung des Bundes, WSV, bestä-
tigt hat. Die Bundesregierung hat in dem von ihr im
April 2013 vorgelegten Gesetzentwurf die „Wasser-
und Schifffahrtsdirektion Südwest“ als zuständige
Behörde benannt. Am 24. April 2013 wurde der Ge-
setzentwurf im federführenden Ausschuss für Ver-
kehr, Bau und Stadtentwicklung des Deutschen Bun-
destages einstimmig angenommen. Am 1. Mai 2013
hat das BMVBS per Organisationserlass die neue
„Generaldirektion für Wasserstraßen und Schifffahrt“,
GDWS, eingerichtet und die sieben Wasser- und
Schifffahrtsdirektionen abgeschafft. Durch die nach-
trägliche Änderung des bereits durch den Fachaus-
schuss des Deutschen Bundestages beschlossenen,
aber durch den Erlass nun ins Leere laufenden Ge-
setzentwurfs im Zuge der heutigen abschließenden
Plenarberatungen soll die Zuständigkeit korrigiert
und die Rechtswirksamkeit des Gesetzes sicherge-
stellt werden. Dieses Vorgehen bestätigt die Auffas-
sung, dass eine rechtssichere Umsetzung der Organi-
sationsreform der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung
eine gesetzliche Änderung der Aufgaben- und Zu-
ständigkeitsregelungen zwingend erfordert. Das Bei-
spiel des jetzt beschlossenen Gesetzentwurfs zeigt zu-
dem, dass das von der Bundesregierung gewählte
Verfahren, die Umstrukturierung der WSV durch Or-
ganisationserlass zu regeln und auf ein Rechtsbereini-
gungsgesetz zu verzichten, zu erheblicher Rechtsunsi-
cherheit führt.
– der Deutsche Bundestag mit dem heute beschlossenen
Gesetz die neue, von uns in der jetzigen Form abge-
lehnte Umstrukturierung der Wasser- und Schiff-
fahrtsverwaltung des Bundes konstituiert. Das Vorha-
ben, die WSV zu modernisieren, ist grundsätzlich
richtig. Als Folge des erheblichen Personalabbaus seit
Ende der 1990er-Jahre ist sie in ihren Verwaltungs-
und Ablaufstrukturen reformbedürftig. Die Pläne der
Bundesregierung sind jedoch nicht geeignet, dieses
Ziel einer Modernisierung der WSV unter Berück-
sichtigung gesamtwirtschaftlicher Gesichtspunkte zu
erreichen. Insbesondere die beabsichtigte Fortsetzung
des Personalabbaus, die Schließung der regionalen
Wasser- und Schifffahrtsdirektionen und die Überfüh-
rung von Aufgaben an die neue Generaldirektion füh-
ren zu einem Verlust von fachlicher Kompetenz und
regionaler Nähe, schaffen zusätzliche Schnittstellen
und bedeuten eine geminderte Leistungsfähigkeit des
Verkehrsträgers Wasserstraße insgesamt.
– eine parlamentarische Befassung des Bundestages mit
der Umstrukturierung der WSV unterblieben ist. Die
Bundesregierung hat es abgelehnt, dem Deutschen
Bundestag einen Gesetzentwurf zur Neuordnung der
Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes und
zur Anpassung der Zuständigkeiten der Wasser- und
Schifffahrtsdirektionen vorzulegen. Dadurch sehen
wir die Belange des Deutschen Bundestages und sei-
ner Abgeordneten als nicht ausreichend berücksich-
tigt. Der Haushaltsausschuss des Deutschen Bundes-
tages hat die Bundesregierung bereits im September
2012 aufgefordert, zeitnah ein Gesetz zur Rechtsbe-
reinigung vorzulegen. Die Bundesregierung hat je-
doch die sachlich begründete Kritik und die verfas-
sungsrechtlichen Bedenken nicht berücksichtigt und
eine angemessene Beteiligung des Deutschen Bun-
destages verweigert. Wir sind deshalb nicht bereit, die
mit dem heute beschlossenen Gesetz verbundene An-
erkennung dieser Umstrukturierung zu unterstützen.
Anlage 8
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Rente für Doping-
opfer in der DDR (Tagesordnungspunkt 16)
Eberhard Gienger (CDU/CSU): Unbestritten wurde
in der ehemaligen DDR systematisches Doping betrie-
ben. Dieses wurde von staatlichen Stellen angeordnet
und von den Sportverbänden organisiert. Viele Sportle-
rinnen und Sportler haben unter der Verabreichung von
30464 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013
(A) (C)
(D)(B)
Dopingmitteln gelitten und tun das auch heute noch. Un-
zweifelhaft ist auch, dass finanzielle Leistungen diesen
Opfern ihre Gesundheit nicht wiedergeben können. Die
wichtige Frage allerdings, ob sie diese Dopingmittel nun
wissentlich oder unwissentlich eingenommen haben,
führt schnell in den Bereich der Spekulation, denn im
Nachhinein ist das nur schwer zu beantworten. Haben
Sportler ohne ihr Wissen und ihre Zustimmung gedopt?
Zu der Beantwortung dieser Frage müsste man nachwei-
sen können, dass Ärzte oder Betreuer die Sportler gezielt
getäuscht haben, was ich juristisch für sehr kompliziert
halte, aber für den rechtlichen Anspruch auf eine Ent-
schädigung von ganz entscheidender Bedeutung wäre.
Genau diese Frage wird in Deutschland seit dem Auf-
decken des systematischen Staatsdopings intensiv disku-
tiert. Im Ergebnis kann gesagt werden, dass nach juristi-
schen Maßstäben der Nachweis, dass in der ehemaligen
DDR Sportlerinnen und Sportler ohne ihr Wissen gedopt
wurden, im Einzelfall nur sehr schwer zu führen ist.
Ein ganz ähnliches Problem ergibt sich beim medizi-
nischen Nachweis bezüglich der gesundheitlichen Schä-
digung durch ein konkretes Dopingmittel. Ohne Zweifel
gibt es eine Reihe von Indizien, aber einen Zusammen-
hang zwischen der heute angegriffenen Gesundheit der
Betroffenen und der damaligen Einnahme von ganz be-
stimmten Substanzen lässt sich rechtlich kaum feststel-
len. Diese beiden Dilemmata sind die Ursache der kom-
plizierten juristischen Anerkennung von Dopingopfern
aus der ehemaligen DDR.
Genau hier liegt dann auch das Problem des uns vor-
liegenden Antrags. Wo ist die Grenze zu ziehen? Welche
Geschädigten sollen anerkannt werden? Die Grünen zie-
hen diese bei damals minderjährigen Sportlern in der
ehemaligen DDR. Ich frage mich bei dieser Grenze, wa-
rum sie hier gezogen wurde? Meiner Ansicht nach mutet
es willkürlich an, die Grenze bei 18 Jahren zu ziehen.
Zum einen ist der genaue Zeitpunkt eines erstmaligen
Dopings heutzutage kaum noch zu bestimmen, und zum
anderen bleiben jene außen vor, die bei der Einnahme ei-
nes Dopingmittels älter als 18 Jahre waren, obwohl sie
heutzutage vielleicht die gleichen oder womöglich noch
schwerwiegendere gesundheitliche Probleme haben.
Wie wollen Sie mit Sportlern umgehen, die in der Zeit,
in der diese Doping verabreicht bekommen haben, voll-
jährig geworden sind? Ist die von Ihnen gezogene
Grenze von 18 Jahren überhaupt juristisch zulässig? Ist
sie gerecht? Was sagen Sie den damals volljährigen Do-
pingopfern? Die Antworten auf all diese Fragen bleiben
Sie in ihrem Antrag schuldig.
Das von Ihnen geforderte Instrument der Anerken-
nung und Einführung eines gesonderten Rentenan-
spruchs für die Dopingopfer aus der ehemaligen DDR
hält die CDU/CSU-Bundestagsfraktion für das falsche
Instrument, den Betroffenen eine finanzielle Wiedergut-
machung zu gewähren. Es gibt keine rechtliche Grund-
lage für eine solche Opferrente und jede Regelung dahin
gehend würde einen erheblichen arbeits- und sozial-
rechtlichen Aufwand nach sich ziehen. Die Folge wäre,
dass das mit Sicherheit neue Forderungen nach sich zie-
hen würde, deren finanzielle Auswirkungen wir nicht
absehen und damit verantworten können.
Ohnehin lese ich in Ihrem Antrag sehr viel von finan-
ziellen Forderungen. So soll neben einer monatlichen
Rente, von wenigstens 200 Euro, eine unabhängige Be-
ratungsstelle für Dopingopfer eingerichtet und betrieben
werden. Zudem soll der Aufbau und Unterhalt eines Do-
pingopferarchives finanziell und inhaltlich unterstützt
werden. Zuletzt fordern Sie in Ihrem Antrag noch, dass
Finanzmittel für die Durchführung einer Studie bereitge-
stellt werden sollen, die Langzeitschäden des Dopings
zusammentragen soll. Einen Hinweis darauf, wie das al-
les finanziert werden soll, bleiben Sie aber ebenfalls
schuldig.
Insbesondere Ihre Forderungen nach dem Aufbau ei-
ner gesonderten Beratungsstelle erscheint mir weit her-
geholt. Ich denke, dass sich Hilfestellungen für die
Betroffenen durch bestehende Institutionen und Sport-
verbände organisieren lassen müssten. Der Doping-Op-
fer-Hilfe-Verein, DOH, leistet hier bereits einen wichti-
gen Beitrag.
Genau da sind wir bei dem richtigen Thema ange-
langt. Der 1999 gegründete DOH hat sich zum Ziel ge-
setzt, ehemalige Sportler aus dem DDR-Dopingsystem
zu unterstützen und Aufklärung über die körperlichen
Langzeitschäden von Dopingmitteln zu leisten. Der Ver-
ein betreut dopinggeschädigte Athleten mit einer umfas-
senden Beratung durch seine Beiräte und möchte eine
Langzeitstudie zu den Gesundheitsschäden von Doping
in Auftrag geben. Zudem soll eine bundesweite Bera-
tungsstelle eingerichtet werden, die als eine Anlaufstelle
für ehemalige und aktive Sportler dienen soll. Diese bei
einer Pressekonferenz Ende April dieses Jahres in Berlin
vom DOH vorgestellten Maßnahmen beinhalten viele
von den Forderungen, die die Grünen in ihrem Antrag
von der Bundesregierung einfordern, ohne dabei zu be-
denken, ob der autonome Sport diese Aufgabe mit der
Unterstützung der Bundesregierung nicht besser organi-
sieren könnte.
Wie ich bereits zu Beginn meiner Rede gesagt habe,
hat es in der ehemaligen DDR im Leistungssport ein sys-
tematisches Doping gegeben. Die Opfer dieses Systems
haben Bundesregierung und organisierter Sport in
Deutschland anerkannt und ihnen auch eine finanzielle
Hilfe gewährt, die weitaus niederschwelliger war. Das
im Jahr 2002 in Kraft getretene Dopingopfer-Hilfegesetz
war bewusst so ausgelegt, dass so viele Opfer wie mög-
lich einen leichten Zugang zu dem mit dem Gesetz ent-
standenen Hilfsfonds erhalten haben. 2 Millionen Euro
hatte die damalige Bundesregierung bereitgestellt, um den
damals 194 Berechtigten jeweils eine Einmalzahlung von
10 438 Euro zukommen zu lassen. Ende 2006 hat dann
der organisierte Sport in Gestalt des DOSB – gemeinsam
mit dem hauptverantwortlichen Pharmahersteller – einen
Vergleich mit 167 Dopingopfern geschlossen und wiede-
rum eine Einmalzahlung von 9 250 Euro vereinbart.
Abschließend muss ich nochmals betonen, dass der
uns vorliegende Antrag in die falsche Richtung geht, fal-
sche – weil willkürliche – Grenzen setzt, die Autonomie
des Sports nicht ausreichend würdigt, den Opfern eine
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013 30465
(A) (C)
(D)(B)
unbürokratische Hilfe nur vorgaukelt. Wir können ihm
deshalb nicht zustimmen.
Klaus Riegert (CDU/CSU): Ich kann mich der Posi-
tion von Eberhard Gienger nur anschließen und möchte
daher auch nicht alle Argumente im Einzelnen wieder-
holen.
Wir haben uns mit allen Fraktionen bereits vor knapp
zwei Jahren in einem Expertengespräch mit dem Thema
beschäftigt. Im Ergebnis wurden von allen Seiten die
gleichen Zweifel an dem von den Grünen vorgeschlage-
nen Weg geäußert. Allein aus rechts- und sozialpoliti-
scher Sicht war klar, dass eine solche Initiative gar nicht
umsetzbar ist und nicht rechtskonform sein kann. Inso-
fern wundert es mich schon sehr, wenn ein von den Grü-
nen scheinbar selbst aufgegebener Punkt nach zwei
Jahren zur Bundestagswahl aufgegriffen wird. Dahin ge-
hend kann ich den Antrag der Grünen nicht als eine se-
riöse und ernstgemeinte Initiative betrachten. Ehrlich ge-
sagt ist es enttäuschend, wenn die DDR-Dopingopfer
instrumentalisiert werden, um eine parteipolitische
Showveranstaltung zu inszenieren, gleichwohl klar ist,
dass der Antrag ins Leere läuft. Warum sind die Grünen
denn nicht noch einmal auf alle Fraktionen zugegangen,
bevor der Antrag eingebracht wurde? Diese Frage kann
sich wohl jeder selbst beantworten.
Unsere ablehnende Position gegenüber dem Antrag
– wie auch jene der anderen Fraktionen – gründet darauf,
dass die Initiative schlichtweg widersprüchlich, unge-
recht und rechtswidrig ist. Mit einer Blockadepolitik hat
das absolut gar nichts zu tun. Zudem stellt der Antrag
auf das falsche sozialpolitische Instrument Rente ab.
Weiterhin ignorieren die Grünen konsequent juristische
und medizinische Anforderungen, die Eberhard Gienger
bereits angesprochen hat. Eine Eingrenzung des Perso-
nenkreises auf zum Zeitpunkt der Dopingmittelein-
nahme minderjährige Sportlerinnen und Sportler der
DDR zum Beispiel kann im Nachgang nicht abgren-
zungsfrei vorgenommen werden. Warum werden die da-
mals gerade volljährigen Athletinnen und Athleten in
dem Antrag der Grünen prinzipiell ausgeklammert? Wie
ist der Rentenanspruch von jenen Sportlerinnen und
Sportlern zu sehen, die wissentlich gedopt haben? Auch
die Festlegung der Rentenhöhe (von mindestens
200 Euro) ist offenkundig willkürlich gesetzt.
Der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ent-
hält eine Vielzahl an inhaltlichen und argumentativen
Widersprüchen. Die Begründung der einzelnen Forde-
rungspunkte ist völlig inkonsistent, viele Aspekte versto-
ßen gegen geltende Rechtsvorschriften. Traurigerweise
muss man davon ausgehen, dass die Schwächen und
Mängel der Initiative den Antragstellern schon vorher
bekannt waren und die Initiative nur ins Leere laufen
kann.
Mit Blick in die Vergangenheit hat sich die CDU/
CSU-Bundestagsfraktion 2001/2002 maßgeblich für die
Entschädigung von Dopingopfern starkgemacht. So ha-
ben wir 2001 eine Anhörung zur „Errichtung eines
Fonds zur Unterstützung der Doping-Opfer der DDR“
(Bundestagsdrucksache 14/5674) beantragt und das
Thema sachlich vorangebracht. Bei den von der damali-
gen Bundesregierung zur Verfügung gestellten 2 Millio-
nen Euro konnte so eine Einmalzahlung von circa
10 000 Euro geleistet werden. Im Gegensatz zur damali-
gen Entscheidung sollten wir heute gemeinsam schauen,
wie wir die Dopingopfer weiter unterstützen und die
Einnahme von Dopingmitteln präventiv verhindern kön-
nen. Das sozialpolitische Instrument der Rente ist dabei
in jedem Fall der falsche Weg.
Ich freue mich dahin gehend sehr, dass sich zum Bei-
spiel auch der Doping-Opfer-Hilfe-Verein weiterhin für
die Belange der ehemaligen Sportlerinnen und Sportler
der DDR einsetzt. Ich würde mir wünschen, dass der
Verein aktiv den Kontakt zu den Regierungsfraktionen
sucht und man konstruktiv nach Lösungen für eine wei-
tere Aufarbeitung der Vergangenheit und Unterstützung
der Opfer sucht. Gerne unterstützen wir den Verein da-
bei, eine Beratungsstelle in Berlin zu etablieren und den
Kontakt zu weiteren Stakeholdern (zum Beispiel zur
Pharmaindustrie) herzustellen.
Neben der Vergangenheitsbewältigung wären vor al-
lem jene Initiativen (zum Beispiel des Doping-Opfer-
Hilfe-Vereins) besonders wünschenswert, die an Maß-
nahmen des heutigen Kampfes gegen Doping im Sport
anknüpfen oder diese ergänzen. Gerade im präventiven
Bereich des Antidopingkampfes liegt ein großes Poten-
zial, um im Vorfeld Missbrauch, Täuschung im sportli-
chen Wettbewerb und letztlich schwere körperliche Fol-
geschäden zu verhindern. Die Bundesländer haben sich
für die Unterstützung der Dopingpräventionsarbeit ver-
antwortlich gezeigt bzw. ihren Zuständigkeitsbereich an-
gezeigt. Hier könnte ebenso eine starke Förderung statt-
finden. Ferner wäre eine Kooperation mit der Nationalen
Anti Doping Agentur Deutschland, NADA, der Deut-
schen Sportjugend, DSJ, und weiteren Institutionen zu
begrüßen. Die Kooperation sollte hierbei von Vertrauen,
gegenseitigem Respekt, zielorientierten Initiativen, aber
auch von Selbstverantwortung getragen sein, um sich
einzeln und zusammen für das gemeinsame Ziel einzu-
setzen. Der Deutsche Olympische Sportbund, DOSB,
hat in der Vergangenheit bereits vielfältige Bestrebungen
unternommen sowie weiteres Interesse bekundet.
Abschließend wird erkennbar, dass es nicht an sinn-
vollen Vorhaben, konkreten Maßnahmen, Projekten und
Initiativen mangelt. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion
wird sich auch weiterhin kraftvoll für die Aufarbeitung
der Dopingvergangenheit einsetzen. Besonders wichtig
ist für uns hierbei vor allem die Verbindung zur heutigen
Zeit. Die Herausforderung ist, Doping im Sport präven-
tiv zu verhindern, sodass es weder zu Missbrauch und
Manipulation im Sport noch zu schweren körperlichen
Folgeschäden kommt.
Martin Gerster (SPD): Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen spricht ein für den Sport und darüber hinaus
wichtiges und sehr ernstes Thema an: Doping und seine
Folgen für die Gesundheit. Etliche Sportlerinnen und
Sportler aus der ehemaligen DDR zeigen auf dramati-
sche Weise die enormen körperlichen Schädigungen
durch Doping auf: Störungen der Fruchtbarkeit, Leber-
30466 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013
(A) (C)
(D)(B)
schäden, Herzschäden und vieles weitere. Die Liste der
Leiden ist leider sehr lang. Hinzu kommt hier die beson-
dere Widerwärtigkeit, dass dies von der DDR staatlich
gefördert und vorgegeben war.
Die Frage einer Rente für dopinggeschädigte Sportle-
rinnen und Sportler aus der ehemaligen DDR begleitet
uns bereits seit einigen Jahren.
Verantwortung für Dopinggeschädigte übernahm erst-
mals die damalige rot-grüne Bundesregierung mit dem
Dopingopfer-Hilfegesetz im Jahr 2002. Insgesamt er-
hielten 194 Betroffene eine Einmalzahlung von knapp
10 500 Euro. Wenn auch erst nach intensiven Rechts-
streitigkeiten folgten diesem positiven Beispiel später
der DOSB und das Pharmaunternehmen Jenapharm.
Beide zahlten an 167 bzw. 184 Kläger jeweils
9 250 Euro.
Und doch muss uns allen eines klar sein: Kein Geld
der Welt kann das Leid der Betroffenen wiedergutma-
chen!
Wir sind gerne bereit, über eine Rente für Dopingge-
schädigte zu sprechen, und lehnen den Vorschlag nicht
grundsätzlich ab. Daher ist folgender, von dem Doping-
Opfer-Hilfe-Verein gestern in einer Pressemitteilung ge-
äußerte Satz in Bezug auf die SPD-Fraktion nicht rich-
tig: „Die anderen im Bundestag vertretenen Parteien, da-
runter die SPD-Opposition, haben angekündigt, sich der
Initiative von Bündnis 90/Die Grünen nicht anzuschlie-
ßen.“ Über die Details gilt es aber noch zu sprechen.
Dafür sind die Beratungen im Parlament schließlich da.
Zu dem vorliegenden Antrag: Richtig ist aus unserer
Sicht, dass für einen möglichen Rentenanspruch die erst-
malige Verabreichung der Dopingmittel vor Eintritt der
Volljährigkeit erfolgt sein muss. Bei erwachsenen Men-
schen muss eine vollständige Eigenverantwortung für ihr
Tun und Handeln eingefordert werden können. Aber
nicht bei Kindern und Jugendlichen. So gibt es beispiels-
weise einen dokumentierten Fall, wonach ein Mädchen
ab dem 13. Lebensjahr bereits Testosterondosen erhielt,
ohne ihr Wissen, ohne die Chance, sich dem zu widerset-
zen. Das ist eine Schande. Nichtsdestotrotz sehen wir in
der Tat einige Punkte in dem Antrag kritisch beziehungs-
weise haben noch einige Fragen an die Antragsteller.
Neben der eigentlichen Hauptforderung der Rente für
Dopinggeschädigte stellen Sie mit den weiteren Forde-
rungen ganz offensichtlich eine Art Wunschkatalog für
den Doping-Opfer-Hilfe-Verein auf: Einrichtung einer
Beratungsstelle, Aufbau und Unterhalt eines Doping-
opferarchivs sowie Durchführung einer medizinischen
Studie über Dopinglangzeitschäden. Weniger ist viel-
leicht auch manchmal mehr. Wir sollten den Kern der
Rente nicht mit zu vielen Forderungen überfrachten.
Dies ist nicht hilfreich bei der Suche nach einer inter-
fraktionellen Lösung, wie es von Ihnen, Frau von
Cramon, ja in den Medien angekündigt wurde.
Vorweg: Um hier eines ganz klarzustellen. Es geht
keineswegs um das Aufwiegen von Unrecht. Aber ich
frage mich, wie Sie auf die Höhe von wenigstens
200 Euro monatlich kommen? Orientieren Sie sich am
Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz? Dort erhalten
Opfer politischer Haft bei einer Mindesthaftdauer von
180 Tagen eine Opferpension von bis zu 250 Euro mo-
natlich. Es geht hier nicht um das Verhandeln um ein-
zelne Euro. Das wird dem Leid der Opfer nicht gerecht.
Vielmehr möchten wir lediglich für die weiteren Bera-
tungen gerne wissen, wie Sie diese Untergrenze begrün-
den und ob Sie eine Höchstgrenze angedacht haben. Und
wenn ja, wo soll diese liegen?
Des Weiteren schreiben Sie in dem Antrag: „Nicht
nur die ehemaligen Sportlerinnen und Sportler sind von
Gesundheitsschäden betroffen, sondern vielfach auch
ihre Kinder.“ Können Sie diese Aussage mit Fakten be-
legen? Durchaus können die Einnahme von Anabolika
zu Fehlbildungen der Leibesfrucht führen und damit
können auch die Kinder von gedopten Sportlerinnen und
Sportlern an Gesundheitsschäden leiden. Aber noch-
mals: Haben Sie dazu konkrete Zahlen, die Sie in Ihrer
Annahme des „vielfach“ bestätigen? Dies würde mich
sehr interessieren.
Außerdem stellt sich mir die Frage: Warum haben Sie
nicht zumindest in einem Prüfauftrag die Bundesrepu-
blik Deutschland aufgeführt? Denn laut dem For-
schungsprojekt „Doping in Deutschland“ gab es in der
BRD auch ein vom Staat gebilligtes, zumindest nicht
nachhaltig unterbundenes Doping. Dies belegen Studien
des Bundesinstituts für Sportwissenschaft über den Ein-
satz von Mitteln wie Anabolika und Testosteron aus den
1970er- und 1980er-Jahren. Dies ist zwar nicht nur annä-
hernd in dem Ausmaß der DDR mit ihrem Staatsplan
14.25, aber es sollte aus Sicht der SPD-Fraktion dennoch
berücksichtigt werden.
Ich hoffe, dass die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
zu den offenen Fragen Antworten geben kann und freue
mich auf die weiteren Beratungen in Ausschuss und Ple-
num.
Eine Anmerkung darf zum Thema Doping noch ab-
schließend erlaubt sein: Es wäre für den sauberen Sport
äußerst wünschenswert, wenn wir, nachdem wir heute
über die Vergangenheit und die Folgen für die gegenwär-
tige Situation betroffener Personen gesprochen haben,
auch endlich eine sinnvolle Lösung im Umgang mit der
Dopingproblematik für die Zukunft finden könnten. Die
derzeitige rechtliche Situation um den § 6 a im Arznei-
mittelgesetz reicht für einen zielführenden Antidoping-
kampf nicht aus. Aber an dieser Stelle versperrt sich die
Koalition aus CDU/CSU und FDP leider einer konse-
quenten Lösung. Daher hat die SPD-Fraktion einen Ent-
wurf für ein Anti-Doping-Gesetz eingebracht, über wel-
chen wir demnächst gerne mit Ihnen allen diskutieren.
Dr. Lutz Knopek (FDP): Alle Bundestagsfraktionen
verurteilen in aller Schärfe das systematische staatliche
Doping in der DDR, welches auch vor der Dopinggabe
an Minderjährigen nicht zurückschreckte. Dass DDR-
Leistungssportler und -Leistungssportlerinnen zum Teil
ohne ihr Wissen oder gegen ihren Willen leistungsstei-
gende Mittel einnehmen mussten und noch heute die ge-
sundheitlichen Folgen dieser Mittel spüren, bedauern
wir zutiefst. Das Unrecht, das den Betroffenen von ih-
rem Staat angetan wurde, das Leid, das ihnen physisch
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013 30467
(A) (C)
(D)(B)
und psychisch zugefügt wurde, die Schäden, die sie da-
vongetragen haben: Das alles kann im Grunde nur
schwer – wenn überhaupt – wiedergutgemacht werden.
Dafür kann im engeren Sinne des Wortes kaum eine Ent-
schädigung geleistet werden.
Aber die Opfer brauchen Hilfe. Aus diesem Grund hat
die Bundesrepublik Deutschland 2002, ohne Rechts-
pflicht, mit dem Dopingopfer-Hilfegesetz einen Fond
eingerichtet, aus dem mit der Summe von insgesamt
2 Millionen Euro Anspruchsberechtigte entschädigt
wurden, und auch der DOSB sowie die Firma Jenapharm
haben als Rechtsnachfolger Betroffenen Schadensersatz
gezahlt.
Dass die zwangsgedopten DDR-Leistungssportler
Opfer der damaligen menschenverachtenden sozialisti-
schen Diktatur waren und dass ihnen geholfen werden
muss, darin waren sich 2002 alle Fraktionen einig. Auch
war man sich einig, dass auf Grundlage eines Erfah-
rungsberichtes der Bundesregierung in der 15. Wahlpe-
riode geprüft werden soll, ob weitere Hilfen für diese
Gruppe von Dopingopfern erforderlich sind. Die Prü-
fung fand meines Wissens nach nicht statt und würde so
eindeutig ein Versäumnis der damaligen rot-grünen Re-
gierungsmehrheit darstellen.
Warum wird dieser Antrag nun jetzt, kurz vor der
Sommerpause, wo wir gar nicht mehr die Zeit haben,
sachgerecht über dieses Anliegen zu sprechen, durch die
Grünen in den Deutschen Bundestag eingebracht? Han-
delt es sich vielleicht nur um ein durchsichtiges Wahl-
kampfmanöver? Die Tatsache, dass die Grünen diesen
Antrag ohne interfraktionelle Abstimmung heute ein-
bringen, erhärtet diesen Verdacht.
Der Vorstoß der Grünen ist meiner Meinung nach
kontraproduktiv und zeigt einmal mehr, dass es dieser
Partei wichtiger ist, sich mit großen Worten in den Me-
dien zu schmücken, als wirklich etwas in der Sache zu
bewegen. Der Schnellschussantrag wurde einem offenen
Dialog mit allen Fraktionen zu diesem Thema vorgezo-
gen. Selbst die Doping-Opfer-Hilfe e. V. hätte sich eine
überfraktionelle Lösungssuche gewünscht.
Ich finde es jedoch wichtig, dass der Wille des Sport-
ausschusses aus dem Jahr 2002 nicht einfach ignoriert
wird. Es ist sicherlich an der Zeit, dass sich das Parla-
ment erneut mit der heutigen Situation dieser Doping-
opfer befasst und sich alle Fraktionen gemeinsam über
Möglichkeiten einer Hilfe, sei sie finanziell, in Form von
Beratungsstellen oder medizinischen Studien über Lang-
zeitschäden, austauschen. Ich hoffe, dass sich die Mit-
glieder des zukünftigen Sportausschusses zeitnah mit
diesem Thema befassen werden.
Mehrere Punkte, die im Antrag der Grünen aufgeführt
werden, müssen dann allerdings gründlich überdacht
werden. Welche Form der Hilfe ist, gesellschaftlich wie
für den einzelnen Betroffenen, am angemessensten?
Welche Sportler haben Anrecht auf eine erneute Hilfs-
zahlung bzw. Rente. Und vor allem: in welcher Höhe?
Sollen es diejenigen Sportler sein, die durch das letzte
Dopingopfer-Hilfegesetz bereits eine Zahlung erhalten
haben, oder definiert man ein neues Findungsverfahren
zur Feststellung der Anspruchsberechtigung? Und kann
man heute überhaupt noch eine sachgerechte Differen-
zierung im individuellen Einzelfall vorzunehmen? Kön-
nen rückwirkend heutige Symptome noch zweifelsfrei
auf einen konkreten Dopingmissbrauch zurückgeführt
werden? Und warum fordert der Antrag der Grünen nur
eine Rente für die damals minderjährigen Dopingopfer?
Es gibt sicherlich auch Sportler, die erst als junge, unin-
formierte Erwachsene Dopingmittel erhalten haben. Wa-
rum wird ihnen diese Hilfe von vornherein verweigert?
Die FDP-Fraktion hofft also sehr, dass diese Debatte
in der kommenden Legislaturperiode fortgesetzt und
eine Lösung gefunden wird, die den Opfern gerecht
wird. Heute Nacht befassen wir uns ohne Notwendigkeit
mit einem Schaufensterantrag der Grünen, der von vorn-
herein überhaupt nicht auf das Interesse dieses Hohen
Hauses zielt, sondern lediglich als Vehikel für längst er-
folgte Medienaktivitäten meiner grünen Kollegin von
Cramon-Taubadel dient. In seiner jetzigen Form, mit den
zahlreichen ungeklärten Fragen, lehnt meine Fraktion
diesen Antrag ab.
Jens Petermann (DIE LINKE): Die missbräuchli-
che Einnahme von Medikamenten und leistungssteigern-
den Substanzen, gemeinhin als Doping bezeichnet, hat
bei Leistungssportlern nicht nur zu Wettbewerbsvortei-
len geführt. Leider sind zum Teil auch erhebliche ge-
sundheitliche Schäden die Folge. Organisierte private,
staatliche und Vereinsstrukuren, medizinische Fachab-
teilungen und Trainer haben oft genug Hand in Hand ge-
arbeitet. Sportlerinnen und Sportler indes stehen heute
mit den gesundheitlichen Folgen dieser Praxis häufig al-
lein da, befinden sich im sozialen Abseits und sind mit-
unter auf staatliche Hilfe angewiesen. Es ist unseres Er-
achtens Aufgabe der Politik, diese Praxis aufzuklären,
zukünftig zu erschweren, bestenfalls zu verhindern und
vor allem Menschen, die Schaden genommen haben, die
notwendige Unterstützung zukommen zu lassen. Parla-
mentarische Initiativen in diese Richtung werden immer
unsere Unterstützung finden.
Der Grünen-Antrag versucht, die Thematik zu erfas-
sen, lässt aber leider eine Reihe Fragen aufkommen:
fachliche, inhaltliche und auch ideologische.
Welchen Mehrwert hat dieser Vorstoß kurz vor der
Bundestagswahl? Den bösen Verdacht, dass es sich da-
bei um rein „wahltaktisches Geplänkel“ handeln könnte,
äußerte unter anderem der langjährige Vorsitzende des
Vereins Doping-Opfer-Hilfe, der in dieser Sache an sich
sicherlich völlig unverdächtig ist. Das angeblich lang-
wierige Werben der Grünen um einen interfraktionellen
Antrag zu dem Thema ist zudem an die Linksfraktion
das letzte Mal vor gut zwei Jahren herangetragen wor-
den.
In der Sache ist der Antrag ein kleiner Schritt, greift
aber viel zu kurz. Aus unserer Sicht muss es mehr als
20 Jahre nach der deutschen Einheit möglich sein, die
einseitige Opferarithmetik, die sich auf das Schicksal
von Menschen im Osten beschränkt, ad acta zu legen
und sich der Thematik als gesamtdeutsches Problem zu
widmen. Selbst die Doping-Opfer-Hilfe hat mit der Vor-
30468 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013
(A) (C)
(D)(B)
standswahl Anfang März einen Richtungswechsel einge-
leitet. Der Verein will sich von nun an um die Belange
aller Sportlerinnen und Sportler kümmern, die Schaden
durch Dopingpraktiken erlitten haben oder erleiden: also
auch Athletinnen und Athleten aus dem Westen der Re-
publik. Der Antrag greift dies nicht auf.
Dass sich die Doping-Opfer-Hilfe auch um die Ge-
genwart kümmern will, ist ein wichtiger Schritt. Da dür-
fen wir Parlamentarier auch im Sinne der Geschädigten
des aktuellen sportlichen Geschehens nicht nachstehen.
Aus unserer Sicht ist eine solche Anlaufstelle eine sinn-
volle Einrichtung. Von Sportausschuss und Innenminis-
terium fordern wir, dass umgehend an einem entspre-
chenden Haushaltstitel gearbeitet wird.
Eine Rente für Dopingopfer mit Blick auf die erfolgte
Einmalzahlung aus dem Dopingopfer-Hilfegesetz gänz-
lich abzulehnen – wie es die Union beabsichtigt –, ist un-
seres Erachtens ein unangemessener Umgang mit dem
Problem. Statt die Augen zu verschließen, muss die Poli-
tik handeln.
Wir sollten uns im Klaren darüber sein, dass bis zum
Bezug einer Rente hohe Hürden zu überwinden sind, die
sich nicht so leicht nehmen lassen. Die von den Bündnis-
grünen vorgeschlagene Rente würde sofort auf etwaige
Transferleistungen angerechnet werden. Empfänger von
Sozialleistungen beispielsweise hätten dadurch keinen
Pfennig mehr in der Tasche. Ausschließlich um der An-
erkennung willen eine Rente zu konzipieren, ist keine
Lösung.
Neben diesem symbolischen Akt geht es doch vor al-
lem um die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Dazu
gehört die berufliche Wiedereingliederung genauso wie
eine ausreichende finanzielle Grundlage, die einen Kino-
besuch nicht zum Luxus werden lässt.
Beispielsweise könnte den Geschädigten eine Be-
schäftigung beim DOSB, bei der Nationalen Anti-Do-
ping-Agentur und Sportverbänden angeboten werden.
Gerade der Deutsche Olympische Sportbund als wich-
tigste Einrichtung des gesamtdeutschen Sportes trägt bei
diesem Thema ein hohes Maß an Verantwortung.
Denkbar ist auch, vergleichbar mit den Eingliede-
rungsangeboten für Menschen mit Behinderung, ein
besonderes Maßnahmepaket für Dopinggeschädigte, an-
gesiedelt bei den Arbeitsagenturen. Der einzelnen Sport-
lerin, dem einzelnen Sportler muss ein maßgeschneider-
tes Angebot unterbreitet werden.
Da es zwangsläufig ohnehin Probleme geben wird,
den zweifelsfreien Nachweis einer Schädigung durch
Dopingmittel zu führen – gleichgültig, ob Ost oder
West –, bedarf es hierfür klarer Regeln, sonst gibt man
den potenziell Anspruchsberechtigten Steine statt Brot
und Frust statt Hilfe. Es bedarf dazu einer entsprechen-
den unabhängigen Stelle, die frei von ideologischen Be-
schränkungen über einen Zusammenhang entscheiden
kann. Das bisherige System, das die Beurteilung von ei-
nem einzigen Gutachter abhängig macht, ist in der Ver-
gangenheit auch von der Doping-Opfer-Hilfe kritisiert
worden.
Damit eine Initiative zur Entschädigung von Do-
pingopfern erfolgreich wird, müssen all diese Aspekte
einbezogen werden. Der vorliegende Antrag wird die-
sem Anspruch nicht gerecht.
Anlage 9
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfah-
rens und zur Stärkung der Gläubigerrechte (Ta-
gesordnungspunkt 17)
Norbert Geis (CDU/CSU): Die freie soziale Markt-
wirtschaft zeichnet sich dadurch aus, dass sie Monopole
verhindert und die freie Konkurrenz ermöglicht. Durch
diesen Wettbewerb setzt sie Anreize, die eigenen Fähig-
keiten zu entfalten. Wer scheitert, wird durch ein dichtes
soziales Netz aufgefangen. Dabei darf es jedoch nicht
bleiben. Das Netz darf nicht zur Hängematte werden.
Vielmehr soll jeder Arbeitnehmer oder Unternehmer, der
aus irgendwelchen Gründen nicht mithalten konnte, die
Chance zum Neubeginn haben. Dieses Ziel verfolgt das
Gesetz zur Restschuldbefreiung. Der Schuldner soll un-
ter der Last der Gläubigerforderungen nicht resignieren,
sondern neu starten und seine ganze Leistungskraft nicht
nur für sich, sondern für die Volkswirtschaft insgesamt
einsetzen können.
Dies ist der Grund, weshalb im Jahre 1999 das soge-
nannte Restschuldbefreiungsverfahren eingeführt wurde.
Danach kann der Schuldner nach einer Wohlverhaltens-
phase von sechs Jahren die Befreiung von seiner Rest-
schuld erreichen. Voraussetzung dafür ist, dass er sich in
dieser Zeit anstrengt, seine Schulden zu tilgen.
Die Insolvenzordnung allein, ohne Restschuldbefrei-
ung, leistet dies nicht. Sie dient in erster Linie dazu, die
Interessen der Gläubiger zu befriedigen. Die Interessen
des Schuldners werden dabei nicht ausreichend berück-
sichtigt.
Der Gesetzentwurf behandelt viele Aspekte. Hier soll
nur der eigentliche Kern des Entwurfs, die Verkürzung
des Verfahrens zur Befriedigung der Restschuld, in den
Blick genommen werden.
Von Anfang an galt der Zeitraum von sechs Jahren für
die Restschuldbefreiung auch im internationalen Ver-
gleich als zu lang. Deshalb vereinbarten die Koalitions-
parteien in ihrem Koalitionsvertrag, die Dauer des
Restschuldbefreiungsverfahrens unter bestimmten Be-
dingungen von sechs auf drei Jahre zu halbieren. Dabei
hatte man zunächst vor allem Unternehmensgründer im
Auge, die nach einem Fehlstart zügig eine zweite
Chance erhalten sollten. Allerdings war es schon aus
verfassungsrechtlichen Gründen geboten, diese Chance
allen Schuldnern, die in Insolvenz geraten sind, zu eröff-
nen.
Voraussetzung für die Restschuldbefreiung innerhalb
von drei Jahren ist allerdings, dass der Schuldner in die-
ser Zeit mindestens 35 Prozent der Forderungen der
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013 30469
(A) (C)
(D)(B)
Gläubiger erfüllt und die Verfahrenskosten trägt. Kann
er die 35 Prozent nicht aufbringen, verkürzt sich die bis-
herige Dauer des Restschuldbefreiungsverfahrens ledig-
lich um ein Jahr von sechs auf fünf Jahre. Voraussetzung
dafür ist, dass der Schuldner zumindest die Verfahrens-
kosten übernimmt und zahlt. Ist er auch dazu nicht in der
Lage, bleibt es bei der derzeitigen Dauer von sechs Jah-
ren, bis der Schuldner bei entsprechendem Wohlverhal-
ten Schuldenfreiheit erlangt.
Die Verkürzung von sechs auf drei Jahre ist nicht un-
umstritten. Richtig ist, dass für den Schuldner ein großer
Anreiz entsteht, alles zu unternehmen, innerhalb von
drei Jahren 35 Prozent der Schulden zu begleichen und
die Verfahrenskosten zu übernehmen, um danach schul-
denfrei zu werden. Zugleich haben die Gläubiger den
Vorteil, dass sie wenigstens 35 Prozent der Forderungen
erhalten. Natürlich bleibt für sie ein Verlust von 65 Pro-
zent. Die Praxis zeigt jedoch, dass auch bei einem länge-
ren Insolvenzverfahren die Gläubigerforderungen nur zu
einem geringen Prozentsatz erfüllt werden. In der Tat
kann also bei einer Quote von 35 Prozent ein vernünfti-
ger Ausgleich zwischen Schuldner und Gläubiger entste-
hen.
Dagegen wird eingewendet, dass es ein Schuldner ge-
rade darauf anlegen kann, auf die Restschuldbefreiung
zuzusteuern, ohne tatsächlich in einer finanziell schwie-
rigen Situation zu sein. Er entschuldet sich mit der Zah-
lung einer Quote von 35 Prozent und ist dann innerhalb
von drei Jahren schuldenfrei. Ein gutes Geschäft!
Ein wichtiger Einwand ist auch, dass nur ein finan-
ziell stärkerer Schuldner, der unter Umständen auch von
einem Dritten Kapital erhält, in der Lage sein wird, die
35 Prozent zu erreichen. Die schwächeren Schuldner, die
gerade noch die Pfändungsfreigrenze erreichen und de-
nen kein Kapital zur Verfügung steht, um die 35-Pro-
zent-Quote zu erfüllen, können diese Restschuldbefrei-
ung innerhalb von drei Jahren nicht schaffen.
Bei der Abwägung darf jedoch nicht aus dem Blick
geraten, dass es im Insolvenzverfahren und auch beim
Restschuldbefreiungsverfahren vor allem auch um die
Befriedigung der Gläubiger geht. Deshalb ist der Ge-
danke richtig, dass, wenn zugunsten des Schuldners die
Dauer des Restschuldbefreiungsverfahrens um die
Hälfte gekürzt wird, auch die Gläubiger entsprechend zu
berücksichtigen sind. Im Verhältnis zum Vorteil der
Schuldner, den diese durch die Kürzung auf drei Jahre
erhalten, ist es daher gerecht, auch auf die Interessen der
Gläubiger zu achten und deshalb eine Tilgungsquote von
mindestens 35 Prozent vorzusehen. Im Übrigen bleibt
dem Schuldner, der diese Quote innerhalb der drei Jahre
nicht aufbringen kann, immer noch die Möglichkeit,
nach fünf bzw. sechs Jahren Schuldenfreiheit zu erlan-
gen.
Wichtig ist, dass die Auswirkung des Gesetzes genau
beobachtet und eine Evaluierung vorgenommen wird. Es
bleibt zu hoffen, dass sich das Gesetz bewährt.
Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU): Mit
dem heute in zweiter und dritter Lesung beratenen Ent-
wurf eines Gesetzes zur Verkürzung des Restschuldbe-
freiungsverfahrens und zur Stärkung der Gläubigerrechte
greifen wir ein Thema auf, das für viele Menschen große
praktische Bedeutung hat. Im Jahr 2012 mussten bundes-
weit rund 100 000 Menschen Privatinsolvenz anmelden.
Circa 20 000 davon gingen insolvent, weil sie mit ihrem
Unternehmen oder als Selbstständige scheiterten. Für den
Rhein-Sieg-Kreis, aus dem ich komme, weist der Schul-
denatlas 2012 der Creditreform aus, dass 42 500 Men-
schen, immerhin 8,69 Prozent der Bevölkerung, über-
schuldet sind.
In vielen Fällen sind es Lebensrisiken wie Arbeitslo-
sigkeit, Krankheit oder Trennung, die gar nicht oder nur
sehr begrenzt zu beeinflussen und nicht vorwerfbar ver-
ursacht sind, die zur Überschuldung geführt haben. In
anderen Fällen kann der Ausfall einer berechtigten For-
derung wegen der Zahlungsunfähigkeit eines anderen
der maßgebliche Grund sein; bei wiederum anderen sind
es Konsumschulden, mit denen sich der Schuldner se-
henden Auges übernommen hat.
Die Möglichkeit der Restschuldbefreiung gibt ihnen
die Chance zum Neuanfang. Sie ermutigt mit der Aus-
sicht auf neue wirtschaftliche Unabhängigkeit und moti-
viert dazu, Verdienstmöglichkeiten auszuschöpfen, Ge-
schäftsideen in die Tat umzusetzen, auch wenn sie mit
der Gefahr des Scheiterns verbunden sind. Das hilft
nicht nur den Schuldnern, sondern liegt auch in unserem
gesamtwirtschaftlichen Interesse. Auf der anderen Seite
steht dem das Interesse der Gläubiger gegenüber, be-
rechtigte Forderungen auch durchsetzen zu können.
„Pacta sunt servanda“ ist einer der zentralen Grundsätze
unserer Zivilrechts- und unserer Wirtschaftsordnung.
In diesem Spannungsfeld müssen die gegensätzlichen
Interessen abgewogen werden. Die Verbraucherinsol-
venz mit Restschuldbefreiung hat sich hier grundsätzlich
bewährt und ist akzeptiert. Wir greifen mit dieser Re-
form aber einige Punkte auf, die bisher als ungerecht
oder unpraktisch empfunden worden sind.
Dabei hat auch der Blick auf die Regelungen, die in
unseren Nachbarländern gelten, eine Rolle gespielt. Dass
es hier deutliche Unterschiede gibt, ist insgesamt nicht
hilfreich und führt zu einem Insolvenztourismus, der
diejenigen bevorzugt, die den Wohnsitz für eine Weile
nach England oder Frankreich verlegen können. Auch
hier darf man aber nicht nur auf die augenscheinlich kur-
zen Fristen bis zur Restschuldbefreiung schauen; denn
diese Rechtsordnungen geben dem Richter durchaus
auch Spielraum, im Einzelfall längere Fristen, Quoten
oder Auflagen festzusetzen. Eine stärkere Vereinheitli-
chung der Rechtsordnungen auf europäischer Ebene wä-
ren an dieser Stelle durchaus sinnvoll.
Mit dem heute zur Beschlussfassung anstehenden Ge-
setz schaffen wir zum ersten Mal einen Anreiz, durch
besondere Anstrengung eine in der Insolvenz überdurch-
schnittliche Quote zu erzielen, dafür im Gegenzug
schneller zur Entschuldung zu kommen. Wer zumindest
die Kosten des Verfahrens deckt, kommt nach fünf Jah-
ren, das heißt ein Jahr früher in den Genuss der Rest-
schuldbefreiung. Wer außerdem die Forderungen der
Gläubiger mit einer Quote von 35 Prozent erfüllt, kann
30470 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013
(A) (C)
(D)(B)
dieses Ziel bereits nach drei Jahren erreichen. Davon
profitieren im Regelfall beide Seiten: die Gläubiger mit
einer höheren Quote, die die heute durchschnittlich er-
zielten Quoten deutlich übersteigt und für die der
Schuldner oftmals besondere, überobligatorische An-
strengungen erbringt, zu denen er nicht verpflichtet ist
und zu denen er nach bisher geltendem Recht auch kei-
nerlei Anreiz hat; der Schuldner durch die schnellere Be-
freiung aus den gleichsam als „Schuldturm“ empfunde-
nen Einschränkungen der Wohlverhaltensphase.
Wir haben es uns in diesem Zusammenhang nicht
leicht gemacht, den richtigen Ansatz zu wählen. Insbe-
sondere haben wir sehr ausführlich erwogen, ob mehr
richterliches Ermessen, etwa mit Blick auf die jeweili-
gen Ursachen der Insolvenz, an dieser Stelle zu mehr
Gerechtigkeit und Zielgenauigkeit beitragen könnte: um
etwa dem Gläubiger, der mit großer und selbst überobli-
gatorischer Anstrengung immerhin 20 Prozent seiner
Schulden aus einer gescheiterten Unternehmensgrün-
dung aufbringt, ebenfalls einen schnelleren Neustart zu
ermöglichen, und auf der anderen Seite dem Schuldner,
der sich mit Konsumschulden absehbar übernommen
hat, den Schuldenschnitt um 65 Prozent nicht zu leicht
zu machen. Dies hätte allerdings sehr uneinheitliche und
unberechenbare Handhabung durch die Gerichte zur
Folge gehabt und die Insolvenzgerichte mit der schwieri-
gen Aufklärung und Bewertung der ganzen Vorge-
schichte der Insolvenz belastet. Wir haben deshalb der
starren Quote den Vorzug gegeben.
Dass 35 Prozent eine ambitionierte Vorgabe sind, ist
sicher zuzugeben. Den Schuldnern hilft aber, dass die
Privilegierung der Lohnabtretung nach § 114 Insolvenz-
ordnung, von der vor allem die Gruppe der Kreditgeber
unter den Gläubigern profitiert hat, abgeschafft wird.
Damit stehen laufende Einkünfte jenseits der Pfändungs-
freigrenze von Anfang an für alle Gläubiger zur Verfü-
gung und erhöhen so die Möglichkeit für alle, zu höhe-
ren Quoten zu kommen. Dies ist zugleich ein Beitrag zur
Gläubigergleichbehandlung.
Vor allem ist dieses zusätzliche Angebot einer schnel-
leren Restschuldbefreiung ein wichtiger Anreiz, in Zu-
kunft bereits früher ein Insolvenzverfahren konstruktiv
anzugehen, sich bereits früher in professionelle Beratung
zu begeben und sich wirtschaftlich zu konsolidieren, an-
statt zuerst alle Ressourcen einschließlich eventueller
Verwandtendarlehen zu verbrauchen und damit Zeit und
Kraft für einen „fresh start“ zu verlieren. Voraussetzung
ist allerdings, dass die Schuldnerberatungen auch zeit-
nah einen Termin anbieten können, wenn der Schuldner
bereit ist, sich seiner Situation zu stellen und Beratung
und Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Für die wirklich gute Arbeit der Schuldnerberatungs-
stellen möchte ich an dieser Stelle meinen Dank sagen,
verbunden mit dem dringenden Appell an die Kommu-
nen, hier für eine bedarfsgerechte Ausstattung zu sorgen.
Eine ständige Unterfinanzierung und mehrmonatige
Wartezeiten sind für Berater wie Schuldner eine große
Belastung und schaden unterm Strich Schuldner wie
Gläubigern. Sie haben nicht nur die wirtschaftliche Si-
tuation der Schuldner und den billigen Schuldenschnitt
für sie im Blick, sondern leisten umfassend die Hilfe, die
im Einzelfall erforderlich ist, um wieder selbstverant-
wortlich wirtschaften zu können.
Wo 35 Prozent gleichwohl nicht erreichbar sind, kön-
nen passgenaue Lösungen im Einvernehmen mit den
Gläubigern erarbeitet werden. Die Schuldnerberatungs-
stellen haben uns hier von guten Beispielen berichtet,
dabei aber auch die Bedeutung der gerichtlichen Zustim-
mungsersetzung unterstrichen, die in den Fallzahlen die-
ses Verfahrens offenbar nur unzureichend zum Ausdruck
kommt. Entgegen dem ursprünglichen Regierungsent-
wurf haben wir deshalb dieses Verfahren in der Insolvenz-
ordnung gelassen, weil allein schon die Möglichkeit der
Zustimmungsersetzung die Zustimmungsbereitschaft der
Gläubiger zu einer vernünftigen individuellen Vereinba-
rung und damit die Chance auf außergerichtliche Eini-
gungen deutlich erhöht.
Zusätzlich haben wir das Planverfahren für Verbrau-
cherinsolvenzen eröffnet, sodass sich nun weitreichende
Möglichkeiten vor und während des Insolvenzverfahrens
bieten, durch Vereinbarungen mit den Gläubigern zu
wirtschaftlich sinnvollen Vereinbarungen zu kommen
und dabei einzelne obstruierende Gläubiger zu überstim-
men. Damit knüpft dieses Gesetz an tragende Gedanken
des ESUG an, das ebenfalls zu einer früheren Insovenz
mit dem Ziel des Erhalts wirtschaftlicher Werte anstelle
der Zerschlagung von Werten führt.
Ein weiterer wichtiger Aspekt dieser Reform ist die
Stärkung der Gläubigerrechte. Anträge auf Versagung
der Restschuldbefreiung können künftig nicht mehr nur
im Schlusstermin geltend gemacht werden. Entschei-
dend ist, dass sie bis dahin zumindest schriftlich vorlie-
gen müssen; bei später bekannt werdenden Gründen ist
auch die nachträgliche Geltendmachung noch möglich.
Ärgerliche Fälle, in denen auch unredliche Schuldner
Restschuldbefreiung erlangen konnten, weil die Gläubi-
ger den Aufwand der Antragstellung im Schlusstermin
scheuten, sind damit für die Zukunft ausgeschlossen.
Eine Stärkung der Erwerbsobliegenheiten des Schuld-
ners im Insolvenzverfahren und seiner Auskunfts- und
Mitwirkungspflichten erscheinen ebenfalls gerecht und
sinnvoll.
Zugunsten der Schuldner, die Mitglied einer Woh-
nungsbaugenossenschaft sind, begründet das Gesetz nun
erstmals den gleichen Kündigungsschutz wie für Mieter.
Die Kündigung der Mitgliedschaft, die den Zugriff auf
das Guthaben ermöglicht, aber zum Verlust des Wohn-
rechts führt, ist in Zukunft nicht möglich, wenn das Gut-
haben in etwa der Kaution in einem Mietverhältnis ent-
spricht. Ein weiter gehender Schutz für höhere, gar
unbegrenzte Genossenschaftsanteile war aber nicht mög-
lich; dies hätte dem Wohnungsgenossen die Möglichkeit
geschaffen, weitere Teile seines Vermögens vor dem Zu-
griff der Gläubiger zu sichern.
Der Referentenentwurf sah noch die Übertragung des
Verbraucherinsolvenzverfahrens auf den Rechtspfleger
vor, auch als Ausgleich zur Übertragung der Zuständig-
keit im Insolvenzplanverfahren auf den Richter im
ESUG. Dies haben wir nun – trotz der unzweifelhaft ge-
gebenen fachlichen Kompetenz der Rechtspfleger – ge-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013 30471
(A) (C)
(D)(B)
ändert, da nach Auffassung mehrerer Sachverständiger
erhebliche Zuständigkeitskonflikte und Abgrenzungs-
probleme drohten, etwa bei der bisweilen komplexen
Abgrenzung der Verfahrensarten oder den teilweise kraft
Verfassung dem Richter vorbehaltenen Sicherungsmaß-
nahmen. Die Übertragung der funktionellen Zuständig-
keit auf den Rechtspfleger hätte im Übrigen zur Folge,
dass jede Eröffnungsentscheidung des Rechtspflegers
mit der Rechtspflegererinnerung anfechtbar wäre, wäh-
rend die Eröffnungsentscheidung durch den Richter nur
nach Maßgabe des § 34 InsO der Anfechtung unterliegt.
Die Anhörung hat auch nicht ergeben, dass infolge der
Zuständigkeit des Insolvenzrichters für Insolvenzplan-
verfahren die Auslastung der Rechtspfleger signifikant
zurückgegangen wäre.
Meines Erachtens wird das Gesetz zur Verkürzung
des Restschuldbefreiungsverfahrens und zur Stärkung
der Gläubigerrechte einen großen Teil dazu beitragen,
Gerechtigkeit und Akzeptanz des Insolvenz- und Rest-
schuldbefreiungsverfahrens im privaten Bereich zu ver-
bessern. Wir haben es geschafft, einen fairen Ausgleich
zwischen dem Interesse der Schuldner an einem „fresh
start“ und dem Interesse der Gläubiger an einer bestmög-
lichen Befriedigung ihrer rechtmäßig erworbenen Forde-
rungen zu erreichen.
Sonja Steffen (SPD): „Was lange währt, wird end-
lich gut“ heißt das Sprichwort. Schon im März 2010
kündigte die Justizministerin auf dem 7. Deutschen In-
solvenzrechtstag eine Reform des Verbraucherinsolvenz-
verfahrens an und stellte ein Jahr später die Eckpunkte
dieser Reform vor. Ein für Sommer 2011 angekündigter
Referentenentwurf folgte erst im Januar 2012.
Seit der ersten Lesung des vom Kabinett beschlosse-
nen Gesetzentwurfs sind wieder fast sechs Monate ver-
gangen. Es währte also bisher alles schon recht lange,
leider ist aber noch lang nicht alles gut.
Zwischenzeitlich waren wir uns schon nicht mehr si-
cher, ob es in dieser Legislaturperiode überhaupt noch
eine Verabschiedung der Verbraucherinsolvenzrechtsre-
form geben wird. Letztlich haben sich die Koalitions-
fraktionen zu dem vorliegenden Kompromiss durchge-
rungen. Dieser hat zur Folge, dass wir jetzt nicht mehr
von einer Reform, sondern eher von einem Reförmchen
sprechen müssen.
In einem Punkt sind die Kollegen von der Koalition
sich treu geblieben: Das Restschuldbefreiungsverfahren
wird verkürzt und zwar nicht nur um ein oder zwei
Jahre, sondern gleich halbiert: allerdings nicht für alle
Schuldner, sondern nur für die, die genügend Geld auf-
bringen können, um innerhalb der ersten drei Jahre
35 Prozent der Forderungen zu tilgen.
Dies stellt nach Meinung der Kollegen der Koali-
tionsfraktionen eine ausgewogene Abwägung zwischen
den Interessen der Gläubiger und den Interessen der
Schuldner dar. Dabei wurde insbesondere die Einfüh-
rung einer Mindestbefriedigungsquote in der öffentli-
chen Anhörung des Rechtsausschusses von den unter-
schiedlichen Sachverständigen stark kritisiert. Es war
von einer Ungleichbehandlung der Schuldner, der star-
ken Missbrauchsanfälligkeit, der unnötigen Schaffung
einer neuen Entschuldungszielgruppe, die eigentlich gar
kein Verbraucherinsolvenzverfahren braucht, aber auch
von dem erhöhten Druckpotential der Schuldner gegen-
über den Gläubigern und der sinkenden Zahlungsmoral
die Rede.
Der Großteil der Schuldner wird nicht in der Lage
sein, 35 Prozent der Forderungen zu tilgen, außer viel-
leicht die Schuldner, bei denen noch eine Erbschaft an-
steht, die sich Geld von Familienangehörigen und Freun-
den leihen können oder die früh genug die verbleibenden
finanziellen Mittel geschickt verteilt haben. In den we-
nigsten Fällen werden diese 35 Prozent durch einen
zweiten Nebenjob aufgebracht werden können.
Ich bezweifle, dass Sie es mit diesem Anreizsystem
tatsächlich schaffen werden, bei 15 Prozent aller betrof-
fenen Personen das Restschuldbefreiungsverfahren zu
verkürzen. Wie heute in der FAZ zu lesen war, geht zum
Beispiel Christoph Niering, Vorsitzender des Verbandes
Insolvenzverwalter Deutschlands, davon aus, dass
höchstens 5 Prozent der Schuldner die Mindestbefriedi-
gungsquote erreichen werden.
Wir sind der Meinung, dass mit dem vorliegenden
Gesetzentwurf eine Zweiklassengesellschaft von Schuld-
nern eingeführt wird. Eine solche Ungleichbehandlung
ist für uns nicht hinnehmbar. Die Dauer eines Rest-
schuldbefreiungsverfahrens darf nicht davon abhängen,
ob zum Beispiel die Eltern bereit und dazu in der Lage
sind, einen Teil der Schulden zu übernehmen.
Den Vorschlag der Grünen, das Verfahren generell für
alle Schuldner von sechs auf drei Jahre zu verkürzen, leh-
nen wir allerdings ebenso ab. Selbst Verbraucherschützer
und Schuldnerberater gehen bei ihren Forderungen nach
einer Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens
nicht ganz so weit. Hier ist immer von vier Jahren die
Rede. Auch wenn wir an das Wohl und die zweite Chance
für den Schuldner denken, dürfen wir doch die Interessen
der Gläubiger nicht völlig außer Acht lassen.
Was den Rest angeht, so lassen Sie nach einigen Dre-
hungen und Schleifen per Änderungsantrag letztlich
doch das meiste beim Alten, was uns teilweise durchaus
erfreut. Ihrem Anspruch, auch den außergerichtlichen
Einigungsversuch effizienter zu gestalten und zu stärken,
werden sie damit jedoch nicht gerecht, und so wird aus
der groß angekündigten Reform letztlich nur ein Re-
förmchen.
Jörg von Polheim (FDP): Ich freue mich, dass wir
heute nach langen Verhandlungen die Verkürzung des
Verfahrens der Restschuldbefreiung bei Privatinsolvenz
auf den Weg bringen.
Wir haben in den letzten Wochen intensiv um einen
Ausgleich der Positionen gerungen und sind so zu einem
guten Interessenausgleich zwischen Gläubigern und
Schuldnern gekommen:
Die neue Regelung stellt einen signifikanten Wandel
vom einseitigen Sanktionensystem hin zu einem Anreiz-
30472 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013
(A) (C)
(D)(B)
system dar. Die Vorteile für die Gläubiger liegen auf der
Hand: Wir haben erreicht, dass die Rückzahlungsquote
auf 35 Prozent festgesetzt wird. Dafür habe ich mich
starkgemacht.
Das Anreizsystem hilft zum einen den Gläubigern,
die so einen beträchtlichen Teil ihrer Forderung ersetzt
bekommen – und das bereits nach drei Jahren statt bisher
erst im Laufe von sechs Jahren.
Und es hilft zum anderen auch dem Schuldner, der in
eine finanzielle Notsituation geraten ist, schneller aus
der Schuldenklemme zu gelangen. Er kann die Dauer
seiner Wohlverhaltensphase auf drei Jahre verkürzen,
wenn er während dieser Zeit 35 Prozent der offenen For-
derung begleicht.
Ging bis dato ein Kunde in Privatinsolvenz, führte
dies im Handwerksbereich oft dazu, dass der Handwer-
ker sein ausstehendes Geld fast vollständig verlor. Wäh-
rend der Wohlverhaltensphase konnten die offenen For-
derungen oft nur zu einem geringen Anteil getilgt
werden. Das soll sich jetzt ändern. Der Anreiz, dass
Schuldner im Sinne eines schnellen Schuldenschnitts
auch aus ihrem familiären Umfeld finanzielle Unterstüt-
zung zur Tilgung akquirieren, ist durch die 35-Prozent-
Quote deutlich gestärkt. Das ist ein enormer Fortschritt:
Die Rückflüsse sind nun nicht mehr beschränkt auf die
vom Schuldner selbst erwirtschafteten Mittel.
Ein weiterer, ganz wesentlicher Punkt des neuen Ge-
setzes ist die Gleichbehandlung aller Gläubiger: Das bis-
herige zweijährige Bankenprivileg sowie ein Fiskuspri-
vileg sind im neuen Gesetz nicht mehr enthalten. Das ist
ein großer Erfolg. So bekommen alle Gläubiger von An-
fang an Rückzahlungen vom insolventen Schuldner, was
bisher in den ersten zwei Jahren ausschließlich den Ban-
ken vorbehalten war.
Mit der Neuregelung tritt zudem eine Stärkung der
Gläubigerrechte in Kraft.
Auch beginnt die Erwerbsobliegenheit der Schuldner
bei Eintreten der Insolvenz, nicht erst mit Beginn der
Wohlverhaltensphase sechs Monate nach Verfahrenser-
öffnung.
Ein weiterer Punkt: Die Informationsmöglichkeiten
über säumige Zahler werden erleichtert, indem ein zen-
tral geführtes elektronisches Schuldnerverzeichnis ein-
geführt wird.
Insbesondere für Existenzgründer setzen wir mit der
jetzt vorliegenden Neuregelung ein wesentliches Signal:
Angesichts der besonderen wirtschaftlichen Risiken, de-
nen sich Neugründungen vielfach ausgesetzt sehen und
die nicht immer beherrschbar sind, wird dem Gründer im
Insolvenzfall nun deutlich schneller als bisher eine zweite
Chance ermöglicht. Damit verbessert die christlich-libe-
rale Koalition an entscheidender Stelle die Rahmenbedin-
gungen für innovative Unternehmen und Start-ups. Mit
unserer Reform der Verbraucherinsolvenz setzen wir ein
deutliches Zeichen. Gründern wird es erleichtert, ihre gu-
ten Ideen in die Tat umzusetzen. Dies war unser erklärtes
Ziel im Koalitionsvertrag. Jetzt ist es erreicht.
Sehr bewusst haben wir diese Möglichkeit jetzt nicht
nur Existenzgründern eingeräumt, sondern bei allen Pri-
vatinsolvenzen. Das sind nicht nur eingesessene Hand-
werksbetriebe, die unversehens durch ungünstige Um-
stände in Schwierigkeiten geraten sind. Auch private
Haushalte, die aufgrund von Krankheit, Scheidung oder
plötzlicher Arbeitslosigkeit unverschuldet in Insolvenz
geraten sind, können sich nun deutlich schneller daraus
befreien.
Die jetzt gefundene Regelung ist eine Win-win-Situa-
tion, weil die Interessen der Schuldner und der Gläubi-
ger angemessen austariert werden.
Judith Skudelny (FDP): Wir als FDP stehen wie
keine andere Partei für Freiheit. Wie unser Vorsitzender
auf dem Parteitag im März treffend festgestellt hat, ge-
hört dazu auch die Freiheit, einmal Fehler machen zu
können. Wir verteidigen daher auch die Freiheit der
zweiten Chance. Vor diesem Hintergrund beschließen
wir heute das Gesetz zur Verkürzung des Restschuldbe-
freiungsverfahrens und zur Stärkung der Gläubiger-
rechte.
Wer kennt nicht jemanden, der entweder von der In-
solvenz betroffen ist oder auf den Eingang einer offenen
Forderung wartet? Im Jahr 2012 meldeten in Deutsch-
land insgesamt 122 001 Verbraucher Insolvenz an. Das
sind in der überwiegenden Mehrzahl jedoch nicht Leute,
die nicht mit Geld umgehen können. Vielmehr geraten
die meisten Menschen wegen Tod, Scheidung oder Ar-
beitslosigkeit in die Insolvenz. Diese Menschen verdie-
nen eine zweite Chance auf einen Neustart.
Das im Jahr 1999 eingeführte Insolvenzrecht hat aber
nicht nur alle Gläubiger im Insolvenzverfahren weitest-
gehend gleichgestellt. Auch alle Schuldner werden
gleich behandelt. So macht es für die Entschuldung
heute keinen Unterschied, ob sich ein Schuldner mehr
oder weniger bemüht, seine Schulden im Insolvenzver-
fahren zu begleichen.
Die Reform schafft nun erstmals einen Anreiz für die
Schuldner, sich über die geforderten Verpflichtungen hi-
naus mehr anzustrengen. Sie belohnt diejenigen Schuld-
ner, die sich redlich bemühen, ihre Schulden zurückzu-
zahlen. Die derzeitige Quote im Insolvenzverfahren wird
auf deutlich unter 10 Prozent geschätzt. Verlässliche
Zahlen gibt es jedoch nicht. Nach der Reform soll ein
Schuldner nach drei Jahren restschuldbefreit werden,
wenn er 35 Prozent der ausstehenden Forderungen er-
füllt und zusätzlich die Kosten des Verfahrens trägt. Da-
von profitieren sowohl die Schuldner als auch die Gläu-
biger.
Bereits im Vorfeld wurde Kritik an der Quote laut;
diese sei zu hoch. Solange jedoch keine validen Zahlen
über die gesamte Breite der Verfahren vom ehemaligen
Unternehmer bis zu den Verfahren, die über die Schuld-
nerberatungen kommen, vorliegen, ist das jedoch nur
reine Spekulation. Die Regierung hat sich zum Ziel ge-
setzt, dass mindestens 15 Prozent der Verfahren die
Möglichkeit der vorzeitigen Restschuldbefreiung nutzen
sollen. In fünf Jahren wird überprüft, ob die Quote dieses
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013 30473
(A) (C)
(D)(B)
Ziel erreicht. Dann ist die richtige Zeit gekommen, Kri-
tik zu üben und das Verfahren zu überprüfen.
Neu ist auch, dass ein Schuldner, der zumindest die
Prozesskosten trägt, sich nun bereits nach fünf Jahren
von seiner Restschuld befreien kann. Eine solche Mög-
lichkeit mit einer Rate von monatlich 30 Euro kann von
nahezu allen Schuldnern genutzt werden und entlastet
damit die Staatskassen und die Bürokratie der Länder.
Neben diesen Verbesserungen für die Schuldner, die
bereit sind, sich mehr anzustrengen, enthält der Gesetz-
entwurf doch auch verschärfte Bedingungen für die un-
redlichen Schuldner. Neben unerlaubten Handlungen
bleiben nun auch Steuerstraftaten von der Restschuldbe-
freiung ausgenommen. Die Bundesländer haben gefor-
dert, dass die Restschuldbefreiung auch dann versagt
werden soll, wenn ein Steuerhinterziehungsverfahren
eingeleitet wurde. Diese Art der Vorverurteilung lehnen
wir ab. Für diese Regierung gilt noch immer die Un-
schuldsvermutung. Voraussetzung der Versagung der
Restschuldbefreiung ist daher eine rechtskräftige Verur-
teilung. Darüber hinaus kann dem Schuldner die Rest-
schuldbefreiung auch dann versagt werden, wenn er ge-
gen seine gesetzlichen Unterhaltspflichten verstößt.
Neben den Regelungen für die Schuldner dürfen wir
jedoch auch nicht vergessen, dass das Insolvenzverfah-
ren immer den bestmöglichen Ausgleich zwischen
Schuldnern und Gläubigern als Ziel hat. Aus diesem
Grund haben wir durch die Ausweitung des Insolvenz-
planverfahrens die Möglichkeit gestärkt, einvernehmli-
che Lösungen zwischen Schuldnern und Gläubigern zu
ermöglichen. Statt wie bisher nur bis zur Verfahrenser-
öffnung können Vergleiche zwischen den Beteiligten
nun auch während des Insolvenzverfahrens geschlossen
werden – eine wichtige Möglichkeit, da das Insolvenz-
verfahren für viele Betroffene der erste Schritt ist, ihre
Vermögensverhältnisse neu zu ordnen und eine wirt-
schaftliche Grundlage für ihre Zukunft zu legen. Wenn
dieses Instrument funktioniert, können die Schuldner
künftig auch im fortgeschrittenen Stadium mit ihren
Gläubigern in Verhandlungen treten.
Nachdem ich nun ausführlich die Verbesserungen für
die Schuldner und die erweiterten Einigungsmöglichkei-
ten dargelegt habe, möchte ich natürlich auch noch kurz
auf die Verbesserungen für die Gläubiger eingehen. Die
Gläubiger profitieren nicht nur davon, dass durch die
Verkürzung des Verfahrens der Restschuldbefreiung mit
der Mindestquote von 35 Prozent ein größerer Teil ihrer
ausstehenden Forderungen beglichen wird. Durch die
Reform wird das Abtretungsprivileg gebrochen, welches
insbesondere Banken für sich in Anspruch genommen
haben. Gerade Banken verfügen im Gegensatz zu den
meisten Gläubigern über die größten Möglichkeiten,
sich im Vorfeld der Kreditvergabe über die Bonität ihrer
Kunden zu informieren. Deren Sicherungsrechte an
Lohn und Gehalt der Schuldner hatten bislang jedoch ge-
genüber den Forderungen der anderen Gläubiger zwei
Jahre lang Vorrang. Künftig werden Banken vom ersten
Tag an wie alle anderen Gläubiger behandelt, also
gleichbehandelt. Davon profitieren vor allem die „klei-
nen“ Gläubiger, die oftmals auf ihren Forderungen voll-
ständig sitzenblieben.
Lassen sie mich meine Rede auch im Hinblick auf die
Freiheit beenden. Die Freiheit der zweiten Chance des
einen ist in diesem Fall mit einem Eigentumsverlust der
anderen verbunden. Mit dem vorliegenden Gesetz ist es
uns gelungen, zwischen diesen beiden einen guten Mit-
telweg zu schaffen, der die Situation für alle verbessern
wird.
Richard Pitterle (DIE LINKE): Ein halbes Jahr ist
seit der ersten Lesung des Gesetzes zur Verkürzung des
Restschuldbefreiungsverfahrens und zur Stärkung der
Gläubigerrechte vergangen. Hat sich in dieser Zeit etwas
Wesentliches geändert?
In der Anhörung hat die überwiegende Zahl der Sach-
verständigen, auch die von der Regierungskoalition be-
nannten, die völlig unrealistischen Befriedigungsquoten
kritisiert, mit denen Sie Schuldner von den Schulden be-
freien wollen, nachdem sie einen Teil gezahlt haben:
nach drei Jahren Befreiung von den restlichen Schulden,
wenn mindestens 25 Prozent der Schulden bezahlt sind.
Durch Ihren Änderungsantrag haben Sie die Quote sogar
noch um über ein Drittel erhöht auf 35 Prozent. Nach
fünf Jahren Befreiung sollen die restlichen Schulden er-
lassen werden, wenn der Schuldner die Verfahrenskosten
aufgebracht hat. Wenn Sie auf den Sachverstand nicht
hören, warum finden die Anhörungen überhaupt noch
statt?
Auch die Rednerinnen und Redner der anderen Oppo-
sitionsfraktionen sehen das als völlig weltfremd an –
wenn der Schuldner sich legal verhält, also weder vorher
Geld beiseite geschafft hat noch in die Schwarzarbeit
flüchtet.
Die allermeisten Schuldner haben sich schon vor dem
Antrag auf Privatinsolvenz lange Zeit stark einge-
schränkt. Privatinsolvenz ist der allerletzte Schritt, wenn
es dem Schuldner aussichtslos erscheint, seiner Schul-
den „jemals Herr zu werden“, oder der Gerichtsvollzie-
her vor der Tür steht oder bereits alles mitgenommen
hat.
Die Schuldnerberatungsstellen haben uns alle infor-
miert, dass empirisch die Befriedigungsquoten sich um
circa 10 Prozent bewegen. Sicher ist das eine Durch-
schnittszahl, aber unser Auftrag lautet, Gesetze für die
gesamte Bevölkerung zu machen. Das heißt, dass es al-
len möglich sein muss, die Vorgaben des Gesetzes zu er-
reichen, nicht nur gescheiterten Selbstständigen, die Sie
mit Ihrem Koalitionsvertrag im Blick hatten und – wenn
man sich das Gesetz ansieht – auch immer noch haben.
Unser Blick geht weiter und schließt auch Gläubiger wie
beispielsweise Handwerker, Einzelhändler, Versand-
händler und kleine Dienstleister ein.
Hier hat sich also im letzten halben Jahr bei der Re-
gierungskoalition nichts verbessert, sondern durch Ihren
Änderungsantrag wurde der Gesetzentwurf sogar dras-
tisch verschlechtert. Da ist der Ansatz im Antrag von
Bündnis 90/Die Grünen vernünftiger, denn dort wird
eine Restschuldbefreiung nach drei Jahren ermöglicht –
30474 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013
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ohne Mindestbefriedigungsquote. Nach Ihrem Gesetz-
entwurf werden die allermeisten wie bisher bei 6 Jahren
hängenbleiben.
Dass Sie auf die Streichung des außergerichtlichen
und gerichtlichen Schuldenbereinigungsverfahrens ver-
zichten, ist eher dem einhelligen Protest der Praxis als
Ihrer Einsicht zuzuschreiben.
Dass sich auch diese Bundesregierung inzwischen of-
fensichtlich für das Recht auf Wohnung entschieden hat
und endlich mit einer Änderung im Genossenschaftsge-
setz dafür sorgt, dass Mieter einer Genossenschaftswoh-
nung bei einer Privatinsolvenz geschützt sind, weil sie
eine Kündigung ihrer Anteile an der Wohnungsgenos-
senschaft – und damit den Verlust der Wohnung – nicht
mehr fürchten müssen, ist zwar zu begrüßen. Doch eine
Obergrenze von maximal vier Nettokaltmieten, wie sie
die Regierung vorschlägt, ist – wie bereits der GdW
Bundesverband deutscher Wohnungs- und Immobilien-
unternehmen nach einer Umfrage unter seinen Mitglie-
dern dem Bundesministerium der Justiz mitgeteilt
hatte – viel zu niedrig. Auch hier werden wir dem An-
trag von Bündnis 90/Die Grünen zustimmen, die ebenso
wie wir keine Obergrenze festlegen.
Sie verlangen vom Schuldner einen Nachweis für die
Mittel, die er zusätzlich aufbringt, um seine Schulden zu
reduzieren, um eine vorzeitige Befreiung von seinen
restlichen Schulden zu erreichen. Das ist zwar löblich,
aber viel zu kurz gedacht. Sie schaffen damit vor allem
einen Anreiz, heimliche Umschuldungen vorzunehmen,
und stärken damit nur die Kreditwucherbranche. Hier
hätte es zusätzlicher Regelungen bedurft.
Die Streichung der Vorausabtretung halten wir im
Hinblick auf die Gleichbehandlung der Gläubiger zwar
für hilfreich, aber ich fürchte, in der Praxis werden vor
allem Familien ohne sonstige materielle Sicherheiten zu-
künftig vor gravierenden Finanzierungsproblemen ste-
hen.
Zum Abschluss noch ein Hinweis in Sachen Demo-
kratie und Öffentlichkeit: Die Insolvenz ist ein wichtiges
Thema, das (fast) alle treffen kann. Leider darf es nicht
im Parlament diskutiert werden. Schon bei der ersten Le-
sung gingen die Reden zu Protokoll, jetzt bei der zweiten
und dritten Lesung und damit der Verabschiedung des
Gesetzes ist das wieder der Fall. Aber da die Regierung
ihre Hausaufgaben noch nicht gemacht hat, wird es am
Ende der Legislaturperiode eng und wichtige Themen
können nicht mehr in der parlamentarischen Öffentlich-
keit besprochen werden, sondern wandern direkt in di-
cke Akten. Diesen Gesetzentwurf lehnen wir ab.
Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Das Gesetz zur Verkürzung des Restschuldbefreiungs-
verfahrens und zur Stärkung der Gläubigerrechte war
von der schwarz-gelben Bundesregierung als großer
Wurf geplant. Im Ergebnis ist nun ein Gesetz herausge-
kommen, das wenig verändern wird. Es verfehlt sein
Ziel, Unternehmensgründern oder anderen verschulde-
ten Personen zügig einen finanziellen Neustart und eine
zweite Chance zu eröffnen, völlig.
Die langen Ausführungen im Gesetzentwurf lesen
sich wie eine Ironie: Sie, meine Damen und Herren von
der Regierungskoalition, führen eingehend aus, warum
eine sechsjährige Wohlverhaltensphase in der Verbrau-
cherinsolvenz, wie sie derzeitig Rechtslage ist, zu lang
ist. Hier stimmen wir Grünen Ihnen voll und ganz zu.
Sie schlagen nun eine Verkürzung der Wohlverhaltens-
phase um ein Jahr, also auf fünf Jahre, vor, wenn die
Schuldnerin oder der Schuldner die Verfahrenskosten
begleicht. Ursprünglich hatten Sie eine weitere Verkür-
zung auf drei Jahre vorgesehen, wenn die Schuldnerin
oder der Schuldner eine Mindestbefriedigungsquote von
25 Prozent erfüllt hat.
Beide Regelungen haben nicht nur wir Grünen in der
Vergangenheit klar kritisiert. Auch in der Anhörung ha-
ben viele der Expertinnen und Experten deutlich zum
Ausdruck gebracht, dass in der Praxis nur sehr wenige
Schuldnerinnen und Schuldner von den Neuregelungen
profitieren würden. Die überwiegende Zahl der Verbrau-
cherschuldnerinnen und Verbraucherschuldner wird auf-
grund ihrer Einkommens- und Vermögensverhältnisse
nicht in der Lage sein, überhaupt eine Befriedigungs-
quote aus eigenem Einkommen und Vermögen zu tra-
gen.
Aber es kommt noch schlimmer. In Ihrem Änderungs-
antrag wollen Sie nun die Befriedigungsquote sogar auf
35 Prozent erhöhen, obwohl Sie in Ihrer Begründung
selbst schreiben, dass die Quote nicht zu hoch sein darf,
um Leistungsanreize zu setzen. Ein Anreizsystem halten
auch wir Grünen nicht grundsätzlich für falsch. Bei der
Begleichung der Verfahrenskosten zum Beispiel sind wir
weniger kritisch. Aber mit Ihrer Mindestbefriedigungs-
quote von 35 Prozent kommen Sie einseitig den Interes-
sen der Kreditwirtschaft nach – und dies auf dem
Rücken der Verbraucherschuldnerinnen und Verbrau-
cherschuldner. Weitaus sinnvoller wäre es gewesen, für
alle Schuldnerinnen und Schuldner gleichermaßen eine
Verfahrensverkürzung auf drei Jahre einzuführen. Das
wäre eine echte zweite Chance, eine Möglichkeit zum
Neuanfang. Genau dies fordern wir Grünen in unserem
Änderungsantrag.
Viele Menschen haben große Erwartungen in dieses
Gesetz gesetzt. Das zeigen uns die vielen Zuschriften
von Privatpersonen. Von einem gerechten Interessenaus-
gleich zwischen Gläubigerinnen und Gläubigern einer-
seits und Schuldnerinnen und Schuldnern andererseits
kann aber bei Ihrem Gesetz keine Rede mehr sein. Mit
Ihrem Gesetzentwurf wird nur ein ganz geringer Teil al-
ler Schuldnerinnen und Schuldner in den Genuss einer
vorzeitigen Restschuldbefreiung kommen. Hier kann ich
nur sagen: Ziel deutlich verfehlt.
Erfreulicherweise nehmen Sie aber, das will ich posi-
tiv hervorheben, mit Ihrem Änderungsantrag die vorge-
sehene Abschaffung des Schuldenbereinigungsplanver-
fahrens zurück. Wenigstens in diesem Punkt haben Sie
sich die Expertisen der Sachverständigen zu Herzen ge-
nommen. Doch von Ihren ursprünglichen Plänen, den
äußerst erfolgreichen außergerichtlichen Einigungsver-
such umfassend zu stärken, ist leider nicht viel übrig ge-
blieben. Vorschläge hierzu hätte es genug gegeben.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013 30475
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Ein weiteres Problem haben Sie noch mit Ihrem Ge-
setzentwurf abgemildert: Sie begründen Kündigungs-
schutz für Schuldnerinnen und Schuldner, die eine Woh-
nung von Wohnungsbaugenossenschaften gemietet
haben und mit einer bestimmten Anzahl von Genossen-
schaftsanteilen an der Genossenschaft beteiligt sind. Da-
mit erhalten Mitglieder einer Wohnungsgenossenschaft,
die in finanzielle Not geraten sind, wenigstens die Sicher-
heit, in der Insolvenz ihre Wohnung behalten zu können.
Hier wird endlich eine Lücke geschlossen. Das befürwor-
ten wir sehr. Hierfür haben auch wir Grünen uns in der
Vergangenheit stark gemacht. Wie der Bundesrat auch,
hätten wir uns allerdings ein höheres Schutzniveau ge-
wünscht.
Insgesamt ist dieses Gesetzeswerk enttäuschend für
die vielen Verbraucherschuldnerinnen und Verbraucher-
schuldner, die lange darauf gewartet haben. Hier haben
Sie nachvollziehbare Hoffnungen einseitig enttäuscht.
Wir Grünen können Ihrem Gesetz in dieser Form nicht
zustimmen.
Anlage 10
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Moder-
nisierung des Kostenrechts (2. Kostenrechts-
modernisierungsgesetz – 2. KostRMoG)
– Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung des
Erfolgsbezugs im Gerichtsvollzieherkosten-
recht
– Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
Prozesskostenhilfe- und Beratungshilferechts
– Entwurf eines Gesetzes zur Begrenzung der
Aufwendungen für die Prozesskostenhilfe
(Prozesskostenhilfebegrenzungsgesetz –
PKHBegrenzG)
– Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Beratungshilferechts
(Tagesordnungspunkt 18 a und c)
Ute Granold (CDU/CSU): Wir beraten heute ab-
schließend über mehrere Gesetzentwürfe zur Moderni-
sierung des Kostenrechts. Wie bereits in der ersten parla-
mentarischen Beratung werde ich mich dabei auf die
Prozesskostenhilfe, die Verfahrenskostenhilfe und Bera-
tungshilfe beschränken. Der Kollege Seif wird die weite-
ren Aspekte aus Sicht der Union erläutern.
Mit der Reform des Prozesskostenhilfe- und Bera-
tungshilferechts können wir heute eine weitere Vereinba-
rung aus dem Koalitionsvertrag umsetzen. Dazu greift
der Gesetzentwurf einerseits die Forderungen der Länder
aus den Bundesratsinitiativen der 16. und 17. Legislatur-
periode auf, die stetig steigenden Ausgaben der Länder
für Prozesskostenhilfe und Beratungshilfe zu begrenzen.
Gleichzeitig wird andererseits aber sichergestellt, dass
der vom Grundgesetz garantierte Zugang zum Recht ge-
richtlich wie außergerichtlich weiterhin allen Bürgerin-
nen und Bürgern unabhängig von Einkünften und Vermö-
gen offensteht. Darüber hinaus wird eine Entscheidung
des Bundesverfassungsgerichts zur Einbeziehung steuer-
rechtlicher Angelegenheiten in die Beratungshilfe umge-
setzt.
Auch wenn nicht alle Wünsche der Länder nach Kos-
teneinsparungen erfüllt werden konnten, haben wir nun
zusammen mit den Vereinbarungen zum 2. Kostenrechts-
modernisierungsgesetz einen guten und ausgewogenen
Kompromiss gefunden. So hat sich die CDU/CSU-Bun-
destagsfraktion erfolgreich dafür eingesetzt, dass die be-
rechtigten Interessen der Länder an einer Kostensenkung
in einen angemessenen Ausgleich mit der Rechtsschutz-
und Rechtswegegarantie der Bürgerinnen und Bürger ge-
bracht wurden.
Nach umfassenden Beratungen im Rechtsausschuss
und einer Sachverständigenanhörung am 13. März 2013
steht der ursprüngliche Gesetzentwurf der Bundesregie-
rung, bei dem es sich um einen „abgespeckten Entwurf“
des ursprünglichen Länderentwurfes handelt, nun mit ei-
nigen Änderungen heute zur Abstimmung.
Bereits zu Beginn der Beratungen hat die Unionsfrak-
tion deutlich gemacht, dass wir Einschränkungen bei der
Beiordnung eines Rechtsanwalts im Rahmen der Verfah-
renskostenhilfe ablehnen. Grundsätzlich ist anzuerken-
nen, dass die Bewilligung von Prozess- und Verfahren-
skostenhilfe sowie die Beiordnung eines Rechtsanwalts
in familiengerichtlichen Verfahren, die eine große per-
sönliche Bedeutung für die Beteiligten haben, besonders
sensibel und großzügig gehandhabt werden müssen. Au-
ßerdem hätten für die jeweilige Partei Möglichkeiten be-
standen, die Beiordnung eines Rechtsanwaltes trotz der
vorgeschlagenen Änderung zu erreichen. So können bei-
spielsweise zusätzliche Anträge zum Zugewinnausgleich
oder Unterhalt gestellt werden, was wiederum vermeid-
bare Verkomplizierungen und Kostensteigerungen mit
sich bringt. Der Umstand, dass sich bemittelte Antrags-
gegner bei einvernehmlichen Ehescheidungen seltener
eines anwaltlichen Beistands bedienen, lässt sich auch
darauf zurückführen, dass im Vorfeld des gerichtlichen
Verfahrens – anders als bei bedürftigen Parteien – die
Möglichkeit einer jeweiligen anwaltlichen Beratung in
Anspruch genommen werden konnte.
Darüber hinaus wollen wir eine Legaldefinition des
Begriffs der Mutwilligkeit in die Zivilprozessordung
einfügen. Danach ist die Rechtsverfolgung oder Rechts-
verteidigung mutwillig, wenn eine Partei, die keine Pro-
zesskostenhilfe beansprucht, bei verständiger Würdi-
gung aller Umstände von der Rechtsverfolgung oder
Rechtsverteidigung absehen würde, obwohl eine hinrei-
chende Aussicht auf Erfolg besteht. Diese Definition
entspricht der herrschenden Rechtsprechung, insbeson-
dere der des Bundesverfassungsgerichts. Danach ist als
Vergleichsperson derjenige Bemittelte heranzuziehen,
der seine Prozessaussichten vernünftig abwägt und dabei
auch das Kostenrisiko berücksichtigt. Die Formel wird
in der Praxis seit langem angewandt und hat sich be-
währt. Sie gibt den Gerichten ausreichend präzise, je-
30476 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013
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doch gleichzeitig flexible Kriterien für die vorzuneh-
mende Bewertung vor.
Eine Absenkung der Freibeträge für Erwerbstätige so-
wie für Ehegatten oder Lebenspartner konnte vermieden
werden. Wir sind der Auffassung, dass die Bereitstellung
adäquater Prozess- bzw. Verfahrenskostenhilfe dem
Rechtsstaatsgebot entspricht und sich nicht an dem abso-
luten verfassungsrechtlichen Minimum orientieren
sollte. Die Halbierung des Freibetrages für Erwerbstä-
tige hätte das anerkennenswerte Bemühen insbesondere
von Geringverdienern um die Erzielung eines eigenen
Erwerbseinkommens nicht hinreichend unterstützt.
Die geltende Ratenhöchstzahlungsdauer von 48 Mo-
naten stellt bereits einen angemessenen Ausgleich zwi-
schen den Interessen der Partei an einer zeitlich über-
schaubaren finanziellen Mehrbelastung infolge der
Prozessführung und dem fiskalischen Interesse an einer
hohen Refinanzierungsquote sicher. Daher haben wir
eine Erhöhung auf 72 Monate abgelehnt. Mit einer Ver-
längerung der Ratenhöchstzahlungsdauer wäre auch eine
länger andauernde Pflicht zur Überwachung verbunden
gewesen, die zu erheblichem personellem Mehraufwand
in der Justiz geführt hätte. Dem hätte in einer großen An-
zahl von Fällen – auch vor dem Hintergrund der aktuel-
len Pfändungsfreigrenzen – kein Nutzen entgegenge-
standen.
Darüber hinaus haben wir die vorgeschlagene Befug-
nis für die Gerichte, zur Klärung der persönlichen und
wirtschaftlichen Verhältnisse mit Einwilligung des An-
tragstellers Auskünfte Dritter einholen zu können, abge-
lehnt. Es wäre unverhältnismäßig gewesen, dass einem
Dritten – beispielsweise einem Arbeitgeber oder einem
Versicherer – auf diese Weise bekannt geworden wäre,
dass der Antragsteller Prozesskostenhilfe für ein Ge-
richtsverfahren beantragt hat. Diesem Eingriff in die
Rechte der Antragsteller hätte also ebenfalls kein ad-
äquater Nutzen gegenübergestanden.
Die ursprünglich vorgesehene Erweiterung des Be-
schwerderechts der Staatskasse hätte – beispielsweise
durch nur geringfügige Rechenfehler zulasten der Staats-
kasse – eine erhebliche Mehrbelastung der Bezirksrevi-
soren sowie der zweiten Instanz zur Folge gehabt. Ferner
wäre der Begründungsaufwand für den erstinstanzlichen
Richter gestiegen. Die Einlegung einer Beschwerde
führt darüber hinaus zwangsläufig zu einer Verzögerung
des Hauptsacheverfahrens. Zunächst muss die Hauptakte
nebst Prozesskostenhilfeheft an das Rechtsmittelgericht
versendet werden. Weiterhin entsteht eine bis zu drei
Monaten andauernde Unsicherheit, ob die Bewilligungs-
entscheidung als solche noch angegriffen wird, was die
Partei mit beigeordnetem Rechtsanwalt vielfach dazu
bewegen wird, den genannten Zeitraum abzuwarten und
zunächst nicht kostenverursachend tätig zu werden. Ge-
rade in Verfahren, in denen der Beschleunigungsgrund-
satz besonders ausgeprägt ist (zum Beispiel Kindschafts-
sachen), stellt sich dies kritisch dar.
Die Koalition hat ferner die vorgeschlagene Möglich-
keit abgelehnt, Zeugen oder Sachverständige auch zur
Prüfung der Bedürftigkeit vernehmen zu können. Schon
nach bisheriger Rechtslage geht die fehlende Glaubhaft-
machung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhält-
nisse oder die ungenügende Beantwortung schriftlicher
Fragen nach Fristsetzung zulasten des Antragstellers, da
die Bewilligung von Prozesskostenhilfe in diesen Fällen
abgelehnt werden kann. Deshalb ist nicht davon auszu-
gehen, dass von der aufwändigeren Möglichkeit einer
Klärung durch Vernehmung von Zeugen oder Sachver-
ständigen nennenswert Gebrauch gemacht werden wird.
Zudem entstehen durch entsprechende Vernehmungen
gegebenenfalls erhebliche zusätzliche Kosten, die insbe-
sondere bei einem Unterliegen der bedürftigen Partei,
der ratenfreie Prozesskostenhilfe bewilligt wurde, letzt-
lich von der Staatskasse zu tragen wären. Zudem er-
scheint die Kostentragungspflicht des Gegners im Falle
seines Unterliegens verfehlt, wenn der Zweck der Ver-
nehmung allein in der ausschließlich im Interesse der
Staatskasse liegenden Aufklärung der persönlichen und
wirtschaftlichen Verhältnisse lag.
Ferner haben wir die im Gesetzentwurf vorgesehene
Möglichkeit zur Übertragung der Bedürftigkeitsprüfung
auf den Rechtspfleger als Länderöffnungsklausel ausge-
staltet. Dies eröffnet den Ländern die Gestaltungsspiel-
räume, die erforderlich sind, um auf den mit der Aufga-
benübertragung verbundenen erhöhten Personalbedarf
im Rechtspflegerbereich flexibel reagieren zu können.
Außerdem wird die Möglichkeit einer nachträglichen
Antragstellung nicht eingeschränkt und bleibt wie bisher
an keine besondere Eilbedürftigkeit geknüpft.
Die Sonderregel im arbeitsgerichtlichen Verfahren,
dass einer Partei auch ohne Erfolgsaussicht ein Rechts-
anwalt beigeordnet werden kann, wenn der Gegner an-
waltlich vertreten ist, wird abgeschafft. Die „Waffen-
gleichheit“ wird bereits durch § 121 ZPO ausreichend
gewährleistet.
Das nun vorgesehene Inkrafttreten des Gesetzes zum
1. Januar 2014 ermöglicht einen Umsetzungszeitraum
von sechs Monaten. Dieser Zeitraum ist wegen des Um-
stellungsaufwands in den Fachverfahren und wegen der
Änderungen am Prozesskostenhilfe- und am Beratungs-
hilfeformular notwendig.
Zum Ende meiner Ausführungen noch eine Bemer-
kung zu den Verfahren vor dem Europäischen Gerichts-
hof für Menschenrechte, die auch unseren Bürgerinnen
und Bürgern in Deutschland offenstehen. Ich hatte diese
bereits während unserer vergangenen Debatte angespro-
chen. Mit dem Gesetz zur Einführung von Kostenhilfe
für Drittbetroffene in Verfahren vor dem Europäischen
Gerichtshof für Menschenrechte – dem EGMR-Kosten-
hilfegesetz – liegt seit dem 25. April eine rechtliche
Grundlage für zusätzliche Kostenhilfe für Verfahren in
Straßburg vor. Konnten vorher nur die Beschwerdefüh-
rer Kostenhilfe beim Gerichtshof beantragen, steht dies
nun auch sogenannten Drittbetroffenen zu – beispiels-
weise Kindern in Umgangsfragen. Damit ist jetzt sicher-
gestellt, dass es nicht vom Geldbeutel eines Betroffenen
abhängt, ob man sich in den eigenen Angelegenheiten in
Straßburg Gehör verschaffen kann.
Insgesamt bin ich davon überzeugt, dass wir im
Rechtsausschuss das eine oder andere am ursprünglichen
Gesetzentwurf so nachjustiert haben, dass das heute be-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013 30477
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ratene Ergebnis alle Fraktionen in diesem Haus überzeu-
gen wird.
Detlef Seif (CDU/CSU): Das 2. Kostenrechtsmoder-
nisierungsgesetz dürfte das umfangreichste rechtspoliti-
sche Gesetzgebungsvorhaben in dieser Legislaturperiode
sein. Dies bezieht sich nicht nur auf den Seitenumfang,
sondern insbesondere auch auf die Maßnahmen zur Vor-
bereitung des Regierungsentwurfs. Hier hat die Regie-
rung eine umfangreiche Vorarbeit geleistet, eine Vielzahl
von Einwendungen und Anregungen der Justiz, der Län-
der und der betroffenen Berufsgruppen war „abzuarbei-
ten“. Die Neuregelungen des Kostenrechtsmodernisie-
rungsgesetzes aus dem Jahr 2004 wurden überprüft.
Seitens des Bundesjustizministeriums wurde ermittelt,
an welchen Stellen Korrekturbedarf besteht. Die Notar-
gebühren wurden von November 2006 bis Februar 2009
durch eine Expertenkommission einer Prüfung unterzo-
gen. Bezüglich der angedachten Veränderungen zur Ent-
schädigung der in Justizverfahren beteiligten Berufs-
gruppen wurden die betroffenen Verbände bereits Ende
2006 eingebunden und um Stellungnahme zur geplanten
Änderung der Sachgebietsliste gebeten. Die Bestellungs-
körperschaften und die Landesjustizverwaltungen wur-
den eingebunden, im Jahr 2009 wurde eine umfangrei-
che Marktanalyse beauftragt. Ein RVG-Panel zur
Ermittlung der Gebührensituation in Sozialrechtsangele-
genheiten wurde eingerichtet, es folgten viele Gespräche
mit der Anwaltschaft, den Notaren und den Vertretern
der Länder. Man kann bereits an diesem Auszug aus der
Vorgeschichte zum Regierungsentwurf erkennen, wie
anspruchsvoll das vollzogene Verfahren zur Erarbeitung
des Regierungsentwurfs war.
An dieser Stelle bedanke ich mich für die professio-
nelle Arbeit der Regierung. Ich bedauere sehr, dass der
verantwortliche Staatssekretär, Dr. Max Stadler, der per-
sönlich viel Herzblut in das Gesetz investierte, durch sei-
nen frühen Tod die Früchte seiner Arbeit nicht mehr ern-
ten kann.
Meinen Dank spreche ich auch ausdrücklich den Be-
richterstattern der anderen Fraktionen aus. Auch wenn
wir bei den Detailfragen oft unterschiedlicher Ansicht
waren, haben wir alle gemeinsam die Kernziele des Ge-
setzes nicht außer Acht gelassen:
Beim 2. Kostenrechtsmodernisierungsgesetz geht es
im Kern zunächst darum, die im Jahr 2001 mit dem Ge-
richtsvollzieherkostengesetz aufgenommene und im Jahr
2004 mit dem 1. Kostenrechtsmodernisierungsgesetz
fortgeführte Strukturreform zu vollenden.
Das 2. Kostenrechtsmodernisierungsgesetz soll dazu
beitragen, die Gerichte von der zwischenzeitlich sehr
umfangreichen und teilweise auch undurchsichtigen
Kostenrechtsprechung zu entlasten und Rechtssicherheit
für die Beteiligten zu schaffen. Letztlich dient das Ge-
setzgebungsvorhaben einer bundeseinheitlichen Rege-
lung.
Ein Schwerpunkt der Modernisierung liegt in der
Schaffung eines neuen Gesetzes über Kosten der freiwil-
ligen Gerichtsbarkeit für Gerichte und Notare, das die
bislang geltende Kostenordnung ablöst. Insbesondere
bedarf die seit dem Inkrafttreten der Reichskostenord-
nung am 1. April 1936 in ihrer Struktur unverändert ge-
bliebene Vorschrift einer grundlegenden Neugestaltung,
die das zusammenwachsende Europa und die Anforde-
rungen der elektronischen Datenverarbeitung berück-
sichtigt.
Die strukturellen Änderungen des Gesetzes führen zu
einer klaren Trennung der für Gerichte und Notare gel-
tenden Regelungen. So werden zum Beispiel alle Rege-
lungen, die allein die Tätigkeit der Notare betreffen, in
einem eigenen Kapitel zusammengefasst. Entsprechend
findet man jetzt eine Zusammenfassung der Notargebüh-
rentatbestände in einem eigenen Teil des Kostenver-
zeichnisses.
Die Vorschriften zur Justizvergütung und -entschädi-
gung wurden strukturell überarbeitet. Hier wurde insbe-
sondere die Sachgebietsliste, auch im Hinblick auf die
Sachgebietsbeschreibung, angepasst. Ziel ist die Beseiti-
gung von Problemen, die in der gerichtlichen Praxis bei
der Zuordnung zu den einzelnen Sachgebieten aufgetre-
ten sind. Auf der Grundlage der neuen Sachgebietsbe-
schreibung wurde eine umfangreiche Marktanalyse
durch die Hommerich Forschung durchgeführt, um die
Marktpreise zu ermitteln.
Die Kostenrechtsmodernisierung, die den Schwer-
punkt des Gesetzes bildet, ist angesichts der Vielzahl der
an uns herangetragenen Bitten, Beschwerden und Anre-
gungen in der öffentlichen Wahrnehmung eher zurück-
getreten. Es ist allzu verständlich, dass betroffene Be-
rufsgruppen an uns herangetreten sind, um aus ihrer
Sicht die Kostenvorschriften für den jeweiligen Berufs-
stand zu „optimieren“. Es liegt auch in der Natur der Sa-
che, dass sich die Länder mit dem Argument einer finan-
ziellen Unterdeckung mehrfach an uns gewandt haben.
Bei allem Verständnis für die Einwendungen der Länder
ist an oberster Stelle zu berücksichtigen, dass die Justiz
nicht – wie wirtschaftliche Unternehmen – kostende-
ckend arbeiten kann. Der Rechtsstaat wäre gefährdet,
wenn die Gebühreneinnahmen kostendeckend sein
müssten. Dies würde zu einer unzumutbaren Erschwe-
rung des Zugangs zum Recht durch die Erhöhung finan-
zieller Hürden führen. Die zwischen dem Bundesjustiz-
ministerium und den Ländern gefundene Einigung dürfte
das Spannungsverhältnis zwischen dem Interesse der
Länder an einem möglichst hohen Kostendeckungsgrad
und dem ungehinderten Zugang zum Recht angemessen
lösen.
Soweit die Einwendungen der verschiedenen Berufs-
gruppen nachvollziehbar waren und im aktuellen Ge-
setzgebungsverfahren berücksichtigt werden konnten,
haben sie zu einigen Änderungen des Regierungsent-
wurfs geführt.
Auch wenn der Regierungsentwurf bei den Anwalts-
gebühren im Gesamtvolumen bereits eine Erhöhung von
rund 12 Prozent vorsah, war dem gemeinsamen Einwand
von Bundesrechtsanwaltskammer und Deutschem An-
waltsverein zu folgen. Aufgrund der Anpassung der Ta-
bellenstruktur des RVG an die Streitwertstufen des
GNotKG führte der Regierungsentwurf bei einzelnen
30478 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013
(A) (C)
(D)(B)
Streitwerten zu niedrigeren Gebühren als bisher. Deshalb
sieht der heute vorliegende Gesetzentwurf eine weitere
Erhöhung um jeweils 5 Euro für jede Streitwertstufe vor.
Auch das Argument der Anwaltschaft, dass die im Re-
gierungsentwurf vorgesehene Kappungsgrenzenbe-
schreibung in Nr. 2301 VV RVG-E in der Praxis zu einer
neuen Höchstgebühr geführt hätte, war nicht von der
Hand zu weisen. Diese Beschreibung wurde folgerichtig
gestrichen.
Bei den Gerichtsvollziehern ist leistungsgerecht eine
Gebührenerhöhung von 30 Prozent vorgesehen. Von der
Einführung einer Erfolgsgebühr für Gerichtsvollzieher
haben wir Abstand genommen. Diese könnte Fehlan-
reize setzen und dazu führen, dass Gerichtsvollzieher
möglicherweise Vollstreckungsaufträge, die nach dem
ersten Anschein aussichtslos erscheinen, nachrangig be-
arbeiten. Die gewünschte Erhöhung des Mindest- und
Höchstbetrages der Auslagenpauschale war nicht umzu-
setzen, da die Portokosten mit Ausnahme des Standard-
briefes nicht gestiegen sind und der Versand von Schrift-
stücken zunehmend auf elektronischem Wege erfolgt.
Allerdings war eine Anhebung der Wegegeldpauschalen
für Gerichtsvollzieher angemessen. Der Gesetzentwurf
sieht jetzt eine 30-prozentige Erhöhung vor.
Dringend anpassungsbedürftig waren die im Regie-
rungsentwurf vorgesehenen Honorare für Übersetzer.
Den im Entwurf vorgesehenen Sätzen wurde der im
Rahmen der Marktanalyse ermittelte einheitliche Zeilen-
satz zugrunde gelegt, den 55 Prozent der Befragten au-
ßergerichtlich berechnen. Unberücksichtigt blieb aber
die Gruppe der Übersetzer, die nach der Qualität der
Übersetzerleistung – Basisqualität und hohe Qualität/
Rechtssicherheit – unterscheidet, immerhin rund 45 Pro-
zent der Befragten. Damit konnten die im Entwurf zu-
nächst vorgesehenen Zeilensätze die Marktpreise nicht
zutreffend wiedergeben. Dies ergab auch die Befragung
des Sachverständigen Professor Hommerich in der öf-
fentlichen Anhörung. Die von der CDU/CSU-Bundes-
tagsfraktion erfolgte Anregung wurde von der Regierung
aufgegriffen und spiegelt sich in dem jetzt vorliegenden
Gesetzentwurf wider. Die Höhe der Übersetzerhonorare
knüpft nun an die Übersetzung in hoher Qualität/Rechts-
sicherheit an. Darüber hinaus ist ein erleichterter Zugang
zum höheren Zeilensatz vorgesehen, da nicht mehr eine
„erhebliche“, sondern nur noch eine „besondere“ Er-
schwernis der Übersetzung verlangt wird. Zudem ist hier
eine Erweiterung vorgenommen worden, indem die Er-
höhungstatbestände um die Regelbeispiele „besondere
Eilbedürftigkeit“ und „in Deutschland selten vorkom-
mende Sprache“ ergänzt wurden. Hinzu kommt, dass ein
nicht unerheblicher Anteil der Übersetzungen nicht edi-
tierbare Texte betrifft, für die ohnehin ein erhöhtes Ho-
norar verlangt werden kann.
Honorarsätze für die Übersetzung außergewöhnlich
schwieriger Texte entfallen, da dieser Übersetzungsart
nach dem Ergebnis einer Erhebung der Länder keine
praktische Bedeutung zukommt.
Darüber hinausgehende Forderungen der Berufsver-
bände finden keine Entsprechung in den außergerichtli-
chen Zeilensätzen. Sie widersprechen dem Regelungsge-
danken des Gesetzes, dessen Honorarsätze die
Marktpreise abbilden sollen.
Die Einwendung der öffentlich bestellten Vermes-
sungsingenieure, dass bei den Sachgebieten zwischen
„Vermessungstechnik“ und „Vermessungs- und Katas-
terwesen“ zu unterscheiden sei, war nachvollziehbar.
Deshalb sieht der Gesetzentwurf jetzt auch vor, dass die
reine „Vermessungstechnik“ in die Honorargruppe 1 ein-
gestuft wird, während das anspruchsvollere „Vermes-
sungs- und Katasterwesen“ zur Honorargruppe 9 gehört.
Die vom Zentralverband des Deutschen Handwerks,
ZDH, geäußerte Kritik greift im Ergebnis nicht. Der
ZDH ist der Meinung, dass viele handwerkliche Sachge-
biete pauschal in die Honorargruppe 2 eingestuft wür-
den. Gefordert wird die Beibehaltung des bisherigen
Vergütungssystems. Eine derartige pauschale Zuordnung
der handwerklichen Tätigkeit sieht der Gesetzentwurf
aber überhaupt nicht vor. Das Gesetz orientiert sich bei
der Bestimmung der Sachverständigenhonorare nämlich
nicht an bestimmten Berufsgruppen wie etwa den Hand-
werkern. Vielmehr wird auf den auf dem freien Markt
erzielbaren Preis in einem bestimmten Sachgebiet abge-
stellt, und zwar unabhängig davon, ob die Leistung von
einem Handwerker oder einem Ingenieur erbracht wird.
Dies führt zum Beispiel dazu, dass die Bewertung der
handwerklich-technischen Ausführung im Bauwesen in
Honorargruppe 2 (70 Euro pro Stunde) eingeordnet wird,
während etwa für die Ermittlung von Schadenursachen
im Bauwesen die Honorargruppe 5 (85 Euro pro Stunde)
und für Kraftfahrzeugschäden und -bewertung die Hono-
rargruppe 8 (100 Euro pro Stunde) folgen.
Auch wenn im Ergebnis nicht alle Anregungen be-
rücksichtigt werden konnten, so wurden sie aber im Ge-
setzgebungsverfahren abgewogen. Da das Gesetz jetzt
viel stärker als früher auf eine marktgerechte Abbildung
der Honorare abstellt, kann dies im Einzelfall zu Hono-
rarkürzungen führen. Dies entspricht aber dem Zweck
des Gesetzes, keine höheren Beträge zu gewähren als auf
dem freien Markt erzielbar wären.
Einzelne Einwendungen konnten jetzt keine Berück-
sichtigung finden, da sie die Verabschiedung des Gesetzes
in weite Ferne gerückt hätten. Müsste sich der Deutsche
Bundestag bis ins kleinste Detail auf eine gemeinsame
Lösung zwischen allen Beteiligten verständigen, könnte
die Kostenreform in dieser Legislaturperiode nicht mehr
umgesetzt werden.
Alles in allem schafft der jetzt vorliegende Gesetzent-
wurf einen guten Ausgleich zwischen den verschiedenen
Interessen und verdient in der heutigen zweiten und drit-
ten Lesung des Gesetzes unsere Zustimmung.
Christoph Strässer (SPD): Wir beschäftigen uns
heute unter anderem mit dem Kostenrechtsmodernisie-
rungsgesetz und dem Gesetz zur Prozesskostenhilfe. Die
Titel sind sperrig, die Auswirkungen erheblich: Es be-
trifft Rechtsuchende, die nicht in der Lage sind, Kosten
für die Inanspruchnahme der Justiz aus eigenen Mitteln
aufzubringen; es geht um die Vergütungen für Leistun-
gen vieler Berufsgruppen, die für das Funktionieren un-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013 30479
(A) (C)
(D)(B)
seres rechtsstaatlichen Systems unentbehrlich sind: für
Gerichtsvollzieher, Dolmetscher und Übersetzerinnen,
für Sachverständige und nicht zuletzt für Rechtsanwälte
und Rechtsanwältinnen. Es geht aber auch darum, den
Staat, insbesondere die Bundesländer, in die Lage zu
versetzen, auch weiterhin die Mittel die für das reibungs-
lose Funktionieren unserer Gerichtsbarkeit erforderlich
sind, in ausreichendem Umfang zur Verfügung stellen zu
können, ein nicht einfaches Unterfangen.
Auf den ersten Blick sieht es bei dem Gesetzgebungs-
projekt nach einer einseitigen Belastung des rechtsu-
chenden Bürgers aus: Die Gerichtsgebühren werden er-
höht, die Rechtsanwaltsgebühren werden erhöht, die
Ratenzahlungshöhe der Prozesskostenhilfe wird erhöht.
In einer Stellungnahme der Versicherungswirtschaft
kündigt diese an, dass die Versicherungsprämien für
Rechtsschutzversicherungen dadurch steigen könnten.
Richtig ist aber auch: Der Kostendeckungsgrad der
Justiz geht ständig zurück und liegt zurzeit nur bei
44 Prozent, die Vergütung nach dem Rechtsanwaltsver-
gütungsgesetz wurde zuletzt 2004 strukturell angepasst,
die Ausgaben der Länder für die Prozesskostenhilfe sind
in den letzten Jahren gestiegen. Alleine in Berlin haben
sich die Ausgaben für Prozesskostenhilfe in den letzten
fünf Jahren vervierfacht. Es ist unbestreitbar: Es besteht
Veränderungsbedarf.
Dabei ist es die Aufgabe der Politik, für einen fairen
Ausgleich zu sorgen und die Kosten gerecht zu verteilen.
Das ist nicht einfach. Klar ist auch, dass die Justiz keine
Kostendeckung von 100 Prozent anstreben kann und
will. Es ist die Aufgabe des Staates, eine Justizinfra-
struktur zur Verfügung zu stellen, die von allen Teilen
der Bevölkerung genutzt werden kann, unabhängig von
den finanziellen Möglichkeiten eines Verfahrensbeteilig-
ten. In Deutschland sind Prozesse finanzierbar und das
Kostenrisiko von Gerichtsverfahren so kalkulierbar wie
in kaum einem anderen Land. Das ist Teil der friedens-
stiftenden Wirkung der Justiz. Wir wollen keine Zwei-
klassenjustiz. Veränderungen, die den Zugang zum
Recht beschränken, insbesondere durch Veränderungen
bei Prozesskosten bzw. Beratungshilfe, sind mit der SPD
nicht zu machen.
Das Kostenrecht muss mehr noch als die Prozesskos-
tenhilfe modernisiert werden. Das unterstützt die SPD-
Bundestagsfraktion. Und weil es hier um grundlegende
Fragen geht, die auch den Zugang zum Recht betreffen,
habe ich es befürwortet, dass wir uns gründlich mit
diesem Thema beschäftigt haben. Es gingen jahrelange
Beratungen zwischen den Ländern und dem Justizminis-
terium, zwischen Verbänden und Abgeordneten voraus.
Im März hat der Bundestag eine umfangreiche Anhö-
rung durchgeführt.
Wir sehen die Verbesserungen beim Entwurf zum
Kostenrechtsmodernisierungs- sowie Prozesskosten-
und Beratungshilfegesetz. Besorgniserregend ist aber die
Verhandlungsführung mit den Ländern – das muss man
mal anmerken dürfen. Seit Tagen und Wochen stehen die
Telefone nicht mehr still. Die Ländervertreter sind mehr
als erstaunt und unzufrieden. Letzte Woche Montag ti-
telte dann auch Spiegel Online „Justizministerin lässt
Kosten-Kompromiss platzen“. Es ist davon die Rede,
dass Absprachen des Bundesjustizministeriums nicht
eingehalten wurden. Im Ausschuss hat die Regierung
das bestritten. Die Absprachen würden nur anders „aus-
gelegt“. In Anbetracht der wenigen zur Verfügung ste-
henden Sitzungswochen vor dem Ende der Legislatur-
periode ist die miserable Abstimmung mit den Ländern
besonders unprofessionell. Wenn die Kostenrechtmoder-
nisierung scheitert, wäre dies ein verhandlungspoliti-
sches und rechtspolitisches Desaster für die Regierung,
denn viele Berufsgruppen warten auf die Erhöhungen,
und das zu Recht. Nachdem Ländervertreter aller politi-
schen Fraktionen angekündigt haben, den Vermittlungs-
ausschuss anzurufen, erwarten wir und werden wir kons-
truktiv daran mitarbeiten, so schnell wie möglich zu
einem Ergebnis zu kommen, das trägt und noch in der
laufenden Legislaturperiode ins Gesetzblatt kommen
kann.
Ich möchte nun auf die inhaltliche Bewertung zu
sprechen kommen.
Einige Punkte, die Ländern, Sachverständigen und
uns wichtig waren, wurden nach der ersten Lesung im
Plenum im laufenden Verfahren tatsächlich aufgegriffen.
Im Vergleich zum ursprünglichen Gesetzentwurf ist
im Kostenrecht nun vorgesehen, dass den Ländern eine
Gerichtsgebührenerhöhung von 18 Prozent statt nur
11 Prozent zugestanden wird und dass bei der Rechtsan-
waltsvergütung eine Bereinigung der Streitwerte bis
10 000 Euro – Honorare wären in bestimmten Fällen
durch die neue Staffelung gesunken – durchgeführt wird.
Verbesserungen bei den Sachverständigenhonoraren so-
wie beim Wegegeld für Gerichtsvollzieher begrüßen wir
ebenfalls. Das gilt auch für die lineare Anhebung der
Anwaltsvergütung um 2 Prozent im Verhältnis zum ers-
ten Regierungsentwurf.
Auch Übersetzer und Dolmetscher profitieren von
einigen Korrekturen, wie zum Beispiel von erhöhten
Zeilenhonoraren. Das ist aber nicht ausreichend. Es hätte
auch die Möglichkeit von Vergütungsvereinbarungen ge-
strichen werden müssen. Sie sind in vielen Bundeslän-
dern üblich. Dolmetscher und Übersetzer werden dort
nur berufen, wenn sie sich zuvor mittels Vergütungsver-
einbarung zu niedrigeren Honorierungen bereit erklärt
haben. Die Honorarerhöhungen nützen nichts, wenn sie
durch Vergütungsvereinbarungen unterlaufen werden.
Die über Honorarvereinbarungen möglichen Honorare
entsprechen nicht mehr den ökonomischen Mindest-
bedürfnissen.
Wir treten auch für die Beibehaltung der Terminge-
bühr beim Gerichtsbescheid im Sozialrecht und die
Wiedereinführung der Kostenprivilegierung für arbeits-
gerichtliche Teilvergleiche ein.
Im Bereich der Prozesskosten- und Beratungshilfe
wurden einige Einschnitte wieder zurückgenommen.
Das begrüßen wir. Eine funktionierende Prozesskosten-
und Beratungshilfe liegt mir besonders am Herzen. Bei
allem Verständnis für die Nöte in den Justizhaushalten
muss man in diesem Bereich besonders sensibel vorge-
hen.
30480 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013
(A) (C)
(D)(B)
Der Gesetzentwurf verfolgt zwei Ziele: Die Ausgaben
für die Beratungs- und Prozesskostenhilfe sollen redu-
ziert werden. Außerdem soll der Zugang zum Recht wei-
ter gewährleistet werden. Das ist ein Balanceakt – keine
Frage.
Aber es müssen auch bestimmte Quellen für einen
Anstieg der Kosten im Bereich der Prozesskostenhilfe
angegangen werden. Es dürfen nicht nur die Symptome,
sondern es müssen auch die Ursachen bekämpft werden.
Ich nenne mal ein Beispiel. Viel zu vielen Widerspruchs-
stellen der Jobcenter gelingt es nicht, Widersprüche nach
den gebotenen rechtsstaatlichen Standards zu beschei-
den. Die Gründe hierfür sind vielfältig, sie liegen in der
Regel nicht in der Kompetenz oder Motivation der Be-
schäftigten. Es ist feststellbar, dass eine teure Funktions-
verschiebung im Verhältnis zwischen der Verwaltungs-
und Widerspruchspraxis der Sozialleistungsträger und
den Sozialgerichten zulasten der Gerichte stattgefunden
hat. Ein richtiger Ansatz zur Eindämmung der PKH- und
Beratungshilfekosten in diesem Bereich wäre daher,
Qualität und Akzeptanz von Bescheiden der Sozialver-
waltung zu stärken, sodass die Notwendigkeit oder auch
das subjektive Bedürfnis nach gerichtlicher Klärung gar
nicht erst entsteht. Mit der Forderung unserer Fraktion,
in den Arbeitsagenturen und Jobcentern die Kontakt-
dichte zwischen Fallmanagern und Arbeitsuchenden
durch eine größere personelle Ausstattung zu verbes-
sern, Bundestagsdrucksache 17/6454, haben wir einen
Beitrag zu diesem Ansatz geleistet.
Ich begrüße es, dass im Vergleich zum Ursprungsent-
wurf die Freibeträge für Ehegatten und für Erwerbstätige
nicht gesenkt werden, dass die Ratenhöchstzahlungs-
dauer nicht von vier auf sechs Jahre verlängert wird und
dass die vorherige Antragstellung der Beratungshilfe
nicht vorgeschrieben wird.
Zwei Punkte waren und sind uns besonders wichtig:
die Anwaltsbeiordnung in Scheidungsverfahren und ar-
beitsgerichtlichen Prozessen.
Knapp die Hälfte aller Verfahren sind Scheidungsver-
fahren. Eine beschnittene Prozesskostenhilfe dürfte vor
allem auf Kosten der Frauen gehen, die nicht oder nur
eingeschränkt erwerbstätig sind. Im Bereich von Schei-
dungen wurde argumentiert, dass sich bei Scheidungen
ohne PKH 45 Prozent der Leute ohne Anwalt scheiden
lassen, bei Scheidungen mit PKH aber nur 14 Prozent.
Der Grund ist aber klar. Einkommensstärkere nehmen
eine kostenträchtige Mediation in Anspruch oder lassen
sich im Vorfeld anwaltlich beraten und klären Streit-
punkte außergerichtlich, sodass das Scheidungsverfah-
ren eine reine Formsache ist. Das lässt sich auf bedürf-
tige Rechtsuchende nicht übertragen, für die die
streitigen Punkte keine bloße Formsache sind. Wohn-
recht, Vermögensauseinandersetzung, Unterhalt, Sorge-
recht sind schwierige Fragen, bei denen die Gefahr be-
steht, dass ein Partner nicht ausreichend beraten wird.
Die Kehrtwende der Koalition in diesem Punkt ist zu be-
grüßen.
Auch im arbeitsgerichtlichen Verfahren darf sich an
der Beiordnung nichts ändern, § 11 a ArbGG. Das Ar-
beitsrecht hat sich zu einer Spezialmaterie entwickelt.
Die Arbeitgeberseite ist zumeist anwaltlich oder durch
die Rechtsabteilung vertreten. Die Hinweispflichten des
Richters sind nicht ausreichend.
Das Ziel der Beiordnung, als diese 1953 eingeführt
wurde, war, dem Arbeitnehmer im Prozess gegenüber
dem finanziell und rechtlich in der Regel überlegenen
Arbeitgeber Chancen- und Waffengleichheit zu gewäh-
ren. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Gerade die
Entwicklung bei Niedriglohnverhältnissen und atypi-
schen Beschäftigungsverhältnissen zeigt auf, dass es
weiterhin dieser Schutzfunktion beim Prozess bedarf. In
dieser Frage hat sich die Koalition leider nicht bewegt,
sodass uns trotz einer Reihe von erheblichen Verbesse-
rungen eine Zustimmung nicht möglich ist.
Wenn sich der Vermittlungsausschuss mit den Gesetz-
entwürfen beschäftigt, so wie dies die Länder angekün-
digt haben, würde ich es begrüßen, wenn über diese Fra-
gen noch einmal diskutiert werden könnte. Wir wollen,
dass das Projekt Kostenrechtsmodernisierung schnellst-
möglich zu einem positiven Abschluss gebracht werden
kann.
Marco Buschmann (FDP): Es ist mir ein Bedürfnis,
bevor ich auf die Details der vorliegenden Gesetzent-
würfe eingehe, eine persönliche Bemerkung voranzu-
stellen:
Bei meinem allerersten parlamentarischen Abend als
frisch gewählter Abgeordneter im Jahr 2009 kündigte
der gerade ernannte Parlamentarische Staatssekretär, un-
ser letzten Sonntag verschiedener Kollege Dr. Max
Stadler, an, eine Initiative zur Kostenrechtsmodernisie-
rung im Justizwesen auf den Weg bringen zu wollen.
Eine solche Reform war lange überfällig und ist von al-
len Beteiligten immer wieder eingefordert worden. Viele
haben damals geglaubt, dass man wegen der zahlreichen
Interessensgegensätze hier kaum zu einer Lösung in die-
ser Legislaturperiode kommen könnte. Dass wir heute
abschließend im Deutschen Bundestag über die vorlie-
genden Entwürfe debattieren können, haben wir auch
dem großen Engagement sowie der menschlich einneh-
menden und moderierenden Art von Max Stadler zu ver-
danken. Fast über die gesamte Legislaturperiode hinweg
hat er sich immer wieder um Ausgleich und Kompro-
miss in der schwierigen Gemengelage bemüht.
In dieser offenen und konstruktiven Atmosphäre war
es auch möglich, Lösungen für eine Reihe von Proble-
men zu finden, die dem Ursprungsentwurf der Bundes-
regierung für dieses große Gesetzeswerk noch angehaf-
tet haben:
Wir haben den Zugang zum Recht auch für sozial
schwache Personen weiter gesichert. Denn eine ganze
Reihe von Beschränkungen im Rahmen der Prozess- und
Beratungskostenhilfe, die sich vor allem der Bundesrat
gewünscht hatte, haben wir zurückgenommen im Inte-
resse des Zugangs zum Recht für alle.
Wir haben einige – ich nenne es einmal – unbeabsich-
tigte Unwuchten, etwa im Bereich der Rechtsanwalts-
vergütung, beseitigt. Denn der Zugang zum Recht für
alle Bürger ist nur dann gesichert, wenn anwaltliche
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013 30481
(A) (C)
(D)(B)
Tätigkeit auf hohem Niveau auch in der Fläche und auch
außerhalb großer, spezialisierter Kanzleien einträglich
möglich ist. Genau diesem Ziel dient nun dieser Ent-
wurf. Nach dem Ursprungsentwurf gab es aber praxisre-
levante Fallgruppen, in denen die Vergütung der An-
wälte nicht gestiegen, sondern gesunken wäre. Dies
haben wir korrigiert.
Wir konnten die Interessen weiterer Berufsgruppen,
die justiznah tätig werden, berücksichtigten – etwa die
Dolmetscher und Übersetzer, die Gerichtsvollzieher und
Sachverständigen.
Zugleich haben wir auch die Interessen der Bundes-
länder berücksichtigt, die die Kosten der Prozesskosten-
und Beratungshilfe finanzieren müssen. Denn wir wol-
len mit dem vorliegenden Entwurf die Gerichtsgebühren
zugunsten der Länder anheben. Lassen Sie mich hierauf
etwas detaillierter eingehen, da in der Öffentlichkeit und
auch im Rechtsausschuss die Interessenlage der Länder
ja immer wieder thematisiert worden ist:
Der ursprüngliche Regierungsentwurf sah einen wirt-
schaftlichen Vorteil für die Länder vor, der sich auf etwa
250 Millionen Euro beläuft. Fast 180 Millionen Euro
wirtschaftlicher Vorteil hätten aus der Anpassung der
Gerichtsgebühren resultiert. Weitere 70 Millionen Euro
wünschten sich die Länder im Bereich der Prozess- und
Beratungskostenhilfe. Der vorliegende Entwurf zur
Kostenrechtsmodernisierung sieht nun auf der Einnah-
meseite der Länder, nämlich bei den Gerichtsgebühren,
schon einen wirtschaftlichen Vorteil von fast 300 Millio-
nen Euro vor, nämlich 297 Millionen Euro. Darüber
hinaus ergibt sich auch im Bereich der Prozess- und Be-
ratungskosten eine maßvolle Einsparung von etwas über
15 Millionen Euro. In der Summe bewegen wir uns hier
also bei einem wirtschaftlichen Vorteil von deutlich über
300 Millionen Euro für die Länder. Vor diesem Hinter-
grund sind die immer wieder geäußerten Bedenken, das
Gesetzeswerk gehe zulasten der Länder, an dieser Stelle
nicht in vollem Umfang nachvollziehbar. Aber hier
freuen wir uns auf einen konstruktiv kritischen Dialog
mit dem Bundesrat. Am Ende, da bin ich mir sicher, wird
dieses Gesetz auch die Länderkammer passieren. Denn
es gibt nur Gewinner: bei den Justizberufen und den
Ländern.
Gleichzeitig haben wir auch die Perspektive der Bür-
ger und Betriebe in diesem Land im Auge behalten.
Denn sie müssen letztendlich die Gerichts- und andere
Gebühren bezahlen. Daher haben wir als äußerste
Grenze der Erhöhung in allen Bereichen einen Infla-
tionsausgleich seit der letzten großen Gebührenreform
gezogen. Dieser wird auch nicht im vollen Umfang aus-
geschöpft – bei keiner betroffenen Gruppe. Daher gilt
auch für die Bürger, dass es sich um eine maßvolle An-
passung handelt, die letztendlich aber überfällig war, um
den Zugang zum Recht für jedermann sicherzustellen.
Denn die letzte umfassende Anpassung stammt immer-
hin aus dem Jahre 1994.
Daher werbe ich herzlich um Ihre Zustimmung.
Jens Petermann (DIE LINKE): Den Ländern geht
es ums Geld. Sie wollten Kosten in der Justiz einsparen,
die Hürden für die Prozesskosten- und Beratungshilfe er-
höhen und diese Leistungen kürzen. Außerdem forderten
sie die Erhöhung der Gerichtsgebühren. Den Ländern
geht es dabei um die eigene Finanzkasse und den Kos-
tendeckungsgrad der Justiz. Wie, wo und bei wem da
eingespart wird, ist zweitrangig. Am einfachsten geht
das bei den Unterstützungsleistungen. Nach den Gesetz-
entwürfen des Bundesrates sollen die Kosten für Pro-
zesskosten- und Beratungshilfe eingedämmt werden.
Die Bundesregierung hat das aufgegriffen und zunächst
weitgehend die Einschnitte für Anspruchsteller mit ge-
ringem Einkommen übernommen. Das sind die Men-
schen, denen Sie eine angeblich weitverbreitete miss-
bräuchliche Inanspruchnahme von Prozesskostenhilfe
und Beratungshilfe unterstellen. Diesem in Ihren Augen
„Sozialschmarotzertum“ sollte ein Riegel vorgeschoben
werden. Die Verwunderung bei den Landesfinanzminis-
tern wird sich indes in Grenzen halten, wenn wir als
Linke im Bundestag und der Brandenburger Finanz-
minister für soziale Gerechtigkeit einstehen und ein sol-
ches Vorhaben nicht unterstützen, stattdessen aber das
Vorhaben massiv kritisieren.
Nach intensiver Beratung der Gesetzentwürfe, unse-
rer begründeten Kritik und den Beanstandungen durch
die Sachverständigen in der öffentlichen Anhörung hat
das Bundesministerium der Justiz mit den Ländern einen
Kompromiss ausgedealt. Die Länder bekommen statt
11 Prozent nun 18 Prozent mehr Gerichtskosten, dafür
verzichten sie auf den Großteil der Einschnitte bei der
Prozesskostenhilfe und der Beratungshilfe. Damit sind
die Landesfinanzminister offensichtlich zufrieden und
ruhiggestellt. Die kleinen Leute hingegen nicht. Deshalb
fordere ich statt der nun geringeren Einschnitte für we-
nig begüterte Mitmenschen eine Ausweitung der Leis-
tungen zur Unterstützung der Rechtsverfolgung sowie
eine einfachere Antragstellung.
Dass unsere Kritik angekommen ist, zeigt sich an
mehreren Beispielen: So wurde von der Erhöhung der
Ratenzahlungshöchstdauer auf 72 Monate abgesehen,
und es bleibt nun bei der bisherigen Regelung, dass man
vier Jahre lang die Kosten für einen verlorenen Prozess
in Raten zurückzahlen muss. Daneben bleiben die Frei-
beträge für Erwerbstätige und für Ehegatten unverän-
dert. Eine Abfrage bei Arbeitgebern, Versicherern etc.
zur Bedürftigkeit der Antragstellerinnen und Antragstel-
ler muss auch weiterhin unterbleiben, und die Verneh-
mung von Zeugen und Sachverständigen zur Klärung
der Bedürftigkeit ist nicht mehr vorgesehen. Die Bera-
tungshilfe kann man auch in Zukunft über die Anwälte
beantragen. Am Ende haben Sie, verehrte Kolleginnen
und Kollegen der Koalition, eingesehen, dass die angeb-
lich ausufernden Kosten und eine überhandnehmende
missbräuchliche Inanspruchnahme mit der Realität nicht
viel zu tun haben. Im internationalen Vergleich zahlt die
Bundesrepublik für die gerichtliche und außergerichtli-
che Unterstützung der Rechtsuchenden sehr wenig – und
das bei einer der höchsten Kostendeckungsquoten in der
Justiz. Darüber sollten Sie sich im Klaren sein, und zwar
bevor Sie das nächste Mal beim Zugang zum Recht spa-
30482 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013
(A) (C)
(D)(B)
ren und mit dem Rechtsstaat Geld verdienen wollen. Das
haben sich die Väter des Grundgesetzes bei der Formu-
lierung von Art. 3 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 1 und 3 näm-
lich anders vorgestellt und mit dem Gleichheitssatz, dem
Sozialstaats- und Rechtstaatsprinzip gleichen Zugang
zum Recht ohne Ansehen der Person postuliert.
Abgesehen von den Verfahren vor den Familien- und
Sozialgerichten sind die Zahlen für Prozesskosten- und
Beratungshilfe sogar rückläufig, sodass insgesamt so-
wieso schon weniger Mittel als früher dafür aufgewendet
werden müssen. Und woraus die steigenden Zahlen bei
den Sozialgerichten resultieren, habe ich Ihnen in mei-
nem Redebeitrag zur ersten Lesung und davor auch
schon mehrfach gesagt. Da Sie das offensichtlich igno-
rieren, sage ich es Ihnen heute noch einmal: Die hohen
Verfahrenszahlen der Sozialgerichte und die damit
zwangsläufig verbundenen vielen Anträge auf Prozess-
kostenhilfe liegen an der grottenschlechten Hartz-IV-
Gesetzgebung und der miserablen Arbeitsweise der Job-
center – und eben gerade nicht am Missbrauch der Leis-
tungen. Wenn die Aufwendungen für Prozesskostenhilfe
vor den Sozialgerichten reduziert werden sollen, gibt es
nur einen Weg: die Hartz-IV-Gesetze abschaffen und
durch eine menschenwürdige Grundsicherung, die eine
wirkliche Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermög-
licht, ersetzen. Und genau dafür steht die Linke. Ein
guter Beitrag wäre auch die Abschaffung der Gebühren-
freiheit für die Jobcenter im sozialgerichtlichen Verfah-
ren. Dann würde vor dem Hintergrund des Prozessrisi-
kos und der damit verbundenen Kosten mehr in die
Qualität der Arbeit und in die Rechtmäßigkeit der Be-
scheide investiert als bisher, und die Menschen wären
nicht so häufig auf den Rechtsweg zur Durchsetzung
ihrer Ansprüche angewiesen.
Nun stellt sich die Frage, welche Verschlechterungen
die Gesetzesänderungen für die Bürgerinnen und Bürger
mit sich bringen: Die zu einengend formulierte und
diskriminierende Definition der Mutwilligkeit der
Rechtsverfolgung bleibt bestehen; die Anrechnung des
in einem Gerichtsprozess Erlangten bleibt im Entwurf
erhalten; die Streichung des § 11 a Abs. 1 und 2 Arbeits-
gerichtsgesetz steht ebenso noch im Entwurf, sodass
eine automatische Beiordnung eines Rechtsanwaltes im
arbeitsgerichtlichen Verfahren, wenn die Gegenseite an-
waltlich vertreten ist, nicht mehr erfolgt. Damit hat sich
Waffengleichheit zwischen Arbeitnehmer und Arbeitge-
ber im Prozess erledigt, und das zieht einen Nachteil für
den rechtsuchenden Arbeitnehmer nach sich. Darüber
hinaus wird bei jedem Antrag auf Prozesskostenhilfe
künftig der Gegner informiert und ihm Gelegenheit zur
Stellungnahme gegeben. Das ist diskriminierend und
verschafft dem Gegner im Prozess einen Vorteil. Jeder
Antragsteller wird erst einmal unter den Pauschal-
verdacht gestellt, sich ihm nicht zustehende Beihilfen er-
schleichen zu wollen. Das tragen wir nicht mit.
Zusammenfassend stelle ich fest, dass die verbliebe-
nen Änderungen inhaltlich nichts bringen, aber gleich-
wohl einen „Wink mit dem Zaunpfahl“ darstellen, um
Antragsteller abzuschrecken und die Beantragung von
Hilfen zur Rechtsverfolgung zu reduzieren.
Das Zweite Kostenrechtsmodernisierungsgesetz än-
dert auf 589 Seiten in 43 Artikeln nahezu das gesamte
Kostenrecht der Rechtspflege. Auch hier gab es als Er-
gebnis der Gespräche zwischen Bundesjustizministe-
rium und den Ländern einen Änderungsantrag der Re-
gierungskoalition. Den Ländern war daran gelegen, die
Kostendeckungsquote zu erhöhen, egal wie. Nun hat
man sich auf die nochmalige Erhöhung der Gerichts-
gebühren verständigt. Damit müssen sich alle Recht-
suchenden ab 1. Januar 2014 auf eine Erhöhung der Ge-
richtskosten um 18 Prozent einstellen. Hier langt der
Staat wieder einmal kräftig beim Bürger zu, obwohl die
Kostendeckung der deutschen Justiz im internationalen
Vergleich schon eine der höchsten ist. Bürgerfreundlich
ist das jedenfalls nicht.
Der Änderungsantrag bringt Verbesserungen. So
wurde die teilweise Reduzierung des Honorars für Dol-
metscher und Übersetzer wieder zurückgenommen und
nach erheblichen Interventionen erhöht. Die Rechtsan-
waltsgebührentabelle wurde ebenfalls noch einmal durch
Anhebung jeder Gebühr um 5 Euro verändert. Auch die
lauten Rufe der Gerichtsvollzieher nach einer Erhöhung
des Wegegeldes um 30 Prozent wurden erhört. Diese Er-
höhungen sind für die einzelnen Berufsgruppen im Sinne
eines Inflationsausgleichs durchaus sinnvoll, werden
aber die Prozesse insgesamt verteuern und höhere Aus-
gaben für Rechtsuche und Rechtsverteidigung nach sich
ziehen.
Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): In
der Sachverständigenanhörung zum Kostenrecht, über
das wir heute debattieren, hat Dr. Matthias Kilian folgen-
des festgestellt: „Die durchschnittlichen Aufwendungen
der europäischen Staaten für die Justiz machen nach Er-
hebungen des Europarats 1,9 Prozent des Staatshaushalts
aus (Wert aus 2010). Die Aufwendungen des deutschen
Fiskus für die deutsche Justiz liegen 16 Prozent unter
diesem Mittelwert und betragen 1,6 Prozent. Im Ranking
der 39 untersuchten europäischen Staaten ist der prozen-
tuale Anteil der Kosten für das gesamte Justizsystem nur
in 13 Staaten niedriger, aber in 25 Staaten höher als in
Deutschland.“
Zwei große Themenblöcke beschäftigen uns heute: Es
geht um die Neuregelung von Gerichts-, Anwalts- und
Notarsgebühren und um die Neuregelung von finanziel-
len staatlichen Leistungen im Justizbereich, die Prozess-
kosten- und Beratungshilfe.
Ich möchte zunächst auf das Kostenrechtsmodernisie-
rungsgesetz eingehen. Dieses Gesetz verbessert die
Kostendeckung in der Justiz, indem es Gerichts- und
Justizverwaltungsgebühren erhöht. Natürlich verteuert
diese Neuregelung Gerichtsverfahren. Sie ermöglicht
aber den Bundesländern den finanziellen Spielraum, den
sie benötigen, um den hohen Justizstandard, den wir in
Deutschland haben, aufrecht zu erhalten. Meine Damen
und Herren, diesen Gesetzentwurf halte ich deshalb für
einen gelungenen Kompromiss zwischen Bund und Län-
dern.
Gleichzeitig passt das Gesetz die Vergütungen der
Rechtsanwälte, Notare, Sachverständigen, Dolmetscher
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013 30483
(A) (C)
(D)(B)
und Übersetzer an die aktuelle wirtschaftliche Entwick-
lung an. Und dafür war es an der Zeit, meine Damen und
Herren.
Wenn sich die wirtschaftliche Lage im Land ändert,
ist es notwendig, dass wir die Gesetze der wirtschaftli-
chen Realität anpassen. Insbesondere freue ich mich,
dass es im Rahmen der Verhandlungen über den Gesetz-
entwurf noch zu entscheidenden Verbesserungen am Ge-
setz gekommen ist, zum Beispiel für die Übersetzerin-
nen und Übersetzer. Hier haben Sie, meine Damen und
Herren von der Regierungskoalition, zu Recht die Inten-
tion des Änderungsantrags von Bündnis 90/Die Grünen
aufgenommen. Nicht aufgegriffen haben Sie allerdings
unsere Forderung nach einer Angleichung der Anwalts-
gebühren in Asylverfahren an die Gebühren in auslän-
derrechtlichen Verfahren. Das ist schade, aber Sie haben
jetzt noch die Chance, dies nachzuholen, indem Sie un-
serem Änderungsantrag zustimmen. Und das wäre auch
sachgerecht. Sowohl im Ausländer- als auch im Asyl-
recht geht es um Aufenthaltsrechte in Deutschland. Es
gibt keinen sachgerechten Grund dafür, Anwälte in
Asylverfahren geringer zu vergüten als in Verfahren
nach dem Aufenthaltsgesetz. Hier müssen wir Gleichheit
und eine faire und rechtssystematisch sinnvolle Anpas-
sung herstellen.
Jetzt komme ich zu den weiteren Änderungen im Pro-
zesskostenhilfe- und Beratungshilferecht. Ich fange mit
der guten Nachricht an: Sie, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der Regierungskoalition, haben sich zu
enormen Verbesserungen an dem Gesetzentwurf der
Bundesregierung durchgerungen. Diese Verbesserungen
bestehen größtenteils daraus, dass Sie die Hälfte der vor-
gesehenen Änderungen ersatzlos aus dem Gesetzentwurf
streichen. Die drastischsten Einschränkungen in der Pro-
zesskosten- und Beratungshilfe, die die Bundesregie-
rung, aber auch der Bundesrat geplant hatten, entfallen
auf diese Weise. Die Einkommensfreibeträge werden
nicht gesenkt. Prozesskostenhilfe wird nicht teurer. Wer
Beratungshilfe benötigt, kann direkt einen Anwalt kon-
taktieren und muss nicht erst beim Gericht einen Antrag
auf Beratungshilfe stellen.
Dies sind nicht nur gute Nachrichten für diejenigen
Bürgerinnen und Bürger, die auf Prozesskostenhilfe an-
gewiesen sind, sondern auch für alle, die sich für den Er-
halt des sozialen Rechtsstaats einsetzen. In einem
Rechtsstaat regiert nicht Geld die Welt. Der Rechtsstaat
ist für alle da, unabhängig von ihrem Einkommen oder
Vermögen.
Auf die gute Nachricht folgt nun leider die schlechte
Nachricht: Vom ursprünglichen Gesetzentwurf ist zwar
nicht viel übrig geblieben, aber einige Verschärfungen
will diese Regierung dennoch einführen. Das lehnen wir
Grünen aus folgenden Gründen ab:
Erstens: Jemand, der Prozesskostenhilfe empfängt,
muss diese grundsätzlich – gegebenenfalls in Raten –
zurückzahlen. Das ist selbstverständlich auch in Ord-
nung. Die Ratenzahlung beginnt bisher allerdings ab ei-
nem verfügbaren Einkommen in Höhe von 15 Euro.
Diese Schwelle von 15 Euro soll nun auf 10 Euro abge-
senkt werden. Der Aufwand des Gerichts, eine solche
Summe einzutreiben, steht in keinem Verhältnis zu den
geringen Mehreinnahmen der Landeskassen. Hier ist der
Kosten-Nutzen-Effekt nicht gewahrt. Auch greifen Sie,
meine Damen und Herren von der Regierungskoalition,
zu tief in die sozialen Teilhabemöglichkeiten vieler
Menschen ein, wenn Sie die Schwelle der ratenfreien
Prozesskostenhilfe um ein Drittel senken.
Zweitens: Das Gericht soll eine einmal bewilligte
Prozesskostenhilfe für einen Beweisantritt wieder ent-
ziehen können, wenn der Beweis keine genügende
Aussicht auf Erfolg bietet. Dies bedeutet einen Verstoß
gegen das zivilprozessrechtliche Verbot der vorwegge-
nommenen Beweiswürdigung.
Drittens: Das Gericht soll die Prozesskostenhilfe
schon dann vollständig entziehen, wenn der Empfänger
Änderungen seiner Adresse oder seines Einkommens
aus grober Nachlässigkeit nicht richtig oder nicht unver-
züglich dem Gericht mitteilt. Bisher kann das Gericht
derartige Entscheidungen treffen. Dieser Unterschied
zwischen „soll“ und „kann“ wirkt auf den ersten Blick
klein, ist aber in der Praxis groß. Er wird dazu führen,
dass das Gericht zukünftig die spezifische Situation des
Prozesskostenhilfeempfängers weniger berücksichtigen
wird, als das bisher der Fall ist.
Meine Damen und Herren, Deutschland gibt im inter-
nationalen Vergleich sehr wenig Geld für die Justiz im
Allgemeinen und die Prozesskostenhilfe im Besonderen
aus. Wenn wir wollen, dass unser Rechtssystem weiter-
hin auch international als vorbildlich betrachtet wird,
dürfen wir die Prozesskosten- und Beratungshilfe nicht
weiter einschränken. Wir müssen den Zugang zum Recht
für alle erhalten, unabhängig von ihrer finanziellen Si-
tuation. Das ist gelebter Sozialstaat in der Justiz.
Wolfgang Nešković (fraktionslos): Wir entschei-
den heute unter anderem über einen Gesetzentwurf der
Bundesregierung zur Änderung des Prozess- und Bera-
tungshilferechts. Der Gesetzentwurf ist in seiner ur-
sprünglichen Fassung ein Dokument bitterbösen Geizes.
Mit dem Gesetzentwurf wollte die Bundesregierung
die Länderhaushalte um einen jährlichen Betrag von
70 Millionen Euro entlasten. Verteilt auf die 16 Landes-
haushalte ergibt das Einsparungen von durchschnittlich
4,375 Millionen Euro je Land. Für diese vergleichsweise
lächerliche Summe war die Bundesregierung bereit, ein
Kernprinzip des sozialen Rechtsstaats zu opfern: den
gleichen Zugang aller Menschen zum Recht.
Die Bundesregierung wollte die Ausgaben für Pro-
zesskostenhilfe und Beratungshilfe senken, obwohl die
Bundesrepublik im internationalen Vergleich schon jetzt
zu den geizigen Staaten gehört. In Großbritannien zum
Beispiel sind die Ausgaben etwa zehnmal so hoch, in
den Niederlanden, Schweden und Norwegen rund fünf-
mal so hoch wie in Deutschland.
In obszönem Gegensatz zu dem angestrebten Einspar-
volumen steht die maßlose Verschwendung in anderen
Bereichen:
Das Drohnenprojekt „Euro Hawk“ hat bislang rund
562 Millionen Euro an Haushaltsmitteln verschlungen.
30484 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013
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Am Dienstag dieser Woche ist bekannt geworden, dass
die Bundesrepublik aus diesem Rüstungsprojekt ausstei-
gen wird. Das bisher ausgegebene Geld ist vollständig
verloren.
Die Verzögerungen bei der Eröffnung des neuen
Hauptstadtflughafens BER kosten jeden Monat 35 bis
40 Millionen Euro. Wann der Flughafen eröffnet wird,
weiß niemand. In absehbarer Zeit wird jedenfalls kein
Flieger vom BER starten.
Die milliardenschweren Euro-Rettungsschirme ha-
ben lediglich einige private Banken retten können. Zur
Lösung der Finanz- und Wirtschaftskrise können sie kei-
nen nennenswerten Beitrag leisten. Hochverschuldete
Länder wie Griechenland befinden sich tiefer in der
Krise als zuvor.
Bedenkenlos und ohne mit der Wimper zu zucken,
wird Geld für ein nicht funktionierendes militärisches
Fluggerät, einen nicht funktionierenden Flughafen und
eine nicht funktionierende Rettung des Euros ver-
schwendet. Ausgerechnet bei denjenigen, die ohnehin
am wenigsten haben, soll nunmehr der Rotstift angesetzt
werden.
Für viele Menschen ermöglichen Beratungshilfe und
Prozesskostenhilfe überhaupt erst den Zugang zu an-
waltlicher Beratung und zum Gericht. Prozesskosten-
hilfe und Beratungshilfe sollen Menschen gewährt wer-
den, die sich bei Rechtsstreitigkeiten sonst keinen
Anwalt leisten können. Sie dienen damit der Vermei-
dung von Klassenjustiz. Sie sollen sicherstellen, dass
derjenige, der recht hat, recht bekommt, auch wenn er
arm ist. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung hätte in
seiner ursprünglichen Fassung diesen Anspruch unter-
graben. Er enthielt eine Ansammlung sozialstaatswidri-
ger Scheußlichkeiten. Es seien hier nur einige genannt:
Der Entwurf wollte die Freibeträge senken und damit
den Kreis der Anspruchsberechtigten verkleinern, die
Ratenzahlungsverpflichtung sollte deutlich verlängert,
die Beiordnung von Rechtsanwälten in familien- und ar-
beitsgerichtlichen Verfahren beschränkt und Kontrollan-
fragen bei Arbeitgebern und Banken ermöglicht werden.
Der Gesetzentwurf hätte die Bundesrepublik kalther-
ziger und unchristlicher werden lassen.
Dies war offensichtlich sogar dem Bundestag – zu-
mindest in Vorwahlkampfzeiten – zu viel an sozialer
Kälte. Der Entwurf wird in der ursprünglichen Fassung
nicht verabschiedet werden. Hätte dieser Entwurf Bun-
destag und Bundesrat passiert, dann hätte das vor allem
die SPD als die Partei der behaupteten sozialen Restge-
rechtigkeit endgültig disqualifiziert. Hätte die SPD ge-
gen diesen Entwurf nicht ausreichend opponiert, dann
hätte sie sich einen Wahlkampf unter dem Motto: „Für
ein neues soziales Gleichgewicht in unserem Land“
gleich an den Hut stecken können. Für diese Restehrlich-
keit sei der SPD ausdrücklich gedankt.
Der Entwurf der Regierung wird durch Änderungsan-
träge des Bundestages erheblich abgeschwächt werden.
Die Änderungen des Gesetzentwurfes waren gesetzes-
technisch nicht schwer zu bewerkstelligen. Die Ände-
rungsanträge beschränken sich im Wesentlichen darauf,
Streichungen im Entwurf der Bundesregierung vorzu-
nehmen und damit die geltende Rechtslage beizubehal-
ten: Die Freibeträge werden nicht mehr gekürzt, die
Ratenzahlungsverpflichtung wieder auf 48 Monaten be-
grenzt und die Auskunftseinholung bei Dritten aufgeho-
ben. Die Einschränkungen bei der Anwaltsbeiordnung in
Scheidungssachen entfällt. Dies ist ausdrücklich zu be-
grüßen.
Bei dieser Gelegenheit wird mir bewusst, dass ich
durch diesen Gesetzentwurf genötigt werde, sozialstaat-
liche Selbstverständlichkeiten zu begrüßen. Es wäre aber
darüber hinaus zwingend erforderlich gewesen, auch die
übrigen Regelungen des Entwurfs zu streichen – noch
besser: das ganze Gesetzeswerk ruhigen Gewissens dem
Papierkorb anzuvertrauen. Die verbliebenen Regelungen
haben zwar nicht mehr die sozialstaatswidrige Qualität
der ursprünglich beabsichtigten Veränderungen. Auch
sie sind jedoch im Einzelfall im Hinblick auf das Prinzip
des sozialen Rechtsstaats nur schwer erträglich; besten-
falls sind sie überflüssig.
Die in § 114 Abs. 2 ZPO vorgesehene Legaldefinition
des Mutwilligkeitskriteriums bringt vor dem Hinter-
grund der bestehenden und gefestigten (Verfassungs-)
Rechtsprechung für die Rechtsanwender keinen Nutzen.
Die Formulierung bringt zudem nicht alle Aspekte der
Rechtsprechung ausreichend klar zum Ausdruck. Sie
führt insoweit zu überflüssigen und schädlichen Unwäg-
barkeiten, die auch durch den in der Beschlussempfeh-
lung des Rechtsausschuss „zum besseren Verständnis“
der Norm gegebenen Hinweis nicht vollständig beseitigt
werden können.
Die Lockerung der zwingenden Beiordnung eines
Rechtsanwalts in arbeitsgerichtlichen Verfahren wurde
leider nicht aus dem Entwurf der Bundesregierung her-
ausgestrichen. Dabei werden jedoch die strukturelle
Ungleichheit und die besonderen Fragen und Probleme
in Arbeitsgerichtsprozessen verkannt. In arbeitsgerichtli-
chen Verfahren lässt sich nur schwerlich mit dem Krite-
rium der Erfolgsaussicht und Mutwilligkeitsdefinitionen
sinnvoll arbeiten.
Die Regelung zur Anzeigepflicht bei einer wesentli-
chen Verbesserung der Vermögensverhältnisse in § 120 a
Abs. 2 ZPO wird zu einem erheblichen zusätzlichen Ar-
beitsaufwand bei den Gerichten führen, der in der Sache
nicht gerechtfertigt ist. Eine wesentliche Verbesserung
soll bei laufenden Einkünften schon dann vorliegen,
wenn das Einkommen pro Monat um mehr als 100 Euro
brutto steigt. Da sich im Laufe der Zeit aber regelmäßig
nicht nur das Einkommen ändert, sondern auch die Heiz-
kosten oder andere zu berücksichtigenden Ausgaben Än-
derungen unterliegen, muss bei jeder verhältnismäßig
kleinen Änderung der Einkommensverhältnisse bei den
gesamten persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnis-
sen neu gerechnet werden, ohne dass jedoch eine Ände-
rung der Bewilligungsentscheidung zu erwarten ist.
Statt solcher justizpolitisch verfehlten Regelungen im
Prozesskosten- und Beratungshilferecht wären ein grund-
sätzliches Umdenken und eine Abkehr vom Sparkurs in
der Justiz dringend geboten. Unabhängig von einer Kos-
ten-Nutzen-Rechnung muss eine personell und materiell
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013 30485
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gut ausgestattete Justiz im Rechtsstaat für jeden – ob reich
oder arm – selbstverständlich sein. Nicht kostendeckend
muss die Justiz im Rechtsstaat arbeiten, sondern gerecht.
Anlage 11
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Anträge:
– Rechte intersexueller Menschen stärken
– Grundrechte von intersexuellen Menschen
wahren
(Tagesordnungspunkt 19 a bis c)
Dr. Peter Tauber (CDU/CSU): Erneut haben wir
heute die Gelegenheit, zum Thema Intersexualität zu
sprechen. Dass das Thema im parlamentarischen Prozess
an Bedeutung gewonnen hat, ist für uns, die wir uns nun
seit einiger Zeit für das Thema starkmachen, eine erfreu-
liche Entwicklung.
Auf fachpolitischer Ebene besteht weitestgehend Ei-
nigkeit darüber, dass insbesondere die Frage der ge-
schlechtszuweisenden und geschlechtsanpassenden Ope-
rationen bei Minderjährigen neu geregelt werden muss.
Eine ganze Reihe von Berichten, aber auch die in den
Anträgen aufgeführten Zahlen machen deutlich, dass
vielen intersexuellen Menschen durch diese Operationen
schlimmes Leid angetan worden ist und sie darunter
noch heute leiden.
Auch heute noch können Eltern stellvertretend für
ihre Kinder in kosmetische Operationen einwilligen,
durch die die Kinder sozusagen auf ein Geschlecht fest-
gelegt werden sollen. Dies wiederspricht dem Prinzip
der Selbstbestimmung aus meiner Sicht in eklatanter
Weise und kann erhebliche negative Auswirkungen auf
das weitere Leben der betroffenen Menschen haben. Wir
sind uns interfraktionell darüber einig, dass diese Praxis
beendet werden muss. Auch der Ethikrat hat eine ent-
sprechende Forderung erhoben. Wir müssen sicherstel-
len, dass ein medizinischer Eingriff zukünftig durch eine
eindeutige Indikation belegt ist. Ganz besonders wichtig
ist es, das Selbstbestimmungsrecht der jungen Menschen
zu wahren. Dies müssen wir sicherstellen.
Im Zentrum der Erwägungen müssen immer die Be-
dürfnisse der betroffenen Menschen stehen. Es darf kei-
nen Raum für medizinischen Machbarkeitswahn oder
gefühlte Notwendigkeiten von Personen geben, die nicht
in diesem Körper leben. Um diese Selbstbestimmung
sicherzustellen, muss es natürlich im Umkehrschluss die
Möglichkeit geben, bewusst eine geschlechtsanpas-
sende Maßnahme vorzunehmen, wenn der Betroffene
dies wünscht und eine Einwilligungsfähigkeit bereits be-
steht.
In den zurückliegenden Monaten ist in die gesamte
Thematik Entwicklung gekommen. Es stimmt mich sehr
zuversichtlich, dass es weitere konkrete Maßnahmen
gibt. Es hat mich in diesem Zusammenhang sehr gefreut,
dass es uns als christlich-liberaler Koalition gelungen ist,
einen ersten Schritt im Sinne der intersexuellen Men-
schen zu gehen und das Personenstandsrecht zu liberali-
sieren, damit intersexuelle Menschen zukünftig nicht
mehr gezwungen sind, sich auf eines der beiden Ge-
schlechter festzulegen. Jetzt gilt es, weitere Schritte zu
gehen, um den Betroffenen zu helfen.
Viel des erlittenen Leids ist leider nicht mehr rück-
gängig zu machen. Darum ist es auch unsere Aufgabe,
uns im Namen des Deutschen Bundestages für das erlit-
tene Leid zu entschuldigen und dafür Sorge zu tragen,
dass Tatbestände aus der Vergangenheit aufgearbeitet
werden.
Ein weiteres berechtigtes Anliegen ist die Einrichtung
von unabhängigen Beratungsstellen, an die sich interse-
xuelle Menschen und ihre Angehörigen wenden können.
Derzeit ist es sehr schwierig für Betroffene, unabhängige
und kompetente Hilfe zu erhalten. Zum Glück gibt es
eine kleine Zahl sehr engagierter Selbsthilfeorganisatio-
nen, die gleichzeitig viel Wissen über Intersexualität in
ihren Reihen vereinen.
Wir haben einen erfreulichen Anfang gemacht bei der
Verbesserung der Situation intersexueller Menschen.
Diesen Weg müssen und werden wir weitergehen, auch
wenn manch eine Forderung schneller erhoben ist, als
sie dann auch tatsächlich umgesetzt werden kann. Dies
dürfen wir nicht vergessen, wenn wir uns gegenseitig da-
rin überbieten, Forderungskataloge aufzustellen.
Ein nächster Schritt auf dem Weg in Richtung einer
besseren Lebenssituation der intersexuellen Menschen
ist ein umfassender Kongress, der nicht zuletzt mit Un-
terstützung der Bundesregierung zustande kommen
konnte. Am 22. Mai kommen Fachleute, Politiker und
insbesondere auch intersexuelle Menschen im Rahmen
dieses Kongresses zusammen, um konstruktiv über das
Thema Intersexualität zu diskutieren und weitere
Schritte vorzubereiten. Die Tatsache, dass auch die
Ministerin anwesend sein wird, zeigt deutlich, dass das
Thema Intersexualität bei der Bundesregierung eine
hohe Priorität besitzt. Insofern bin ich sehr zuversicht-
lich, dass wir die Situation für die intersexuellen Men-
schen weiter Schritt für Schritt verbessern können.
Christel Humme (SPD): Heute ist ein denkwürdiger
Tag! Meines Wissens nach ist der Deutsche Bundestag
weltweit das erste Parlament, in dem heute über ein ex-
plizites Verbot von medizinisch nicht notwendigen „ge-
schlechtsändernden“ bzw. „geschlechtsangleichenden“
Operationen an intersexuellen Kindern und Jugendlichen
debattiert wird, die ohne den ausdrücklichen Wunsch
und die ausdrückliche Zustimmung der Betroffenen er-
folgen.
Ein solches Verbot ist längst überfällig, denn die bis-
herige Praxis verstößt elementar gegen das Selbstbestim-
mungsrecht aller Menschen. Daher freue ich mich, dass
sowohl in unserem Antrag als auch in den Anträgen von
Grünen und Linken diese zentrale Forderung an oberster
Stelle steht.
Ich hätte mir gewünscht, dass das gemeinsame Anlie-
gen von Regierung und Opposition, die Lebenssituation
30486 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013
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intersexueller Menschen nachhaltig zu verbessern, auch
in einen gemeinsamen Antrag aller Fraktionen gemündet
wäre. Doch offenbar sehen Union und FDP nach ihrer
Gesetzesänderung im Personenstandsrecht vom Januar
diesen Jahres keinen weiteren Handlungsbedarf mehr.
Die von der Regierung durchgeführte Änderung ist
zweifellos eine Verbesserung. So heißt es nun: „Kann
das Kind weder dem weiblichen noch dem männlichen
Geschlecht zugeordnet werden, so ist der Personen-
standsfall ohne eine solche Angabe in das Geburtenre-
gister einzutragen.“ Durch diese Neuregelung wird den
Eltern intersexueller Babies ein unnötiger und sogar ge-
fährlicher Druck genommen, stellvertretend für ihr Kind
eine (vor)schnelle Entscheidung über das Geschlecht ih-
res Kindes treffen zu müssen.
Die Folgewirkungen dieser Gesetzesänderung auf an-
dere Rechtsgebiete wurden offensichtlich jedoch über-
haupt nicht weiter beleuchtet. Im Interesse der Rechtssi-
cherheit intersexueller Menschen muss die schwarz-
gelbe Bundesregierung hier schnell Klarheit schaffen.
In der kommenden Woche veranstaltet die Konrad-
Adenauer-Stiftung in Berlin eine Fachkonferenz zum
Thema Intersexualität. Das ist an sich sehr begrüßens-
wert, vor allem weil der von uns Sozialdemokratinnen
und Sozialdemokraten immer wieder geforderte interdis-
ziplinäre Ansatz ebenso wie eine Beteiligung der Interes-
sensverbände intersexueller Menschen realisiert wurde.
Dennoch frage ich mich: Brauchen wir nach dem fun-
dierten Bericht des Deutschen Ethikrates vom Februar
2012 und nach der Sachverständigenanhörung des Fami-
lienausschusses vom Juni 2012 tatsächlich noch eine
weitere Veranstaltung, um herauszufinden, wie wir inter-
sexuellen Menschen konkret helfen können? Mit Blick
auf die umfassenden Anträge von SPD, Grünen und Lin-
ken, über die wir heute debattieren, habe ich da so meine
Zweifel. Gefragt ist nun konkretes politisches Handeln
und keine Konferenz ohne konkrete Konsequenzen.
Heute ist eine besondere Gelegenheit für uns als ge-
wählte Volksvertreter, gemeinsam das Leid und das Un-
recht, das intersexuelle Menschen in der Vergangenheit
erfahren haben, anzuerkennen. Unser tiefes Bedauern
sollte uns alle darin bestärken, alle Möglichkeiten, die
wir als Gesetzgeber haben, zu nutzen, um sicherzustel-
len, dass diese Menschenrechtsverletzungen endgültig
der Vergangenheit angehören.
Intersexualität ist keine Krankheit! Dementsprechend
müssen auch der interdisziplinäre Ansatz im Umgang
mit Intersexualität konsequent gestärkt und medizinische
Leitlinien aktualisiert werden. Wir brauchen mehr und
bessere Information und Aufklärung – sowohl für die
Betroffenen und ihre Familien als auch für Beschäftigte
in den Bereichen Medizin, Justiz und (Vor)Schule.
Durch das in unserem Antrag geschilderte Maßnah-
menpaket wollen wir im Zusammenspiel mit den Län-
dern und Kommunen dafür sorgen, dass die Rechte
intersexueller Menschen endlich umfassend gestärkt wer-
den.
Mechthild Rawert (SPD): Heute geht es um ein sehr
wichtiges Thema: Es geht darum, Diskriminierungen
und Stigmatisierungen von intersexuell, von mehrdeutig
geschlechtlich geborenen Menschen endlich zu stoppen.
Es geht darum, für alle Bürgerinnen und Bürger das
Recht auf Selbstbestimmung und auf die Anerkennung
der eigenen sexuellen Identität zu gewährleisten. Ich bin
dankbar, dass sich an diesem gesellschaftlichen Aufklä-
rungsprozess alle drei Oppositionsparteien mit eigenen
Anträgen beteiligen – auch wenn ich es bedauere, dass
es nicht möglich war, sich im Vorfeld auf einen gemein-
samen interfraktionellen Antrag zu verständigen. Und an
die CDU/CSU und die FDP gewandt: „Mitgefühl“ reicht
nicht aus, um einen adäquaten Rechtsrahmen zum
Schutz und zur Selbstbestimmung zu schaffen. Wir sind
hier im Deutschen Bundestag der Gesetzgeber. Die Men-
schen erwarten von uns Taten, erwarten konkrete Rege-
lungen. Dass Sie sich dieser Aufgabe bei diesem Thema
entziehen, enttäuscht mich und andere.
Nichtsdestotrotz bin ich froh, dass es diese Debatte
hier im Deutschen Bundestag überhaupt gibt.
Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten tre-
ten mit unserem Antrag „Rechte intersexueller Men-
schen stärken“ dafür ein, dass sowohl ein geeigneter
Rechtsrahmen als auch die notwendige psychosoziale
Infrastruktur geschaffen wird, mit der die bisherigen
physischen und psychischen Eingriffe, Diskriminierun-
gen und Stigmatisierungen gestoppt und die gesell-
schaftliche Akzeptanz intersexueller Menschen und ihrer
Rechte gefördert werden.
Der Deutsche Ethikrat hat mit seiner am 23. Februar
2012 im Auftrag der Bundesregierung veröffentlichten
Stellungnahme zur Situation intersexueller Menschen in
Deutschland die Debatte zur Verbesserung der Lebens-
situation intersexueller Menschen sehr forciert. Der
Deutsche Ethikrat ist der Auffassung, dass intersexuelle
Menschen als Teil gesellschaftlicher Vielfalt Respekt
und Unterstützung der Gesellschaft erfahren müssen.
Zudem müssen sie vor medizinischen Fehlentwicklun-
gen und Diskriminierung in der Gesellschaft geschützt
werden.
Ich empfehle Ihnen, sowohl diese Stellungnahme als
auch die Diskussionen des Onlinedialogs nachzulesen.
Gleiches gilt für die Stellungnahmen der öffentlichen
Anhörung des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend am 25. Juni 2012, in der alle Sach-
verständigen festgestellt haben: Intersexualität ist keine
Krankheit.
In der Vergangenheit hat die Haltung „Intersexualität
ist eine Krankheit“ dazu geführt, dass zumeist schon so-
fort nach der Geburt radikale medizinische geschlechts-
zuweisende Operationen erfolgten. Ziel war es, die Norm
der Zweigeschlechtlichkeit von „männlich“ und „weib-
lich“ im wahrsten Sinne des Wortes „herzustellen“. Da-
durch haben viele intersexuelle, mehrgeschlechtlich ge-
borene Menschen großes physisches und psychisches
Leid erfahren und leiden darunter auch noch heute. Mit-
tels dieser geschlechtszuweisenden Operationen und der
damit verbundenen langandauernden Hormonbehandlun-
gen wurde das Menschenrecht auf körperliche Unver-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013 30487
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sehrtheit und auf Selbstbestimmung bei intersexuell ge-
borenen Menschen verletzt. Dies wurde auf meiner
Fraktion-vor-Ort-Veranstaltung „Intersexuelle Menschen
anerkennen – Selbstbestimmung im Identitätsgeschlecht“
am 4. September 2012 mit vielen Bürgerinnen und Bür-
gern, mit Mitgliedern der LGBTI-Community und Be-
troffenenvertreterinnen und -vertretern in meinem Wahl-
kreis Tempelhof-Schöneberg auch sehr deutlich.
Das Fazit war: Niemand hat das Recht, jemandem ein
Geschlecht zuzuweisen. Eine inklusive Gesellschaft
muss auch mehrdeutig geschlechtliche, intersexuell ge-
borene Menschen mit einschließen. Und: „Mit der richti-
gen politischen Einstellung ist alles möglich!“ So Pedro
Muratián, der Beauftragte der argentinischen Regierung
gegen Diskriminierung, Ausländerfeindlichkeit und Ras-
sismus, INADI. Auch in anderen Ländern kämpfen in-
tersexuelle Menschen seit langem um Respekt und um
gesellschaftliche Anerkennung. In Argentinien wird uns
vorgemacht, wie die freie Wahl der Geschlechtsidentität
gewährleistet werden kann:
Auf Grundlage eines Antidiskriminierungsplans wurde
in Argentinien zunächst systematisch analysiert, wo ge-
sellschaftliche Diskriminierungen stattfinden. Im An-
schluss wurde eine Reihe von Gesetzen verabschiedet,
um Diskriminierungen auf allen Ebenen zu bekämpfen.
So dürfen gleichgeschlechtliche Ehepaare heiraten und
Kinder adoptieren – ein Ziel, welches wir Sozialdemo-
kratinnen und Sozialdemokraten für die Bundesrepublik
noch nachdrücklich anstreben. Seit Mai 2012 gibt es in
Argentinien das Gesetz „Das Recht des Menschen auf
Geschlechtsidentität“. Dieses erhöht die öffentliche
Wahrnehmung von intersexuellen Menschen als gleich-
berechtigte Mitglieder der argentinischen Gesellschaft.
Es gibt keine kosmetischen OPs im Säuglings- und Kin-
desalter mehr. Kinder werden nicht mehr zwangsweise
einem Geschlecht zugeordnet. Jede Person entscheidet
zu einem späteren Zeitpunkt des Lebens selbst, welcher
Eintrag im Pass vorgenommen werden soll. Möglich
bleibt aber der Zugang zu Operationen und/oder Hor-
monbehandlungen, die für die Versicherten kostenfrei
sind. Minderjährige haben das Recht, ihr Geschlecht, ih-
ren Namen frei zu wählen. Auch Personen aus dem Aus-
land, die in Argentinien leben, können ihr Geschlecht
oder ihren Namen ändern.
In den vergangenen Monaten haben wir uns in der
SPD-Bundestagsfraktion arbeitsgruppenübergreifend in-
tensiv mit der Herausforderung der Gestaltung eines die
Selbstbestimmung und das Recht auf körperliche Unver-
sehrtheit gewährenden Rechtsrahmens sowie der Schaf-
fung der notwendigen psychosozialen Infrastruktur für
Intersexuelle beschäftigt.
Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten for-
dern die Bundesregierung mit unserem Antrag „Rechte
intersexueller Menschen stärken“ unter anderem dazu auf:
irreversible geschlechtszuweisende und geschlechtsan-
passende Operationen an minderjährigen intersexuellen
Säuglingen und Kindern vor deren Einwilligungsfähig-
keit zu verbieten; sicherzustellen, dass dem ausdrückli-
chen Wunsch intersexueller minderjähriger Jugendlicher
nach geschlechtszuweisenden Operationen Rechnung
getragen wird, unter der Voraussetzung der Einwilli-
gungsfähigkeit; zügig für eine Präzisierung des vom
Deutschen Bundestag am 31. Januar 2013 verabschiede-
ten Personenstandsrechts-Änderungsgesetzes – Bundes-
tagsdrucksache 17/10489 – zu sorgen; bei den Ländern
darauf hinzuwirken, dass die Fristen für die Aufbewah-
rung der Krankenakten bei Operationen im Genitalbereich
auf mindestens 40 Jahre ab Volljährigkeit verlängert wer-
den und intersexuellen Menschen ein ungehinderter Zu-
gang zu ihren Krankenakten gewährleistet wird; bei den
Ländern außerdem darauf hinzuwirken, dass das Thema
Intersexualität fester Bestandteil der Aus-, Fort- und
Weiterbildung von Erzieherinnen und Erziehern, Lehre-
rinnen und Lehrern und vor allem in allen Gesundheits-
fachberufen wird; sicherzustellen, dass intersexuelle
Menschen stets in ein qualifiziertes interdisziplinäres
Kompetenzzentrum zur Diagnostik und Behandlung ver-
mittelt werden; eine Forschungsstudie in Auftrag zu ge-
ben, die das an intersexuellen Menschen begangene Un-
recht dokumentiert und dem Bundestag bis zum
31. Dezember 2015 einen Bericht vorzulegen.
Wir alle müssen lernen, dass nicht jedes Kind eindeu-
tig als „weiblich“ oder „männlich“ geboren wird. Die
Norm der Zweigeschlechtlichkeit ist zu überwinden. Als
Gesellschaft tragen wir Verantwortung dafür, dass Säug-
lingen unnötige geschlechtszuordnende Operationen er-
spart bleiben. Den Eltern muss von Anfang an mit be-
gleitender Beratung Unterstützung angeboten werden.
Ärzte und Ärztinnen brauchen bessere Informationen.
Nur mit vielfältigen differenzierten Maßnahmen wird
eine Enttabuisierung gelingen, die Benachteiligung und
Diskriminierung intersexueller Menschen zu stoppen,
Vielfalt zu akzeptieren, sie zu fördern und zu lieben.
Ich freue mich auf die Diskussionen in den Ausschüs-
sen und lade Sie alle dazu ein, diese intensiv zu beglei-
ten.
Sibylle Laurischk (FDP): Dass es Menschen gibt,
die sich nicht eindeutig als „Mann“ oder „Frau“ positio-
nieren wollen bzw. können, löst auch heute noch starke
Irritationen in der Gesellschaft aus. Wir halten für „nor-
mal“ oder „natürlich“, was wir erlebt haben, was unserer
Gewohnheit, unserer Neigung und unseren Vorlieben
entspricht. Die Gesellschaft, Traditionen, Religion und
selbst die Wissenschaft ist oft sehr leichtfertig und vor-
schnell dabei, bestimmte Entwicklungen zu ihrem Maß-
stab zu machen und alles Abweichende für „unnatürlich“
oder „krankhaft“ zu erklären.
Daher gab es in der Medizin die Bereitschaft, nicht
eindeutige genitale, chromosomale oder gonadische (ge-
netische) Geschlechtsmerkmale meist schon in frühester
Kindheit chirurgisch vermeintlich „anzupassen“. Die
Betroffenen können sich im Kindesalter nicht gegen die
Eingriffe wehren und verstehen nur langsam, was ge-
schehen ist. Sie fordern zu Recht, Intersexualität recht-
lich und gesellschaftlich anzuerkennen. Dabei berufen
sie sich auch auf das Diskriminierungsverbot der UN
und das grundgesetzlich geschützte Recht auf körperli-
che Unversehrtheit.
30488 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013
(A) (C)
(D)(B)
Am 31. Januar dieses Jahres haben wir hier im Ple-
num die Änderungen im Personenstandsrecht verab-
schiedet. In § 22 Abs. 3 wird festgelegt, dass Kinder, de-
ren Geschlecht nicht zweifelsfrei feststeht, ohne Angabe
von weiblich oder männlich in das Personenstandsregis-
ter eingetragen werden können. Das Offenlassen des
Geschlechtseintrages bei einem Kind im Geburtenregis-
ter, das weder dem weiblichen noch dem männlichen
Geschlecht eindeutig zugeordnet werden kann, ist ein
Novum in der deutschen Rechtsgeschichte. Das ist ein
großer Schritt für intersexuelle Menschen, die sich jahre-
lang in eine gesellschaftliche Norm zwingen mussten.
Diese Gesetzgebung erkennt nämlich an, dass es Men-
schen in unserer Gesellschaft gibt, die nicht weiblich
oder männlich sind. Damit ist die Koalition einer rechtli-
chen Empfehlung des Deutschen Ethikrates gerecht ge-
worden, der ein solches Vorgehen in ihrer Stellung-
nahme zur Intersexualität unterstützt hat.
Die Änderung im Personenstandsrecht ist eine bedeu-
tende Maßnahme in der Anerkennung von intersexuellen
Menschen. Alle rechtlichen Fragen, die aus dieser Ver-
änderung folgen – zum Beispiel im Familienrecht oder
Arbeitsrecht –, bleiben zu klären. Die Zeit ist reif, diese
Fragen nachhaltig und ergebnisorientiert zu beraten. Da-
für sollten die Zuständigkeiten der verschiedenen Res-
sorts so schnell wie möglich geklärt werden.
Intersexuelle Menschen müssen als Teil gesellschaft-
licher Vielfalt Respekt und Unterstützung der Gesell-
schaft erfahren müssen. Zudem müssen sie vor medizini-
schen Fehlentwicklungen und Diskriminierung in der
Gesellschaft geschützt werden. Deswegen ist eine zen-
trale Fragestellung bezüglich Intersexualität immer
noch, ob chirurgische Eingriffe an den Geschlechtsorga-
nen von Menschen mit Besonderheiten der geschlechtli-
chen Entwicklung und insbesondere bei betroffenen
Kleinkindern überhaupt zulässig sein sollten.
Betroffene und der Deutsche Ethikrat kritisieren aus
diesen Gründen zu Recht die Zwangsfestlegung, insbe-
sondere im Kindesalter, und fordern, die Genitaloperati-
onen erst dann durchzuführen, wenn der intersexuelle
Mensch volljährig ist, die Operation aus eigenem Willen
möchte und ihr zustimmen kann. Chirurgische Anpas-
sungen im Kindesalter werden von Betroffenen mit der
unsäglichen Praxis der Beschneidung weiblicher Genita-
lien gleichgesetzt, eine Auffassung, für die ich sehr viel
Verständnis habe. Persönlich bin ich der Auffassung,
dass niemand ohne Erlaubnis - und durch das Lebensal-
ter der Betroffenen anzunehmende Einsicht – das Recht
hat, Veränderungen an den Genitalien eines Kindes oder
Jugendlichen vorzunehmen.
Im Bereich Gesundheit besteht noch immer hoher
politischer Regelungsbedarf: ob es die chirurgischen
Eingriffe sind, die einer speziellen Norm unterliegen
sollten, oder die Einsicht des betroffenen Menschen in
seine Gesundheitsakte. Die Anträge der Opposition, die
sich nicht nur im Wortlaut ähneln, sondern auch in ihren
Forderungen, werden sich zwar der besonderen Situation
intersexueller Menschen bewusst, verkennen aber den
Ruf nach Freiheit und Anerkennung, der bei den Betrof-
fenen am lautesten ist. Wie viele Geschlechtseinträge
brauchen wir, wenn es Menschen gibt, die weder weib-
lich noch männlich sind? Das Offenlassen des Ge-
schlechtseintrages bietet eine freie Entscheidung für je-
den, der sich eben nicht eindeutig entscheiden kann oder
will.
Die bloße statistische Seltenheit, das Unbekannte,
Fremde oder scheinbar Unverständliche genügt oft, um
Abweichendes zu diskriminieren. Dieses diffamierende
Vorgehen müssen wir immer wieder thematisieren und
eine Lösung herbeiführen, die den Betroffenen hilft und
einer toleranten Gesellschaft Rechnung trägt.
Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): „Luce glaubte, eine
Patientin meines Alters sei nicht in der Lage, das We-
sentliche zu verstehen. Daher nahm er an jenem Nach-
mittag kein Blatt vor den Mund. Mit einer sanften, ange-
nehmen, sauber artikulierenden Stimme erklärte Luce,
wobei er mir direkt in die Augen sah, ich sei ein Mäd-
chen, dessen Klitoris nur ein klein wenig größer sei als
die anderer Mädchen. Er zeichnete mir die gleichen
Schaubilder auf wie meine Eltern. Als ich Genaueres
über meine Operation wissen wollte, sagte er nur das:
Wir führen eine Operation durch, um deine Genitalien zu
vollenden. Sie sind nicht ganz vollendet, und wir werden
sie vollenden. … Ich saß auf meinem Stuhl und dachte
an überhaupt nichts. Mein Kopf war seltsam leer. Es war
die Leere des Gehorsams. Mit unfehlbarem Instinkt des
Kindes hatte ich gemutmaßt, was meine Eltern von mir
wollten. Sie wollten, dass ich blieb, wie ich war. Und ge-
nau das hatte Dr. Luce versprochen.“
Die hier beschriebene Szene stammt aus dem Buch
Middlesex von Jeffrey Eugenides. Eugenides beschrieb
plastisch, was viele Jahrzehnte gängige Praxis war und
zum Teil auch heute noch jungen Menschen und sogar
Babys angetan wird. Es geht um Intersexuelle, also Men-
schen, die in einem streng biologischen Sinne zwischen
den Geschlechtern stehen, weil sie gleichzeitig Merk-
male beider Geschlechter aufweisen. Dr. Luce steht stell-
vertretend für viele Mediziner, die ausschließlich in
Kategorien von zwei Geschlechtern dachten und Inter-
sexuelle mit geschlechtszuweisenden Operationen weib-
lich oder männlich machten. Ihnen und ihren Eltern
wurde vermittelt, dass es zu ihrem Besten geschehe. So
wurden Eierstöcke entfernt, Klitorides zu Penissen ge-
macht, oder es sollte wie in der hier beschriebenen
Szene, ein kleiner Penis entfernt und eine Vagina herge-
stellt werden.
Heute wissen wir, dass diese Operationen fatale Fol-
gen haben: In der Pubertät kann es dazu kommen, dass
Geschlechtsidentität und hergestelltes Geschlecht nicht
zusammenpassen, eine lebenslange Hormonbehandlung
notwendig ist, vielen Betroffenen ihre Sexualität genom-
men wird, Traumatisierungen und ein Sich-fremd-im-ei-
genen-Körper-fühlen auftreten. Einige begingen Suizid.
Der jugendliche Ich-Erzähler in Eugenides Ge-
schichte floh, bevor es zur Operation kam, in die quere
Metropole San Francisco und entging so den Folgen.
Doch im wirklichen Leben geschieht dies nur selten.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013 30489
(A) (C)
(D)(B)
Die Bundestagsfraktion der PDS und später Die
Linke machten immer wieder auf die Situation von inter-
sexuellen Menschen aufmerksam. Ich befragte mehrfach
die Bundesregierung zu diesem Thema und erhielt regel-
mäßig als Antwort, dass die geschlechtsangleichenden
Operationen keine Grundrechtsverletzung darstellten
und dass diese zum Wohle der Menschen geschehen.
Dass dies nicht so ist, darauf verwiesen Betroffene
schon lange. Mit dem CEDAW-Bericht im Jahre 2009
und dem daraus resultierenden Bericht des Ethikrates
2012 erhielten die Betroffenen endlich gewichtigen Bei-
stand. Spätestens seit der öffentlichen Anhörung im
Sommer letzten Jahres ist nun offensichtlich, was die
Betroffenen schon lange wissen: Bei den frühkindlichen
Operationen handelt es sich um eine Menschenrechts-
verletzung, die der Gesetzgeber unterbinden muss.
In Folge der Anhörung nahm ich mehrfach mit Kolle-
ginnen und Kollegen aller Fraktionen des Deutschen
Bundestags an intrafraktionellen Besprechungen teil, um
einen gemeinsamen Antrag zur Wahrung der Men-
schrechte von Intersexuellen in den Deutschen Bundes-
tag einzubringen. Leider scherten die Kollegen der Re-
gierungsfraktionen aus. Immerhin setzten sich diese
Kollegen für eine Änderung des Personenstandsgesetzes
ein, sodass Eltern intersexueller Kinder erstmals die
Möglichkeit haben, keinen Geschlechtseintrag beim Per-
sonenstand vorzunehmen. Der Gesetzgeber hat damit
erstmals Intersexuelle im Recht anerkannt. Die Opposi-
tion wollte sich mit dieser Änderung nicht begnügen.
Wir trafen uns weiterhin und entwickelten einen ge-
meinsamen Antrag. Leider wurde dieser gemeinsame An-
trag von der Fraktionsspitze der SPD und Grünen verhin-
dert. Aber ich möchte dies auf sich beruhen lassen; denn
die konstruktiven Gespräche resultierten in nun drei na-
hezu gleichlautenden Anträgen, die im Wesentlichen das
Verbot von geschlechtsangleichenden Operationen vor
der Einwilligungsfähigkeit, die Förderung und Unterstüt-
zung intersexueller Menschen und eine weiter gehende
rechtliche Anerkennung von intersexuellen Menschen
fordern. Die Linke fordert zudem, dass mit einem Fonds
intersexuelle Menschen, die geschlechtszuweisende Ope-
rationen erlitten haben, unbürokratisch materiell unter-
stützt werden.
Die Situation intersexueller Menschen erlaubt es
nicht, dass wir uns hier parteitaktisch verhalten. Wir
müssen handeln, helfen, unterstützen, fördern, weitere
Menschenrechtsverletzungen unterbinden und intersexu-
elle Menschen anerkennen. Es gibt nicht nur zwei Ge-
schlechter. Dies müssen wir akzeptieren.
Monika Lazar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vor
anderthalb Jahren haben wir im Bundestag auf Initiative
der grünen Bundestagsfraktion zum ersten Mal über das
Thema Intersexualität diskutiert. Bei der Debatte über
den grünen Antrag haben sich Kolleginnen und Kollegen
aller Fraktionen dem Thema Intersexualität mit viel Em-
pathie zugewandt. Mit Freude habe ich bei Ihnen viel
Verständnis gemerkt, was unsere Forderungen betrifft,
und große Bereitschaft gespürt, den intersexuellen Men-
schen zu helfen.
Allerdings haben die Kolleginnen und Kollegen von
der Koalition immer wieder auf die Arbeit des Deut-
schen Ethikrates hingewiesen. Nun liegt seine Stellung-
nahme nebst zahlreichen Handlungsempfehlungen seit
über einem Jahr dem Bundestag vor. Auch darüber ha-
ben wir bereits vor einem Jahr diskutiert.
Als wir im November 2011 unseren Antrag einge-
bracht haben, haben wir ihn absichtlich sehr moderat
formuliert. Wir hofften, andere Fraktionen für das
Thema zu sensibilisieren und sie zu einem interfraktio-
nellen Antrag zu überzeugen. Danach haben wir Vertre-
terinnen und Vertreter alle Fraktionen zu gemeinsamen
Gesprächen eingeladen. Die Bereitschaft schien groß zu
sein, intersexuellen Menschen gemeinsam zu helfen. Zu
meinem Bedauern war das ein irrtümlicher Eindruck.
Schon bald hat die Koalition erneut bewiesen, dass sie
außer emphatischen Worten intersexuellen Menschen
wenig zu bieten hat.
Bei der Novellierung des Personenstandsrechts im Ja-
nuar dieses Jahres hat sie vier Tage vor der abschließen-
den Abstimmung einen Änderungsantrag eingebracht,
der lediglich eine einzige Forderung von unserem grü-
nen Antrag umgesetzt hat. Es wurde entschieden, dass
bei Geburt eines intersexuellen Kindes der Personen-
standsfall ohne Angabe zum Geschlecht in das Gebur-
tenregister einzutragen ist. Diese grundsätzlich zu begrü-
ßende Änderung, die der Existenz der intersexuellen
Menschen Rechnung trägt, könnte aber auch Nachteile
für die betroffenen Menschen bringen. Ohne gleichzeitig
gesellschaftlicher Ausgrenzung intersexueller Menschen
entgegenzuwirken, kann diese neue Regelung zu Stig-
matisierung führen.
Hat sich die Koalition überhaupt Gedanken gemacht,
was mit intersexuellen Kindern ohne Geschlechtsantrag
im Kindergarten oder in der Schule passiert? Sind diese
Einrichtungen darauf vorbereitet? Wie sollen diese Kin-
der an den Sportunterrichten teilnehmen? Wie werden
andere Kinder und deren Eltern auf sie reagieren? Sind
Lehrerinnen und Lehrer oder Schulpädagoginnen und
Pädagogen für solche Situation vorbereitet?
Für die wirkliche Unterstützung intersexueller Men-
schen ist dagegen eine ganze Reihe von Maßnahmen er-
forderlich, die wir in unserem neuen Antrag von der
Bundesregierung fordern.
Zunächst aber wollen wir, dass der Bundestag erlitte-
nes Unrecht und Leid, das intersexuellen Menschen
widerfahren ist, anerkennt und dies zutiefst bedauert. In-
tersexuelle Menschen, die in der Regel mehrfachen Ope-
rationen insbesondere im Säuglings- und Kindesalter un-
terzogen wurden, berichten nämlich, dass sie sich als
Opfer von Verstümmelungen sehen und ihre Gefühle,
Wut und Hass sowie traumatische Erlebnisse noch Jahr-
zehnte lang und sehr intensiv erleben. Auch wissen-
schaftliche Nachuntersuchungen zeigen ein bedrücken-
des Bild.
Zweitens muss sichergestellt werden, dass ge-
schlechtszuweisende und -anpassende Operationen an
minderjährigen intersexuellen Menschen vor deren Ein-
willigungsfähigkeit grundsätzlich verboten werden. Da-
30490 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013
(A) (C)
(D)(B)
bei muss gewährleistet sein, dass eine alleinige Einwilli-
gung der Eltern in irreversible geschlechtszuweisende
Operationen ihres minderjährigen Kindes – außer in
lebensbedrohlichen Notfällen – nicht zulässig ist. Bei ei-
ner medizinischen Indikation muss diese stets von einem
qualifizierten interdisziplinären Kompetenzzentrum zur
Diagnostik und Behandlung bestätigt werden.
Drittens soll die Möglichkeit der Bestellung eines
Verfahrensbeistands für Kinder und Jugendliche auch für
die Fälle geschaffen werden, in denen eine Übereinstim-
mung zwischen dem ausdrücklichen Willen der Eltern
und dem des/der intersexuellen Minderjährigen über die
Frage der Einwilligung in geschlechtszuweisende Ope-
rationen besteht, damit die Rechte von intersexuellen
Kindern und Jugendlichen gewahrt werden.
Darüber hinaus soll intersexuellen Menschen, die an
Folgen der geschlechtszuweisenden Operationen leiden,
die Kosten für daraus resultierende Hormonbehandlung
sowie – falls notwendig – psychotherapeutische Unter-
stützung von den gesetzlichen Krankenkassen erstattet
werden. Schließlich handelt es sich um Folgekosten
eines Eingriffes, der die Grundrechte der Betroffenen
verletzt hat.
Ebenso ist es dringend notwendig, ein unabhängiges
Beratungs- und Betreuungsangebot für betroffene Kin-
der, deren Eltern, betroffene Heranwachsende und Er-
wachsene, einschließlich Unterstützung ihrer Beratungs-
und Selbsthilfeeinrichtungen, zu schaffen.
Ungeachtet der erwähnten Änderung im Personen-
standsrecht fordern wir in unserem Antrag die Bundesre-
gierung dazu auf, das Personenstandsgesetz – wie vom
Deutschen Ethikrat und dem Bundesrat vorgeschlagen –
so zu novellieren, dass sowohl Eltern von intersexuell
geborenen Kindern als auch intersexuelle Erwachsene
durch die Schaffung einer weiteren Geschlechtskatego-
rie die Möglichkeit erhalten, im Geburtenregister mit
Wirkung für alle Folgedokumente und mit Wirkung ei-
ner rechtlichen Gleichbehandlung dauerhaft weder eine
Zuordnung zum männlichen noch zum weiblichen Ge-
schlecht vornehmen müssen. Diese neue Geschlechts-
kategorie ist gemeinsam mit den Betroffenenverbänden
zu entwickeln.
Darüber hinaus soll intersexuellen Menschen eine
vereinfachte Änderungsmöglichkeit der Vornamen so-
wie der ursprünglich durch ihre Eltern vorgenommenen
Geschlechtskategorisierung eingeräumt und ein effekti-
ves Offenbarungsverbot gewährleistet werden.
Ferner beklagen intersexuelle Menschen, dass ihnen
der Zugang zu ihren Krankenakten verwehrt bleibt. Oft
erfahren sie über an ihnen im Säuglings- und Kindesalter
durchgeführten Operationen erst im Erwachsenalter,
wenn die ganze medizinische Dokumentation nicht mehr
existiert. Deshalb ist es notwendig, eine Sonderregelung
zu schaffen, nach der die Fristen für die Aufbewahrung
von Krankenakten bei Operationen im Genitalbereich
auf mindestens 40 Jahre ab Volljährigkeit verlängert
werden und ein ungehinderter Zugang zu ihren Kranken-
akten gewährleistet wird.
Schließlich soll das bisher tabuisierte Thema Inter-
sexualität in Fort- und Weiterbildungsangeboten für die
Angehörigen der beteiligten Gesundheitsberufe inte-
griert werden.
Ebenfalls soll das Thema ein fester Bestandteil des
Schulunterrichts, beispielsweise in den Fächern Biolo-
gie, Sozialkunde oder Ethik, als auch bereits der früh-
kindlichen Bildung sein, da schon in der Kita Vorurteile
entstehen und Stigmatisierung intersexueller Menschen
entgegengewirkt werden sollte. Darüber hinaus soll es
weiter möglichst interdisziplinär unter Beteiligung von
Kultur- und Gesellschaftswissenschaften sowie der Be-
troffenenverbände erforscht werden.
Neben dem grünen Antrag diskutieren wir heute auch
über zwei Anträge der Fraktionen der SPD und Die
Linke. Ich begrüße ausdrücklich die beiden Initiativen,
die ähnliche Forderungen an die Bundesregierung stel-
len.
Ich wünsche mir aber, dass auch die Koalitionsfrak-
tionen das Thema ernst nehmen und gemeinsam mit uns
intersexuellen Menschen und deren Familien helfen. Wir
sind für die Zusammenarbeit stets bereit. Seien sie es
endlich auch!
Anlage 12
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung :
– Entwurf eines Gesetzes zur Verwaltungsver-
einfachung in der Kinder- und Jugendhilfe
(Kinder- und Jugendhilfeverwaltungsver-
einfachungsgesetz – KJVVG)
– Beschlussempfehlung und Bericht zu den
Anträgen:
– Mit einer eigenständigen Jugendpolitik
Freiräume schaffen, Chancen eröffnen,
Rückhalt geben
– Eigenständige Jugendpolitik Selbstbe-
stimmt durch Freiheit, Gerechtigkeit,
Demokratie und Emanzipation
– Unterrichtung : Bericht über die Lebens-
situation junger Menschen und die Leistun-
gen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutsch-
land – 14. Kinder- und Jugendbericht und
Stellungnahme der Bundesregierung
– Antrag: Chancengleichheit für Kinder und
Jugendliche fördern – Konsequenzen aus
dem 14. Kinder- und Jugendbericht ziehen
(Tagesordnungspunkte 20 a bis 20 d)
Florian Bernschneider (FDP): Es heißt in der PR-Spra-
che ja immer „Bad news are good news“. Aber da werde
ich heute gerne den Spielverderber mimen, denn es gibt
vor allem Gutes zu vermelden: Viele Länder Europas
beneiden uns für unsere Erfolge, um unsere gute Jugend-
arbeit, um unsere Erfolge auf dem Arbeits- und Ausbil-
dungsmarkt, die gerade jungen Menschen den Berufs-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013 30491
(A) (C)
(D)(B)
eintritt bzw. das Finden einer Ausbildungsstelle enorm
erleichtern. Die duale Ausbildung, die SPD und Grüne ja
am liebsten verschulen würden, mausert sich mittler-
weile zu einem richtigen Exportschlager. All diese Er-
folge sind eine eindrucksvolle Bestätigung unserer Ar-
beit, der Arbeit von Union und FDP, für junge Menschen
in den vergangenen gut dreieinhalb Jahren. Wir können
mit Stolz sagen, dass wir mehr als nur solide gearbeitet
und gute Ergebnisse geliefert haben.
Die Basis für viele Erfolge ist natürlich die gute wirt-
schaftliche Entwicklung gewesen. Aber auch die Kinder-
und Jugendarbeit benötigt, wie jedes Haus, eine solide
Basis, ein Fundament, auf das aufgebaut werden kann.
Dieses Fundament bildet das Kinder- und Jugendhilfege-
setz, KJHG. Dieses Fundament stärken wir mit dem vor-
liegenden Kinder- und Jugendhilfeverwaltungsvereinfa-
chungsgesetz, KJVVG, indem wir wichtigen Initiativen
der letzten Jahre, vom Jugendhilfeweiterentwicklungs-
gesetz bis hin zum Kinderförderungsgesetz, Rechnung
tragen. Auch die Stärkung der Rechte leiblicher, nicht-
rechtlicher Väter findet mit dem vorliegenden Gesetz-
entwurf seinen Niederschlag im SGB VIII, was meine
Fraktion ausdrücklich begrüßt.
Neben diesem Fundament benötigen wir aber noch
mehr. Stabile Wände und tragfähige Decken, die unse-
rem Haus einen Rahmen geben. Übersetzt auf die heu-
tige Debatte bedeutet dies: Eine gute Kinder- und Ju-
gendarbeit muss am Puls der Zeit arbeiten, sich selbst,
ihre Verfahren und Instrumente immer wieder hinterfra-
gen, wenn sie auf neue Entwicklungen gut und präventiv
reagieren können will. Einen wichtigen Fingerzeig gibt
hier der neue 14. Kinder- und Jugendbericht, der eben-
falls heute in erster Lesung Gegenstand der Debatte ist.
Und dieser Bericht bestätigt im Großen und Ganzen die
Arbeit dieser Regierung. Nicht umsonst wird gleich zu
Anfang durch die Autoren festgestellt, dass es Kindern
und Jugendlichen noch nie so gut ging wie heute. Die
überwiegende Mehrheit der Kinder und Jugendlichen
wächst in ökonomisch und sozial gesicherten Verhältnis-
sen auf.
Die Tatsache, dass es wenig zu meckern gibt, unter-
streicht auch der vorliegende Antrag der SPD-Fraktion
zum Bericht. Denn im Forderungsteil finden sich kaum
Punkte, die sich auf diesen Bericht zurückführen lassen.
Vielmehr erliegt die SPD-Fraktion zum wiederholten
Male der Versuchung, alte Anträge noch einmal zu recy-
celn. So sind etliche Punkte, wie etwa die Forderung
nach einem neuen Ganztagsschulprogramm des Bundes,
was derzeit aufgrund des Kooperationsverbotes von
Bund und Ländern ausgeschlossen ist, das Begehr nach
der Stärkung der in der Verantwortung der Länder lie-
genden Schulsozialarbeit oder die Forderung, Ombuds-
stellen in der Kinder- und Jugendhilfegesetzgebung zu
verankern, altbekannt. Vor allem aber liegen sie nicht in
der Zuständigkeit des Bundes. Daher bringen sie uns
nicht in Verlegenheit. Der Antrag zeugt vor allem von ei-
ner gewissen Ratlosigkeit und argumentativer Erschöp-
fung der Antragssteller.
Denn jedes Mal, wenn es darum ging, den Schutz von
Kindern und Jugendlichen im SGB VIII voranzutreiben
– ich erinnere nur an die Verhandlungen zum Bundeskin-
derschutzgesetz –, standen ausgerechnet Sie und ihre
rot-grünen Landesregierungen auf der Bremse und lie-
ßen keine Möglichkeit ungenutzt, sich jedes noch so
kleine Zugeständnis im Bundesrat doppelt und dreifach
teuer abkaufen zu lassen. Deshalb wäre es mehr als nur
an der Zeit, dass Sie, bevor Sie hier neue Millionenbelas-
tungen für die Länder durch die Einführung eines Om-
budsstellensystems in der Kinder- und Jugendhilfe for-
dern, sich erstmal mit Ihren eigenen Landesregierungen
einig werden und vor allem dafür sorgen, dass sinnvolle
und weniger kostenintensive Maßnahmen nicht im Bun-
desrat blockiert werden.
Die christlich-liberale Koalition hingegen kann für
sich zu Recht in Anspruch nehmen, den Menschen nicht
das Blaue vom Himmel zu versprechen, sondern die
wichtigsten Punkte ihrer Agenda zuverlässig abgearbei-
tet zu haben. Gerade für die ersten Monate und Jahre im
Leben der Kinder hat diese Regierung in dieser Legisla-
tur viel geleistet. So ist es uns gelungen, mit dem Bun-
deskinderschutzgesetz wichtige Ergebnisse der Runden
Tische „Heimerziehung in den 50er- und 60er-Jahren“
und „Sexueller Kindesmissbrauch“ aufzunehmen und
umzusetzen. Mit der Einführung der Frühen Hilfen und
der Familienhebammen geht der Bund einen weiteren
wichtigen Schritt, um die Begleitung von jungen Eltern
und Neugeborenen zu verbessern. Den Ausbau der Kin-
derbetreuung bringen wir mit einem 10-Punkte-Plan, der
dazu beiträgt, die Kindertagespflege und die betriebliche
Kinderbetreuung zu stärken, sowie insgesamt 5,4 Mil-
liarden Euro von Bundesseite voran. Dazu begleiten wir
die Ausbaubemühungen mit einer Fachkräfteoffensive.
Ferner ist auch die Offensive Frühe Chancen zu nen-
nen, mit der wir bis 2014 rund 400 Millionen Euro für
rund 4 000 Schwerpunktkitas Sprache und Integration
bereitstellen und somit gezielte Integrationsförderung
betreiben – für die Zukunft unseres Landes. Auch auf
das Programm „Elternchance ist Kinderchance“, durch
das bis zu 4 000 Fachkräfte zu Elternbegleitern fortge-
bildet werden sollen, möchte ich hinweisen und auch
nicht unerwähnt lassen, dass wir mit dem derzeit in der
parlamentarischen Beratung befindlichen Gesetzent-
wurf zur Vertraulichen Geburt den Schutz von Schwan-
geren und Neugeborenen weiter verbessern wollen.
Als jugendpolitischer Sprecher meiner Fraktion will
ich nicht verhehlen, dass die Jugendpolitik, angesichts
dieser Erfolge, allzu häufig vergessen wird oder in den
Hintergrund tritt. Aber wie es sich für ein ordentliches
Haus gehört, benötigt man nicht nur ein gutes Funda-
ment, stabile Wände und Decken, sondern auch ein gutes
Dach, unter dem Träume in die Höhe wachsen können.
Deshalb haben Union und FDP mit der Allianz für Ju-
gend und dem Antrag zur Formulierung einer eigenstän-
digen Jugendpolitik einen Prozess angestoßen, der weit
über diese Legislatur hinaus reichen wird und alle rele-
vanten Akteure beteiligt. Und mit dem Führerschein
ab 17, dem Deutschlandstipendium, der BAföG-No-
velle, der Verlängerung des Programmes „Schulverwei-
gerung – die 2. Chance“, dem Programm „Bildungs-
ketten“, der Sommerferienjobregelung im ALG II und
zuletzt mit der Ergänzung des Baugesetzbuches, die
30492 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013
(A) (C)
(D)(B)
klarstellt, das Kinder und Jugendliche bei sie unmittelbar
betreffenden Bauvorhaben zu beteiligen sind, haben wir
einiges bewegt. Vor allem aber haben wir in der Real-
politik deutlich gemacht, was Sie sonst nur in Sonntags-
reden fordern; nämlich dass Jugendpolitik eine Quer-
schnittsaufgabe ist.
Daran können halbgare Behauptungen wie im Antrag
der Grünen zur Jugendpolitik, dass sich immer mehr Ju-
gendliche in Deutschland mit geringen Chancen auf ge-
sellschaftliche Teilhabe vernachlässigt und von der Ge-
sellschaft zurückgelassen fühlen, nichts ändern. Im
Übrigen widerlegt der 14. Kinder- und Jugendbericht ge-
rade diese Behauptung eindrucksvoll. Die Grünen üben
sich in Schwarzmalerei.
Ähnlich sieht es beim Antrag der SPD aus. Auf der ei-
nen Seite fordern Sie viele wünschenswerte Dinge, zum
Beispiel im Bildungsbereich, wohl wissend, dass der
Bund hier kaum tätig werden kann. Auf der anderen
Seite stellen Sie erneut viele wohlklingende Forderun-
gen auf, ohne die Finanzierung mitzubedenken. Ich habe
Sie bereits in der ersten Beratung auf die vielen Frage-
zeichen des Antrags hingewiesen. Aber auch die Aus-
schussberatungen haben Sie, liebe Kolleginnen und Kol-
legen der SPD, leider nicht genutzt, um etwas mehr
Licht ins Dunkel zu bringen. Bis heute ist unklar, was
Sie genau unter einem Jugendpolitik-TÜV verstehen und
welche Indikatoren Sie für eine „gute Jugendpolitik“ he-
ranziehen wollen. Das ist schlicht ungenügend.
Wenn wir den letzten Berufsbildungsbericht, den
Tiefststand der Jugendarbeitslosigkeit, den 14. Kinder-
und Jugendbericht, die aktuellen Arbeitsmarktdaten, die
niedrige Schulabbrecherquote und vieles mehr Revue
passieren lassen, wird eines überdeutlich: Wer behaup-
tet, diese Regierung habe in der Kinder- und Jugendpoli-
tik, wenn wir sie als Befähigungspolitik ausbuchstabie-
ren, ihre Hausaufgaben nicht gemacht, der ist gehörig
auf dem Holzweg.
Damit wird auch klar, dass die Behauptungen der Op-
position, diese Regierung täte nichts für Jugendliche, ja
sie würde die Interessen von Jugendlichen gar vernach-
lässigen, an den Haaren herbeigezogen sind. Denn wenn
Union und FDP alles falsch gemacht hätten, wäre ich der
Opposition – insbesondere SPD und Grünen – doch sehr
verbunden, wenn sie erläutern könnte, warum Ihre ei-
gene jugendpolitische Bilanz in Sachen Zukunftschan-
cen, Bildung und Ausbildung im Vergleich zu unserer so
grottenschlecht aussieht. Dafür muss es ja Gründe ge-
ben. Vielleicht sollten Sie die verbleibende Zeit dieser
Wahlperiode nutzen, um einmal in sich zu gehen und da-
rüber nachzudenken.
Wir, Union und FDP, können stolz auf die vergange-
nen fast vier Jahre blicken. Unsere Bilanz in der Kinder-
und Jugendpolitik ist sehr gut, die Zahlen stimmen, die
Perspektiven auch. Es waren vier gute Jahre. Um im ein-
gangs von mir aufgezeigten Bild zu bleiben: Das Haus
steht, es ist stabil, die Wände sind gerade, die Decken
tragen, das Dach ist solide. Jetzt können wir uns dem
Garten widmen.
Diana Golze (DIE LINKE): Was wir in der gestrigen
Sitzung des Familienausschusses erleben konnten, war
einmal mehr ein Beispiel dafür, mit welcher Herange-
hensweise von dieser Regierungskoalition und der sie
tragenden Fraktionen eines der wichtigen Zukunftsthe-
men – die Kinder- und Jugendpolitik – abgehandelt
wird. Nicht nur, dass dieser Themenbereich ohnehin
schon äußerst selten durch Initiativen der Regierungs-
parteien auf der Tagesordnung des dafür zuständigen
Ausschusses steht: Die Taktik scheint entweder Ver-
schleppung der notwendigen Maßnahmen zur Weiterent-
wicklung und Verbesserung der Angebote für Kinder-
und Jugendliche oder aber eine Scheintätigkeit in den
Punkten, zu denen die Regierung sich mit ihren eigenen
Vorgaben verpflichtet, zu sein. Beide Eindrücke wurden
gestern auf beispiellose Art und Weise untermauert. Zu-
nächst wurde gestern im Ausschuss der nun zu beschlie-
ßende Gesetzentwurf der CDU/CSU- und FDP-Fraktio-
nen zur Vereinfachung in der Kinder- und Jugendhilfe
behandelt. Dieser Entwurf behandelt längst überfällige
Schritte.
So zum Beispiel eine Klarstellung in Sachen Förde-
rung der Jugendorganisationen von Parteien und ihrer
Arbeit. Interessant dabei: Der Jugendverband der Linken
musste eine solche erst auf dem gerichtlichen Weg ein-
klagen. Über Jahre hinweg wurde diesem Jugend-
verband vorenthalten, was anderen parteilichen Jugend-
verbänden seit Jahren gewährt wird. Auch jetzt wird
lediglich die Förderfähigkeit grundsätzlich festgeschrie-
ben. Konkrete Maßnahmen? Fehlanzeige! Stattdessen
Verschleppung, Handlungsunwillen an den Stellen, wo
Entscheidungen und Maßnahmen notwendig wären.
Dass die Regierung einmal mehr versucht, wichtige
Leistungen des Kinder- und Jugendhilfegesetzes durch
sogenannte Vereinfachungs- und Bürokratieabbaumaß-
nahmen zu beschneiden, war und ist nicht wirklich über-
raschend. Umso erfreulicher ist, dass die vorgesehene
Regelung zur Vereinfachung der Kostenbeteiligung
junger Menschen und ihrer Eltern in der Kinder- und Ju-
gendhilfe bei stationären und teilstationären Leistungen
sowie vorläufigen Maßnahmen wirklich noch einmal in
einem Fachausschuss nachverhandelt wurde und durch
– kurz vor der Ausschusssitzung – eingereichte Ände-
rungen der Koalitionsfraktionen soziale Härten verhin-
dert werden. Eine Regelung, die keinerlei Anpassung der
Kostenbeiträge vorsieht, wenn das Einkommen der El-
tern im Laufe einer Maßnahme sinkt, wäre aus unserer
Sicht nicht mit dem Grundgedanken des SGB VIII ver-
einbar.
Dass man im Fachausschuss dann aber auch partei-
übergreifend und sachorientiert arbeitet, wäre wohl zu
viel des Guten gewesen. So wurde ein fast gleichlauten-
der Änderungsantrag unserer Fraktion abgelehnt.
Zu den Regelungen zum Umgang von Kindern mit ih-
ren leiblichen, aber nicht rechtlichen Vätern, die dieser
Gesetzentwurf regelt, wurde die Regierungskoalition
eher gejagt als getragen, und bei der Befristung der Hil-
fen für die Betreuung von Kindern in Pflegefamilien
muss der Gesetzentwurf weiterhin an Provisorien fest-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013 30493
(A) (C)
(D)(B)
halten, weil die Ministerin Schröder auch hier ihre Haus-
aufgaben nicht gemacht hat.
Schließlich rund wird das Resümee – welches man
gleichermaßen für die gestrige Ausschusssitzung wie
auch für das Engagement der Bundesregierung in Sa-
chen Kinder- und Jugendpolitik ziehen kann – mit der
Behandlung des 14. Kinder- und Jugendberichtes. Es
wird einmal mehr deutlich: Diese Regierung – und vor
allem diese Familienministerin – will an den sich immer
mehr verschärfenden Zuständen in der Kinder- und Ju-
gendhilfe nichts ändern, ja sie nicht einmal zu Kenntnis
nehmen. Wie sonst ist es zu erklären, dass man umfas-
sende Expertisen wie den Kinder- und Jugendbericht
monatelang in den Schreibtischschubladen des Familien-
minsteriums schlummern lässt?
Wer vier Jahre lang einen gesamten Politikbereich
sträflich vernachlässigt, der, Frau Schröder, darf sich
nicht wundern, wenn die Bewertung in Sachen Kinder-
und Jugendpolitik „ungenügend“ lautet.
Ulrich Schneider (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Wir reden heute spät nachts über einen bunten Strauß an
Anträgen und Berichten. Die Koalition versucht auf die-
sem Weg, ihre Versäumnisse und Baustellen unter den
Teppich zu kehren und mit wenigen, kleinen Verbesse-
rungen im Kinder- und Jugendhilfeverwaltungsvereinfa-
chungsgesetz vergessen zu machen. Vorweg, damit wir
uns nicht falsch verstehen: Die im Kinder- und Jugend-
hilfeverwaltungsvereinfachungsgesetz vorgeschlagene
Fristverlängerung, wenn im Rahmen der Eingliede-
rungshilfe in einer Pflegefamilie Kinder mit Behinde-
rung betreut werden, ist geboten und sinnvoll.
Aber schon bei der Finanzierung der Jugendorganisa-
tionen der Parteien wird planlos und parteipolitisch mo-
tiviert gehandelt. Die Regierung vollbringt hier das
Kunststück, ein Gesetz zu schaffen, das die Rechtsunsi-
cherheit bei Jugendorganisationen noch vergrößert. Da-
durch wird das Kinder- und Jugendhilfeverwaltungsver-
einfachungsgesetz zum besten Beispiel für das, was der
14. Kinder- und Jugendbericht der Regierung attestiert:
Die Lebenssituation vieler Jugendlicher hat sich in den
letzten Jahren verschlechtert, nicht verbessert.
Völlig unstrittig ist: Die Jugendlichen sind zu kurz
gekommen, ja vergessen worden. Die Belange Jugendli-
cher wurden nicht thematisiert, sondern „problemati-
siert“. Wenn diese Altersgruppe in den Fokus gerät, dann
um zur Risikogruppe stilisiert zu werden.
Der 14. Kinder- und Jugendbericht hält fest, dass es
immer noch nicht wirklich gelungen ist, die Jugend als
eigenständiges Lebensalter wahrzunehmen, die Jugend
in ihrer Gesamtheit in den Blick zu nehmen, Jugend
nicht immer problembehaftet zu diskutieren und so Ju-
gendliche abzustempeln und zu stigmatisieren. Dabei
besitzt keine andere Gesellschaftsgruppe so viel Kraft,
Engagement und Leidenschaft, wie unsere Jugend.
Schauen Sie sich doch mal in den Freiwilligendiensten
um!
Aber die Bundesregierung traut ihnen nicht und erst
recht traut sie ihnen nichts zu. Die Koalition attestiert
der jungen Generation die Unfähigkeit, eigenständig zu
denken und sich politisch zu engagieren. Als Argument
dafür muss der fraglos benötigte Ausbau von Hilfsmaß-
nahmen für junge Erwachsene herhalten. Was für eine
Arroganz!
Umgekehrt müsste als ein erster und nicht als der ein-
zige Schritt zu echter Partizipation das Wahlalter auf
mindestens 16 Jahre gesenkt werden. Diese Maßnahme
im Kampf um mehr Beteiligung wurde von den Koali-
tionsfraktionen als Feigenblatt der Jugendbeteiligung
und sogar als realitätsfern und falsch bezeichnet. Das
spricht Bände hinsichtlich des Bildes von Jugendlichen,
das ihrer Jugendpolitik zugrunde liegt. Echtes Mitent-
scheiden? Nicht mit Schwarz-Gelb!
Eine eigenständige Jugendpolitik, die diesen Namen
verdient, erfordert Maßnahmen. Wir müssen Jugendli-
che an allen politischen Entscheidungen quer durch die
Ministerien beteiligen, nicht nur bei kinder- und jugend-
spezifischen Themen. Bei allen politischen Entscheidun-
gen müssen wir uns die Frage stellen: Was bedeutet das
für die junge Generation – heute und in der Zukunft?
Dafür brauchen wir die angemessene Beteiligung der
Jugendlichen an der Politik. Denn hört man den Jugend-
lichen einmal zu und redet nicht immer nur über sie,
dann stellt man sehr schnell fest, dass sie sehr wohl in
der Lage sind, mitzuentscheiden. Aber es mangelt an
echten Entscheidungsmöglichkeiten.
Der Bericht der Bundesregierung beschäftigt sich um-
fassend mit der Situation von Kindern und Jugendlichen
in unserem Land. Es ist befremdlich, dass die europäi-
sche Perspektive komplett fehlt. Auch jugendpolitisch
müssen wir in Deutschland den Blick auf die europäi-
sche Ebene weiten. Gerade die junge Generation fühlt
sich längst nicht mehr nur als Deutsche oder Franzosen,
sondern in erster Linie als Europäerinnen und Europäer.
Trotzdem ist für die Bundesregierung anscheinend die
europäische Dimension von Jugendpolitik überhaupt
nicht von Interesse. Es darf uns doch nicht kaltlassen,
dass in unseren europäischen Nachbarländern durch im-
mens hohe Jugendarbeitslosigkeit von mittlerweile über
65 Prozent eine ganze Generation gesellschaftlich und
ökonomisch zerstört wird. Hier müssten wir dringend
unsere Solidarität unter Beweis stellen.
Es ist entlarvend, dass uns Oppositionsfraktionen vor-
geworfen wird, wir würden Forderungen stellen, die
keine Bundeskompetenz seien. Darauf kann ich nur ant-
worten: Im Gegensatz zur Koalition haben wir eine
ganzheitliche Vorstellung davon, welche Maßnahmen
Jugendliche brauchen, und schieben keine Kompetenz-
argumente vor, um echten Wandel zu verhindern. Viel-
mehr koordinieren wir uns eng mit den Ebenen, auf de-
nen andere Schritte gegangen werden müssen.
Denn genau das ist es doch, was von uns, den Politi-
kerinnen und Politikern, erwartet wird: dass wir mit Un-
terstützung von Verbänden und zivilgesellschaftlichen
Organisationen Jugendpolitik als eigenes Politikfeld eta-
blieren. Unser Antrag tut genau das: Er schafft die
Grundlage, auf der Jugendpolitik gestaltet werden kann
und beschreibt darüber hinaus konkrete gesetzliche
Maßnahmen für eine echte eigenständige Jugendpolitik.
30494 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013
(A) (C)
(D)(B)
Absolut zentral für ist dabei auch die starke Unterstüt-
zung durch Jugendverbände, weil diese Freiräume für
Jugendliche schaffen und ihnen demokratische Teilhabe
ermöglichen. Dafür muss die Politik langfristig stabile
Grundlagen schaffen. Ohne Extremismusklauseln und
Kürzungen, sondern durch Vertrauen und die nötige fi-
nanzielle Ausstattung – im Kinder- und Jugendplan.
Seit über drei Jahren diskutiert die Bundesregierung
nun schon, was eine eigenständige Jugendpolitik sein
soll, welche Grundsätze und Ziele vereinbart werden.
Jetzt ist die Zeit der Sonntagsreden vorbei, jetzt ist die
Zeit, diese Jugendpolitik auch umzusetzen. Jetzt ist die
Zeit für eine eigenständige und emanzipatorische Ju-
gendpolitik. Und nachdem Schwarz-Gelb hier vier Jahre
vertan hat, werden wir dies im Herbst angehen.
Anlage 13
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Entwürfe: Gesetz zur Ände-
rung des Gesetzes über die Kreditanstalt für
Wiederaufbau und weiterer Gesetze (Tagesord-
nungspunkt 22)
Bettina Kudla (CDU/CSU): Es ist die Koalition, die
die richtigen Schlüsse aus der Krise am Finanzmarkt ge-
zogen hat: Wir wollen und wir brauchen eine stabile
Währung.
Hierzu brauchen wir stabile öffentliche Haushalte,
eine stabile Wirtschaft und stabile Finanzmärkte.
Stabile Finanzmärkte erfordern Vertrauen, damit
diese auch funktionieren. Transparenz und klare Spielre-
geln sind hier von essenzieller Natur. Daher hat es sich
diese Koalition zur selbstverpflichtenden Aufgabe ge-
macht, dass kein Institut, kein Produkt, kein Manager im
Finanzsektor unreguliert oder unbeaufsichtigt bleiben
soll. Für Risiken kommen diejenigen auf, die diese Risi-
ken eingegangen sind. Jeder Einzelne haftet für sein
Handeln am Markt. Diesen neuen Ordnungsrahmen setzt
die Koalition seit Beginn der Wahlperiode konsequent
um.
Daher ist es ebenso konsequent, die KfW als wichti-
gen Kreditgeber für die deutsche Wirtschaft und als
wichtigen Akteur am Finanzmarkt durch die Bundesan-
stalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, BaFin, anstatt
wie bisher durch das BMF, zu beaufsichtigen. Obgleich
beaufsichtigt, berücksichtigen wir gleichzeitig den be-
sonderen Förderauftrag und belassen die KfW in der na-
tionalen Bankenaufsicht.
Mit dem Gesetz erhält die KfW erstmals echte
Rechtssicherheit über die zu erfüllenden bankenauf-
sichtsrechtlichen Auflagen, von denen sie bislang ausge-
nommen war, die sie aber zum großen Teil freiwillig ein-
hält.
Kern des Gesetzes ist der neu in das KfW-Gesetz ein-
zufügende § 12 a. Dieser bestimmt per Verordnungser-
mächtigung für das Bundesfinanzministerium im Beneh-
men mit dem Bundeswirtschaftsministerium, welche
Vorschriften zukünftig durch die KfW bzw. die KfW-
Gruppe explizit zu beachten sind. Das Rechtsmittel einer
Verordnung wurde hier gewählt, um flexibel und zeitnah
auf Veränderungen bankenaufsichtsrechtlicher Vor-
schriften oder auf Veränderungen in der „deutschen För-
derlandschaft“ reagieren zu können.
Mit dem Gesetz wird die KfW in weiten Teilen den
übrigen Kreditinstituten aufsichtsrechtlich gleichgestellt;
allerdings ohne den besonderen Förderauftrag unberück-
sichtigt zu lassen. Daher bleibt die KfW als Förderbank
von europarechtlichen Auflagen ausgenommen, obliegt
als drittgrößte Bank Deutschlands mit einer Bilanz-
summe von über 500 Milliarden Euro jedoch einer nun
gesetzlich manifestierten Aufsichtsregelung. Dies dient
der Rechtssicherheit für die KfW wie auch der Sicher-
heit für den Bund, der für die KfW garantiert. Diese Si-
cherheit ist auch im Interesse der Steuerzahler, mit deren
Steuergeldern letztendlich die Garantie untermauert ist.
Gleichzeitig bleibt die KfW weiterhin ohne Ein-
schränkung als Förderbank auch für die kleinen und
mittleren Unternehmen in Deutschland wie gehabt beste-
hen.
Entsprechend positiv hat sich der Vorstand der KfW
in der zurückliegenden Anhörung zum Gesetz geäußert:
So hält die KfW selbst eine „stärkere Annäherung [des]
Hauses an regulatorische bankenaufsichtsrechtliche Vor-
schriften für richtig und geboten.“ Dies schütze die öf-
fentliche Hand und zwinge die KfW, sich stärker zu pro-
fessionalisieren und den bankenaufsichtsrechtlichen
Vorschriften zu genügen, sofern noch nötig.
Um eine effiziente Aufsicht zu garantieren, plant die
Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, BaFin,
ein eigenes Referat mit etwa elf Stellen einzurichten so-
wie einige Stellen, die Aufgaben in Querschnittsabtei-
lungen – wie beispielsweise in der Abteilung für Geld-
wäsche – wahrnehmen.
Lassen Sie mich zusammenfassen: Dieses Gesetz ist
eine Win-win-win-Situation!
Gewonnen hat die KfW größere Rechtssicherheit.
Gewonnen hat die öffentliche Hand größere Transpa-
renz.
Gewonnen hat die Wirtschaft noch größere Sicher-
heit.
An dieser Stelle möchte ich Bundesfinanzminister
Dr. Wolfgang Schäuble zitieren: „Das Vertrauen, wel-
ches aus soliden Staatsfinanzen erwächst, ist die Grund-
lage für nachhaltiges Wachstum.“
Dieses Zitat möchte ich ein wenig erweitern: Das Ver-
trauen, welches aus soliden Staatsfinanzen und stabilen
Finanzmärkten erwächst, ist die Grundlage für nachhal-
tiges Wachstum.
Denn auch eine Vertrauenskrise an den Finanzmärk-
ten schlägt irgendwann durch auf die Wirtschaft – wie in
der zurückliegenden Wirtschaftskrise. Mit dem vorlie-
genden Gesetz setzt die Koalition einen weiteren Stein in
das tragende Fundament, auf dem unsere Wirtschaft und
unser Land aufgebaut ist: Vertrauen und Nachhaltigkeit.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013 30495
(A) (C)
(D)(B)
Familienunternehmen, der deutsche Mittelstand, klei-
nere und mittlere Unternehmen, Existenzgründer – all
diese Unternehmer sind auf starke und verlässliche Part-
ner, Investoren und Kreditgeber, angewiesen. In der
deutschen Förderlandschaft spielt hier die KfW eine
große Rolle. Ihr gesetzlich festgelegter Förderauftrag
umfasst die bereits genannte Förderung ebenso wie Pro-
gramme für Wohnungswirtschaft, Umweltschutz und In-
frastruktur. Finanzierungsprogramme für Kommunen
und regionale Förderbanken sowie die Finanzierung von
Maßnahmen zur Bildungsförderung und von Maßnah-
men mit rein sozialer Zielsetzung sind weitere Schwer-
punkte.
Das durch dieses Gesetz erreichte Mehr an Aufsicht
stärkt das Vertrauen in die Kreditanstalt für Wiederauf-
bau. Für die „Kunden“ der KfW, die zahlreichen Unter-
nehmen in Deutschland, wird der „Hafen KfW“ so noch
sicherer gemacht.
Die KfW wurde im Jahre 1948 als Anstalt des öffent-
lichen Rechts gegründet und gehört heute zu 80 Prozent
dem Bund und zu 20 Prozent den Bundesländern. Mit ei-
ner Bilanzsumme von etwa 500 Milliarden Euro ist sie
die drittgrößte Bank in Deutschland. Das Haus refinan-
ziert sich fast ausschließlich über die internationalen Ka-
pitalmärkte. Im Jahr 2011 waren dies mehr als 79 Mil-
liarden Euro. Sie hat weder eigene Filialen noch
Kundeneinlagen. Garantiert wird sie durch den Bund.
Die Größe der KfW wie auch das Volumen ihrer Refi-
nanzierungstätigkeit und die Staatsgarantie zeigen deut-
lich, dass die Kreditanstalt eines der wichtigsten Bank-
häuser des Landes mit einer „umfangreichen“
Verflechtung zu den Finanzmärkten, aber auch einer
„engen“ Verflechtung zur öffentlichen Hand ist.
Verlass und Transparenz sind daher für alle Seiten
von Vorteil und schirmen letzten Endes auch den Steuer-
zahler von möglichen Risiken ab.
Diesem Anspruch werden wir im Übrigen nicht nur
auf nationaler Ebene gerecht, sondern auch auf europäi-
scher Ebene. Mit der Verordnung über den Single Super-
visory Mechanism, die sogenannte Europäische Ban-
kenaufsicht oder Bankenunion, wollen wir die entspre-
chende Gipfelerklärung der Staats- und Regierungschefs
der Euro-Zone vom 29. Juni 2012 umsetzen.
Bedeutende Kreditinstitute und Kreditinstitute, die
Hilfen aus dem Europäischen Stabilitätsmechanismus,
ESM, oder der Europäischen Finanzstabilisierungsfazili-
tät, EFSF, erhalten, mindestens aber die drei bedeutends-
ten Institute eines teilnehmenden Mitgliedstaates, sollen
bei wichtigen aufsichtsrechtlichen Auflagen der Auf-
sicht durch die Europäische Zentralbank, EZB, unterlie-
gen.
Derzeit werden die Aufsichten durch nationale Be-
hörden – in Deutschland durch die Bundesanstalt für Fi-
nanzdienstleistungsaufsicht, BaFin, – wahrgenommen.
Als „bedeutend“ gilt ein Institut oder eine Gruppe dann,
wenn die Bilanzsumme 30 Milliarden Euro überschreitet
oder diese mehr als 20 Prozent des Bruttoinlandspro-
dukts eines Mitgliedstaates überschreitet.
Ziel dieser neuen Regelung ist die Durchsetzung ein-
heitlicher Aufsichtsstandards in den teilnehmenden Mit-
gliedstaaten, das heißt generell in den Euro-Staaten und
in den freiwillig teilnehmenden Nicht-Euro-Staaten. Mit
der verpflichtenden Zusammenarbeit von Europäischer
Zentralbank, EZB, und nationalen Aufsichten können
übernationale Gefahren im Europäischen Bankensystem
schneller erkannt und kann ihnen besser vorgebeugt wer-
den.
Die Liste dessen, was diese Koalition zur Stabilisie-
rung der Finanzmärkte geleistet hat, lässt sich weit fort-
führen.
Mit dem Trennbankengesetz schirmen wir die Kun-
den vor den Risiken spekulativer Geschäfte ab. Kreditin-
stitute bzw. die Bundesanstalt müssen Sanierungs- bzw.
Abwicklungspläne für den Krisenfall erstellen. Strafbar-
keitsregeln werden eingeführt.
Mit Basel III verpflichten wir die Banken, mehr Ei-
genkapital zu halten, und machen die Institute so stress-
resistenter.
Mit der Finanztransaktionsteuer, FTT oder FTS,
schaffen wir eine Beteiligung der Akteure an den Folge-
kosten der Finanzkrise.
Weitere beispielhafte Maßnahmen: Bankenabgabe,
Bankenrestrukturierungsfonds, Verbot von Leerverkäu-
fen, Regulierung des Hochfrequenzhandels etc.
Zusammenfassend ist der vorliegende Gesetzentwurf
über die von der KfW zu erfüllenden aufsichtsrechtli-
chen Aufgaben ein scheinbar kleiner Bestandteil in der
Finanz- und Förderlandschaft Deutschlands und Euro-
pas. Vor allem daher, weil die KfW viele dieser Auflagen
bereits freiwillig einhält. Als wichtiger Förderer für die
Unternehmen und die Menschen in Deutschland aber
geht die KfW gestärkt hervor. Klare Spielregeln und
Transparenz bieten Sicherheit für alle Seiten.
Manfred Zöllmer (SPD): Die Kreditanstalt für Wie-
deraufbau gilt nach dem Kreditwesengesetz nicht als
Kreditinstitut oder Finanzdienstleistungsinstitut im
Sinne des Kreditwesengesetzes, unabhängig von den
Geschäften, die sie tatsächlich betreibt. Der Grund für
diese gesetzgeberische Entscheidung war, dass die KfW
als nationale Förderbank und als Anstalt des öffentlichen
Rechts ein besonderes Geschäftsmodell hat und einen
gesetzlich festgelegten staatlichen Auftrag verfolgt und
daher grundsätzlich nicht mit Kreditinstituten des privat-
rechtlichen, genossenschaftlichen oder öffentlich-recht-
lichen Sektors vergleichbar ist. Vor diesem Hintergrund
ist die KfW auch von EU-Bankenrichtlinie ausgenom-
men.
Andererseits ist die KfW mit ihrer großen Bilanz-
summe von über 500 Milliarden Euro im Grunde die
drittgrößte deutsche Bank. Zwar hält die KfW bereits
heute wesentliche Aufsichtsvorschriften freiwillig ein,
um ihren gesetzlichen Auftrag sachgerecht wahrzuneh-
men und möglichst effektiv fördern zu können, aber eine
bessere Beaufsichtigung entspricht auch den Erfahrun-
gen aus der Finanzkrise.
30496 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013
(A) (C)
(D)(B)
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird das Gesetz
über die Kreditanstalt für Wiederaufbau nunmehr geän-
dert und eine effektive Beaufsichtigung rechtsverbind-
lich und transparent festgelegt. Dabei wird auch weiter-
hin die besondere Rolle der KfW berücksichtigt. Der
Gesetzentwurf ändert insoweit nichts daran, dass die
KfW auch weiterhin kein Kreditinstitut und kein Finanz-
dienstleistungsinstitut im Sinne des KWG ist und auch
weiterhin von den bankenaufsichtsrechtlichen Regelun-
gen der Europäischen Union ausgenommen wird.
Der Gesetzentwurf sieht vor, das Bundesministerium
der Finanzen gesetzlich zu ermächtigen, im Benehmen
mit dem Bundesministerium für Wirtschaft und Techno-
logie durch Rechtsverordnung festzulegen, welche
bankenaufsichtsrechtlichen Vorschriften von der KfW
beziehungsweise der KfW-Gruppe entsprechend anzu-
wenden sind.
Wie wir im Finanzausschuss ausgeführt haben, ist der
vorliegende Gesetzentwurf durchaus zu begrüßen, weil
er die bisher freiwillig vorgenommene Einhaltung von
aufsichtsrechtlichen Standards durch die KfW jetzt auf
eine gesetzliche Grundlage stellt.
Wir bleiben aber bei unserer Kritik, wonach alle
wesentlichen Punkte zukünftig im Wege der angespro-
chenen Verordnung geregelt werden, die zum jetzigen
Zeitpunkt nicht bekannt ist. Wir erwarten, dass die Aus-
gestaltung der Beaufsichtigungsanforderungen im Sinne
der im öffentlichen Fachgespräch des Finanzausschusses
herausgearbeiteten Erfordernisse erfolgen wird und hier
nicht Bundestag und Bundesrat bewusst ausgegrenzt
werden.
Wir haben auch den Änderungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen unterstützt, der eine wichtige
Konkretisierung vorgenommen hätte, die angemessen im
Rahmen des vorliegenden Gesetzentwurfs hätte geregelt
werden könnten. Seit einiger Zeit nehmen immer mehr
Pfandbriefbanken Kundeneinlagen an, so auch die Deut-
sche Pfandbriefbank pbb. Bei Pfandbriefbanken sind die
potenziellen Kosten für die Einlagensicherung aber er-
heblich höher als bei anderen Banken, da Pfandbriefban-
ken einen Großteil ihres Vermögens an Pfandbriefgläu-
biger abgetreten haben. Vor diesem Hintergrund wäre
eine weitreichendere Änderung notwendig gewesen, die
dieser Problematik Rechnung tragen würde.
Insgesamt halten wir den Gesetzentwurf aber für den
richtigen Weg und stimmen ihm zu.
Björn Sänger (FDP): Die FDP-Fraktion steht die-
sem Gesetzesabschluss positiv gegenüber. Es besteht
– mit Blick auf eine effektive Beaufsichtigung der KfW –
ein Bedürfnis, rechtsverbindlich und transparent festle-
gen zu können, welche bankenaufsichtsrechtliche Stan-
dards für die KfW entsprechend gelten. Wir stimmen
dem Vorhaben zu, die staatliche Förderbank KfW auch
weiterhin nicht unter die geplante europäische Banken-
kontrolle fallen zu lassen. Dementsprechend sieht das
Gesetzesvorhaben vor, die Bankgeschäfte des von Bund
und Ländern getragenen Instituts künftig strenger von
der Finanzaufsicht BaFin zusammen mit der Bundes-
bank überwachen zu lassen. Wir begrüßen diese klaren
Regeln.
Bei der geplanten Bankenaufsicht durch die Europäi-
sche Zentralbank, EZB, sollen Förderinstitute ausge-
nommen werden. Die KfW zählt nicht nur zu den größ-
ten Geldhäusern in Deutschland. Mit einem Gewinn von
voraussichtlich erneut mehr als 2 Milliarden Euro 2012
ist sie auch an die Spitze der ertragsstärksten Banken
Deutschlands gerückt – noch vor der Deutschen Bank.
Als öffentliche Förderbank unterliegt die KfW bisher
aber trotzdem nicht der normalen Bankenaufsicht. We-
sentliche bankrechtliche Regeln setzt die KfW allerdings
bereits auf freiwilliger Basis um.
Insofern ist es nur vernünftig, dass die KfW ange-
sichts von Größe und Komplexität der Geschäfte künftig
der BaFin-Aufsicht und teils dem KWG, unterstellt wer-
den soll. Wie eine Geschäftsbank wird sie regelmäßig
über Eigenmittel und Liquidität an die Finanzaufsicht
berichten. Es wird schlichtweg mehr Transparenz ge-
schaffen. Auch die Wirtschaft befürchtet bei diesem
Gesetz keine Einschränkungen der Fördertätigkeit der
KfW. Die BaFin nimmt diese Aufgabe auch bei anderen
Förderbanken wahr und ist dafür am besten geeignet.
Mit dem Gesetzentwurf soll diese Praxis also erwei-
tert, kodifiziert und transparent gemacht werden. Die
Regelungen werden damit verbindlich. Zentrale bank-
aufsichtsrechtliche Standards des Kreditwesengesetz,
KWG werden entsprechend auf die KfW angewendet.
Die KfW ist auch in Zukunft kein normales Kreditinsti-
tut im Sinne des Kreditwesengesetzes.
Die KfW ist jedoch somit systemrelevant. Als solches
birgt sie auch Gefahren und Risiken.
Die FDP-Fraktion sieht hier eine Möglichkeit, die
Risiken jedenfalls teilweise umzuwandeln und die Ge-
winne dabei wieder dem eigentlichem Zweck der KfW
zu gereichen. Die KfW könne künftig mehr Projekte in
der Entwicklungshilfe, beim Straßen- und Netzausbau
sowie in der Energiepolitik finanzieren, die der Bund
bisher direkt aus seinem Etat bestreitet. Diese Umvertei-
lung darf natürlich nicht die Förderfähigkeit der KfW
gefährden.
Mit dem Instrument der Verordnungsermächtigung
wird sichergestellt, dass der Verordnungsgeber die we-
sentlichen Aufsichtsvorschriften detailliert und spezi-
fisch im Hinblick auf die KfW prüfen und nur solche
Regelungen verbindlich für entsprechend anwendbar er-
klären kann, die dem gesetzlichen Förderauftrag und
dem Fördergeschäft der KfW nicht widersprechen. Zu-
dem ist das Instrument der Verordnungsermächtigung
geeignet, flexibel auf Veränderungen der bankenauf-
sichtsrechtlichen Vorschriften, insbesondere auf europäi-
scher Ebene, und auf Veränderungen der deutschen För-
derlandschaft zu reagieren.
Vor diesem Hintergrund wird in der Rechtsverord-
nung geregelt werden, dass zum Beispiel die Eigenmit-
telanforderungen, die Mindestanforderungen an das
Risikomanagement und die Vorgaben für das Kreditge-
schäft von der KfW entsprechend anzuwenden sind. Bei
der Auswahl und Anwendung der im Einzelnen gelten-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013 30497
(A) (C)
(D)(B)
den Rechtsvorschriften wird der staatliche Förderauftrag
und das besondere Geschäftsmodell der KfW Berück-
sichtigung finden. Am Gewinnausschüttungsverbot än-
dert sich durch das KfW-Änderungsgesetz nichts.
Wir können aufgrund der aufgezeigten Aufsichts-
maßnahmen und Kontrollmechanismen ein ausgewoge-
nes Verhältnis von marktwirtschaftlicher Freiheit und
Kontrolle erkennen und können dieses Gesetzesvorha-
ben somit befürworten.
Der Gesetzentwurf setzt eine Vereinbarung des Koali-
tionsvertrages um. Die KfW erhält eine wirksame Auf-
sicht, die sachgerecht ausgestaltet ist und auf die Beson-
derheiten der KfW Rücksicht nimmt. Der gewählte
Verordnungsweg ermöglicht die notwendige Flexibilität
bei diesem Vorhaben. Der Gesetzentwurf ist ein weiterer
wichtiger Baustein für eine stabile Finanzmarktarchitek-
tur in Deutschland.
Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE): Das Fachge-
spräch zur Änderung des Gesetzes über die Kreditanstalt
für Wiederaufbau im Finanzausschuss war sehr ernüch-
ternd. Die Bundesregierung will den Bundestag aus der
Regelung der Aufsicht der KfW herausdrängen. Wir
stimmen heute über die Änderung des KfW-Gesetzes ab,
ohne zu wissen, was eigentlich genau geregelt werden
soll. Wir stimmen über eine Gesetzeshülle ab. Das ist
eine Beleidigung des Parlaments.
Die konkrete Regelung der Aufsicht der KfW soll
über den Verordnungsweg erfolgen. Das Finanzministe-
rium teilte mit, dass der Verordnungsweg mehr Flexibili-
tät bieten würde als ein Gesetz.
Flexibilität ist ein scheinheiliges Argument der Bun-
desregierung, um den Bundestag bei der Gesetzgebung
auszuschalten. Im Fachgespräch wurde über eine Ver-
ordnung gesprochen, die keiner kennt. Bis zum heutigen
Tag gibt es nicht einmal einen Entwurf einer Verord-
nung. Das hat nichts mit Flexibilität zu tun, sondern mit
Verantwortungslosigkeit.
Wir können allerdings von Glück reden, dass sich die
FDP und die Marktradikalen in der CDU/CSU bei die-
sem Gesetzentwurf nicht durchgesetzt haben. Für diese
Kreise ist die staatliche Förderbank ein rotes Tuch. Für
uns ist es eine Bank, die sich positiv von den Zockerban-
ken unterscheidet. Die KfW versteht sich mit ihren Pro-
grammen als Dienstleister für Bürgerinnen und Bürger
und Unternehmen. Ich möchte hier nur den altersgerech-
ten Umbau von Wohnungen hervorheben.
Als Mitglied des Bundestages und des Verwaltungsra-
tes der KfW war ich besorgt, als die Koalition von CDU/
CSU und FDP den Griff in die Kasse der KfW plante.
Sie wollte das gesetzlich vorgeschriebene Gewinnaus-
schüttungsverbot aufheben. 1 Milliarde Euro wollte die
Koalition an Gewinnen abschöpfen, um ihre eigene
Haushaltsbilanz aufzupolieren. Offensichtlich konnte
dieser Angriff auf die KfW abgewehrt werden. Das ist
erfreulich.
Der Finanzminister versucht mit diesem Gesetz den
Bundestag und den Verwaltungsrat der KfW zu schwä-
chen und seinen eigenen Einfluss zu erhöhen. Er will mit
Verordnungsermächtigungen die KfW an die kurze
Leine nehmen. Der Minister könnte als Vorsitzender des
Verwaltungsrates, ohne Rücksprache mit dem Verwal-
tungsrat, gegenüber dem KfW-Vorstand den Willen des
Verwaltungsrates vertreten. Das ist gefährlich. So kann
die öffentlich-rechtliche Bank zum Spielball von politi-
schen Interessen werden. Die teilweise Kontrolle durch
die BaFin ist sinnvoll, wenn der Verwaltungsrat als Kon-
trollgremium einbezogen wird. Das ist bisher nicht gere-
gelt.
Wir bevorzugen das französische Modell. In Frank-
reich muss die Bankenaufsicht bei Problemen mit der
Förderbank den Verwaltungsrat der Bank einschalten.
Der Verwaltungsrat kann dann die notwendigen Maß-
nahmen ergreifen. Das Modell des Finanzministers sieht
dagegen den Direkteingriff der BaFin vor. Das wäre eine
Entmachtung des Verwaltungsrats. Im Fachgespräch
hatte ich die Vertreter der Bundesanstalt für Finanz-
dienstleistungsaufsicht, BaFin, und der Bundesbank ge-
fragt, was sie von dem französischen Modell hielten. Sie
kannten es nicht einmal. So etwas macht mich fassungs-
los. Offensichtlich halten es die BaFin und die Bundes-
bank nicht für nötig, ab und zu über den eigenen Garten-
zaun zu schauen.
Dem Gesetzentwurf sieht man an, dass sich die Koali-
tionsparteien nur noch gegenseitig blockieren. Es gibt
Regelungsbedarf, doch CDU/CSU und FDP haben daran
kein Interesse. Ich nenne nur ein Beispiel. In der FAZ
vom 17. März 2013 wird behauptet, dass der Verwal-
tungsrat über die Gehälter der KfW-Vorstände entschei-
det. Das ist nicht der Fall. Der sehr kleine Präsidialaus-
schuss entscheidet darüber. Es ist schon verlogen, wenn
die Bundesregierung über die Begrenzung der Manager-
gehälter öffentlich debattiert und die Aktionärsversamm-
lung über die Gehälter der Vorstände abstimmen lassen
will und gleichzeitig bei der staatlichen Förderbank den
Verwaltungsrat vor die Tür setzt, wenn es um die Gehäl-
ter der KfW-Vorstände geht.
Der Gesetzentwurf sieht die Entmachtung des Bun-
destages und des Verwaltungsrates der KfW vor, deshalb
lehnen wir den Gesetzesantrag der Koalitionsfraktionen
ab.
Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Mit rund 500 Milliarden Euro Bilanzsumme ist die Kre-
ditanstalt für Wiederaufbau die drittgrößte Bank in
Deutschland. Damit ist die KfW-Bilanz nahezu doppelt
so groß wie ein jährlicher Bundeshaushalt. Doch trotz
dieser Größe und Haftungszusagen des Bundes für die
KfW-Verbindlichkeiten in dieser gigantischen Höhe un-
tersteht sie nicht wie normale Banken der Aufsicht von
Bundesbank und BaFin. Auch gelten für sie bislang
nicht die Regeln des Kreditwesengesetzes.
Vielmehr sind bisher Wirtschafts- und Finanzministe-
rium dafür zuständig, auf die KfW aufzupassen. Doch
diese Aufsicht ist unzureichend. Darauf haben nicht nur
wir Grüne in den letzten Jahren immer wieder hingewie-
sen. Auch der Rechnungshof konnte „eine aktive Wahr-
nehmung der gesetzlich geregelten Aufsichtsmöglich-
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keiten gegenüber der KfW durch das BMWi nicht
nachvollziehen“ und sah Interessenkonflikte beim BMF.
Deshalb begrüßen wir es im Grundsatz auch aus-
drücklich, die KfW unter die Aufsicht von BaFin
und Bundesbank zu stellen und sie endlich dem Kredit-
wesengesetz, dem Bankenaufsichtsrecht, zu unter-
werfen.
Wir können aber nicht nachvollziehen, dass Sie uns
bis zum heutigen Tage vorenthalten, welche einzelnen
aufsichtsrechtlichen Vorschriften künftig die KfW nach
Ihren Vorstellungen erfüllen muss; denn sämtliche De-
tails regeln Sie per Rechtsverordnung – also vorbei an
Bundestag und Bundesrat. Wollen Sie mit dem vorlie-
genden Gesetz also nach außen vor allem Ihren Koali-
tionsvertrag „abarbeiten“, sind sich intern aber gar nicht
einig darüber, welche konkreten Regelungen nach dem
Kreditwesengesetz die KfW künftig überhaupt erfüllen
soll? Klar ist jedenfalls: Das eigentlich Interessante und
Wichtige, welchen Regeln denn die KfW unterworfen
werden soll, steht in dem Gesetz nicht drin. Und wir
Parlamentarier haben im Zuge der parlamentarischen
Beratung dieses Gesetzes auch nicht einmal einen Ent-
wurf der Verordnung, in der die Details geregelt werden
sollen, zu Gesicht bekommen.
Dass die schwarz-gelbe Koalition für dieses dünne
Gesetz dreieinhalb Jahre gebraucht hat, ist eine schwa-
che Leistung. Vor allem aber verschiebt sie die Verant-
wortung aus dem Bundestag raus und hin zur Regierung.
Das können wir Grünen nach den Erfahrungen mit der
unzureichenden Beaufsichtigung der KfW durch die
Ministerien nicht gutheißen!
Wieso überhaupt wird die KfW nicht einer vollum-
fänglichen, sondern nur auszugsweisen Aufsicht des
KWG unterworfen? Immerhin unterliegen die Landes-
förderbanken vollständig dem KWG und der Aufsicht
von Bundesbank und BaFin. Warum der KfW hier ein
Sonderprivileg eingeräumt werden soll, konnten bisher
weder Sie von der Bundesregierung noch der KfW-
Vorstandsvorsitzende im Rahmen der Anhörung
überzeugend darlegen. Wir Grünen waren immer für das
Argument offen, dass es Bereiche der KfW gibt, die
sinnvollerweise nicht den normalen bankenaufsichtli-
chen Regelungen unterworfen werden sollten, oder dass
es einzelne Regelungen im Kreditwesengesetz gibt, die
für die KfW nicht passen. Das muss man aber dann im
Einzelnen auch überzeugend begründen. Und diese Be-
gründung haben Sie nicht geliefert.
Auch die Neuregelungen zum Verwaltungsrat sind
vor allem fragwürdig und schwächen dieses wichtige
Kontrollorgan eher, als dass sie es stärken. So kann der
Verwaltungsrat künftig nur noch allgemeine und keine
besonderen Weisungen mehr an den Vorstand erlassen.
Außerdem werden Sie dem Anspruch Ihres Koalitions-
vertrags, die „Verwaltungs- und Aufsichtsstrukturen der
KfW deutlich zu straffen“, nicht gerecht. Dazu wäre
dann wohl eine Verkleinerung des Verwaltungsrates, der
mit fast 40 Mitgliedern völlig überdimensioniert ist, er-
forderlich. Warum macht die Koalition denn da gar
nichts?
Die eigenen Ziele zu erreichen, übersteigt immer wie-
der die Kraft dieser Koalition. Der vorliegende Gesetz-
entwurf ist ein weiterer Beleg dieses Befundes. Sie lie-
fern gerade noch die richtigen Überschriften. Aber die
konkreten Inhalte sind – wie schon so oft – schlicht man-
gelhaft.
Sie nehmen hier ferner in Art. 3 eine Änderung des
Einlagensicherungs- und Anlegerentschädigungsgeset-
zes vor, mit der – Zitat aus dem Gesetz – „zukünftig die
beitragsmindernde Berücksichtigung von Sonderposten
für allgemeine Bankrisiken nach § 340 HGB einge-
schränkt werden kann“. Hierzu darf ich die Bundesbank
aus der Anhörung zitieren: „Für uns ist diese Regelung
nicht klar. Von daher können wir auch nicht abschätzen,
welche Auswirkungen das hat.“ Wenn also noch nicht
einmal die Bundesbank diese Neuregelung nachvollzie-
hen und abschätzen kann, ist das aus unserer Sicht sehr
bedenklich.
Insgesamt lehnen wir Ihren Gesetzentwurf aus den
genannten Gründen ab.
Anlage 14
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Vierten Geset-
zes zur Änderung des Energieeinsparungsgeset-
zes (Tagesordnungspunkt 24)
Franz Obermeier (CDU/CSU): Ich denke, wir ha-
ben einen weiteren wichtigen Schritt auf dem guten Weg
der Energiewende geschafft. Konkret müssen wir hier
die Vorgaben der EU-Gebäuderichtlinie umsetzen.
Mich freut, dass es mit dem Energieeinsparungsge-
setz gelungen ist, hierbei einen ausgewogenen Ausgleich
zu erzielen zwischen notwendiger und vorgegebener
Energieeinsparung und den finanziellen Belastungen der
Bürgerinnen und Bürger. Insbesondere liegen die not-
wendigen Maßnahmen alle in der Zukunft, sodass aus-
reichend Planungszeit und Planungssicherheit beim Kos-
teneinsatz besteht.
Erstens gibt es keine Verschärfung im Bestand, also
keine Nachrüstpflichten. Die Anforderungen bleiben in
diesem Punkt auf dem Stand der EnEV 2009. Insbeson-
dere wird es nach jetzigem Stand auch keinen zwangs-
weisen Heizungsaustausch geben.
Zweitens erfolgen die Verbesserungen bei den Effi-
zienzstandards für Wohngebäude in zwei moderaten Stu-
fen jeweils um 12,5 Prozent – 2014 und 2016 –, bei
Nicht-Wohngebäuden um jeweils 15 Prozent.
Und drittens entlasten die Maßnahmen langfristig von
Energiekosten und wirken weiteren Steigerungen entge-
gen.
Ein äußerst umstrittener Punkt sind die Nachtspei-
cheröfen. Bisher profitieren Nachtstromheizer von
einem reduzierten Netzentgelt von 1,5 Cent je Kilo-
wattstunde gegenüber Haushaltsstrom: 6,5 Cent je Kilo-
wattstunde und einer Sonderkonzessionsumlage von
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013 30499
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0,1 Cent je Kilowattstunde statt 1,79 Cent je Kilowatt-
stunde für den regulären Haushaltsstrom.
Diese Privilegierung von Nachtspeicheröfen wurde
vom alten Strommarktdesign her gedacht, in dem
Grundlastkraftwerke Tag und Nacht durchlaufen. Um
eine gleichmäßigere Abnahme auch während der Nacht
zu erreichen, reizten unterschiedliche Tag- und Nacht-
tarife das nächtliche Speichern von Strom an.
Nun steht nach der EU-Richtlinie Energieeinsparung
im Vordergrund. Heizen mit Strom, zumal mit alten
Nachtspeichergeräten steht da nicht so gut da.
Andererseits sind wir im Zuge der parlamentarischen
Beratungen wieder bei dem Punkt energiewirtschaftliche
Speicherkapazitäten angelangt. Angesichts der Volatili-
tät der neuen Energien gibt es hier eine neue Sichtweise.
So erprobt RWE derzeit ein neues Steuerungskonzept für
Stromspeicherheizungen. Bei viel günstigem Windstrom
im Netz wird die Heizung aufgeladen und nimmt Strom
ab, wenn wenig Nachfrage besteht. Es gibt derzeit ein
laufendes Projekt mit 50 Kunden in Essen. Deshalb
wurde das aktuell diskutierte Nachtspeicherheizungs-
verbot erst einmal wieder aufgehoben, auch als ein wich-
tiges politisches Signal, um technologische Pilotprojekte
anzureizen.
Das Verbot nach §10 a EnEV 2009 greift ab 2020 und
gilt für dann mindestens 30 Jahre alte Anlagen. Es be-
trifft große Geschosshäuser mit Nachtstromöfen. Häuser
mit ein bis fünf Wohneinheiten sind nicht betroffen, so-
dass auch soziale Aspekte berücksichtigt werden. Bis
2020 können Nachtspeicherheizungen weiter eingebaut
werden und 30 Jahre laufen, das heißt, dass schon nach
geltendem Recht Nachtspeicheröfen bis Ende 2049 lau-
fen können. Angesichts der Zunahme des Anteils um-
weltfreundlicher erneuerbarer Energien an der Stromer-
zeugung ist diese Herangehensweise gut vertretbar.
Weitere Änderungen:
Ab 2021 müssen Neubauten als Niedrigstenergie-
gebäude errichtet werden. Das gilt bereits ab 2019 für
Behördengebäude, also Gebäude der öffentlichen Hand,
die nicht zu Wohnzwecken dienen.
In Verkaufs- und Vermietungsanzeigen wird es
Pflicht, den Energiekennwert des Gebäudes gemäß Ener-
gieausweis anzugeben.
In größeren Läden, Hotels, Kaufhäusern, Restaurants
mit starkem Publikumsverkehr muss ein Energieausweis
sichtbar ausgehängt werden.
Es werden Stichprobenkontrollen auf Baustellen von
Neubauten seitens der zuständigen Behörde – Vollzug
erfolgt durch die Länder – eingeführt. Ebenso werden
ein unabhängiges Stichprobenkontrollsystem für Ener-
gieausweise eingeführt sowie Berichte über die Inspek-
tion von Klimaanlagen.
Alle diese Maßnahmen verschärfen den Blick auf ei-
nen schonenden Umgang mit der Ressource Energie und
vermeiden schädlichen CO2-Ausstoß. Das ist gut für uns
alle.
Volkmar Vogel (Kleinsaara) (CDU/CSU): Die Ener-
gieeinsparverordnung geht uns alle an. Denn das, was
hinter diesem Begriff „EnEV“ steckt, betrifft sowohl alle
Mieter als auch all diejenigen, die in ihrem eigenen Haus
wohnen oder als klein- bzw. gewerbsmäßige Vermieter
tätig sind.
Fakt ist: 40 Prozent des Energiebedarfs brauchen und
verbrauchen wir für die Heizung in unseren Wohnungen.
Fakt ist auch: Diesen Verbrauch müssen wir bis 2050 um
mindestens 80 Prozent senken.
Heute debattieren wir im Zusammenhang mit dem
Energieeinspargesetz auch die novellierte Energieein-
sparverordnung 2012 im Deutschen Bundestag in zwei-
ter und dritter Lesung. Hierbei folgte die Bundesregie-
rung mit ihrem Entwurf unseren politischen Vorgaben
der christlich-liberalen Koalition, wenn es darum geht,
die EnEV richtig zu machen.
Für uns als christlich-liberale Koalition ist vor allem
eines klar: An erster Stelle steht das Wirtschaftlichkeits-
gebot. Das, was wir Bauherren und Investoren vorschrei-
ben, muss sich in wirtschaftlich vertretbaren Zeiträumen
refinanzieren.
Genauso wichtig ist es, wenn wir über die Wirtschaft-
lichkeit reden, denjenigen, die es umsetzen müssen, ei-
nen möglichst breiten Spielraum zu geben. Wir wollen
keine Technologien und Techniken vorschreiben. Viel-
mehr wollen wir dies den Akteuren vor Ort – je nach re-
gionalen und spezifischen Bedingungen – überlassen.
Wenn wir heute über die Novelle des Energieeinspar-
gesetzes und damit auch über die EnEV 2012 abstim-
men, möchte ich daran erinnern, dass wir in kurzer Ab-
folge in den letzten Jahren die EnEV 2007 und 2009 auf
den Weg gebracht hatten. Ich will damit sagen: Es ist
Zeit – und dies ist ein weiterer Grundsatz von uns –, den
Akteuren Planungssicherheit zu geben.
Die EnEV 2012 soll nach unserem festen Willen für
einen Zeitraum von fünf bis sieben Jahren anwendbar
bleiben. Die maßvolle Erhöhung der Standards für den
Neubau in zwei Stufen von jeweils 12,5 Prozent Einspa-
rung des Primärenergiebedarfs bis 2014 bzw. bis 2016 ist
der richtige Ansatz. Uns ist klar, dass wir damit in den
Grenzbereich der Wirtschaftlichkeit kommen; deswe-
gen halten wir auch eine Verschärfung um jeweils
10 Prozent bei der Außendämmung für ausreichend.
Wir wollen keine energetische Sanierungspflicht für
die Bestandsgebäude haben. Das unterscheidet uns maß-
geblich von SPD und Grünen.
Einen Sanierungszwang im Bestand halten wir nicht
nur für nicht sinnvoll, sondern sogar für kontraproduktiv.
Die aus einem solchen Zwang resultierenden Belastun-
gen können vor allem die vielen Hauseigentümer mit
kleinen Einkommen nicht stemmen. Sie mussten bereits
in den letzten Jahrzehnten viel Geld in die Hand neh-
men, unter anderem für Wasser- und Abwasserbeiträge
oder für Straßenausbaubeiträge. Eine weitere von uns
verursachte Zahlungswelle hieße unter Umständen, das
eigene Wohneigentum aufgeben. Von daher lautet unser
Ansatz: Beratung und Information sowie Förderung frei-
30500 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013
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williger Sanierungsmaßnahmen auch im energetischen
Bereich.
Darum werden wir dafür sorgen, dass die finanzielle
Ausstattung der CO2-Gebäudesanierungsprogramme bis
2014 gesichert bleibt. Zudem haben wir weitere
300 Millionen für die nächsten acht Jahre zusätzlich in
diese Programme gespeist.
Wenn SPD und Grüne mit ihrem Willen zur Verbesse-
rung der Energieeffizienz Ernst machen würden, hätten
sie die Abschreibungsmöglichkeiten für die energetische
Sanierung nicht blockiert. Liebe Kolleginnen und Kolle-
gen von SPD und Grünen, ich fordere Sie hiermit auf:
Setzen Sie das Thema erneut auf die Tagesordnung und
folgen Sie den Vorschlägen von CDU/CSU und FDP.
Erforderlich geworden ist die Fortschreibung der
EnEV, weil wir die EU-Gebäuderichtlinie umsetzen
müssen. Das betrifft den Neubaustandard, der ab 2019
für öffentliche Gebäude und ab 2021 für alle anderen
Neubauten dem Niedrigstenergiehausstandard der EU
entsprechen soll.
Energieausweise sollen bei Vermietung und Verkaufs-
angeboten vorliegen und beim Abschluss von Verträgen
übergeben werden. Energetische Kennwerte sind bei öf-
fentlichen Gebäuden und Gebäuden mit öffentlichem
Charakter, wie zum Beispiel Kinos und Theatern, im
Eingangsbereich auszuhängen. Das ist aus unserer Sicht
ein vertretbarer Aufwand und heißt auch bessere Infor-
mation für die Bürger.
Die Bundesregierung hat bei der Erarbeitung des Ent-
wurfs intensiv mit den Bundesländern und den Verbän-
den zusammengearbeitet. Unser Ausschuss hat sich in
zwei Sitzungen und einer Anhörung intensiv mit dem
Thema befasst. Der Bundesrat fordert unter anderem
eine umfangreichere Auswertung von Gebäudedaten un-
ter strikter Beachtung des Datenschutzes. Das hilft, die
Wirkung der EnEV zu dokumentieren, und wird deshalb
von uns unterstützt.
Wir sollten die Definition des Niedrigstenergiehaus-
standards nicht übers Knie brechen, sondern den Markt
der Forschung, Entwicklung und praktischen Umsetzung
genau beobachten und dann diese Standards festlegen.
Doch die öffentliche Hand braucht Planungssicherheit,
wenn sie diesen Standard schon 2019 anwenden muss.
Deswegen wollen wir der Forderung des Bundesrates
folgen und die Definition des Niedrigstenergiegebäudes
für Behördengebäude bis Anfang 2017 erarbeiten.
Außerdem wollen wir mit den heutigen Beschlüssen
das Verbot für elektrische Speicherheizungssysteme
aufgeben. Der § 10 a wird ersatzlos gestrichen. Mit den
Entscheidungen zur Energiewende im Jahr 2011 wurden
erneuerbare Energien und Speicherkapazitäten zu Fun-
damenten der Energieversorgung. Neue, intelligente
Stromspeicherheizungen leisten dazu einen wichtigen
Beitrag, der noch vor fünf Jahren so nicht abzuschätzen
war.
Zum Schluss noch ein Wort zum Sanierungsfahrplan
bis 2050: Diese EnEV ist ein Baustein davon. Sie zeigt
den ordnungspolitischen Rahmen für dieses Jahrzehnt
auf. Sie formuliert zudem das Ziel des Niedrigstenergie-
hausstandards ab dem nächsten Jahrzehnt. Wir werden
im Zusammenwirken mit allen Akteuren diesen Sanie-
rungsplan weiterentwickeln und als Handlungsempfeh-
lung fortschreiben. Dazu gehört auch das zukünftige
Zusammenspiel zwischen EnEV und Erneuerbare-Ener-
gien-Wärmegesetz. Wir haben mit großem Interesse zur
Kenntnis genommen, dass in der SPD ein Umdenken
Raum gegriffen hat. Sie spricht sich in einem ihrer An-
träge für die Zusammenführung von EnEV und EEWär-
meG in einem Regelwerk aus. Das begrüßen wir. Ebenso
unterstützen wir die Ansicht der SPD, die Zuständigkeit
dafür im Bundesverkehrsministerium anzusiedeln, da
auch nach unserer Ansicht dieses Thema etwas zu tun
hat mit Baustoffen, Haustechnik, Bautechnologie, kurz:
dem Gebäudesystem in seiner Gesamtheit. Wir werden
dieses Thema in den nächsten Monaten wieder auf die
Tagesordnung setzen.
Nun aber gilt unser Ziel zunächst dem Klima, der Be-
lebung der Wirtschaft und der Planungssicherheit für die
Bauherren. Deshalb werden wir mit den Änderungen die
überarbeitete EnEV zügig verabschieden.
Wir bitten die Opposition, dem Gesetzentwurf mit
den Änderungen zuzustimmen, damit noch vor dem
Sommer der Bundesrat abschließend beraten kann und
somit Planungssicherheit für die Akteure am Markt
besteht. Das hilft dem Klima, der Wirtschaft und den
fleißigen Handwerkern in den Regionen.
Michael Groß (SPD): Die Energieeinsparverordnung
(EnEV) sowie das Energieeinsparungsgesetz (EnEG)
sollen laut Aussage des Bundeswirtschaftsministeriums
und des Bundesverkehrsministers ein wesentliches
Instrument der Energieeffizienzpolitik der Bundesregie-
rung bilden. Da war es in der vergangenen Sitzungswo-
che schon ein besonderes „Schmankerl“, dass die
schwarz-gelbe Koalition auf Anforderung der FDP-
Fraktion den Kabinettsbeschluss des eigenen Wirt-
schaftsministers stoppte – ein Kabinettsbeschluss, der
wohlgemerkt bereits am 6. Februar öffentlich gemacht
wurde.
Obwohl der Entwurf der EnEV auf dem Weg zum eu-
ropäischen Niedrigstenergiegebäude in gemäßigten
Schritten vorangeht, entdeckte die FDP-Fraktion plötz-
lich angeblich den Mieterschutz und warnte vor Verteue-
rungen im Wohnen. Ein durchaus ungewohntes Bild,
welches wesentlich sinnvoller angewandt worden wäre
bei der Mietrechtsnovelle, aber leider völlig ausblieb.
Hier wäre es deshalb sinnvoll gewesen, weil die Koali-
tion die soziale Funktion des Mietrechts erhalten und
nicht ausgehöhlt hätte. Jetzt ist es nur noch die Bloßstel-
lung des eigenen Ministers.
Trotzdem scheinen sich die Koalitionspartner doch
noch einig geworden zu sein.
Mit der Novelle von EnEV und EnEG sollen die Vor-
gaben der Richtlinie des Europäischen Parlaments und
des Rates über die Gesamtenergieeffizienz von Gebäu-
den (2012/31/EU) umgesetzt werden. Viel zu spät han-
delt die Bundesregierung. Die EU hat die Umsetzung der
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Richtlinien längst angemahnt. Die Bundesregierung ist
seit einem Jahr in Verzug. Ausgerechnet „Energiewende-
deutschland“ droht nun eine Vertragsstrafe, weil das Re-
gierungskabinett der Kanzlerin nicht in der Lage ist, EU-
Vorgaben fristgerecht umzusetzen.
Mit dem 4. Gesetz zur Änderung des Energieeinspa-
rungsgesetzes werden zum einen die gesetzlichen Er-
mächtigungsgrundlagen für die aktuelle EnEV-Novelle
und wird zum anderen die grundsätzliche Pflicht zur
Errichtung von Neubauten im Niedrigstenergiegebäude-
standard mit Wirkung ab 2019 für Behördengebäude und
ab 2021 für alle übrigen Neubauten eingeführt. Die klare
Definition des Niedrigstenergiestandards wird erst in
den kommenden Jahren festgelegt werden. Hier kann ich
der Bundesregierung nur raten, den Anträgen der SPD-
Bundestagsfraktion sowie den Empfehlungen des Bun-
desrates zu folgen und die Frist für die Definition nicht
voll auszuschöpfen, um zeitig Planungssicherheit für die
Hausbesitzer, Bauwirtschaft und Akteure am Markt zu
schaffen.
Wir – die SPD-Bundestagsfraktion – begrüßen, dass
in der Novelle der EnEV auf Verschärfungen der Stan-
dards für die Bestandsgebäude verzichtet wurde.
Unlogisch bleibt die Entscheidung für das zweistufige
Modell der Anhebung der Effizienzstandards für Neu-
bauten in 2014 und 2016 um jeweils 12,5 Prozent. Ich
halte dies für Augenwischerei und praxisfern. Welcher
Bauherr soll denn 2014 Baustandards realisieren – wohl
wissend, dass diese bereits zwei Jahre später veraltet
sein werden? Hier hält die SPD-Bundestagsfraktion, ge-
nau wie viele Länder, eine einstufige Anhebung der Effi-
zienzstandards für ehrlicher und realistischer. Die Aus-
einandersetzung im Bundesrat über die Höhe der
Anhebung der Energieeffizienzstandards bleibt weiter-
hin spannend, da Bayern lediglich eine Anhebung von
maximal 15 Prozent fordert, ganz im Gegensatz zu den
Vorschlägen des zuständigen Ministers. Ich möchte hier
darauf hinweisen, dass die Höhe der Anhebung der Stan-
dards gut überlegt sein sollte. Das Ziel ist für 2019 bzw.
2021 festgelegt. Ein zu geringer Ansatz verschiebt die
Problematik nur wenig und verschärft nach 2016 die
Situation um so mehr.
Die Frage des Energieausweises wird leider mit dem
heutigen Gesetzesentwurf nicht gut geklärt. Die Rege-
lungen nach Bedarf und Verbrauchsausweisen bleiben
unangefochten stehen und tragen weiter zur Verwirrung
der Verbraucher bei. Die hausgemachte Intransparenz
des Systems bleibt bestehen. Wir fordern daher dringend
eine Vereinheitlichung der Berechnung der Energieaus-
weise. Außer wenigen Fachleuten ist kein Laie wirklich
in der Lage, die unterschiedlichen Berechnungen nach-
zuvollziehen oder auf Anhieb zu verstehen. Wichtiger
wäre es beispielsweise vergleichende Bezugsgrößen ein-
zubeziehen. Eine vierköpfige Familie hat sicher einen
höheren Energiebedarf als eine zweiköpfige Familie in
der gleichen Wohnung; jemand, der ganztägig daheim
ist, hat einen anderen Verbrauch als jemand, der zwölf
Stunden unterwegs auf Arbeit ist, und so weiter. Ver-
ständlich und einfach für den Nutzer ist auch ein Labe-
ling – ähnlich der bereits vorhandenen Energielabel. Ers-
tens hat dies bereits einen Wiedererkennungswert und ist
einfach zu handhaben. Es sollte allerdings nur eine Istzu-
standsbeschreibung sein, die einfach und transparent
darstellt, welche energetischen Bedingungen jeweils
vorliegen.
Nicht zu verstehen ist, warum für Altmieter nicht
auch ein Energieausweis ausgestellt werden kann. Die
Daten müssen bei Neuvermietung sowieso verpflichtend
nach der jetzigen Gesetzesgrundlage erhoben und vorge-
legt werden. Der Mehraufwand wäre minimal, und für
eine einheitliche Verbrauchersystematik ist es unver-
ständlich, warum bereits bestehende Mietverhältnisse
nicht auch einen solchen Energieausweis erhalten und
somit schlechtergestellt werden.
Insgesamt bleiben die EnEV und das EnEG ein Bau-
stein, aber nicht die alleinige Lösung für die Umsetzung
von Energieeffizienz- und Energieeinsparzielen im Ge-
bäudebereich. Die vorgeschriebenen Maßnahmen wer-
den nur greifen, wenn gleichzeitig der richtige Anreiz
und die richtige Unterstützung durch Förderprogramme
der Bundesregierung erfolgt. Und hier ist der große Ha-
ken. Mit dem Energie- und Klimafonds hat sich
Schwarz-Gelb ein Finanzloch gegraben. Die Einnahmen
für den Fonds aus dem CO2-Zertifikatehandel gehen
massiv zurück, und somit bricht die Finanzierung für das
KfW-Förderprogramm der CO2-Gebäudesanierung und
des energetischen Bauens zusammen. Die Förderung des
Quartiersansatzes der energetischen Stadtsanierung
kommt ebenfalls in Bedrängnis. Die wichtigen Klima-
schutzziele rücken in weite Ferne. Wir wissen bereits
länger, dass sich energetische Sanierung auch langfristig
nicht durch die eingesparten Energiekosten amortisiert.
Daher sind Anreize dringend notwendig. Ebenso ist es
notwendig, dass der Staat gezielt dort mit Förderzu-
schüssen ansetzt, wo sonst die energetisch notwendigen
Maßnahmen aus rein finanziellen Hinderungsgründen
nicht durchgeführt werden können, und dass Härten ab-
gefedert werden. Nur so wird eine Umsetzung der Ziele
erfolgreich sein.
Der ganzheitliche Quartiersansatz – auch im Zusam-
menhang mit Barrierefreiheit, sozialer und ausgewo-
gener Wohnumfeldgestaltung sowie einer an den
demografischen Wandel angepassten Strategie der Stadt-
entwicklung – kann durch die EnEV oder das EnEG
nicht geleistet werden. Das wird aber auch in keinster
Weise von der Bundesregierung bedacht.
Hier zeigt sich eine weitere Schwäche der Fortschrei-
bung der EnEV: Die EnEV ist mittlerweile derart über-
frachtet, dass in der Expertenanhörung im Fachaus-
schuss gleich von mehreren Sachverständigen darauf
hingewiesen wurde, dass die EnEV in der heutigen Form
sogar ungeeignet ist für die Umsetzung der Effizienz-
und Einsparziele im Gebäudebereich. Hier muss endlich
über den Tellerrand geschaut werden. Die unterschiedli-
chen gesetzlichen Grundlagen für die energetische
Gebäudebeschaffenheit, wie EnEG und EnEV sowie
das Erneuerbare-Energien-Wärme-Gesetz, EEWärmeG,
müssen unter der Federführung des Bundesministeriums
für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung mittelfristig zu-
sammengeführt und Möglichkeiten der stärkeren Vernet-
30502 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013
(A) (C)
(D)(B)
zung mit dem Ansatz des Energieeffizienten Quartiers
gefunden werden.
Wer Gebäude saniert, weiß, dass er dies in 20 Jahren
oder mehr nur einmal machen wird. Hierbei spielt die Fi-
nanzierung, aber natürlich auch die sonstige Belastung
eines solchen Vorhabens eine wesentliche Rolle. Daher
ist es wichtig, dass Aspekte wie altengerechte Anpassun-
gen, Barrierefreiheit mit berücksichtigt und mit der ener-
getischen Sanierung kombiniert werden. Dies gilt für
den einzelnen Hausbesitzer ebenso wie für die Sanierung
ganzer Wohnblöcke. Gerade weil jeder Euro nur einmal
ausgegeben werden kann, ist ein effektiver Mitteleinsatz
geboten ebenso wie ein sinnvolles Ineinandergreifen der
Maßnahmen. Wir haben deshalb vorgeschlagen, die Mit-
tel für die energetische Stadtsanierung nicht nur aus dem
EKF in den Haushalt zurückzuführen und aufzustocken,
sondern in die Städtebauförderung zu integrieren. Der
Quartiersansatz spielt bereits jetzt eine wesentliche Rolle
in den Kommunen (Städten und Gemeinden). Es gilt, die
vor Ort geeignetsten Wege zu finden, um Energie spar-
sam zu verwenden, effizient einzusetzen und regenerativ
ins Quartier zu bringen. Nur durch diesen Dreiklang
kann im Gebäudebestand die Energiefrage gelöst wer-
den. Ein alleiniges Verschärfen der Standards wird nicht
zum Erfolg führen. Leuchtturmprojekte sind nicht nur
teuer in der Umsetzung, sondern sind auch meist nicht
alltagstauglich.
Sebastian Körber (FDP): Die beste Energie ist die,
die nicht verbraucht wird. Effizienz und Einsparung von
Energie im Gebäudebereich sind daher entscheidende
Eckpfeiler in unserem Fahrplan zur Verwirklichung der
Energiewende. Auch das vorliegende Energieeinspa-
rungsgesetz, EnEG, dient diesem Ziel, denn damit wird
die EU-Richtlinie über die Gesamteffizienz von Gebäu-
den in deutsches Recht umgesetzt.
Durch das EnEG werden die Voraussetzungen ge-
schaffen, um die zur Richtlinienumsetzung noch zu re-
gelnden Aspekte in die Energieeinsparungsverordnung,
EnEV, aufzunehmen. Anlass für die Änderung der EnEV
sind – neben der Umsetzung dieser neu gefassten EU-Ge-
bäuderichtlinie – auch die Beschlüsse der Bundesregie-
rung zum Energiekonzept und zur Energiewende, soweit
diese das Energieeinsparrecht für Gebäude betreffen.
Darüber hinaus soll ab 2019 die Einführung des Nied-
rigstenergiestandards für Gebäudeneubauten, die von
Behörden als Eigentümer genutzt werden, beziehungs-
weise ab 2021 generell für alle neu zu errichtenden Ge-
bäude verankert werden.
Die gewählte offene Umsetzung ist eine vernünftige
Lösung, um der geänderten EU-Gebäuderichtlinie zu
entsprechen. Richtig ist insbesondere der in der Begrün-
dung aufgegriffene Ansatz, dass der sehr geringe Ener-
giebedarf nicht absolut betrachtet werden darf, sondern
auf die jeweilige Gebäudenutzung abzustellen ist. Dies
gilt auch für die Auffassung, dass erneuerbare Energien
nur so weit möglich eingesetzt werden müssen.
Die Änderung des EnEG betrifft insbesondere die Re-
gelung von Kontrollmaßnahmen bei Neubauten zur Ein-
haltung der EnEV-Anforderungen – beabsichtigt sind ob-
ligatorische Stichprobenkontrollen bei Neubauten durch
die Länder –, die Einführung eines europarechtlich vor-
gegebenen Stichprobenkontrollsystems für Energieaus-
weise und Inspektionsberichte über Klimaanlagen, meh-
rere ebenfalls europarechtlich bedingte Vorgaben, die das
Instrument des Energieausweises stärken, die Vorbild-
funktion bei Behördengebäuden schon ab 2017 sowie
strikter Datenschutz bei Gebäudedatenauswertung.
Die Koalitionsfraktionen haben im Rahmen der Bera-
tung auch eine nicht mehr zeitgemäße Regulierung ge-
strichen, die aus der Zeit vor der Energiewende stammt.
Die Verordnungsermächtigung zur zwangsweisen Au-
ßerbetriebsetzung von Nachtspeicherheizungen entfällt.
Hausbesitzer können wieder frei entscheiden, wann sie
ihre Heizungsanlage austauschen. Damit setzen wir als
FDP ein Wahlversprechen um.
Keine Frage: Gerade im Gebäudebestand gibt es noch
große Potenziale. Hier wird noch viel zu viel Energie
verschwendet, und das bedeutet zugleich: Bares Geld
wird sprichwörtlich nutzlos aus dem Fenster – und durch
die restliche Gebäudehülle – schlecht isolierter Häuser
geworfen; übrigens nicht zuletzt begünstigt durch alte
Heizungsanlagen und fehlende innovative Gebäudetech-
nik, obwohl Deutschland hier Weltmarktführer ist. Ge-
rade die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen wer-
den dadurch überproportional belastet. Ich denke, da
sind wir uns einig.
Es kommt wie immer auf die Definition neuer Ener-
giestandards an – das EnEG ist sicher kein Freibrief für
eine überzogene EnEV: Die momentan intensiv im Bun-
desrat beratene EnEV-Novelle sieht vor, die energeti-
schen Anforderungen für den Neubaubereich um insge-
samt 25 Prozent in zwei Stufen bis 2016 zu verschärfen.
Ich sehe das in Höhe und Umsetzung für im Grenzbe-
reich des wirtschaftlich Zumutbaren und wünsche mir
Nachbesserungen. Ich kann mir 15 Prozent in nur einer
Stufe vorstellen. Wenn sich die Anforderungen erhöhen,
schlägt sich das auf die Mieten nieder, bei Neubauten
kann das schnell eine Baukostensteigerung um 5 Prozent
oder mehr ausmachen. Gerade für den notwendigen Ge-
schosswohnungsneubau in Ballungsräumen entstehen
damit ungünstige Rahmenbedingungen, und letztlich
droht eine politisch ja wohl kaum gewollte Mietenver-
teuerung. Gleichermaßen erschweren diese Kostenstei-
gerungen den Wohneigentumserwerb, insbesondere bei
Einfamilienhäusern. In der öffentlichen Anhörung des
Bauausschusses wurden meine Bedenken durch die
Sachverständigen der gesamten Wohnungswirtschaft so-
wie des Städtetages bestätigt. Die FDP-Fraktion hat in
diesem Zusammenhang – die EnEV steht ja nicht zur
Beratung hier im Hause an – deutlich bekundet, dass sie
überzogene Anforderung ablehnt. Ich bin zuversichtlich,
dass dieses Signal angekommen ist und auch bei den ab-
schließenden Beratungen im Bundesrat, bei denen sicher
noch einiges bewegt wird, Widerhall findet.
Ich fühle mich jedenfalls in meiner Haltung nicht nur
durch die Immobilienwirtschaft bestätigt, zumal auch
die Bayerische Staatsregierung bereits angekündigt hat,
man werde bei der EnEV-Novellierung sehr genau da-
rauf achten, unvertretbare Belastungen zu vermeiden.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013 30503
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(D)(B)
Die Planungen des Bundes, die primärenergetischen An-
forderungen um 25 Prozent erhöhen, bewertet der für Woh-
nungsbau zuständige Innenminister Joachim Hermann,
CSU, mit bemerkenswert deutlichen Worten. Zitat aus
einer Pressemitteilung von heute: „Das ist grober Un-
fug.“ Also, liebe Kollegen der CSU, ich hätte es freund-
licher ausgedrückt, aber die Tendenz teile ich ausdrück-
lich! FDP und CSU Hand in Hand – das ist eben auch in
dieser Frage gut für den Bund und gut für Bayern!
Wir müssen die Menschen bei unseren Entscheidun-
gen mitnehmen und dürfen sie nicht überfordern. Denn
was wir sicher nicht wollen, ist, dass eine Anhebung der
Anforderungen zu einer Verlangsamung der Sanierungs-
dynamik führt. Unser Ziel bleibt, dass sich möglichst
viele Gebäudeeigentümer freiwillig und ohne Zwang für
einen energetischen Standard entscheiden, der besser ist
als das Ordnungsrecht. Dafür wird von uns das erfolgrei-
che CO2-Gebäudesanierungsprogramm mit jährlich
1,5 Milliarden Euro Finanzausstattung als Zugpferd der
Energiewende intensiviert. Seit Jahresbeginn werden zu-
sätzlich für Zuschüsse – insbesondere an selbstnutzende
Eigentümer – für acht Jahre jährlich 300 Millionen Euro,
insgesamt also 2,4 Milliarden Euro, aus Bundesmitteln
bereitgestellt. Die steuerliche Förderung der energeti-
schen Sanierung, der „schlafende Riese“ mit riesigen
Potenzialen für die Gebäude der 50er-, 60er- und 70er-
Jahre, ist ja am rot-grünen Widerspruch im Bundesrat
gescheitert! Damit stehen 2013 und 2014 jährlich
1,8 Milliarden Euro allein für diese KfW-Programme für
Zinsverbilligungen und direkte Tilgungszuschüsse zur
Verfügung.
Für die kommende Legislaturperiode wäre es sinn-
voll, als Beitrag zu Verständlichkeit, Vereinfachung und
insbesondere Entbürokratisierung zu prüfen, wie das ge-
bäudebezogene Energierecht vereinfacht, zusammenge-
fasst und intelligent weiterentwickelt werden kann.
Wir wollen die Förderung der Investitionsbereitschaft
auf breiter Basis, Vermeidung von unnötigen Mieterhö-
hungen, Planungssicherheit für Investoren und die Er-
haltung von Eigentum, denn die Energiewende muss für
die Bürger nachvollziehbar und bezahlbar sein. Rot-
Grün steht hingegen auch hier für Blockade, Verbote und
Mehrbelastungen!
Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Den Weg, den
die Bundesregierung bei der Energieeffizienzpolitik be-
schreitet, konnte man letztens bei der Vorstellung der
Dena-Studie gut betrachten, welche die Vor- und Nach-
teile von Verpflichtungs- und Anreizsystemen unter-
suchte. Der Vertreter des BMWi schloss sich vollinhalt-
lich der umstrittenen, von RWE finanzierten Studie an.
Deren Ergebnis fällt so aus, dass – wie überraschend –
die deutschen Energieeffizienzanreizsysteme die besten
der Welt sind, während Verpflichtungssysteme, wie sie
etwa in Dänemark existieren, keine Alternative wären.
Die wesentlichen Vorteile von Verpflichtungssyste-
men, nämlich klare Zielvorgaben, klare Verantwortlich-
keit für die Zielerreichung und ein haushaltsunabhängi-
ges Budget, um die Ziele zu erreichen, wurden dabei
vollkommen ignoriert. Zudem hat die Studie etliche an-
dere Fehler, wie ein DENEFF-Papier zum Thema nach-
weist.
Aber die Bundesregierung scheut Verpflichtungen für
Wirtschaft und Hauseigentümer wie der Teufel das
Weihwasser. Und genau hier sind wir beim Gebäudebe-
stand. Die jährliche Sanierungsquote muss auf 2 bis
3 Prozent verdoppelt werden. Ansonsten sind die Lang-
fristklimaschutzziele Deutschlands nicht zu erreichen.
Energieeinspargesetz und Energieeinsparverordnung
stellen aber auch nach dieser Novelle fast ausschließlich
auf den Neubau ab. Bestandssanierungen kann man,
muss man aber nicht durchführen. Die KfW-Fördermit-
tel für die Gebäudesanierung sind also lediglich ein An-
reizsystem – ein wirklicher Sanierungsfahrplan steht in
den Sternen.
Im Übrigen ist mit dem Anreizen auch bald Schluss. Es
herrscht ja Ebbe in den Kassen des Energie- und Klima-
fonds, EKF. Auch weil die Bundesregierung Reformen
beim EU-Emissionshandel blockiert, sind die CO2-Preise
dauerhaft im Keller und damit auch die Auktionserlöse,
aus denen sich der EKF speist. Für eine zukunftsweisende
Energieeffizienzpolitik – nicht nur im Gebäudebereich –
fehlen damit die Mittel. Und die Bundesregierung hat sie
sich selbst weggeschossen – bravo!
Klar ist: Wir brauchen eine solide Finanzierung. Denn
insbesondere bei Sanierungen im Gebäudebestand brin-
gen die Sanierungen vielfach weniger Einsparungen an
Heizkosten als sie kosten. Zum Schutz der Erdatmo-
sphäre gibt es zur Klimasanierung der Häuser dennoch
keine Alternative. Die Finanzierungslücke muss also so
geschlossen werden, dass unter dem Strich die Warm-
mieten nicht steigen. Ansonsten droht eine Verdrängung
ärmerer Haushalte.
Aus diesem Grund sollte die Förderung des Gebäude-
sandes über die drei Säulen KfW-Gebäudesanierungs-
programm, steuerliche Förderung und Hilfen über För-
derfonds für eine soziale Stadtteilentwicklung von
gegenwärtig etwa 1,5 Milliarden Euro auf mindestens
5 Milliarden Euro angehoben werden. Dabei kann der
Förderfonds für eine soziale Stadtteilentwicklung Kom-
munen dabei unterstützen, in Stadt- oder Ortsteilen mit
einem hohen Anteil einkommensschwacher Haushalte
spezielle Programme für ein soziales Quartiersmanage-
ment und Härtefälle einzurichten.
Die Finanzierung und ihre soziale Dimension ist nur
eine Seite des Problems. Eine erfolgreiche Klimapolitik
im Gebäudebereich braucht zugleich verbindliche Vor-
gaben. Für einen sehr interessanten Beitrag zur Debatte
hält die Linke hier die Vorschläge der Diskussionsschrift
„Strategie für eine wirkungsvolle Sanierung des deut-
schen Gebäudebestandes“, welche im Auftrag des Na-
turschutzbunds Deutschland, NABU, im Oktober letzten
Jahres erstellt wurde. Danach ist seitens der Bundesre-
gierung ein verbindlicher Sanierungsfahrplan zu erstel-
len, der stufenweise bis 2050 zu erreichende Klima-
schutzklassen für Gebäude festschreibt.
Das Charmante an diesem Vorschlag ist, dass er nicht
auf starrem Ordnungsrecht beruht. Er schafft zwar ver-
pflichtende Standards, aber zugleich flexible Rahmenbe-
30504 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013
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(D)(B)
dingungen, wie bzw. wann diese zu erreichen sind. So
kann vom Stufenplan – also dem Erreichen einer festge-
legten Klimaschutzklasse zu einem bestimmten Zeit-
punkt – zeitlich abgewichen werden. Wird die Klima-
schutzklasse früher erreicht, sind Prämienzahlungen an
den Hauseigentümer vorgesehen, während bei einer spä-
teren Umsetzung spürbare Maluszahlungen anfallen wür-
den. Letztere könnten die vorgenannten Prämien (teil-)fi-
nanzieren. Damit wäre Raum geschaffen, energetische
Teil- oder Grundsanierungen besser in den „natürlichen
Sanierungszyklus“ des jeweiligen Gebäudes zu integrie-
ren.
Ein solches System halten wir für vorteilhaft, da so
besser verhindert werden kann, dass beispielsweise noch
funktionstüchtige Fenster oder Türen im Rahmen von
energetischen Sanierungen ausgetauscht werden. Dies
wiederum dient der Kostensenkung, also Mietern und
Vermietern, sowie dem Ressourcenschutz. Allerdings
meinen wir – über den NABU-Vorschlag hinausgehend –,
dass über solche Flexibilisierungsoptionen nicht unbe-
grenzt Sanierungsstufen ausgelassen oder aufgeschoben
werden dürften.
Die Bundesregierung hat dagegen überhaupt keinen
Plan, welche Vorgaben sie Hauseigentümern machen
will. Sie ist hier vollkommen fantasielos und lässt die
Sache letztlich laufen. Wahrscheinlich weil sie weiß,
dass viele Hauseigentümer sich den Ärger sparen wol-
len, der mit Sanierungen zwangsläufig verbunden ist. So
spart die Koalition dann auch Geld für Zuschüsse. Das
passt dann wieder ganz gut damit zusammen, dass die
Bundesregierung, wie oben beschrieben, offensichtlich
wenig Interesse an stabilen Einnahmen des EKF durch
eine Reform des Emissionshandels hat.
Hier schließt sich der Kreis: Blockade einer zukunfts-
fähigen Klimaschutzpolitik im Gebäudebereich wie bei
Energieerzeugungs- und Industrieanlagen. Zahlen dafür
werden die einfachen Leute mit langfristig steigenden
Heizkosten sowie natürlich die Erdatmosphäre. Auch
darum gehört diese Regierung abgewählt.
Daniela Wagner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Was wir in Sachen Energieeinsparungsgesetz und Ener-
gieeinsparverordnung erlebt haben, ist kaum zu glauben.
Zunächst kann sich das federführende Haus des Baumi-
nisters kaum mit dem BMWi und dem BMU auf einen
Entwurf einigen, sodass die Bundesregierung kurz vor
einem Vertragsverletzungsverfahren der Europäischen
Union steht. In der Anhörung im Bauauschuss zum Ge-
setzentwurf lobbyiert RWE munter für eine Streichung
des § 10 a in der Energieeinsparverordnung mit dem
Ziel, dass die alten Asbestschleudern von Nachtspei-
cheröfen aus den 1960er-Jahren weiter betrieben werden
können. Die Koalition greift das dann auch noch in ei-
nem Änderungsantrag entsprechend auf. Anforderungen
hinsichtlich Modernisierung der bestehenden höchst in-
effizienten Stromspeicheröfen? Fehlanzeige! Noch nicht
einmal das haben Sie richtig hinbekommen.
Und als Nächstes wurde dann im April die Lesung im
Bauauschuss auf Betreiben des Koalitionspartners FDP
geschoben. Ursache hierfür ist, dass der FDP die energe-
tischen Anforderungen an den Neubau im eigenen Ge-
setzentwurf zu weit gehen. Am Ende konnte sie sich
aber nicht durchsetzen. Aber das ist in dieser Koalition
auch nichts wirklich Neues.
Hinzu kommt weiterhin die unsichere Finanzierung
der Förderprogramme für die energetische Gebäudesa-
nierung über den Energie- und Klimafonds. Der Preis für
CO2-Zertifikate liegt aktuell bei knapp 3,50 Euro. Eine
Reform des Zertifikatehandels ist also nicht länger auf-
schiebbar. Aber eine konservativ-liberale Mehrheit im
EU-Parlament hat eine Reform des Zertifikatehandels
abgelehnt, die zu einem Anstieg der Zertifikatepreise
und somit zu einer Verbesserung der Einnahmeseite des
EKF geführt hätte. Herzlichen Glückwunsch zu einem
so „klug abgestimmten“ Handeln. Dies macht deutlich,
dass die Koalition, aber auch die Parteifreunde in Brüs-
sel zu keiner gemeinsamen entschlossenen Haltung fin-
den, wie sie die Energiewende im Gebäudebereich vo-
ranbringen soll.
Wir haben den Gesetzentwurf von Anfang an kriti-
siert; denn dieser ist schlicht nicht geeignet, die Energie-
wende im Gebäudebereich voranzubringen und den Kli-
mawandel auch nur einen Tag zu verzögern.
Die Verschärfung des Neubaustandards in zwei Stu-
fen im aktuellen Entwurf bietet keinen verlässlichen
Rahmen für Bauherren, Bauwirtschaft und Hersteller
von Bauprodukten; denn so verbleibt man in der Syste-
matik ständiger Änderungen der 2002 eingeführten Ver-
ordnung, wie zuletzt 2004, 2007 und 2009. Das ist nicht
gerade hilfreich für die beteiligten Marktteilnehmer. Und
Sie setzen das auch noch so fort.
Darüber hinaus werden die Mieterinnen und Mieter
mit der Kostenfalle Heizung alleingelassen. Eine von
uns in Auftrag gegebene Studie hat gezeigt, dass im
Wärmemarkt allein für 12 Millionen deutsche Haushalte
Heizöl mittlerweile zur Preisfalle geworden ist: In den
vergangenen zehn Jahren haben sich die Heizölpreise in
Deutschland um über 150 Prozent erhöht.
Mit dem vorgelegten Entwurf der Bundesregierung
werden also gerade Mieterhaushalte zusätzlich belastet,
da die Verbesserung der primärenergetischen Anforde-
rungen zu keinerlei Energieeinsparung führt. Damit tra-
gen die Mieter zwar die Kosten, haben aber keinen Nut-
zen von der energetischen Sanierung. Dies wird nicht
zur Akzeptanz der Energiewende in der Bevölkerung
beitragen. Hinzu kommt, dass erneuerbare Energien auf-
grund der Lockerung der Anforderungen an den Wärme-
schutz verschwendet werden. Dies ist nicht zielführend
im Sinn des Verbraucherschutzes und der Energiewende.
Die vorgesehene Erhöhung der Effizienzstandards für
Neubauten wird gerade über die Hintertür wieder kas-
siert. Das hat fatale Folgen. Denn Neubauten, die heute
mit einem Standard gebaut werden, der nicht zielführend
ist, müssen – das ist absehbar – aufwendig und teuer sa-
niert werden.
Die Novelle der Energieeinsparverordnung – EnEV –
sollte entsprechend der Ziele im Gebäudebereich mit
Blick auf 2020 ausgerichtet werden und schon heute eine
langfristige Perspektive für Immobilienbesitzer, Mieter,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013 30505
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Bauwirtschaft und Produktehersteller bieten. So werden
Planungs- und Investitionssicherheit hergestellt.
Wir streben für den Neubau ab 2019 das 1,5-Liter-
Haus an, das pro Quadratmeter und Jahr nicht mehr als
15 kWh für Wärme und Kühlung benötigt. In einem
weiteren Schritt wollen wir den Standard Energie-Plus-
Haus für alle Neubauten einführen. Bis 2020 streben wir
einen Energiestandard für Vollsanierung mit maximal 70
Kilowattstunden Energiebedarf für Wärme und Kühlung
pro Quadratmeter Wohnfläche und Jahr an. Bei Instand-
setzung oder Modernisierung einzelner Bauteile oder
Anlagen sollten diese auf einen anteilig entsprechenden
Energiestandard, der sich ab dem Jahr 2020 am 7-Liter-
Haus orientiert, verbessert werden. Diese einzelnen
Maßnahmen sollten so ausgeführt werden, dass sie in der
Summe das 7-Liter-Haus-Niveau erreichen. Wir wollen
also keine Zwangssanierung, sondern orientieren uns an
immobilienwirtschaftlichen Investitions- und Instand-
haltungszyklen: Wenn saniert wird, dann auf einem sinn-
vollen und wirtschaftlichen Niveau. Unsere aktuelle Stu-
die zeigt: Bei Vollsanierungen sanierungsbedürftiger
Gebäude ist dieser Standard heute schon wirtschaftlich,
für Vermieter, Mieter und Selbstnutzer.
Weiterhin müssen Energieeinsparungsgesetz, Ener-
gieeinsparverordnung und Erneuerbare-Energien-Wär-
megesetz besser aufeinander abgestimmt und gegebe-
nenfalls zusammengeführt werden. Auch ist dringend
ein bundesweites Klimaschutzgesetz erforderlich, um ei-
nen föderalen Flickenteppich in diesem Bereich zu ver-
meiden.
Wir Grüne wollen Transparenz herstellen und den
Energieverbrauch nachvollziehbar machen. Wir fordern
daher die Einführung eines einheitlichen Bedarfsauswei-
ses, welcher den Energiebedarf eines Gebäudes unab-
hängig vom individuellen Nutzerverhalten darstellt. Um
Akzeptanz und Verständlichkeit zu erhöhen, ist die Ein-
führung der gängigen Energieeffizienzklassen überle-
genswert.
Die Vielzahl der Ausweise hat die Marktteilnehmer
verunsichert und Ausweichstrategien gefördert. So wird
zunehmend, beispielsweise bei Abschluss von Kaufver-
trägen über Immobilien, vertraglich vereinbart, dass der
gesetzlich vorgeschriebene Energieausweis nicht vorlie-
gen muss. Offenbar führt die Vielzahl der Ausweise auf-
grund der Komplexität und schweren Nachvollziehbar-
keit nicht zu der gewünschten Akzeptanz bei den
Verbrauchern. Eine Vereinheitlichung und Überführung
hin zu einem bereits bekannten System der Darstellung
kann die Akzeptanz bei den Verbrauchern erhöhen.
Diese Ausweise sollten einen individuellen Sanie-
rungsfahrplan mit konkreten Modernisierungsempfeh-
lungen für die Eigentümer enthalten. Mit dieser Dienst-
leistung erhalten die Eigentümer Orientierung über
mögliche Maßnahmen und ihre Alternativen. Der Aus-
weis sollte bei Verkauf und Vermietung verpflichtend
vorgelegt werden müssen.
Wir Grüne wollen die Förderung stärken und so
Vertrauen schaffen. Die Förderkulisse sollte die ver-
schiedenen Eigentumsformen wie etwa Selbstnutzer,
Kleinvermieter, Wohneigentumsgemeinschaften, Genos-
senschaften oder Wohnungswirtschaft stärker berück-
sichtigen. Die Förderung sollte vermehrt auf eine Zu-
schussförderung abgestellt werden, da zinsverbilligte
Darlehen derzeit für viele Haushalte völlig uninteressant
sind.
Konkret sind die CO2-Gebäudesanierungsprogramme
der KfW auf 2 Milliarden Euro aufzustocken und aus
dem regulären Bundeshaushalt zu finanzieren.
Ergänzend hierzu wollen wir den Aufbau eines echten
und verlässlich finanzierten grünen Energiesparfonds in
Höhe von drei Milliarden Euro. Dieser fördert Maßnah-
men für Wärme- und Stromeffizienz, insbesondere in
Haushalten mit geringem Einkommen.
Weiterhin treten wir nach wie vor für eine steuerliche
Förderung der energetischen Gebäudesanierung für
Selbstnutzer ein. Diese sollte progressionsunabhängig,
sozial gerecht und ökologisch zielführend ausgestaltet
sein.
Anlage 15
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Export von Überwa-
chungs- und Zensurtechnologie an autoritäre
Staaten verhindern – Demokratische Proteste
unterstützen (Zusatztagesordnungspunkt 6)
Erich G. Fritz (CDU/CSU): Dass Sie, sehr verehrte
Kollegen von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, mit
Ihrem Antrag Gutes beabsichtigen, möchte ich nicht be-
zweifeln. Denn wir reden über ein wichtiges Thema. Da-
her möchte ich mich bei Ihnen dafür bedanken, dass
auch Sie dieses Thema zur Sprache bringen. Wir brau-
chen eine öffentliche und politische Debatte über die Zu-
kunft von Cybersecurity. In diesem Rahmen müssen wir
darüber sprechen, wie wir „Überwachungstechnologie“
weltweit besser regulieren können.
Ich freue mich, dass wir auch im Bundestag, nämlich
im Unterausschuss für „Abrüstung, Rüstungskontrolle
und Nichtverbreitung” am 17. April über dieses Thema
diskutiert haben. Denn die technischen und politischen
Entwicklungen der letzten Jahre stellen uns, aber auch
alle anderen Länder vor entscheidende Herausforderun-
gen. Und die Dinge müssen zusammenhängend betrach-
tet werden.
Die transformative Kraft des Internets hat auch einen
enormen Einfluss auf Fragen der Menschenrechte, ins-
besondere der Meinungsfreiheit. Das Internet hat sich zu
einem Synonym für die Veränderungen und Möglichkei-
ten der Globalisierung entwickelt. Große Chancen gehen
Hand in Hand mit schwerwiegenden Risiken. Beides, die
Chancen und die Risiken, haben sich in den politischen
Umwälzungen in den Ländern des Nahen und Mittleren
Ostens manifestiert:
Einerseits haben wir uns über die demokratieför-
dernde Wirkung der Neuen Medien gefreut, das muss
man auch sagen dürfen. Und andererseits sehen wir, dass
30506 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013
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neue Kommunikationstechnologien, sei es aus Deutsch-
land oder anderen Innovationsstandorten, für niedere
Zwecke missbraucht werden können.
Genau hier müssen wir differenzieren. Denn Überwa-
chungssoftware ist nicht per se schlecht. Zu Überwa-
chungssoftware zählen Programme, die zur Kommuni-
kationsüberwachung geeignet sind. Die Anwendung von
Kommunikationstechnologie ist ein legitimes Mittel,
von dem Polizei und Nachrichtendienst profitieren, um
unseren Rechtsstaat zu schützen. Um es klar zu sagen:
Überwachungstechnologie kann dabei helfen, Verbre-
chen zu verhindern. Und deshalb ist es gut, dass wir in
Deutschland innovative Unternehmen unterstützen, die
unsere Softwaretechnologien weiterentwickeln und auch
exportieren.
Gefährlich wird es in der Tat, wenn diese Überwa-
chungstechnologie missbraucht wird zu Zwecken der in-
ternen Repression zum Beispiel für die Überwachung
und Verfolgung Oppositioneller und von Minderheiten.
Undemokratische Staaten dürfen nicht die technischen
Mittel bekommen, um ihre Bürger auszuspionieren und
zu bedrohen. Dieses Ziel eint uns.
Cybersecurity ist daher eine große politische Heraus-
forderung auf nationaler und internationaler Ebene. Ei-
nes ist sicher: Kein Staat kann den Cyberspace alleine
regieren. Daher müssen wir international zusammenar-
beiten, um Antworten auf drängende Fragen zu geben,
auch in Bezug auf Überwachungstechnologien.
Damit keine Missverständnisse entstehen: Die deut-
sche exportkontrollpolitische Linie zu Überwachungs-
software ist bereits kritisch und strikt einzelfallbezogen,
sofern die Güter im Rahmen der bestehenden rechtlichen
Regelungen kontrolliert werden können. Die Politischen
Grundsätze der Bundesregierung und der Gemeinsame
Standpunkt der EU zur Kontrolle der Ausfuhr von Mili-
tärtechnologie sehen vor, dass die Einhaltung von Men-
schenrechten im Empfängerland und der mögliche Miss-
brauch der zu liefernden Ware geprüft werden.
Zudem gibt es im Bereich der sogenannten Dual-Use-
Güter – Güter mit doppeltem Verwendungszweck: im zi-
vilen und militärischen Bereich – mit der EU-Dual-Use-
Verordnung eine Regelung, in der vergleichbare Krite-
rien an den Export gestellt werden.
Wichtige Parameter, die bei der Bewertung der Aus-
fuhrvorhaben bereits gelten und bei sensitiven Empfän-
gerstaaten besonders sorgfältig geprüft werden, sind:
Nutzungspotenziale der Güter, angegebene Endverwen-
dung, Aufgabenprofil des Endverwenders, bestehende
gesetzliche Regelungen des Einsatzes von Technologien
und mögliche Hinweise auf innere Repression.
Der Export von Software muss also in vielen Fällen
vorher genehmigt werden. Dies ist immer dann der Fall,
wenn die Software von der Ausfuhrliste erfasst ist. Wenn
beispielsweise eine Werkzeugmaschine aufgrund ihrer
technischen Merkmale ausfuhrgenehmigungspflichtig
ist, dann ist auch die zugehörige Steuerungssoftware ge-
nehmigungspflichtig. Dies gilt dann auch für nachträg-
lich gelieferte Softwareanpassungen.
Neben den „normalen“ Exportkontrollvorschriften
sind Embargos zu beachten. Zum Teil sind Güter im Be-
reich der Überwachungssoftware bereits durch EU-
Sanktionen erfasst. Dafür hatte sich auch Bundesminis-
ter Westerwelle seit 2011 ausgesprochen. Dem wurde im
Rahmen der EU-Sanktionen gegen Syrien und Iran be-
reits Rechnung getragen.
Unser Problem besteht darin, dass Softwareprodukte
nicht immer als Dual-Use-Güter gelten oder auf der Aus-
fuhrliste stehen und daher oft nicht unter die zu kontrol-
lierenden Güter fallen. Es gibt noch keine übergreifende
Exportkontrolle für jede Form von Überwachungssoft-
ware. Die Bundesregierung arbeitet aktuell daran, den
Export von Überwachungssoftware stärker regulieren zu
können.
Grundsätzlich kann die Ausfuhr von Überwachungs-
software in die Länder, in denen Missbrauch vorherzuse-
hen ist, nur überwacht werden, wenn diese als zu kon-
trollierendes Gut auf Ausfuhrlisten aufgenommen ist.
Erst dann besteht die Verpflichtung, vorab eine Ausfuhr-
genehmigung zu beantragen.
Es wird also an der Erfassung von Überwachungs-
software durch exportkontrollpolitische Regime gearbei-
tet, ohne dass es bislang bereits ein Ergebnis gäbe – ei-
ner Herausforderung, der wir uns stellen müssen. Im
Übrigen sind andere Staaten dabei nicht weiter als wir.
Nun kritisieren Sie in Ihrem Antrag, dass die Bundes-
regierung trotz anders lautender Absichtserklärungen,
nicht tätig geworden sei, um die Exportkontrolle für Gü-
ter der Überwachungstechnik zu verschärfen. Diese Be-
hauptung zeigt, dass Sie sich nicht gut genug informiert
haben, oder aber, dass Sie vor der Bundestagswahl eine
Chance wittern, ein emotionales Thema für Ihren Wahl-
kampf zu missbrauchen. Und das wäre vor dem Hinter-
grund der ernsthaften Thematik sehr schade.
Fakt ist: Diese Bundesregierung stellt sich den verän-
derten technologischen Rahmenbedingungen und re-
agiert angemessen auf sie. Das Motto lautet auch hier:
Qualität ist wichtiger als ein Schnellschuss aus der
Hüfte. Ich glaube, ich spreche für die gesamte Koalition,
wenn ich das Bestreben der Europäischen Kommission,
die Effizienz und Wirksamkeit des europäischen Aus-
fuhrkontrollsystems für Dual-Use-Güter zu optimieren,
ausdrücklich unterstütze.
In Ihrem Antrag, verehrte Kollegen von den Grünen,
sprechen Sie das Wassenaar Arrangement an. Das Was-
senaar Arrangement ist das internationale Exportkon-
trollregime für konventionelle Waffen und für relevante
Dual-Use-Güter und -technologien. Die in Deutschland
geltenden Güterlisten für Dual-Use-Güter werden haupt-
sächlich in den internationalen Exportkontrollregimen,
wie dem Wassenaar Arrangement, verhandelt und be-
schlossen. Deren Umsetzung in unmittelbar geltendes
Recht erfolgt durch die Europäische Union (in Anhang I
der Dual-Use-Verordnung (EG) Nr. 428/2009).
Ziel des Wassenaar Arrangement ist die Schaffung
harmonisierter Exportkontrollen für diese Güter. Gerne
teile ich Ihnen mit, dass im Moment Diskussionen im
Bereich des Wassenaar Arrangement über die Aufnahme
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013 30507
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bestimmter Güter aus dem Bereich Überwachungssoft-
ware in die Kontrolllisten stattfinden, an der die Bundes-
regierung sich konstruktiv beteiligt. Im Kontext der EU-
Dual-Use-Verordnung gibt es auch Diskussionen über
eine „catch all“-Klausel, deren Wirksamkeit allerdings
von verschiedener Seite angezweifelt wird.
Sicherlich wissen Sie, verehrte Kollegen von den
Grünen, auch, dass eine Regelung auf internationaler
Ebene – zum Beispiel im Wassenaar Arrangement oder
in der EU – ein langwieriges Unterfangen ist. Dies hängt
zusammen mit der notwendigen technischen Spezifizie-
rung, der Einigung zwischen den Mitgliedstaaten und
mit der darauf folgenden Aufnahme in europäische und
nationale Ausfuhrlisten. Die Leitlinien des Wassenaar-
Abkommens sehen vor, dass die zu kontrollierenden Gü-
ter klar, präzise und anhand objektiver Parameter be-
schrieben werden sollen. Durch die rasante technische
Weiterentwicklung im Bereich der Überwachungssoft-
ware ist es sehr schwierig, klar zu bestimmen, welche
Überwachungstechnologien auf die Ausfuhrliste gehö-
ren und wie diese genau definiert sein sollen. Zudem
haben viele Überwachungstechnologien mehrere Funk-
tionalitäten und sind auch für den ordnungsgemäßen
Betrieb des Telekommunikationsnetzes erforderlich.
Technisch präzise Listungen solcher Güter sind daher
unverzichtbar, und darüber reden wir gerade.
Es muss deswegen mit klaren Begrifflichkeiten argu-
mentiert werden (wie im Wassenaar Arrangement vorge-
sehen). Ein Beispiel: Der Begriff „digitale Waffen“ für
Überwachungssoftware ist plakativ, könnte aber zu einer
Verharmlosung der schrecklichen unmittelbar tödlichen
Wirkung „echter“ Waffen führen. Wir sollten diese Sa-
chen auseinanderhalten. Zudem wird im öffentlichen
Raum Überwachungssoftware gelegentlich als Dual-
Use-Gut bezeichnet, weil es legale und illegale Nut-
zungsmöglichkeiten gebe. Dual-Use-Güter sind aber sol-
che, die sowohl im militärischen als auch im zivilen Be-
reich genutzt werden.
So laut Sie auch schreien: Man kann diese Regelun-
gen nicht übers Knie brechen. Solch eine Regelung ist
aber bei Einigung der Mitgliedstaaten sehr zielführend.
Eine Ausweitung der Kontrollen in diesem Rahmen
hätte internationale Kontrollen von Überwachungssoft-
ware zur Folge. Beschlüsse des Wassenaar Arrangement
würden in EU-Recht umgesetzt und wären damit auch
für alle Mitgliedstaaten der EU unmittelbar geltendes
Recht.
Die Bundesregierung hat mir versichert, sich für eine
schnelle Regelung starkzumachen. Sollte eine Verständi-
gung auf internationaler Ebene nicht erreicht werden
können, wird die Bundesregierung Maßnahmen auf EU-
Ebene prüfen. Sie sehen also, die Vorwürfe in dem vor-
liegenden Antrag sind völlig unbegründet.
Die Diskussion im politischen und öffentlichen Raum
zeigt, dass sich das Thema weiterentwickelt und den-
noch eine Herausforderung bleiben wird. Parallel zu den
laufenden Verhandlungen könnten Hersteller von Über-
wachungssoftware auch über eine Selbstverpflichtung
nachdenken, die den Export nicht gelisteter Güter in be-
stimmte Staaten ausschließt.
Sie sehen die Komplexität dieser Fragen und dass
sich durchaus etwas bewegt, wenngleich es einen langen
Atem braucht. Ich bin überzeugt, dass dieses Thema bei
unserer Bundesregierung in guten Händen ist, und lehne
den vorliegenden Antrag daher ab. Dennoch freue ich
mich über einen regen Austausch. Insbesondere darf
diese Debatte sich nicht auf Deutschland beschränken,
sondern muss international geführt werden.
Klaus Barthel (SPD): Auch für Krieg und Gewalt
bei innerstaatlichen und zwischenstaatlichen Konflikten
muss das Internet, müssen Bits und Bytes immer mehr
herhalten. Die Wirkung kann genauso tödlich sein wie
„unmittelbares“ Kriegsmaterial. Informations- und
Kommunikationstechnologien entziehen sich in beson-
derer Weise klassischen und belastbaren Definitionen
von „Rüstung“ oder „Waffe“, „Dual-Use“ ist in Fällen
zum Beispiel von Software noch schwerer abgrenzbar
als bei anderem Kriegsmaterial. Von daher sind auch
Einschränkungen und Verbote schwer zu praktizieren
und zu kontrollieren. Betroffene Unternehmen weisen
mit Recht darauf hin, dass es auch die Falschen treffen
könnte. Allerdings gibt es genug Beispiele, bei denen die
Zwecke einschlägiger Exporte schon vorher erkennbar
sind. Der vorliegende Antrag liefert leider wenige kon-
krete und handhabbare Hinweise für Kontrollen und Ver-
bote. Heute kann es nur darum gehen, ein Nachdenken
über diese Problematik zu befördern.
An Berichte, wonach der Export von Panzern nach
Saudi-Arabien, Katar und Indonesien in wachsendem
Umfang und wiederholt genehmigt wird, musste sich die
Öffentlichkeit in Deutschland in den letzten dreieinhalb
Regierungsjahren von Schwarz-Gelb leider gewöhnen.
Neben materiellen Rüstungsexporten fällt in die Amts-
zeit dieser Bundesregierung auch der Export von Späh-
software und Überwachungsprogrammen, die massiv
Menschenrechte wie die Meinungs- und Pressefreiheit
beeinträchtigen können.
Im Einzelnen sieht das dann so aus: Deutsche Unter-
nehmen schreiben Programme, mit denen E-Mails mit-
gelesen, Skype-Gespräche mitgeschnitten oder Benut-
zer von Computern direkt abgehört oder sogar gefilmt
werden können. Nach Fertigstellung der Software wird
sie an interessierte Länder verkauft, und diese setzen sie
dann gegen unliebsame Oppositionelle im eigenen Land
oder im Ausland ein. Nach einem Bericht des NDR-
Medienmagazins ZAPP vom 7. Dezember 2011 wurden
mindestens folgende Länder mit Software-Know-how
aus Deutschland beliefert: Syrien, Bahrain und Iran.
Die Menschenrechtslage in diesen Ländern zeigt ein
mehr als besorgniserregendes Bild: Im ansonsten mit
Sanktionen belegten Iran werden, gemessen an der Be-
völkerungszahl, die meisten Todesurteile weltweit voll-
streckt. In Bahrain wurden im Februar und März 2011
Proteste brutal niedergeschlagen. Es gab 35 Tote und
Hunderte Verletzte. Das Thema Syrien kann hier nur er-
wähnt, aber nicht ernsthaft abgehandelt werden.
Und wie reagiert die schwarz-gelbe Bundesregie-
rung? Auf die Kleine Anfrage der Grünen, Bundestags-
drucksache 17/8052, ob die Bundesregierung aus den
30508 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013
(A) (C)
(D)(B)
damals bekannten Entwicklungen des Exports von Über-
wachungs- und Zensursoftware Rückschlüsse hinsicht-
lich einer Überarbeitung der Exportrichtlinien ziehen
wolle, antwortete diese, dass sie nicht plant, die Richtli-
nien zu überarbeiten, und dass sich die bestehenden Re-
gelungen bewährt hätten. Für die schwarz-gelbe Bundes-
regierung hat es sich also bewährt, indirekt autoritäre
Regierungen im Kampf gegen Oppositionelle zu unter-
stützen.
Die Bundesregierung hat nicht nur weggesehen,
sondern es wurden auch indirekte finanzielle Hilfen
durch Hermesbürgschaften geleistet. Sie räumte ein,
„Exportkreditgarantien zur Absicherung von Waren und
Dienstleistungen aus dem Bereich der Telekommunika-
tionstechnik“ übernommen zu haben. Leistet die Bun-
desregierung damit einen Beitrag zur Überwachung von
Oppositionellen und Demokratiebewegungen? Nicht
Kritiker von zweifelhaften undemokratischen Regimen
sollten überwacht werden, sondern der Export von Soft-
ware, mit der man Menschen ausspähen und/oder über-
wachen kann. Darüber hat diese Bundesregierung offen-
bar noch nicht einmal nachgedacht.
Selbstverständlich können wir auch an Unternehmen
appellieren und sie auffordern, keine Spähsoftware zu
exportieren. Aber welche praktische Bedeutung hat das
dann? Hier ist der Staat gefordert, zu prüfen und even-
tuelle Exportverbote auszusprechen, wenn nötig auf
Grundlage neuer gesetzlicher Regelungen.
Auch wir fordern mit Nachdruck, dass Software, die
zur Einschränkung von Demokratie und Menschenrech-
ten dienen kann, gegebenenfalls der Rüstungsexportkon-
trolle unterworfen und damit genehmigungspflichtig
werden soll. Außerdem fordern wir die Auflistung von
Exporten von Überwachungs- und Spähsoftware im
jährlichen Rüstungsexportbericht.
Wie auch im Bereich von bereits aufgelisteten Rüs-
tungsgütern hat es die schwarz-gelbe Bundesregierung
nicht geschafft und nicht gewollt, eine verantwortungs-
bewusste, transparente und vor allem restriktive Rüs-
tungsexportpolitik umzusetzen. Anstatt demokratische
Werte zu fördern, schauen CDU/CSU und FDP zu und
unterstützen es, dass Panzer, Kriegsschiffe und Überwa-
chungssoftware an zwielichtige Regime geliefert wer-
den. Auch diese Rüstungsexportpolitik stellt einen wich-
tigen Grund für die Notwendigkeit neuer politischer
Mehrheiten im Herbst dieses Jahres dar.
Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP): Mit dem Antrag
möchte die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ihrem all-
seits bekannten Hobby frönen: der Schaffung neuer Re-
striktionen für deutsche und europäische Exportgüter. Das
hehre Ziel, die demokratischen Prozesse in Krisenregio-
nen zu unterstützen, verfehlt dieser Antrag komplett!
So ist einer der Hauptangriffspunkte dieses Antrags,
dass die Bundesregierung auf den Stand internationaler
Verhandlungen verweise und nicht pro-aktiv genug
handle. Nationale Alleingänge sind bei diesem Thema
allerdings fehl am Platz. Wir stehen zu unseren interna-
tionalen Verpflichtungen und Verträgen, wir stehen zu
unseren Verbündeten und befreundeten Nationen in Eu-
ropa und in der Welt!
Die Bundesregierung hat sich aktiv für die Kontrolle
von Überwachungstechnik in den Sanktionen gegen Iran
und Syrien eingesetzt. Mit diesen Sanktionen ist es uns
gelungen, den Export von Ausrüstung, Technologie und
Software zur Überwachung des Internets und des Tele-
fonverkehrs nach Syrien und Iran ohne vorherige Geneh-
migung mit Inkrafttreten der Syrien-Embargo-Verord-
nung (EU) Nr. 36/2012 am 19. Januar 2012 und der Iran-
Embargo-Verordnung (EU) Nr. 264/201 2 am 24. März
2012 zu verbieten.
Die bestehenden Regelungen der Ausfuhrliste zu
Rüstungsgütern oder Dual-use-Gütern aus Anhang I der
Verordnung (EG) Nr. 428/2009 (Dual-Use-Verordnung)
werden strikt angewendet. Auch bei der Einzelfallprü-
fung gilt der gemeinsame Standpunkt 2008/944/GASP
des Rates der Europäischen Union und wird auch für den
Export von Dual-Use-Gütern angewendet. Ausfuhrge-
nehmigungen werden beim hinreichenden Verdacht des
Missbrauchs zur inneren Repression oder zu sonstigen
fortdauernden und systematischen Menschenrechtsver-
letzungen grundsätzlich nicht erteilt. Ein Export ohne
vorherige Genehmigung ist streng verboten.
Die Bundesregierung wirkt erfolgreich auf multilate-
raler Ebene an den relevanten, internationalen Verhand-
lungen mit und stimmt sich regelmäßig und sehr erfolg-
reich mit den internationalen Partnern zu weiteren
Möglichkeiten der Exportkontrolle von Überwachungs-
technik ab. Eine Ausweitung der Kontrollen des Was-
senaar Arrangements in dem von den Grünen geforder-
ten Rahmen hätte dagegen internationale Kontrollen
unbekannten und unpraktikablen Ausmaßes zur Folge.
Ein weiterer unbegründeter Vorwurf der Grünen ist,
dass der damalige Bundeswirtschaftsminister Brüderle
2011 Verschärfungen der Kontrolle von Dual-Use-Gü-
tern verhindert habe. Dabei ging es damals weder um die
Ausweitung von Exportkontrollen noch um Überwa-
chungstechnologie. Richtig ist vielmehr, dass das Euro-
päische Parlament damals Verfahrenserleichterungen für
die Ausfuhr bestimmter genehmigungspflichtiger Güter
für unkritische Zwecke an einen begrenzten Länderkreis
verabschiedet hat. Die dort verabschiedeten EU-Allge-
meingenehmigungen betreffen indes keine Güter der
Überwachungstechnik. Auch in der Stellungnahme zu
dem entsprechenden Grünbuch der EU-Kommission im
Oktober 2011 hat die Bundesregierung das Bestreben
der Europäischen Kommission begrüßt, die Effizienz
und Wirksamkeit des europäischen Ausfuhrkontrollsys-
tems für Dual-Use-Güter zu optimieren. Denn wir unter-
stützen grundsätzlich weitergehende Harmonisierungs-
bestrebungen.
Natürlich unterliegen die Exportkreditgarantien des
Bundes wie auch die anderen staatlichen Kreditversiche-
rungen der OECD-Länder umfangreichen internationa-
len Regeln wie dem OECD-Konsensus und den Leitli-
nien zum Umgang mit Umwelt- und Sozialaspekten.
Diese sind bei der Vergabe zu berücksichtigen.
Wir lehnen daher den Antrag der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen ab.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013 30509
(A) (C)
(D)(B)
Andrej Hunko (DIE LINKE): Ich freue mich, dass
sich auch die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen
Ausfuhren neuer Technologien an autoritäre Regimes
stellt. Nicht nur die Revolten in Nordafrika haben deut-
lich gemacht, in welchem Umfang Behörden von digita-
len Schnüffelwerkzeugen Gebrauch machen. Auch in
Deutschland werden Mobiltelefone und private Rechner
mit entsprechender Soft- und Hardware ausgeforscht.
Wir haben uns immer wieder dafür eingesetzt, die in
Rede stehende Technologie einer strikten Exportkon-
trolle zu unterwerfen. Dabei geht es unseres Erachtens
aber nicht nur um Trojaner oder Software zum Durch-
leuchten von Datenpaketen, um damit die Kommunika-
tion von Oppositionellen oder ihrer Computer zu über-
wachen.
Die Liste jener Dual-Use-Güter, für deren Export es
einer Genehmigung bedarf, müsste deutlich erweitert
werden. Hierzu gehören Anwendungen zur Versendung
einer „Stillen SMS“ oder die sogenannten IMSI-Catcher
und WLAN-Catcher, um Mobiltelefone zu lokalisieren
und die Kommunikation der Besitzerinnen und Besitzer
abzuhören. Auch die sogenannte Funkzellenauswertung
gehört immer mehr zum Standard. Die beschriebenen
Kommunikationsvorgänge laufen in „Monitoring Cen-
tres“ zusammen, wie sie etwa Siemens, Nokia und nun
die Firma Trovicor in arabische Länder exportiert.
Angesichts der Vorverlagerung von Strafverfolgung
zähle ich auch die zunehmende Nutzung von Data-Mi-
ning-Software zu jenen Technologien, die – etwa im Na-
men eines „Kampfes gegen Terrorismus“ – gegen miss-
liebige Aktivitäten eingesetzt werden. Hersteller von
Data-Mining-Programmen versprechen, über eine „vo-
rausschauende Analyse“ Kriminalitätsmuster erkennen
und dadurch Straftaten vorhersehen zu können. Was die-
ser algorithmusgestützte Machbarkeitswahn für Bürger-
und Menschenrechte nicht nur unter autoritären Regie-
rungen bedeutet, lässt sich heute noch gar nicht ermes-
sen.
Erst zähe Nachfragen haben enthüllt, dass Polizeibe-
hörden des Bundes zahlreiche ausländische Behörden in
der Anwendung der Spionagewerkzeuge beraten: so ge-
schehen etwa in Belarus oder in Kirgistan. Zur Verkaufs-
förderung von Trojanersoftware hatte das Bundeskrimi-
nalamt mit den deutschen Herstellern ein informelles
Netzwerk eingerichtet, das in mehreren Ländern regel-
rechte Tupperpartys zum „Informationsaustausch“ orga-
nisierte.
In Ländern des arabischen Frühlings führt das Bun-
deskriminalamt Schulungen zur „Open Source Internet-
auswertung“ durch – entsprechende Lehrgänge fanden
sogar noch unter den damaligen Machthabern statt.
Durch die Analyse sozialer Netzwerke im Internet, in öf-
fentlichen Blogs und Chaträumen wird so nach Auffäl-
ligkeiten, Interessen von Gruppen, Trends oder anderen
Aussagen über Beziehungen zwischen Personen und
Vorgängen gesucht. Mit entsprechenden Maßnahmen
wenige Wochen vor Ausbruch der Revolutionen in Tu-
nesien und Ägypten ist die Bundesregierung mitverant-
wortlich für Verhaftung, Folter und Tod von Netzaktivis-
ten.
Ich glaube also nicht, dass sich die gegenwärtige Bun-
desregierung für Exportbeschränkungen einsetzen wird.
Denn der Markt für Überwachungstechnologie verzeich-
net hohe Wachstumsraten. Alle Zeichen stehen darauf,
dass die Meinungsverschiedenheiten zwischen den FDP-
geführten Ministerien für Außen- und Wirtschaftspolitik
zuungunsten der Menschenrechte ausgehen.
Denn einerseits stellte Außenminister Westerwelle im
Herbst auf der Konferenz „The Internet and Human
Rights: Building a free, open and secure Internet“ in Aus-
sicht, Deutschland würde sich für Exportbeschränkungen
digitaler Ermittlungswerkzeuge einsetzen. Wenige Tage
später richtete das Bundeswirtschaftsministerium in Düs-
seldorf eine Verkaufsveranstaltung des Golfkoopera-
tionsrats aus, in der es ausdrücklich um Überwachungs-
technologie ging. Regierungs- und Industrievertreter aus
der Bundesrepublik trafen sich dort mit Kolleginnen und
Kollegen aus Bahrain, Katar, Kuwait, Oman, Saudi-Ara-
bien und den Vereinigten Arabischen Emiraten.
Der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen geht
in die richtige Richtung, enthält allerdings den Vorschlag
zu weiteren „einzelfallbezogen Länderembargos“. Ich
halte dies aber nicht für zielführend: Denn Ausfuhrbe-
schränkungen von Überwachungstechnologie laufen ins
Leere, wenn über betroffene Länder von den zuständigen
Ministerien nach politischem Gutdünken entschieden
wird. Der Forderung nach Entwicklung und Verbreitung
von Techniken, die eine Umgehung staatlicher Überwa-
chungs- und Zensurbestrebungen zum Ziel haben,
stimme ich hingegen vorbehaltlos zu.
Die Bundesregierung muss sich in internationalen
Gremien, vor allem auf Ebene der Europäischen Union,
für den Abbau der digitalen Überwachung einsetzen.
Das langfristige Ziel einer Ächtung der beschriebenen
Spionagesoftware sollte dabei im Vordergrund stehen.
Denn die Spähwerkzeuge werden weltweit gegen poli-
tisch unliebsame Bewegungen genutzt – in Teheran ge-
nauso wie in Dresden, Minsk, Tunis und Riad.
Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Der arabische Frühling hat einmal mehr bewie-
sen, welch demokratisches Potenzial Internet und neue
Medien heute bieten. Ganze Protestbewegungen entste-
hen online, Demonstrationen werden über soziale Netz-
werke organisiert, und die Blogosphäre entwickelt sich
zum Sprachrohr von denjenigen, die sonst nicht zu Wort
kommen, obwohl ihre Stimmen für demokratische Pro-
zesse wichtig sind. Nicht ganz ohne Grund also fürchten
sich hochgerüstete Diktaturen vor Twitter-Nachrichten
und begreifen YouTube oder Facebook als Gefahr für ihr
Regime. Das zeigt: Die zunehmende Vernetzung demo-
kratischer und oppositioneller Proteste mithilfe der
neuen Medien hat ein enormes Potenzial für die Demo-
kratisierung von nichtdemokratischen Staaten.
Doch die zunehmende Vernetzung unserer Welt birgt
auch erhebliche Gefahren. Das wissen wir nicht erst seit-
dem wir über zahlreiche große Daten- und Überwa-
chungsskandale in verschiedenen deutschen Unterneh-
men sprechen. Wir wissen es nicht erst seitdem wir über
die Möglichkeit der Auswertung von Daten, die im Zuge
30510 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013
(A) (C)
(D)(B)
die Vorratsdatenspeicherung gesammelt wurden, disku-
tieren. Und wir wissen es nicht erst seitdem die Praxis
der massenhaften Funkzellenabfragen bei Demonstratio-
nen und in anderen Zusammenhängen bekannt wurde.
Spätestens aber seitdem der Chaos Computer Club den
sogenannten Staatstrojaner zur heimlichen „Online-
durchsuchung“ untersucht und herausgefunden hat, dass
dessen potenzielle, im Quellcode versteckten Funktio-
nen offenbar mit verfassungsrechtlichen Vorgaben kaum
in Einklang zu bringen sind, wissen wir um die Gefahren
einer durch zunehmende Vernetzung möglichen umfas-
senden Überwachung unserer Kommunikation. Genau
aus dem Grund wollen wir das Fernmeldegeheimnis des
Art. 10 GG zu einem umfassenden Kommunikations-
und Mediennutzungsgeheimnis weiterentwickeln.
Nicht ohne Grund gelingt es dem BKA trotz größter
Mühen bis heute nicht, einen verfassungskonformen
Staatstrojaner herzustellen. Das zeigt: Wir bewegen uns
hier in einem verfassungsrechtlich hochsensiblen Be-
reich. Das zeigt aber auch: Wir haben es in ebendiesem
Bereich viel zu lange privaten Firmen überlassen, die
Verfassungskonformität der entsprechenden Programme
sicherzustellen. Wir haben outgesourct, wo man nicht
outsourcen darf. Dass das BKA noch immer auf die Pro-
dukte der einschlägigen Firmen zurückgreift, halten wir
daher für grundlegend falsch.
Heute wissen wir, welchen Zweck die sogenannte
Nachladefunktion des Staatstrojaners hatte, dessen
Quellcode den Behörden vor dem Hack des CCC
schlicht unbekannt war: Die mit öffentlichen Mitteln er-
stellten Programme wurden an zahlreiche Staaten dieser
Welt weitergeliefert, auch an solche, die es oftmals lei-
der mit der Einhaltung von Menschenrechtsstandards
nicht so genau nehmen, bzw. solche, die völlig offen die
Menschenrechte mit Füßen treten. So spürten Geheim-
dienste in Ländern wie Iran, Syrien oder Bahrain
mithilfe deutscher Technik politische Gegner auf. Unbe-
merkt zeichneten Programme Telefongespräche mit,
werteten Chatprotokolle und SMS aus, kopierten Pass-
wörter und beobachteten in sogenannten Monitoring-
Centern das Zusammentreffen von Zielpersonen. De-
monstrationen konnten so zielgerichtet aufgelöst und
Oppositionelle festgenommen werden. Nicht selten kam
es in der Folge zu Folter, unfairen Gerichtsverfahren
oder Hinrichtungen.
Nach dem Fall zahlreicher Regime haben wir Gewiss-
heit darüber, was vorher nur gemutmaßt werden konnte:
In zahlreichen Ländern des Nahen und Mittleren Ostens
sowie Nordafrikas wurden Programme deutscher und
europäischer Firmen eingesetzt, um die eigene Bevölke-
rung zu überwachen, auszuspähen und Oppositioneller
habhaft zu werden. Deutsche Unternehmen spielen auf
dem Markt der Überwachungs- und Zensurtechnik heute
eine herausgehobene Rolle. Die Entwicklungen der letz-
ten Jahre und die intensive Debatte über die Rolle der
neuen Medien in den Demokratiebewegungen verschie-
dener Länder haben auch den Fokus auf diejenigen ge-
richtet, die durch ihre Technik dazu beitragen, dass de-
mokratischer und oppositioneller Protest häufig
verstummte. Diese Diskussionen haben aber eben auch
gezeigt, dass erhebliche Defizite bezüglich der Kontrolle
des Exports entsprechender Technologie und Software
auf deutscher, europäischer und internationaler Ebene
bestehen.
Als Grüne machen wir die Bundesregierung seit lan-
gem auf diesen Umstand aufmerksam. Wir fordern, nicht
nur den Einsatz entsprechender Programme in Deutsch-
land solange auszusetzen, bis einwandfrei nachgewiesen
werden konnte, dass verfassungsrechtliche Vorgaben
auch eingehalten werden können. Zudem fordern wir die
schwarz-gelbe Bundesregierung seit mehreren Jahren
auf, dafür zu sorgen, dass deutsche Technik nicht länger
einen entscheidenden Beitrag zu massiven Menschen-
rechtsverletzungen weltweit leistet. Wir haben Sie,
meine Damen und Herren von CDU/CSU und FDP, im-
mer und immer wieder aufgefordert, nicht länger die
Augen vor diesen höchst fragwürdigen Geschäften zu
verschließen, sondern sich stattdessen für eine Effekti-
vierung der Exportbestimmungen einzusetzen. Gesche-
hen ist nichts.
Auch durch unsere wiederholten parlamentarischen
Nachfragen wurde vielmehr deutlich, dass Sie hier ein
wirklich perfides doppeltes Spiel spielen. Vertreterinnen
und Vertreter der Bundesregierung haben mit Hinweis
auf entsprechende Formulierungen des schwarz-gelben
Koalitionsvertrags, nach dem das Internet „das freiheit-
lichste und effizienteste Informations- und Kommunika-
tionsforum der Welt“ ist und „maßgeblich zur Entwick-
lung einer globalen Gemeinschaft“ beiträgt, in der
Vergangenheit wiederholt das demokratische Potenzial
der neuen Medien im Allgemeinen und des Internets im
Speziellen gelobt. So wurde Bundeskanzlerin Angela
Merkel im Zuge der Münchner Sicherheitskonferenz
2011 mit folgenden Worten zitiert: „Und dass man Face-
book und Twitter überall auf der Welt hat, dass es zuneh-
mend schwer wird, das zu sperren, ob es in China ist, in
Ägypten, in Tunesien oder sonst wo auf der Welt, das ist
auch ein kleines bisschen unser Verdienst.“
Während sich führende Vertreterinnen und Vertreter
der Bundesregierung erdreisten, die demokratisierende
Wirkung der neuen Medien als ihr ureigenes Verdienst
zu verkaufen, macht das innerhalb der Bundesregierung
federführende Ministerium bislang alles, um entspre-
chende Exporte weiter zu unterstützen und eine Begren-
zung des Exports zu verhindern. Während Sonntags-
reden über die demokratisierende Wirkung von sozialen
Netzwerken, Twitter und Co geschwungen werden,
drückt man bei CDU/CSU und FDP seit Jahren nicht nur
beide Augen zu, wenn es darum geht, dass deutsche
Technik demokratischen und oppositionellen Protest
verstummen lässt und man so mithilft, Regimekritiker in
Folterkellern verschwinden zu lassen. Man hilft diesen
Unternehmen sogar dabei, ihre Technik an den Despoten
zu bringen. Durch die Gewährung von Hermesbürg-
schaften, durch die Unterstützung bei Reisen und Auf-
tritten bei einschlägigen Messen, durch das Drucken von
Flyern, in denen diese „Ziviltechnik“ gelobt wird, durch
Schulungen von Personal im Umgang mit entsprechen-
den Technologien, aber auch dadurch, dass man, wenn
eine Effektivierung der Exportbestimmungen auf EU-
Ebene auf der politischen Agenda steht, entsprechende
Briefe an die deutschen Liberalen versendet, um sie mit
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013 30511
(A) (C)
(D)(B)
Hinweis auf hierdurch für deutsche Unternehmen entste-
hende bürokratische Hürden davon zu überzeugen, an-
ders als die Liberalen zahlreicher anderer Länder Euro-
pas, bitte gegen eine Effektivierung zu stimmen.
Während FDP-Bundesaußenminister Westerwelle bei
einer am Ende letzten Jahres durchgeführten internatio-
nalen Konferenz zu „Internet-Freedom“, übrigens wis-
send, dass er innerhalb der Bundesregierung gar nicht
zuständig ist, noch eine verbesserte Regulierung entspre-
chender Exporte in Aussicht stellte und sich mit den
Worten zitieren ließ, man dürfe „diesen Regimes nicht
die technischen Mittel geben, ihre Bevölkerung zu über-
wachen“, sieht das federführende Bundeswirtschafts-
ministerium das noch immer ganz anders. Auf meine
entsprechende Nachfrage an die Bundesregierung, wie
eine vom Bundesaußenminister in Aussicht gestellte
Kontrolle entsprechender Exporte durch deutsche Unter-
nehmen denn konkret aussehen soll, antwortet das Bun-
deswirtschaftsministerium vollkommen nichtssagend
und verweist auf Diskussionen zu einer möglichen Aus-
weitung des Kontrollregimes auf internationaler Ebene
im Rahmen des Wassenaar-Arrangements.
So sieht also die „verantwortungsbewusste Export-
kontrolle“ aus, von der Sie bis heute schwadronieren. Sie
suggerieren, sich für die Freiheit des Netzes einzusetzen,
und in Wirklichkeit ermöglichen Sie – zumindest indi-
rekt – Verfolgung und Folter „made in Germany“. Vor
Ihrer Verantwortung für eine freies und offenes Netz und
einem grundlegenden Schutz der Menschenrechte drü-
cken Sie sich. Ihnen ist der Profit eines einzigen Wirt-
schaftszweigs bis heute wichtiger als der Schutz der
Menschenrechte von Tausenden Aktivistinnen und Akti-
visten weltweit. Das ist schäbig.
Leider sind weder der vollmundigen Ankündigung
des Bundeswirtschaftsministers noch denen aus Reihen
der CSU-Fraktion, eine Gesetzesänderung, die „einen
demokratiefeindlichen Missbrauch von moderner Über-
wachungstechnik verhindert“, vorzulegen, aber auch der
Vertreter der FDP-Fraktion, die eine „Klarstellung im
Kriegswaffenkontrollgesetz“, mit der verhindert werden
soll, dass „Regierungen, die menschenrechtswidrig han-
deln“, einen „Zugang zu solcher Software erhalten“, in
Aussicht stellten, bis heute irgendwelche Taten gefolgt.
Weil Sie scheinbar weder willens noch in der Lage
sind, endlich den Export dieser digitalen Waffen, die
heute ähnlich gefährlich wie ein Kampfpanzer sind, ef-
fektiv einzudämmen, aber auch, um Ihnen die Chance zu
geben, Ihren hehren Worten doch noch am Ende dieser
Legislatur tatsächlich Taten folgen zu lassen, haben wir
nun unseren lange angekündigten Antrag mit dem Titel
„Export von Überwachungs- und Zensurtechnologie an
autoritäre Staaten verhindern – Demokratischen Protest
unterstützen“ vorgelegt.
In unserem Antrag machen wir Ihnen verschiedene
Vorschläge, wie eine Effektivierung konkret aussehen
könnte. Wir fordern Sie auf, sofort alle Möglichkeiten zu
nutzen, um den Export von entsprechender Technologie
und Software auf nationaler Ebene zu regulieren und in
autoritäre Staaten zu unterbinden sowie, sollte dies not-
wendig sein, dem Bundestag hierzu eine entsprechende
Gesetzesinitiative vorzulegen.
Darüber hinaus fordern wir Sie auf, auch auf europäi-
scher Ebene dafür zu sorgen, dass entsprechende Techno-
logie und Software entweder in die Dual-Use-Liste aufge-
nommen wird oder dass ein dem bisherigen Dual-Use-
Regime entsprechender Kontrollmechanismus eingerich-
tet wird. Da wir wissen, dass dies eine gewisse Zeit in An-
spruch nimmt, empfehlen wir Ihnen, sich bis zur Umset-
zung dieser Maßnahmen für mehr Einzelembargos gegen
Länder einzusetzen, bei denen Defizite im Rechtsstaat-
lichkeits- oder Menschrechtsbereich bestehen.
Diese Länderembargos, die es unter anderem für Iran
und Syrien heute schon gibt, dürfen jedoch nur eine Über-
gangslösung sein. Daher fordern wir Sie noch einmal dazu
auf, sich auch im Rahmen der Verhandlungen um eine
Neuauflage des Wassenaar-Abkommens tatsächlich dafür
einzusetzen, dass Technologien und Software, die zur in-
ternen Überwachung und Zensur genutzt werden können,
künftig als „digitale Rüstungsgüter“ erfasst werden und
der Handel mit ihnen so effektiv reguliert wird.
Ferner erwarten wir von Ihnen, die Entwicklung von
Überwachungs- und Zensursoftware durch private
Unternehmen nicht länger mit öffentlichen Geldern zu
fördern und zu gewährleisten, dass keine Hermesbürg-
schaften für entsprechende Exporte mehr übernommen
werden. Statt den Handel mit Technologien zu beför-
dern, die lediglich das Ziel haben, Menschen zu über-
wachen und auszuforschen, um sie anschließend Repres-
sionen auszusetzen, fordern wir Sie auf, sich auf
europäischer und internationaler Ebene verstärkt für den
freien und ungehinderten Zugang zum Internet einzuset-
zen, um so das demokratische Potenzial der neuen
Medien für Demokratie und Rechtstaatlichkeit tatsäch-
lich bestmöglich nutzbar zu machen. Hierfür ist es von
elementarer Bedeutung, auch die Entwicklung und die
Verbreitung von Techniken, die eine Umgehung staatli-
cher Überwachungs- und Zensurbestrebungen ermögli-
chen und so Menschen, die demokratischen und opposi-
tionellen Protest zum Ausdruck bringen, vor staatlicher
Verfolgung schützen, stärker zu unterstützen.
Zu guter Letzt fordern wir Sie auf, dem Bundestag
halbjährlich über Ihre bisherigen Tätigkeiten einen
Bericht vorzulegen. Vor dem Hintergrund entsprechen-
der – interfraktionell verabschiedeter – Handlungsemp-
fehlungen der Enquete-Kommission „Internet und digi-
tale Gesellschaft“, aber auch vor dem Hintergrund
deutlicher Aussagen sowohl von Vertretern der Bundes-
regierung als auch der Koalitionsfraktionen dieses
Hohen Hauses werden wir uns die heutigen Debattenbei-
träge ganz genau anschauen.
Anlage 16
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Bologna-Reform –
Positive Entwicklungen stützen, Fehler korri-
gieren und Verbesserungen durchsetzen (Zu-
satztagesordnungspunkt 7)
Tankred Schipanski (CDU/CSU): Wir debattieren
heute einen Antrag der SPD mit dem Titel „Bologna-Re-
form: Positive Entwicklungen stützen, Fehler korrigie-
30512 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013
(A) (C)
(D)(B)
ren und Verbesserungen durchsetzen“. Viele der Forde-
rungen haben mit dem Bologna-Prozess allerdings
wenig oder gar nichts zu tun; andere sind alte Evergreens
der SPD, die kurz vor der Bundestagswahl noch einmal
aufgewärmt werden. So kennen wir die Forderungen
nach einem „Hochschulsozialpakt“ aus der Plenar-
debatte vom 9. Februar 2012. Der „Hochschulpakt Plus“
war bereits am 20. Oktober 2011 Thema.
Lassen Sie mich eingangs festhalten, dass wir bei der
Umsetzung des Bologna-Prozesses auf einem sehr guten
Weg sind. Die Umstellung auf eine gestufte Studien-
gangstruktur verläuft sehr erfolgreich. An Universitäten
führen heute 85 Prozent der Studiengänge zu einem
Bachelor- oder Masterabschluss; an Fachhochschulen
sind es sogar 97 Prozent. Absolventen haben sehr gute
Chancen auf dem Arbeitsmarkt; die Akzeptanz für die
neuen Studienabschlüsse – insbesondere auch für den
Bachelor – steigt. Es stehen ausreichend Masterstudien-
plätze für Bachelorabsolventen zur Verfügung. Die Zahl
der deutschen Studierenden im Ausland ist 2009 auf
115 500 gestiegen. Das sind mehr als doppelt so viele
wie 1999. Diese Erfolge sind umso bemerkenswerter, da
die Hochschulen während der Umsetzung des Bologna-
Prozesses enorme Zuwächse bei den Studierendenzahlen
verkraften müssen. Zu Beginn des Bologna-Prozesses
im Jahr 1998 waren 272 000 Studierende an deutschen
Hochschulen eingeschrieben. Heute sind es ungefähr
doppelt so viele.
Einige dieser Erfolge erkennen Sie in Ihrem Antrag
– nicht zuletzt in der Überschrift – ausdrücklich an. Den-
noch gehen unsere Auffassungen zu den Auswirkungen
des Bologna-Prozesses gleich auf der ersten Seite Ihres
Antrags auseinander. Sie sind der Auffassung, dass die
schlechte Umsetzung des Bologna-Prozesses „zur Redu-
zierung von selbstbestimmten kritischen Anteilen im
Studium, zur Gefährdung der Einheit von Forschung und
Lehre und zur Verengung auf eine Fachlichkeit ohne in-
terdisziplinäre Bezüge und Einbettung in umfassende
theoretische Kontexte geführt hat.“
Ich sehe die Entwicklung deutlich positiver. Nach
meiner Überzeugung hat die Einführung abgestufter Stu-
diengänge in erster Linie zu einem spürbar besser struk-
turierten Studienverlauf geführt. Das gilt für die Sozial-
wissenschaften in besonderem Maße. Auch wird die
Einheit von Forschung und Lehre durch den Bologna-
Prozess nicht gefährdet; vielmehr führt ein stärkerer Pra-
xisbezug in vielen Studiengängen zu spürbar besserer
Vorbereitung auf das spätere Berufsleben.
Bei der Beurteilung der Studienabbrecherquoten
zeichnen Sie in Ihrem Antrag ein Zerrbild der Realität.
Richtig ist, dass die Quoten in den ersten Jahren nach der
Einführung von Bachelor- und Masterstudiengängen we-
gen Übergangs- und Anpassungsproblemen angestiegen
sind. Zur Wahrheit gehört aber auch: An Fachhochschu-
len hat sich die Quote der Studienabbrecher nach der
Einführung von Bachelor und Master zwischen 2006
und 2010 von 39 Prozent auf 19 Prozent halbiert. Dies
geht aus einer HIS-Studie vom 7. Mai 2012 hervor, auf
die Sie sich offenbar auch berufen. Die Autoren weisen
darauf hin, dass diese positive Entwicklung an Fach-
hochschulen – wegen der dort früheren Einführung von
Bachelor und Master – zeitverzögert voraussichtlich
auch an Universitäten Einzug halten wird. Deshalb darf
erwartet werden, dass der Bologna-Prozess durch die
Einführung abgestufter Studiengänge sehr wohl zur Sen-
kung der Studienabbrecherquoten beitragen wird. Ihre
Schlussfolgerung, wonach das Ziel der Senkung der Ab-
brecherquoten verfehlt worden sei, ist nicht statthaft.
Lassen Sie mich zu Ihrem Forderungskatalog kom-
men und einige der SPD-Vorschläge kommentieren. Zu-
nächst wollen Sie die soziale Situation der Studierenden
verbessern und hierfür das BAföG erhöhen sowie einen
Hochschulsozialpakt beschließen. Zu Letzterem habe
ich in meiner Rede vom 9. Februar 2012 bereits Stellung
genommen, deshalb hier nur so viel: Die Finanzierung
von Wohnheimplätzen, Kinderbetreuungsangeboten und
Studierendenwerken ist Ländersache. Anders sieht es
beim BAföG aus, das Bund (60 Prozent) und Länder
(40 Prozent) gemeinsam finanzieren. Die Bundesregie-
rung muss nicht zu einer Erhöhung von Bedarfssätzen
und Freibeträgen aufgefordert werden. Hierzu hat sich
Ministerin Wanka im Vorfeld der letzten GWK-Sitzung
am 12. April 2013 schon bereit erklärt. Zielführender
wäre es, diesen Appell an die SPD-Wissenschaftsminis-
ter zu richten. Die Länder müssen sich endlich einigen,
ob sie die vom Bund vorgeschlagene Erhöhung mittra-
gen wollen oder nicht. Bei einer BAföG-Erhöhung kom-
men wir nur gemeinsam voran, und die Länder sind am
Zug.
Zweitens fordern Sie – wieder einmal – einen „Hoch-
schulpakt Plus“, um die Kapazitäten der Hochschulen
weiter auszuweiten. Erst vor wenigen Wochen hat sich
die Bundesregierung bereit erklärt, den Hochschulpakt
nochmals massiv aufzustocken. Für die zweite Förder-
phase (2011 bis 2015) stellt der Bund zusätzlich 2,2 Mil-
liarden Euro zur Finanzierung neuer Studienplätze zur
Verfügung. Damit sind bis 2015 insgesamt 625 000 Stu-
dienplätze ausfinanziert. Für die Jahre 2016 bis 2018 hat
der Bund seine Zusagen um 1,7 Milliarden Euro auf
nunmehr 2,7 Milliarden Euro erhöht. Insgesamt stellt die
Bundesregierung bis 2018 noch einmal zusätzlich 4 Mil-
liarden Euro zur Verfügung, obwohl die Grundfinanzie-
rung von Hochschulen Ländersache ist. Das freiwillige
Engagement der Bundesregierung zur Ausfinanzierung
von Studienplätzen ist enorm. Vor diesem Hintergrund
einen zusätzlichen „Hochschulpakt Plus“ zu fordern,
halte ich für abwegig.
Nun zu Ihrem dritten Forderungspunkt – die Stärkung
der Forschung an Fachhochschulen. Es ist richtig, dass
die Fachhochschulen die Herausforderungen des
Bologna-Prozesses besonders gut bewältigt haben. Ich
bin jedoch auch überzeugt, dass wir mit der bisherigen
Aufgabenteilung zwischen Universitäten und Fachhoch-
schulen sehr erfolgreich gewesen sind und sie deshalb
beibehalten werden muss. Die Stärke der Fachhochschu-
len liegt im Angebot von praxisnahen und anwendungs-
orientierten Studiengängen, die Absolventen optimal auf
Berufe in der Wirtschaft vorbereiten. Universitäten bie-
ten demgegenüber stärker forschungsgeleitete Studien-
gänge an und bereiten auf eine Karriere in der Wissen-
schaft vor. Für leistungsstarke FH-Studenten gibt es die
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Möglichkeit, in Kooperation mit einer Universität zu
promovieren. Eine weitere Vermischung dieser erfolg-
reichen Aufgabenteilung, so wie Sie es in Ihrem Antrag
vorschlagen, lehne ich ab.
Des Weiteren fordern Sie den Bund auf, die Grund-
finanzierung der Hochschulen zu verbessern. Wie Sie
wissen, ist die Sicherstellung der Grundfinanzierung der
Hochschulen aber Ländersache. Tatsächlich könnten die
Länder zum Beispiel Ihre Forderung nach der „Auflage
einer Personaloffensive für die Hochschulen“ sofort in
die Tat umsetzen. Ich schlage deshalb vor, Sie wenden
sich mit dieser Anregung an Ihre SPD-Wissenschafts-
minister. Wie eine solche Personaloffensive inhaltlich
ausgestaltet werden könnte, haben wir in unserem An-
trag „Exzellente Rahmenbedingungen für den wissen-
schaftlichen Nachwuchs fortentwickeln“ – Bundestags-
drucksache 17/9396 – aufgezeigt.
Abenteuerlich wird es bei Forderungspunkt 6, der
Aufforderung zur Vorlage eines Gesetzentwurfs für eine
Grundgesetzänderung. Die Bundesregierung hat bereits
im vergangenen Jahr einen solchen Entwurf vorgelegt,
der es dem Bund erlauben würde, Hochschulen dauer-
haft mitzufinanzieren. Diesen Vorschlag blockiert der
SPD-geführte Bundesrat aber seit Monaten. Der Verweis
auf den darin nicht geregelten Bildungsbereich ist ein
durchsichtiges Ablenkungsmanöver. Tatsächlich werden
die Hochschulen von der SPD für rein wahltaktische
Manöver in Geiselhaft genommen. Wenn es nach CDU/
CSU und FDP ginge, könnten Universitäten und Fach-
hochschulen schon heute dauerhaft finanzielle Unterstüt-
zung vom Bund erhalten. Es ist schlichtweg heuchle-
risch, auf Seite 1 Ihres Antrags zu der Erkenntnis zu
gelangen, dass Probleme bei der Umsetzung der Bolo-
gna-Reformen auf die chronische Unterfinanzierung der
Hochschulen zurückzuführen seien, und gleichzeitig
eine bessere finanzielle Ausstattung von Universitäten
und Fachhochschulen durch die eigene Blockadehaltung
systematisch zu verhindern.
Lassen Sie mich das Wesentliche zusammenfassen.
Erstens. Wir kommen bei der Umsetzung des Bologna-
Prozesses insgesamt sehr gut voran. Anzeichen hierfür
sind die weitgehend abgeschlossene Umstellung der Stu-
diengänge auf Bachelor und Master und der rasante
Anstieg der internationalen Mobilität. Zweitens. Viele
Vorschläge, die vonseiten der SPD im heute debattierten
Antrag unterbreitet werden, sind entweder altherge-
bracht oder haben mit dem Bologna-Prozess nichts zu
tun. Und drittens sind wir bei einigen grundlegenden
Forderungen der SPD schlicht anderer Auffassung. Dies
gilt beispielsweise für die Ausrichtung der Fachhoch-
schulen, die Zuständigkeit für die Grundfinanzierung der
Hochschulen oder den Umgang mit unserem Gesetzent-
wurf zur Änderung des Grundgesetzes. Aus diesen
Gründen lehnen wir den SPD-Antrag ab.
Swen Schulz (Spandau) (SPD): Die hochschulpoli-
tische Bilanz der Koalition fällt dürftig aus. Mit Hängen
und Würgen und auf den letzten Metern hat es die Bun-
desregierung – gemeinsam mit den Ländern – geschafft,
den Hochschulpakt auszuweiten. Das ist gut, aber doch
nicht mehr als eine Pflichtaufgabe gewesen. Doch da-
rüber hinaus hat die Koalition fast nichts zuwege ge-
bracht. Abgesehen natürlich vom sogenannten Deutsch-
land-Stipendium, das aber leider in die falsche Richtung
geht: Statt Bedürftigen einen Rechtsanspruch auf Unter-
stützung zu geben, werden hier wenige unabhängig von
Bedürftigkeit finanziert.
Die Handlungsverweigerung der Koalition ist ange-
sichts der Herausforderungen im Hochschulbereich
nachgerade sträflich. Wie steht es um die Bologna-
Hochschulreform in Deutschland?
Grundsätzlich ist zu sagen, dass es richtig war,
Europa im Hochschulbereich mit dem Bologna-Prozess
durch die Einführung eines gestuften Studiensystems aus
Bachelor und Master mit europaweit vergleichbaren Ab-
schlüssen und der Steigerung der Mobilität zusammen-
wachsen zu lassen. Doch auch nach zehn Jahren gibt es
Probleme. Die sind zu einem wesentlichen Teil dadurch
entstanden, dass die Hochschulen in Deutschland chro-
nisch unterfinanziert sind. Für den durch den Bologna-
Prozess entstandenen Mehrbedarf sind keine ausreichen-
den finanziellen Mittel zur Verfügung gestellt worden,
und das hat teilweise zu unvertretbaren Studienbedin-
gungen geführt. Die seit Jahren erfreulicherweise stei-
genden Studierendenzahlen werden das Problem der Un-
terfinanzierung noch verstärken.
Unser Antrag greift die wesentlichen Probleme im
Hochschulwesen auf und zeigt die Richtung, in die wir
nach Regierungsübernahme gehen wollen. Von zentraler
Bedeutung ist, die soziale Situation der Studierenden zu
verbessern und damit die Bildungschancen auszuweiten.
In diesem Zusammenhang ist es auch wichtig, die Hoch-
schulen für alle, die studieren möchten, zu öffnen. Das
wollen wir erreichen durch die Verbesserung des BAföG.
Bedarfssätze und Freibeträge müssen bedarfsgerecht er-
höht und künftig kontinuierlich an steigende Lebenshal-
tungskosten angepasst werden.
Wir müssen die Lernbedingungen für Menschen mit
Behinderung und chronisch Kranke verbessern durch
optimierte Studierbarkeit, Beratung und Betreuung so-
wie entsprechende Infrastruktur.
Mit einem neuen Schüler-BAföG wollen wir mehr
jungen Menschen den Weg zur Hochschule ebnen.
Ein Hochschulsozialpakt ist nötig zur Ausweitung ei-
nes preiswerten Angebotes an Wohnheimplätzen, an flä-
chendeckenden Kinderbetreuungsangeboten sowie zur
Stärkung der Studierendenwerke und ihrer Beratungs-
und Unterstützungsangebote.
Beruflich Qualifizierten muss der Einstieg in die
Hochschulen erleichtert werden durch passgenaue Ange-
bote und durch Anreize im Hochschulpakt mit einer er-
höhten Finanzierungssumme für diese Studienanfänge-
rinnen und Studienanfänger.
Strukturierte Vorbereitungskurse in Zusammenarbeit
mit Schulen, Bildungsträgern und Betrieben können hel-
fen, die Hochschulen weiter für Menschen zu öffnen, die
bislang nicht studieren.
30514 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013
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Der Ausbau und die bessere Förderung der berufsbe-
gleitenden Studiengänge sowie die verstärkte Schaffung
von Teilzeitstudienangeboten, um insbesondere Studie-
rende, die Angehörige pflegen, Kinder erziehen und mit
Erkrankungen leben müssen, zu unterstützen, sind eben-
falls nötig.
Ziel dieser Maßnahmen ist, allen die gleichen Bil-
dungschancen zu geben, unabhängig von ihrer Herkunft,
ihrer Familie, ihrer individuellen Lebenssituation. Das
kann aber natürlich nur erfolgreich sein, wenn ausrei-
chend Studienangebote zur Verfügung stehen. Die Kapa-
zitäten der Hochschulen müssen weiter ausgeweitet und
damit die Zulassungsbeschränkungen wie NC zurückge-
drängt werden. Dazu muss die Bundesregierung mit den
Ländern sofort in Gespräche über die Vereinbarung eines
„Hochschulpaktes Plus“ eintreten. Wesentliche Ele-
mente dieses neuen Hochschulpaktes sind die frühzeitige
Vereinbarung einer dritten Programmphase bis 2020 zur
Abdeckung des Bedarfs entsprechend der aktuellen Stu-
dienanfängerprognosen und der Ausbau von Masterstu-
dienplätzen durch ein Sonderprogramm, um sicherzu-
stellen, dass allen interessierten Bachelorabsolventinnen
und -absolventen der Weg zum Master offensteht.
Wenn wir über die Hochschullandschaft sprechen,
dürfen wir uns nicht nur auf die Universitäten fokussie-
ren. Im Gegenteil sehen wir, wie erfolgreich und wichtig
die Fachhochschulen sind. Sie wollen wir weiter stärken
durch eine intensivierte Förderung kooperativer Promo-
tionsvorhaben von Fachhochschulen und Universitäten,
die Erhöhung des Haushaltstitels „Forschung an Fach-
hochschulen“ um 20 Millionen Euro pro Jahr und eine
stärkere Einbindung und Förderung von an Fachhoch-
schulen aktiven Wissenschaftlerinnen und Wissenschaft-
lern durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft.
Eine weitere wichtige Herausforderung: die Verbesse-
rung der Lehre an den Hochschulen und die Verbesse-
rung der Grundfinanzierung. Wir wollen das Prinzip
„Geld folgt Studierenden“ einführen. Damit werden die
Aufwendungen für die Lehre und das Bemühen um Stu-
dierende belohnt, und der Bund übernimmt die Kosten
für ausländische Studierende.
Wir wollen darüber hinaus einen „Abschlussbonus“,
mit dem erfolgreiche Lehre angereizt und unterstützt
wird, einführen, eine „Deutsche Gesellschaft für Hoch-
schullehre“, die innovative Lehrkonzepte finanziell un-
terstützt, gründen, die Auflage einer Personaloffensive
für die Hochschulen mit zunächst 2 500 zusätzlichen
Professuren sowie 1 000 zusätzlichen Juniorprofessuren,
die Aus- und Weiterbildungsangebote von Lehrenden
fördern und zusammen mit den Ländern darauf hinwir-
ken, die Bezahlung von wissenschaftlichen und studenti-
schen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu verbessern.
Weiterhin ist die Struktur und Studierbarkeit der Stu-
diengänge gemeinsam mit den Ländern und Hochschu-
len zu verbessern. Zu diesem Zweck soll eine „Nationale
Bologna-Konferenz“ auf zunächst fünf Jahre eingerich-
tet und institutionalisiert werden. Sie soll in Zusammen-
arbeit aller Akteure von Bund, Ländern, Hochschulen
und unter Einbezug der Studierenden eine kritische
Überprüfung der bisherigen Reform vornehmen und
Verbesserungen erarbeiten.
Der Bund muss auch bei den Ländern und Hochschu-
len darauf hinwirken, die Mobilität Studierender zu stär-
ken. Hierbei muss der Fokus auf der europaweiten An-
gleichung der ECTS-Punkte, der Anerkennung von im
Ausland bzw. an anderen Hochschulen erbrachten Leis-
tungen und einer verstärkten Wahlfreiheit von Modulen
liegen. Grundsätzlich sind die Chancen einer solchen
europaweiten Hochschulreform auch für eine Intensivie-
rung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit der
Hochschulen in Europa zu nutzen, um die europäische
Bildungsidee, den europäischen Hochschullehrer und
den Austausch und die Kooperation der Hochschulen in
Studium, Lehre, Forschung und Management zu beför-
dern bis hin zur verstärkten Einrichtung von Europa-
Hochschulen.
Und schließlich sind die Zugangsvoraussetzungen zum
öffentlichen Dienst an die neue gestufte Studienstruktur
anzupassen und der Wertigkeit eines Bachelorabschlusses
angemessener als bisher Rechnung zu tragen. Wir wollen
das erreichen, indem Bachelorabsolventen bei Vorliegen
zusätzlicher, beruflicher Qualifikationen zum höheren
öffentlichen Dienst zugelassen werden können. Die da-
für bisher geltenden Verfahren sollen einer Evaluation
unterzogen und dem Deutschen Bundestag soll im Jahr
2014 ein Bericht vorgelegt werden.
Viele der hier vorgestellten Initiativen sind letztlich
nicht möglich, wenn nicht die Kooperation von Bund
und Ländern verbessert wird. Eine entsprechende
Grundgesetzänderung ist dafür unerlässlich – und zwar
nicht die leichtgewichtige Variante der CDU/CSU und
FDP, beschränkt auf einige wenige Spitzeninstitute der
Wissenschaft. Vielmehr ist eine umfassende Koopera-
tionsermöglichung für den gesamten Bildungsbereich
nötig, so, wie sie von der SPD in Bundestag und Bun-
desrat vorgeschlagen wurde.
Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP): In gewohnter
Weise legt die SPD-Fraktion dem Deutschen Bundestag
ihren alljährlichen Bologna-Antrag zur Beratung vor.
Während die Sozialdemokraten im Feststellungsteil ein
von Jahr zu Jahr immer weniger negatives Bild zu den
Ergebnissen des Bologna-Reformprozesses malen, wird
– je näher die Bundestagswahl rückt – der Forderungsteil
immer länger. Allein dieser augenfällige Umstand macht
hellhörig – zu Recht, wie ich meine.
Die Bologna-Beschlüsse waren die richtige Weichen-
stellung hin zu einem europäischen Hochschulraum. Die
Einführung von Bachelor und Master hat unsere deut-
sche Hochschullandschaft vollkommen umgekrempelt.
Einen solch tiefgreifenden Reformprozess hat es in der
Geschichte unserer Hochschulen noch nicht gegeben.
Und nach mehr als einer Dekade haben die Studierenden
von heute – im Gegensatz zu den meisten Lehrenden –
niemals eine andere Hochschullandschaft kennengelernt.
Auch wenn die Kollegen von der SPD dies offenbar an-
ders wahrnehmen: Die meisten Studierenden – das zeigt
der jüngste Bericht zur Umsetzung des Bologna-Prozes-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013 30515
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ses in Deutschland – sind mit sich und der eigenen Stu-
diensituation äußerst zufrieden.
Auch im Allgemeinen kann und darf der Bologna-Re-
formprozess trotz der vielen Fehler, die leider zu Beginn
unter rot-grüner Ägide gemacht wurden, als erfolgreich
bezeichnet werden. Heute ist Deutschland Spitze bei der
Umstellung auf Bachelor und Master: 85 Prozent aller
Studiengänge sind bereits umgestellt, und bei den Fach-
hochschulen sind es gar 97 Prozent. Auch nimmt die
Mobilität der Studierenden stetig zu. Jeder dritte Hoch-
schulabsolvent hat einen studienbezogenen Auslands-
aufenthalt hinter sich. In den letzten zehn Jahren hat sich
die Zahl der deutschen Studierenden im Ausland auf
115 500 verdoppelt. Und schließlich sind unsere Hoch-
schulen auch bei der Qualitätssicherung spitze, was
glücklicherweise in den hervorragenden Beschäftigungs-
chancen für unsere Bachelorabsolventen sichtbar wird.
Das bestätigen zahlreiche Studien.
Angesichts der vielen Fehler – die Antragsteller wei-
sen dankenswerterweise selbst darauf hin –, die in den
Anfangsjahren gemacht wurden, muss dieses Resultat
überraschen. Obwohl die damalige rot-grüne Bundes-
regierung die Bologna-Reform wie ein Findelkind denk-
bar schlecht finanziell ausgestattet in die harte Realität
ausgesetzt hat, haben unsere Hochschulen diese Mam-
mutaufgabe bisher gut geschultert. Dort, wo sich Hoch-
schulen, Lehrende und Studierende dem Reformprozess
gestellt haben, ist er heute weitestgehend geglückt. An-
ders kann meine Fraktion jedenfalls nicht bewerten, dass
zum Beispiel die Zahl der Studienanfänger von 2009 bis
2011 um mehr als 20 Prozent angewachsen ist und die
Studienanfängerquote heute bei über 50 Prozent liegt.
Die Rahmenbedingungen für den Bologna-Reformpro-
zess hätten schlechter kaum sein können. Die seinerzei-
tige Bundesministerin Edelgard Bulmahn von der SPD
gab zwar gern mit lautem Getöse den Startschuss, das nö-
tige Geld jedoch stellte sie den Hochschulen nicht zur
Verfügung. Die ohnehin unterfinanzierten Hochschulen
wurden ihrem Schicksal „Bologna“ selbst überlassen und
versuchten, diese Mammutaufgabe bestmöglich zu meis-
tern. Erst als die Umsetzungsschwierigkeiten immer
deutlicher sichtbar wurden, musste gegengesteuert wer-
den, um den Prozess nicht zum Scheitern zu bringen.
Schließlich war es diese christlich-liberale Koalition, die
kurz nach Regierungsantritt das Heft des Handelns an
sich nahm und durch eine deutliche Aufstockung des
Hochschulpakts mit einem heutigen Gesamtanteil des
Bundes von mehr als 10 Milliarden Euro, mit einem
2 Milliarden Euro schweren Qualitätspakt für eine bes-
sere Lehre und mit einer lange überfälligen Modernisie-
rung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes, BAföG,
den Bologna-Reformprozess vor dem Scheitern be-
wahrte. Doch wo waren eigentlich Sie, verehrte Kolle-
gen von der SPD? Anstatt unsere Initiativen berechtig-
terweise zu loben und positiv zu begleiten, erdreisten Sie
sich seit Jahren – nachdem Sie so gut wie nichts für ein
erfolgreiches Gelingen beigetragen haben –, uns zu kriti-
sieren und immer mehr zu fordern, als wir es bereits tun!
Angesichts dessen, was wir seit Herbst 2009 geleistet
haben, ist es eben dann doch nicht ein so überraschendes
Resultat des Bologna-Prozesses in Deutschland. Es sind
die Früchte erfolgreicher Arbeit von CDU/CSU und
FDP. 13 Milliarden Euro mehr für Bildung und For-
schung zeitigen eben Effekte. Es ist nur traurig, dass die
Anstrengungen des Bundes gerade im Bereich der Hoch-
schulfinanzierung, die ja ureigenste Aufgabe der Länder
ist, von eben den Ländern, die von SPD, Grünen und
Linken regiert werden, nicht adäquat flankiert werden.
Viel schlimmer noch: Gerade diese Länder kürzen den
Hochschulen fleißig die Mittel weg – ob nun in Branden-
burg oder Sachsen-Anhalt. Und sie schlagen ihnen mit
der populistischen Abschaffung der Studienbeiträge ein
wichtiges finanzielles Standbein weg – ob nun in Baden-
Württemberg oder Nordrhein-Westfalen. Sofort folgt der
berühmte sozialdemokratische Ruf nach mehr Bundes-
mitteln. Sie wollen den Bund als Lückenbüßer und Spar-
schwein der SPD-regierten Länder missbrauchen, die
nicht in der Lage oder willens sind, ausreichend eigene
Anstrengungen zu unternehmen und die Prioritäten rich-
tig zu setzen.
Der heute vorliegende Antrag der SPD-Fraktion ist
ein trauriger Höhepunkt in der Präsentation der hoch-
schulpolitischen Ahnungslosigkeit der Antragsteller.
Obwohl gerade eben der Hochschulpakt erneut aufge-
stockt wurde, fordern sie einen „Hochschulpakt-Plus“ –
vermutlich in völliger Unwissenheit um die Wirkung der
Schuldenbremse in den Ländern. Der Bund jedenfalls
unterstützt die Länder sehr großzügig bei ihrer grund-
gesetzlich verankerten Aufgabe, die Finanzierung der
Hochschulen sicherzustellen. Selbst beim BAföG haben
wir wiederholt Verhandlungsbereitschaft signalisiert.
Ein verbindliches Angebot seitens der Länder ist mir je-
doch bis heute nicht bekannt. Gleiches Bild bei der For-
derung nach einer Änderung des Grundgesetzes: Unser
Vorschlag zur Lockerung des Kooperationsverbots für
den Hochschulbereich durch eine Änderung in Art. 91 b
des Grundgesetzes liegt seit Monaten vor. Einzig die Op-
positionsfraktionen und natürlich die von SPD, Grünen
und Linken regierten Länder verweigern sich auch hier.
Ich fordere Sie auf: Hören Sie auf, Bologna schlecht zu
reden, sondern begleiten Sie dort, wo Sie Verantwortung
haben, den Reformprozess positiv! Und unternehmen
Sie endlich eigene Anstrengungen, Bologna zum Erfolg
zu führen!
Nicole Gohlke (DIE LINKE): Von Anfang an waren
mit der Umsetzung der Bologna-Reform große Schwie-
rigkeiten verbunden: eine massive Zunahme an zeitlicher
Belastung, an Workload und Prüfungen, eine Verschlech-
terung hinsichtlich eines selbstbestimmten, kritischen
und interdisziplinären Studierens, die Entstehung neuer
sozialer Hürden durch den Master oder die Verknappung
von Studieninhalten durch die Verkürzung der Regelstu-
dienzeit.
An der Bundesregierung ging das alles vorbei, Ganz
nach gewohntem Muster ignorierte sie das Thema und
versuchte, entstandene Probleme auszusitzen. Wenn die
Regierung reagierte, dann nur, weil sich der Widerstand
gegen die Reform und weil sich der Druck der Studie-
renden und Lehrenden wie bei den Bildungsprotesten
2009/2010 einfach nicht mehr ignorieren ließen.
30516 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013
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Eine Maßnahme war die Einberufung einer Nationa-
len Bologna-Konferenz, bei der sich die Politik mit den
Nöten und Sorgen der Studierenden beschäftigen sollte.
Konsequenzen folgten daraus allerdings nicht. Die Fol-
gekonferenz im vergangenen Jahr wurde sogar ohne Be-
gründung einfach komplett abgesagt. Die Regierung
stellte wieder auf Ignoranz und das Prinzip Hoffnung:
Das Thema möge doch bitte sehr im Sande verlaufen.
Dass das Thema weiterhin wirklich drängend ist, be-
legt eine kürzlich erschienene Studie: Zwei Drittel der
Universitätsprofessorinnen und Universitätsprofessoren
sind unzufrieden mit der Einführung der BA/MA-Struk-
tur. Und das belegen nicht zuletzt Äußerungen der Hoch-
schulrektorenkonferenz und sogar der Wirtschaft, die im
Zweifel sind, ob die verkürzten Studienzeiten, ob die
Mega-Ausdifferenzierung in 16 000 Studiengänge und
ob die Einseitigkeiten, die dadurch hervorgerufen wur-
den, überhaupt noch in ihrem Interesse sind. Im Interesse
der Studierenden und Lehrenden war es nie – wie auch,
wenn zum Beispiel Uni-Absolventinnen und -Absolven-
ten mit Bachelorabschluss 20,3 Prozent weniger gegen-
über den Absolventen mit traditionellen Abschlüssen
verdienen.
Die Linke fordert weiterhin die grundlegende Reform
des Bologna-Prozesses. Unser Ziel ist, die Durchlässigkeit
im Studium zu erhöhen, anstatt neue Hürden einzuziehen.
Diesbezüglich haben wir bereits viele Vorschläge ge-
macht:
Der Zugang zum Masterstudium darf von keinen wei-
teren Zugangskriterien abhängig gemacht werden als
dem Bachelorabschluss.
Neben dem Ziel der beruflichen Qualifizierung müssen
gleichwertig weitere Studienziele wie wissenschaftliches
Arbeiten, Persönlichkeitsentwicklung und Verständnis ge-
sellschaftlicher Zusammenhänge und Prozesse verankert
werden.
Das Studium muss selbstbestimmt gestaltet werden
können, mit einem großen Anteil frei wählbarer Lehr-
veranstaltungen bzw. Module, die eine eigene Schwer-
punktsetzung wirklich ermöglichen.
Die Chance von Kindern aus akademischen Eltern-
häusern, ein Studium aufzunehmen, ist sechsmal höher
als bei Kindern aus sogenannten bildungsfernen Schich-
ten. Politisches Anliegen muss es doch sein, die soziale
Dimension zu stärken. Gemeinsam mit den anderen Bo-
logna-Staaten muss das verbindliche Ziel der Öffnung
der Hochschule und der Verbesserung der sozialen Lage
der Studierenden verankert werden, um allen, die studie-
ren möchten, dies auch zu ermöglichen. So macht eine
koordinierte Hochschulpolitik Sinn: und nicht das, was
wir hier seit 14 Jahren präsentiert bekommen.
Dafür müsste sich die europäische Hochschulpolitik
allerdings erst einmal von der Wirtschaftspolitik der EU
emanzipieren und eigenständige Ziele für die Entwick-
lung der Hochschulen und deren Beitrag zu den europäi-
schen Gesellschaften formulieren. Das wäre die Aufgabe
einer Bundesregierung, die bildungspolitische Realitäten
ernst nimmt, anstatt sie zu ignorieren.
Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Bolo-
gna muss besser werden! Wir unterstützen das visionäre
Ziel eines europäischen Hochschulraums. Wir werden
dieses Ziel in Deutschland aber nur erreichen, wenn so-
wohl die Hochschulen als auch Bund und Länder ge-
meinsam Probleme und Umsetzungsschwierigkeiten
identifizieren und beheben – von der Studienorganisa-
tion bis hin zur sozialen Öffnung der Hochschulen, die
ausgewiesenes Bologna-Ziel ist.
Für uns ist klar: Nicht die Bologna-Reform an sich,
sondern ihre Umsetzung in Deutschland ist Problem und
Herausforderung, die angenommen werden muss.
Wesentliche Reformziele werden nach wie vor ver-
fehlt: Die Auslandsmobilität in den Bachelorstudien-
gängen an Universitäten stagniert. Um die Mobilität
deutscher Studierender zu steigern, müssen Bachelorstu-
diengänge flexibilisiert und Zeitfenster für Mobilität ein-
gebaut werden.
Auslandsaufenthalte müssen aber nicht nur ermög-
licht, sondern auch ohne Schwierigkeiten und Zeitver-
lust zu bewerkstelligen sein. Es kann nicht sein, dass nur
magere 52 Prozent der im Ausland erworbenen Studien-
leistungen an deutschen Hochschulen anerkannt werden.
Denn das bedeutet im Umkehrschluss: Jede zweite Stu-
dienleistung wird nicht anerkannt. Das ist eine beschä-
mende und mobilitätsfeindliche Anerkennungspraxis,
die Studierende demotiviert. Die Studierenden dürfen
nicht unter einer bürokratischen und überpeniblen Aner-
kennungspraxis der Universitäten und Fakultäten leiden,
sondern sie brauchen eine grundsätzliche Anerken-
nungsgarantie.
Eine zentrale Herausforderung ist die Studienorgani-
sation: Gerade in den ersten Reformjahren haben die
Hochschulen nach dem Motto „verschulen, verdichten,
umbenennen“ die gesamten Inhalte der alten, längeren
Magister- bzw. Diplomstudiengänge in den Bachelor hi-
neingepresst. Diese Fehler müssen korrigiert, die Stu-
dierbarkeit erhöht und die Arbeitsbelastung gesenkt wer-
den. Frei Denken und selbstbestimmtes Lernen müssen
wieder besser möglich sein.
Ständiger Prüfungsstress und Bulimie-Lernen erhö-
hen nicht die Fähigkeit zu ganzheitlichem Denken, son-
dern Abbruchquoten. Über ein Viertel aller Studierenden
hängen laut der HIS-Studie zu Schwund- und Studien-
abbruchquoten, die im Mai 2012 veröffentlicht wurde,
das Bachelorstudium an den Nagel, an den Universitäten
sogar 35 Prozent. Deswegen ist es dringend notwendig,
dass Hochschulen ihre Studienprogramme überarbeiten,
mehr sieben- oder achtsemestrige Bachelorangebote ma-
chen, den Workload herunterschrauben und die Prü-
fungsdichte reduzieren. Das kommt übrigens mittelbar
auch der Studienqualität zugute, denn auch die Lehren-
den haben dann mehr Luft für und Lust auf gute Lehre
und Betreuung.
All die skizzierten Probleme sind seit längerem be-
kannt; zahlreiche Studien haben sie belegt, die Studie-
renden haben mit kreativen und lautstarken Protesten auf
die Umsetzungsprobleme hingewiesen. Die Bundesre-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013 30517
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gierung hat sich die Probleme dagegen tatenlos von der
Zuschauertribüne aus angesehen.
Bezeichnend ist es, dass die damalige Bundesbil-
dungsministerin Annette Schavan die richtigen und
wichtigen Bildungsproteste 2009 zuerst als „gestrig“ be-
zeichnete. Erst nachdem der Druck zu groß geworden
war, berief sie einen „Beschwichtigungsgipfel“ ein. Ge-
nau zweimal gab es seitdem eine „Nationale Bologna-
Konferenz“. Eine dritte hat die Bundesregierung abge-
sagt und gar nicht mehr terminiert. Stattdessen verweist
die Bundesregierung auf die Bologna-Evaluation durch
die Hochschulrektorenkonferenz, nach dem Motto: „Ihr
habt die Probleme – also evaluiert euch selbst und macht
mal“. Das ist kurzsichtig: Bologna ist nach wie vor
Chance und Herausforderung – für die Hochschulen und
für die Hochschulpolitik in Bund und Ländern. Es ist in-
akzeptabel, dass die Bundesregierung die Probleme al-
lenfalls zur Kenntnis nimmt, aber fast gar nichts zur Lö-
sung beiträgt.
Wer die Umsetzungsprobleme unter den Teppich
kehrt, gefährdet die Akzeptanz der Reform und verhin-
dert vor allem die notwendigen Korrekturen, die mit al-
len Akteuren gemeinsam angepackt und fortgesetzt wer-
den müssen.
Wir wollen, dass der nationale Bologna-Bericht, den
Bund und Länder alle zwei Jahre erstellen, die Realität
differenziert wiedergibt anstatt sie schönzufärben. In
Folgeberichten muss deutlich werden, welche Konse-
quenzen aus den im Bericht zuvor ausgesprochenen
Handlungsempfehlungen gezogen worden sind und wel-
che Effekte dies gebracht hat.
Das gilt auch für eine weitere große Bologna-Bau-
stelle hierzulande: die soziale Öffnung der Hochschulen.
Wir wollen deutlich mehr Bildungsaufsteiger für ein Stu-
dium gewinnen. Dafür brauchen wir deutlich mehr Stu-
dienplätze, eine Aufstockung und Ausweitung des
Hochschulpakts und flächendeckend bessere Studienbe-
dingungen. Dazu zählt auch ein BAföG, das zum Leben
reicht. Hier sehen wir viel Übereinstimmung mit der
SPD, auch wenn manche Forderung in dem SPD-Antrag
wenig mit der Bachelor-Master-Reform zu tun hat.
Sicher ist: Um Bildungsaufsteigerland zu werden,
brauchen wir endlich eine BAföG-Reform und -Moder-
nisierung. Anstatt auf die Länder mit einem echten An-
gebot zuzugehen, hat die Bundesregierung die Hände in
den Schoß gelegt und die Studierenden mit ihren Finan-
zierungssorgen alleine gelassen. Diese schwarz-gelben
Taktikspielchen auf dem Rücken der Studierenden wird
eine Bundesregierung aus SPD und Grünen beenden.
Wir brauchen ein höheres und besseres BAföG, das zu-
dem einfacher zu beantragen sein muss. Mittelfristig
wollen wir das BAföG zu einem Zwei-Säulen-Modell
erweitern – bestehend aus einer Sockelfinanzierung für
alle Studierenden und einer bedarfsabhängigen Säule.
Daneben braucht es gezielte Investitionen in die so-
ziale Infrastruktur an den Hochschulen: also den Ausbau
von Studien- und Sozialberatung, von studentischem
Wohnen und der Infrastruktur zum Beispiel für Kinder-
betreuung. Hier muss mehr passieren. Die oberste Leitli-
nie für die soziale Dimension muss sein, zu mehr gesell-
schaftlicher Vielfalt auf dem Campus zu kommen. In
diesem Sinne müssen Bund, Länder und Hochschulen
die Ärmel weiter hochkrempeln und handeln.
240. Sitzung
Inhaltsverzeichnis
TOP 3 Regierungserklärung zur Neuausrichtung der Bundeswehr
TOP 4 Bildungs- und Integrationspolitik
TOP 56, ZP 2 Überweisungen im vereinfachten Verfahren
TOP 57, ZP 3 Abschließende Beratungen ohne Aussprache
ZP 4 Aktuelle Stunde zur Bilanz nach einem Jahr Bundesminister Peter Altmaier
TOP 5 Finanzmarktregulierung
TOP 6 Verpflegung in Schulen und Kindertagesstätten
TOP 7 Beitritt der Republik Kroatien zur EU
TOP 57 c Abfälle der Rhein- und Binnenschifffahrt
TOP 9 EU-Operation Atalanta
TOP 8 Schutz bei Gewalt gegen Frauen
TOP 10 Managergehälter
TOP 11 Straßenverkehrsgesetz – Fahreignungsregister –
TOP 12 Informationsfreiheit und Transparenz
TOP 13 Regulierung im Eisenbahnbereich
TOP 14 Überprüfung der Namen von Bundeswehrkasernen
TOP 17 Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahren
TOP 16 Rente für Dopingopfer in der DDR
TOP 18 Justizkostenrecht
TOP 20 Kinder- und Jugendpolitik
TOP 19 Rechte intersexueller Menschen
TOP 22 Gesetz über die Kreditanstalt für Wiederaufbau
TOP 21 Religionsfreiheit im Iran
TOP 24 Änderung des Energieeinsparungsgesetzes
TOP 23 Schließung des Schienenhersteller TSTG
TOP 26 Arbeitsbedingungen von Hausangestellten
TOP 25 Sozio-kulturelle Existenzsicherung
TOP 28 Zuständigkeit für die Soldatenversorgung
TOP 29 Ehegattennachzug
TOP 30 Aufenthaltsrecht
TOP 36 Situation Minderjähriger im Aufenthaltsrecht
TOP 32 Investitionen in den Ersatz der Schienenwege
TOP 31 Umweltbelastung durch Humanarzneimittel
TOP 33 Treibhausgas-Emissionshandel
TOP 35 Durchführung der EU-Phosphatverordnung
TOP 34 Sicherheitsabkommen mit Mexiko
TOP 37 Elektronischer Kfz-Halterdatenaustausch in der EU
TOP 38 Datenschutz in Europa
TOP 39 Durchführung der Biozid-Verordnung
TOP 42 Gesundheit in Entwicklungsländern
TOP 41 Änderung des Güterkraftverkehrsgesetzes
TOP 40, ZP 5 Kontrolle im Prozess der Organspende
TOP 43 Steuerabkommen mit den Cookinseln und Grenada
ZP 6 Export von Überwachungs- und Zensurtechnologie
TOP 45 Funktionen der Betreuungsbehörde
TOP 44 Deutscher Innovationsfonds
TOP 47 Verfahrensrechte im Strafverfahren
ZP 7 Bologna-Reform
TOP 49 Bundesverfassungsgerichtsgesetz
TOP 46, ZP 8 Zukunft der Solarindustrie
TOP 48 Netzneutralität
TOP 50 Sozialer Tourismus
Anlagen