Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013 30457
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        Anlagen zum Stenografischen Bericht
        Anlage 1
        Liste der entschuldigten Abgeordneten
        Anlage 2
        Erklärung
        des Abgeordneten Marco Bülow (SPD) zur na-
        mentlichen Abstimmung über den Entwurf eines
        Gesetzes zu dem Vertrag vom 9. Dezember 2011
        über den Beitritt der Republik Kroatien zur
        Europäischen Union (Tagesordnungspunkt 7 a)
        Bei der namentlichen Abstimmung habe ich verse-
        hentlich mit Enthaltung gestimmt. Mein Votum lautet
        aber Ja.
        Anlage 3
        Erklärungen nach § 31 GO
        zur namentlichen Abstimmung über den Ent-
        wurf eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 9. De-
        zember 2011 über den Beitritt der Republik
        Kroatien zur Europäischen Union (Tagesord-
        nungspunkt 7 a)
        Annette Groth (DIE LINKE): Ich habe mich heute
        bei dem Antrag enthalten, da ich große Sorgen habe,
        dass der jetzige Beitritt von Kroatien weder den Men-
        schen im Land noch der heutigen Europäischen Union
        helfen wird. Als überzeugte Europäerin habe ich mich
        seit meiner frühen Jugend für das Ideal eines geeinten
        Europas, das die Interessen der Menschen und der Um-
        welt in den Mittelpunkt seiner Politik stellt, eingesetzt.
        Mit großer Sorge sehe ich jedoch, dass die heutige Euro-
        päische Union dieses Ideal faktisch aufgegeben hat und
        unter dem neoliberalen Diktat der herrschenden Eliten
        zu einem Instrument für die Durchsetzung der Interessen
        der großen transnationalen Unternehmen deformiert ist.
        Ich habe große Sorgen, dass auf Kroatien durch den EU-
        Beitritt dieselben Probleme zukommen können wie auf
        Italien, Portugal, Griechenland, Bulgarien oder Rumä-
        nien.
        Die heutige Wirtschaftsdynamik innerhalb der EU
        führt dazu, dass mit Ausnahme weniger Staaten die Ver-
        armung eines immer größeren Teils der Bevölkerung zu-
        nimmt. Die heutige EU wird immer mehr dazu miss-
        braucht, auf Kosten der Bevölkerung ein Sparpaket nach
        dem anderen zur Sicherung der Gewinne von Banken
        und Investoren durchzusetzen.
        Innerhalb der EU wurden die Demokratie und die Ta-
        rifautonomie in einzelnen Staaten immer weiter einge-
        schränkt. Unter dem Diktat der Troika werden Staaten
        gezwungen, geltende Tarifverträge auszusetzen, und Ge-
        werkschaften in ihren Rechten eingeschränkt.
        In den südlichen Ländern der EU steigt die Jugendar-
        beitslosigkeit in unvorstellbare Höhen. Mehr als zwei
        Drittel der Jugendlichen sind in Griechenland arbeitslos,
        mehr als 50 Prozent in Spanien. Ein Ende dieser be-
        schäftigungspolitischen Katastrophe ist aufgrund der
        Austeritätspolitik nicht abzusehen. Die falsche Politik
        der EU produziert eine „verlorene Generation“.
        Ich habe mich heute bei dem Antrag enthalten, weil
        ich die politische Seite der Kopenhagener Kriterien als
        nicht erfüllt ansehe. Insbesondere die fortdauernde Dis-
        kriminierung der serbischen Minderheit stellt ein großes
        Problem dar. Durch den EU-Beitritt droht diese Diskri-
        minierungspraxis jetzt auch noch mit einem Plazet der
        EU versehen zu werden. Die Bestätigung dieser Diskri-
        minierungspraxis von Minderheiten könnte auch ein ver-
        heerendes Präjudiz hinsichtlich eines EU-Beitritts der
        Türkei sein. Es kann nicht sein, dass die Kopenhagener
        Kriterien an einem so wichtigen Punkt einfach ausgehe-
        belt werden. Wohin das führt, sehen wir an der verstärk-
        Abgeordnete(r)
        entschuldigt bis
        einschließlich
        Aigner, Ilse CDU/CSU 16.05.2013
        Beck (Reutlingen),
        Ernst-Reinhard
        CDU/CSU 16.05.2013
        Bellmann, Veronika CDU/CSU 16.05.2013
        Bleser, Peter CDU/CSU 16.05.2013
        Dağdelen, Sevim DIE LINKE 16.05.2013
        Hiller-Ohm, Gabriele SPD 16.05.2013
        Hintze, Peter CDU/CSU 16.05.2013
        Koch, Harald DIE LINKE 16.05.2013
        Möller, Kornelia DIE LINKE 16.05.2013
        Neumann (Bremen),
        Bernd
        CDU/CSU 16.05.2013
        Pieper, Cornelia FDP 16.05.2013
        Schirmbeck, Georg CDU/CSU 16.05.2013
        Schlecht, Michael DIE LINKE 16.05.2013
        Schmidt (Eisleben),
        Silvia
        SPD 16.05.2013
        Schulte-Drüggelte,
        Bernhard
        CDU/CSU 16.05.2013
        Zylajew, Willi CDU/CSU 16.05.2013
        Anlagen
        30458 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013
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        ten Diskriminierung von Minderheiten nach einem EU-
        Beitritt sowohl in Bulgarien und Rumänien als auch im
        Baltikum. Zudem ist der Grenzverlauf zwischen Kroa-
        tien und Serbien auf der Donau weiterhin umstritten, so-
        dass eine künftige EU-Erweiterung auf dem Balkan mit
        zusätzlichen Problemen belastet würde.
        Ich bin ausdrücklich für den Beitritt aller Staaten des
        Balkans, wenn sie dies wünschen. Gleichzeitig bin ich
        jedoch der Überzeugung, dass ein solcher Beitritt nur
        dann für die Menschen in der Region Vorteile bringt,
        wenn es gelingt, einen Neustart innerhalb der EU durch-
        zusetzen und gleichzeitig mit einer reformierten Wirt-
        schafts-, Sozial- und Regionalpolitik der EU eine wirkli-
        che Entwicklung der Ökonomie und der sozialen
        Situation in diesen Ländern möglich zu machen.
        Aus diesem Grund habe ich mich bei diesem Antrag
        enthalten.
        Heike Hänsel (DIE LINKE): Ich kann einem EU-
        Beitritt zu Kroatien unter den vorliegenden Bedingungen
        nicht zustimmen und werde mich bei der Abstimmung
        zum Antrag der Bundesregierung „GE 17/11872“ der
        Stimme enthalten.
        Es ist nicht erkennbar, dass Kroatien die politische
        Seite der Kopenhagener Kriterien, insbesondere was die
        Situation der serbischen Minderheit angeht, erfüllt hat.
        Dies ist aber eine der Voraussetzungen für einen EU-
        Beitritt. Ich befürchte zudem, dass hier ein Präzedenzfall
        für einen möglichen EU-Beitritt der Türkei und ihren
        Umgang mit der kurdischen Minderheit geschaffen wird.
        Des Weiteren bleibt im Bereich der Justiz die Bereit-
        schaft Kroatiens ungeklärt, Prozesse vor dem Sonderge-
        richt für Kriegsverbrechen in Kroatien auch nach dem
        EU-Beitritt fortzuführen. Es ist nicht nachvollziehbar,
        wie vor diesem Hintergrund die EU-Kommission grünes
        Licht für einen EU-Beitritt Kroatiens im Bereich „Jus-
        tiz“ erteilen konnte.
        Ferner ist die Frage des Grenzverlaufs zwischen
        Kroatien und Serbien entlang der Donau nach wie vor
        umstritten geblieben. Damit wird ein künftiger Konflikt
        im Falle eines EU-Beitritts Kroatiens nach dem Vorbild
        Slowenien-Kroatien in der Adria geradezu heraufbe-
        schworen.
        Frank Heinrich (CDU/CSU): Die Fortschritte auf
        dem Weg zu einem EU-Beitritt Kroatiens auszuwerten,
        erscheint in der derzeitigen politischen Großwetterlage
        eigentümlich unwirklich und unzeitgemäß. Die Zukunft
        und der Verbleib im Euro-Raum steht bei einer Reihe
        von Ländern auf tönernen Füßen – und wir reden über
        Kroatien.
        Das ist den Bürgern schwer zu vermitteln, und doch
        ist es richtig und konsequent. Denn wir müssen fair blei-
        ben. Die Versäumnisse in vorangegangen Aufnahmepro-
        zessen dürfen sich nicht einseitig zulasten der neuen
        Mitgliedskandidaten auswirken. Zusagen vonseiten der
        EU sind einzuhalten.
        Doch müssen wir hier konsequenter sein als früher:
        Nur wer alle Bedingungen erfüllt, kann der EU beitreten.
        Zu wichtig ist das Projekt der europäischen Einheit, als
        dass wir es durch Nachlässigkeiten gefährden dürften.
        Daher schließe ich mich den fachlichen Forderungen
        an, die mein Fraktionskollege Gunther Krichbaum, der
        Vorsitzende des Ausschusses für die Angelegenheiten
        der Europäischen Union, formuliert hat:
        Kroatien hat während des EU-Beitrittsprozesses um-
        fangreiche Reformen vorgenommen, es hat EU-Richtli-
        nien übernommen, die Leistungsfähigkeit seiner Justiz
        und Verwaltung gesteigert, die Korruption bekämpft und
        seine Wirtschaft auf den Beitritt vorbereitet. Es ist daher
        zu begrüßen, dass Kroatien das 28. Mitglied der Euro-
        päischen Union wird. Doch es muss sichergestellt wer-
        den, dass die bereits vorgenommenen Reformen nicht
        zurückgenommen oder ausgehöhlt werden.
        Zwar werden im Rahmen des Europäischen Semes-
        ters auch für Kroatien länderspezifische Empfehlungen
        zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit und der ma-
        kroökonomischen Stabilität veröffentlicht, doch auch die
        Rechtsstaatlichkeit muss regelmäßig in den Blick ge-
        nommen werden. Der Antikorruptionsbericht der Europäi-
        schen Kommission wird nur alle zwei Jahre vorgelegt – zu
        selten, um aktuelle Entwicklungen darstellen zu können.
        Ein jährlich erscheinender Kurzbericht wäre hier hilf-
        reich. Auch das EU-Justizbarometer, das die Funktions-
        weise der Justizsysteme in den Mitgliedstaaten unter-
        sucht, erscheint nur in unregelmäßigen Abständen.
        Zudem wurde hier bisher Kroatien nicht berücksichtigt,
        weshalb man auf einen Bericht über das kroatische Jus-
        tizsystem auf unbestimmte Zeit wird warten müssen.
        Eine einmalige Sonderausgabe des Justizbarometers für
        Kroatien noch 2013 wäre vor diesem Hintergrund wün-
        schenswert.
        Die genannten Berichte müssen zudem mit den Sank-
        tionsmechanismen des Beitrittsvertrags verbunden wer-
        den. In Art. 38 und 39 des Beitrittsvertrags sind für den
        Zeitraum von drei Jahren nach dem Beitritt – nicht näher
        spezifizierte – Maßnahmen vorgesehen, um den Euro-
        päischen Binnenmarkt und den „Raum der Freiheit, der
        Sicherheit und des Rechts“ zu schützen – ein dazugehö-
        riges Berichtswesen, das diese Sanktionen auslöst, fehlt
        jedoch. Nur durch die Verbindung dieser Sanktionsmög-
        lichkeiten mit den Berichten der Europäischen Kommis-
        sion kann hieraus ein effektives Instrument entstehen,
        um die wirtschaftliche und rechtsstaatliche Situation in
        Kroatien zu verbessern.
        Robert Hochbaum (CDU/CSU): Der Beitritt Kroa-
        tiens als 28. Mitglied der Europäischen Union ist zu be-
        grüßen. Im Laufe des EU-Beitrittsprozesses hat das
        Land bereits umfangreiche Reformen vorgenommen,
        EU-Richtlinien wurden übernommen, die Leistungsfä-
        higkeit von Justiz und Verwaltung gesteigert, Korruption
        bekämpft und die Wirtschaft Kroatiens auf den Beitritt
        zur Europäischen Union vorbereitet. Kroatien hat in den
        vergangenen Jahren viel geleistet, um den Anforderun-
        gen für die Aufnahme in die EU gerecht zu werden.
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013 30459
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        Ich stimme meinem Kollegen Gunther Krichbaum al-
        lerdings dahin gehend zu, dass dieser Reformeifer der
        letzten Jahre nach dem Beitritt Kroatiens nicht erlahmen
        darf. Wie die Erfahrung zeigt, ist dabei besonders wich-
        tig, dass vorgenommene Reformen nicht zurückgenom-
        men oder abgeschwächt werden. Vorhandene Berichts-
        instrumente sollten besser genutzt und miteinander
        verzahnt werden, damit gewährleistet werden kann, dass
        Kroatien bestehende Reformen aufrechterhält und mög-
        lichst weiter ausbaut.
        So bin auch ich der Ansicht, dass ein jährlich erschei-
        nender Antikorruptionsbericht der Europäischen Kom-
        mission hilfreich wäre, um aktuelle Entwicklungen bes-
        ser darstellen und verfolgen zu können. Weiterhin teile
        ich die Ansicht meines Kollegen Krichbaum, dass eine
        Sonderausgabe des Justizbarometers für Kroatien noch
        in diesem Jahr wünschenswert wäre, da dies eine Unter-
        suchung der Funktionsweise des Justizsystems in
        Kroatien voraussetzen würde.
        Um die Sanktionsmechanismen des Beitrittsvertrages,
        die unter anderem den europäischen Binnenmarkt schüt-
        zen sollen, besser überprüfen und gewährleisten zu kön-
        nen, sollten die oben genannten Berichte der Europäi-
        schen Kommission als Grundlage für die Überprüfung
        der Durchführung der Sanktionsmechanismen Verwen-
        dung finden.
        Inge Höger (DIE LINKE): Heute werde ich für den
        EU-Beitritt Kroatiens stimmen.
        Dennoch gebe ich zu bedenken, dass die EU-Mit-
        gliedschaft eine schlechte Nachricht für die dortige Be-
        völkerung ist. Wie jeder andere Beitrittskandidat musste
        auch Kroatien den gesamten „gemeinschaftlichen Be-
        sitzstand“ – acquis communautaire – der EU in sein ei-
        genes Rechtssystem übernehmen. Dazu gehören Dere-
        gulierung der Wirtschaft, Privatisierungen und der
        Abbau des öffentlichen Dienstes. Der EU-Beitritt bedeu-
        tet für die Masse der Bevölkerung Kroatiens mehr Wett-
        bewerb und mehr Armut.
        Ich stand im Vorfeld des kroatischen Referendums
        zum EU-Beitritt auf der Seite der linken EU-Gegner, die
        zu Recht fürchten, Kroatien könnte in eine ähnliche Not-
        lage wie Griechenland geraten. Ich respektiere allerdings
        den Ausgang des Referendums und stimme deshalb
        heute mit Ja. Ein anderes Stimmverhalten wäre Wasser
        auf die Mühlen derjenigen, die die Abstimmung als
        Druckmittel für eine noch brutalere neoliberale Politik
        Kroatiens nutzen wollen. Ich finde es einen Skandal,
        dass die EU-Kommission von der kroatischen Regierung
        erwartet, noch bis zum Beitrittsdatum 1. Juli 2013 ihre
        Schiffswerften zu privatisieren. Das Verscherbeln öffent-
        lichen Eigentums steht im Widerspruch zu einer sozia-
        len, humanen Entwicklung und dient allein dem Inte-
        resse privater Großunternehmer.
        Ich finde es zwar bedauerlich, dass sich beim Refe-
        rendum eine Mehrheit für den EU-Beitritt Kroatiens ge-
        funden hat. Allerdings ist es in Teilen verständlich, dass
        sich die Bevölkerung nach den Vorteilen der Reisefrei-
        heit sehnt, die in der Sozialistischen Föderativen Repu-
        blik Jugoslawien Normalität war – eine Reisefreiheit
        freilich, von der aufgrund der heute voranschreitenden
        Verarmung immer weniger Menschen in Kroatien Ge-
        brauch machen können.
        In den Tagen, in denen die Abstimmung im Deut-
        schen Bundestag stattfindet, versammeln sich Hunderte
        Aktivistinnen und Aktivisten in Zagreb zum Balkan-Fo-
        rum im Rahmen des „Subversive Film Festivals“. Sie
        gehören zu sozialen Bewegungen und linken Gruppen
        aus allen Balkan-Ländern und versuchen, ein linkes
        Netzwerk über ethnische und nationale Grenzen hinweg
        aufzubauen. Sie wollen nicht zwischen der „euro-atlanti-
        schen Integration“ einerseits und dem grassierenden
        Ethnonationalismus andererseits wählen. Es handelt sich
        hier um Scheinalternativen, um zwei Seiten einer Me-
        daille, des neoliberalen Kapitalismus. Die Linke unter-
        stützt den Prozess des Balkan-Forums. Ein weiterer
        Grund zur Hoffnung ist der Achtungserfolg, den die
        Kroatische Arbeiterpartei – laburisti – bei den Europa-
        wahlen im April errungen hat.
        Ich freue mich darauf, gemeinsam mit der kroatischen
        Linken, gemeinsam mit der Linken der gesamten Bal-
        kan-Region für die Komplettrevision der europäischen
        Verträge und für eine solidarische Neugründung der Eu-
        ropäischen Union zu kämpfen.
        Gunther Krichbaum (CDU/CSU): Kroatien hat
        während des EU-Beitrittsprozesses umfangreiche Refor-
        men vorgenommen, es hat EU-Richtlinien übernommen,
        die Leistungsfähigkeit seiner Justiz und Verwaltung ge-
        steigert, die Korruption bekämpft und seine Wirtschaft
        auf den Beitritt vorbereitet. Es ist daher sehr zu begrü-
        ßen, dass Kroatien das 28. Mitglied der Europäischen
        Union wird. Doch der Reformeifer in Kroatien darf nach
        dem Beitritt nicht erlahmen. Auch muss sichergestellt
        werden, dass die bereits vorgenommenen Reformen
        nicht zurückgenommen oder ausgehöhlt werden, wie
        dies leider in anderen Fällen geschehen ist. Um dies zu
        gewährleisten, sollten vorhandene Berichtsinstrumente
        besser genutzt und miteinander verzahnt werden.
        Zwar werden im Rahmen des Europäischen Semes-
        ters auch für Kroatien länderspezifische Empfehlungen
        zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit und der ma-
        kroökonomischen Stabilität veröffentlicht. Doch auch
        die Rechtsstaatlichkeit muss regelmäßig in den Blick
        genommen werden. Der Antikorruptionsbericht der
        Europäischen Kommission wird nur alle zwei Jahre vor-
        gelegt – zu selten, um aktuelle Entwicklungen darstellen
        zu können. Ein jährlich erscheinender Kurzbericht wäre
        hier hilfreich. Auch das EU-Justizbarometer, das die
        Funktionsweise der Justizsysteme in den Mitgliedstaaten
        untersucht, erscheint nur in unregelmäßigen Abständen.
        Zudem wurde hier bisher Kroatien nicht berücksichtigt,
        weshalb man auf einen Bericht über das kroatische Jus-
        tizsystem unbestimmte Zeit wird warten müssen. Eine
        einmalige Sonderausgabe des Justizbarometers für Kroa-
        tien noch 2013 wäre vor diesem Hintergrund wün-
        schenswert.
        Die genannten Berichte müssen zudem mit den Sank-
        tionsmechanismen des Beitrittsvertrags verbunden wer-
        30460 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013
        (A) (C)
        (D)(B)
        den. In Art. 38 und 39 des Beitrittsvertrags sind für einen
        Zeitraum von drei Jahren nach dem Beitritt – nicht näher
        spezifizierte – Maßnahmen vorgesehen, um den europäi-
        schen Binnenmarkt und den „Raum der Freiheit, der Si-
        cherheit und des Rechts“ zu schützen – ein dazugehöri-
        ges Berichtswesen, das diese Sanktionen auslöst, fehlt
        jedoch. Nur durch die Verbindung dieser Sanktionsmög-
        lichkeiten mit den Berichten der Europäischen Kommis-
        sion kann hieraus ein effektives Instrument entstehen,
        um die wirtschaftliche und rechtsstaatliche Situation in
        Kroatien weiter zu verbessern. In künftigen Beitrittsver-
        trägen sollte dieses Junktim von Beginn an Berücksichti-
        gung finden.
        Andreas Lämmel (CDU/CSU): Dem Gesetz zum
        Vertrag vom 9. Dezember 2011 über den Beitritt der Re-
        publik Kroatien zur Europäischen Union – Bundestags-
        drucksache 17/11872 – stimme ich zu. Jedoch verbinde
        ich meine Zustimmung mit dieser Erklärung:
        Laut den Berichten der Europäischen Kommission er-
        füllt Kroatien die formalen Kriterien für einen Beitritt
        zur Europäischen Union. Persönlich habe ich jedoch er-
        hebliche Zweifel, ob die formale Erfüllung der Beitritts-
        kriterien auch die Realität in der Republik Kroatien ge-
        genwärtig widerspiegelt. Die Verabschiedung einzelner
        Gesetzespakete heißt noch lange nicht, dass diese zum
        Standard des staatlichen Handelns gehören. In der Ver-
        gangenheit hat dieses formale Vorgehen der Europäi-
        schen Union schon mehrfach zu verfrühten Beitritten ge-
        führt – zum Beispiel Griechenland, Zypern, Bulgarien,
        Rumänien. Auch den Zeitpunkt des Beitritts halte ich an-
        gesichts des momentanen Zustands der Europäischen
        Union für schwierig. Aus meiner Sicht gilt es zunächst
        die Probleme innerhalb der Europäischen Union zu lö-
        sen, bevor eine Erweiterung erfolgen kann.
        Der Beitritt der Republik Kroatiens darf unter keinen
        Umständen eine Vorentscheidung für die schnelle Eröff-
        nung von Beitrittsverhandlungen mit weiteren Staaten
        sein.
        Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Aus meiner Sicht
        ist Kroatien nicht beitrittsreif und die EU derzeit nicht in
        der Lage, neue Mitglieder aufzunehmen.
        Diese Auffassung war in der Fraktion nicht mehr-
        heitsfähig. Deshalb stimme ich gegen meine Überzeu-
        gung zu.
        Stefanie Vogelsang (CDU/CSU): Ich stehe dem
        Beitritt der Republik Kroatiens zur Europäischen Union
        kritisch gegenüber, da ich denke, dass die Europäische
        Union zurzeit eine Pause bei ihrer Erweiterung braucht,
        um die vielen Probleme zu lösen, die innerhalb der Ge-
        meinschaft bestehen.
        Ich denke auch, dass die Republik Kroatien mit ihrer
        Entwicklung noch Zeit braucht, bevor sie die wesentli-
        chen Standards erfüllen kann.
        Ich stimme heute dem Gesetz zu, da meine Fraktion
        mit sehr großer Mehrheit diesen Weg beschlossen hat.
        Marco Wanderwitz (CDU/CSU): Kroatien hat wäh-
        rend des EU-Beitrittsprozesses umfangreiche Reformen
        vorgenommen, es hat EU-Richtlinien übernommen, die
        Leistungsfähigkeit seiner Justiz und Verwaltung gestei-
        gert, die Korruption bekämpft und seine Wirtschaft auf
        den Beitritt vorbereitet. Es ist daher sehr zu begrüßen,
        dass Kroatien das 28. Mitglied der Europäischen Union
        wird. Doch der Reformeifer in Kroatien darf nach dem
        Beitritt nicht erlahmen. Auch muss sichergestellt wer-
        den, dass die bereits vorgenommenen Reformen nicht
        zurückgenommen oder ausgehöhlt werden, wie dies lei-
        der in anderen Fällen geschehen ist. Um dies zu gewähr-
        leisten, sollten vorhandene Berichtsinstrumente besser
        genutzt und miteinander verzahnt werden. Wir müssen
        unsere gelernte Lektion insbesondere aus dem Beitritt
        von Rumänien und Bulgarien zeigen, auch in Richtung
        dieser beiden Länder, wo der Umgang nun mit Kroatien
        sehr genau verfolgt wird.
        Zwar werden im Rahmen des Europäischen Semes-
        ters auch für Kroatien länderspezifische Empfehlungen
        zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit und der ma-
        kroökonomischen Stabilität veröffentlicht, doch auch die
        Rechtsstaatlichkeit muss regelmäßig in den Blick ge-
        nommen werden. Der Antikorruptionsbericht der Euro-
        päischen Kommission wird nur alle zwei Jahre vorge-
        legt – zu selten, um aktuelle Entwicklungen darstellen zu
        können. Ein jährlich erscheinender Kurzbericht wäre
        hier hilfreich. Auch das EU-Justizbarometer, das die
        Funktionsweise der Justizsysteme in den Mitgliedstaaten
        untersucht, erscheint nur in unregelmäßigen Abständen.
        Zudem wurde hier bisher Kroatien nicht berücksichtigt,
        weshalb man auf einen Bericht über das kroatische Jus-
        tizsystem unbestimmte Zeit wird warten müssen. Eine
        einmalige Sonderausgabe des Justizbarometers für Kroa-
        tien noch 2013 wäre vor diesem Hintergrund wün-
        schenswert.
        Die genannten Berichte müssen zudem mit den Sank-
        tionsmechanismen des Beitrittsvertrags verbunden wer-
        den. In Art. 38 und 39 des Beitrittsvertrags sind für einen
        Zeitraum von drei Jahren nach dem Beitritt – nicht näher
        spezifizierte – Maßnahmen vorgesehen, um den europäi-
        schen Binnenmarkt und den „Raum der Freiheit, der Si-
        cherheit und des Rechts“ zu schützen – ein dazugehöri-
        ges Berichtswesen, das diese Sanktionen auslöst, fehlt
        jedoch. Nur durch die Verbindung dieser Sanktionsmög-
        lichkeiten mit den Berichten der europäischen Kommis-
        sion kann hieraus ein effektives Instrument entstehen,
        um die wirtschaftliche und rechtsstaatliche Situation in
        Kroatien weiter zu verbessern. In künftigen Beitrittsver-
        trägen sollte dieses Junktim von Beginn an Berücksichti-
        gung finden.
        Anlage 4
        Erklärungen nach § 31 GO
        des Abgeordneten Dr. Hans-Peter Bartels (SPD)
        zur namentlichen Abstimmung über die Be-
        schlussempfehlung zu dem Antrag: Fortsetzung
        der Beteiligung bewaffneter deutscher Streit-
        kräfte an der EU-geführten Operation Atalanta
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013 30461
        (A) (C)
        (D)(B)
        zur Bekämpfung der Piraterie vor der Küste
        Somalias auf Grundlage des Seerechtsüberein-
        kommens der Vereinten Nationen (VN) von
        1982 und der Resolutionen 1814 (2008) vom
        15. Mai 2008, 1816 (2008) vom 2. Juni 2008,
        1838 (2008) vom 7. Oktober 2008, 1846 (2008)
        vom 2. Dezember 2008, 1851 (2008) vom 16. De-
        zember 2008, 1897 (2009) vom 30. November
        2009, 1950 (2010) vom 23. November 2010, 2020
        (2011) vom 22. November 2011, 2077 (2012) vom
        21. November 2012 und nachfolgender Resolu-
        tionen des Sicherheitsrates der VN in Verbin-
        dung mit der Gemeinsamen Aktion 2008/851/
        GASP des Rates der Europäischen Union (EU)
        vom 10. November 2008, dem Beschluss 2009/
        907/GASP des Rates der EU vom 8. Dezember
        2009, dem Beschluss 2010/437/GASP des Rates
        der EU vom 30. Juli 2010, dem Beschluss 2010/
        766/GASP des Rates der EU vom 7. Dezember
        2010 und dem Beschluss 2012/174/GASP des
        Rates der EU vom 23. März 2012 (Tagesord-
        nungspunkt 9)
        Dem vorliegenden Antrag – Drucksache 17/13111 –
        der Bundesregierung werde ich, entgegen der Mehrheit
        meiner Fraktion, zustimmen.
        Am 19. Dezember 2008 stimmte der Deutsche Bun-
        destag einem Mandat zur Teilnahme an der Pirateriebe-
        kämpfung im Rahmen der EU-Mission Atalanta zu.
        Deutschland beteiligte sich in der Folge regelmäßig mit
        Einheiten der Marine.
        Der Auftrag des EU-Geschwaders im Indischen
        Ozean ist zuerst der Schutz aller Schiffe des UN-Welt-
        ernährungsprogramms, die mit Hilfsgütern für Somalia
        unterwegs sind. Hier verweist die EU auf eine 100-pro-
        zentige Erfolgsquote. Seit Beginn der Operation wurden
        200 Schiffe des Welternährungsprogramms mit über
        1,2 Millionen Tonnen Lebensmittel nach Somalia eskor-
        tiert. Kein Schiff des Welternährungsprogramms ging an
        Piraten verloren.
        Darüber hinaus ist die übrige Handelsschifffahrt im
        Seegebiet vor der Küste Somalias durch bewachte „Kor-
        ridore“ zu schützen – auch gemeinsam mit Kriegsschif-
        fen anderer Nationen: einem Nato-Verband, einer US-
        Task-Group und diversen Schiffen weiterer Staaten (In-
        dien, China).
        Dieses Verfahren – im Verbund mit Schutzmaßnah-
        men der Reeder – bietet neue Sicherheit: Wurden im Re-
        kordjahr 2010 insgesamt 47 Handelsschiffe entführt, wa-
        ren es 2011 noch 25 und 2012 fünf Schiffe. Im 1. Quartal
        2013 konnten die Seeräuber lediglich ein Schiff tatsäch-
        lich in ihre Gewalt bringen. Auch die Zahl der versuch-
        ten Kaperungen nimmt weiter ab. 2010: 127, 2013: bis-
        her 3 (Stand 5. April 2013).
        Die Atalanta-Mission ist eine Erfolgsgeschichte. Be-
        fürchtete Gefährdungen durch die Erweiterung der EU-
        Regeln 2012 sind nicht eingetreten und nicht zu erwar-
        ten.
        Anlage 5
        Erklärung nach § 31 GO
        der Abgeordneten Monika Lazar und Hans-
        Christian Ströbele (beide BÜNDNIS 90/DIE
        GRÜNEN) zur namentlichen Abstimmung über
        die Beschlussempfehlung zu dem Antrag: Fort-
        setzung der Beteiligung bewaffneter deutscher
        Streitkräfte an der EU-geführten Operation
        Atalanta zur Bekämpfung der Piraterie vor der
        Küste Somalias auf Grundlage des Seerechts-
        übereinkommens der Vereinten Nationen (VN)
        von 1982 und der Resolutionen 1814 (2008) vom
        15. Mai 2008, 1816 (2008) vom 2. Juni 2008,
        1838 (2008) vom 7. Oktober 2008, 1846 (2008)
        vom 2. Dezember 2008, 1851 (2008) vom 16. De-
        zember 2008, 1897 (2009) vom 30. November
        2009, 1950 (2010) vom 23. November 2010, 2020
        (2011) vom 22. November 2011, 2077 (2012) vom
        21. November 2012 und nachfolgender Resolu-
        tionen des Sicherheitsrates der VN in Verbin-
        dung mit der Gemeinsamen Aktion 2008/851/
        GASP des Rates der Europäischen Union (EU)
        vom 10. November 2008, dem Beschluss 2009/
        907/GASP des Rates der EU vom 8. Dezember
        2009, dem Beschluss 2010/437/GASP des Rates
        der EU vom 30. Juli 2010, dem Beschluss 2010/
        766/GASP des Rates der EU vom 7. Dezember
        2010 und dem Beschluss 2012/174/GASP des
        Rates der EU vom 23. März 2012 (Tagesord-
        nungspunkt 9)
        Den Antrag der Bundesregierung lehnen wir ab und
        stimmen mit Nein. Dies ist die siebte Abstimmung zum
        Atalanta-Einsatz der Bundeswehr, wenn wir richtig ge-
        zählt haben. Wir stimmen wieder mit Nein, wie die sechs
        Male vorher.
        Der Einsatz der Bundeswehr im Golf von Aden und
        inzwischen im ganzen Indischen Ozean ist politisch
        falsch und nicht notwendig zum Schutz der Schiffe des
        Welternährungsprogramms vor Piraterie. Vor allem war
        er von Anfang an nicht das letzte mögliche Mittel, die
        Ultima Ratio, um die Schiffe zu schützen und Piraterie
        wirksam zu bekämpfen.
        Die Bundesregierung erklärt, die Zahl der erfolgrei-
        chen Schiffsentführungen durch Piraten am Horn von
        Afrika sei im vergangenen Jahr stark zurückgegangen.
        Das stimmt, der Rückgang beträgt sogar 66 Prozent. Was
        aber nicht stimmt, ist die Behauptung, der Grund sei die
        durchgängige Präsenz von Kriegsschiffen der Operation
        Atalanta im Golf von Aden. Die Bundesregierung legt
        dafür auch keine Beweise vor. Es ist schlicht eine An-
        nahme – eine falsche.
        In Wahrheit hat der Rückgang der Kaperungen ganz
        andere Gründe, und die Bundesregierung weiß das. Es
        gibt geeignete „zivile“ Maßnahmen, um das Risiko von
        Piraterieangriffen zu verringern. Das Einhalten der soge-
        nannten Best Management Practices – das Fahren im
        Konvoi oder mit hoher Geschwindigkeit sowie die Absi-
        cherung von Reling und Außenbord, etwa durch Stachel-
        30462 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013
        (A) (C)
        (D)(B)
        draht, und das Anbringen von Scheinwerfern – hilft
        schon viel. In den letzten Jahren konnte kein Schiff von
        Piraten aufgebracht werden, das sich an diese Regeln ge-
        halten hat.
        Der Schutz der Transporte des Welternährungspro-
        gramms – WFP – von Hilfsgütern und Nahrungsmitteln
        nach Somalia kann außerdem dadurch verbessert wer-
        den, dass das WFP mit besseren und schnelleren Schif-
        fen ausgestattet wird. Der Schutz von Handelsschiffen
        auf gefährlichen Routen durch zivile Sicherheitsdienste
        an Bord, die nicht schwer bewaffnet sein müssen, wird
        seit Jahren empfohlen. Nach Schätzungen sind inzwi-
        schen fast 80 Prozent der Schiffe in der gefährdeten Re-
        gion mit zivilen Sicherheitsdiensten an Bord unterwegs.
        Endlich werden die Best Management Practices zum
        Schutz vor Piraterieüberfällen weitgehend eingehalten.
        Sie wurden bereits seit Jahren gefordert, aber nicht prak-
        tiziert – aus Kostengründen. Der Reedereiverband soll
        ihnen zugestimmt haben, aber die Reedereien haben sich
        lange geweigert, diese wichtigen Schutzmaßnahmen zu
        finanzieren. Stattdessen verlangten sie den Schutz durch
        die internationale Armada aus Kriegsschiffen, der drei-
        stellige Millionenbeträge verschlingt und Krieg bedeu-
        tet.
        Im letzten Jahr wurde das Mandat der Operation
        Atalanta sogar erweitert: vom militärischen Kampfein-
        satz vor der Küste Somalias auf einen Küstenstreifen an
        Land von zwei Kilometern Breite. Zwar beschränkt sich
        diese Erweiterung des Mandats auf Angriffe nur aus der
        Luft mittels Hubschraubern lediglich auf die Logistik
        von Piraten. Nothilfeeinsätze an Land, um abgeschos-
        sene Hubschrauberbesatzungen zu retten, bleiben aber
        erlaubt. Die Erweiterung bedeutet daher ein zusätzliches
        Eskalationsrisiko.
        Jahr um Jahr entscheidet sich der Bundestag nun
        schon für diesen Kriegseinsatz, der aber letztlich nur die
        Symptome von Piraterie bekämpft. Deren Ursachen hin-
        gegen, die man politisch angehen kann, werden weitge-
        hend ignoriert. Dazu gehört die Überfischung der Ge-
        wässer vor Somalia. Modern ausgestattete Fangflotten
        aus der EU, aus Japan oder Taiwan rauben den lokalen
        Fischern die Existenzgrundlage. Zusätzlich kommt es
        durch illegale (Gift-)Müllentsorgung vor der Küste So-
        malias zu massivem Fischsterben, Menschen erkranken.
        Auch europäische Firmen sind in die Müllverseuchung
        verwickelt. Und an Land herrschen noch immer Armut,
        Hunger, Gewalt und politische Unsicherheit. Wen wun-
        dert, dass da die Aussicht, mit Schiffsentführungen harte
        Dollars zu verdienen, verlockend ist.
        Kriegsschiffe und Militäreinsätze sind jedoch nicht
        das richtige Mittel und nicht nötig, um die Piraterie
        wirksam zu bekämpfen. Der Einsatz der Bundesmarine
        ist umgehend zu beenden.
        Anlage 6
        Erklärung nach § 31 GO
        des Abgeordneten Herbert Behrens (DIE
        LINKE) zur Abstimmung über den Entwurf ei-
        nes Ersten Gesetzes zur Änderung des Ausfüh-
        rungsgesetzes zu dem Übereinkommen vom
        9. September 1996 über die Sammlung, Abgabe
        und Annahme von Abfällen in der Rhein- und
        Binnenschifffahrt (Tagesordnungspunkt 57 c)
        Meine Fraktion hat heute gegen die Gesetzesände-
        rung gestimmt, weil darin eine Kompetenz von der Was-
        ser- und Schifffahrtsdirektion Südwest auf die General-
        direktion Wasserstraße übertragen werden soll. Diese
        Generaldirektion wurde ohne Beschlussfassung des
        Bundestages und Bundesrates am 1. Mai gegründet.
        Es ist Bestandteil der umstrittenen Reform der Was-
        ser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes, die von den
        Beschäftigten und ihren Interessenvertretungen, vielen
        Fachverbänden und mit einstimmigen Votum der Ver-
        kehrsministerkonferenz, VMK, der Bundesländer abge-
        lehnt wurde. Am 10. und 11. April 2013 in Flensburg er-
        neuerte die VMK hierzu ihre Kritik vom 4. Oktober
        2012. Auch der Bundesrat hat hierzu in der 909. Sitzung
        am 3. Mal 2013 mit einer Entschließung zur Neuord-
        nung der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bun-
        des – Drucksache 340/13 – „die Nichtberücksichtigung
        der sachlichen Kritik der Länder“ kritisiert sowie „ver-
        fassungsrechtliche Zweifel“ angemeldet und geht von
        „einem nicht hinnehmbaren Verlust in der Verkehrsqua-
        lität“ aus.
        Die vorgesehene Trennung der Wasser- und Schiff-
        fahrtsämter in Ämter für Betrieb und Unterhaltung einer-
        seits und Ämter mit revierbezogenen Aufgaben anderer-
        seits führt zu zusätzlichen Schnittstellen, Mehraufwand
        und zu einer geminderten Leistungsfähigkeit der Bun-
        deswasserstraßen. Der Abbau der regionalen Zentralen
        – Wasser- und Schifffahrtsdirektionen – führt zum Ver-
        lust regionaler Kompetenz. Die im Zusammenhang mit
        der Neuordnung der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung
        vorgelegte Kategorisierung der Wasserstraßen des Bun-
        des ist nicht nachvollziehbar. Insbesondere besteht die
        Gefahr, dass durch die Abschaffung der regionalen Wasser-
        und Schifffahrtsdirektionen das regionalspezifische Know-
        how verloren geht. Da die derzeitige organisatorische Um-
        gestaltung der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des
        Bundes gegen den erklärten Willen der Bundesländer statt-
        findet, würde eine notwendige Nachzeichnung durch ein
        Zuständigkeitsanpassungsgesetz auch später keine Mehr-
        heit in der Länderkammer erhalten. Die Bundesregie-
        rung sollte daher die Rechtsunsicherheit durch Unwirk-
        samkeit der organisatorischen Umgestaltung vermeiden
        und auf die Zuständigkeitsänderung der Kompetenzen
        an diese Behörde in diesem Gesetz verzichten.
        Eine Reform der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung
        unter Berücksichtigung einer ökologischen Ausrichtung
        der Verwaltung ist nur zu erreichen, wenn das vorhan-
        dene Know-how umfassend in den Reformprozess ein-
        bezogen wird und den Anforderungen der EU an eine
        ökologische Gewässerschutzpolitik gerecht wird.
        Die Linke lehnt diese Reform der Wasser- und Schiff-
        fahrtsverwaltung ausdrücklich ab und stimmt daher ge-
        gen die heutige Gesetzesänderung. Dem eigentlichen
        Übereinkommen zur Sammlung, Abgabe und Annahme
        von Abfällen in der Rhein- und Binnenschifffahrt stim-
        men wir inhaltlich selbstverständlich zu.
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013 30463
        (A) (C)
        (D)(B)
        Anlage 7
        Erklärung nach § 31 GO
        der Abgeordneten Doris Barnett, Dr. Hans-
        Peter Bartels, Sören Bartol, Bärbel Bas, Uwe
        Beckmeyer, Edelgard Bulmahn, Dr. Peter
        Danckert, Ingo Egloff, Elke Ferner Ulrike
        Gottschalck, Gabriele Groneberg, Michael
        Groß, Bettina Hagedorn, Michael Hartmann
        (Wackernheim), Wolfgang Hellmich,
        Dr. Barbara Hendricks, Gustav Herzog, Frank
        Hofmann (Volkach), Lars Klingbeil, Astrid
        Klug, Angelika Krüger-Leißner, Gabriele
        Lösekrug-Möller, Caren Marks, Dr. Matthias
        Miersch, Manfred Nink, Stefan Rebmann,
        Gerold Reichenbach, Dr. Carola Reimann,
        Karin Roth (Esslingen), Ewald Schurer,
        Dr. Carsten Sieling, Sonja Steffen, Christoph
        Strässer, Kerstin Tack, Rüdiger Veit, Ute Vogt,
        Dr. Marlies Volkmer, Waltraud Wolff (Wol-
        mirstedt), Dagmar Ziegler und Brigitte Zypries
        (alle SPD) zur Abstimmung über den Entwurf
        eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Aus-
        führungsgesetzes zu dem Übereinkommen vom
        9. September 1996 über die Sammlung, Abgabe
        und Annahme von Abfällen in der Rhein- und
        Binnenschifffahrt (Tagesordnungspunkt 57 c)
        Wir halten die mit dem heute beschlossenen Gesetz
        vorgenommene Anpassung der Regelungen zur Finan-
        zierung der Entsorgung von öl- und fetthaltigen Schiffs-
        betriebsabfällen in der Rhein- und Binnenschifffahrt
        sowie die Aufnahme einer datenschutzrechtlichen Rege-
        lung im Hinblick auf die Aufgabenerfüllung durch die
        Zollverwaltung für richtig und geboten. Dem von der
        Bundesregierung vorgelegten Gesetzentwurf sowie dem
        Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen haben wir
        dennoch nicht zugestimmt, weil:
        – der Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens unsere ver-
        fassungsrechtlichen Bedenken an der vom Bundes-
        ministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung,
        BMVBS, vorgenommenen Neuordnung der Wasser-
        und Schifffahrtsverwaltung des Bundes, WSV, bestä-
        tigt hat. Die Bundesregierung hat in dem von ihr im
        April 2013 vorgelegten Gesetzentwurf die „Wasser-
        und Schifffahrtsdirektion Südwest“ als zuständige
        Behörde benannt. Am 24. April 2013 wurde der Ge-
        setzentwurf im federführenden Ausschuss für Ver-
        kehr, Bau und Stadtentwicklung des Deutschen Bun-
        destages einstimmig angenommen. Am 1. Mai 2013
        hat das BMVBS per Organisationserlass die neue
        „Generaldirektion für Wasserstraßen und Schifffahrt“,
        GDWS, eingerichtet und die sieben Wasser- und
        Schifffahrtsdirektionen abgeschafft. Durch die nach-
        trägliche Änderung des bereits durch den Fachaus-
        schuss des Deutschen Bundestages beschlossenen,
        aber durch den Erlass nun ins Leere laufenden Ge-
        setzentwurfs im Zuge der heutigen abschließenden
        Plenarberatungen soll die Zuständigkeit korrigiert
        und die Rechtswirksamkeit des Gesetzes sicherge-
        stellt werden. Dieses Vorgehen bestätigt die Auffas-
        sung, dass eine rechtssichere Umsetzung der Organi-
        sationsreform der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung
        eine gesetzliche Änderung der Aufgaben- und Zu-
        ständigkeitsregelungen zwingend erfordert. Das Bei-
        spiel des jetzt beschlossenen Gesetzentwurfs zeigt zu-
        dem, dass das von der Bundesregierung gewählte
        Verfahren, die Umstrukturierung der WSV durch Or-
        ganisationserlass zu regeln und auf ein Rechtsbereini-
        gungsgesetz zu verzichten, zu erheblicher Rechtsunsi-
        cherheit führt.
        – der Deutsche Bundestag mit dem heute beschlossenen
        Gesetz die neue, von uns in der jetzigen Form abge-
        lehnte Umstrukturierung der Wasser- und Schiff-
        fahrtsverwaltung des Bundes konstituiert. Das Vorha-
        ben, die WSV zu modernisieren, ist grundsätzlich
        richtig. Als Folge des erheblichen Personalabbaus seit
        Ende der 1990er-Jahre ist sie in ihren Verwaltungs-
        und Ablaufstrukturen reformbedürftig. Die Pläne der
        Bundesregierung sind jedoch nicht geeignet, dieses
        Ziel einer Modernisierung der WSV unter Berück-
        sichtigung gesamtwirtschaftlicher Gesichtspunkte zu
        erreichen. Insbesondere die beabsichtigte Fortsetzung
        des Personalabbaus, die Schließung der regionalen
        Wasser- und Schifffahrtsdirektionen und die Überfüh-
        rung von Aufgaben an die neue Generaldirektion füh-
        ren zu einem Verlust von fachlicher Kompetenz und
        regionaler Nähe, schaffen zusätzliche Schnittstellen
        und bedeuten eine geminderte Leistungsfähigkeit des
        Verkehrsträgers Wasserstraße insgesamt.
        – eine parlamentarische Befassung des Bundestages mit
        der Umstrukturierung der WSV unterblieben ist. Die
        Bundesregierung hat es abgelehnt, dem Deutschen
        Bundestag einen Gesetzentwurf zur Neuordnung der
        Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes und
        zur Anpassung der Zuständigkeiten der Wasser- und
        Schifffahrtsdirektionen vorzulegen. Dadurch sehen
        wir die Belange des Deutschen Bundestages und sei-
        ner Abgeordneten als nicht ausreichend berücksich-
        tigt. Der Haushaltsausschuss des Deutschen Bundes-
        tages hat die Bundesregierung bereits im September
        2012 aufgefordert, zeitnah ein Gesetz zur Rechtsbe-
        reinigung vorzulegen. Die Bundesregierung hat je-
        doch die sachlich begründete Kritik und die verfas-
        sungsrechtlichen Bedenken nicht berücksichtigt und
        eine angemessene Beteiligung des Deutschen Bun-
        destages verweigert. Wir sind deshalb nicht bereit, die
        mit dem heute beschlossenen Gesetz verbundene An-
        erkennung dieser Umstrukturierung zu unterstützen.
        Anlage 8
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Antrags: Rente für Doping-
        opfer in der DDR (Tagesordnungspunkt 16)
        Eberhard Gienger (CDU/CSU): Unbestritten wurde
        in der ehemaligen DDR systematisches Doping betrie-
        ben. Dieses wurde von staatlichen Stellen angeordnet
        und von den Sportverbänden organisiert. Viele Sportle-
        rinnen und Sportler haben unter der Verabreichung von
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        Dopingmitteln gelitten und tun das auch heute noch. Un-
        zweifelhaft ist auch, dass finanzielle Leistungen diesen
        Opfern ihre Gesundheit nicht wiedergeben können. Die
        wichtige Frage allerdings, ob sie diese Dopingmittel nun
        wissentlich oder unwissentlich eingenommen haben,
        führt schnell in den Bereich der Spekulation, denn im
        Nachhinein ist das nur schwer zu beantworten. Haben
        Sportler ohne ihr Wissen und ihre Zustimmung gedopt?
        Zu der Beantwortung dieser Frage müsste man nachwei-
        sen können, dass Ärzte oder Betreuer die Sportler gezielt
        getäuscht haben, was ich juristisch für sehr kompliziert
        halte, aber für den rechtlichen Anspruch auf eine Ent-
        schädigung von ganz entscheidender Bedeutung wäre.
        Genau diese Frage wird in Deutschland seit dem Auf-
        decken des systematischen Staatsdopings intensiv disku-
        tiert. Im Ergebnis kann gesagt werden, dass nach juristi-
        schen Maßstäben der Nachweis, dass in der ehemaligen
        DDR Sportlerinnen und Sportler ohne ihr Wissen gedopt
        wurden, im Einzelfall nur sehr schwer zu führen ist.
        Ein ganz ähnliches Problem ergibt sich beim medizi-
        nischen Nachweis bezüglich der gesundheitlichen Schä-
        digung durch ein konkretes Dopingmittel. Ohne Zweifel
        gibt es eine Reihe von Indizien, aber einen Zusammen-
        hang zwischen der heute angegriffenen Gesundheit der
        Betroffenen und der damaligen Einnahme von ganz be-
        stimmten Substanzen lässt sich rechtlich kaum feststel-
        len. Diese beiden Dilemmata sind die Ursache der kom-
        plizierten juristischen Anerkennung von Dopingopfern
        aus der ehemaligen DDR.
        Genau hier liegt dann auch das Problem des uns vor-
        liegenden Antrags. Wo ist die Grenze zu ziehen? Welche
        Geschädigten sollen anerkannt werden? Die Grünen zie-
        hen diese bei damals minderjährigen Sportlern in der
        ehemaligen DDR. Ich frage mich bei dieser Grenze, wa-
        rum sie hier gezogen wurde? Meiner Ansicht nach mutet
        es willkürlich an, die Grenze bei 18 Jahren zu ziehen.
        Zum einen ist der genaue Zeitpunkt eines erstmaligen
        Dopings heutzutage kaum noch zu bestimmen, und zum
        anderen bleiben jene außen vor, die bei der Einnahme ei-
        nes Dopingmittels älter als 18 Jahre waren, obwohl sie
        heutzutage vielleicht die gleichen oder womöglich noch
        schwerwiegendere gesundheitliche Probleme haben.
        Wie wollen Sie mit Sportlern umgehen, die in der Zeit,
        in der diese Doping verabreicht bekommen haben, voll-
        jährig geworden sind? Ist die von Ihnen gezogene
        Grenze von 18 Jahren überhaupt juristisch zulässig? Ist
        sie gerecht? Was sagen Sie den damals volljährigen Do-
        pingopfern? Die Antworten auf all diese Fragen bleiben
        Sie in ihrem Antrag schuldig.
        Das von Ihnen geforderte Instrument der Anerken-
        nung und Einführung eines gesonderten Rentenan-
        spruchs für die Dopingopfer aus der ehemaligen DDR
        hält die CDU/CSU-Bundestagsfraktion für das falsche
        Instrument, den Betroffenen eine finanzielle Wiedergut-
        machung zu gewähren. Es gibt keine rechtliche Grund-
        lage für eine solche Opferrente und jede Regelung dahin
        gehend würde einen erheblichen arbeits- und sozial-
        rechtlichen Aufwand nach sich ziehen. Die Folge wäre,
        dass das mit Sicherheit neue Forderungen nach sich zie-
        hen würde, deren finanzielle Auswirkungen wir nicht
        absehen und damit verantworten können.
        Ohnehin lese ich in Ihrem Antrag sehr viel von finan-
        ziellen Forderungen. So soll neben einer monatlichen
        Rente, von wenigstens 200 Euro, eine unabhängige Be-
        ratungsstelle für Dopingopfer eingerichtet und betrieben
        werden. Zudem soll der Aufbau und Unterhalt eines Do-
        pingopferarchives finanziell und inhaltlich unterstützt
        werden. Zuletzt fordern Sie in Ihrem Antrag noch, dass
        Finanzmittel für die Durchführung einer Studie bereitge-
        stellt werden sollen, die Langzeitschäden des Dopings
        zusammentragen soll. Einen Hinweis darauf, wie das al-
        les finanziert werden soll, bleiben Sie aber ebenfalls
        schuldig.
        Insbesondere Ihre Forderungen nach dem Aufbau ei-
        ner gesonderten Beratungsstelle erscheint mir weit her-
        geholt. Ich denke, dass sich Hilfestellungen für die
        Betroffenen durch bestehende Institutionen und Sport-
        verbände organisieren lassen müssten. Der Doping-Op-
        fer-Hilfe-Verein, DOH, leistet hier bereits einen wichti-
        gen Beitrag.
        Genau da sind wir bei dem richtigen Thema ange-
        langt. Der 1999 gegründete DOH hat sich zum Ziel ge-
        setzt, ehemalige Sportler aus dem DDR-Dopingsystem
        zu unterstützen und Aufklärung über die körperlichen
        Langzeitschäden von Dopingmitteln zu leisten. Der Ver-
        ein betreut dopinggeschädigte Athleten mit einer umfas-
        senden Beratung durch seine Beiräte und möchte eine
        Langzeitstudie zu den Gesundheitsschäden von Doping
        in Auftrag geben. Zudem soll eine bundesweite Bera-
        tungsstelle eingerichtet werden, die als eine Anlaufstelle
        für ehemalige und aktive Sportler dienen soll. Diese bei
        einer Pressekonferenz Ende April dieses Jahres in Berlin
        vom DOH vorgestellten Maßnahmen beinhalten viele
        von den Forderungen, die die Grünen in ihrem Antrag
        von der Bundesregierung einfordern, ohne dabei zu be-
        denken, ob der autonome Sport diese Aufgabe mit der
        Unterstützung der Bundesregierung nicht besser organi-
        sieren könnte.
        Wie ich bereits zu Beginn meiner Rede gesagt habe,
        hat es in der ehemaligen DDR im Leistungssport ein sys-
        tematisches Doping gegeben. Die Opfer dieses Systems
        haben Bundesregierung und organisierter Sport in
        Deutschland anerkannt und ihnen auch eine finanzielle
        Hilfe gewährt, die weitaus niederschwelliger war. Das
        im Jahr 2002 in Kraft getretene Dopingopfer-Hilfegesetz
        war bewusst so ausgelegt, dass so viele Opfer wie mög-
        lich einen leichten Zugang zu dem mit dem Gesetz ent-
        standenen Hilfsfonds erhalten haben. 2 Millionen Euro
        hatte die damalige Bundesregierung bereitgestellt, um den
        damals 194 Berechtigten jeweils eine Einmalzahlung von
        10 438 Euro zukommen zu lassen. Ende 2006 hat dann
        der organisierte Sport in Gestalt des DOSB – gemeinsam
        mit dem hauptverantwortlichen Pharmahersteller – einen
        Vergleich mit 167 Dopingopfern geschlossen und wiede-
        rum eine Einmalzahlung von 9 250 Euro vereinbart.
        Abschließend muss ich nochmals betonen, dass der
        uns vorliegende Antrag in die falsche Richtung geht, fal-
        sche – weil willkürliche – Grenzen setzt, die Autonomie
        des Sports nicht ausreichend würdigt, den Opfern eine
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        unbürokratische Hilfe nur vorgaukelt. Wir können ihm
        deshalb nicht zustimmen.
        Klaus Riegert (CDU/CSU): Ich kann mich der Posi-
        tion von Eberhard Gienger nur anschließen und möchte
        daher auch nicht alle Argumente im Einzelnen wieder-
        holen.
        Wir haben uns mit allen Fraktionen bereits vor knapp
        zwei Jahren in einem Expertengespräch mit dem Thema
        beschäftigt. Im Ergebnis wurden von allen Seiten die
        gleichen Zweifel an dem von den Grünen vorgeschlage-
        nen Weg geäußert. Allein aus rechts- und sozialpoliti-
        scher Sicht war klar, dass eine solche Initiative gar nicht
        umsetzbar ist und nicht rechtskonform sein kann. Inso-
        fern wundert es mich schon sehr, wenn ein von den Grü-
        nen scheinbar selbst aufgegebener Punkt nach zwei
        Jahren zur Bundestagswahl aufgegriffen wird. Dahin ge-
        hend kann ich den Antrag der Grünen nicht als eine se-
        riöse und ernstgemeinte Initiative betrachten. Ehrlich ge-
        sagt ist es enttäuschend, wenn die DDR-Dopingopfer
        instrumentalisiert werden, um eine parteipolitische
        Showveranstaltung zu inszenieren, gleichwohl klar ist,
        dass der Antrag ins Leere läuft. Warum sind die Grünen
        denn nicht noch einmal auf alle Fraktionen zugegangen,
        bevor der Antrag eingebracht wurde? Diese Frage kann
        sich wohl jeder selbst beantworten.
        Unsere ablehnende Position gegenüber dem Antrag
        – wie auch jene der anderen Fraktionen – gründet darauf,
        dass die Initiative schlichtweg widersprüchlich, unge-
        recht und rechtswidrig ist. Mit einer Blockadepolitik hat
        das absolut gar nichts zu tun. Zudem stellt der Antrag
        auf das falsche sozialpolitische Instrument Rente ab.
        Weiterhin ignorieren die Grünen konsequent juristische
        und medizinische Anforderungen, die Eberhard Gienger
        bereits angesprochen hat. Eine Eingrenzung des Perso-
        nenkreises auf zum Zeitpunkt der Dopingmittelein-
        nahme minderjährige Sportlerinnen und Sportler der
        DDR zum Beispiel kann im Nachgang nicht abgren-
        zungsfrei vorgenommen werden. Warum werden die da-
        mals gerade volljährigen Athletinnen und Athleten in
        dem Antrag der Grünen prinzipiell ausgeklammert? Wie
        ist der Rentenanspruch von jenen Sportlerinnen und
        Sportlern zu sehen, die wissentlich gedopt haben? Auch
        die Festlegung der Rentenhöhe (von mindestens
        200 Euro) ist offenkundig willkürlich gesetzt.
        Der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ent-
        hält eine Vielzahl an inhaltlichen und argumentativen
        Widersprüchen. Die Begründung der einzelnen Forde-
        rungspunkte ist völlig inkonsistent, viele Aspekte versto-
        ßen gegen geltende Rechtsvorschriften. Traurigerweise
        muss man davon ausgehen, dass die Schwächen und
        Mängel der Initiative den Antragstellern schon vorher
        bekannt waren und die Initiative nur ins Leere laufen
        kann.
        Mit Blick in die Vergangenheit hat sich die CDU/
        CSU-Bundestagsfraktion 2001/2002 maßgeblich für die
        Entschädigung von Dopingopfern starkgemacht. So ha-
        ben wir 2001 eine Anhörung zur „Errichtung eines
        Fonds zur Unterstützung der Doping-Opfer der DDR“
        (Bundestagsdrucksache 14/5674) beantragt und das
        Thema sachlich vorangebracht. Bei den von der damali-
        gen Bundesregierung zur Verfügung gestellten 2 Millio-
        nen Euro konnte so eine Einmalzahlung von circa
        10 000 Euro geleistet werden. Im Gegensatz zur damali-
        gen Entscheidung sollten wir heute gemeinsam schauen,
        wie wir die Dopingopfer weiter unterstützen und die
        Einnahme von Dopingmitteln präventiv verhindern kön-
        nen. Das sozialpolitische Instrument der Rente ist dabei
        in jedem Fall der falsche Weg.
        Ich freue mich dahin gehend sehr, dass sich zum Bei-
        spiel auch der Doping-Opfer-Hilfe-Verein weiterhin für
        die Belange der ehemaligen Sportlerinnen und Sportler
        der DDR einsetzt. Ich würde mir wünschen, dass der
        Verein aktiv den Kontakt zu den Regierungsfraktionen
        sucht und man konstruktiv nach Lösungen für eine wei-
        tere Aufarbeitung der Vergangenheit und Unterstützung
        der Opfer sucht. Gerne unterstützen wir den Verein da-
        bei, eine Beratungsstelle in Berlin zu etablieren und den
        Kontakt zu weiteren Stakeholdern (zum Beispiel zur
        Pharmaindustrie) herzustellen.
        Neben der Vergangenheitsbewältigung wären vor al-
        lem jene Initiativen (zum Beispiel des Doping-Opfer-
        Hilfe-Vereins) besonders wünschenswert, die an Maß-
        nahmen des heutigen Kampfes gegen Doping im Sport
        anknüpfen oder diese ergänzen. Gerade im präventiven
        Bereich des Antidopingkampfes liegt ein großes Poten-
        zial, um im Vorfeld Missbrauch, Täuschung im sportli-
        chen Wettbewerb und letztlich schwere körperliche Fol-
        geschäden zu verhindern. Die Bundesländer haben sich
        für die Unterstützung der Dopingpräventionsarbeit ver-
        antwortlich gezeigt bzw. ihren Zuständigkeitsbereich an-
        gezeigt. Hier könnte ebenso eine starke Förderung statt-
        finden. Ferner wäre eine Kooperation mit der Nationalen
        Anti Doping Agentur Deutschland, NADA, der Deut-
        schen Sportjugend, DSJ, und weiteren Institutionen zu
        begrüßen. Die Kooperation sollte hierbei von Vertrauen,
        gegenseitigem Respekt, zielorientierten Initiativen, aber
        auch von Selbstverantwortung getragen sein, um sich
        einzeln und zusammen für das gemeinsame Ziel einzu-
        setzen. Der Deutsche Olympische Sportbund, DOSB,
        hat in der Vergangenheit bereits vielfältige Bestrebungen
        unternommen sowie weiteres Interesse bekundet.
        Abschließend wird erkennbar, dass es nicht an sinn-
        vollen Vorhaben, konkreten Maßnahmen, Projekten und
        Initiativen mangelt. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion
        wird sich auch weiterhin kraftvoll für die Aufarbeitung
        der Dopingvergangenheit einsetzen. Besonders wichtig
        ist für uns hierbei vor allem die Verbindung zur heutigen
        Zeit. Die Herausforderung ist, Doping im Sport präven-
        tiv zu verhindern, sodass es weder zu Missbrauch und
        Manipulation im Sport noch zu schweren körperlichen
        Folgeschäden kommt.
        Martin Gerster (SPD): Fraktion Bündnis 90/Die
        Grünen spricht ein für den Sport und darüber hinaus
        wichtiges und sehr ernstes Thema an: Doping und seine
        Folgen für die Gesundheit. Etliche Sportlerinnen und
        Sportler aus der ehemaligen DDR zeigen auf dramati-
        sche Weise die enormen körperlichen Schädigungen
        durch Doping auf: Störungen der Fruchtbarkeit, Leber-
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        schäden, Herzschäden und vieles weitere. Die Liste der
        Leiden ist leider sehr lang. Hinzu kommt hier die beson-
        dere Widerwärtigkeit, dass dies von der DDR staatlich
        gefördert und vorgegeben war.
        Die Frage einer Rente für dopinggeschädigte Sportle-
        rinnen und Sportler aus der ehemaligen DDR begleitet
        uns bereits seit einigen Jahren.
        Verantwortung für Dopinggeschädigte übernahm erst-
        mals die damalige rot-grüne Bundesregierung mit dem
        Dopingopfer-Hilfegesetz im Jahr 2002. Insgesamt er-
        hielten 194 Betroffene eine Einmalzahlung von knapp
        10 500 Euro. Wenn auch erst nach intensiven Rechts-
        streitigkeiten folgten diesem positiven Beispiel später
        der DOSB und das Pharmaunternehmen Jenapharm.
        Beide zahlten an 167 bzw. 184 Kläger jeweils
        9 250 Euro.
        Und doch muss uns allen eines klar sein: Kein Geld
        der Welt kann das Leid der Betroffenen wiedergutma-
        chen!
        Wir sind gerne bereit, über eine Rente für Dopingge-
        schädigte zu sprechen, und lehnen den Vorschlag nicht
        grundsätzlich ab. Daher ist folgender, von dem Doping-
        Opfer-Hilfe-Verein gestern in einer Pressemitteilung ge-
        äußerte Satz in Bezug auf die SPD-Fraktion nicht rich-
        tig: „Die anderen im Bundestag vertretenen Parteien, da-
        runter die SPD-Opposition, haben angekündigt, sich der
        Initiative von Bündnis 90/Die Grünen nicht anzuschlie-
        ßen.“ Über die Details gilt es aber noch zu sprechen.
        Dafür sind die Beratungen im Parlament schließlich da.
        Zu dem vorliegenden Antrag: Richtig ist aus unserer
        Sicht, dass für einen möglichen Rentenanspruch die erst-
        malige Verabreichung der Dopingmittel vor Eintritt der
        Volljährigkeit erfolgt sein muss. Bei erwachsenen Men-
        schen muss eine vollständige Eigenverantwortung für ihr
        Tun und Handeln eingefordert werden können. Aber
        nicht bei Kindern und Jugendlichen. So gibt es beispiels-
        weise einen dokumentierten Fall, wonach ein Mädchen
        ab dem 13. Lebensjahr bereits Testosterondosen erhielt,
        ohne ihr Wissen, ohne die Chance, sich dem zu widerset-
        zen. Das ist eine Schande. Nichtsdestotrotz sehen wir in
        der Tat einige Punkte in dem Antrag kritisch beziehungs-
        weise haben noch einige Fragen an die Antragsteller.
        Neben der eigentlichen Hauptforderung der Rente für
        Dopinggeschädigte stellen Sie mit den weiteren Forde-
        rungen ganz offensichtlich eine Art Wunschkatalog für
        den Doping-Opfer-Hilfe-Verein auf: Einrichtung einer
        Beratungsstelle, Aufbau und Unterhalt eines Doping-
        opferarchivs sowie Durchführung einer medizinischen
        Studie über Dopinglangzeitschäden. Weniger ist viel-
        leicht auch manchmal mehr. Wir sollten den Kern der
        Rente nicht mit zu vielen Forderungen überfrachten.
        Dies ist nicht hilfreich bei der Suche nach einer inter-
        fraktionellen Lösung, wie es von Ihnen, Frau von
        Cramon, ja in den Medien angekündigt wurde.
        Vorweg: Um hier eines ganz klarzustellen. Es geht
        keineswegs um das Aufwiegen von Unrecht. Aber ich
        frage mich, wie Sie auf die Höhe von wenigstens
        200 Euro monatlich kommen? Orientieren Sie sich am
        Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz? Dort erhalten
        Opfer politischer Haft bei einer Mindesthaftdauer von
        180 Tagen eine Opferpension von bis zu 250 Euro mo-
        natlich. Es geht hier nicht um das Verhandeln um ein-
        zelne Euro. Das wird dem Leid der Opfer nicht gerecht.
        Vielmehr möchten wir lediglich für die weiteren Bera-
        tungen gerne wissen, wie Sie diese Untergrenze begrün-
        den und ob Sie eine Höchstgrenze angedacht haben. Und
        wenn ja, wo soll diese liegen?
        Des Weiteren schreiben Sie in dem Antrag: „Nicht
        nur die ehemaligen Sportlerinnen und Sportler sind von
        Gesundheitsschäden betroffen, sondern vielfach auch
        ihre Kinder.“ Können Sie diese Aussage mit Fakten be-
        legen? Durchaus können die Einnahme von Anabolika
        zu Fehlbildungen der Leibesfrucht führen und damit
        können auch die Kinder von gedopten Sportlerinnen und
        Sportlern an Gesundheitsschäden leiden. Aber noch-
        mals: Haben Sie dazu konkrete Zahlen, die Sie in Ihrer
        Annahme des „vielfach“ bestätigen? Dies würde mich
        sehr interessieren.
        Außerdem stellt sich mir die Frage: Warum haben Sie
        nicht zumindest in einem Prüfauftrag die Bundesrepu-
        blik Deutschland aufgeführt? Denn laut dem For-
        schungsprojekt „Doping in Deutschland“ gab es in der
        BRD auch ein vom Staat gebilligtes, zumindest nicht
        nachhaltig unterbundenes Doping. Dies belegen Studien
        des Bundesinstituts für Sportwissenschaft über den Ein-
        satz von Mitteln wie Anabolika und Testosteron aus den
        1970er- und 1980er-Jahren. Dies ist zwar nicht nur annä-
        hernd in dem Ausmaß der DDR mit ihrem Staatsplan
        14.25, aber es sollte aus Sicht der SPD-Fraktion dennoch
        berücksichtigt werden.
        Ich hoffe, dass die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
        zu den offenen Fragen Antworten geben kann und freue
        mich auf die weiteren Beratungen in Ausschuss und Ple-
        num.
        Eine Anmerkung darf zum Thema Doping noch ab-
        schließend erlaubt sein: Es wäre für den sauberen Sport
        äußerst wünschenswert, wenn wir, nachdem wir heute
        über die Vergangenheit und die Folgen für die gegenwär-
        tige Situation betroffener Personen gesprochen haben,
        auch endlich eine sinnvolle Lösung im Umgang mit der
        Dopingproblematik für die Zukunft finden könnten. Die
        derzeitige rechtliche Situation um den § 6 a im Arznei-
        mittelgesetz reicht für einen zielführenden Antidoping-
        kampf nicht aus. Aber an dieser Stelle versperrt sich die
        Koalition aus CDU/CSU und FDP leider einer konse-
        quenten Lösung. Daher hat die SPD-Fraktion einen Ent-
        wurf für ein Anti-Doping-Gesetz eingebracht, über wel-
        chen wir demnächst gerne mit Ihnen allen diskutieren.
        Dr. Lutz Knopek (FDP): Alle Bundestagsfraktionen
        verurteilen in aller Schärfe das systematische staatliche
        Doping in der DDR, welches auch vor der Dopinggabe
        an Minderjährigen nicht zurückschreckte. Dass DDR-
        Leistungssportler und -Leistungssportlerinnen zum Teil
        ohne ihr Wissen oder gegen ihren Willen leistungsstei-
        gende Mittel einnehmen mussten und noch heute die ge-
        sundheitlichen Folgen dieser Mittel spüren, bedauern
        wir zutiefst. Das Unrecht, das den Betroffenen von ih-
        rem Staat angetan wurde, das Leid, das ihnen physisch
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013 30467
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        und psychisch zugefügt wurde, die Schäden, die sie da-
        vongetragen haben: Das alles kann im Grunde nur
        schwer – wenn überhaupt – wiedergutgemacht werden.
        Dafür kann im engeren Sinne des Wortes kaum eine Ent-
        schädigung geleistet werden.
        Aber die Opfer brauchen Hilfe. Aus diesem Grund hat
        die Bundesrepublik Deutschland 2002, ohne Rechts-
        pflicht, mit dem Dopingopfer-Hilfegesetz einen Fond
        eingerichtet, aus dem mit der Summe von insgesamt
        2 Millionen Euro Anspruchsberechtigte entschädigt
        wurden, und auch der DOSB sowie die Firma Jenapharm
        haben als Rechtsnachfolger Betroffenen Schadensersatz
        gezahlt.
        Dass die zwangsgedopten DDR-Leistungssportler
        Opfer der damaligen menschenverachtenden sozialisti-
        schen Diktatur waren und dass ihnen geholfen werden
        muss, darin waren sich 2002 alle Fraktionen einig. Auch
        war man sich einig, dass auf Grundlage eines Erfah-
        rungsberichtes der Bundesregierung in der 15. Wahlpe-
        riode geprüft werden soll, ob weitere Hilfen für diese
        Gruppe von Dopingopfern erforderlich sind. Die Prü-
        fung fand meines Wissens nach nicht statt und würde so
        eindeutig ein Versäumnis der damaligen rot-grünen Re-
        gierungsmehrheit darstellen.
        Warum wird dieser Antrag nun jetzt, kurz vor der
        Sommerpause, wo wir gar nicht mehr die Zeit haben,
        sachgerecht über dieses Anliegen zu sprechen, durch die
        Grünen in den Deutschen Bundestag eingebracht? Han-
        delt es sich vielleicht nur um ein durchsichtiges Wahl-
        kampfmanöver? Die Tatsache, dass die Grünen diesen
        Antrag ohne interfraktionelle Abstimmung heute ein-
        bringen, erhärtet diesen Verdacht.
        Der Vorstoß der Grünen ist meiner Meinung nach
        kontraproduktiv und zeigt einmal mehr, dass es dieser
        Partei wichtiger ist, sich mit großen Worten in den Me-
        dien zu schmücken, als wirklich etwas in der Sache zu
        bewegen. Der Schnellschussantrag wurde einem offenen
        Dialog mit allen Fraktionen zu diesem Thema vorgezo-
        gen. Selbst die Doping-Opfer-Hilfe e. V. hätte sich eine
        überfraktionelle Lösungssuche gewünscht.
        Ich finde es jedoch wichtig, dass der Wille des Sport-
        ausschusses aus dem Jahr 2002 nicht einfach ignoriert
        wird. Es ist sicherlich an der Zeit, dass sich das Parla-
        ment erneut mit der heutigen Situation dieser Doping-
        opfer befasst und sich alle Fraktionen gemeinsam über
        Möglichkeiten einer Hilfe, sei sie finanziell, in Form von
        Beratungsstellen oder medizinischen Studien über Lang-
        zeitschäden, austauschen. Ich hoffe, dass sich die Mit-
        glieder des zukünftigen Sportausschusses zeitnah mit
        diesem Thema befassen werden.
        Mehrere Punkte, die im Antrag der Grünen aufgeführt
        werden, müssen dann allerdings gründlich überdacht
        werden. Welche Form der Hilfe ist, gesellschaftlich wie
        für den einzelnen Betroffenen, am angemessensten?
        Welche Sportler haben Anrecht auf eine erneute Hilfs-
        zahlung bzw. Rente. Und vor allem: in welcher Höhe?
        Sollen es diejenigen Sportler sein, die durch das letzte
        Dopingopfer-Hilfegesetz bereits eine Zahlung erhalten
        haben, oder definiert man ein neues Findungsverfahren
        zur Feststellung der Anspruchsberechtigung? Und kann
        man heute überhaupt noch eine sachgerechte Differen-
        zierung im individuellen Einzelfall vorzunehmen? Kön-
        nen rückwirkend heutige Symptome noch zweifelsfrei
        auf einen konkreten Dopingmissbrauch zurückgeführt
        werden? Und warum fordert der Antrag der Grünen nur
        eine Rente für die damals minderjährigen Dopingopfer?
        Es gibt sicherlich auch Sportler, die erst als junge, unin-
        formierte Erwachsene Dopingmittel erhalten haben. Wa-
        rum wird ihnen diese Hilfe von vornherein verweigert?
        Die FDP-Fraktion hofft also sehr, dass diese Debatte
        in der kommenden Legislaturperiode fortgesetzt und
        eine Lösung gefunden wird, die den Opfern gerecht
        wird. Heute Nacht befassen wir uns ohne Notwendigkeit
        mit einem Schaufensterantrag der Grünen, der von vorn-
        herein überhaupt nicht auf das Interesse dieses Hohen
        Hauses zielt, sondern lediglich als Vehikel für längst er-
        folgte Medienaktivitäten meiner grünen Kollegin von
        Cramon-Taubadel dient. In seiner jetzigen Form, mit den
        zahlreichen ungeklärten Fragen, lehnt meine Fraktion
        diesen Antrag ab.
        Jens Petermann (DIE LINKE): Die missbräuchli-
        che Einnahme von Medikamenten und leistungssteigern-
        den Substanzen, gemeinhin als Doping bezeichnet, hat
        bei Leistungssportlern nicht nur zu Wettbewerbsvortei-
        len geführt. Leider sind zum Teil auch erhebliche ge-
        sundheitliche Schäden die Folge. Organisierte private,
        staatliche und Vereinsstrukuren, medizinische Fachab-
        teilungen und Trainer haben oft genug Hand in Hand ge-
        arbeitet. Sportlerinnen und Sportler indes stehen heute
        mit den gesundheitlichen Folgen dieser Praxis häufig al-
        lein da, befinden sich im sozialen Abseits und sind mit-
        unter auf staatliche Hilfe angewiesen. Es ist unseres Er-
        achtens Aufgabe der Politik, diese Praxis aufzuklären,
        zukünftig zu erschweren, bestenfalls zu verhindern und
        vor allem Menschen, die Schaden genommen haben, die
        notwendige Unterstützung zukommen zu lassen. Parla-
        mentarische Initiativen in diese Richtung werden immer
        unsere Unterstützung finden.
        Der Grünen-Antrag versucht, die Thematik zu erfas-
        sen, lässt aber leider eine Reihe Fragen aufkommen:
        fachliche, inhaltliche und auch ideologische.
        Welchen Mehrwert hat dieser Vorstoß kurz vor der
        Bundestagswahl? Den bösen Verdacht, dass es sich da-
        bei um rein „wahltaktisches Geplänkel“ handeln könnte,
        äußerte unter anderem der langjährige Vorsitzende des
        Vereins Doping-Opfer-Hilfe, der in dieser Sache an sich
        sicherlich völlig unverdächtig ist. Das angeblich lang-
        wierige Werben der Grünen um einen interfraktionellen
        Antrag zu dem Thema ist zudem an die Linksfraktion
        das letzte Mal vor gut zwei Jahren herangetragen wor-
        den.
        In der Sache ist der Antrag ein kleiner Schritt, greift
        aber viel zu kurz. Aus unserer Sicht muss es mehr als
        20 Jahre nach der deutschen Einheit möglich sein, die
        einseitige Opferarithmetik, die sich auf das Schicksal
        von Menschen im Osten beschränkt, ad acta zu legen
        und sich der Thematik als gesamtdeutsches Problem zu
        widmen. Selbst die Doping-Opfer-Hilfe hat mit der Vor-
        30468 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013
        (A) (C)
        (D)(B)
        standswahl Anfang März einen Richtungswechsel einge-
        leitet. Der Verein will sich von nun an um die Belange
        aller Sportlerinnen und Sportler kümmern, die Schaden
        durch Dopingpraktiken erlitten haben oder erleiden: also
        auch Athletinnen und Athleten aus dem Westen der Re-
        publik. Der Antrag greift dies nicht auf.
        Dass sich die Doping-Opfer-Hilfe auch um die Ge-
        genwart kümmern will, ist ein wichtiger Schritt. Da dür-
        fen wir Parlamentarier auch im Sinne der Geschädigten
        des aktuellen sportlichen Geschehens nicht nachstehen.
        Aus unserer Sicht ist eine solche Anlaufstelle eine sinn-
        volle Einrichtung. Von Sportausschuss und Innenminis-
        terium fordern wir, dass umgehend an einem entspre-
        chenden Haushaltstitel gearbeitet wird.
        Eine Rente für Dopingopfer mit Blick auf die erfolgte
        Einmalzahlung aus dem Dopingopfer-Hilfegesetz gänz-
        lich abzulehnen – wie es die Union beabsichtigt –, ist un-
        seres Erachtens ein unangemessener Umgang mit dem
        Problem. Statt die Augen zu verschließen, muss die Poli-
        tik handeln.
        Wir sollten uns im Klaren darüber sein, dass bis zum
        Bezug einer Rente hohe Hürden zu überwinden sind, die
        sich nicht so leicht nehmen lassen. Die von den Bündnis-
        grünen vorgeschlagene Rente würde sofort auf etwaige
        Transferleistungen angerechnet werden. Empfänger von
        Sozialleistungen beispielsweise hätten dadurch keinen
        Pfennig mehr in der Tasche. Ausschließlich um der An-
        erkennung willen eine Rente zu konzipieren, ist keine
        Lösung.
        Neben diesem symbolischen Akt geht es doch vor al-
        lem um die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Dazu
        gehört die berufliche Wiedereingliederung genauso wie
        eine ausreichende finanzielle Grundlage, die einen Kino-
        besuch nicht zum Luxus werden lässt.
        Beispielsweise könnte den Geschädigten eine Be-
        schäftigung beim DOSB, bei der Nationalen Anti-Do-
        ping-Agentur und Sportverbänden angeboten werden.
        Gerade der Deutsche Olympische Sportbund als wich-
        tigste Einrichtung des gesamtdeutschen Sportes trägt bei
        diesem Thema ein hohes Maß an Verantwortung.
        Denkbar ist auch, vergleichbar mit den Eingliede-
        rungsangeboten für Menschen mit Behinderung, ein
        besonderes Maßnahmepaket für Dopinggeschädigte, an-
        gesiedelt bei den Arbeitsagenturen. Der einzelnen Sport-
        lerin, dem einzelnen Sportler muss ein maßgeschneider-
        tes Angebot unterbreitet werden.
        Da es zwangsläufig ohnehin Probleme geben wird,
        den zweifelsfreien Nachweis einer Schädigung durch
        Dopingmittel zu führen – gleichgültig, ob Ost oder
        West –, bedarf es hierfür klarer Regeln, sonst gibt man
        den potenziell Anspruchsberechtigten Steine statt Brot
        und Frust statt Hilfe. Es bedarf dazu einer entsprechen-
        den unabhängigen Stelle, die frei von ideologischen Be-
        schränkungen über einen Zusammenhang entscheiden
        kann. Das bisherige System, das die Beurteilung von ei-
        nem einzigen Gutachter abhängig macht, ist in der Ver-
        gangenheit auch von der Doping-Opfer-Hilfe kritisiert
        worden.
        Damit eine Initiative zur Entschädigung von Do-
        pingopfern erfolgreich wird, müssen all diese Aspekte
        einbezogen werden. Der vorliegende Antrag wird die-
        sem Anspruch nicht gerecht.
        Anlage 9
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
        Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfah-
        rens und zur Stärkung der Gläubigerrechte (Ta-
        gesordnungspunkt 17)
        Norbert Geis (CDU/CSU): Die freie soziale Markt-
        wirtschaft zeichnet sich dadurch aus, dass sie Monopole
        verhindert und die freie Konkurrenz ermöglicht. Durch
        diesen Wettbewerb setzt sie Anreize, die eigenen Fähig-
        keiten zu entfalten. Wer scheitert, wird durch ein dichtes
        soziales Netz aufgefangen. Dabei darf es jedoch nicht
        bleiben. Das Netz darf nicht zur Hängematte werden.
        Vielmehr soll jeder Arbeitnehmer oder Unternehmer, der
        aus irgendwelchen Gründen nicht mithalten konnte, die
        Chance zum Neubeginn haben. Dieses Ziel verfolgt das
        Gesetz zur Restschuldbefreiung. Der Schuldner soll un-
        ter der Last der Gläubigerforderungen nicht resignieren,
        sondern neu starten und seine ganze Leistungskraft nicht
        nur für sich, sondern für die Volkswirtschaft insgesamt
        einsetzen können.
        Dies ist der Grund, weshalb im Jahre 1999 das soge-
        nannte Restschuldbefreiungsverfahren eingeführt wurde.
        Danach kann der Schuldner nach einer Wohlverhaltens-
        phase von sechs Jahren die Befreiung von seiner Rest-
        schuld erreichen. Voraussetzung dafür ist, dass er sich in
        dieser Zeit anstrengt, seine Schulden zu tilgen.
        Die Insolvenzordnung allein, ohne Restschuldbefrei-
        ung, leistet dies nicht. Sie dient in erster Linie dazu, die
        Interessen der Gläubiger zu befriedigen. Die Interessen
        des Schuldners werden dabei nicht ausreichend berück-
        sichtigt.
        Der Gesetzentwurf behandelt viele Aspekte. Hier soll
        nur der eigentliche Kern des Entwurfs, die Verkürzung
        des Verfahrens zur Befriedigung der Restschuld, in den
        Blick genommen werden.
        Von Anfang an galt der Zeitraum von sechs Jahren für
        die Restschuldbefreiung auch im internationalen Ver-
        gleich als zu lang. Deshalb vereinbarten die Koalitions-
        parteien in ihrem Koalitionsvertrag, die Dauer des
        Restschuldbefreiungsverfahrens unter bestimmten Be-
        dingungen von sechs auf drei Jahre zu halbieren. Dabei
        hatte man zunächst vor allem Unternehmensgründer im
        Auge, die nach einem Fehlstart zügig eine zweite
        Chance erhalten sollten. Allerdings war es schon aus
        verfassungsrechtlichen Gründen geboten, diese Chance
        allen Schuldnern, die in Insolvenz geraten sind, zu eröff-
        nen.
        Voraussetzung für die Restschuldbefreiung innerhalb
        von drei Jahren ist allerdings, dass der Schuldner in die-
        ser Zeit mindestens 35 Prozent der Forderungen der
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013 30469
        (A) (C)
        (D)(B)
        Gläubiger erfüllt und die Verfahrenskosten trägt. Kann
        er die 35 Prozent nicht aufbringen, verkürzt sich die bis-
        herige Dauer des Restschuldbefreiungsverfahrens ledig-
        lich um ein Jahr von sechs auf fünf Jahre. Voraussetzung
        dafür ist, dass der Schuldner zumindest die Verfahrens-
        kosten übernimmt und zahlt. Ist er auch dazu nicht in der
        Lage, bleibt es bei der derzeitigen Dauer von sechs Jah-
        ren, bis der Schuldner bei entsprechendem Wohlverhal-
        ten Schuldenfreiheit erlangt.
        Die Verkürzung von sechs auf drei Jahre ist nicht un-
        umstritten. Richtig ist, dass für den Schuldner ein großer
        Anreiz entsteht, alles zu unternehmen, innerhalb von
        drei Jahren 35 Prozent der Schulden zu begleichen und
        die Verfahrenskosten zu übernehmen, um danach schul-
        denfrei zu werden. Zugleich haben die Gläubiger den
        Vorteil, dass sie wenigstens 35 Prozent der Forderungen
        erhalten. Natürlich bleibt für sie ein Verlust von 65 Pro-
        zent. Die Praxis zeigt jedoch, dass auch bei einem länge-
        ren Insolvenzverfahren die Gläubigerforderungen nur zu
        einem geringen Prozentsatz erfüllt werden. In der Tat
        kann also bei einer Quote von 35 Prozent ein vernünfti-
        ger Ausgleich zwischen Schuldner und Gläubiger entste-
        hen.
        Dagegen wird eingewendet, dass es ein Schuldner ge-
        rade darauf anlegen kann, auf die Restschuldbefreiung
        zuzusteuern, ohne tatsächlich in einer finanziell schwie-
        rigen Situation zu sein. Er entschuldet sich mit der Zah-
        lung einer Quote von 35 Prozent und ist dann innerhalb
        von drei Jahren schuldenfrei. Ein gutes Geschäft!
        Ein wichtiger Einwand ist auch, dass nur ein finan-
        ziell stärkerer Schuldner, der unter Umständen auch von
        einem Dritten Kapital erhält, in der Lage sein wird, die
        35 Prozent zu erreichen. Die schwächeren Schuldner, die
        gerade noch die Pfändungsfreigrenze erreichen und de-
        nen kein Kapital zur Verfügung steht, um die 35-Pro-
        zent-Quote zu erfüllen, können diese Restschuldbefrei-
        ung innerhalb von drei Jahren nicht schaffen.
        Bei der Abwägung darf jedoch nicht aus dem Blick
        geraten, dass es im Insolvenzverfahren und auch beim
        Restschuldbefreiungsverfahren vor allem auch um die
        Befriedigung der Gläubiger geht. Deshalb ist der Ge-
        danke richtig, dass, wenn zugunsten des Schuldners die
        Dauer des Restschuldbefreiungsverfahrens um die
        Hälfte gekürzt wird, auch die Gläubiger entsprechend zu
        berücksichtigen sind. Im Verhältnis zum Vorteil der
        Schuldner, den diese durch die Kürzung auf drei Jahre
        erhalten, ist es daher gerecht, auch auf die Interessen der
        Gläubiger zu achten und deshalb eine Tilgungsquote von
        mindestens 35 Prozent vorzusehen. Im Übrigen bleibt
        dem Schuldner, der diese Quote innerhalb der drei Jahre
        nicht aufbringen kann, immer noch die Möglichkeit,
        nach fünf bzw. sechs Jahren Schuldenfreiheit zu erlan-
        gen.
        Wichtig ist, dass die Auswirkung des Gesetzes genau
        beobachtet und eine Evaluierung vorgenommen wird. Es
        bleibt zu hoffen, dass sich das Gesetz bewährt.
        Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU): Mit
        dem heute in zweiter und dritter Lesung beratenen Ent-
        wurf eines Gesetzes zur Verkürzung des Restschuldbe-
        freiungsverfahrens und zur Stärkung der Gläubigerrechte
        greifen wir ein Thema auf, das für viele Menschen große
        praktische Bedeutung hat. Im Jahr 2012 mussten bundes-
        weit rund 100 000 Menschen Privatinsolvenz anmelden.
        Circa 20 000 davon gingen insolvent, weil sie mit ihrem
        Unternehmen oder als Selbstständige scheiterten. Für den
        Rhein-Sieg-Kreis, aus dem ich komme, weist der Schul-
        denatlas 2012 der Creditreform aus, dass 42 500 Men-
        schen, immerhin 8,69 Prozent der Bevölkerung, über-
        schuldet sind.
        In vielen Fällen sind es Lebensrisiken wie Arbeitslo-
        sigkeit, Krankheit oder Trennung, die gar nicht oder nur
        sehr begrenzt zu beeinflussen und nicht vorwerfbar ver-
        ursacht sind, die zur Überschuldung geführt haben. In
        anderen Fällen kann der Ausfall einer berechtigten For-
        derung wegen der Zahlungsunfähigkeit eines anderen
        der maßgebliche Grund sein; bei wiederum anderen sind
        es Konsumschulden, mit denen sich der Schuldner se-
        henden Auges übernommen hat.
        Die Möglichkeit der Restschuldbefreiung gibt ihnen
        die Chance zum Neuanfang. Sie ermutigt mit der Aus-
        sicht auf neue wirtschaftliche Unabhängigkeit und moti-
        viert dazu, Verdienstmöglichkeiten auszuschöpfen, Ge-
        schäftsideen in die Tat umzusetzen, auch wenn sie mit
        der Gefahr des Scheiterns verbunden sind. Das hilft
        nicht nur den Schuldnern, sondern liegt auch in unserem
        gesamtwirtschaftlichen Interesse. Auf der anderen Seite
        steht dem das Interesse der Gläubiger gegenüber, be-
        rechtigte Forderungen auch durchsetzen zu können.
        „Pacta sunt servanda“ ist einer der zentralen Grundsätze
        unserer Zivilrechts- und unserer Wirtschaftsordnung.
        In diesem Spannungsfeld müssen die gegensätzlichen
        Interessen abgewogen werden. Die Verbraucherinsol-
        venz mit Restschuldbefreiung hat sich hier grundsätzlich
        bewährt und ist akzeptiert. Wir greifen mit dieser Re-
        form aber einige Punkte auf, die bisher als ungerecht
        oder unpraktisch empfunden worden sind.
        Dabei hat auch der Blick auf die Regelungen, die in
        unseren Nachbarländern gelten, eine Rolle gespielt. Dass
        es hier deutliche Unterschiede gibt, ist insgesamt nicht
        hilfreich und führt zu einem Insolvenztourismus, der
        diejenigen bevorzugt, die den Wohnsitz für eine Weile
        nach England oder Frankreich verlegen können. Auch
        hier darf man aber nicht nur auf die augenscheinlich kur-
        zen Fristen bis zur Restschuldbefreiung schauen; denn
        diese Rechtsordnungen geben dem Richter durchaus
        auch Spielraum, im Einzelfall längere Fristen, Quoten
        oder Auflagen festzusetzen. Eine stärkere Vereinheitli-
        chung der Rechtsordnungen auf europäischer Ebene wä-
        ren an dieser Stelle durchaus sinnvoll.
        Mit dem heute zur Beschlussfassung anstehenden Ge-
        setz schaffen wir zum ersten Mal einen Anreiz, durch
        besondere Anstrengung eine in der Insolvenz überdurch-
        schnittliche Quote zu erzielen, dafür im Gegenzug
        schneller zur Entschuldung zu kommen. Wer zumindest
        die Kosten des Verfahrens deckt, kommt nach fünf Jah-
        ren, das heißt ein Jahr früher in den Genuss der Rest-
        schuldbefreiung. Wer außerdem die Forderungen der
        Gläubiger mit einer Quote von 35 Prozent erfüllt, kann
        30470 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013
        (A) (C)
        (D)(B)
        dieses Ziel bereits nach drei Jahren erreichen. Davon
        profitieren im Regelfall beide Seiten: die Gläubiger mit
        einer höheren Quote, die die heute durchschnittlich er-
        zielten Quoten deutlich übersteigt und für die der
        Schuldner oftmals besondere, überobligatorische An-
        strengungen erbringt, zu denen er nicht verpflichtet ist
        und zu denen er nach bisher geltendem Recht auch kei-
        nerlei Anreiz hat; der Schuldner durch die schnellere Be-
        freiung aus den gleichsam als „Schuldturm“ empfunde-
        nen Einschränkungen der Wohlverhaltensphase.
        Wir haben es uns in diesem Zusammenhang nicht
        leicht gemacht, den richtigen Ansatz zu wählen. Insbe-
        sondere haben wir sehr ausführlich erwogen, ob mehr
        richterliches Ermessen, etwa mit Blick auf die jeweili-
        gen Ursachen der Insolvenz, an dieser Stelle zu mehr
        Gerechtigkeit und Zielgenauigkeit beitragen könnte: um
        etwa dem Gläubiger, der mit großer und selbst überobli-
        gatorischer Anstrengung immerhin 20 Prozent seiner
        Schulden aus einer gescheiterten Unternehmensgrün-
        dung aufbringt, ebenfalls einen schnelleren Neustart zu
        ermöglichen, und auf der anderen Seite dem Schuldner,
        der sich mit Konsumschulden absehbar übernommen
        hat, den Schuldenschnitt um 65 Prozent nicht zu leicht
        zu machen. Dies hätte allerdings sehr uneinheitliche und
        unberechenbare Handhabung durch die Gerichte zur
        Folge gehabt und die Insolvenzgerichte mit der schwieri-
        gen Aufklärung und Bewertung der ganzen Vorge-
        schichte der Insolvenz belastet. Wir haben deshalb der
        starren Quote den Vorzug gegeben.
        Dass 35 Prozent eine ambitionierte Vorgabe sind, ist
        sicher zuzugeben. Den Schuldnern hilft aber, dass die
        Privilegierung der Lohnabtretung nach § 114 Insolvenz-
        ordnung, von der vor allem die Gruppe der Kreditgeber
        unter den Gläubigern profitiert hat, abgeschafft wird.
        Damit stehen laufende Einkünfte jenseits der Pfändungs-
        freigrenze von Anfang an für alle Gläubiger zur Verfü-
        gung und erhöhen so die Möglichkeit für alle, zu höhe-
        ren Quoten zu kommen. Dies ist zugleich ein Beitrag zur
        Gläubigergleichbehandlung.
        Vor allem ist dieses zusätzliche Angebot einer schnel-
        leren Restschuldbefreiung ein wichtiger Anreiz, in Zu-
        kunft bereits früher ein Insolvenzverfahren konstruktiv
        anzugehen, sich bereits früher in professionelle Beratung
        zu begeben und sich wirtschaftlich zu konsolidieren, an-
        statt zuerst alle Ressourcen einschließlich eventueller
        Verwandtendarlehen zu verbrauchen und damit Zeit und
        Kraft für einen „fresh start“ zu verlieren. Voraussetzung
        ist allerdings, dass die Schuldnerberatungen auch zeit-
        nah einen Termin anbieten können, wenn der Schuldner
        bereit ist, sich seiner Situation zu stellen und Beratung
        und Hilfe in Anspruch zu nehmen.
        Für die wirklich gute Arbeit der Schuldnerberatungs-
        stellen möchte ich an dieser Stelle meinen Dank sagen,
        verbunden mit dem dringenden Appell an die Kommu-
        nen, hier für eine bedarfsgerechte Ausstattung zu sorgen.
        Eine ständige Unterfinanzierung und mehrmonatige
        Wartezeiten sind für Berater wie Schuldner eine große
        Belastung und schaden unterm Strich Schuldner wie
        Gläubigern. Sie haben nicht nur die wirtschaftliche Si-
        tuation der Schuldner und den billigen Schuldenschnitt
        für sie im Blick, sondern leisten umfassend die Hilfe, die
        im Einzelfall erforderlich ist, um wieder selbstverant-
        wortlich wirtschaften zu können.
        Wo 35 Prozent gleichwohl nicht erreichbar sind, kön-
        nen passgenaue Lösungen im Einvernehmen mit den
        Gläubigern erarbeitet werden. Die Schuldnerberatungs-
        stellen haben uns hier von guten Beispielen berichtet,
        dabei aber auch die Bedeutung der gerichtlichen Zustim-
        mungsersetzung unterstrichen, die in den Fallzahlen die-
        ses Verfahrens offenbar nur unzureichend zum Ausdruck
        kommt. Entgegen dem ursprünglichen Regierungsent-
        wurf haben wir deshalb dieses Verfahren in der Insolvenz-
        ordnung gelassen, weil allein schon die Möglichkeit der
        Zustimmungsersetzung die Zustimmungsbereitschaft der
        Gläubiger zu einer vernünftigen individuellen Vereinba-
        rung und damit die Chance auf außergerichtliche Eini-
        gungen deutlich erhöht.
        Zusätzlich haben wir das Planverfahren für Verbrau-
        cherinsolvenzen eröffnet, sodass sich nun weitreichende
        Möglichkeiten vor und während des Insolvenzverfahrens
        bieten, durch Vereinbarungen mit den Gläubigern zu
        wirtschaftlich sinnvollen Vereinbarungen zu kommen
        und dabei einzelne obstruierende Gläubiger zu überstim-
        men. Damit knüpft dieses Gesetz an tragende Gedanken
        des ESUG an, das ebenfalls zu einer früheren Insovenz
        mit dem Ziel des Erhalts wirtschaftlicher Werte anstelle
        der Zerschlagung von Werten führt.
        Ein weiterer wichtiger Aspekt dieser Reform ist die
        Stärkung der Gläubigerrechte. Anträge auf Versagung
        der Restschuldbefreiung können künftig nicht mehr nur
        im Schlusstermin geltend gemacht werden. Entschei-
        dend ist, dass sie bis dahin zumindest schriftlich vorlie-
        gen müssen; bei später bekannt werdenden Gründen ist
        auch die nachträgliche Geltendmachung noch möglich.
        Ärgerliche Fälle, in denen auch unredliche Schuldner
        Restschuldbefreiung erlangen konnten, weil die Gläubi-
        ger den Aufwand der Antragstellung im Schlusstermin
        scheuten, sind damit für die Zukunft ausgeschlossen.
        Eine Stärkung der Erwerbsobliegenheiten des Schuld-
        ners im Insolvenzverfahren und seiner Auskunfts- und
        Mitwirkungspflichten erscheinen ebenfalls gerecht und
        sinnvoll.
        Zugunsten der Schuldner, die Mitglied einer Woh-
        nungsbaugenossenschaft sind, begründet das Gesetz nun
        erstmals den gleichen Kündigungsschutz wie für Mieter.
        Die Kündigung der Mitgliedschaft, die den Zugriff auf
        das Guthaben ermöglicht, aber zum Verlust des Wohn-
        rechts führt, ist in Zukunft nicht möglich, wenn das Gut-
        haben in etwa der Kaution in einem Mietverhältnis ent-
        spricht. Ein weiter gehender Schutz für höhere, gar
        unbegrenzte Genossenschaftsanteile war aber nicht mög-
        lich; dies hätte dem Wohnungsgenossen die Möglichkeit
        geschaffen, weitere Teile seines Vermögens vor dem Zu-
        griff der Gläubiger zu sichern.
        Der Referentenentwurf sah noch die Übertragung des
        Verbraucherinsolvenzverfahrens auf den Rechtspfleger
        vor, auch als Ausgleich zur Übertragung der Zuständig-
        keit im Insolvenzplanverfahren auf den Richter im
        ESUG. Dies haben wir nun – trotz der unzweifelhaft ge-
        gebenen fachlichen Kompetenz der Rechtspfleger – ge-
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013 30471
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        ändert, da nach Auffassung mehrerer Sachverständiger
        erhebliche Zuständigkeitskonflikte und Abgrenzungs-
        probleme drohten, etwa bei der bisweilen komplexen
        Abgrenzung der Verfahrensarten oder den teilweise kraft
        Verfassung dem Richter vorbehaltenen Sicherungsmaß-
        nahmen. Die Übertragung der funktionellen Zuständig-
        keit auf den Rechtspfleger hätte im Übrigen zur Folge,
        dass jede Eröffnungsentscheidung des Rechtspflegers
        mit der Rechtspflegererinnerung anfechtbar wäre, wäh-
        rend die Eröffnungsentscheidung durch den Richter nur
        nach Maßgabe des § 34 InsO der Anfechtung unterliegt.
        Die Anhörung hat auch nicht ergeben, dass infolge der
        Zuständigkeit des Insolvenzrichters für Insolvenzplan-
        verfahren die Auslastung der Rechtspfleger signifikant
        zurückgegangen wäre.
        Meines Erachtens wird das Gesetz zur Verkürzung
        des Restschuldbefreiungsverfahrens und zur Stärkung
        der Gläubigerrechte einen großen Teil dazu beitragen,
        Gerechtigkeit und Akzeptanz des Insolvenz- und Rest-
        schuldbefreiungsverfahrens im privaten Bereich zu ver-
        bessern. Wir haben es geschafft, einen fairen Ausgleich
        zwischen dem Interesse der Schuldner an einem „fresh
        start“ und dem Interesse der Gläubiger an einer bestmög-
        lichen Befriedigung ihrer rechtmäßig erworbenen Forde-
        rungen zu erreichen.
        Sonja Steffen (SPD): „Was lange währt, wird end-
        lich gut“ heißt das Sprichwort. Schon im März 2010
        kündigte die Justizministerin auf dem 7. Deutschen In-
        solvenzrechtstag eine Reform des Verbraucherinsolvenz-
        verfahrens an und stellte ein Jahr später die Eckpunkte
        dieser Reform vor. Ein für Sommer 2011 angekündigter
        Referentenentwurf folgte erst im Januar 2012.
        Seit der ersten Lesung des vom Kabinett beschlosse-
        nen Gesetzentwurfs sind wieder fast sechs Monate ver-
        gangen. Es währte also bisher alles schon recht lange,
        leider ist aber noch lang nicht alles gut.
        Zwischenzeitlich waren wir uns schon nicht mehr si-
        cher, ob es in dieser Legislaturperiode überhaupt noch
        eine Verabschiedung der Verbraucherinsolvenzrechtsre-
        form geben wird. Letztlich haben sich die Koalitions-
        fraktionen zu dem vorliegenden Kompromiss durchge-
        rungen. Dieser hat zur Folge, dass wir jetzt nicht mehr
        von einer Reform, sondern eher von einem Reförmchen
        sprechen müssen.
        In einem Punkt sind die Kollegen von der Koalition
        sich treu geblieben: Das Restschuldbefreiungsverfahren
        wird verkürzt und zwar nicht nur um ein oder zwei
        Jahre, sondern gleich halbiert: allerdings nicht für alle
        Schuldner, sondern nur für die, die genügend Geld auf-
        bringen können, um innerhalb der ersten drei Jahre
        35 Prozent der Forderungen zu tilgen.
        Dies stellt nach Meinung der Kollegen der Koali-
        tionsfraktionen eine ausgewogene Abwägung zwischen
        den Interessen der Gläubiger und den Interessen der
        Schuldner dar. Dabei wurde insbesondere die Einfüh-
        rung einer Mindestbefriedigungsquote in der öffentli-
        chen Anhörung des Rechtsausschusses von den unter-
        schiedlichen Sachverständigen stark kritisiert. Es war
        von einer Ungleichbehandlung der Schuldner, der star-
        ken Missbrauchsanfälligkeit, der unnötigen Schaffung
        einer neuen Entschuldungszielgruppe, die eigentlich gar
        kein Verbraucherinsolvenzverfahren braucht, aber auch
        von dem erhöhten Druckpotential der Schuldner gegen-
        über den Gläubigern und der sinkenden Zahlungsmoral
        die Rede.
        Der Großteil der Schuldner wird nicht in der Lage
        sein, 35 Prozent der Forderungen zu tilgen, außer viel-
        leicht die Schuldner, bei denen noch eine Erbschaft an-
        steht, die sich Geld von Familienangehörigen und Freun-
        den leihen können oder die früh genug die verbleibenden
        finanziellen Mittel geschickt verteilt haben. In den we-
        nigsten Fällen werden diese 35 Prozent durch einen
        zweiten Nebenjob aufgebracht werden können.
        Ich bezweifle, dass Sie es mit diesem Anreizsystem
        tatsächlich schaffen werden, bei 15 Prozent aller betrof-
        fenen Personen das Restschuldbefreiungsverfahren zu
        verkürzen. Wie heute in der FAZ zu lesen war, geht zum
        Beispiel Christoph Niering, Vorsitzender des Verbandes
        Insolvenzverwalter Deutschlands, davon aus, dass
        höchstens 5 Prozent der Schuldner die Mindestbefriedi-
        gungsquote erreichen werden.
        Wir sind der Meinung, dass mit dem vorliegenden
        Gesetzentwurf eine Zweiklassengesellschaft von Schuld-
        nern eingeführt wird. Eine solche Ungleichbehandlung
        ist für uns nicht hinnehmbar. Die Dauer eines Rest-
        schuldbefreiungsverfahrens darf nicht davon abhängen,
        ob zum Beispiel die Eltern bereit und dazu in der Lage
        sind, einen Teil der Schulden zu übernehmen.
        Den Vorschlag der Grünen, das Verfahren generell für
        alle Schuldner von sechs auf drei Jahre zu verkürzen, leh-
        nen wir allerdings ebenso ab. Selbst Verbraucherschützer
        und Schuldnerberater gehen bei ihren Forderungen nach
        einer Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens
        nicht ganz so weit. Hier ist immer von vier Jahren die
        Rede. Auch wenn wir an das Wohl und die zweite Chance
        für den Schuldner denken, dürfen wir doch die Interessen
        der Gläubiger nicht völlig außer Acht lassen.
        Was den Rest angeht, so lassen Sie nach einigen Dre-
        hungen und Schleifen per Änderungsantrag letztlich
        doch das meiste beim Alten, was uns teilweise durchaus
        erfreut. Ihrem Anspruch, auch den außergerichtlichen
        Einigungsversuch effizienter zu gestalten und zu stärken,
        werden sie damit jedoch nicht gerecht, und so wird aus
        der groß angekündigten Reform letztlich nur ein Re-
        förmchen.
        Jörg von Polheim (FDP): Ich freue mich, dass wir
        heute nach langen Verhandlungen die Verkürzung des
        Verfahrens der Restschuldbefreiung bei Privatinsolvenz
        auf den Weg bringen.
        Wir haben in den letzten Wochen intensiv um einen
        Ausgleich der Positionen gerungen und sind so zu einem
        guten Interessenausgleich zwischen Gläubigern und
        Schuldnern gekommen:
        Die neue Regelung stellt einen signifikanten Wandel
        vom einseitigen Sanktionensystem hin zu einem Anreiz-
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        system dar. Die Vorteile für die Gläubiger liegen auf der
        Hand: Wir haben erreicht, dass die Rückzahlungsquote
        auf 35 Prozent festgesetzt wird. Dafür habe ich mich
        starkgemacht.
        Das Anreizsystem hilft zum einen den Gläubigern,
        die so einen beträchtlichen Teil ihrer Forderung ersetzt
        bekommen – und das bereits nach drei Jahren statt bisher
        erst im Laufe von sechs Jahren.
        Und es hilft zum anderen auch dem Schuldner, der in
        eine finanzielle Notsituation geraten ist, schneller aus
        der Schuldenklemme zu gelangen. Er kann die Dauer
        seiner Wohlverhaltensphase auf drei Jahre verkürzen,
        wenn er während dieser Zeit 35 Prozent der offenen For-
        derung begleicht.
        Ging bis dato ein Kunde in Privatinsolvenz, führte
        dies im Handwerksbereich oft dazu, dass der Handwer-
        ker sein ausstehendes Geld fast vollständig verlor. Wäh-
        rend der Wohlverhaltensphase konnten die offenen For-
        derungen oft nur zu einem geringen Anteil getilgt
        werden. Das soll sich jetzt ändern. Der Anreiz, dass
        Schuldner im Sinne eines schnellen Schuldenschnitts
        auch aus ihrem familiären Umfeld finanzielle Unterstüt-
        zung zur Tilgung akquirieren, ist durch die 35-Prozent-
        Quote deutlich gestärkt. Das ist ein enormer Fortschritt:
        Die Rückflüsse sind nun nicht mehr beschränkt auf die
        vom Schuldner selbst erwirtschafteten Mittel.
        Ein weiterer, ganz wesentlicher Punkt des neuen Ge-
        setzes ist die Gleichbehandlung aller Gläubiger: Das bis-
        herige zweijährige Bankenprivileg sowie ein Fiskuspri-
        vileg sind im neuen Gesetz nicht mehr enthalten. Das ist
        ein großer Erfolg. So bekommen alle Gläubiger von An-
        fang an Rückzahlungen vom insolventen Schuldner, was
        bisher in den ersten zwei Jahren ausschließlich den Ban-
        ken vorbehalten war.
        Mit der Neuregelung tritt zudem eine Stärkung der
        Gläubigerrechte in Kraft.
        Auch beginnt die Erwerbsobliegenheit der Schuldner
        bei Eintreten der Insolvenz, nicht erst mit Beginn der
        Wohlverhaltensphase sechs Monate nach Verfahrenser-
        öffnung.
        Ein weiterer Punkt: Die Informationsmöglichkeiten
        über säumige Zahler werden erleichtert, indem ein zen-
        tral geführtes elektronisches Schuldnerverzeichnis ein-
        geführt wird.
        Insbesondere für Existenzgründer setzen wir mit der
        jetzt vorliegenden Neuregelung ein wesentliches Signal:
        Angesichts der besonderen wirtschaftlichen Risiken, de-
        nen sich Neugründungen vielfach ausgesetzt sehen und
        die nicht immer beherrschbar sind, wird dem Gründer im
        Insolvenzfall nun deutlich schneller als bisher eine zweite
        Chance ermöglicht. Damit verbessert die christlich-libe-
        rale Koalition an entscheidender Stelle die Rahmenbedin-
        gungen für innovative Unternehmen und Start-ups. Mit
        unserer Reform der Verbraucherinsolvenz setzen wir ein
        deutliches Zeichen. Gründern wird es erleichtert, ihre gu-
        ten Ideen in die Tat umzusetzen. Dies war unser erklärtes
        Ziel im Koalitionsvertrag. Jetzt ist es erreicht.
        Sehr bewusst haben wir diese Möglichkeit jetzt nicht
        nur Existenzgründern eingeräumt, sondern bei allen Pri-
        vatinsolvenzen. Das sind nicht nur eingesessene Hand-
        werksbetriebe, die unversehens durch ungünstige Um-
        stände in Schwierigkeiten geraten sind. Auch private
        Haushalte, die aufgrund von Krankheit, Scheidung oder
        plötzlicher Arbeitslosigkeit unverschuldet in Insolvenz
        geraten sind, können sich nun deutlich schneller daraus
        befreien.
        Die jetzt gefundene Regelung ist eine Win-win-Situa-
        tion, weil die Interessen der Schuldner und der Gläubi-
        ger angemessen austariert werden.
        Judith Skudelny (FDP): Wir als FDP stehen wie
        keine andere Partei für Freiheit. Wie unser Vorsitzender
        auf dem Parteitag im März treffend festgestellt hat, ge-
        hört dazu auch die Freiheit, einmal Fehler machen zu
        können. Wir verteidigen daher auch die Freiheit der
        zweiten Chance. Vor diesem Hintergrund beschließen
        wir heute das Gesetz zur Verkürzung des Restschuldbe-
        freiungsverfahrens und zur Stärkung der Gläubiger-
        rechte.
        Wer kennt nicht jemanden, der entweder von der In-
        solvenz betroffen ist oder auf den Eingang einer offenen
        Forderung wartet? Im Jahr 2012 meldeten in Deutsch-
        land insgesamt 122 001 Verbraucher Insolvenz an. Das
        sind in der überwiegenden Mehrzahl jedoch nicht Leute,
        die nicht mit Geld umgehen können. Vielmehr geraten
        die meisten Menschen wegen Tod, Scheidung oder Ar-
        beitslosigkeit in die Insolvenz. Diese Menschen verdie-
        nen eine zweite Chance auf einen Neustart.
        Das im Jahr 1999 eingeführte Insolvenzrecht hat aber
        nicht nur alle Gläubiger im Insolvenzverfahren weitest-
        gehend gleichgestellt. Auch alle Schuldner werden
        gleich behandelt. So macht es für die Entschuldung
        heute keinen Unterschied, ob sich ein Schuldner mehr
        oder weniger bemüht, seine Schulden im Insolvenzver-
        fahren zu begleichen.
        Die Reform schafft nun erstmals einen Anreiz für die
        Schuldner, sich über die geforderten Verpflichtungen hi-
        naus mehr anzustrengen. Sie belohnt diejenigen Schuld-
        ner, die sich redlich bemühen, ihre Schulden zurückzu-
        zahlen. Die derzeitige Quote im Insolvenzverfahren wird
        auf deutlich unter 10 Prozent geschätzt. Verlässliche
        Zahlen gibt es jedoch nicht. Nach der Reform soll ein
        Schuldner nach drei Jahren restschuldbefreit werden,
        wenn er 35 Prozent der ausstehenden Forderungen er-
        füllt und zusätzlich die Kosten des Verfahrens trägt. Da-
        von profitieren sowohl die Schuldner als auch die Gläu-
        biger.
        Bereits im Vorfeld wurde Kritik an der Quote laut;
        diese sei zu hoch. Solange jedoch keine validen Zahlen
        über die gesamte Breite der Verfahren vom ehemaligen
        Unternehmer bis zu den Verfahren, die über die Schuld-
        nerberatungen kommen, vorliegen, ist das jedoch nur
        reine Spekulation. Die Regierung hat sich zum Ziel ge-
        setzt, dass mindestens 15 Prozent der Verfahren die
        Möglichkeit der vorzeitigen Restschuldbefreiung nutzen
        sollen. In fünf Jahren wird überprüft, ob die Quote dieses
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        Ziel erreicht. Dann ist die richtige Zeit gekommen, Kri-
        tik zu üben und das Verfahren zu überprüfen.
        Neu ist auch, dass ein Schuldner, der zumindest die
        Prozesskosten trägt, sich nun bereits nach fünf Jahren
        von seiner Restschuld befreien kann. Eine solche Mög-
        lichkeit mit einer Rate von monatlich 30 Euro kann von
        nahezu allen Schuldnern genutzt werden und entlastet
        damit die Staatskassen und die Bürokratie der Länder.
        Neben diesen Verbesserungen für die Schuldner, die
        bereit sind, sich mehr anzustrengen, enthält der Gesetz-
        entwurf doch auch verschärfte Bedingungen für die un-
        redlichen Schuldner. Neben unerlaubten Handlungen
        bleiben nun auch Steuerstraftaten von der Restschuldbe-
        freiung ausgenommen. Die Bundesländer haben gefor-
        dert, dass die Restschuldbefreiung auch dann versagt
        werden soll, wenn ein Steuerhinterziehungsverfahren
        eingeleitet wurde. Diese Art der Vorverurteilung lehnen
        wir ab. Für diese Regierung gilt noch immer die Un-
        schuldsvermutung. Voraussetzung der Versagung der
        Restschuldbefreiung ist daher eine rechtskräftige Verur-
        teilung. Darüber hinaus kann dem Schuldner die Rest-
        schuldbefreiung auch dann versagt werden, wenn er ge-
        gen seine gesetzlichen Unterhaltspflichten verstößt.
        Neben den Regelungen für die Schuldner dürfen wir
        jedoch auch nicht vergessen, dass das Insolvenzverfah-
        ren immer den bestmöglichen Ausgleich zwischen
        Schuldnern und Gläubigern als Ziel hat. Aus diesem
        Grund haben wir durch die Ausweitung des Insolvenz-
        planverfahrens die Möglichkeit gestärkt, einvernehmli-
        che Lösungen zwischen Schuldnern und Gläubigern zu
        ermöglichen. Statt wie bisher nur bis zur Verfahrenser-
        öffnung können Vergleiche zwischen den Beteiligten
        nun auch während des Insolvenzverfahrens geschlossen
        werden – eine wichtige Möglichkeit, da das Insolvenz-
        verfahren für viele Betroffene der erste Schritt ist, ihre
        Vermögensverhältnisse neu zu ordnen und eine wirt-
        schaftliche Grundlage für ihre Zukunft zu legen. Wenn
        dieses Instrument funktioniert, können die Schuldner
        künftig auch im fortgeschrittenen Stadium mit ihren
        Gläubigern in Verhandlungen treten.
        Nachdem ich nun ausführlich die Verbesserungen für
        die Schuldner und die erweiterten Einigungsmöglichkei-
        ten dargelegt habe, möchte ich natürlich auch noch kurz
        auf die Verbesserungen für die Gläubiger eingehen. Die
        Gläubiger profitieren nicht nur davon, dass durch die
        Verkürzung des Verfahrens der Restschuldbefreiung mit
        der Mindestquote von 35 Prozent ein größerer Teil ihrer
        ausstehenden Forderungen beglichen wird. Durch die
        Reform wird das Abtretungsprivileg gebrochen, welches
        insbesondere Banken für sich in Anspruch genommen
        haben. Gerade Banken verfügen im Gegensatz zu den
        meisten Gläubigern über die größten Möglichkeiten,
        sich im Vorfeld der Kreditvergabe über die Bonität ihrer
        Kunden zu informieren. Deren Sicherungsrechte an
        Lohn und Gehalt der Schuldner hatten bislang jedoch ge-
        genüber den Forderungen der anderen Gläubiger zwei
        Jahre lang Vorrang. Künftig werden Banken vom ersten
        Tag an wie alle anderen Gläubiger behandelt, also
        gleichbehandelt. Davon profitieren vor allem die „klei-
        nen“ Gläubiger, die oftmals auf ihren Forderungen voll-
        ständig sitzenblieben.
        Lassen sie mich meine Rede auch im Hinblick auf die
        Freiheit beenden. Die Freiheit der zweiten Chance des
        einen ist in diesem Fall mit einem Eigentumsverlust der
        anderen verbunden. Mit dem vorliegenden Gesetz ist es
        uns gelungen, zwischen diesen beiden einen guten Mit-
        telweg zu schaffen, der die Situation für alle verbessern
        wird.
        Richard Pitterle (DIE LINKE): Ein halbes Jahr ist
        seit der ersten Lesung des Gesetzes zur Verkürzung des
        Restschuldbefreiungsverfahrens und zur Stärkung der
        Gläubigerrechte vergangen. Hat sich in dieser Zeit etwas
        Wesentliches geändert?
        In der Anhörung hat die überwiegende Zahl der Sach-
        verständigen, auch die von der Regierungskoalition be-
        nannten, die völlig unrealistischen Befriedigungsquoten
        kritisiert, mit denen Sie Schuldner von den Schulden be-
        freien wollen, nachdem sie einen Teil gezahlt haben:
        nach drei Jahren Befreiung von den restlichen Schulden,
        wenn mindestens 25 Prozent der Schulden bezahlt sind.
        Durch Ihren Änderungsantrag haben Sie die Quote sogar
        noch um über ein Drittel erhöht auf 35 Prozent. Nach
        fünf Jahren Befreiung sollen die restlichen Schulden er-
        lassen werden, wenn der Schuldner die Verfahrenskosten
        aufgebracht hat. Wenn Sie auf den Sachverstand nicht
        hören, warum finden die Anhörungen überhaupt noch
        statt?
        Auch die Rednerinnen und Redner der anderen Oppo-
        sitionsfraktionen sehen das als völlig weltfremd an –
        wenn der Schuldner sich legal verhält, also weder vorher
        Geld beiseite geschafft hat noch in die Schwarzarbeit
        flüchtet.
        Die allermeisten Schuldner haben sich schon vor dem
        Antrag auf Privatinsolvenz lange Zeit stark einge-
        schränkt. Privatinsolvenz ist der allerletzte Schritt, wenn
        es dem Schuldner aussichtslos erscheint, seiner Schul-
        den „jemals Herr zu werden“, oder der Gerichtsvollzie-
        her vor der Tür steht oder bereits alles mitgenommen
        hat.
        Die Schuldnerberatungsstellen haben uns alle infor-
        miert, dass empirisch die Befriedigungsquoten sich um
        circa 10 Prozent bewegen. Sicher ist das eine Durch-
        schnittszahl, aber unser Auftrag lautet, Gesetze für die
        gesamte Bevölkerung zu machen. Das heißt, dass es al-
        len möglich sein muss, die Vorgaben des Gesetzes zu er-
        reichen, nicht nur gescheiterten Selbstständigen, die Sie
        mit Ihrem Koalitionsvertrag im Blick hatten und – wenn
        man sich das Gesetz ansieht – auch immer noch haben.
        Unser Blick geht weiter und schließt auch Gläubiger wie
        beispielsweise Handwerker, Einzelhändler, Versand-
        händler und kleine Dienstleister ein.
        Hier hat sich also im letzten halben Jahr bei der Re-
        gierungskoalition nichts verbessert, sondern durch Ihren
        Änderungsantrag wurde der Gesetzentwurf sogar dras-
        tisch verschlechtert. Da ist der Ansatz im Antrag von
        Bündnis 90/Die Grünen vernünftiger, denn dort wird
        eine Restschuldbefreiung nach drei Jahren ermöglicht –
        30474 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013
        (A) (C)
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        ohne Mindestbefriedigungsquote. Nach Ihrem Gesetz-
        entwurf werden die allermeisten wie bisher bei 6 Jahren
        hängenbleiben.
        Dass Sie auf die Streichung des außergerichtlichen
        und gerichtlichen Schuldenbereinigungsverfahrens ver-
        zichten, ist eher dem einhelligen Protest der Praxis als
        Ihrer Einsicht zuzuschreiben.
        Dass sich auch diese Bundesregierung inzwischen of-
        fensichtlich für das Recht auf Wohnung entschieden hat
        und endlich mit einer Änderung im Genossenschaftsge-
        setz dafür sorgt, dass Mieter einer Genossenschaftswoh-
        nung bei einer Privatinsolvenz geschützt sind, weil sie
        eine Kündigung ihrer Anteile an der Wohnungsgenos-
        senschaft – und damit den Verlust der Wohnung – nicht
        mehr fürchten müssen, ist zwar zu begrüßen. Doch eine
        Obergrenze von maximal vier Nettokaltmieten, wie sie
        die Regierung vorschlägt, ist – wie bereits der GdW
        Bundesverband deutscher Wohnungs- und Immobilien-
        unternehmen nach einer Umfrage unter seinen Mitglie-
        dern dem Bundesministerium der Justiz mitgeteilt
        hatte – viel zu niedrig. Auch hier werden wir dem An-
        trag von Bündnis 90/Die Grünen zustimmen, die ebenso
        wie wir keine Obergrenze festlegen.
        Sie verlangen vom Schuldner einen Nachweis für die
        Mittel, die er zusätzlich aufbringt, um seine Schulden zu
        reduzieren, um eine vorzeitige Befreiung von seinen
        restlichen Schulden zu erreichen. Das ist zwar löblich,
        aber viel zu kurz gedacht. Sie schaffen damit vor allem
        einen Anreiz, heimliche Umschuldungen vorzunehmen,
        und stärken damit nur die Kreditwucherbranche. Hier
        hätte es zusätzlicher Regelungen bedurft.
        Die Streichung der Vorausabtretung halten wir im
        Hinblick auf die Gleichbehandlung der Gläubiger zwar
        für hilfreich, aber ich fürchte, in der Praxis werden vor
        allem Familien ohne sonstige materielle Sicherheiten zu-
        künftig vor gravierenden Finanzierungsproblemen ste-
        hen.
        Zum Abschluss noch ein Hinweis in Sachen Demo-
        kratie und Öffentlichkeit: Die Insolvenz ist ein wichtiges
        Thema, das (fast) alle treffen kann. Leider darf es nicht
        im Parlament diskutiert werden. Schon bei der ersten Le-
        sung gingen die Reden zu Protokoll, jetzt bei der zweiten
        und dritten Lesung und damit der Verabschiedung des
        Gesetzes ist das wieder der Fall. Aber da die Regierung
        ihre Hausaufgaben noch nicht gemacht hat, wird es am
        Ende der Legislaturperiode eng und wichtige Themen
        können nicht mehr in der parlamentarischen Öffentlich-
        keit besprochen werden, sondern wandern direkt in di-
        cke Akten. Diesen Gesetzentwurf lehnen wir ab.
        Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        Das Gesetz zur Verkürzung des Restschuldbefreiungs-
        verfahrens und zur Stärkung der Gläubigerrechte war
        von der schwarz-gelben Bundesregierung als großer
        Wurf geplant. Im Ergebnis ist nun ein Gesetz herausge-
        kommen, das wenig verändern wird. Es verfehlt sein
        Ziel, Unternehmensgründern oder anderen verschulde-
        ten Personen zügig einen finanziellen Neustart und eine
        zweite Chance zu eröffnen, völlig.
        Die langen Ausführungen im Gesetzentwurf lesen
        sich wie eine Ironie: Sie, meine Damen und Herren von
        der Regierungskoalition, führen eingehend aus, warum
        eine sechsjährige Wohlverhaltensphase in der Verbrau-
        cherinsolvenz, wie sie derzeitig Rechtslage ist, zu lang
        ist. Hier stimmen wir Grünen Ihnen voll und ganz zu.
        Sie schlagen nun eine Verkürzung der Wohlverhaltens-
        phase um ein Jahr, also auf fünf Jahre, vor, wenn die
        Schuldnerin oder der Schuldner die Verfahrenskosten
        begleicht. Ursprünglich hatten Sie eine weitere Verkür-
        zung auf drei Jahre vorgesehen, wenn die Schuldnerin
        oder der Schuldner eine Mindestbefriedigungsquote von
        25 Prozent erfüllt hat.
        Beide Regelungen haben nicht nur wir Grünen in der
        Vergangenheit klar kritisiert. Auch in der Anhörung ha-
        ben viele der Expertinnen und Experten deutlich zum
        Ausdruck gebracht, dass in der Praxis nur sehr wenige
        Schuldnerinnen und Schuldner von den Neuregelungen
        profitieren würden. Die überwiegende Zahl der Verbrau-
        cherschuldnerinnen und Verbraucherschuldner wird auf-
        grund ihrer Einkommens- und Vermögensverhältnisse
        nicht in der Lage sein, überhaupt eine Befriedigungs-
        quote aus eigenem Einkommen und Vermögen zu tra-
        gen.
        Aber es kommt noch schlimmer. In Ihrem Änderungs-
        antrag wollen Sie nun die Befriedigungsquote sogar auf
        35 Prozent erhöhen, obwohl Sie in Ihrer Begründung
        selbst schreiben, dass die Quote nicht zu hoch sein darf,
        um Leistungsanreize zu setzen. Ein Anreizsystem halten
        auch wir Grünen nicht grundsätzlich für falsch. Bei der
        Begleichung der Verfahrenskosten zum Beispiel sind wir
        weniger kritisch. Aber mit Ihrer Mindestbefriedigungs-
        quote von 35 Prozent kommen Sie einseitig den Interes-
        sen der Kreditwirtschaft nach – und dies auf dem
        Rücken der Verbraucherschuldnerinnen und Verbrau-
        cherschuldner. Weitaus sinnvoller wäre es gewesen, für
        alle Schuldnerinnen und Schuldner gleichermaßen eine
        Verfahrensverkürzung auf drei Jahre einzuführen. Das
        wäre eine echte zweite Chance, eine Möglichkeit zum
        Neuanfang. Genau dies fordern wir Grünen in unserem
        Änderungsantrag.
        Viele Menschen haben große Erwartungen in dieses
        Gesetz gesetzt. Das zeigen uns die vielen Zuschriften
        von Privatpersonen. Von einem gerechten Interessenaus-
        gleich zwischen Gläubigerinnen und Gläubigern einer-
        seits und Schuldnerinnen und Schuldnern andererseits
        kann aber bei Ihrem Gesetz keine Rede mehr sein. Mit
        Ihrem Gesetzentwurf wird nur ein ganz geringer Teil al-
        ler Schuldnerinnen und Schuldner in den Genuss einer
        vorzeitigen Restschuldbefreiung kommen. Hier kann ich
        nur sagen: Ziel deutlich verfehlt.
        Erfreulicherweise nehmen Sie aber, das will ich posi-
        tiv hervorheben, mit Ihrem Änderungsantrag die vorge-
        sehene Abschaffung des Schuldenbereinigungsplanver-
        fahrens zurück. Wenigstens in diesem Punkt haben Sie
        sich die Expertisen der Sachverständigen zu Herzen ge-
        nommen. Doch von Ihren ursprünglichen Plänen, den
        äußerst erfolgreichen außergerichtlichen Einigungsver-
        such umfassend zu stärken, ist leider nicht viel übrig ge-
        blieben. Vorschläge hierzu hätte es genug gegeben.
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013 30475
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        Ein weiteres Problem haben Sie noch mit Ihrem Ge-
        setzentwurf abgemildert: Sie begründen Kündigungs-
        schutz für Schuldnerinnen und Schuldner, die eine Woh-
        nung von Wohnungsbaugenossenschaften gemietet
        haben und mit einer bestimmten Anzahl von Genossen-
        schaftsanteilen an der Genossenschaft beteiligt sind. Da-
        mit erhalten Mitglieder einer Wohnungsgenossenschaft,
        die in finanzielle Not geraten sind, wenigstens die Sicher-
        heit, in der Insolvenz ihre Wohnung behalten zu können.
        Hier wird endlich eine Lücke geschlossen. Das befürwor-
        ten wir sehr. Hierfür haben auch wir Grünen uns in der
        Vergangenheit stark gemacht. Wie der Bundesrat auch,
        hätten wir uns allerdings ein höheres Schutzniveau ge-
        wünscht.
        Insgesamt ist dieses Gesetzeswerk enttäuschend für
        die vielen Verbraucherschuldnerinnen und Verbraucher-
        schuldner, die lange darauf gewartet haben. Hier haben
        Sie nachvollziehbare Hoffnungen einseitig enttäuscht.
        Wir Grünen können Ihrem Gesetz in dieser Form nicht
        zustimmen.
        Anlage 10
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung:
        – Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Moder-
        nisierung des Kostenrechts (2. Kostenrechts-
        modernisierungsgesetz – 2. KostRMoG)
        – Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung des
        Erfolgsbezugs im Gerichtsvollzieherkosten-
        recht
        – Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
        Prozesskostenhilfe- und Beratungshilferechts
        – Entwurf eines Gesetzes zur Begrenzung der
        Aufwendungen für die Prozesskostenhilfe
        (Prozesskostenhilfebegrenzungsgesetz –
        PKHBegrenzG)
        – Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
        Beratungshilferechts
        (Tagesordnungspunkt 18 a und c)
        Ute Granold (CDU/CSU): Wir beraten heute ab-
        schließend über mehrere Gesetzentwürfe zur Moderni-
        sierung des Kostenrechts. Wie bereits in der ersten parla-
        mentarischen Beratung werde ich mich dabei auf die
        Prozesskostenhilfe, die Verfahrenskostenhilfe und Bera-
        tungshilfe beschränken. Der Kollege Seif wird die weite-
        ren Aspekte aus Sicht der Union erläutern.
        Mit der Reform des Prozesskostenhilfe- und Bera-
        tungshilferechts können wir heute eine weitere Vereinba-
        rung aus dem Koalitionsvertrag umsetzen. Dazu greift
        der Gesetzentwurf einerseits die Forderungen der Länder
        aus den Bundesratsinitiativen der 16. und 17. Legislatur-
        periode auf, die stetig steigenden Ausgaben der Länder
        für Prozesskostenhilfe und Beratungshilfe zu begrenzen.
        Gleichzeitig wird andererseits aber sichergestellt, dass
        der vom Grundgesetz garantierte Zugang zum Recht ge-
        richtlich wie außergerichtlich weiterhin allen Bürgerin-
        nen und Bürgern unabhängig von Einkünften und Vermö-
        gen offensteht. Darüber hinaus wird eine Entscheidung
        des Bundesverfassungsgerichts zur Einbeziehung steuer-
        rechtlicher Angelegenheiten in die Beratungshilfe umge-
        setzt.
        Auch wenn nicht alle Wünsche der Länder nach Kos-
        teneinsparungen erfüllt werden konnten, haben wir nun
        zusammen mit den Vereinbarungen zum 2. Kostenrechts-
        modernisierungsgesetz einen guten und ausgewogenen
        Kompromiss gefunden. So hat sich die CDU/CSU-Bun-
        destagsfraktion erfolgreich dafür eingesetzt, dass die be-
        rechtigten Interessen der Länder an einer Kostensenkung
        in einen angemessenen Ausgleich mit der Rechtsschutz-
        und Rechtswegegarantie der Bürgerinnen und Bürger ge-
        bracht wurden.
        Nach umfassenden Beratungen im Rechtsausschuss
        und einer Sachverständigenanhörung am 13. März 2013
        steht der ursprüngliche Gesetzentwurf der Bundesregie-
        rung, bei dem es sich um einen „abgespeckten Entwurf“
        des ursprünglichen Länderentwurfes handelt, nun mit ei-
        nigen Änderungen heute zur Abstimmung.
        Bereits zu Beginn der Beratungen hat die Unionsfrak-
        tion deutlich gemacht, dass wir Einschränkungen bei der
        Beiordnung eines Rechtsanwalts im Rahmen der Verfah-
        renskostenhilfe ablehnen. Grundsätzlich ist anzuerken-
        nen, dass die Bewilligung von Prozess- und Verfahren-
        skostenhilfe sowie die Beiordnung eines Rechtsanwalts
        in familiengerichtlichen Verfahren, die eine große per-
        sönliche Bedeutung für die Beteiligten haben, besonders
        sensibel und großzügig gehandhabt werden müssen. Au-
        ßerdem hätten für die jeweilige Partei Möglichkeiten be-
        standen, die Beiordnung eines Rechtsanwaltes trotz der
        vorgeschlagenen Änderung zu erreichen. So können bei-
        spielsweise zusätzliche Anträge zum Zugewinnausgleich
        oder Unterhalt gestellt werden, was wiederum vermeid-
        bare Verkomplizierungen und Kostensteigerungen mit
        sich bringt. Der Umstand, dass sich bemittelte Antrags-
        gegner bei einvernehmlichen Ehescheidungen seltener
        eines anwaltlichen Beistands bedienen, lässt sich auch
        darauf zurückführen, dass im Vorfeld des gerichtlichen
        Verfahrens – anders als bei bedürftigen Parteien – die
        Möglichkeit einer jeweiligen anwaltlichen Beratung in
        Anspruch genommen werden konnte.
        Darüber hinaus wollen wir eine Legaldefinition des
        Begriffs der Mutwilligkeit in die Zivilprozessordung
        einfügen. Danach ist die Rechtsverfolgung oder Rechts-
        verteidigung mutwillig, wenn eine Partei, die keine Pro-
        zesskostenhilfe beansprucht, bei verständiger Würdi-
        gung aller Umstände von der Rechtsverfolgung oder
        Rechtsverteidigung absehen würde, obwohl eine hinrei-
        chende Aussicht auf Erfolg besteht. Diese Definition
        entspricht der herrschenden Rechtsprechung, insbeson-
        dere der des Bundesverfassungsgerichts. Danach ist als
        Vergleichsperson derjenige Bemittelte heranzuziehen,
        der seine Prozessaussichten vernünftig abwägt und dabei
        auch das Kostenrisiko berücksichtigt. Die Formel wird
        in der Praxis seit langem angewandt und hat sich be-
        währt. Sie gibt den Gerichten ausreichend präzise, je-
        30476 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013
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        doch gleichzeitig flexible Kriterien für die vorzuneh-
        mende Bewertung vor.
        Eine Absenkung der Freibeträge für Erwerbstätige so-
        wie für Ehegatten oder Lebenspartner konnte vermieden
        werden. Wir sind der Auffassung, dass die Bereitstellung
        adäquater Prozess- bzw. Verfahrenskostenhilfe dem
        Rechtsstaatsgebot entspricht und sich nicht an dem abso-
        luten verfassungsrechtlichen Minimum orientieren
        sollte. Die Halbierung des Freibetrages für Erwerbstä-
        tige hätte das anerkennenswerte Bemühen insbesondere
        von Geringverdienern um die Erzielung eines eigenen
        Erwerbseinkommens nicht hinreichend unterstützt.
        Die geltende Ratenhöchstzahlungsdauer von 48 Mo-
        naten stellt bereits einen angemessenen Ausgleich zwi-
        schen den Interessen der Partei an einer zeitlich über-
        schaubaren finanziellen Mehrbelastung infolge der
        Prozessführung und dem fiskalischen Interesse an einer
        hohen Refinanzierungsquote sicher. Daher haben wir
        eine Erhöhung auf 72 Monate abgelehnt. Mit einer Ver-
        längerung der Ratenhöchstzahlungsdauer wäre auch eine
        länger andauernde Pflicht zur Überwachung verbunden
        gewesen, die zu erheblichem personellem Mehraufwand
        in der Justiz geführt hätte. Dem hätte in einer großen An-
        zahl von Fällen – auch vor dem Hintergrund der aktuel-
        len Pfändungsfreigrenzen – kein Nutzen entgegenge-
        standen.
        Darüber hinaus haben wir die vorgeschlagene Befug-
        nis für die Gerichte, zur Klärung der persönlichen und
        wirtschaftlichen Verhältnisse mit Einwilligung des An-
        tragstellers Auskünfte Dritter einholen zu können, abge-
        lehnt. Es wäre unverhältnismäßig gewesen, dass einem
        Dritten – beispielsweise einem Arbeitgeber oder einem
        Versicherer – auf diese Weise bekannt geworden wäre,
        dass der Antragsteller Prozesskostenhilfe für ein Ge-
        richtsverfahren beantragt hat. Diesem Eingriff in die
        Rechte der Antragsteller hätte also ebenfalls kein ad-
        äquater Nutzen gegenübergestanden.
        Die ursprünglich vorgesehene Erweiterung des Be-
        schwerderechts der Staatskasse hätte – beispielsweise
        durch nur geringfügige Rechenfehler zulasten der Staats-
        kasse – eine erhebliche Mehrbelastung der Bezirksrevi-
        soren sowie der zweiten Instanz zur Folge gehabt. Ferner
        wäre der Begründungsaufwand für den erstinstanzlichen
        Richter gestiegen. Die Einlegung einer Beschwerde
        führt darüber hinaus zwangsläufig zu einer Verzögerung
        des Hauptsacheverfahrens. Zunächst muss die Hauptakte
        nebst Prozesskostenhilfeheft an das Rechtsmittelgericht
        versendet werden. Weiterhin entsteht eine bis zu drei
        Monaten andauernde Unsicherheit, ob die Bewilligungs-
        entscheidung als solche noch angegriffen wird, was die
        Partei mit beigeordnetem Rechtsanwalt vielfach dazu
        bewegen wird, den genannten Zeitraum abzuwarten und
        zunächst nicht kostenverursachend tätig zu werden. Ge-
        rade in Verfahren, in denen der Beschleunigungsgrund-
        satz besonders ausgeprägt ist (zum Beispiel Kindschafts-
        sachen), stellt sich dies kritisch dar.
        Die Koalition hat ferner die vorgeschlagene Möglich-
        keit abgelehnt, Zeugen oder Sachverständige auch zur
        Prüfung der Bedürftigkeit vernehmen zu können. Schon
        nach bisheriger Rechtslage geht die fehlende Glaubhaft-
        machung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhält-
        nisse oder die ungenügende Beantwortung schriftlicher
        Fragen nach Fristsetzung zulasten des Antragstellers, da
        die Bewilligung von Prozesskostenhilfe in diesen Fällen
        abgelehnt werden kann. Deshalb ist nicht davon auszu-
        gehen, dass von der aufwändigeren Möglichkeit einer
        Klärung durch Vernehmung von Zeugen oder Sachver-
        ständigen nennenswert Gebrauch gemacht werden wird.
        Zudem entstehen durch entsprechende Vernehmungen
        gegebenenfalls erhebliche zusätzliche Kosten, die insbe-
        sondere bei einem Unterliegen der bedürftigen Partei,
        der ratenfreie Prozesskostenhilfe bewilligt wurde, letzt-
        lich von der Staatskasse zu tragen wären. Zudem er-
        scheint die Kostentragungspflicht des Gegners im Falle
        seines Unterliegens verfehlt, wenn der Zweck der Ver-
        nehmung allein in der ausschließlich im Interesse der
        Staatskasse liegenden Aufklärung der persönlichen und
        wirtschaftlichen Verhältnisse lag.
        Ferner haben wir die im Gesetzentwurf vorgesehene
        Möglichkeit zur Übertragung der Bedürftigkeitsprüfung
        auf den Rechtspfleger als Länderöffnungsklausel ausge-
        staltet. Dies eröffnet den Ländern die Gestaltungsspiel-
        räume, die erforderlich sind, um auf den mit der Aufga-
        benübertragung verbundenen erhöhten Personalbedarf
        im Rechtspflegerbereich flexibel reagieren zu können.
        Außerdem wird die Möglichkeit einer nachträglichen
        Antragstellung nicht eingeschränkt und bleibt wie bisher
        an keine besondere Eilbedürftigkeit geknüpft.
        Die Sonderregel im arbeitsgerichtlichen Verfahren,
        dass einer Partei auch ohne Erfolgsaussicht ein Rechts-
        anwalt beigeordnet werden kann, wenn der Gegner an-
        waltlich vertreten ist, wird abgeschafft. Die „Waffen-
        gleichheit“ wird bereits durch § 121 ZPO ausreichend
        gewährleistet.
        Das nun vorgesehene Inkrafttreten des Gesetzes zum
        1. Januar 2014 ermöglicht einen Umsetzungszeitraum
        von sechs Monaten. Dieser Zeitraum ist wegen des Um-
        stellungsaufwands in den Fachverfahren und wegen der
        Änderungen am Prozesskostenhilfe- und am Beratungs-
        hilfeformular notwendig.
        Zum Ende meiner Ausführungen noch eine Bemer-
        kung zu den Verfahren vor dem Europäischen Gerichts-
        hof für Menschenrechte, die auch unseren Bürgerinnen
        und Bürgern in Deutschland offenstehen. Ich hatte diese
        bereits während unserer vergangenen Debatte angespro-
        chen. Mit dem Gesetz zur Einführung von Kostenhilfe
        für Drittbetroffene in Verfahren vor dem Europäischen
        Gerichtshof für Menschenrechte – dem EGMR-Kosten-
        hilfegesetz – liegt seit dem 25. April eine rechtliche
        Grundlage für zusätzliche Kostenhilfe für Verfahren in
        Straßburg vor. Konnten vorher nur die Beschwerdefüh-
        rer Kostenhilfe beim Gerichtshof beantragen, steht dies
        nun auch sogenannten Drittbetroffenen zu – beispiels-
        weise Kindern in Umgangsfragen. Damit ist jetzt sicher-
        gestellt, dass es nicht vom Geldbeutel eines Betroffenen
        abhängt, ob man sich in den eigenen Angelegenheiten in
        Straßburg Gehör verschaffen kann.
        Insgesamt bin ich davon überzeugt, dass wir im
        Rechtsausschuss das eine oder andere am ursprünglichen
        Gesetzentwurf so nachjustiert haben, dass das heute be-
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013 30477
        (A) (C)
        (D)(B)
        ratene Ergebnis alle Fraktionen in diesem Haus überzeu-
        gen wird.
        Detlef Seif (CDU/CSU): Das 2. Kostenrechtsmoder-
        nisierungsgesetz dürfte das umfangreichste rechtspoliti-
        sche Gesetzgebungsvorhaben in dieser Legislaturperiode
        sein. Dies bezieht sich nicht nur auf den Seitenumfang,
        sondern insbesondere auch auf die Maßnahmen zur Vor-
        bereitung des Regierungsentwurfs. Hier hat die Regie-
        rung eine umfangreiche Vorarbeit geleistet, eine Vielzahl
        von Einwendungen und Anregungen der Justiz, der Län-
        der und der betroffenen Berufsgruppen war „abzuarbei-
        ten“. Die Neuregelungen des Kostenrechtsmodernisie-
        rungsgesetzes aus dem Jahr 2004 wurden überprüft.
        Seitens des Bundesjustizministeriums wurde ermittelt,
        an welchen Stellen Korrekturbedarf besteht. Die Notar-
        gebühren wurden von November 2006 bis Februar 2009
        durch eine Expertenkommission einer Prüfung unterzo-
        gen. Bezüglich der angedachten Veränderungen zur Ent-
        schädigung der in Justizverfahren beteiligten Berufs-
        gruppen wurden die betroffenen Verbände bereits Ende
        2006 eingebunden und um Stellungnahme zur geplanten
        Änderung der Sachgebietsliste gebeten. Die Bestellungs-
        körperschaften und die Landesjustizverwaltungen wur-
        den eingebunden, im Jahr 2009 wurde eine umfangrei-
        che Marktanalyse beauftragt. Ein RVG-Panel zur
        Ermittlung der Gebührensituation in Sozialrechtsangele-
        genheiten wurde eingerichtet, es folgten viele Gespräche
        mit der Anwaltschaft, den Notaren und den Vertretern
        der Länder. Man kann bereits an diesem Auszug aus der
        Vorgeschichte zum Regierungsentwurf erkennen, wie
        anspruchsvoll das vollzogene Verfahren zur Erarbeitung
        des Regierungsentwurfs war.
        An dieser Stelle bedanke ich mich für die professio-
        nelle Arbeit der Regierung. Ich bedauere sehr, dass der
        verantwortliche Staatssekretär, Dr. Max Stadler, der per-
        sönlich viel Herzblut in das Gesetz investierte, durch sei-
        nen frühen Tod die Früchte seiner Arbeit nicht mehr ern-
        ten kann.
        Meinen Dank spreche ich auch ausdrücklich den Be-
        richterstattern der anderen Fraktionen aus. Auch wenn
        wir bei den Detailfragen oft unterschiedlicher Ansicht
        waren, haben wir alle gemeinsam die Kernziele des Ge-
        setzes nicht außer Acht gelassen:
        Beim 2. Kostenrechtsmodernisierungsgesetz geht es
        im Kern zunächst darum, die im Jahr 2001 mit dem Ge-
        richtsvollzieherkostengesetz aufgenommene und im Jahr
        2004 mit dem 1. Kostenrechtsmodernisierungsgesetz
        fortgeführte Strukturreform zu vollenden.
        Das 2. Kostenrechtsmodernisierungsgesetz soll dazu
        beitragen, die Gerichte von der zwischenzeitlich sehr
        umfangreichen und teilweise auch undurchsichtigen
        Kostenrechtsprechung zu entlasten und Rechtssicherheit
        für die Beteiligten zu schaffen. Letztlich dient das Ge-
        setzgebungsvorhaben einer bundeseinheitlichen Rege-
        lung.
        Ein Schwerpunkt der Modernisierung liegt in der
        Schaffung eines neuen Gesetzes über Kosten der freiwil-
        ligen Gerichtsbarkeit für Gerichte und Notare, das die
        bislang geltende Kostenordnung ablöst. Insbesondere
        bedarf die seit dem Inkrafttreten der Reichskostenord-
        nung am 1. April 1936 in ihrer Struktur unverändert ge-
        bliebene Vorschrift einer grundlegenden Neugestaltung,
        die das zusammenwachsende Europa und die Anforde-
        rungen der elektronischen Datenverarbeitung berück-
        sichtigt.
        Die strukturellen Änderungen des Gesetzes führen zu
        einer klaren Trennung der für Gerichte und Notare gel-
        tenden Regelungen. So werden zum Beispiel alle Rege-
        lungen, die allein die Tätigkeit der Notare betreffen, in
        einem eigenen Kapitel zusammengefasst. Entsprechend
        findet man jetzt eine Zusammenfassung der Notargebüh-
        rentatbestände in einem eigenen Teil des Kostenver-
        zeichnisses.
        Die Vorschriften zur Justizvergütung und -entschädi-
        gung wurden strukturell überarbeitet. Hier wurde insbe-
        sondere die Sachgebietsliste, auch im Hinblick auf die
        Sachgebietsbeschreibung, angepasst. Ziel ist die Beseiti-
        gung von Problemen, die in der gerichtlichen Praxis bei
        der Zuordnung zu den einzelnen Sachgebieten aufgetre-
        ten sind. Auf der Grundlage der neuen Sachgebietsbe-
        schreibung wurde eine umfangreiche Marktanalyse
        durch die Hommerich Forschung durchgeführt, um die
        Marktpreise zu ermitteln.
        Die Kostenrechtsmodernisierung, die den Schwer-
        punkt des Gesetzes bildet, ist angesichts der Vielzahl der
        an uns herangetragenen Bitten, Beschwerden und Anre-
        gungen in der öffentlichen Wahrnehmung eher zurück-
        getreten. Es ist allzu verständlich, dass betroffene Be-
        rufsgruppen an uns herangetreten sind, um aus ihrer
        Sicht die Kostenvorschriften für den jeweiligen Berufs-
        stand zu „optimieren“. Es liegt auch in der Natur der Sa-
        che, dass sich die Länder mit dem Argument einer finan-
        ziellen Unterdeckung mehrfach an uns gewandt haben.
        Bei allem Verständnis für die Einwendungen der Länder
        ist an oberster Stelle zu berücksichtigen, dass die Justiz
        nicht – wie wirtschaftliche Unternehmen – kostende-
        ckend arbeiten kann. Der Rechtsstaat wäre gefährdet,
        wenn die Gebühreneinnahmen kostendeckend sein
        müssten. Dies würde zu einer unzumutbaren Erschwe-
        rung des Zugangs zum Recht durch die Erhöhung finan-
        zieller Hürden führen. Die zwischen dem Bundesjustiz-
        ministerium und den Ländern gefundene Einigung dürfte
        das Spannungsverhältnis zwischen dem Interesse der
        Länder an einem möglichst hohen Kostendeckungsgrad
        und dem ungehinderten Zugang zum Recht angemessen
        lösen.
        Soweit die Einwendungen der verschiedenen Berufs-
        gruppen nachvollziehbar waren und im aktuellen Ge-
        setzgebungsverfahren berücksichtigt werden konnten,
        haben sie zu einigen Änderungen des Regierungsent-
        wurfs geführt.
        Auch wenn der Regierungsentwurf bei den Anwalts-
        gebühren im Gesamtvolumen bereits eine Erhöhung von
        rund 12 Prozent vorsah, war dem gemeinsamen Einwand
        von Bundesrechtsanwaltskammer und Deutschem An-
        waltsverein zu folgen. Aufgrund der Anpassung der Ta-
        bellenstruktur des RVG an die Streitwertstufen des
        GNotKG führte der Regierungsentwurf bei einzelnen
        30478 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013
        (A) (C)
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        Streitwerten zu niedrigeren Gebühren als bisher. Deshalb
        sieht der heute vorliegende Gesetzentwurf eine weitere
        Erhöhung um jeweils 5 Euro für jede Streitwertstufe vor.
        Auch das Argument der Anwaltschaft, dass die im Re-
        gierungsentwurf vorgesehene Kappungsgrenzenbe-
        schreibung in Nr. 2301 VV RVG-E in der Praxis zu einer
        neuen Höchstgebühr geführt hätte, war nicht von der
        Hand zu weisen. Diese Beschreibung wurde folgerichtig
        gestrichen.
        Bei den Gerichtsvollziehern ist leistungsgerecht eine
        Gebührenerhöhung von 30 Prozent vorgesehen. Von der
        Einführung einer Erfolgsgebühr für Gerichtsvollzieher
        haben wir Abstand genommen. Diese könnte Fehlan-
        reize setzen und dazu führen, dass Gerichtsvollzieher
        möglicherweise Vollstreckungsaufträge, die nach dem
        ersten Anschein aussichtslos erscheinen, nachrangig be-
        arbeiten. Die gewünschte Erhöhung des Mindest- und
        Höchstbetrages der Auslagenpauschale war nicht umzu-
        setzen, da die Portokosten mit Ausnahme des Standard-
        briefes nicht gestiegen sind und der Versand von Schrift-
        stücken zunehmend auf elektronischem Wege erfolgt.
        Allerdings war eine Anhebung der Wegegeldpauschalen
        für Gerichtsvollzieher angemessen. Der Gesetzentwurf
        sieht jetzt eine 30-prozentige Erhöhung vor.
        Dringend anpassungsbedürftig waren die im Regie-
        rungsentwurf vorgesehenen Honorare für Übersetzer.
        Den im Entwurf vorgesehenen Sätzen wurde der im
        Rahmen der Marktanalyse ermittelte einheitliche Zeilen-
        satz zugrunde gelegt, den 55 Prozent der Befragten au-
        ßergerichtlich berechnen. Unberücksichtigt blieb aber
        die Gruppe der Übersetzer, die nach der Qualität der
        Übersetzerleistung – Basisqualität und hohe Qualität/
        Rechtssicherheit – unterscheidet, immerhin rund 45 Pro-
        zent der Befragten. Damit konnten die im Entwurf zu-
        nächst vorgesehenen Zeilensätze die Marktpreise nicht
        zutreffend wiedergeben. Dies ergab auch die Befragung
        des Sachverständigen Professor Hommerich in der öf-
        fentlichen Anhörung. Die von der CDU/CSU-Bundes-
        tagsfraktion erfolgte Anregung wurde von der Regierung
        aufgegriffen und spiegelt sich in dem jetzt vorliegenden
        Gesetzentwurf wider. Die Höhe der Übersetzerhonorare
        knüpft nun an die Übersetzung in hoher Qualität/Rechts-
        sicherheit an. Darüber hinaus ist ein erleichterter Zugang
        zum höheren Zeilensatz vorgesehen, da nicht mehr eine
        „erhebliche“, sondern nur noch eine „besondere“ Er-
        schwernis der Übersetzung verlangt wird. Zudem ist hier
        eine Erweiterung vorgenommen worden, indem die Er-
        höhungstatbestände um die Regelbeispiele „besondere
        Eilbedürftigkeit“ und „in Deutschland selten vorkom-
        mende Sprache“ ergänzt wurden. Hinzu kommt, dass ein
        nicht unerheblicher Anteil der Übersetzungen nicht edi-
        tierbare Texte betrifft, für die ohnehin ein erhöhtes Ho-
        norar verlangt werden kann.
        Honorarsätze für die Übersetzung außergewöhnlich
        schwieriger Texte entfallen, da dieser Übersetzungsart
        nach dem Ergebnis einer Erhebung der Länder keine
        praktische Bedeutung zukommt.
        Darüber hinausgehende Forderungen der Berufsver-
        bände finden keine Entsprechung in den außergerichtli-
        chen Zeilensätzen. Sie widersprechen dem Regelungsge-
        danken des Gesetzes, dessen Honorarsätze die
        Marktpreise abbilden sollen.
        Die Einwendung der öffentlich bestellten Vermes-
        sungsingenieure, dass bei den Sachgebieten zwischen
        „Vermessungstechnik“ und „Vermessungs- und Katas-
        terwesen“ zu unterscheiden sei, war nachvollziehbar.
        Deshalb sieht der Gesetzentwurf jetzt auch vor, dass die
        reine „Vermessungstechnik“ in die Honorargruppe 1 ein-
        gestuft wird, während das anspruchsvollere „Vermes-
        sungs- und Katasterwesen“ zur Honorargruppe 9 gehört.
        Die vom Zentralverband des Deutschen Handwerks,
        ZDH, geäußerte Kritik greift im Ergebnis nicht. Der
        ZDH ist der Meinung, dass viele handwerkliche Sachge-
        biete pauschal in die Honorargruppe 2 eingestuft wür-
        den. Gefordert wird die Beibehaltung des bisherigen
        Vergütungssystems. Eine derartige pauschale Zuordnung
        der handwerklichen Tätigkeit sieht der Gesetzentwurf
        aber überhaupt nicht vor. Das Gesetz orientiert sich bei
        der Bestimmung der Sachverständigenhonorare nämlich
        nicht an bestimmten Berufsgruppen wie etwa den Hand-
        werkern. Vielmehr wird auf den auf dem freien Markt
        erzielbaren Preis in einem bestimmten Sachgebiet abge-
        stellt, und zwar unabhängig davon, ob die Leistung von
        einem Handwerker oder einem Ingenieur erbracht wird.
        Dies führt zum Beispiel dazu, dass die Bewertung der
        handwerklich-technischen Ausführung im Bauwesen in
        Honorargruppe 2 (70 Euro pro Stunde) eingeordnet wird,
        während etwa für die Ermittlung von Schadenursachen
        im Bauwesen die Honorargruppe 5 (85 Euro pro Stunde)
        und für Kraftfahrzeugschäden und -bewertung die Hono-
        rargruppe 8 (100 Euro pro Stunde) folgen.
        Auch wenn im Ergebnis nicht alle Anregungen be-
        rücksichtigt werden konnten, so wurden sie aber im Ge-
        setzgebungsverfahren abgewogen. Da das Gesetz jetzt
        viel stärker als früher auf eine marktgerechte Abbildung
        der Honorare abstellt, kann dies im Einzelfall zu Hono-
        rarkürzungen führen. Dies entspricht aber dem Zweck
        des Gesetzes, keine höheren Beträge zu gewähren als auf
        dem freien Markt erzielbar wären.
        Einzelne Einwendungen konnten jetzt keine Berück-
        sichtigung finden, da sie die Verabschiedung des Gesetzes
        in weite Ferne gerückt hätten. Müsste sich der Deutsche
        Bundestag bis ins kleinste Detail auf eine gemeinsame
        Lösung zwischen allen Beteiligten verständigen, könnte
        die Kostenreform in dieser Legislaturperiode nicht mehr
        umgesetzt werden.
        Alles in allem schafft der jetzt vorliegende Gesetzent-
        wurf einen guten Ausgleich zwischen den verschiedenen
        Interessen und verdient in der heutigen zweiten und drit-
        ten Lesung des Gesetzes unsere Zustimmung.
        Christoph Strässer (SPD): Wir beschäftigen uns
        heute unter anderem mit dem Kostenrechtsmodernisie-
        rungsgesetz und dem Gesetz zur Prozesskostenhilfe. Die
        Titel sind sperrig, die Auswirkungen erheblich: Es be-
        trifft Rechtsuchende, die nicht in der Lage sind, Kosten
        für die Inanspruchnahme der Justiz aus eigenen Mitteln
        aufzubringen; es geht um die Vergütungen für Leistun-
        gen vieler Berufsgruppen, die für das Funktionieren un-
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013 30479
        (A) (C)
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        seres rechtsstaatlichen Systems unentbehrlich sind: für
        Gerichtsvollzieher, Dolmetscher und Übersetzerinnen,
        für Sachverständige und nicht zuletzt für Rechtsanwälte
        und Rechtsanwältinnen. Es geht aber auch darum, den
        Staat, insbesondere die Bundesländer, in die Lage zu
        versetzen, auch weiterhin die Mittel die für das reibungs-
        lose Funktionieren unserer Gerichtsbarkeit erforderlich
        sind, in ausreichendem Umfang zur Verfügung stellen zu
        können, ein nicht einfaches Unterfangen.
        Auf den ersten Blick sieht es bei dem Gesetzgebungs-
        projekt nach einer einseitigen Belastung des rechtsu-
        chenden Bürgers aus: Die Gerichtsgebühren werden er-
        höht, die Rechtsanwaltsgebühren werden erhöht, die
        Ratenzahlungshöhe der Prozesskostenhilfe wird erhöht.
        In einer Stellungnahme der Versicherungswirtschaft
        kündigt diese an, dass die Versicherungsprämien für
        Rechtsschutzversicherungen dadurch steigen könnten.
        Richtig ist aber auch: Der Kostendeckungsgrad der
        Justiz geht ständig zurück und liegt zurzeit nur bei
        44 Prozent, die Vergütung nach dem Rechtsanwaltsver-
        gütungsgesetz wurde zuletzt 2004 strukturell angepasst,
        die Ausgaben der Länder für die Prozesskostenhilfe sind
        in den letzten Jahren gestiegen. Alleine in Berlin haben
        sich die Ausgaben für Prozesskostenhilfe in den letzten
        fünf Jahren vervierfacht. Es ist unbestreitbar: Es besteht
        Veränderungsbedarf.
        Dabei ist es die Aufgabe der Politik, für einen fairen
        Ausgleich zu sorgen und die Kosten gerecht zu verteilen.
        Das ist nicht einfach. Klar ist auch, dass die Justiz keine
        Kostendeckung von 100 Prozent anstreben kann und
        will. Es ist die Aufgabe des Staates, eine Justizinfra-
        struktur zur Verfügung zu stellen, die von allen Teilen
        der Bevölkerung genutzt werden kann, unabhängig von
        den finanziellen Möglichkeiten eines Verfahrensbeteilig-
        ten. In Deutschland sind Prozesse finanzierbar und das
        Kostenrisiko von Gerichtsverfahren so kalkulierbar wie
        in kaum einem anderen Land. Das ist Teil der friedens-
        stiftenden Wirkung der Justiz. Wir wollen keine Zwei-
        klassenjustiz. Veränderungen, die den Zugang zum
        Recht beschränken, insbesondere durch Veränderungen
        bei Prozesskosten bzw. Beratungshilfe, sind mit der SPD
        nicht zu machen.
        Das Kostenrecht muss mehr noch als die Prozesskos-
        tenhilfe modernisiert werden. Das unterstützt die SPD-
        Bundestagsfraktion. Und weil es hier um grundlegende
        Fragen geht, die auch den Zugang zum Recht betreffen,
        habe ich es befürwortet, dass wir uns gründlich mit
        diesem Thema beschäftigt haben. Es gingen jahrelange
        Beratungen zwischen den Ländern und dem Justizminis-
        terium, zwischen Verbänden und Abgeordneten voraus.
        Im März hat der Bundestag eine umfangreiche Anhö-
        rung durchgeführt.
        Wir sehen die Verbesserungen beim Entwurf zum
        Kostenrechtsmodernisierungs- sowie Prozesskosten-
        und Beratungshilfegesetz. Besorgniserregend ist aber die
        Verhandlungsführung mit den Ländern – das muss man
        mal anmerken dürfen. Seit Tagen und Wochen stehen die
        Telefone nicht mehr still. Die Ländervertreter sind mehr
        als erstaunt und unzufrieden. Letzte Woche Montag ti-
        telte dann auch Spiegel Online „Justizministerin lässt
        Kosten-Kompromiss platzen“. Es ist davon die Rede,
        dass Absprachen des Bundesjustizministeriums nicht
        eingehalten wurden. Im Ausschuss hat die Regierung
        das bestritten. Die Absprachen würden nur anders „aus-
        gelegt“. In Anbetracht der wenigen zur Verfügung ste-
        henden Sitzungswochen vor dem Ende der Legislatur-
        periode ist die miserable Abstimmung mit den Ländern
        besonders unprofessionell. Wenn die Kostenrechtmoder-
        nisierung scheitert, wäre dies ein verhandlungspoliti-
        sches und rechtspolitisches Desaster für die Regierung,
        denn viele Berufsgruppen warten auf die Erhöhungen,
        und das zu Recht. Nachdem Ländervertreter aller politi-
        schen Fraktionen angekündigt haben, den Vermittlungs-
        ausschuss anzurufen, erwarten wir und werden wir kons-
        truktiv daran mitarbeiten, so schnell wie möglich zu
        einem Ergebnis zu kommen, das trägt und noch in der
        laufenden Legislaturperiode ins Gesetzblatt kommen
        kann.
        Ich möchte nun auf die inhaltliche Bewertung zu
        sprechen kommen.
        Einige Punkte, die Ländern, Sachverständigen und
        uns wichtig waren, wurden nach der ersten Lesung im
        Plenum im laufenden Verfahren tatsächlich aufgegriffen.
        Im Vergleich zum ursprünglichen Gesetzentwurf ist
        im Kostenrecht nun vorgesehen, dass den Ländern eine
        Gerichtsgebührenerhöhung von 18 Prozent statt nur
        11 Prozent zugestanden wird und dass bei der Rechtsan-
        waltsvergütung eine Bereinigung der Streitwerte bis
        10 000 Euro – Honorare wären in bestimmten Fällen
        durch die neue Staffelung gesunken – durchgeführt wird.
        Verbesserungen bei den Sachverständigenhonoraren so-
        wie beim Wegegeld für Gerichtsvollzieher begrüßen wir
        ebenfalls. Das gilt auch für die lineare Anhebung der
        Anwaltsvergütung um 2 Prozent im Verhältnis zum ers-
        ten Regierungsentwurf.
        Auch Übersetzer und Dolmetscher profitieren von
        einigen Korrekturen, wie zum Beispiel von erhöhten
        Zeilenhonoraren. Das ist aber nicht ausreichend. Es hätte
        auch die Möglichkeit von Vergütungsvereinbarungen ge-
        strichen werden müssen. Sie sind in vielen Bundeslän-
        dern üblich. Dolmetscher und Übersetzer werden dort
        nur berufen, wenn sie sich zuvor mittels Vergütungsver-
        einbarung zu niedrigeren Honorierungen bereit erklärt
        haben. Die Honorarerhöhungen nützen nichts, wenn sie
        durch Vergütungsvereinbarungen unterlaufen werden.
        Die über Honorarvereinbarungen möglichen Honorare
        entsprechen nicht mehr den ökonomischen Mindest-
        bedürfnissen.
        Wir treten auch für die Beibehaltung der Terminge-
        bühr beim Gerichtsbescheid im Sozialrecht und die
        Wiedereinführung der Kostenprivilegierung für arbeits-
        gerichtliche Teilvergleiche ein.
        Im Bereich der Prozesskosten- und Beratungshilfe
        wurden einige Einschnitte wieder zurückgenommen.
        Das begrüßen wir. Eine funktionierende Prozesskosten-
        und Beratungshilfe liegt mir besonders am Herzen. Bei
        allem Verständnis für die Nöte in den Justizhaushalten
        muss man in diesem Bereich besonders sensibel vorge-
        hen.
        30480 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013
        (A) (C)
        (D)(B)
        Der Gesetzentwurf verfolgt zwei Ziele: Die Ausgaben
        für die Beratungs- und Prozesskostenhilfe sollen redu-
        ziert werden. Außerdem soll der Zugang zum Recht wei-
        ter gewährleistet werden. Das ist ein Balanceakt – keine
        Frage.
        Aber es müssen auch bestimmte Quellen für einen
        Anstieg der Kosten im Bereich der Prozesskostenhilfe
        angegangen werden. Es dürfen nicht nur die Symptome,
        sondern es müssen auch die Ursachen bekämpft werden.
        Ich nenne mal ein Beispiel. Viel zu vielen Widerspruchs-
        stellen der Jobcenter gelingt es nicht, Widersprüche nach
        den gebotenen rechtsstaatlichen Standards zu beschei-
        den. Die Gründe hierfür sind vielfältig, sie liegen in der
        Regel nicht in der Kompetenz oder Motivation der Be-
        schäftigten. Es ist feststellbar, dass eine teure Funktions-
        verschiebung im Verhältnis zwischen der Verwaltungs-
        und Widerspruchspraxis der Sozialleistungsträger und
        den Sozialgerichten zulasten der Gerichte stattgefunden
        hat. Ein richtiger Ansatz zur Eindämmung der PKH- und
        Beratungshilfekosten in diesem Bereich wäre daher,
        Qualität und Akzeptanz von Bescheiden der Sozialver-
        waltung zu stärken, sodass die Notwendigkeit oder auch
        das subjektive Bedürfnis nach gerichtlicher Klärung gar
        nicht erst entsteht. Mit der Forderung unserer Fraktion,
        in den Arbeitsagenturen und Jobcentern die Kontakt-
        dichte zwischen Fallmanagern und Arbeitsuchenden
        durch eine größere personelle Ausstattung zu verbes-
        sern, Bundestagsdrucksache 17/6454, haben wir einen
        Beitrag zu diesem Ansatz geleistet.
        Ich begrüße es, dass im Vergleich zum Ursprungsent-
        wurf die Freibeträge für Ehegatten und für Erwerbstätige
        nicht gesenkt werden, dass die Ratenhöchstzahlungs-
        dauer nicht von vier auf sechs Jahre verlängert wird und
        dass die vorherige Antragstellung der Beratungshilfe
        nicht vorgeschrieben wird.
        Zwei Punkte waren und sind uns besonders wichtig:
        die Anwaltsbeiordnung in Scheidungsverfahren und ar-
        beitsgerichtlichen Prozessen.
        Knapp die Hälfte aller Verfahren sind Scheidungsver-
        fahren. Eine beschnittene Prozesskostenhilfe dürfte vor
        allem auf Kosten der Frauen gehen, die nicht oder nur
        eingeschränkt erwerbstätig sind. Im Bereich von Schei-
        dungen wurde argumentiert, dass sich bei Scheidungen
        ohne PKH 45 Prozent der Leute ohne Anwalt scheiden
        lassen, bei Scheidungen mit PKH aber nur 14 Prozent.
        Der Grund ist aber klar. Einkommensstärkere nehmen
        eine kostenträchtige Mediation in Anspruch oder lassen
        sich im Vorfeld anwaltlich beraten und klären Streit-
        punkte außergerichtlich, sodass das Scheidungsverfah-
        ren eine reine Formsache ist. Das lässt sich auf bedürf-
        tige Rechtsuchende nicht übertragen, für die die
        streitigen Punkte keine bloße Formsache sind. Wohn-
        recht, Vermögensauseinandersetzung, Unterhalt, Sorge-
        recht sind schwierige Fragen, bei denen die Gefahr be-
        steht, dass ein Partner nicht ausreichend beraten wird.
        Die Kehrtwende der Koalition in diesem Punkt ist zu be-
        grüßen.
        Auch im arbeitsgerichtlichen Verfahren darf sich an
        der Beiordnung nichts ändern, § 11 a ArbGG. Das Ar-
        beitsrecht hat sich zu einer Spezialmaterie entwickelt.
        Die Arbeitgeberseite ist zumeist anwaltlich oder durch
        die Rechtsabteilung vertreten. Die Hinweispflichten des
        Richters sind nicht ausreichend.
        Das Ziel der Beiordnung, als diese 1953 eingeführt
        wurde, war, dem Arbeitnehmer im Prozess gegenüber
        dem finanziell und rechtlich in der Regel überlegenen
        Arbeitgeber Chancen- und Waffengleichheit zu gewäh-
        ren. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Gerade die
        Entwicklung bei Niedriglohnverhältnissen und atypi-
        schen Beschäftigungsverhältnissen zeigt auf, dass es
        weiterhin dieser Schutzfunktion beim Prozess bedarf. In
        dieser Frage hat sich die Koalition leider nicht bewegt,
        sodass uns trotz einer Reihe von erheblichen Verbesse-
        rungen eine Zustimmung nicht möglich ist.
        Wenn sich der Vermittlungsausschuss mit den Gesetz-
        entwürfen beschäftigt, so wie dies die Länder angekün-
        digt haben, würde ich es begrüßen, wenn über diese Fra-
        gen noch einmal diskutiert werden könnte. Wir wollen,
        dass das Projekt Kostenrechtsmodernisierung schnellst-
        möglich zu einem positiven Abschluss gebracht werden
        kann.
        Marco Buschmann (FDP): Es ist mir ein Bedürfnis,
        bevor ich auf die Details der vorliegenden Gesetzent-
        würfe eingehe, eine persönliche Bemerkung voranzu-
        stellen:
        Bei meinem allerersten parlamentarischen Abend als
        frisch gewählter Abgeordneter im Jahr 2009 kündigte
        der gerade ernannte Parlamentarische Staatssekretär, un-
        ser letzten Sonntag verschiedener Kollege Dr. Max
        Stadler, an, eine Initiative zur Kostenrechtsmodernisie-
        rung im Justizwesen auf den Weg bringen zu wollen.
        Eine solche Reform war lange überfällig und ist von al-
        len Beteiligten immer wieder eingefordert worden. Viele
        haben damals geglaubt, dass man wegen der zahlreichen
        Interessensgegensätze hier kaum zu einer Lösung in die-
        ser Legislaturperiode kommen könnte. Dass wir heute
        abschließend im Deutschen Bundestag über die vorlie-
        genden Entwürfe debattieren können, haben wir auch
        dem großen Engagement sowie der menschlich einneh-
        menden und moderierenden Art von Max Stadler zu ver-
        danken. Fast über die gesamte Legislaturperiode hinweg
        hat er sich immer wieder um Ausgleich und Kompro-
        miss in der schwierigen Gemengelage bemüht.
        In dieser offenen und konstruktiven Atmosphäre war
        es auch möglich, Lösungen für eine Reihe von Proble-
        men zu finden, die dem Ursprungsentwurf der Bundes-
        regierung für dieses große Gesetzeswerk noch angehaf-
        tet haben:
        Wir haben den Zugang zum Recht auch für sozial
        schwache Personen weiter gesichert. Denn eine ganze
        Reihe von Beschränkungen im Rahmen der Prozess- und
        Beratungskostenhilfe, die sich vor allem der Bundesrat
        gewünscht hatte, haben wir zurückgenommen im Inte-
        resse des Zugangs zum Recht für alle.
        Wir haben einige – ich nenne es einmal – unbeabsich-
        tigte Unwuchten, etwa im Bereich der Rechtsanwalts-
        vergütung, beseitigt. Denn der Zugang zum Recht für
        alle Bürger ist nur dann gesichert, wenn anwaltliche
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        Tätigkeit auf hohem Niveau auch in der Fläche und auch
        außerhalb großer, spezialisierter Kanzleien einträglich
        möglich ist. Genau diesem Ziel dient nun dieser Ent-
        wurf. Nach dem Ursprungsentwurf gab es aber praxisre-
        levante Fallgruppen, in denen die Vergütung der An-
        wälte nicht gestiegen, sondern gesunken wäre. Dies
        haben wir korrigiert.
        Wir konnten die Interessen weiterer Berufsgruppen,
        die justiznah tätig werden, berücksichtigten – etwa die
        Dolmetscher und Übersetzer, die Gerichtsvollzieher und
        Sachverständigen.
        Zugleich haben wir auch die Interessen der Bundes-
        länder berücksichtigt, die die Kosten der Prozesskosten-
        und Beratungshilfe finanzieren müssen. Denn wir wol-
        len mit dem vorliegenden Entwurf die Gerichtsgebühren
        zugunsten der Länder anheben. Lassen Sie mich hierauf
        etwas detaillierter eingehen, da in der Öffentlichkeit und
        auch im Rechtsausschuss die Interessenlage der Länder
        ja immer wieder thematisiert worden ist:
        Der ursprüngliche Regierungsentwurf sah einen wirt-
        schaftlichen Vorteil für die Länder vor, der sich auf etwa
        250 Millionen Euro beläuft. Fast 180 Millionen Euro
        wirtschaftlicher Vorteil hätten aus der Anpassung der
        Gerichtsgebühren resultiert. Weitere 70 Millionen Euro
        wünschten sich die Länder im Bereich der Prozess- und
        Beratungskostenhilfe. Der vorliegende Entwurf zur
        Kostenrechtsmodernisierung sieht nun auf der Einnah-
        meseite der Länder, nämlich bei den Gerichtsgebühren,
        schon einen wirtschaftlichen Vorteil von fast 300 Millio-
        nen Euro vor, nämlich 297 Millionen Euro. Darüber
        hinaus ergibt sich auch im Bereich der Prozess- und Be-
        ratungskosten eine maßvolle Einsparung von etwas über
        15 Millionen Euro. In der Summe bewegen wir uns hier
        also bei einem wirtschaftlichen Vorteil von deutlich über
        300 Millionen Euro für die Länder. Vor diesem Hinter-
        grund sind die immer wieder geäußerten Bedenken, das
        Gesetzeswerk gehe zulasten der Länder, an dieser Stelle
        nicht in vollem Umfang nachvollziehbar. Aber hier
        freuen wir uns auf einen konstruktiv kritischen Dialog
        mit dem Bundesrat. Am Ende, da bin ich mir sicher, wird
        dieses Gesetz auch die Länderkammer passieren. Denn
        es gibt nur Gewinner: bei den Justizberufen und den
        Ländern.
        Gleichzeitig haben wir auch die Perspektive der Bür-
        ger und Betriebe in diesem Land im Auge behalten.
        Denn sie müssen letztendlich die Gerichts- und andere
        Gebühren bezahlen. Daher haben wir als äußerste
        Grenze der Erhöhung in allen Bereichen einen Infla-
        tionsausgleich seit der letzten großen Gebührenreform
        gezogen. Dieser wird auch nicht im vollen Umfang aus-
        geschöpft – bei keiner betroffenen Gruppe. Daher gilt
        auch für die Bürger, dass es sich um eine maßvolle An-
        passung handelt, die letztendlich aber überfällig war, um
        den Zugang zum Recht für jedermann sicherzustellen.
        Denn die letzte umfassende Anpassung stammt immer-
        hin aus dem Jahre 1994.
        Daher werbe ich herzlich um Ihre Zustimmung.
        Jens Petermann (DIE LINKE): Den Ländern geht
        es ums Geld. Sie wollten Kosten in der Justiz einsparen,
        die Hürden für die Prozesskosten- und Beratungshilfe er-
        höhen und diese Leistungen kürzen. Außerdem forderten
        sie die Erhöhung der Gerichtsgebühren. Den Ländern
        geht es dabei um die eigene Finanzkasse und den Kos-
        tendeckungsgrad der Justiz. Wie, wo und bei wem da
        eingespart wird, ist zweitrangig. Am einfachsten geht
        das bei den Unterstützungsleistungen. Nach den Gesetz-
        entwürfen des Bundesrates sollen die Kosten für Pro-
        zesskosten- und Beratungshilfe eingedämmt werden.
        Die Bundesregierung hat das aufgegriffen und zunächst
        weitgehend die Einschnitte für Anspruchsteller mit ge-
        ringem Einkommen übernommen. Das sind die Men-
        schen, denen Sie eine angeblich weitverbreitete miss-
        bräuchliche Inanspruchnahme von Prozesskostenhilfe
        und Beratungshilfe unterstellen. Diesem in Ihren Augen
        „Sozialschmarotzertum“ sollte ein Riegel vorgeschoben
        werden. Die Verwunderung bei den Landesfinanzminis-
        tern wird sich indes in Grenzen halten, wenn wir als
        Linke im Bundestag und der Brandenburger Finanz-
        minister für soziale Gerechtigkeit einstehen und ein sol-
        ches Vorhaben nicht unterstützen, stattdessen aber das
        Vorhaben massiv kritisieren.
        Nach intensiver Beratung der Gesetzentwürfe, unse-
        rer begründeten Kritik und den Beanstandungen durch
        die Sachverständigen in der öffentlichen Anhörung hat
        das Bundesministerium der Justiz mit den Ländern einen
        Kompromiss ausgedealt. Die Länder bekommen statt
        11 Prozent nun 18 Prozent mehr Gerichtskosten, dafür
        verzichten sie auf den Großteil der Einschnitte bei der
        Prozesskostenhilfe und der Beratungshilfe. Damit sind
        die Landesfinanzminister offensichtlich zufrieden und
        ruhiggestellt. Die kleinen Leute hingegen nicht. Deshalb
        fordere ich statt der nun geringeren Einschnitte für we-
        nig begüterte Mitmenschen eine Ausweitung der Leis-
        tungen zur Unterstützung der Rechtsverfolgung sowie
        eine einfachere Antragstellung.
        Dass unsere Kritik angekommen ist, zeigt sich an
        mehreren Beispielen: So wurde von der Erhöhung der
        Ratenzahlungshöchstdauer auf 72 Monate abgesehen,
        und es bleibt nun bei der bisherigen Regelung, dass man
        vier Jahre lang die Kosten für einen verlorenen Prozess
        in Raten zurückzahlen muss. Daneben bleiben die Frei-
        beträge für Erwerbstätige und für Ehegatten unverän-
        dert. Eine Abfrage bei Arbeitgebern, Versicherern etc.
        zur Bedürftigkeit der Antragstellerinnen und Antragstel-
        ler muss auch weiterhin unterbleiben, und die Verneh-
        mung von Zeugen und Sachverständigen zur Klärung
        der Bedürftigkeit ist nicht mehr vorgesehen. Die Bera-
        tungshilfe kann man auch in Zukunft über die Anwälte
        beantragen. Am Ende haben Sie, verehrte Kolleginnen
        und Kollegen der Koalition, eingesehen, dass die angeb-
        lich ausufernden Kosten und eine überhandnehmende
        missbräuchliche Inanspruchnahme mit der Realität nicht
        viel zu tun haben. Im internationalen Vergleich zahlt die
        Bundesrepublik für die gerichtliche und außergerichtli-
        che Unterstützung der Rechtsuchenden sehr wenig – und
        das bei einer der höchsten Kostendeckungsquoten in der
        Justiz. Darüber sollten Sie sich im Klaren sein, und zwar
        bevor Sie das nächste Mal beim Zugang zum Recht spa-
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        ren und mit dem Rechtsstaat Geld verdienen wollen. Das
        haben sich die Väter des Grundgesetzes bei der Formu-
        lierung von Art. 3 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 1 und 3 näm-
        lich anders vorgestellt und mit dem Gleichheitssatz, dem
        Sozialstaats- und Rechtstaatsprinzip gleichen Zugang
        zum Recht ohne Ansehen der Person postuliert.
        Abgesehen von den Verfahren vor den Familien- und
        Sozialgerichten sind die Zahlen für Prozesskosten- und
        Beratungshilfe sogar rückläufig, sodass insgesamt so-
        wieso schon weniger Mittel als früher dafür aufgewendet
        werden müssen. Und woraus die steigenden Zahlen bei
        den Sozialgerichten resultieren, habe ich Ihnen in mei-
        nem Redebeitrag zur ersten Lesung und davor auch
        schon mehrfach gesagt. Da Sie das offensichtlich igno-
        rieren, sage ich es Ihnen heute noch einmal: Die hohen
        Verfahrenszahlen der Sozialgerichte und die damit
        zwangsläufig verbundenen vielen Anträge auf Prozess-
        kostenhilfe liegen an der grottenschlechten Hartz-IV-
        Gesetzgebung und der miserablen Arbeitsweise der Job-
        center – und eben gerade nicht am Missbrauch der Leis-
        tungen. Wenn die Aufwendungen für Prozesskostenhilfe
        vor den Sozialgerichten reduziert werden sollen, gibt es
        nur einen Weg: die Hartz-IV-Gesetze abschaffen und
        durch eine menschenwürdige Grundsicherung, die eine
        wirkliche Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermög-
        licht, ersetzen. Und genau dafür steht die Linke. Ein
        guter Beitrag wäre auch die Abschaffung der Gebühren-
        freiheit für die Jobcenter im sozialgerichtlichen Verfah-
        ren. Dann würde vor dem Hintergrund des Prozessrisi-
        kos und der damit verbundenen Kosten mehr in die
        Qualität der Arbeit und in die Rechtmäßigkeit der Be-
        scheide investiert als bisher, und die Menschen wären
        nicht so häufig auf den Rechtsweg zur Durchsetzung
        ihrer Ansprüche angewiesen.
        Nun stellt sich die Frage, welche Verschlechterungen
        die Gesetzesänderungen für die Bürgerinnen und Bürger
        mit sich bringen: Die zu einengend formulierte und
        diskriminierende Definition der Mutwilligkeit der
        Rechtsverfolgung bleibt bestehen; die Anrechnung des
        in einem Gerichtsprozess Erlangten bleibt im Entwurf
        erhalten; die Streichung des § 11 a Abs. 1 und 2 Arbeits-
        gerichtsgesetz steht ebenso noch im Entwurf, sodass
        eine automatische Beiordnung eines Rechtsanwaltes im
        arbeitsgerichtlichen Verfahren, wenn die Gegenseite an-
        waltlich vertreten ist, nicht mehr erfolgt. Damit hat sich
        Waffengleichheit zwischen Arbeitnehmer und Arbeitge-
        ber im Prozess erledigt, und das zieht einen Nachteil für
        den rechtsuchenden Arbeitnehmer nach sich. Darüber
        hinaus wird bei jedem Antrag auf Prozesskostenhilfe
        künftig der Gegner informiert und ihm Gelegenheit zur
        Stellungnahme gegeben. Das ist diskriminierend und
        verschafft dem Gegner im Prozess einen Vorteil. Jeder
        Antragsteller wird erst einmal unter den Pauschal-
        verdacht gestellt, sich ihm nicht zustehende Beihilfen er-
        schleichen zu wollen. Das tragen wir nicht mit.
        Zusammenfassend stelle ich fest, dass die verbliebe-
        nen Änderungen inhaltlich nichts bringen, aber gleich-
        wohl einen „Wink mit dem Zaunpfahl“ darstellen, um
        Antragsteller abzuschrecken und die Beantragung von
        Hilfen zur Rechtsverfolgung zu reduzieren.
        Das Zweite Kostenrechtsmodernisierungsgesetz än-
        dert auf 589 Seiten in 43 Artikeln nahezu das gesamte
        Kostenrecht der Rechtspflege. Auch hier gab es als Er-
        gebnis der Gespräche zwischen Bundesjustizministe-
        rium und den Ländern einen Änderungsantrag der Re-
        gierungskoalition. Den Ländern war daran gelegen, die
        Kostendeckungsquote zu erhöhen, egal wie. Nun hat
        man sich auf die nochmalige Erhöhung der Gerichts-
        gebühren verständigt. Damit müssen sich alle Recht-
        suchenden ab 1. Januar 2014 auf eine Erhöhung der Ge-
        richtskosten um 18 Prozent einstellen. Hier langt der
        Staat wieder einmal kräftig beim Bürger zu, obwohl die
        Kostendeckung der deutschen Justiz im internationalen
        Vergleich schon eine der höchsten ist. Bürgerfreundlich
        ist das jedenfalls nicht.
        Der Änderungsantrag bringt Verbesserungen. So
        wurde die teilweise Reduzierung des Honorars für Dol-
        metscher und Übersetzer wieder zurückgenommen und
        nach erheblichen Interventionen erhöht. Die Rechtsan-
        waltsgebührentabelle wurde ebenfalls noch einmal durch
        Anhebung jeder Gebühr um 5 Euro verändert. Auch die
        lauten Rufe der Gerichtsvollzieher nach einer Erhöhung
        des Wegegeldes um 30 Prozent wurden erhört. Diese Er-
        höhungen sind für die einzelnen Berufsgruppen im Sinne
        eines Inflationsausgleichs durchaus sinnvoll, werden
        aber die Prozesse insgesamt verteuern und höhere Aus-
        gaben für Rechtsuche und Rechtsverteidigung nach sich
        ziehen.
        Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): In
        der Sachverständigenanhörung zum Kostenrecht, über
        das wir heute debattieren, hat Dr. Matthias Kilian folgen-
        des festgestellt: „Die durchschnittlichen Aufwendungen
        der europäischen Staaten für die Justiz machen nach Er-
        hebungen des Europarats 1,9 Prozent des Staatshaushalts
        aus (Wert aus 2010). Die Aufwendungen des deutschen
        Fiskus für die deutsche Justiz liegen 16 Prozent unter
        diesem Mittelwert und betragen 1,6 Prozent. Im Ranking
        der 39 untersuchten europäischen Staaten ist der prozen-
        tuale Anteil der Kosten für das gesamte Justizsystem nur
        in 13 Staaten niedriger, aber in 25 Staaten höher als in
        Deutschland.“
        Zwei große Themenblöcke beschäftigen uns heute: Es
        geht um die Neuregelung von Gerichts-, Anwalts- und
        Notarsgebühren und um die Neuregelung von finanziel-
        len staatlichen Leistungen im Justizbereich, die Prozess-
        kosten- und Beratungshilfe.
        Ich möchte zunächst auf das Kostenrechtsmodernisie-
        rungsgesetz eingehen. Dieses Gesetz verbessert die
        Kostendeckung in der Justiz, indem es Gerichts- und
        Justizverwaltungsgebühren erhöht. Natürlich verteuert
        diese Neuregelung Gerichtsverfahren. Sie ermöglicht
        aber den Bundesländern den finanziellen Spielraum, den
        sie benötigen, um den hohen Justizstandard, den wir in
        Deutschland haben, aufrecht zu erhalten. Meine Damen
        und Herren, diesen Gesetzentwurf halte ich deshalb für
        einen gelungenen Kompromiss zwischen Bund und Län-
        dern.
        Gleichzeitig passt das Gesetz die Vergütungen der
        Rechtsanwälte, Notare, Sachverständigen, Dolmetscher
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013 30483
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        und Übersetzer an die aktuelle wirtschaftliche Entwick-
        lung an. Und dafür war es an der Zeit, meine Damen und
        Herren.
        Wenn sich die wirtschaftliche Lage im Land ändert,
        ist es notwendig, dass wir die Gesetze der wirtschaftli-
        chen Realität anpassen. Insbesondere freue ich mich,
        dass es im Rahmen der Verhandlungen über den Gesetz-
        entwurf noch zu entscheidenden Verbesserungen am Ge-
        setz gekommen ist, zum Beispiel für die Übersetzerin-
        nen und Übersetzer. Hier haben Sie, meine Damen und
        Herren von der Regierungskoalition, zu Recht die Inten-
        tion des Änderungsantrags von Bündnis 90/Die Grünen
        aufgenommen. Nicht aufgegriffen haben Sie allerdings
        unsere Forderung nach einer Angleichung der Anwalts-
        gebühren in Asylverfahren an die Gebühren in auslän-
        derrechtlichen Verfahren. Das ist schade, aber Sie haben
        jetzt noch die Chance, dies nachzuholen, indem Sie un-
        serem Änderungsantrag zustimmen. Und das wäre auch
        sachgerecht. Sowohl im Ausländer- als auch im Asyl-
        recht geht es um Aufenthaltsrechte in Deutschland. Es
        gibt keinen sachgerechten Grund dafür, Anwälte in
        Asylverfahren geringer zu vergüten als in Verfahren
        nach dem Aufenthaltsgesetz. Hier müssen wir Gleichheit
        und eine faire und rechtssystematisch sinnvolle Anpas-
        sung herstellen.
        Jetzt komme ich zu den weiteren Änderungen im Pro-
        zesskostenhilfe- und Beratungshilferecht. Ich fange mit
        der guten Nachricht an: Sie, liebe Kolleginnen und
        Kollegen von der Regierungskoalition, haben sich zu
        enormen Verbesserungen an dem Gesetzentwurf der
        Bundesregierung durchgerungen. Diese Verbesserungen
        bestehen größtenteils daraus, dass Sie die Hälfte der vor-
        gesehenen Änderungen ersatzlos aus dem Gesetzentwurf
        streichen. Die drastischsten Einschränkungen in der Pro-
        zesskosten- und Beratungshilfe, die die Bundesregie-
        rung, aber auch der Bundesrat geplant hatten, entfallen
        auf diese Weise. Die Einkommensfreibeträge werden
        nicht gesenkt. Prozesskostenhilfe wird nicht teurer. Wer
        Beratungshilfe benötigt, kann direkt einen Anwalt kon-
        taktieren und muss nicht erst beim Gericht einen Antrag
        auf Beratungshilfe stellen.
        Dies sind nicht nur gute Nachrichten für diejenigen
        Bürgerinnen und Bürger, die auf Prozesskostenhilfe an-
        gewiesen sind, sondern auch für alle, die sich für den Er-
        halt des sozialen Rechtsstaats einsetzen. In einem
        Rechtsstaat regiert nicht Geld die Welt. Der Rechtsstaat
        ist für alle da, unabhängig von ihrem Einkommen oder
        Vermögen.
        Auf die gute Nachricht folgt nun leider die schlechte
        Nachricht: Vom ursprünglichen Gesetzentwurf ist zwar
        nicht viel übrig geblieben, aber einige Verschärfungen
        will diese Regierung dennoch einführen. Das lehnen wir
        Grünen aus folgenden Gründen ab:
        Erstens: Jemand, der Prozesskostenhilfe empfängt,
        muss diese grundsätzlich – gegebenenfalls in Raten –
        zurückzahlen. Das ist selbstverständlich auch in Ord-
        nung. Die Ratenzahlung beginnt bisher allerdings ab ei-
        nem verfügbaren Einkommen in Höhe von 15 Euro.
        Diese Schwelle von 15 Euro soll nun auf 10 Euro abge-
        senkt werden. Der Aufwand des Gerichts, eine solche
        Summe einzutreiben, steht in keinem Verhältnis zu den
        geringen Mehreinnahmen der Landeskassen. Hier ist der
        Kosten-Nutzen-Effekt nicht gewahrt. Auch greifen Sie,
        meine Damen und Herren von der Regierungskoalition,
        zu tief in die sozialen Teilhabemöglichkeiten vieler
        Menschen ein, wenn Sie die Schwelle der ratenfreien
        Prozesskostenhilfe um ein Drittel senken.
        Zweitens: Das Gericht soll eine einmal bewilligte
        Prozesskostenhilfe für einen Beweisantritt wieder ent-
        ziehen können, wenn der Beweis keine genügende
        Aussicht auf Erfolg bietet. Dies bedeutet einen Verstoß
        gegen das zivilprozessrechtliche Verbot der vorwegge-
        nommenen Beweiswürdigung.
        Drittens: Das Gericht soll die Prozesskostenhilfe
        schon dann vollständig entziehen, wenn der Empfänger
        Änderungen seiner Adresse oder seines Einkommens
        aus grober Nachlässigkeit nicht richtig oder nicht unver-
        züglich dem Gericht mitteilt. Bisher kann das Gericht
        derartige Entscheidungen treffen. Dieser Unterschied
        zwischen „soll“ und „kann“ wirkt auf den ersten Blick
        klein, ist aber in der Praxis groß. Er wird dazu führen,
        dass das Gericht zukünftig die spezifische Situation des
        Prozesskostenhilfeempfängers weniger berücksichtigen
        wird, als das bisher der Fall ist.
        Meine Damen und Herren, Deutschland gibt im inter-
        nationalen Vergleich sehr wenig Geld für die Justiz im
        Allgemeinen und die Prozesskostenhilfe im Besonderen
        aus. Wenn wir wollen, dass unser Rechtssystem weiter-
        hin auch international als vorbildlich betrachtet wird,
        dürfen wir die Prozesskosten- und Beratungshilfe nicht
        weiter einschränken. Wir müssen den Zugang zum Recht
        für alle erhalten, unabhängig von ihrer finanziellen Si-
        tuation. Das ist gelebter Sozialstaat in der Justiz.
        Wolfgang Nešković (fraktionslos): Wir entschei-
        den heute unter anderem über einen Gesetzentwurf der
        Bundesregierung zur Änderung des Prozess- und Bera-
        tungshilferechts. Der Gesetzentwurf ist in seiner ur-
        sprünglichen Fassung ein Dokument bitterbösen Geizes.
        Mit dem Gesetzentwurf wollte die Bundesregierung
        die Länderhaushalte um einen jährlichen Betrag von
        70 Millionen Euro entlasten. Verteilt auf die 16 Landes-
        haushalte ergibt das Einsparungen von durchschnittlich
        4,375 Millionen Euro je Land. Für diese vergleichsweise
        lächerliche Summe war die Bundesregierung bereit, ein
        Kernprinzip des sozialen Rechtsstaats zu opfern: den
        gleichen Zugang aller Menschen zum Recht.
        Die Bundesregierung wollte die Ausgaben für Pro-
        zesskostenhilfe und Beratungshilfe senken, obwohl die
        Bundesrepublik im internationalen Vergleich schon jetzt
        zu den geizigen Staaten gehört. In Großbritannien zum
        Beispiel sind die Ausgaben etwa zehnmal so hoch, in
        den Niederlanden, Schweden und Norwegen rund fünf-
        mal so hoch wie in Deutschland.
        In obszönem Gegensatz zu dem angestrebten Einspar-
        volumen steht die maßlose Verschwendung in anderen
        Bereichen:
        Das Drohnenprojekt „Euro Hawk“ hat bislang rund
        562 Millionen Euro an Haushaltsmitteln verschlungen.
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        Am Dienstag dieser Woche ist bekannt geworden, dass
        die Bundesrepublik aus diesem Rüstungsprojekt ausstei-
        gen wird. Das bisher ausgegebene Geld ist vollständig
        verloren.
        Die Verzögerungen bei der Eröffnung des neuen
        Hauptstadtflughafens BER kosten jeden Monat 35 bis
        40 Millionen Euro. Wann der Flughafen eröffnet wird,
        weiß niemand. In absehbarer Zeit wird jedenfalls kein
        Flieger vom BER starten.
        Die milliardenschweren Euro-Rettungsschirme ha-
        ben lediglich einige private Banken retten können. Zur
        Lösung der Finanz- und Wirtschaftskrise können sie kei-
        nen nennenswerten Beitrag leisten. Hochverschuldete
        Länder wie Griechenland befinden sich tiefer in der
        Krise als zuvor.
        Bedenkenlos und ohne mit der Wimper zu zucken,
        wird Geld für ein nicht funktionierendes militärisches
        Fluggerät, einen nicht funktionierenden Flughafen und
        eine nicht funktionierende Rettung des Euros ver-
        schwendet. Ausgerechnet bei denjenigen, die ohnehin
        am wenigsten haben, soll nunmehr der Rotstift angesetzt
        werden.
        Für viele Menschen ermöglichen Beratungshilfe und
        Prozesskostenhilfe überhaupt erst den Zugang zu an-
        waltlicher Beratung und zum Gericht. Prozesskosten-
        hilfe und Beratungshilfe sollen Menschen gewährt wer-
        den, die sich bei Rechtsstreitigkeiten sonst keinen
        Anwalt leisten können. Sie dienen damit der Vermei-
        dung von Klassenjustiz. Sie sollen sicherstellen, dass
        derjenige, der recht hat, recht bekommt, auch wenn er
        arm ist. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung hätte in
        seiner ursprünglichen Fassung diesen Anspruch unter-
        graben. Er enthielt eine Ansammlung sozialstaatswidri-
        ger Scheußlichkeiten. Es seien hier nur einige genannt:
        Der Entwurf wollte die Freibeträge senken und damit
        den Kreis der Anspruchsberechtigten verkleinern, die
        Ratenzahlungsverpflichtung sollte deutlich verlängert,
        die Beiordnung von Rechtsanwälten in familien- und ar-
        beitsgerichtlichen Verfahren beschränkt und Kontrollan-
        fragen bei Arbeitgebern und Banken ermöglicht werden.
        Der Gesetzentwurf hätte die Bundesrepublik kalther-
        ziger und unchristlicher werden lassen.
        Dies war offensichtlich sogar dem Bundestag – zu-
        mindest in Vorwahlkampfzeiten – zu viel an sozialer
        Kälte. Der Entwurf wird in der ursprünglichen Fassung
        nicht verabschiedet werden. Hätte dieser Entwurf Bun-
        destag und Bundesrat passiert, dann hätte das vor allem
        die SPD als die Partei der behaupteten sozialen Restge-
        rechtigkeit endgültig disqualifiziert. Hätte die SPD ge-
        gen diesen Entwurf nicht ausreichend opponiert, dann
        hätte sie sich einen Wahlkampf unter dem Motto: „Für
        ein neues soziales Gleichgewicht in unserem Land“
        gleich an den Hut stecken können. Für diese Restehrlich-
        keit sei der SPD ausdrücklich gedankt.
        Der Entwurf der Regierung wird durch Änderungsan-
        träge des Bundestages erheblich abgeschwächt werden.
        Die Änderungen des Gesetzentwurfes waren gesetzes-
        technisch nicht schwer zu bewerkstelligen. Die Ände-
        rungsanträge beschränken sich im Wesentlichen darauf,
        Streichungen im Entwurf der Bundesregierung vorzu-
        nehmen und damit die geltende Rechtslage beizubehal-
        ten: Die Freibeträge werden nicht mehr gekürzt, die
        Ratenzahlungsverpflichtung wieder auf 48 Monaten be-
        grenzt und die Auskunftseinholung bei Dritten aufgeho-
        ben. Die Einschränkungen bei der Anwaltsbeiordnung in
        Scheidungssachen entfällt. Dies ist ausdrücklich zu be-
        grüßen.
        Bei dieser Gelegenheit wird mir bewusst, dass ich
        durch diesen Gesetzentwurf genötigt werde, sozialstaat-
        liche Selbstverständlichkeiten zu begrüßen. Es wäre aber
        darüber hinaus zwingend erforderlich gewesen, auch die
        übrigen Regelungen des Entwurfs zu streichen – noch
        besser: das ganze Gesetzeswerk ruhigen Gewissens dem
        Papierkorb anzuvertrauen. Die verbliebenen Regelungen
        haben zwar nicht mehr die sozialstaatswidrige Qualität
        der ursprünglich beabsichtigten Veränderungen. Auch
        sie sind jedoch im Einzelfall im Hinblick auf das Prinzip
        des sozialen Rechtsstaats nur schwer erträglich; besten-
        falls sind sie überflüssig.
        Die in § 114 Abs. 2 ZPO vorgesehene Legaldefinition
        des Mutwilligkeitskriteriums bringt vor dem Hinter-
        grund der bestehenden und gefestigten (Verfassungs-)
        Rechtsprechung für die Rechtsanwender keinen Nutzen.
        Die Formulierung bringt zudem nicht alle Aspekte der
        Rechtsprechung ausreichend klar zum Ausdruck. Sie
        führt insoweit zu überflüssigen und schädlichen Unwäg-
        barkeiten, die auch durch den in der Beschlussempfeh-
        lung des Rechtsausschuss „zum besseren Verständnis“
        der Norm gegebenen Hinweis nicht vollständig beseitigt
        werden können.
        Die Lockerung der zwingenden Beiordnung eines
        Rechtsanwalts in arbeitsgerichtlichen Verfahren wurde
        leider nicht aus dem Entwurf der Bundesregierung her-
        ausgestrichen. Dabei werden jedoch die strukturelle
        Ungleichheit und die besonderen Fragen und Probleme
        in Arbeitsgerichtsprozessen verkannt. In arbeitsgerichtli-
        chen Verfahren lässt sich nur schwerlich mit dem Krite-
        rium der Erfolgsaussicht und Mutwilligkeitsdefinitionen
        sinnvoll arbeiten.
        Die Regelung zur Anzeigepflicht bei einer wesentli-
        chen Verbesserung der Vermögensverhältnisse in § 120 a
        Abs. 2 ZPO wird zu einem erheblichen zusätzlichen Ar-
        beitsaufwand bei den Gerichten führen, der in der Sache
        nicht gerechtfertigt ist. Eine wesentliche Verbesserung
        soll bei laufenden Einkünften schon dann vorliegen,
        wenn das Einkommen pro Monat um mehr als 100 Euro
        brutto steigt. Da sich im Laufe der Zeit aber regelmäßig
        nicht nur das Einkommen ändert, sondern auch die Heiz-
        kosten oder andere zu berücksichtigenden Ausgaben Än-
        derungen unterliegen, muss bei jeder verhältnismäßig
        kleinen Änderung der Einkommensverhältnisse bei den
        gesamten persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnis-
        sen neu gerechnet werden, ohne dass jedoch eine Ände-
        rung der Bewilligungsentscheidung zu erwarten ist.
        Statt solcher justizpolitisch verfehlten Regelungen im
        Prozesskosten- und Beratungshilferecht wären ein grund-
        sätzliches Umdenken und eine Abkehr vom Sparkurs in
        der Justiz dringend geboten. Unabhängig von einer Kos-
        ten-Nutzen-Rechnung muss eine personell und materiell
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013 30485
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        gut ausgestattete Justiz im Rechtsstaat für jeden – ob reich
        oder arm – selbstverständlich sein. Nicht kostendeckend
        muss die Justiz im Rechtsstaat arbeiten, sondern gerecht.
        Anlage 11
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung der Anträge:
        – Rechte intersexueller Menschen stärken
        – Grundrechte von intersexuellen Menschen
        wahren
        (Tagesordnungspunkt 19 a bis c)
        Dr. Peter Tauber (CDU/CSU): Erneut haben wir
        heute die Gelegenheit, zum Thema Intersexualität zu
        sprechen. Dass das Thema im parlamentarischen Prozess
        an Bedeutung gewonnen hat, ist für uns, die wir uns nun
        seit einiger Zeit für das Thema starkmachen, eine erfreu-
        liche Entwicklung.
        Auf fachpolitischer Ebene besteht weitestgehend Ei-
        nigkeit darüber, dass insbesondere die Frage der ge-
        schlechtszuweisenden und geschlechtsanpassenden Ope-
        rationen bei Minderjährigen neu geregelt werden muss.
        Eine ganze Reihe von Berichten, aber auch die in den
        Anträgen aufgeführten Zahlen machen deutlich, dass
        vielen intersexuellen Menschen durch diese Operationen
        schlimmes Leid angetan worden ist und sie darunter
        noch heute leiden.
        Auch heute noch können Eltern stellvertretend für
        ihre Kinder in kosmetische Operationen einwilligen,
        durch die die Kinder sozusagen auf ein Geschlecht fest-
        gelegt werden sollen. Dies wiederspricht dem Prinzip
        der Selbstbestimmung aus meiner Sicht in eklatanter
        Weise und kann erhebliche negative Auswirkungen auf
        das weitere Leben der betroffenen Menschen haben. Wir
        sind uns interfraktionell darüber einig, dass diese Praxis
        beendet werden muss. Auch der Ethikrat hat eine ent-
        sprechende Forderung erhoben. Wir müssen sicherstel-
        len, dass ein medizinischer Eingriff zukünftig durch eine
        eindeutige Indikation belegt ist. Ganz besonders wichtig
        ist es, das Selbstbestimmungsrecht der jungen Menschen
        zu wahren. Dies müssen wir sicherstellen.
        Im Zentrum der Erwägungen müssen immer die Be-
        dürfnisse der betroffenen Menschen stehen. Es darf kei-
        nen Raum für medizinischen Machbarkeitswahn oder
        gefühlte Notwendigkeiten von Personen geben, die nicht
        in diesem Körper leben. Um diese Selbstbestimmung
        sicherzustellen, muss es natürlich im Umkehrschluss die
        Möglichkeit geben, bewusst eine geschlechtsanpas-
        sende Maßnahme vorzunehmen, wenn der Betroffene
        dies wünscht und eine Einwilligungsfähigkeit bereits be-
        steht.
        In den zurückliegenden Monaten ist in die gesamte
        Thematik Entwicklung gekommen. Es stimmt mich sehr
        zuversichtlich, dass es weitere konkrete Maßnahmen
        gibt. Es hat mich in diesem Zusammenhang sehr gefreut,
        dass es uns als christlich-liberaler Koalition gelungen ist,
        einen ersten Schritt im Sinne der intersexuellen Men-
        schen zu gehen und das Personenstandsrecht zu liberali-
        sieren, damit intersexuelle Menschen zukünftig nicht
        mehr gezwungen sind, sich auf eines der beiden Ge-
        schlechter festzulegen. Jetzt gilt es, weitere Schritte zu
        gehen, um den Betroffenen zu helfen.
        Viel des erlittenen Leids ist leider nicht mehr rück-
        gängig zu machen. Darum ist es auch unsere Aufgabe,
        uns im Namen des Deutschen Bundestages für das erlit-
        tene Leid zu entschuldigen und dafür Sorge zu tragen,
        dass Tatbestände aus der Vergangenheit aufgearbeitet
        werden.
        Ein weiteres berechtigtes Anliegen ist die Einrichtung
        von unabhängigen Beratungsstellen, an die sich interse-
        xuelle Menschen und ihre Angehörigen wenden können.
        Derzeit ist es sehr schwierig für Betroffene, unabhängige
        und kompetente Hilfe zu erhalten. Zum Glück gibt es
        eine kleine Zahl sehr engagierter Selbsthilfeorganisatio-
        nen, die gleichzeitig viel Wissen über Intersexualität in
        ihren Reihen vereinen.
        Wir haben einen erfreulichen Anfang gemacht bei der
        Verbesserung der Situation intersexueller Menschen.
        Diesen Weg müssen und werden wir weitergehen, auch
        wenn manch eine Forderung schneller erhoben ist, als
        sie dann auch tatsächlich umgesetzt werden kann. Dies
        dürfen wir nicht vergessen, wenn wir uns gegenseitig da-
        rin überbieten, Forderungskataloge aufzustellen.
        Ein nächster Schritt auf dem Weg in Richtung einer
        besseren Lebenssituation der intersexuellen Menschen
        ist ein umfassender Kongress, der nicht zuletzt mit Un-
        terstützung der Bundesregierung zustande kommen
        konnte. Am 22. Mai kommen Fachleute, Politiker und
        insbesondere auch intersexuelle Menschen im Rahmen
        dieses Kongresses zusammen, um konstruktiv über das
        Thema Intersexualität zu diskutieren und weitere
        Schritte vorzubereiten. Die Tatsache, dass auch die
        Ministerin anwesend sein wird, zeigt deutlich, dass das
        Thema Intersexualität bei der Bundesregierung eine
        hohe Priorität besitzt. Insofern bin ich sehr zuversicht-
        lich, dass wir die Situation für die intersexuellen Men-
        schen weiter Schritt für Schritt verbessern können.
        Christel Humme (SPD): Heute ist ein denkwürdiger
        Tag! Meines Wissens nach ist der Deutsche Bundestag
        weltweit das erste Parlament, in dem heute über ein ex-
        plizites Verbot von medizinisch nicht notwendigen „ge-
        schlechtsändernden“ bzw. „geschlechtsangleichenden“
        Operationen an intersexuellen Kindern und Jugendlichen
        debattiert wird, die ohne den ausdrücklichen Wunsch
        und die ausdrückliche Zustimmung der Betroffenen er-
        folgen.
        Ein solches Verbot ist längst überfällig, denn die bis-
        herige Praxis verstößt elementar gegen das Selbstbestim-
        mungsrecht aller Menschen. Daher freue ich mich, dass
        sowohl in unserem Antrag als auch in den Anträgen von
        Grünen und Linken diese zentrale Forderung an oberster
        Stelle steht.
        Ich hätte mir gewünscht, dass das gemeinsame Anlie-
        gen von Regierung und Opposition, die Lebenssituation
        30486 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013
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        intersexueller Menschen nachhaltig zu verbessern, auch
        in einen gemeinsamen Antrag aller Fraktionen gemündet
        wäre. Doch offenbar sehen Union und FDP nach ihrer
        Gesetzesänderung im Personenstandsrecht vom Januar
        diesen Jahres keinen weiteren Handlungsbedarf mehr.
        Die von der Regierung durchgeführte Änderung ist
        zweifellos eine Verbesserung. So heißt es nun: „Kann
        das Kind weder dem weiblichen noch dem männlichen
        Geschlecht zugeordnet werden, so ist der Personen-
        standsfall ohne eine solche Angabe in das Geburtenre-
        gister einzutragen.“ Durch diese Neuregelung wird den
        Eltern intersexueller Babies ein unnötiger und sogar ge-
        fährlicher Druck genommen, stellvertretend für ihr Kind
        eine (vor)schnelle Entscheidung über das Geschlecht ih-
        res Kindes treffen zu müssen.
        Die Folgewirkungen dieser Gesetzesänderung auf an-
        dere Rechtsgebiete wurden offensichtlich jedoch über-
        haupt nicht weiter beleuchtet. Im Interesse der Rechtssi-
        cherheit intersexueller Menschen muss die schwarz-
        gelbe Bundesregierung hier schnell Klarheit schaffen.
        In der kommenden Woche veranstaltet die Konrad-
        Adenauer-Stiftung in Berlin eine Fachkonferenz zum
        Thema Intersexualität. Das ist an sich sehr begrüßens-
        wert, vor allem weil der von uns Sozialdemokratinnen
        und Sozialdemokraten immer wieder geforderte interdis-
        ziplinäre Ansatz ebenso wie eine Beteiligung der Interes-
        sensverbände intersexueller Menschen realisiert wurde.
        Dennoch frage ich mich: Brauchen wir nach dem fun-
        dierten Bericht des Deutschen Ethikrates vom Februar
        2012 und nach der Sachverständigenanhörung des Fami-
        lienausschusses vom Juni 2012 tatsächlich noch eine
        weitere Veranstaltung, um herauszufinden, wie wir inter-
        sexuellen Menschen konkret helfen können? Mit Blick
        auf die umfassenden Anträge von SPD, Grünen und Lin-
        ken, über die wir heute debattieren, habe ich da so meine
        Zweifel. Gefragt ist nun konkretes politisches Handeln
        und keine Konferenz ohne konkrete Konsequenzen.
        Heute ist eine besondere Gelegenheit für uns als ge-
        wählte Volksvertreter, gemeinsam das Leid und das Un-
        recht, das intersexuelle Menschen in der Vergangenheit
        erfahren haben, anzuerkennen. Unser tiefes Bedauern
        sollte uns alle darin bestärken, alle Möglichkeiten, die
        wir als Gesetzgeber haben, zu nutzen, um sicherzustel-
        len, dass diese Menschenrechtsverletzungen endgültig
        der Vergangenheit angehören.
        Intersexualität ist keine Krankheit! Dementsprechend
        müssen auch der interdisziplinäre Ansatz im Umgang
        mit Intersexualität konsequent gestärkt und medizinische
        Leitlinien aktualisiert werden. Wir brauchen mehr und
        bessere Information und Aufklärung – sowohl für die
        Betroffenen und ihre Familien als auch für Beschäftigte
        in den Bereichen Medizin, Justiz und (Vor)Schule.
        Durch das in unserem Antrag geschilderte Maßnah-
        menpaket wollen wir im Zusammenspiel mit den Län-
        dern und Kommunen dafür sorgen, dass die Rechte
        intersexueller Menschen endlich umfassend gestärkt wer-
        den.
        Mechthild Rawert (SPD): Heute geht es um ein sehr
        wichtiges Thema: Es geht darum, Diskriminierungen
        und Stigmatisierungen von intersexuell, von mehrdeutig
        geschlechtlich geborenen Menschen endlich zu stoppen.
        Es geht darum, für alle Bürgerinnen und Bürger das
        Recht auf Selbstbestimmung und auf die Anerkennung
        der eigenen sexuellen Identität zu gewährleisten. Ich bin
        dankbar, dass sich an diesem gesellschaftlichen Aufklä-
        rungsprozess alle drei Oppositionsparteien mit eigenen
        Anträgen beteiligen – auch wenn ich es bedauere, dass
        es nicht möglich war, sich im Vorfeld auf einen gemein-
        samen interfraktionellen Antrag zu verständigen. Und an
        die CDU/CSU und die FDP gewandt: „Mitgefühl“ reicht
        nicht aus, um einen adäquaten Rechtsrahmen zum
        Schutz und zur Selbstbestimmung zu schaffen. Wir sind
        hier im Deutschen Bundestag der Gesetzgeber. Die Men-
        schen erwarten von uns Taten, erwarten konkrete Rege-
        lungen. Dass Sie sich dieser Aufgabe bei diesem Thema
        entziehen, enttäuscht mich und andere.
        Nichtsdestotrotz bin ich froh, dass es diese Debatte
        hier im Deutschen Bundestag überhaupt gibt.
        Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten tre-
        ten mit unserem Antrag „Rechte intersexueller Men-
        schen stärken“ dafür ein, dass sowohl ein geeigneter
        Rechtsrahmen als auch die notwendige psychosoziale
        Infrastruktur geschaffen wird, mit der die bisherigen
        physischen und psychischen Eingriffe, Diskriminierun-
        gen und Stigmatisierungen gestoppt und die gesell-
        schaftliche Akzeptanz intersexueller Menschen und ihrer
        Rechte gefördert werden.
        Der Deutsche Ethikrat hat mit seiner am 23. Februar
        2012 im Auftrag der Bundesregierung veröffentlichten
        Stellungnahme zur Situation intersexueller Menschen in
        Deutschland die Debatte zur Verbesserung der Lebens-
        situation intersexueller Menschen sehr forciert. Der
        Deutsche Ethikrat ist der Auffassung, dass intersexuelle
        Menschen als Teil gesellschaftlicher Vielfalt Respekt
        und Unterstützung der Gesellschaft erfahren müssen.
        Zudem müssen sie vor medizinischen Fehlentwicklun-
        gen und Diskriminierung in der Gesellschaft geschützt
        werden.
        Ich empfehle Ihnen, sowohl diese Stellungnahme als
        auch die Diskussionen des Onlinedialogs nachzulesen.
        Gleiches gilt für die Stellungnahmen der öffentlichen
        Anhörung des Ausschusses für Familie, Senioren,
        Frauen und Jugend am 25. Juni 2012, in der alle Sach-
        verständigen festgestellt haben: Intersexualität ist keine
        Krankheit.
        In der Vergangenheit hat die Haltung „Intersexualität
        ist eine Krankheit“ dazu geführt, dass zumeist schon so-
        fort nach der Geburt radikale medizinische geschlechts-
        zuweisende Operationen erfolgten. Ziel war es, die Norm
        der Zweigeschlechtlichkeit von „männlich“ und „weib-
        lich“ im wahrsten Sinne des Wortes „herzustellen“. Da-
        durch haben viele intersexuelle, mehrgeschlechtlich ge-
        borene Menschen großes physisches und psychisches
        Leid erfahren und leiden darunter auch noch heute. Mit-
        tels dieser geschlechtszuweisenden Operationen und der
        damit verbundenen langandauernden Hormonbehandlun-
        gen wurde das Menschenrecht auf körperliche Unver-
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        sehrtheit und auf Selbstbestimmung bei intersexuell ge-
        borenen Menschen verletzt. Dies wurde auf meiner
        Fraktion-vor-Ort-Veranstaltung „Intersexuelle Menschen
        anerkennen – Selbstbestimmung im Identitätsgeschlecht“
        am 4. September 2012 mit vielen Bürgerinnen und Bür-
        gern, mit Mitgliedern der LGBTI-Community und Be-
        troffenenvertreterinnen und -vertretern in meinem Wahl-
        kreis Tempelhof-Schöneberg auch sehr deutlich.
        Das Fazit war: Niemand hat das Recht, jemandem ein
        Geschlecht zuzuweisen. Eine inklusive Gesellschaft
        muss auch mehrdeutig geschlechtliche, intersexuell ge-
        borene Menschen mit einschließen. Und: „Mit der richti-
        gen politischen Einstellung ist alles möglich!“ So Pedro
        Muratián, der Beauftragte der argentinischen Regierung
        gegen Diskriminierung, Ausländerfeindlichkeit und Ras-
        sismus, INADI. Auch in anderen Ländern kämpfen in-
        tersexuelle Menschen seit langem um Respekt und um
        gesellschaftliche Anerkennung. In Argentinien wird uns
        vorgemacht, wie die freie Wahl der Geschlechtsidentität
        gewährleistet werden kann:
        Auf Grundlage eines Antidiskriminierungsplans wurde
        in Argentinien zunächst systematisch analysiert, wo ge-
        sellschaftliche Diskriminierungen stattfinden. Im An-
        schluss wurde eine Reihe von Gesetzen verabschiedet,
        um Diskriminierungen auf allen Ebenen zu bekämpfen.
        So dürfen gleichgeschlechtliche Ehepaare heiraten und
        Kinder adoptieren – ein Ziel, welches wir Sozialdemo-
        kratinnen und Sozialdemokraten für die Bundesrepublik
        noch nachdrücklich anstreben. Seit Mai 2012 gibt es in
        Argentinien das Gesetz „Das Recht des Menschen auf
        Geschlechtsidentität“. Dieses erhöht die öffentliche
        Wahrnehmung von intersexuellen Menschen als gleich-
        berechtigte Mitglieder der argentinischen Gesellschaft.
        Es gibt keine kosmetischen OPs im Säuglings- und Kin-
        desalter mehr. Kinder werden nicht mehr zwangsweise
        einem Geschlecht zugeordnet. Jede Person entscheidet
        zu einem späteren Zeitpunkt des Lebens selbst, welcher
        Eintrag im Pass vorgenommen werden soll. Möglich
        bleibt aber der Zugang zu Operationen und/oder Hor-
        monbehandlungen, die für die Versicherten kostenfrei
        sind. Minderjährige haben das Recht, ihr Geschlecht, ih-
        ren Namen frei zu wählen. Auch Personen aus dem Aus-
        land, die in Argentinien leben, können ihr Geschlecht
        oder ihren Namen ändern.
        In den vergangenen Monaten haben wir uns in der
        SPD-Bundestagsfraktion arbeitsgruppenübergreifend in-
        tensiv mit der Herausforderung der Gestaltung eines die
        Selbstbestimmung und das Recht auf körperliche Unver-
        sehrtheit gewährenden Rechtsrahmens sowie der Schaf-
        fung der notwendigen psychosozialen Infrastruktur für
        Intersexuelle beschäftigt.
        Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten for-
        dern die Bundesregierung mit unserem Antrag „Rechte
        intersexueller Menschen stärken“ unter anderem dazu auf:
        irreversible geschlechtszuweisende und geschlechtsan-
        passende Operationen an minderjährigen intersexuellen
        Säuglingen und Kindern vor deren Einwilligungsfähig-
        keit zu verbieten; sicherzustellen, dass dem ausdrückli-
        chen Wunsch intersexueller minderjähriger Jugendlicher
        nach geschlechtszuweisenden Operationen Rechnung
        getragen wird, unter der Voraussetzung der Einwilli-
        gungsfähigkeit; zügig für eine Präzisierung des vom
        Deutschen Bundestag am 31. Januar 2013 verabschiede-
        ten Personenstandsrechts-Änderungsgesetzes – Bundes-
        tagsdrucksache 17/10489 – zu sorgen; bei den Ländern
        darauf hinzuwirken, dass die Fristen für die Aufbewah-
        rung der Krankenakten bei Operationen im Genitalbereich
        auf mindestens 40 Jahre ab Volljährigkeit verlängert wer-
        den und intersexuellen Menschen ein ungehinderter Zu-
        gang zu ihren Krankenakten gewährleistet wird; bei den
        Ländern außerdem darauf hinzuwirken, dass das Thema
        Intersexualität fester Bestandteil der Aus-, Fort- und
        Weiterbildung von Erzieherinnen und Erziehern, Lehre-
        rinnen und Lehrern und vor allem in allen Gesundheits-
        fachberufen wird; sicherzustellen, dass intersexuelle
        Menschen stets in ein qualifiziertes interdisziplinäres
        Kompetenzzentrum zur Diagnostik und Behandlung ver-
        mittelt werden; eine Forschungsstudie in Auftrag zu ge-
        ben, die das an intersexuellen Menschen begangene Un-
        recht dokumentiert und dem Bundestag bis zum
        31. Dezember 2015 einen Bericht vorzulegen.
        Wir alle müssen lernen, dass nicht jedes Kind eindeu-
        tig als „weiblich“ oder „männlich“ geboren wird. Die
        Norm der Zweigeschlechtlichkeit ist zu überwinden. Als
        Gesellschaft tragen wir Verantwortung dafür, dass Säug-
        lingen unnötige geschlechtszuordnende Operationen er-
        spart bleiben. Den Eltern muss von Anfang an mit be-
        gleitender Beratung Unterstützung angeboten werden.
        Ärzte und Ärztinnen brauchen bessere Informationen.
        Nur mit vielfältigen differenzierten Maßnahmen wird
        eine Enttabuisierung gelingen, die Benachteiligung und
        Diskriminierung intersexueller Menschen zu stoppen,
        Vielfalt zu akzeptieren, sie zu fördern und zu lieben.
        Ich freue mich auf die Diskussionen in den Ausschüs-
        sen und lade Sie alle dazu ein, diese intensiv zu beglei-
        ten.
        Sibylle Laurischk (FDP): Dass es Menschen gibt,
        die sich nicht eindeutig als „Mann“ oder „Frau“ positio-
        nieren wollen bzw. können, löst auch heute noch starke
        Irritationen in der Gesellschaft aus. Wir halten für „nor-
        mal“ oder „natürlich“, was wir erlebt haben, was unserer
        Gewohnheit, unserer Neigung und unseren Vorlieben
        entspricht. Die Gesellschaft, Traditionen, Religion und
        selbst die Wissenschaft ist oft sehr leichtfertig und vor-
        schnell dabei, bestimmte Entwicklungen zu ihrem Maß-
        stab zu machen und alles Abweichende für „unnatürlich“
        oder „krankhaft“ zu erklären.
        Daher gab es in der Medizin die Bereitschaft, nicht
        eindeutige genitale, chromosomale oder gonadische (ge-
        netische) Geschlechtsmerkmale meist schon in frühester
        Kindheit chirurgisch vermeintlich „anzupassen“. Die
        Betroffenen können sich im Kindesalter nicht gegen die
        Eingriffe wehren und verstehen nur langsam, was ge-
        schehen ist. Sie fordern zu Recht, Intersexualität recht-
        lich und gesellschaftlich anzuerkennen. Dabei berufen
        sie sich auch auf das Diskriminierungsverbot der UN
        und das grundgesetzlich geschützte Recht auf körperli-
        che Unversehrtheit.
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        Am 31. Januar dieses Jahres haben wir hier im Ple-
        num die Änderungen im Personenstandsrecht verab-
        schiedet. In § 22 Abs. 3 wird festgelegt, dass Kinder, de-
        ren Geschlecht nicht zweifelsfrei feststeht, ohne Angabe
        von weiblich oder männlich in das Personenstandsregis-
        ter eingetragen werden können. Das Offenlassen des
        Geschlechtseintrages bei einem Kind im Geburtenregis-
        ter, das weder dem weiblichen noch dem männlichen
        Geschlecht eindeutig zugeordnet werden kann, ist ein
        Novum in der deutschen Rechtsgeschichte. Das ist ein
        großer Schritt für intersexuelle Menschen, die sich jahre-
        lang in eine gesellschaftliche Norm zwingen mussten.
        Diese Gesetzgebung erkennt nämlich an, dass es Men-
        schen in unserer Gesellschaft gibt, die nicht weiblich
        oder männlich sind. Damit ist die Koalition einer rechtli-
        chen Empfehlung des Deutschen Ethikrates gerecht ge-
        worden, der ein solches Vorgehen in ihrer Stellung-
        nahme zur Intersexualität unterstützt hat.
        Die Änderung im Personenstandsrecht ist eine bedeu-
        tende Maßnahme in der Anerkennung von intersexuellen
        Menschen. Alle rechtlichen Fragen, die aus dieser Ver-
        änderung folgen – zum Beispiel im Familienrecht oder
        Arbeitsrecht –, bleiben zu klären. Die Zeit ist reif, diese
        Fragen nachhaltig und ergebnisorientiert zu beraten. Da-
        für sollten die Zuständigkeiten der verschiedenen Res-
        sorts so schnell wie möglich geklärt werden.
        Intersexuelle Menschen müssen als Teil gesellschaft-
        licher Vielfalt Respekt und Unterstützung der Gesell-
        schaft erfahren müssen. Zudem müssen sie vor medizini-
        schen Fehlentwicklungen und Diskriminierung in der
        Gesellschaft geschützt werden. Deswegen ist eine zen-
        trale Fragestellung bezüglich Intersexualität immer
        noch, ob chirurgische Eingriffe an den Geschlechtsorga-
        nen von Menschen mit Besonderheiten der geschlechtli-
        chen Entwicklung und insbesondere bei betroffenen
        Kleinkindern überhaupt zulässig sein sollten.
        Betroffene und der Deutsche Ethikrat kritisieren aus
        diesen Gründen zu Recht die Zwangsfestlegung, insbe-
        sondere im Kindesalter, und fordern, die Genitaloperati-
        onen erst dann durchzuführen, wenn der intersexuelle
        Mensch volljährig ist, die Operation aus eigenem Willen
        möchte und ihr zustimmen kann. Chirurgische Anpas-
        sungen im Kindesalter werden von Betroffenen mit der
        unsäglichen Praxis der Beschneidung weiblicher Genita-
        lien gleichgesetzt, eine Auffassung, für die ich sehr viel
        Verständnis habe. Persönlich bin ich der Auffassung,
        dass niemand ohne Erlaubnis - und durch das Lebensal-
        ter der Betroffenen anzunehmende Einsicht – das Recht
        hat, Veränderungen an den Genitalien eines Kindes oder
        Jugendlichen vorzunehmen.
        Im Bereich Gesundheit besteht noch immer hoher
        politischer Regelungsbedarf: ob es die chirurgischen
        Eingriffe sind, die einer speziellen Norm unterliegen
        sollten, oder die Einsicht des betroffenen Menschen in
        seine Gesundheitsakte. Die Anträge der Opposition, die
        sich nicht nur im Wortlaut ähneln, sondern auch in ihren
        Forderungen, werden sich zwar der besonderen Situation
        intersexueller Menschen bewusst, verkennen aber den
        Ruf nach Freiheit und Anerkennung, der bei den Betrof-
        fenen am lautesten ist. Wie viele Geschlechtseinträge
        brauchen wir, wenn es Menschen gibt, die weder weib-
        lich noch männlich sind? Das Offenlassen des Ge-
        schlechtseintrages bietet eine freie Entscheidung für je-
        den, der sich eben nicht eindeutig entscheiden kann oder
        will.
        Die bloße statistische Seltenheit, das Unbekannte,
        Fremde oder scheinbar Unverständliche genügt oft, um
        Abweichendes zu diskriminieren. Dieses diffamierende
        Vorgehen müssen wir immer wieder thematisieren und
        eine Lösung herbeiführen, die den Betroffenen hilft und
        einer toleranten Gesellschaft Rechnung trägt.
        Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): „Luce glaubte, eine
        Patientin meines Alters sei nicht in der Lage, das We-
        sentliche zu verstehen. Daher nahm er an jenem Nach-
        mittag kein Blatt vor den Mund. Mit einer sanften, ange-
        nehmen, sauber artikulierenden Stimme erklärte Luce,
        wobei er mir direkt in die Augen sah, ich sei ein Mäd-
        chen, dessen Klitoris nur ein klein wenig größer sei als
        die anderer Mädchen. Er zeichnete mir die gleichen
        Schaubilder auf wie meine Eltern. Als ich Genaueres
        über meine Operation wissen wollte, sagte er nur das:
        Wir führen eine Operation durch, um deine Genitalien zu
        vollenden. Sie sind nicht ganz vollendet, und wir werden
        sie vollenden. … Ich saß auf meinem Stuhl und dachte
        an überhaupt nichts. Mein Kopf war seltsam leer. Es war
        die Leere des Gehorsams. Mit unfehlbarem Instinkt des
        Kindes hatte ich gemutmaßt, was meine Eltern von mir
        wollten. Sie wollten, dass ich blieb, wie ich war. Und ge-
        nau das hatte Dr. Luce versprochen.“
        Die hier beschriebene Szene stammt aus dem Buch
        Middlesex von Jeffrey Eugenides. Eugenides beschrieb
        plastisch, was viele Jahrzehnte gängige Praxis war und
        zum Teil auch heute noch jungen Menschen und sogar
        Babys angetan wird. Es geht um Intersexuelle, also Men-
        schen, die in einem streng biologischen Sinne zwischen
        den Geschlechtern stehen, weil sie gleichzeitig Merk-
        male beider Geschlechter aufweisen. Dr. Luce steht stell-
        vertretend für viele Mediziner, die ausschließlich in
        Kategorien von zwei Geschlechtern dachten und Inter-
        sexuelle mit geschlechtszuweisenden Operationen weib-
        lich oder männlich machten. Ihnen und ihren Eltern
        wurde vermittelt, dass es zu ihrem Besten geschehe. So
        wurden Eierstöcke entfernt, Klitorides zu Penissen ge-
        macht, oder es sollte wie in der hier beschriebenen
        Szene, ein kleiner Penis entfernt und eine Vagina herge-
        stellt werden.
        Heute wissen wir, dass diese Operationen fatale Fol-
        gen haben: In der Pubertät kann es dazu kommen, dass
        Geschlechtsidentität und hergestelltes Geschlecht nicht
        zusammenpassen, eine lebenslange Hormonbehandlung
        notwendig ist, vielen Betroffenen ihre Sexualität genom-
        men wird, Traumatisierungen und ein Sich-fremd-im-ei-
        genen-Körper-fühlen auftreten. Einige begingen Suizid.
        Der jugendliche Ich-Erzähler in Eugenides Ge-
        schichte floh, bevor es zur Operation kam, in die quere
        Metropole San Francisco und entging so den Folgen.
        Doch im wirklichen Leben geschieht dies nur selten.
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013 30489
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        Die Bundestagsfraktion der PDS und später Die
        Linke machten immer wieder auf die Situation von inter-
        sexuellen Menschen aufmerksam. Ich befragte mehrfach
        die Bundesregierung zu diesem Thema und erhielt regel-
        mäßig als Antwort, dass die geschlechtsangleichenden
        Operationen keine Grundrechtsverletzung darstellten
        und dass diese zum Wohle der Menschen geschehen.
        Dass dies nicht so ist, darauf verwiesen Betroffene
        schon lange. Mit dem CEDAW-Bericht im Jahre 2009
        und dem daraus resultierenden Bericht des Ethikrates
        2012 erhielten die Betroffenen endlich gewichtigen Bei-
        stand. Spätestens seit der öffentlichen Anhörung im
        Sommer letzten Jahres ist nun offensichtlich, was die
        Betroffenen schon lange wissen: Bei den frühkindlichen
        Operationen handelt es sich um eine Menschenrechts-
        verletzung, die der Gesetzgeber unterbinden muss.
        In Folge der Anhörung nahm ich mehrfach mit Kolle-
        ginnen und Kollegen aller Fraktionen des Deutschen
        Bundestags an intrafraktionellen Besprechungen teil, um
        einen gemeinsamen Antrag zur Wahrung der Men-
        schrechte von Intersexuellen in den Deutschen Bundes-
        tag einzubringen. Leider scherten die Kollegen der Re-
        gierungsfraktionen aus. Immerhin setzten sich diese
        Kollegen für eine Änderung des Personenstandsgesetzes
        ein, sodass Eltern intersexueller Kinder erstmals die
        Möglichkeit haben, keinen Geschlechtseintrag beim Per-
        sonenstand vorzunehmen. Der Gesetzgeber hat damit
        erstmals Intersexuelle im Recht anerkannt. Die Opposi-
        tion wollte sich mit dieser Änderung nicht begnügen.
        Wir trafen uns weiterhin und entwickelten einen ge-
        meinsamen Antrag. Leider wurde dieser gemeinsame An-
        trag von der Fraktionsspitze der SPD und Grünen verhin-
        dert. Aber ich möchte dies auf sich beruhen lassen; denn
        die konstruktiven Gespräche resultierten in nun drei na-
        hezu gleichlautenden Anträgen, die im Wesentlichen das
        Verbot von geschlechtsangleichenden Operationen vor
        der Einwilligungsfähigkeit, die Förderung und Unterstüt-
        zung intersexueller Menschen und eine weiter gehende
        rechtliche Anerkennung von intersexuellen Menschen
        fordern. Die Linke fordert zudem, dass mit einem Fonds
        intersexuelle Menschen, die geschlechtszuweisende Ope-
        rationen erlitten haben, unbürokratisch materiell unter-
        stützt werden.
        Die Situation intersexueller Menschen erlaubt es
        nicht, dass wir uns hier parteitaktisch verhalten. Wir
        müssen handeln, helfen, unterstützen, fördern, weitere
        Menschenrechtsverletzungen unterbinden und intersexu-
        elle Menschen anerkennen. Es gibt nicht nur zwei Ge-
        schlechter. Dies müssen wir akzeptieren.
        Monika Lazar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vor
        anderthalb Jahren haben wir im Bundestag auf Initiative
        der grünen Bundestagsfraktion zum ersten Mal über das
        Thema Intersexualität diskutiert. Bei der Debatte über
        den grünen Antrag haben sich Kolleginnen und Kollegen
        aller Fraktionen dem Thema Intersexualität mit viel Em-
        pathie zugewandt. Mit Freude habe ich bei Ihnen viel
        Verständnis gemerkt, was unsere Forderungen betrifft,
        und große Bereitschaft gespürt, den intersexuellen Men-
        schen zu helfen.
        Allerdings haben die Kolleginnen und Kollegen von
        der Koalition immer wieder auf die Arbeit des Deut-
        schen Ethikrates hingewiesen. Nun liegt seine Stellung-
        nahme nebst zahlreichen Handlungsempfehlungen seit
        über einem Jahr dem Bundestag vor. Auch darüber ha-
        ben wir bereits vor einem Jahr diskutiert.
        Als wir im November 2011 unseren Antrag einge-
        bracht haben, haben wir ihn absichtlich sehr moderat
        formuliert. Wir hofften, andere Fraktionen für das
        Thema zu sensibilisieren und sie zu einem interfraktio-
        nellen Antrag zu überzeugen. Danach haben wir Vertre-
        terinnen und Vertreter alle Fraktionen zu gemeinsamen
        Gesprächen eingeladen. Die Bereitschaft schien groß zu
        sein, intersexuellen Menschen gemeinsam zu helfen. Zu
        meinem Bedauern war das ein irrtümlicher Eindruck.
        Schon bald hat die Koalition erneut bewiesen, dass sie
        außer emphatischen Worten intersexuellen Menschen
        wenig zu bieten hat.
        Bei der Novellierung des Personenstandsrechts im Ja-
        nuar dieses Jahres hat sie vier Tage vor der abschließen-
        den Abstimmung einen Änderungsantrag eingebracht,
        der lediglich eine einzige Forderung von unserem grü-
        nen Antrag umgesetzt hat. Es wurde entschieden, dass
        bei Geburt eines intersexuellen Kindes der Personen-
        standsfall ohne Angabe zum Geschlecht in das Gebur-
        tenregister einzutragen ist. Diese grundsätzlich zu begrü-
        ßende Änderung, die der Existenz der intersexuellen
        Menschen Rechnung trägt, könnte aber auch Nachteile
        für die betroffenen Menschen bringen. Ohne gleichzeitig
        gesellschaftlicher Ausgrenzung intersexueller Menschen
        entgegenzuwirken, kann diese neue Regelung zu Stig-
        matisierung führen.
        Hat sich die Koalition überhaupt Gedanken gemacht,
        was mit intersexuellen Kindern ohne Geschlechtsantrag
        im Kindergarten oder in der Schule passiert? Sind diese
        Einrichtungen darauf vorbereitet? Wie sollen diese Kin-
        der an den Sportunterrichten teilnehmen? Wie werden
        andere Kinder und deren Eltern auf sie reagieren? Sind
        Lehrerinnen und Lehrer oder Schulpädagoginnen und
        Pädagogen für solche Situation vorbereitet?
        Für die wirkliche Unterstützung intersexueller Men-
        schen ist dagegen eine ganze Reihe von Maßnahmen er-
        forderlich, die wir in unserem neuen Antrag von der
        Bundesregierung fordern.
        Zunächst aber wollen wir, dass der Bundestag erlitte-
        nes Unrecht und Leid, das intersexuellen Menschen
        widerfahren ist, anerkennt und dies zutiefst bedauert. In-
        tersexuelle Menschen, die in der Regel mehrfachen Ope-
        rationen insbesondere im Säuglings- und Kindesalter un-
        terzogen wurden, berichten nämlich, dass sie sich als
        Opfer von Verstümmelungen sehen und ihre Gefühle,
        Wut und Hass sowie traumatische Erlebnisse noch Jahr-
        zehnte lang und sehr intensiv erleben. Auch wissen-
        schaftliche Nachuntersuchungen zeigen ein bedrücken-
        des Bild.
        Zweitens muss sichergestellt werden, dass ge-
        schlechtszuweisende und -anpassende Operationen an
        minderjährigen intersexuellen Menschen vor deren Ein-
        willigungsfähigkeit grundsätzlich verboten werden. Da-
        30490 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013
        (A) (C)
        (D)(B)
        bei muss gewährleistet sein, dass eine alleinige Einwilli-
        gung der Eltern in irreversible geschlechtszuweisende
        Operationen ihres minderjährigen Kindes – außer in
        lebensbedrohlichen Notfällen – nicht zulässig ist. Bei ei-
        ner medizinischen Indikation muss diese stets von einem
        qualifizierten interdisziplinären Kompetenzzentrum zur
        Diagnostik und Behandlung bestätigt werden.
        Drittens soll die Möglichkeit der Bestellung eines
        Verfahrensbeistands für Kinder und Jugendliche auch für
        die Fälle geschaffen werden, in denen eine Übereinstim-
        mung zwischen dem ausdrücklichen Willen der Eltern
        und dem des/der intersexuellen Minderjährigen über die
        Frage der Einwilligung in geschlechtszuweisende Ope-
        rationen besteht, damit die Rechte von intersexuellen
        Kindern und Jugendlichen gewahrt werden.
        Darüber hinaus soll intersexuellen Menschen, die an
        Folgen der geschlechtszuweisenden Operationen leiden,
        die Kosten für daraus resultierende Hormonbehandlung
        sowie – falls notwendig – psychotherapeutische Unter-
        stützung von den gesetzlichen Krankenkassen erstattet
        werden. Schließlich handelt es sich um Folgekosten
        eines Eingriffes, der die Grundrechte der Betroffenen
        verletzt hat.
        Ebenso ist es dringend notwendig, ein unabhängiges
        Beratungs- und Betreuungsangebot für betroffene Kin-
        der, deren Eltern, betroffene Heranwachsende und Er-
        wachsene, einschließlich Unterstützung ihrer Beratungs-
        und Selbsthilfeeinrichtungen, zu schaffen.
        Ungeachtet der erwähnten Änderung im Personen-
        standsrecht fordern wir in unserem Antrag die Bundesre-
        gierung dazu auf, das Personenstandsgesetz – wie vom
        Deutschen Ethikrat und dem Bundesrat vorgeschlagen –
        so zu novellieren, dass sowohl Eltern von intersexuell
        geborenen Kindern als auch intersexuelle Erwachsene
        durch die Schaffung einer weiteren Geschlechtskatego-
        rie die Möglichkeit erhalten, im Geburtenregister mit
        Wirkung für alle Folgedokumente und mit Wirkung ei-
        ner rechtlichen Gleichbehandlung dauerhaft weder eine
        Zuordnung zum männlichen noch zum weiblichen Ge-
        schlecht vornehmen müssen. Diese neue Geschlechts-
        kategorie ist gemeinsam mit den Betroffenenverbänden
        zu entwickeln.
        Darüber hinaus soll intersexuellen Menschen eine
        vereinfachte Änderungsmöglichkeit der Vornamen so-
        wie der ursprünglich durch ihre Eltern vorgenommenen
        Geschlechtskategorisierung eingeräumt und ein effekti-
        ves Offenbarungsverbot gewährleistet werden.
        Ferner beklagen intersexuelle Menschen, dass ihnen
        der Zugang zu ihren Krankenakten verwehrt bleibt. Oft
        erfahren sie über an ihnen im Säuglings- und Kindesalter
        durchgeführten Operationen erst im Erwachsenalter,
        wenn die ganze medizinische Dokumentation nicht mehr
        existiert. Deshalb ist es notwendig, eine Sonderregelung
        zu schaffen, nach der die Fristen für die Aufbewahrung
        von Krankenakten bei Operationen im Genitalbereich
        auf mindestens 40 Jahre ab Volljährigkeit verlängert
        werden und ein ungehinderter Zugang zu ihren Kranken-
        akten gewährleistet wird.
        Schließlich soll das bisher tabuisierte Thema Inter-
        sexualität in Fort- und Weiterbildungsangeboten für die
        Angehörigen der beteiligten Gesundheitsberufe inte-
        griert werden.
        Ebenfalls soll das Thema ein fester Bestandteil des
        Schulunterrichts, beispielsweise in den Fächern Biolo-
        gie, Sozialkunde oder Ethik, als auch bereits der früh-
        kindlichen Bildung sein, da schon in der Kita Vorurteile
        entstehen und Stigmatisierung intersexueller Menschen
        entgegengewirkt werden sollte. Darüber hinaus soll es
        weiter möglichst interdisziplinär unter Beteiligung von
        Kultur- und Gesellschaftswissenschaften sowie der Be-
        troffenenverbände erforscht werden.
        Neben dem grünen Antrag diskutieren wir heute auch
        über zwei Anträge der Fraktionen der SPD und Die
        Linke. Ich begrüße ausdrücklich die beiden Initiativen,
        die ähnliche Forderungen an die Bundesregierung stel-
        len.
        Ich wünsche mir aber, dass auch die Koalitionsfrak-
        tionen das Thema ernst nehmen und gemeinsam mit uns
        intersexuellen Menschen und deren Familien helfen. Wir
        sind für die Zusammenarbeit stets bereit. Seien sie es
        endlich auch!
        Anlage 12
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung :
        – Entwurf eines Gesetzes zur Verwaltungsver-
        einfachung in der Kinder- und Jugendhilfe
        (Kinder- und Jugendhilfeverwaltungsver-
        einfachungsgesetz – KJVVG)
        – Beschlussempfehlung und Bericht zu den
        Anträgen:
        – Mit einer eigenständigen Jugendpolitik
        Freiräume schaffen, Chancen eröffnen,
        Rückhalt geben
        – Eigenständige Jugendpolitik Selbstbe-
        stimmt durch Freiheit, Gerechtigkeit,
        Demokratie und Emanzipation
        – Unterrichtung : Bericht über die Lebens-
        situation junger Menschen und die Leistun-
        gen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutsch-
        land – 14. Kinder- und Jugendbericht und
        Stellungnahme der Bundesregierung
        – Antrag: Chancengleichheit für Kinder und
        Jugendliche fördern – Konsequenzen aus
        dem 14. Kinder- und Jugendbericht ziehen
        (Tagesordnungspunkte 20 a bis 20 d)
        Florian Bernschneider (FDP): Es heißt in der PR-Spra-
        che ja immer „Bad news are good news“. Aber da werde
        ich heute gerne den Spielverderber mimen, denn es gibt
        vor allem Gutes zu vermelden: Viele Länder Europas
        beneiden uns für unsere Erfolge, um unsere gute Jugend-
        arbeit, um unsere Erfolge auf dem Arbeits- und Ausbil-
        dungsmarkt, die gerade jungen Menschen den Berufs-
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013 30491
        (A) (C)
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        eintritt bzw. das Finden einer Ausbildungsstelle enorm
        erleichtern. Die duale Ausbildung, die SPD und Grüne ja
        am liebsten verschulen würden, mausert sich mittler-
        weile zu einem richtigen Exportschlager. All diese Er-
        folge sind eine eindrucksvolle Bestätigung unserer Ar-
        beit, der Arbeit von Union und FDP, für junge Menschen
        in den vergangenen gut dreieinhalb Jahren. Wir können
        mit Stolz sagen, dass wir mehr als nur solide gearbeitet
        und gute Ergebnisse geliefert haben.
        Die Basis für viele Erfolge ist natürlich die gute wirt-
        schaftliche Entwicklung gewesen. Aber auch die Kinder-
        und Jugendarbeit benötigt, wie jedes Haus, eine solide
        Basis, ein Fundament, auf das aufgebaut werden kann.
        Dieses Fundament bildet das Kinder- und Jugendhilfege-
        setz, KJHG. Dieses Fundament stärken wir mit dem vor-
        liegenden Kinder- und Jugendhilfeverwaltungsvereinfa-
        chungsgesetz, KJVVG, indem wir wichtigen Initiativen
        der letzten Jahre, vom Jugendhilfeweiterentwicklungs-
        gesetz bis hin zum Kinderförderungsgesetz, Rechnung
        tragen. Auch die Stärkung der Rechte leiblicher, nicht-
        rechtlicher Väter findet mit dem vorliegenden Gesetz-
        entwurf seinen Niederschlag im SGB VIII, was meine
        Fraktion ausdrücklich begrüßt.
        Neben diesem Fundament benötigen wir aber noch
        mehr. Stabile Wände und tragfähige Decken, die unse-
        rem Haus einen Rahmen geben. Übersetzt auf die heu-
        tige Debatte bedeutet dies: Eine gute Kinder- und Ju-
        gendarbeit muss am Puls der Zeit arbeiten, sich selbst,
        ihre Verfahren und Instrumente immer wieder hinterfra-
        gen, wenn sie auf neue Entwicklungen gut und präventiv
        reagieren können will. Einen wichtigen Fingerzeig gibt
        hier der neue 14. Kinder- und Jugendbericht, der eben-
        falls heute in erster Lesung Gegenstand der Debatte ist.
        Und dieser Bericht bestätigt im Großen und Ganzen die
        Arbeit dieser Regierung. Nicht umsonst wird gleich zu
        Anfang durch die Autoren festgestellt, dass es Kindern
        und Jugendlichen noch nie so gut ging wie heute. Die
        überwiegende Mehrheit der Kinder und Jugendlichen
        wächst in ökonomisch und sozial gesicherten Verhältnis-
        sen auf.
        Die Tatsache, dass es wenig zu meckern gibt, unter-
        streicht auch der vorliegende Antrag der SPD-Fraktion
        zum Bericht. Denn im Forderungsteil finden sich kaum
        Punkte, die sich auf diesen Bericht zurückführen lassen.
        Vielmehr erliegt die SPD-Fraktion zum wiederholten
        Male der Versuchung, alte Anträge noch einmal zu recy-
        celn. So sind etliche Punkte, wie etwa die Forderung
        nach einem neuen Ganztagsschulprogramm des Bundes,
        was derzeit aufgrund des Kooperationsverbotes von
        Bund und Ländern ausgeschlossen ist, das Begehr nach
        der Stärkung der in der Verantwortung der Länder lie-
        genden Schulsozialarbeit oder die Forderung, Ombuds-
        stellen in der Kinder- und Jugendhilfegesetzgebung zu
        verankern, altbekannt. Vor allem aber liegen sie nicht in
        der Zuständigkeit des Bundes. Daher bringen sie uns
        nicht in Verlegenheit. Der Antrag zeugt vor allem von ei-
        ner gewissen Ratlosigkeit und argumentativer Erschöp-
        fung der Antragssteller.
        Denn jedes Mal, wenn es darum ging, den Schutz von
        Kindern und Jugendlichen im SGB VIII voranzutreiben
        – ich erinnere nur an die Verhandlungen zum Bundeskin-
        derschutzgesetz –, standen ausgerechnet Sie und ihre
        rot-grünen Landesregierungen auf der Bremse und lie-
        ßen keine Möglichkeit ungenutzt, sich jedes noch so
        kleine Zugeständnis im Bundesrat doppelt und dreifach
        teuer abkaufen zu lassen. Deshalb wäre es mehr als nur
        an der Zeit, dass Sie, bevor Sie hier neue Millionenbelas-
        tungen für die Länder durch die Einführung eines Om-
        budsstellensystems in der Kinder- und Jugendhilfe for-
        dern, sich erstmal mit Ihren eigenen Landesregierungen
        einig werden und vor allem dafür sorgen, dass sinnvolle
        und weniger kostenintensive Maßnahmen nicht im Bun-
        desrat blockiert werden.
        Die christlich-liberale Koalition hingegen kann für
        sich zu Recht in Anspruch nehmen, den Menschen nicht
        das Blaue vom Himmel zu versprechen, sondern die
        wichtigsten Punkte ihrer Agenda zuverlässig abgearbei-
        tet zu haben. Gerade für die ersten Monate und Jahre im
        Leben der Kinder hat diese Regierung in dieser Legisla-
        tur viel geleistet. So ist es uns gelungen, mit dem Bun-
        deskinderschutzgesetz wichtige Ergebnisse der Runden
        Tische „Heimerziehung in den 50er- und 60er-Jahren“
        und „Sexueller Kindesmissbrauch“ aufzunehmen und
        umzusetzen. Mit der Einführung der Frühen Hilfen und
        der Familienhebammen geht der Bund einen weiteren
        wichtigen Schritt, um die Begleitung von jungen Eltern
        und Neugeborenen zu verbessern. Den Ausbau der Kin-
        derbetreuung bringen wir mit einem 10-Punkte-Plan, der
        dazu beiträgt, die Kindertagespflege und die betriebliche
        Kinderbetreuung zu stärken, sowie insgesamt 5,4 Mil-
        liarden Euro von Bundesseite voran. Dazu begleiten wir
        die Ausbaubemühungen mit einer Fachkräfteoffensive.
        Ferner ist auch die Offensive Frühe Chancen zu nen-
        nen, mit der wir bis 2014 rund 400 Millionen Euro für
        rund 4 000 Schwerpunktkitas Sprache und Integration
        bereitstellen und somit gezielte Integrationsförderung
        betreiben – für die Zukunft unseres Landes. Auch auf
        das Programm „Elternchance ist Kinderchance“, durch
        das bis zu 4 000 Fachkräfte zu Elternbegleitern fortge-
        bildet werden sollen, möchte ich hinweisen und auch
        nicht unerwähnt lassen, dass wir mit dem derzeit in der
        parlamentarischen Beratung befindlichen Gesetzent-
        wurf zur Vertraulichen Geburt den Schutz von Schwan-
        geren und Neugeborenen weiter verbessern wollen.
        Als jugendpolitischer Sprecher meiner Fraktion will
        ich nicht verhehlen, dass die Jugendpolitik, angesichts
        dieser Erfolge, allzu häufig vergessen wird oder in den
        Hintergrund tritt. Aber wie es sich für ein ordentliches
        Haus gehört, benötigt man nicht nur ein gutes Funda-
        ment, stabile Wände und Decken, sondern auch ein gutes
        Dach, unter dem Träume in die Höhe wachsen können.
        Deshalb haben Union und FDP mit der Allianz für Ju-
        gend und dem Antrag zur Formulierung einer eigenstän-
        digen Jugendpolitik einen Prozess angestoßen, der weit
        über diese Legislatur hinaus reichen wird und alle rele-
        vanten Akteure beteiligt. Und mit dem Führerschein
        ab 17, dem Deutschlandstipendium, der BAföG-No-
        velle, der Verlängerung des Programmes „Schulverwei-
        gerung – die 2. Chance“, dem Programm „Bildungs-
        ketten“, der Sommerferienjobregelung im ALG II und
        zuletzt mit der Ergänzung des Baugesetzbuches, die
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        klarstellt, das Kinder und Jugendliche bei sie unmittelbar
        betreffenden Bauvorhaben zu beteiligen sind, haben wir
        einiges bewegt. Vor allem aber haben wir in der Real-
        politik deutlich gemacht, was Sie sonst nur in Sonntags-
        reden fordern; nämlich dass Jugendpolitik eine Quer-
        schnittsaufgabe ist.
        Daran können halbgare Behauptungen wie im Antrag
        der Grünen zur Jugendpolitik, dass sich immer mehr Ju-
        gendliche in Deutschland mit geringen Chancen auf ge-
        sellschaftliche Teilhabe vernachlässigt und von der Ge-
        sellschaft zurückgelassen fühlen, nichts ändern. Im
        Übrigen widerlegt der 14. Kinder- und Jugendbericht ge-
        rade diese Behauptung eindrucksvoll. Die Grünen üben
        sich in Schwarzmalerei.
        Ähnlich sieht es beim Antrag der SPD aus. Auf der ei-
        nen Seite fordern Sie viele wünschenswerte Dinge, zum
        Beispiel im Bildungsbereich, wohl wissend, dass der
        Bund hier kaum tätig werden kann. Auf der anderen
        Seite stellen Sie erneut viele wohlklingende Forderun-
        gen auf, ohne die Finanzierung mitzubedenken. Ich habe
        Sie bereits in der ersten Beratung auf die vielen Frage-
        zeichen des Antrags hingewiesen. Aber auch die Aus-
        schussberatungen haben Sie, liebe Kolleginnen und Kol-
        legen der SPD, leider nicht genutzt, um etwas mehr
        Licht ins Dunkel zu bringen. Bis heute ist unklar, was
        Sie genau unter einem Jugendpolitik-TÜV verstehen und
        welche Indikatoren Sie für eine „gute Jugendpolitik“ he-
        ranziehen wollen. Das ist schlicht ungenügend.
        Wenn wir den letzten Berufsbildungsbericht, den
        Tiefststand der Jugendarbeitslosigkeit, den 14. Kinder-
        und Jugendbericht, die aktuellen Arbeitsmarktdaten, die
        niedrige Schulabbrecherquote und vieles mehr Revue
        passieren lassen, wird eines überdeutlich: Wer behaup-
        tet, diese Regierung habe in der Kinder- und Jugendpoli-
        tik, wenn wir sie als Befähigungspolitik ausbuchstabie-
        ren, ihre Hausaufgaben nicht gemacht, der ist gehörig
        auf dem Holzweg.
        Damit wird auch klar, dass die Behauptungen der Op-
        position, diese Regierung täte nichts für Jugendliche, ja
        sie würde die Interessen von Jugendlichen gar vernach-
        lässigen, an den Haaren herbeigezogen sind. Denn wenn
        Union und FDP alles falsch gemacht hätten, wäre ich der
        Opposition – insbesondere SPD und Grünen – doch sehr
        verbunden, wenn sie erläutern könnte, warum Ihre ei-
        gene jugendpolitische Bilanz in Sachen Zukunftschan-
        cen, Bildung und Ausbildung im Vergleich zu unserer so
        grottenschlecht aussieht. Dafür muss es ja Gründe ge-
        ben. Vielleicht sollten Sie die verbleibende Zeit dieser
        Wahlperiode nutzen, um einmal in sich zu gehen und da-
        rüber nachzudenken.
        Wir, Union und FDP, können stolz auf die vergange-
        nen fast vier Jahre blicken. Unsere Bilanz in der Kinder-
        und Jugendpolitik ist sehr gut, die Zahlen stimmen, die
        Perspektiven auch. Es waren vier gute Jahre. Um im ein-
        gangs von mir aufgezeigten Bild zu bleiben: Das Haus
        steht, es ist stabil, die Wände sind gerade, die Decken
        tragen, das Dach ist solide. Jetzt können wir uns dem
        Garten widmen.
        Diana Golze (DIE LINKE): Was wir in der gestrigen
        Sitzung des Familienausschusses erleben konnten, war
        einmal mehr ein Beispiel dafür, mit welcher Herange-
        hensweise von dieser Regierungskoalition und der sie
        tragenden Fraktionen eines der wichtigen Zukunftsthe-
        men – die Kinder- und Jugendpolitik – abgehandelt
        wird. Nicht nur, dass dieser Themenbereich ohnehin
        schon äußerst selten durch Initiativen der Regierungs-
        parteien auf der Tagesordnung des dafür zuständigen
        Ausschusses steht: Die Taktik scheint entweder Ver-
        schleppung der notwendigen Maßnahmen zur Weiterent-
        wicklung und Verbesserung der Angebote für Kinder-
        und Jugendliche oder aber eine Scheintätigkeit in den
        Punkten, zu denen die Regierung sich mit ihren eigenen
        Vorgaben verpflichtet, zu sein. Beide Eindrücke wurden
        gestern auf beispiellose Art und Weise untermauert. Zu-
        nächst wurde gestern im Ausschuss der nun zu beschlie-
        ßende Gesetzentwurf der CDU/CSU- und FDP-Fraktio-
        nen zur Vereinfachung in der Kinder- und Jugendhilfe
        behandelt. Dieser Entwurf behandelt längst überfällige
        Schritte.
        So zum Beispiel eine Klarstellung in Sachen Förde-
        rung der Jugendorganisationen von Parteien und ihrer
        Arbeit. Interessant dabei: Der Jugendverband der Linken
        musste eine solche erst auf dem gerichtlichen Weg ein-
        klagen. Über Jahre hinweg wurde diesem Jugend-
        verband vorenthalten, was anderen parteilichen Jugend-
        verbänden seit Jahren gewährt wird. Auch jetzt wird
        lediglich die Förderfähigkeit grundsätzlich festgeschrie-
        ben. Konkrete Maßnahmen? Fehlanzeige! Stattdessen
        Verschleppung, Handlungsunwillen an den Stellen, wo
        Entscheidungen und Maßnahmen notwendig wären.
        Dass die Regierung einmal mehr versucht, wichtige
        Leistungen des Kinder- und Jugendhilfegesetzes durch
        sogenannte Vereinfachungs- und Bürokratieabbaumaß-
        nahmen zu beschneiden, war und ist nicht wirklich über-
        raschend. Umso erfreulicher ist, dass die vorgesehene
        Regelung zur Vereinfachung der Kostenbeteiligung
        junger Menschen und ihrer Eltern in der Kinder- und Ju-
        gendhilfe bei stationären und teilstationären Leistungen
        sowie vorläufigen Maßnahmen wirklich noch einmal in
        einem Fachausschuss nachverhandelt wurde und durch
        – kurz vor der Ausschusssitzung – eingereichte Ände-
        rungen der Koalitionsfraktionen soziale Härten verhin-
        dert werden. Eine Regelung, die keinerlei Anpassung der
        Kostenbeiträge vorsieht, wenn das Einkommen der El-
        tern im Laufe einer Maßnahme sinkt, wäre aus unserer
        Sicht nicht mit dem Grundgedanken des SGB VIII ver-
        einbar.
        Dass man im Fachausschuss dann aber auch partei-
        übergreifend und sachorientiert arbeitet, wäre wohl zu
        viel des Guten gewesen. So wurde ein fast gleichlauten-
        der Änderungsantrag unserer Fraktion abgelehnt.
        Zu den Regelungen zum Umgang von Kindern mit ih-
        ren leiblichen, aber nicht rechtlichen Vätern, die dieser
        Gesetzentwurf regelt, wurde die Regierungskoalition
        eher gejagt als getragen, und bei der Befristung der Hil-
        fen für die Betreuung von Kindern in Pflegefamilien
        muss der Gesetzentwurf weiterhin an Provisorien fest-
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013 30493
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        halten, weil die Ministerin Schröder auch hier ihre Haus-
        aufgaben nicht gemacht hat.
        Schließlich rund wird das Resümee – welches man
        gleichermaßen für die gestrige Ausschusssitzung wie
        auch für das Engagement der Bundesregierung in Sa-
        chen Kinder- und Jugendpolitik ziehen kann – mit der
        Behandlung des 14. Kinder- und Jugendberichtes. Es
        wird einmal mehr deutlich: Diese Regierung – und vor
        allem diese Familienministerin – will an den sich immer
        mehr verschärfenden Zuständen in der Kinder- und Ju-
        gendhilfe nichts ändern, ja sie nicht einmal zu Kenntnis
        nehmen. Wie sonst ist es zu erklären, dass man umfas-
        sende Expertisen wie den Kinder- und Jugendbericht
        monatelang in den Schreibtischschubladen des Familien-
        minsteriums schlummern lässt?
        Wer vier Jahre lang einen gesamten Politikbereich
        sträflich vernachlässigt, der, Frau Schröder, darf sich
        nicht wundern, wenn die Bewertung in Sachen Kinder-
        und Jugendpolitik „ungenügend“ lautet.
        Ulrich Schneider (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        Wir reden heute spät nachts über einen bunten Strauß an
        Anträgen und Berichten. Die Koalition versucht auf die-
        sem Weg, ihre Versäumnisse und Baustellen unter den
        Teppich zu kehren und mit wenigen, kleinen Verbesse-
        rungen im Kinder- und Jugendhilfeverwaltungsvereinfa-
        chungsgesetz vergessen zu machen. Vorweg, damit wir
        uns nicht falsch verstehen: Die im Kinder- und Jugend-
        hilfeverwaltungsvereinfachungsgesetz vorgeschlagene
        Fristverlängerung, wenn im Rahmen der Eingliede-
        rungshilfe in einer Pflegefamilie Kinder mit Behinde-
        rung betreut werden, ist geboten und sinnvoll.
        Aber schon bei der Finanzierung der Jugendorganisa-
        tionen der Parteien wird planlos und parteipolitisch mo-
        tiviert gehandelt. Die Regierung vollbringt hier das
        Kunststück, ein Gesetz zu schaffen, das die Rechtsunsi-
        cherheit bei Jugendorganisationen noch vergrößert. Da-
        durch wird das Kinder- und Jugendhilfeverwaltungsver-
        einfachungsgesetz zum besten Beispiel für das, was der
        14. Kinder- und Jugendbericht der Regierung attestiert:
        Die Lebenssituation vieler Jugendlicher hat sich in den
        letzten Jahren verschlechtert, nicht verbessert.
        Völlig unstrittig ist: Die Jugendlichen sind zu kurz
        gekommen, ja vergessen worden. Die Belange Jugendli-
        cher wurden nicht thematisiert, sondern „problemati-
        siert“. Wenn diese Altersgruppe in den Fokus gerät, dann
        um zur Risikogruppe stilisiert zu werden.
        Der 14. Kinder- und Jugendbericht hält fest, dass es
        immer noch nicht wirklich gelungen ist, die Jugend als
        eigenständiges Lebensalter wahrzunehmen, die Jugend
        in ihrer Gesamtheit in den Blick zu nehmen, Jugend
        nicht immer problembehaftet zu diskutieren und so Ju-
        gendliche abzustempeln und zu stigmatisieren. Dabei
        besitzt keine andere Gesellschaftsgruppe so viel Kraft,
        Engagement und Leidenschaft, wie unsere Jugend.
        Schauen Sie sich doch mal in den Freiwilligendiensten
        um!
        Aber die Bundesregierung traut ihnen nicht und erst
        recht traut sie ihnen nichts zu. Die Koalition attestiert
        der jungen Generation die Unfähigkeit, eigenständig zu
        denken und sich politisch zu engagieren. Als Argument
        dafür muss der fraglos benötigte Ausbau von Hilfsmaß-
        nahmen für junge Erwachsene herhalten. Was für eine
        Arroganz!
        Umgekehrt müsste als ein erster und nicht als der ein-
        zige Schritt zu echter Partizipation das Wahlalter auf
        mindestens 16 Jahre gesenkt werden. Diese Maßnahme
        im Kampf um mehr Beteiligung wurde von den Koali-
        tionsfraktionen als Feigenblatt der Jugendbeteiligung
        und sogar als realitätsfern und falsch bezeichnet. Das
        spricht Bände hinsichtlich des Bildes von Jugendlichen,
        das ihrer Jugendpolitik zugrunde liegt. Echtes Mitent-
        scheiden? Nicht mit Schwarz-Gelb!
        Eine eigenständige Jugendpolitik, die diesen Namen
        verdient, erfordert Maßnahmen. Wir müssen Jugendli-
        che an allen politischen Entscheidungen quer durch die
        Ministerien beteiligen, nicht nur bei kinder- und jugend-
        spezifischen Themen. Bei allen politischen Entscheidun-
        gen müssen wir uns die Frage stellen: Was bedeutet das
        für die junge Generation – heute und in der Zukunft?
        Dafür brauchen wir die angemessene Beteiligung der
        Jugendlichen an der Politik. Denn hört man den Jugend-
        lichen einmal zu und redet nicht immer nur über sie,
        dann stellt man sehr schnell fest, dass sie sehr wohl in
        der Lage sind, mitzuentscheiden. Aber es mangelt an
        echten Entscheidungsmöglichkeiten.
        Der Bericht der Bundesregierung beschäftigt sich um-
        fassend mit der Situation von Kindern und Jugendlichen
        in unserem Land. Es ist befremdlich, dass die europäi-
        sche Perspektive komplett fehlt. Auch jugendpolitisch
        müssen wir in Deutschland den Blick auf die europäi-
        sche Ebene weiten. Gerade die junge Generation fühlt
        sich längst nicht mehr nur als Deutsche oder Franzosen,
        sondern in erster Linie als Europäerinnen und Europäer.
        Trotzdem ist für die Bundesregierung anscheinend die
        europäische Dimension von Jugendpolitik überhaupt
        nicht von Interesse. Es darf uns doch nicht kaltlassen,
        dass in unseren europäischen Nachbarländern durch im-
        mens hohe Jugendarbeitslosigkeit von mittlerweile über
        65 Prozent eine ganze Generation gesellschaftlich und
        ökonomisch zerstört wird. Hier müssten wir dringend
        unsere Solidarität unter Beweis stellen.
        Es ist entlarvend, dass uns Oppositionsfraktionen vor-
        geworfen wird, wir würden Forderungen stellen, die
        keine Bundeskompetenz seien. Darauf kann ich nur ant-
        worten: Im Gegensatz zur Koalition haben wir eine
        ganzheitliche Vorstellung davon, welche Maßnahmen
        Jugendliche brauchen, und schieben keine Kompetenz-
        argumente vor, um echten Wandel zu verhindern. Viel-
        mehr koordinieren wir uns eng mit den Ebenen, auf de-
        nen andere Schritte gegangen werden müssen.
        Denn genau das ist es doch, was von uns, den Politi-
        kerinnen und Politikern, erwartet wird: dass wir mit Un-
        terstützung von Verbänden und zivilgesellschaftlichen
        Organisationen Jugendpolitik als eigenes Politikfeld eta-
        blieren. Unser Antrag tut genau das: Er schafft die
        Grundlage, auf der Jugendpolitik gestaltet werden kann
        und beschreibt darüber hinaus konkrete gesetzliche
        Maßnahmen für eine echte eigenständige Jugendpolitik.
        30494 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013
        (A) (C)
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        Absolut zentral für ist dabei auch die starke Unterstüt-
        zung durch Jugendverbände, weil diese Freiräume für
        Jugendliche schaffen und ihnen demokratische Teilhabe
        ermöglichen. Dafür muss die Politik langfristig stabile
        Grundlagen schaffen. Ohne Extremismusklauseln und
        Kürzungen, sondern durch Vertrauen und die nötige fi-
        nanzielle Ausstattung – im Kinder- und Jugendplan.
        Seit über drei Jahren diskutiert die Bundesregierung
        nun schon, was eine eigenständige Jugendpolitik sein
        soll, welche Grundsätze und Ziele vereinbart werden.
        Jetzt ist die Zeit der Sonntagsreden vorbei, jetzt ist die
        Zeit, diese Jugendpolitik auch umzusetzen. Jetzt ist die
        Zeit für eine eigenständige und emanzipatorische Ju-
        gendpolitik. Und nachdem Schwarz-Gelb hier vier Jahre
        vertan hat, werden wir dies im Herbst angehen.
        Anlage 13
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung der Entwürfe: Gesetz zur Ände-
        rung des Gesetzes über die Kreditanstalt für
        Wiederaufbau und weiterer Gesetze (Tagesord-
        nungspunkt 22)
        Bettina Kudla (CDU/CSU): Es ist die Koalition, die
        die richtigen Schlüsse aus der Krise am Finanzmarkt ge-
        zogen hat: Wir wollen und wir brauchen eine stabile
        Währung.
        Hierzu brauchen wir stabile öffentliche Haushalte,
        eine stabile Wirtschaft und stabile Finanzmärkte.
        Stabile Finanzmärkte erfordern Vertrauen, damit
        diese auch funktionieren. Transparenz und klare Spielre-
        geln sind hier von essenzieller Natur. Daher hat es sich
        diese Koalition zur selbstverpflichtenden Aufgabe ge-
        macht, dass kein Institut, kein Produkt, kein Manager im
        Finanzsektor unreguliert oder unbeaufsichtigt bleiben
        soll. Für Risiken kommen diejenigen auf, die diese Risi-
        ken eingegangen sind. Jeder Einzelne haftet für sein
        Handeln am Markt. Diesen neuen Ordnungsrahmen setzt
        die Koalition seit Beginn der Wahlperiode konsequent
        um.
        Daher ist es ebenso konsequent, die KfW als wichti-
        gen Kreditgeber für die deutsche Wirtschaft und als
        wichtigen Akteur am Finanzmarkt durch die Bundesan-
        stalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, BaFin, anstatt
        wie bisher durch das BMF, zu beaufsichtigen. Obgleich
        beaufsichtigt, berücksichtigen wir gleichzeitig den be-
        sonderen Förderauftrag und belassen die KfW in der na-
        tionalen Bankenaufsicht.
        Mit dem Gesetz erhält die KfW erstmals echte
        Rechtssicherheit über die zu erfüllenden bankenauf-
        sichtsrechtlichen Auflagen, von denen sie bislang ausge-
        nommen war, die sie aber zum großen Teil freiwillig ein-
        hält.
        Kern des Gesetzes ist der neu in das KfW-Gesetz ein-
        zufügende § 12 a. Dieser bestimmt per Verordnungser-
        mächtigung für das Bundesfinanzministerium im Beneh-
        men mit dem Bundeswirtschaftsministerium, welche
        Vorschriften zukünftig durch die KfW bzw. die KfW-
        Gruppe explizit zu beachten sind. Das Rechtsmittel einer
        Verordnung wurde hier gewählt, um flexibel und zeitnah
        auf Veränderungen bankenaufsichtsrechtlicher Vor-
        schriften oder auf Veränderungen in der „deutschen För-
        derlandschaft“ reagieren zu können.
        Mit dem Gesetz wird die KfW in weiten Teilen den
        übrigen Kreditinstituten aufsichtsrechtlich gleichgestellt;
        allerdings ohne den besonderen Förderauftrag unberück-
        sichtigt zu lassen. Daher bleibt die KfW als Förderbank
        von europarechtlichen Auflagen ausgenommen, obliegt
        als drittgrößte Bank Deutschlands mit einer Bilanz-
        summe von über 500 Milliarden Euro jedoch einer nun
        gesetzlich manifestierten Aufsichtsregelung. Dies dient
        der Rechtssicherheit für die KfW wie auch der Sicher-
        heit für den Bund, der für die KfW garantiert. Diese Si-
        cherheit ist auch im Interesse der Steuerzahler, mit deren
        Steuergeldern letztendlich die Garantie untermauert ist.
        Gleichzeitig bleibt die KfW weiterhin ohne Ein-
        schränkung als Förderbank auch für die kleinen und
        mittleren Unternehmen in Deutschland wie gehabt beste-
        hen.
        Entsprechend positiv hat sich der Vorstand der KfW
        in der zurückliegenden Anhörung zum Gesetz geäußert:
        So hält die KfW selbst eine „stärkere Annäherung [des]
        Hauses an regulatorische bankenaufsichtsrechtliche Vor-
        schriften für richtig und geboten.“ Dies schütze die öf-
        fentliche Hand und zwinge die KfW, sich stärker zu pro-
        fessionalisieren und den bankenaufsichtsrechtlichen
        Vorschriften zu genügen, sofern noch nötig.
        Um eine effiziente Aufsicht zu garantieren, plant die
        Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, BaFin,
        ein eigenes Referat mit etwa elf Stellen einzurichten so-
        wie einige Stellen, die Aufgaben in Querschnittsabtei-
        lungen – wie beispielsweise in der Abteilung für Geld-
        wäsche – wahrnehmen.
        Lassen Sie mich zusammenfassen: Dieses Gesetz ist
        eine Win-win-win-Situation!
        Gewonnen hat die KfW größere Rechtssicherheit.
        Gewonnen hat die öffentliche Hand größere Transpa-
        renz.
        Gewonnen hat die Wirtschaft noch größere Sicher-
        heit.
        An dieser Stelle möchte ich Bundesfinanzminister
        Dr. Wolfgang Schäuble zitieren: „Das Vertrauen, wel-
        ches aus soliden Staatsfinanzen erwächst, ist die Grund-
        lage für nachhaltiges Wachstum.“
        Dieses Zitat möchte ich ein wenig erweitern: Das Ver-
        trauen, welches aus soliden Staatsfinanzen und stabilen
        Finanzmärkten erwächst, ist die Grundlage für nachhal-
        tiges Wachstum.
        Denn auch eine Vertrauenskrise an den Finanzmärk-
        ten schlägt irgendwann durch auf die Wirtschaft – wie in
        der zurückliegenden Wirtschaftskrise. Mit dem vorlie-
        genden Gesetz setzt die Koalition einen weiteren Stein in
        das tragende Fundament, auf dem unsere Wirtschaft und
        unser Land aufgebaut ist: Vertrauen und Nachhaltigkeit.
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013 30495
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        (D)(B)
        Familienunternehmen, der deutsche Mittelstand, klei-
        nere und mittlere Unternehmen, Existenzgründer – all
        diese Unternehmer sind auf starke und verlässliche Part-
        ner, Investoren und Kreditgeber, angewiesen. In der
        deutschen Förderlandschaft spielt hier die KfW eine
        große Rolle. Ihr gesetzlich festgelegter Förderauftrag
        umfasst die bereits genannte Förderung ebenso wie Pro-
        gramme für Wohnungswirtschaft, Umweltschutz und In-
        frastruktur. Finanzierungsprogramme für Kommunen
        und regionale Förderbanken sowie die Finanzierung von
        Maßnahmen zur Bildungsförderung und von Maßnah-
        men mit rein sozialer Zielsetzung sind weitere Schwer-
        punkte.
        Das durch dieses Gesetz erreichte Mehr an Aufsicht
        stärkt das Vertrauen in die Kreditanstalt für Wiederauf-
        bau. Für die „Kunden“ der KfW, die zahlreichen Unter-
        nehmen in Deutschland, wird der „Hafen KfW“ so noch
        sicherer gemacht.
        Die KfW wurde im Jahre 1948 als Anstalt des öffent-
        lichen Rechts gegründet und gehört heute zu 80 Prozent
        dem Bund und zu 20 Prozent den Bundesländern. Mit ei-
        ner Bilanzsumme von etwa 500 Milliarden Euro ist sie
        die drittgrößte Bank in Deutschland. Das Haus refinan-
        ziert sich fast ausschließlich über die internationalen Ka-
        pitalmärkte. Im Jahr 2011 waren dies mehr als 79 Mil-
        liarden Euro. Sie hat weder eigene Filialen noch
        Kundeneinlagen. Garantiert wird sie durch den Bund.
        Die Größe der KfW wie auch das Volumen ihrer Refi-
        nanzierungstätigkeit und die Staatsgarantie zeigen deut-
        lich, dass die Kreditanstalt eines der wichtigsten Bank-
        häuser des Landes mit einer „umfangreichen“
        Verflechtung zu den Finanzmärkten, aber auch einer
        „engen“ Verflechtung zur öffentlichen Hand ist.
        Verlass und Transparenz sind daher für alle Seiten
        von Vorteil und schirmen letzten Endes auch den Steuer-
        zahler von möglichen Risiken ab.
        Diesem Anspruch werden wir im Übrigen nicht nur
        auf nationaler Ebene gerecht, sondern auch auf europäi-
        scher Ebene. Mit der Verordnung über den Single Super-
        visory Mechanism, die sogenannte Europäische Ban-
        kenaufsicht oder Bankenunion, wollen wir die entspre-
        chende Gipfelerklärung der Staats- und Regierungschefs
        der Euro-Zone vom 29. Juni 2012 umsetzen.
        Bedeutende Kreditinstitute und Kreditinstitute, die
        Hilfen aus dem Europäischen Stabilitätsmechanismus,
        ESM, oder der Europäischen Finanzstabilisierungsfazili-
        tät, EFSF, erhalten, mindestens aber die drei bedeutends-
        ten Institute eines teilnehmenden Mitgliedstaates, sollen
        bei wichtigen aufsichtsrechtlichen Auflagen der Auf-
        sicht durch die Europäische Zentralbank, EZB, unterlie-
        gen.
        Derzeit werden die Aufsichten durch nationale Be-
        hörden – in Deutschland durch die Bundesanstalt für Fi-
        nanzdienstleistungsaufsicht, BaFin, – wahrgenommen.
        Als „bedeutend“ gilt ein Institut oder eine Gruppe dann,
        wenn die Bilanzsumme 30 Milliarden Euro überschreitet
        oder diese mehr als 20 Prozent des Bruttoinlandspro-
        dukts eines Mitgliedstaates überschreitet.
        Ziel dieser neuen Regelung ist die Durchsetzung ein-
        heitlicher Aufsichtsstandards in den teilnehmenden Mit-
        gliedstaaten, das heißt generell in den Euro-Staaten und
        in den freiwillig teilnehmenden Nicht-Euro-Staaten. Mit
        der verpflichtenden Zusammenarbeit von Europäischer
        Zentralbank, EZB, und nationalen Aufsichten können
        übernationale Gefahren im Europäischen Bankensystem
        schneller erkannt und kann ihnen besser vorgebeugt wer-
        den.
        Die Liste dessen, was diese Koalition zur Stabilisie-
        rung der Finanzmärkte geleistet hat, lässt sich weit fort-
        führen.
        Mit dem Trennbankengesetz schirmen wir die Kun-
        den vor den Risiken spekulativer Geschäfte ab. Kreditin-
        stitute bzw. die Bundesanstalt müssen Sanierungs- bzw.
        Abwicklungspläne für den Krisenfall erstellen. Strafbar-
        keitsregeln werden eingeführt.
        Mit Basel III verpflichten wir die Banken, mehr Ei-
        genkapital zu halten, und machen die Institute so stress-
        resistenter.
        Mit der Finanztransaktionsteuer, FTT oder FTS,
        schaffen wir eine Beteiligung der Akteure an den Folge-
        kosten der Finanzkrise.
        Weitere beispielhafte Maßnahmen: Bankenabgabe,
        Bankenrestrukturierungsfonds, Verbot von Leerverkäu-
        fen, Regulierung des Hochfrequenzhandels etc.
        Zusammenfassend ist der vorliegende Gesetzentwurf
        über die von der KfW zu erfüllenden aufsichtsrechtli-
        chen Aufgaben ein scheinbar kleiner Bestandteil in der
        Finanz- und Förderlandschaft Deutschlands und Euro-
        pas. Vor allem daher, weil die KfW viele dieser Auflagen
        bereits freiwillig einhält. Als wichtiger Förderer für die
        Unternehmen und die Menschen in Deutschland aber
        geht die KfW gestärkt hervor. Klare Spielregeln und
        Transparenz bieten Sicherheit für alle Seiten.
        Manfred Zöllmer (SPD): Die Kreditanstalt für Wie-
        deraufbau gilt nach dem Kreditwesengesetz nicht als
        Kreditinstitut oder Finanzdienstleistungsinstitut im
        Sinne des Kreditwesengesetzes, unabhängig von den
        Geschäften, die sie tatsächlich betreibt. Der Grund für
        diese gesetzgeberische Entscheidung war, dass die KfW
        als nationale Förderbank und als Anstalt des öffentlichen
        Rechts ein besonderes Geschäftsmodell hat und einen
        gesetzlich festgelegten staatlichen Auftrag verfolgt und
        daher grundsätzlich nicht mit Kreditinstituten des privat-
        rechtlichen, genossenschaftlichen oder öffentlich-recht-
        lichen Sektors vergleichbar ist. Vor diesem Hintergrund
        ist die KfW auch von EU-Bankenrichtlinie ausgenom-
        men.
        Andererseits ist die KfW mit ihrer großen Bilanz-
        summe von über 500 Milliarden Euro im Grunde die
        drittgrößte deutsche Bank. Zwar hält die KfW bereits
        heute wesentliche Aufsichtsvorschriften freiwillig ein,
        um ihren gesetzlichen Auftrag sachgerecht wahrzuneh-
        men und möglichst effektiv fördern zu können, aber eine
        bessere Beaufsichtigung entspricht auch den Erfahrun-
        gen aus der Finanzkrise.
        30496 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013
        (A) (C)
        (D)(B)
        Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird das Gesetz
        über die Kreditanstalt für Wiederaufbau nunmehr geän-
        dert und eine effektive Beaufsichtigung rechtsverbind-
        lich und transparent festgelegt. Dabei wird auch weiter-
        hin die besondere Rolle der KfW berücksichtigt. Der
        Gesetzentwurf ändert insoweit nichts daran, dass die
        KfW auch weiterhin kein Kreditinstitut und kein Finanz-
        dienstleistungsinstitut im Sinne des KWG ist und auch
        weiterhin von den bankenaufsichtsrechtlichen Regelun-
        gen der Europäischen Union ausgenommen wird.
        Der Gesetzentwurf sieht vor, das Bundesministerium
        der Finanzen gesetzlich zu ermächtigen, im Benehmen
        mit dem Bundesministerium für Wirtschaft und Techno-
        logie durch Rechtsverordnung festzulegen, welche
        bankenaufsichtsrechtlichen Vorschriften von der KfW
        beziehungsweise der KfW-Gruppe entsprechend anzu-
        wenden sind.
        Wie wir im Finanzausschuss ausgeführt haben, ist der
        vorliegende Gesetzentwurf durchaus zu begrüßen, weil
        er die bisher freiwillig vorgenommene Einhaltung von
        aufsichtsrechtlichen Standards durch die KfW jetzt auf
        eine gesetzliche Grundlage stellt.
        Wir bleiben aber bei unserer Kritik, wonach alle
        wesentlichen Punkte zukünftig im Wege der angespro-
        chenen Verordnung geregelt werden, die zum jetzigen
        Zeitpunkt nicht bekannt ist. Wir erwarten, dass die Aus-
        gestaltung der Beaufsichtigungsanforderungen im Sinne
        der im öffentlichen Fachgespräch des Finanzausschusses
        herausgearbeiteten Erfordernisse erfolgen wird und hier
        nicht Bundestag und Bundesrat bewusst ausgegrenzt
        werden.
        Wir haben auch den Änderungsantrag der Fraktion
        Bündnis 90/Die Grünen unterstützt, der eine wichtige
        Konkretisierung vorgenommen hätte, die angemessen im
        Rahmen des vorliegenden Gesetzentwurfs hätte geregelt
        werden könnten. Seit einiger Zeit nehmen immer mehr
        Pfandbriefbanken Kundeneinlagen an, so auch die Deut-
        sche Pfandbriefbank pbb. Bei Pfandbriefbanken sind die
        potenziellen Kosten für die Einlagensicherung aber er-
        heblich höher als bei anderen Banken, da Pfandbriefban-
        ken einen Großteil ihres Vermögens an Pfandbriefgläu-
        biger abgetreten haben. Vor diesem Hintergrund wäre
        eine weitreichendere Änderung notwendig gewesen, die
        dieser Problematik Rechnung tragen würde.
        Insgesamt halten wir den Gesetzentwurf aber für den
        richtigen Weg und stimmen ihm zu.
        Björn Sänger (FDP): Die FDP-Fraktion steht die-
        sem Gesetzesabschluss positiv gegenüber. Es besteht
        – mit Blick auf eine effektive Beaufsichtigung der KfW –
        ein Bedürfnis, rechtsverbindlich und transparent festle-
        gen zu können, welche bankenaufsichtsrechtliche Stan-
        dards für die KfW entsprechend gelten. Wir stimmen
        dem Vorhaben zu, die staatliche Förderbank KfW auch
        weiterhin nicht unter die geplante europäische Banken-
        kontrolle fallen zu lassen. Dementsprechend sieht das
        Gesetzesvorhaben vor, die Bankgeschäfte des von Bund
        und Ländern getragenen Instituts künftig strenger von
        der Finanzaufsicht BaFin zusammen mit der Bundes-
        bank überwachen zu lassen. Wir begrüßen diese klaren
        Regeln.
        Bei der geplanten Bankenaufsicht durch die Europäi-
        sche Zentralbank, EZB, sollen Förderinstitute ausge-
        nommen werden. Die KfW zählt nicht nur zu den größ-
        ten Geldhäusern in Deutschland. Mit einem Gewinn von
        voraussichtlich erneut mehr als 2 Milliarden Euro 2012
        ist sie auch an die Spitze der ertragsstärksten Banken
        Deutschlands gerückt – noch vor der Deutschen Bank.
        Als öffentliche Förderbank unterliegt die KfW bisher
        aber trotzdem nicht der normalen Bankenaufsicht. We-
        sentliche bankrechtliche Regeln setzt die KfW allerdings
        bereits auf freiwilliger Basis um.
        Insofern ist es nur vernünftig, dass die KfW ange-
        sichts von Größe und Komplexität der Geschäfte künftig
        der BaFin-Aufsicht und teils dem KWG, unterstellt wer-
        den soll. Wie eine Geschäftsbank wird sie regelmäßig
        über Eigenmittel und Liquidität an die Finanzaufsicht
        berichten. Es wird schlichtweg mehr Transparenz ge-
        schaffen. Auch die Wirtschaft befürchtet bei diesem
        Gesetz keine Einschränkungen der Fördertätigkeit der
        KfW. Die BaFin nimmt diese Aufgabe auch bei anderen
        Förderbanken wahr und ist dafür am besten geeignet.
        Mit dem Gesetzentwurf soll diese Praxis also erwei-
        tert, kodifiziert und transparent gemacht werden. Die
        Regelungen werden damit verbindlich. Zentrale bank-
        aufsichtsrechtliche Standards des Kreditwesengesetz,
        KWG werden entsprechend auf die KfW angewendet.
        Die KfW ist auch in Zukunft kein normales Kreditinsti-
        tut im Sinne des Kreditwesengesetzes.
        Die KfW ist jedoch somit systemrelevant. Als solches
        birgt sie auch Gefahren und Risiken.
        Die FDP-Fraktion sieht hier eine Möglichkeit, die
        Risiken jedenfalls teilweise umzuwandeln und die Ge-
        winne dabei wieder dem eigentlichem Zweck der KfW
        zu gereichen. Die KfW könne künftig mehr Projekte in
        der Entwicklungshilfe, beim Straßen- und Netzausbau
        sowie in der Energiepolitik finanzieren, die der Bund
        bisher direkt aus seinem Etat bestreitet. Diese Umvertei-
        lung darf natürlich nicht die Förderfähigkeit der KfW
        gefährden.
        Mit dem Instrument der Verordnungsermächtigung
        wird sichergestellt, dass der Verordnungsgeber die we-
        sentlichen Aufsichtsvorschriften detailliert und spezi-
        fisch im Hinblick auf die KfW prüfen und nur solche
        Regelungen verbindlich für entsprechend anwendbar er-
        klären kann, die dem gesetzlichen Förderauftrag und
        dem Fördergeschäft der KfW nicht widersprechen. Zu-
        dem ist das Instrument der Verordnungsermächtigung
        geeignet, flexibel auf Veränderungen der bankenauf-
        sichtsrechtlichen Vorschriften, insbesondere auf europäi-
        scher Ebene, und auf Veränderungen der deutschen För-
        derlandschaft zu reagieren.
        Vor diesem Hintergrund wird in der Rechtsverord-
        nung geregelt werden, dass zum Beispiel die Eigenmit-
        telanforderungen, die Mindestanforderungen an das
        Risikomanagement und die Vorgaben für das Kreditge-
        schäft von der KfW entsprechend anzuwenden sind. Bei
        der Auswahl und Anwendung der im Einzelnen gelten-
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013 30497
        (A) (C)
        (D)(B)
        den Rechtsvorschriften wird der staatliche Förderauftrag
        und das besondere Geschäftsmodell der KfW Berück-
        sichtigung finden. Am Gewinnausschüttungsverbot än-
        dert sich durch das KfW-Änderungsgesetz nichts.
        Wir können aufgrund der aufgezeigten Aufsichts-
        maßnahmen und Kontrollmechanismen ein ausgewoge-
        nes Verhältnis von marktwirtschaftlicher Freiheit und
        Kontrolle erkennen und können dieses Gesetzesvorha-
        ben somit befürworten.
        Der Gesetzentwurf setzt eine Vereinbarung des Koali-
        tionsvertrages um. Die KfW erhält eine wirksame Auf-
        sicht, die sachgerecht ausgestaltet ist und auf die Beson-
        derheiten der KfW Rücksicht nimmt. Der gewählte
        Verordnungsweg ermöglicht die notwendige Flexibilität
        bei diesem Vorhaben. Der Gesetzentwurf ist ein weiterer
        wichtiger Baustein für eine stabile Finanzmarktarchitek-
        tur in Deutschland.
        Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE): Das Fachge-
        spräch zur Änderung des Gesetzes über die Kreditanstalt
        für Wiederaufbau im Finanzausschuss war sehr ernüch-
        ternd. Die Bundesregierung will den Bundestag aus der
        Regelung der Aufsicht der KfW herausdrängen. Wir
        stimmen heute über die Änderung des KfW-Gesetzes ab,
        ohne zu wissen, was eigentlich genau geregelt werden
        soll. Wir stimmen über eine Gesetzeshülle ab. Das ist
        eine Beleidigung des Parlaments.
        Die konkrete Regelung der Aufsicht der KfW soll
        über den Verordnungsweg erfolgen. Das Finanzministe-
        rium teilte mit, dass der Verordnungsweg mehr Flexibili-
        tät bieten würde als ein Gesetz.
        Flexibilität ist ein scheinheiliges Argument der Bun-
        desregierung, um den Bundestag bei der Gesetzgebung
        auszuschalten. Im Fachgespräch wurde über eine Ver-
        ordnung gesprochen, die keiner kennt. Bis zum heutigen
        Tag gibt es nicht einmal einen Entwurf einer Verord-
        nung. Das hat nichts mit Flexibilität zu tun, sondern mit
        Verantwortungslosigkeit.
        Wir können allerdings von Glück reden, dass sich die
        FDP und die Marktradikalen in der CDU/CSU bei die-
        sem Gesetzentwurf nicht durchgesetzt haben. Für diese
        Kreise ist die staatliche Förderbank ein rotes Tuch. Für
        uns ist es eine Bank, die sich positiv von den Zockerban-
        ken unterscheidet. Die KfW versteht sich mit ihren Pro-
        grammen als Dienstleister für Bürgerinnen und Bürger
        und Unternehmen. Ich möchte hier nur den altersgerech-
        ten Umbau von Wohnungen hervorheben.
        Als Mitglied des Bundestages und des Verwaltungsra-
        tes der KfW war ich besorgt, als die Koalition von CDU/
        CSU und FDP den Griff in die Kasse der KfW plante.
        Sie wollte das gesetzlich vorgeschriebene Gewinnaus-
        schüttungsverbot aufheben. 1 Milliarde Euro wollte die
        Koalition an Gewinnen abschöpfen, um ihre eigene
        Haushaltsbilanz aufzupolieren. Offensichtlich konnte
        dieser Angriff auf die KfW abgewehrt werden. Das ist
        erfreulich.
        Der Finanzminister versucht mit diesem Gesetz den
        Bundestag und den Verwaltungsrat der KfW zu schwä-
        chen und seinen eigenen Einfluss zu erhöhen. Er will mit
        Verordnungsermächtigungen die KfW an die kurze
        Leine nehmen. Der Minister könnte als Vorsitzender des
        Verwaltungsrates, ohne Rücksprache mit dem Verwal-
        tungsrat, gegenüber dem KfW-Vorstand den Willen des
        Verwaltungsrates vertreten. Das ist gefährlich. So kann
        die öffentlich-rechtliche Bank zum Spielball von politi-
        schen Interessen werden. Die teilweise Kontrolle durch
        die BaFin ist sinnvoll, wenn der Verwaltungsrat als Kon-
        trollgremium einbezogen wird. Das ist bisher nicht gere-
        gelt.
        Wir bevorzugen das französische Modell. In Frank-
        reich muss die Bankenaufsicht bei Problemen mit der
        Förderbank den Verwaltungsrat der Bank einschalten.
        Der Verwaltungsrat kann dann die notwendigen Maß-
        nahmen ergreifen. Das Modell des Finanzministers sieht
        dagegen den Direkteingriff der BaFin vor. Das wäre eine
        Entmachtung des Verwaltungsrats. Im Fachgespräch
        hatte ich die Vertreter der Bundesanstalt für Finanz-
        dienstleistungsaufsicht, BaFin, und der Bundesbank ge-
        fragt, was sie von dem französischen Modell hielten. Sie
        kannten es nicht einmal. So etwas macht mich fassungs-
        los. Offensichtlich halten es die BaFin und die Bundes-
        bank nicht für nötig, ab und zu über den eigenen Garten-
        zaun zu schauen.
        Dem Gesetzentwurf sieht man an, dass sich die Koali-
        tionsparteien nur noch gegenseitig blockieren. Es gibt
        Regelungsbedarf, doch CDU/CSU und FDP haben daran
        kein Interesse. Ich nenne nur ein Beispiel. In der FAZ
        vom 17. März 2013 wird behauptet, dass der Verwal-
        tungsrat über die Gehälter der KfW-Vorstände entschei-
        det. Das ist nicht der Fall. Der sehr kleine Präsidialaus-
        schuss entscheidet darüber. Es ist schon verlogen, wenn
        die Bundesregierung über die Begrenzung der Manager-
        gehälter öffentlich debattiert und die Aktionärsversamm-
        lung über die Gehälter der Vorstände abstimmen lassen
        will und gleichzeitig bei der staatlichen Förderbank den
        Verwaltungsrat vor die Tür setzt, wenn es um die Gehäl-
        ter der KfW-Vorstände geht.
        Der Gesetzentwurf sieht die Entmachtung des Bun-
        destages und des Verwaltungsrates der KfW vor, deshalb
        lehnen wir den Gesetzesantrag der Koalitionsfraktionen
        ab.
        Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        Mit rund 500 Milliarden Euro Bilanzsumme ist die Kre-
        ditanstalt für Wiederaufbau die drittgrößte Bank in
        Deutschland. Damit ist die KfW-Bilanz nahezu doppelt
        so groß wie ein jährlicher Bundeshaushalt. Doch trotz
        dieser Größe und Haftungszusagen des Bundes für die
        KfW-Verbindlichkeiten in dieser gigantischen Höhe un-
        tersteht sie nicht wie normale Banken der Aufsicht von
        Bundesbank und BaFin. Auch gelten für sie bislang
        nicht die Regeln des Kreditwesengesetzes.
        Vielmehr sind bisher Wirtschafts- und Finanzministe-
        rium dafür zuständig, auf die KfW aufzupassen. Doch
        diese Aufsicht ist unzureichend. Darauf haben nicht nur
        wir Grüne in den letzten Jahren immer wieder hingewie-
        sen. Auch der Rechnungshof konnte „eine aktive Wahr-
        nehmung der gesetzlich geregelten Aufsichtsmöglich-
        30498 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013
        (A) (C)
        (D)(B)
        keiten gegenüber der KfW durch das BMWi nicht
        nachvollziehen“ und sah Interessenkonflikte beim BMF.
        Deshalb begrüßen wir es im Grundsatz auch aus-
        drücklich, die KfW unter die Aufsicht von BaFin
        und Bundesbank zu stellen und sie endlich dem Kredit-
        wesengesetz, dem Bankenaufsichtsrecht, zu unter-
        werfen.
        Wir können aber nicht nachvollziehen, dass Sie uns
        bis zum heutigen Tage vorenthalten, welche einzelnen
        aufsichtsrechtlichen Vorschriften künftig die KfW nach
        Ihren Vorstellungen erfüllen muss; denn sämtliche De-
        tails regeln Sie per Rechtsverordnung – also vorbei an
        Bundestag und Bundesrat. Wollen Sie mit dem vorlie-
        genden Gesetz also nach außen vor allem Ihren Koali-
        tionsvertrag „abarbeiten“, sind sich intern aber gar nicht
        einig darüber, welche konkreten Regelungen nach dem
        Kreditwesengesetz die KfW künftig überhaupt erfüllen
        soll? Klar ist jedenfalls: Das eigentlich Interessante und
        Wichtige, welchen Regeln denn die KfW unterworfen
        werden soll, steht in dem Gesetz nicht drin. Und wir
        Parlamentarier haben im Zuge der parlamentarischen
        Beratung dieses Gesetzes auch nicht einmal einen Ent-
        wurf der Verordnung, in der die Details geregelt werden
        sollen, zu Gesicht bekommen.
        Dass die schwarz-gelbe Koalition für dieses dünne
        Gesetz dreieinhalb Jahre gebraucht hat, ist eine schwa-
        che Leistung. Vor allem aber verschiebt sie die Verant-
        wortung aus dem Bundestag raus und hin zur Regierung.
        Das können wir Grünen nach den Erfahrungen mit der
        unzureichenden Beaufsichtigung der KfW durch die
        Ministerien nicht gutheißen!
        Wieso überhaupt wird die KfW nicht einer vollum-
        fänglichen, sondern nur auszugsweisen Aufsicht des
        KWG unterworfen? Immerhin unterliegen die Landes-
        förderbanken vollständig dem KWG und der Aufsicht
        von Bundesbank und BaFin. Warum der KfW hier ein
        Sonderprivileg eingeräumt werden soll, konnten bisher
        weder Sie von der Bundesregierung noch der KfW-
        Vorstandsvorsitzende im Rahmen der Anhörung
        überzeugend darlegen. Wir Grünen waren immer für das
        Argument offen, dass es Bereiche der KfW gibt, die
        sinnvollerweise nicht den normalen bankenaufsichtli-
        chen Regelungen unterworfen werden sollten, oder dass
        es einzelne Regelungen im Kreditwesengesetz gibt, die
        für die KfW nicht passen. Das muss man aber dann im
        Einzelnen auch überzeugend begründen. Und diese Be-
        gründung haben Sie nicht geliefert.
        Auch die Neuregelungen zum Verwaltungsrat sind
        vor allem fragwürdig und schwächen dieses wichtige
        Kontrollorgan eher, als dass sie es stärken. So kann der
        Verwaltungsrat künftig nur noch allgemeine und keine
        besonderen Weisungen mehr an den Vorstand erlassen.
        Außerdem werden Sie dem Anspruch Ihres Koalitions-
        vertrags, die „Verwaltungs- und Aufsichtsstrukturen der
        KfW deutlich zu straffen“, nicht gerecht. Dazu wäre
        dann wohl eine Verkleinerung des Verwaltungsrates, der
        mit fast 40 Mitgliedern völlig überdimensioniert ist, er-
        forderlich. Warum macht die Koalition denn da gar
        nichts?
        Die eigenen Ziele zu erreichen, übersteigt immer wie-
        der die Kraft dieser Koalition. Der vorliegende Gesetz-
        entwurf ist ein weiterer Beleg dieses Befundes. Sie lie-
        fern gerade noch die richtigen Überschriften. Aber die
        konkreten Inhalte sind – wie schon so oft – schlicht man-
        gelhaft.
        Sie nehmen hier ferner in Art. 3 eine Änderung des
        Einlagensicherungs- und Anlegerentschädigungsgeset-
        zes vor, mit der – Zitat aus dem Gesetz – „zukünftig die
        beitragsmindernde Berücksichtigung von Sonderposten
        für allgemeine Bankrisiken nach § 340 HGB einge-
        schränkt werden kann“. Hierzu darf ich die Bundesbank
        aus der Anhörung zitieren: „Für uns ist diese Regelung
        nicht klar. Von daher können wir auch nicht abschätzen,
        welche Auswirkungen das hat.“ Wenn also noch nicht
        einmal die Bundesbank diese Neuregelung nachvollzie-
        hen und abschätzen kann, ist das aus unserer Sicht sehr
        bedenklich.
        Insgesamt lehnen wir Ihren Gesetzentwurf aus den
        genannten Gründen ab.
        Anlage 14
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Entwurfs eines Vierten Geset-
        zes zur Änderung des Energieeinsparungsgeset-
        zes (Tagesordnungspunkt 24)
        Franz Obermeier (CDU/CSU): Ich denke, wir ha-
        ben einen weiteren wichtigen Schritt auf dem guten Weg
        der Energiewende geschafft. Konkret müssen wir hier
        die Vorgaben der EU-Gebäuderichtlinie umsetzen.
        Mich freut, dass es mit dem Energieeinsparungsge-
        setz gelungen ist, hierbei einen ausgewogenen Ausgleich
        zu erzielen zwischen notwendiger und vorgegebener
        Energieeinsparung und den finanziellen Belastungen der
        Bürgerinnen und Bürger. Insbesondere liegen die not-
        wendigen Maßnahmen alle in der Zukunft, sodass aus-
        reichend Planungszeit und Planungssicherheit beim Kos-
        teneinsatz besteht.
        Erstens gibt es keine Verschärfung im Bestand, also
        keine Nachrüstpflichten. Die Anforderungen bleiben in
        diesem Punkt auf dem Stand der EnEV 2009. Insbeson-
        dere wird es nach jetzigem Stand auch keinen zwangs-
        weisen Heizungsaustausch geben.
        Zweitens erfolgen die Verbesserungen bei den Effi-
        zienzstandards für Wohngebäude in zwei moderaten Stu-
        fen jeweils um 12,5 Prozent – 2014 und 2016 –, bei
        Nicht-Wohngebäuden um jeweils 15 Prozent.
        Und drittens entlasten die Maßnahmen langfristig von
        Energiekosten und wirken weiteren Steigerungen entge-
        gen.
        Ein äußerst umstrittener Punkt sind die Nachtspei-
        cheröfen. Bisher profitieren Nachtstromheizer von
        einem reduzierten Netzentgelt von 1,5 Cent je Kilo-
        wattstunde gegenüber Haushaltsstrom: 6,5 Cent je Kilo-
        wattstunde und einer Sonderkonzessionsumlage von
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013 30499
        (A) (C)
        (D)(B)
        0,1 Cent je Kilowattstunde statt 1,79 Cent je Kilowatt-
        stunde für den regulären Haushaltsstrom.
        Diese Privilegierung von Nachtspeicheröfen wurde
        vom alten Strommarktdesign her gedacht, in dem
        Grundlastkraftwerke Tag und Nacht durchlaufen. Um
        eine gleichmäßigere Abnahme auch während der Nacht
        zu erreichen, reizten unterschiedliche Tag- und Nacht-
        tarife das nächtliche Speichern von Strom an.
        Nun steht nach der EU-Richtlinie Energieeinsparung
        im Vordergrund. Heizen mit Strom, zumal mit alten
        Nachtspeichergeräten steht da nicht so gut da.
        Andererseits sind wir im Zuge der parlamentarischen
        Beratungen wieder bei dem Punkt energiewirtschaftliche
        Speicherkapazitäten angelangt. Angesichts der Volatili-
        tät der neuen Energien gibt es hier eine neue Sichtweise.
        So erprobt RWE derzeit ein neues Steuerungskonzept für
        Stromspeicherheizungen. Bei viel günstigem Windstrom
        im Netz wird die Heizung aufgeladen und nimmt Strom
        ab, wenn wenig Nachfrage besteht. Es gibt derzeit ein
        laufendes Projekt mit 50 Kunden in Essen. Deshalb
        wurde das aktuell diskutierte Nachtspeicherheizungs-
        verbot erst einmal wieder aufgehoben, auch als ein wich-
        tiges politisches Signal, um technologische Pilotprojekte
        anzureizen.
        Das Verbot nach §10 a EnEV 2009 greift ab 2020 und
        gilt für dann mindestens 30 Jahre alte Anlagen. Es be-
        trifft große Geschosshäuser mit Nachtstromöfen. Häuser
        mit ein bis fünf Wohneinheiten sind nicht betroffen, so-
        dass auch soziale Aspekte berücksichtigt werden. Bis
        2020 können Nachtspeicherheizungen weiter eingebaut
        werden und 30 Jahre laufen, das heißt, dass schon nach
        geltendem Recht Nachtspeicheröfen bis Ende 2049 lau-
        fen können. Angesichts der Zunahme des Anteils um-
        weltfreundlicher erneuerbarer Energien an der Stromer-
        zeugung ist diese Herangehensweise gut vertretbar.
        Weitere Änderungen:
        Ab 2021 müssen Neubauten als Niedrigstenergie-
        gebäude errichtet werden. Das gilt bereits ab 2019 für
        Behördengebäude, also Gebäude der öffentlichen Hand,
        die nicht zu Wohnzwecken dienen.
        In Verkaufs- und Vermietungsanzeigen wird es
        Pflicht, den Energiekennwert des Gebäudes gemäß Ener-
        gieausweis anzugeben.
        In größeren Läden, Hotels, Kaufhäusern, Restaurants
        mit starkem Publikumsverkehr muss ein Energieausweis
        sichtbar ausgehängt werden.
        Es werden Stichprobenkontrollen auf Baustellen von
        Neubauten seitens der zuständigen Behörde – Vollzug
        erfolgt durch die Länder – eingeführt. Ebenso werden
        ein unabhängiges Stichprobenkontrollsystem für Ener-
        gieausweise eingeführt sowie Berichte über die Inspek-
        tion von Klimaanlagen.
        Alle diese Maßnahmen verschärfen den Blick auf ei-
        nen schonenden Umgang mit der Ressource Energie und
        vermeiden schädlichen CO2-Ausstoß. Das ist gut für uns
        alle.
        Volkmar Vogel (Kleinsaara) (CDU/CSU): Die Ener-
        gieeinsparverordnung geht uns alle an. Denn das, was
        hinter diesem Begriff „EnEV“ steckt, betrifft sowohl alle
        Mieter als auch all diejenigen, die in ihrem eigenen Haus
        wohnen oder als klein- bzw. gewerbsmäßige Vermieter
        tätig sind.
        Fakt ist: 40 Prozent des Energiebedarfs brauchen und
        verbrauchen wir für die Heizung in unseren Wohnungen.
        Fakt ist auch: Diesen Verbrauch müssen wir bis 2050 um
        mindestens 80 Prozent senken.
        Heute debattieren wir im Zusammenhang mit dem
        Energieeinspargesetz auch die novellierte Energieein-
        sparverordnung 2012 im Deutschen Bundestag in zwei-
        ter und dritter Lesung. Hierbei folgte die Bundesregie-
        rung mit ihrem Entwurf unseren politischen Vorgaben
        der christlich-liberalen Koalition, wenn es darum geht,
        die EnEV richtig zu machen.
        Für uns als christlich-liberale Koalition ist vor allem
        eines klar: An erster Stelle steht das Wirtschaftlichkeits-
        gebot. Das, was wir Bauherren und Investoren vorschrei-
        ben, muss sich in wirtschaftlich vertretbaren Zeiträumen
        refinanzieren.
        Genauso wichtig ist es, wenn wir über die Wirtschaft-
        lichkeit reden, denjenigen, die es umsetzen müssen, ei-
        nen möglichst breiten Spielraum zu geben. Wir wollen
        keine Technologien und Techniken vorschreiben. Viel-
        mehr wollen wir dies den Akteuren vor Ort – je nach re-
        gionalen und spezifischen Bedingungen – überlassen.
        Wenn wir heute über die Novelle des Energieeinspar-
        gesetzes und damit auch über die EnEV 2012 abstim-
        men, möchte ich daran erinnern, dass wir in kurzer Ab-
        folge in den letzten Jahren die EnEV 2007 und 2009 auf
        den Weg gebracht hatten. Ich will damit sagen: Es ist
        Zeit – und dies ist ein weiterer Grundsatz von uns –, den
        Akteuren Planungssicherheit zu geben.
        Die EnEV 2012 soll nach unserem festen Willen für
        einen Zeitraum von fünf bis sieben Jahren anwendbar
        bleiben. Die maßvolle Erhöhung der Standards für den
        Neubau in zwei Stufen von jeweils 12,5 Prozent Einspa-
        rung des Primärenergiebedarfs bis 2014 bzw. bis 2016 ist
        der richtige Ansatz. Uns ist klar, dass wir damit in den
        Grenzbereich der Wirtschaftlichkeit kommen; deswe-
        gen halten wir auch eine Verschärfung um jeweils
        10 Prozent bei der Außendämmung für ausreichend.
        Wir wollen keine energetische Sanierungspflicht für
        die Bestandsgebäude haben. Das unterscheidet uns maß-
        geblich von SPD und Grünen.
        Einen Sanierungszwang im Bestand halten wir nicht
        nur für nicht sinnvoll, sondern sogar für kontraproduktiv.
        Die aus einem solchen Zwang resultierenden Belastun-
        gen können vor allem die vielen Hauseigentümer mit
        kleinen Einkommen nicht stemmen. Sie mussten bereits
        in den letzten Jahrzehnten viel Geld in die Hand neh-
        men, unter anderem für Wasser- und Abwasserbeiträge
        oder für Straßenausbaubeiträge. Eine weitere von uns
        verursachte Zahlungswelle hieße unter Umständen, das
        eigene Wohneigentum aufgeben. Von daher lautet unser
        Ansatz: Beratung und Information sowie Förderung frei-
        30500 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013
        (A) (C)
        (D)(B)
        williger Sanierungsmaßnahmen auch im energetischen
        Bereich.
        Darum werden wir dafür sorgen, dass die finanzielle
        Ausstattung der CO2-Gebäudesanierungsprogramme bis
        2014 gesichert bleibt. Zudem haben wir weitere
        300 Millionen für die nächsten acht Jahre zusätzlich in
        diese Programme gespeist.
        Wenn SPD und Grüne mit ihrem Willen zur Verbesse-
        rung der Energieeffizienz Ernst machen würden, hätten
        sie die Abschreibungsmöglichkeiten für die energetische
        Sanierung nicht blockiert. Liebe Kolleginnen und Kolle-
        gen von SPD und Grünen, ich fordere Sie hiermit auf:
        Setzen Sie das Thema erneut auf die Tagesordnung und
        folgen Sie den Vorschlägen von CDU/CSU und FDP.
        Erforderlich geworden ist die Fortschreibung der
        EnEV, weil wir die EU-Gebäuderichtlinie umsetzen
        müssen. Das betrifft den Neubaustandard, der ab 2019
        für öffentliche Gebäude und ab 2021 für alle anderen
        Neubauten dem Niedrigstenergiehausstandard der EU
        entsprechen soll.
        Energieausweise sollen bei Vermietung und Verkaufs-
        angeboten vorliegen und beim Abschluss von Verträgen
        übergeben werden. Energetische Kennwerte sind bei öf-
        fentlichen Gebäuden und Gebäuden mit öffentlichem
        Charakter, wie zum Beispiel Kinos und Theatern, im
        Eingangsbereich auszuhängen. Das ist aus unserer Sicht
        ein vertretbarer Aufwand und heißt auch bessere Infor-
        mation für die Bürger.
        Die Bundesregierung hat bei der Erarbeitung des Ent-
        wurfs intensiv mit den Bundesländern und den Verbän-
        den zusammengearbeitet. Unser Ausschuss hat sich in
        zwei Sitzungen und einer Anhörung intensiv mit dem
        Thema befasst. Der Bundesrat fordert unter anderem
        eine umfangreichere Auswertung von Gebäudedaten un-
        ter strikter Beachtung des Datenschutzes. Das hilft, die
        Wirkung der EnEV zu dokumentieren, und wird deshalb
        von uns unterstützt.
        Wir sollten die Definition des Niedrigstenergiehaus-
        standards nicht übers Knie brechen, sondern den Markt
        der Forschung, Entwicklung und praktischen Umsetzung
        genau beobachten und dann diese Standards festlegen.
        Doch die öffentliche Hand braucht Planungssicherheit,
        wenn sie diesen Standard schon 2019 anwenden muss.
        Deswegen wollen wir der Forderung des Bundesrates
        folgen und die Definition des Niedrigstenergiegebäudes
        für Behördengebäude bis Anfang 2017 erarbeiten.
        Außerdem wollen wir mit den heutigen Beschlüssen
        das Verbot für elektrische Speicherheizungssysteme
        aufgeben. Der § 10 a wird ersatzlos gestrichen. Mit den
        Entscheidungen zur Energiewende im Jahr 2011 wurden
        erneuerbare Energien und Speicherkapazitäten zu Fun-
        damenten der Energieversorgung. Neue, intelligente
        Stromspeicherheizungen leisten dazu einen wichtigen
        Beitrag, der noch vor fünf Jahren so nicht abzuschätzen
        war.
        Zum Schluss noch ein Wort zum Sanierungsfahrplan
        bis 2050: Diese EnEV ist ein Baustein davon. Sie zeigt
        den ordnungspolitischen Rahmen für dieses Jahrzehnt
        auf. Sie formuliert zudem das Ziel des Niedrigstenergie-
        hausstandards ab dem nächsten Jahrzehnt. Wir werden
        im Zusammenwirken mit allen Akteuren diesen Sanie-
        rungsplan weiterentwickeln und als Handlungsempfeh-
        lung fortschreiben. Dazu gehört auch das zukünftige
        Zusammenspiel zwischen EnEV und Erneuerbare-Ener-
        gien-Wärmegesetz. Wir haben mit großem Interesse zur
        Kenntnis genommen, dass in der SPD ein Umdenken
        Raum gegriffen hat. Sie spricht sich in einem ihrer An-
        träge für die Zusammenführung von EnEV und EEWär-
        meG in einem Regelwerk aus. Das begrüßen wir. Ebenso
        unterstützen wir die Ansicht der SPD, die Zuständigkeit
        dafür im Bundesverkehrsministerium anzusiedeln, da
        auch nach unserer Ansicht dieses Thema etwas zu tun
        hat mit Baustoffen, Haustechnik, Bautechnologie, kurz:
        dem Gebäudesystem in seiner Gesamtheit. Wir werden
        dieses Thema in den nächsten Monaten wieder auf die
        Tagesordnung setzen.
        Nun aber gilt unser Ziel zunächst dem Klima, der Be-
        lebung der Wirtschaft und der Planungssicherheit für die
        Bauherren. Deshalb werden wir mit den Änderungen die
        überarbeitete EnEV zügig verabschieden.
        Wir bitten die Opposition, dem Gesetzentwurf mit
        den Änderungen zuzustimmen, damit noch vor dem
        Sommer der Bundesrat abschließend beraten kann und
        somit Planungssicherheit für die Akteure am Markt
        besteht. Das hilft dem Klima, der Wirtschaft und den
        fleißigen Handwerkern in den Regionen.
        Michael Groß (SPD): Die Energieeinsparverordnung
        (EnEV) sowie das Energieeinsparungsgesetz (EnEG)
        sollen laut Aussage des Bundeswirtschaftsministeriums
        und des Bundesverkehrsministers ein wesentliches
        Instrument der Energieeffizienzpolitik der Bundesregie-
        rung bilden. Da war es in der vergangenen Sitzungswo-
        che schon ein besonderes „Schmankerl“, dass die
        schwarz-gelbe Koalition auf Anforderung der FDP-
        Fraktion den Kabinettsbeschluss des eigenen Wirt-
        schaftsministers stoppte – ein Kabinettsbeschluss, der
        wohlgemerkt bereits am 6. Februar öffentlich gemacht
        wurde.
        Obwohl der Entwurf der EnEV auf dem Weg zum eu-
        ropäischen Niedrigstenergiegebäude in gemäßigten
        Schritten vorangeht, entdeckte die FDP-Fraktion plötz-
        lich angeblich den Mieterschutz und warnte vor Verteue-
        rungen im Wohnen. Ein durchaus ungewohntes Bild,
        welches wesentlich sinnvoller angewandt worden wäre
        bei der Mietrechtsnovelle, aber leider völlig ausblieb.
        Hier wäre es deshalb sinnvoll gewesen, weil die Koali-
        tion die soziale Funktion des Mietrechts erhalten und
        nicht ausgehöhlt hätte. Jetzt ist es nur noch die Bloßstel-
        lung des eigenen Ministers.
        Trotzdem scheinen sich die Koalitionspartner doch
        noch einig geworden zu sein.
        Mit der Novelle von EnEV und EnEG sollen die Vor-
        gaben der Richtlinie des Europäischen Parlaments und
        des Rates über die Gesamtenergieeffizienz von Gebäu-
        den (2012/31/EU) umgesetzt werden. Viel zu spät han-
        delt die Bundesregierung. Die EU hat die Umsetzung der
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013 30501
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        Richtlinien längst angemahnt. Die Bundesregierung ist
        seit einem Jahr in Verzug. Ausgerechnet „Energiewende-
        deutschland“ droht nun eine Vertragsstrafe, weil das Re-
        gierungskabinett der Kanzlerin nicht in der Lage ist, EU-
        Vorgaben fristgerecht umzusetzen.
        Mit dem 4. Gesetz zur Änderung des Energieeinspa-
        rungsgesetzes werden zum einen die gesetzlichen Er-
        mächtigungsgrundlagen für die aktuelle EnEV-Novelle
        und wird zum anderen die grundsätzliche Pflicht zur
        Errichtung von Neubauten im Niedrigstenergiegebäude-
        standard mit Wirkung ab 2019 für Behördengebäude und
        ab 2021 für alle übrigen Neubauten eingeführt. Die klare
        Definition des Niedrigstenergiestandards wird erst in
        den kommenden Jahren festgelegt werden. Hier kann ich
        der Bundesregierung nur raten, den Anträgen der SPD-
        Bundestagsfraktion sowie den Empfehlungen des Bun-
        desrates zu folgen und die Frist für die Definition nicht
        voll auszuschöpfen, um zeitig Planungssicherheit für die
        Hausbesitzer, Bauwirtschaft und Akteure am Markt zu
        schaffen.
        Wir – die SPD-Bundestagsfraktion – begrüßen, dass
        in der Novelle der EnEV auf Verschärfungen der Stan-
        dards für die Bestandsgebäude verzichtet wurde.
        Unlogisch bleibt die Entscheidung für das zweistufige
        Modell der Anhebung der Effizienzstandards für Neu-
        bauten in 2014 und 2016 um jeweils 12,5 Prozent. Ich
        halte dies für Augenwischerei und praxisfern. Welcher
        Bauherr soll denn 2014 Baustandards realisieren – wohl
        wissend, dass diese bereits zwei Jahre später veraltet
        sein werden? Hier hält die SPD-Bundestagsfraktion, ge-
        nau wie viele Länder, eine einstufige Anhebung der Effi-
        zienzstandards für ehrlicher und realistischer. Die Aus-
        einandersetzung im Bundesrat über die Höhe der
        Anhebung der Energieeffizienzstandards bleibt weiter-
        hin spannend, da Bayern lediglich eine Anhebung von
        maximal 15 Prozent fordert, ganz im Gegensatz zu den
        Vorschlägen des zuständigen Ministers. Ich möchte hier
        darauf hinweisen, dass die Höhe der Anhebung der Stan-
        dards gut überlegt sein sollte. Das Ziel ist für 2019 bzw.
        2021 festgelegt. Ein zu geringer Ansatz verschiebt die
        Problematik nur wenig und verschärft nach 2016 die
        Situation um so mehr.
        Die Frage des Energieausweises wird leider mit dem
        heutigen Gesetzesentwurf nicht gut geklärt. Die Rege-
        lungen nach Bedarf und Verbrauchsausweisen bleiben
        unangefochten stehen und tragen weiter zur Verwirrung
        der Verbraucher bei. Die hausgemachte Intransparenz
        des Systems bleibt bestehen. Wir fordern daher dringend
        eine Vereinheitlichung der Berechnung der Energieaus-
        weise. Außer wenigen Fachleuten ist kein Laie wirklich
        in der Lage, die unterschiedlichen Berechnungen nach-
        zuvollziehen oder auf Anhieb zu verstehen. Wichtiger
        wäre es beispielsweise vergleichende Bezugsgrößen ein-
        zubeziehen. Eine vierköpfige Familie hat sicher einen
        höheren Energiebedarf als eine zweiköpfige Familie in
        der gleichen Wohnung; jemand, der ganztägig daheim
        ist, hat einen anderen Verbrauch als jemand, der zwölf
        Stunden unterwegs auf Arbeit ist, und so weiter. Ver-
        ständlich und einfach für den Nutzer ist auch ein Labe-
        ling – ähnlich der bereits vorhandenen Energielabel. Ers-
        tens hat dies bereits einen Wiedererkennungswert und ist
        einfach zu handhaben. Es sollte allerdings nur eine Istzu-
        standsbeschreibung sein, die einfach und transparent
        darstellt, welche energetischen Bedingungen jeweils
        vorliegen.
        Nicht zu verstehen ist, warum für Altmieter nicht
        auch ein Energieausweis ausgestellt werden kann. Die
        Daten müssen bei Neuvermietung sowieso verpflichtend
        nach der jetzigen Gesetzesgrundlage erhoben und vorge-
        legt werden. Der Mehraufwand wäre minimal, und für
        eine einheitliche Verbrauchersystematik ist es unver-
        ständlich, warum bereits bestehende Mietverhältnisse
        nicht auch einen solchen Energieausweis erhalten und
        somit schlechtergestellt werden.
        Insgesamt bleiben die EnEV und das EnEG ein Bau-
        stein, aber nicht die alleinige Lösung für die Umsetzung
        von Energieeffizienz- und Energieeinsparzielen im Ge-
        bäudebereich. Die vorgeschriebenen Maßnahmen wer-
        den nur greifen, wenn gleichzeitig der richtige Anreiz
        und die richtige Unterstützung durch Förderprogramme
        der Bundesregierung erfolgt. Und hier ist der große Ha-
        ken. Mit dem Energie- und Klimafonds hat sich
        Schwarz-Gelb ein Finanzloch gegraben. Die Einnahmen
        für den Fonds aus dem CO2-Zertifikatehandel gehen
        massiv zurück, und somit bricht die Finanzierung für das
        KfW-Förderprogramm der CO2-Gebäudesanierung und
        des energetischen Bauens zusammen. Die Förderung des
        Quartiersansatzes der energetischen Stadtsanierung
        kommt ebenfalls in Bedrängnis. Die wichtigen Klima-
        schutzziele rücken in weite Ferne. Wir wissen bereits
        länger, dass sich energetische Sanierung auch langfristig
        nicht durch die eingesparten Energiekosten amortisiert.
        Daher sind Anreize dringend notwendig. Ebenso ist es
        notwendig, dass der Staat gezielt dort mit Förderzu-
        schüssen ansetzt, wo sonst die energetisch notwendigen
        Maßnahmen aus rein finanziellen Hinderungsgründen
        nicht durchgeführt werden können, und dass Härten ab-
        gefedert werden. Nur so wird eine Umsetzung der Ziele
        erfolgreich sein.
        Der ganzheitliche Quartiersansatz – auch im Zusam-
        menhang mit Barrierefreiheit, sozialer und ausgewo-
        gener Wohnumfeldgestaltung sowie einer an den
        demografischen Wandel angepassten Strategie der Stadt-
        entwicklung – kann durch die EnEV oder das EnEG
        nicht geleistet werden. Das wird aber auch in keinster
        Weise von der Bundesregierung bedacht.
        Hier zeigt sich eine weitere Schwäche der Fortschrei-
        bung der EnEV: Die EnEV ist mittlerweile derart über-
        frachtet, dass in der Expertenanhörung im Fachaus-
        schuss gleich von mehreren Sachverständigen darauf
        hingewiesen wurde, dass die EnEV in der heutigen Form
        sogar ungeeignet ist für die Umsetzung der Effizienz-
        und Einsparziele im Gebäudebereich. Hier muss endlich
        über den Tellerrand geschaut werden. Die unterschiedli-
        chen gesetzlichen Grundlagen für die energetische
        Gebäudebeschaffenheit, wie EnEG und EnEV sowie
        das Erneuerbare-Energien-Wärme-Gesetz, EEWärmeG,
        müssen unter der Federführung des Bundesministeriums
        für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung mittelfristig zu-
        sammengeführt und Möglichkeiten der stärkeren Vernet-
        30502 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013
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        zung mit dem Ansatz des Energieeffizienten Quartiers
        gefunden werden.
        Wer Gebäude saniert, weiß, dass er dies in 20 Jahren
        oder mehr nur einmal machen wird. Hierbei spielt die Fi-
        nanzierung, aber natürlich auch die sonstige Belastung
        eines solchen Vorhabens eine wesentliche Rolle. Daher
        ist es wichtig, dass Aspekte wie altengerechte Anpassun-
        gen, Barrierefreiheit mit berücksichtigt und mit der ener-
        getischen Sanierung kombiniert werden. Dies gilt für
        den einzelnen Hausbesitzer ebenso wie für die Sanierung
        ganzer Wohnblöcke. Gerade weil jeder Euro nur einmal
        ausgegeben werden kann, ist ein effektiver Mitteleinsatz
        geboten ebenso wie ein sinnvolles Ineinandergreifen der
        Maßnahmen. Wir haben deshalb vorgeschlagen, die Mit-
        tel für die energetische Stadtsanierung nicht nur aus dem
        EKF in den Haushalt zurückzuführen und aufzustocken,
        sondern in die Städtebauförderung zu integrieren. Der
        Quartiersansatz spielt bereits jetzt eine wesentliche Rolle
        in den Kommunen (Städten und Gemeinden). Es gilt, die
        vor Ort geeignetsten Wege zu finden, um Energie spar-
        sam zu verwenden, effizient einzusetzen und regenerativ
        ins Quartier zu bringen. Nur durch diesen Dreiklang
        kann im Gebäudebestand die Energiefrage gelöst wer-
        den. Ein alleiniges Verschärfen der Standards wird nicht
        zum Erfolg führen. Leuchtturmprojekte sind nicht nur
        teuer in der Umsetzung, sondern sind auch meist nicht
        alltagstauglich.
        Sebastian Körber (FDP): Die beste Energie ist die,
        die nicht verbraucht wird. Effizienz und Einsparung von
        Energie im Gebäudebereich sind daher entscheidende
        Eckpfeiler in unserem Fahrplan zur Verwirklichung der
        Energiewende. Auch das vorliegende Energieeinspa-
        rungsgesetz, EnEG, dient diesem Ziel, denn damit wird
        die EU-Richtlinie über die Gesamteffizienz von Gebäu-
        den in deutsches Recht umgesetzt.
        Durch das EnEG werden die Voraussetzungen ge-
        schaffen, um die zur Richtlinienumsetzung noch zu re-
        gelnden Aspekte in die Energieeinsparungsverordnung,
        EnEV, aufzunehmen. Anlass für die Änderung der EnEV
        sind – neben der Umsetzung dieser neu gefassten EU-Ge-
        bäuderichtlinie – auch die Beschlüsse der Bundesregie-
        rung zum Energiekonzept und zur Energiewende, soweit
        diese das Energieeinsparrecht für Gebäude betreffen.
        Darüber hinaus soll ab 2019 die Einführung des Nied-
        rigstenergiestandards für Gebäudeneubauten, die von
        Behörden als Eigentümer genutzt werden, beziehungs-
        weise ab 2021 generell für alle neu zu errichtenden Ge-
        bäude verankert werden.
        Die gewählte offene Umsetzung ist eine vernünftige
        Lösung, um der geänderten EU-Gebäuderichtlinie zu
        entsprechen. Richtig ist insbesondere der in der Begrün-
        dung aufgegriffene Ansatz, dass der sehr geringe Ener-
        giebedarf nicht absolut betrachtet werden darf, sondern
        auf die jeweilige Gebäudenutzung abzustellen ist. Dies
        gilt auch für die Auffassung, dass erneuerbare Energien
        nur so weit möglich eingesetzt werden müssen.
        Die Änderung des EnEG betrifft insbesondere die Re-
        gelung von Kontrollmaßnahmen bei Neubauten zur Ein-
        haltung der EnEV-Anforderungen – beabsichtigt sind ob-
        ligatorische Stichprobenkontrollen bei Neubauten durch
        die Länder –, die Einführung eines europarechtlich vor-
        gegebenen Stichprobenkontrollsystems für Energieaus-
        weise und Inspektionsberichte über Klimaanlagen, meh-
        rere ebenfalls europarechtlich bedingte Vorgaben, die das
        Instrument des Energieausweises stärken, die Vorbild-
        funktion bei Behördengebäuden schon ab 2017 sowie
        strikter Datenschutz bei Gebäudedatenauswertung.
        Die Koalitionsfraktionen haben im Rahmen der Bera-
        tung auch eine nicht mehr zeitgemäße Regulierung ge-
        strichen, die aus der Zeit vor der Energiewende stammt.
        Die Verordnungsermächtigung zur zwangsweisen Au-
        ßerbetriebsetzung von Nachtspeicherheizungen entfällt.
        Hausbesitzer können wieder frei entscheiden, wann sie
        ihre Heizungsanlage austauschen. Damit setzen wir als
        FDP ein Wahlversprechen um.
        Keine Frage: Gerade im Gebäudebestand gibt es noch
        große Potenziale. Hier wird noch viel zu viel Energie
        verschwendet, und das bedeutet zugleich: Bares Geld
        wird sprichwörtlich nutzlos aus dem Fenster – und durch
        die restliche Gebäudehülle – schlecht isolierter Häuser
        geworfen; übrigens nicht zuletzt begünstigt durch alte
        Heizungsanlagen und fehlende innovative Gebäudetech-
        nik, obwohl Deutschland hier Weltmarktführer ist. Ge-
        rade die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen wer-
        den dadurch überproportional belastet. Ich denke, da
        sind wir uns einig.
        Es kommt wie immer auf die Definition neuer Ener-
        giestandards an – das EnEG ist sicher kein Freibrief für
        eine überzogene EnEV: Die momentan intensiv im Bun-
        desrat beratene EnEV-Novelle sieht vor, die energeti-
        schen Anforderungen für den Neubaubereich um insge-
        samt 25 Prozent in zwei Stufen bis 2016 zu verschärfen.
        Ich sehe das in Höhe und Umsetzung für im Grenzbe-
        reich des wirtschaftlich Zumutbaren und wünsche mir
        Nachbesserungen. Ich kann mir 15 Prozent in nur einer
        Stufe vorstellen. Wenn sich die Anforderungen erhöhen,
        schlägt sich das auf die Mieten nieder, bei Neubauten
        kann das schnell eine Baukostensteigerung um 5 Prozent
        oder mehr ausmachen. Gerade für den notwendigen Ge-
        schosswohnungsneubau in Ballungsräumen entstehen
        damit ungünstige Rahmenbedingungen, und letztlich
        droht eine politisch ja wohl kaum gewollte Mietenver-
        teuerung. Gleichermaßen erschweren diese Kostenstei-
        gerungen den Wohneigentumserwerb, insbesondere bei
        Einfamilienhäusern. In der öffentlichen Anhörung des
        Bauausschusses wurden meine Bedenken durch die
        Sachverständigen der gesamten Wohnungswirtschaft so-
        wie des Städtetages bestätigt. Die FDP-Fraktion hat in
        diesem Zusammenhang – die EnEV steht ja nicht zur
        Beratung hier im Hause an – deutlich bekundet, dass sie
        überzogene Anforderung ablehnt. Ich bin zuversichtlich,
        dass dieses Signal angekommen ist und auch bei den ab-
        schließenden Beratungen im Bundesrat, bei denen sicher
        noch einiges bewegt wird, Widerhall findet.
        Ich fühle mich jedenfalls in meiner Haltung nicht nur
        durch die Immobilienwirtschaft bestätigt, zumal auch
        die Bayerische Staatsregierung bereits angekündigt hat,
        man werde bei der EnEV-Novellierung sehr genau da-
        rauf achten, unvertretbare Belastungen zu vermeiden.
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013 30503
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        Die Planungen des Bundes, die primärenergetischen An-
        forderungen um 25 Prozent erhöhen, bewertet der für Woh-
        nungsbau zuständige Innenminister Joachim Hermann,
        CSU, mit bemerkenswert deutlichen Worten. Zitat aus
        einer Pressemitteilung von heute: „Das ist grober Un-
        fug.“ Also, liebe Kollegen der CSU, ich hätte es freund-
        licher ausgedrückt, aber die Tendenz teile ich ausdrück-
        lich! FDP und CSU Hand in Hand – das ist eben auch in
        dieser Frage gut für den Bund und gut für Bayern!
        Wir müssen die Menschen bei unseren Entscheidun-
        gen mitnehmen und dürfen sie nicht überfordern. Denn
        was wir sicher nicht wollen, ist, dass eine Anhebung der
        Anforderungen zu einer Verlangsamung der Sanierungs-
        dynamik führt. Unser Ziel bleibt, dass sich möglichst
        viele Gebäudeeigentümer freiwillig und ohne Zwang für
        einen energetischen Standard entscheiden, der besser ist
        als das Ordnungsrecht. Dafür wird von uns das erfolgrei-
        che CO2-Gebäudesanierungsprogramm mit jährlich
        1,5 Milliarden Euro Finanzausstattung als Zugpferd der
        Energiewende intensiviert. Seit Jahresbeginn werden zu-
        sätzlich für Zuschüsse – insbesondere an selbstnutzende
        Eigentümer – für acht Jahre jährlich 300 Millionen Euro,
        insgesamt also 2,4 Milliarden Euro, aus Bundesmitteln
        bereitgestellt. Die steuerliche Förderung der energeti-
        schen Sanierung, der „schlafende Riese“ mit riesigen
        Potenzialen für die Gebäude der 50er-, 60er- und 70er-
        Jahre, ist ja am rot-grünen Widerspruch im Bundesrat
        gescheitert! Damit stehen 2013 und 2014 jährlich
        1,8 Milliarden Euro allein für diese KfW-Programme für
        Zinsverbilligungen und direkte Tilgungszuschüsse zur
        Verfügung.
        Für die kommende Legislaturperiode wäre es sinn-
        voll, als Beitrag zu Verständlichkeit, Vereinfachung und
        insbesondere Entbürokratisierung zu prüfen, wie das ge-
        bäudebezogene Energierecht vereinfacht, zusammenge-
        fasst und intelligent weiterentwickelt werden kann.
        Wir wollen die Förderung der Investitionsbereitschaft
        auf breiter Basis, Vermeidung von unnötigen Mieterhö-
        hungen, Planungssicherheit für Investoren und die Er-
        haltung von Eigentum, denn die Energiewende muss für
        die Bürger nachvollziehbar und bezahlbar sein. Rot-
        Grün steht hingegen auch hier für Blockade, Verbote und
        Mehrbelastungen!
        Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Den Weg, den
        die Bundesregierung bei der Energieeffizienzpolitik be-
        schreitet, konnte man letztens bei der Vorstellung der
        Dena-Studie gut betrachten, welche die Vor- und Nach-
        teile von Verpflichtungs- und Anreizsystemen unter-
        suchte. Der Vertreter des BMWi schloss sich vollinhalt-
        lich der umstrittenen, von RWE finanzierten Studie an.
        Deren Ergebnis fällt so aus, dass – wie überraschend –
        die deutschen Energieeffizienzanreizsysteme die besten
        der Welt sind, während Verpflichtungssysteme, wie sie
        etwa in Dänemark existieren, keine Alternative wären.
        Die wesentlichen Vorteile von Verpflichtungssyste-
        men, nämlich klare Zielvorgaben, klare Verantwortlich-
        keit für die Zielerreichung und ein haushaltsunabhängi-
        ges Budget, um die Ziele zu erreichen, wurden dabei
        vollkommen ignoriert. Zudem hat die Studie etliche an-
        dere Fehler, wie ein DENEFF-Papier zum Thema nach-
        weist.
        Aber die Bundesregierung scheut Verpflichtungen für
        Wirtschaft und Hauseigentümer wie der Teufel das
        Weihwasser. Und genau hier sind wir beim Gebäudebe-
        stand. Die jährliche Sanierungsquote muss auf 2 bis
        3 Prozent verdoppelt werden. Ansonsten sind die Lang-
        fristklimaschutzziele Deutschlands nicht zu erreichen.
        Energieeinspargesetz und Energieeinsparverordnung
        stellen aber auch nach dieser Novelle fast ausschließlich
        auf den Neubau ab. Bestandssanierungen kann man,
        muss man aber nicht durchführen. Die KfW-Fördermit-
        tel für die Gebäudesanierung sind also lediglich ein An-
        reizsystem – ein wirklicher Sanierungsfahrplan steht in
        den Sternen.
        Im Übrigen ist mit dem Anreizen auch bald Schluss. Es
        herrscht ja Ebbe in den Kassen des Energie- und Klima-
        fonds, EKF. Auch weil die Bundesregierung Reformen
        beim EU-Emissionshandel blockiert, sind die CO2-Preise
        dauerhaft im Keller und damit auch die Auktionserlöse,
        aus denen sich der EKF speist. Für eine zukunftsweisende
        Energieeffizienzpolitik – nicht nur im Gebäudebereich –
        fehlen damit die Mittel. Und die Bundesregierung hat sie
        sich selbst weggeschossen – bravo!
        Klar ist: Wir brauchen eine solide Finanzierung. Denn
        insbesondere bei Sanierungen im Gebäudebestand brin-
        gen die Sanierungen vielfach weniger Einsparungen an
        Heizkosten als sie kosten. Zum Schutz der Erdatmo-
        sphäre gibt es zur Klimasanierung der Häuser dennoch
        keine Alternative. Die Finanzierungslücke muss also so
        geschlossen werden, dass unter dem Strich die Warm-
        mieten nicht steigen. Ansonsten droht eine Verdrängung
        ärmerer Haushalte.
        Aus diesem Grund sollte die Förderung des Gebäude-
        sandes über die drei Säulen KfW-Gebäudesanierungs-
        programm, steuerliche Förderung und Hilfen über För-
        derfonds für eine soziale Stadtteilentwicklung von
        gegenwärtig etwa 1,5 Milliarden Euro auf mindestens
        5 Milliarden Euro angehoben werden. Dabei kann der
        Förderfonds für eine soziale Stadtteilentwicklung Kom-
        munen dabei unterstützen, in Stadt- oder Ortsteilen mit
        einem hohen Anteil einkommensschwacher Haushalte
        spezielle Programme für ein soziales Quartiersmanage-
        ment und Härtefälle einzurichten.
        Die Finanzierung und ihre soziale Dimension ist nur
        eine Seite des Problems. Eine erfolgreiche Klimapolitik
        im Gebäudebereich braucht zugleich verbindliche Vor-
        gaben. Für einen sehr interessanten Beitrag zur Debatte
        hält die Linke hier die Vorschläge der Diskussionsschrift
        „Strategie für eine wirkungsvolle Sanierung des deut-
        schen Gebäudebestandes“, welche im Auftrag des Na-
        turschutzbunds Deutschland, NABU, im Oktober letzten
        Jahres erstellt wurde. Danach ist seitens der Bundesre-
        gierung ein verbindlicher Sanierungsfahrplan zu erstel-
        len, der stufenweise bis 2050 zu erreichende Klima-
        schutzklassen für Gebäude festschreibt.
        Das Charmante an diesem Vorschlag ist, dass er nicht
        auf starrem Ordnungsrecht beruht. Er schafft zwar ver-
        pflichtende Standards, aber zugleich flexible Rahmenbe-
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        dingungen, wie bzw. wann diese zu erreichen sind. So
        kann vom Stufenplan – also dem Erreichen einer festge-
        legten Klimaschutzklasse zu einem bestimmten Zeit-
        punkt – zeitlich abgewichen werden. Wird die Klima-
        schutzklasse früher erreicht, sind Prämienzahlungen an
        den Hauseigentümer vorgesehen, während bei einer spä-
        teren Umsetzung spürbare Maluszahlungen anfallen wür-
        den. Letztere könnten die vorgenannten Prämien (teil-)fi-
        nanzieren. Damit wäre Raum geschaffen, energetische
        Teil- oder Grundsanierungen besser in den „natürlichen
        Sanierungszyklus“ des jeweiligen Gebäudes zu integrie-
        ren.
        Ein solches System halten wir für vorteilhaft, da so
        besser verhindert werden kann, dass beispielsweise noch
        funktionstüchtige Fenster oder Türen im Rahmen von
        energetischen Sanierungen ausgetauscht werden. Dies
        wiederum dient der Kostensenkung, also Mietern und
        Vermietern, sowie dem Ressourcenschutz. Allerdings
        meinen wir – über den NABU-Vorschlag hinausgehend –,
        dass über solche Flexibilisierungsoptionen nicht unbe-
        grenzt Sanierungsstufen ausgelassen oder aufgeschoben
        werden dürften.
        Die Bundesregierung hat dagegen überhaupt keinen
        Plan, welche Vorgaben sie Hauseigentümern machen
        will. Sie ist hier vollkommen fantasielos und lässt die
        Sache letztlich laufen. Wahrscheinlich weil sie weiß,
        dass viele Hauseigentümer sich den Ärger sparen wol-
        len, der mit Sanierungen zwangsläufig verbunden ist. So
        spart die Koalition dann auch Geld für Zuschüsse. Das
        passt dann wieder ganz gut damit zusammen, dass die
        Bundesregierung, wie oben beschrieben, offensichtlich
        wenig Interesse an stabilen Einnahmen des EKF durch
        eine Reform des Emissionshandels hat.
        Hier schließt sich der Kreis: Blockade einer zukunfts-
        fähigen Klimaschutzpolitik im Gebäudebereich wie bei
        Energieerzeugungs- und Industrieanlagen. Zahlen dafür
        werden die einfachen Leute mit langfristig steigenden
        Heizkosten sowie natürlich die Erdatmosphäre. Auch
        darum gehört diese Regierung abgewählt.
        Daniela Wagner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        Was wir in Sachen Energieeinsparungsgesetz und Ener-
        gieeinsparverordnung erlebt haben, ist kaum zu glauben.
        Zunächst kann sich das federführende Haus des Baumi-
        nisters kaum mit dem BMWi und dem BMU auf einen
        Entwurf einigen, sodass die Bundesregierung kurz vor
        einem Vertragsverletzungsverfahren der Europäischen
        Union steht. In der Anhörung im Bauauschuss zum Ge-
        setzentwurf lobbyiert RWE munter für eine Streichung
        des § 10 a in der Energieeinsparverordnung mit dem
        Ziel, dass die alten Asbestschleudern von Nachtspei-
        cheröfen aus den 1960er-Jahren weiter betrieben werden
        können. Die Koalition greift das dann auch noch in ei-
        nem Änderungsantrag entsprechend auf. Anforderungen
        hinsichtlich Modernisierung der bestehenden höchst in-
        effizienten Stromspeicheröfen? Fehlanzeige! Noch nicht
        einmal das haben Sie richtig hinbekommen.
        Und als Nächstes wurde dann im April die Lesung im
        Bauauschuss auf Betreiben des Koalitionspartners FDP
        geschoben. Ursache hierfür ist, dass der FDP die energe-
        tischen Anforderungen an den Neubau im eigenen Ge-
        setzentwurf zu weit gehen. Am Ende konnte sie sich
        aber nicht durchsetzen. Aber das ist in dieser Koalition
        auch nichts wirklich Neues.
        Hinzu kommt weiterhin die unsichere Finanzierung
        der Förderprogramme für die energetische Gebäudesa-
        nierung über den Energie- und Klimafonds. Der Preis für
        CO2-Zertifikate liegt aktuell bei knapp 3,50 Euro. Eine
        Reform des Zertifikatehandels ist also nicht länger auf-
        schiebbar. Aber eine konservativ-liberale Mehrheit im
        EU-Parlament hat eine Reform des Zertifikatehandels
        abgelehnt, die zu einem Anstieg der Zertifikatepreise
        und somit zu einer Verbesserung der Einnahmeseite des
        EKF geführt hätte. Herzlichen Glückwunsch zu einem
        so „klug abgestimmten“ Handeln. Dies macht deutlich,
        dass die Koalition, aber auch die Parteifreunde in Brüs-
        sel zu keiner gemeinsamen entschlossenen Haltung fin-
        den, wie sie die Energiewende im Gebäudebereich vo-
        ranbringen soll.
        Wir haben den Gesetzentwurf von Anfang an kriti-
        siert; denn dieser ist schlicht nicht geeignet, die Energie-
        wende im Gebäudebereich voranzubringen und den Kli-
        mawandel auch nur einen Tag zu verzögern.
        Die Verschärfung des Neubaustandards in zwei Stu-
        fen im aktuellen Entwurf bietet keinen verlässlichen
        Rahmen für Bauherren, Bauwirtschaft und Hersteller
        von Bauprodukten; denn so verbleibt man in der Syste-
        matik ständiger Änderungen der 2002 eingeführten Ver-
        ordnung, wie zuletzt 2004, 2007 und 2009. Das ist nicht
        gerade hilfreich für die beteiligten Marktteilnehmer. Und
        Sie setzen das auch noch so fort.
        Darüber hinaus werden die Mieterinnen und Mieter
        mit der Kostenfalle Heizung alleingelassen. Eine von
        uns in Auftrag gegebene Studie hat gezeigt, dass im
        Wärmemarkt allein für 12 Millionen deutsche Haushalte
        Heizöl mittlerweile zur Preisfalle geworden ist: In den
        vergangenen zehn Jahren haben sich die Heizölpreise in
        Deutschland um über 150 Prozent erhöht.
        Mit dem vorgelegten Entwurf der Bundesregierung
        werden also gerade Mieterhaushalte zusätzlich belastet,
        da die Verbesserung der primärenergetischen Anforde-
        rungen zu keinerlei Energieeinsparung führt. Damit tra-
        gen die Mieter zwar die Kosten, haben aber keinen Nut-
        zen von der energetischen Sanierung. Dies wird nicht
        zur Akzeptanz der Energiewende in der Bevölkerung
        beitragen. Hinzu kommt, dass erneuerbare Energien auf-
        grund der Lockerung der Anforderungen an den Wärme-
        schutz verschwendet werden. Dies ist nicht zielführend
        im Sinn des Verbraucherschutzes und der Energiewende.
        Die vorgesehene Erhöhung der Effizienzstandards für
        Neubauten wird gerade über die Hintertür wieder kas-
        siert. Das hat fatale Folgen. Denn Neubauten, die heute
        mit einem Standard gebaut werden, der nicht zielführend
        ist, müssen – das ist absehbar – aufwendig und teuer sa-
        niert werden.
        Die Novelle der Energieeinsparverordnung – EnEV –
        sollte entsprechend der Ziele im Gebäudebereich mit
        Blick auf 2020 ausgerichtet werden und schon heute eine
        langfristige Perspektive für Immobilienbesitzer, Mieter,
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        Bauwirtschaft und Produktehersteller bieten. So werden
        Planungs- und Investitionssicherheit hergestellt.
        Wir streben für den Neubau ab 2019 das 1,5-Liter-
        Haus an, das pro Quadratmeter und Jahr nicht mehr als
        15 kWh für Wärme und Kühlung benötigt. In einem
        weiteren Schritt wollen wir den Standard Energie-Plus-
        Haus für alle Neubauten einführen. Bis 2020 streben wir
        einen Energiestandard für Vollsanierung mit maximal 70
        Kilowattstunden Energiebedarf für Wärme und Kühlung
        pro Quadratmeter Wohnfläche und Jahr an. Bei Instand-
        setzung oder Modernisierung einzelner Bauteile oder
        Anlagen sollten diese auf einen anteilig entsprechenden
        Energiestandard, der sich ab dem Jahr 2020 am 7-Liter-
        Haus orientiert, verbessert werden. Diese einzelnen
        Maßnahmen sollten so ausgeführt werden, dass sie in der
        Summe das 7-Liter-Haus-Niveau erreichen. Wir wollen
        also keine Zwangssanierung, sondern orientieren uns an
        immobilienwirtschaftlichen Investitions- und Instand-
        haltungszyklen: Wenn saniert wird, dann auf einem sinn-
        vollen und wirtschaftlichen Niveau. Unsere aktuelle Stu-
        die zeigt: Bei Vollsanierungen sanierungsbedürftiger
        Gebäude ist dieser Standard heute schon wirtschaftlich,
        für Vermieter, Mieter und Selbstnutzer.
        Weiterhin müssen Energieeinsparungsgesetz, Ener-
        gieeinsparverordnung und Erneuerbare-Energien-Wär-
        megesetz besser aufeinander abgestimmt und gegebe-
        nenfalls zusammengeführt werden. Auch ist dringend
        ein bundesweites Klimaschutzgesetz erforderlich, um ei-
        nen föderalen Flickenteppich in diesem Bereich zu ver-
        meiden.
        Wir Grüne wollen Transparenz herstellen und den
        Energieverbrauch nachvollziehbar machen. Wir fordern
        daher die Einführung eines einheitlichen Bedarfsauswei-
        ses, welcher den Energiebedarf eines Gebäudes unab-
        hängig vom individuellen Nutzerverhalten darstellt. Um
        Akzeptanz und Verständlichkeit zu erhöhen, ist die Ein-
        führung der gängigen Energieeffizienzklassen überle-
        genswert.
        Die Vielzahl der Ausweise hat die Marktteilnehmer
        verunsichert und Ausweichstrategien gefördert. So wird
        zunehmend, beispielsweise bei Abschluss von Kaufver-
        trägen über Immobilien, vertraglich vereinbart, dass der
        gesetzlich vorgeschriebene Energieausweis nicht vorlie-
        gen muss. Offenbar führt die Vielzahl der Ausweise auf-
        grund der Komplexität und schweren Nachvollziehbar-
        keit nicht zu der gewünschten Akzeptanz bei den
        Verbrauchern. Eine Vereinheitlichung und Überführung
        hin zu einem bereits bekannten System der Darstellung
        kann die Akzeptanz bei den Verbrauchern erhöhen.
        Diese Ausweise sollten einen individuellen Sanie-
        rungsfahrplan mit konkreten Modernisierungsempfeh-
        lungen für die Eigentümer enthalten. Mit dieser Dienst-
        leistung erhalten die Eigentümer Orientierung über
        mögliche Maßnahmen und ihre Alternativen. Der Aus-
        weis sollte bei Verkauf und Vermietung verpflichtend
        vorgelegt werden müssen.
        Wir Grüne wollen die Förderung stärken und so
        Vertrauen schaffen. Die Förderkulisse sollte die ver-
        schiedenen Eigentumsformen wie etwa Selbstnutzer,
        Kleinvermieter, Wohneigentumsgemeinschaften, Genos-
        senschaften oder Wohnungswirtschaft stärker berück-
        sichtigen. Die Förderung sollte vermehrt auf eine Zu-
        schussförderung abgestellt werden, da zinsverbilligte
        Darlehen derzeit für viele Haushalte völlig uninteressant
        sind.
        Konkret sind die CO2-Gebäudesanierungsprogramme
        der KfW auf 2 Milliarden Euro aufzustocken und aus
        dem regulären Bundeshaushalt zu finanzieren.
        Ergänzend hierzu wollen wir den Aufbau eines echten
        und verlässlich finanzierten grünen Energiesparfonds in
        Höhe von drei Milliarden Euro. Dieser fördert Maßnah-
        men für Wärme- und Stromeffizienz, insbesondere in
        Haushalten mit geringem Einkommen.
        Weiterhin treten wir nach wie vor für eine steuerliche
        Förderung der energetischen Gebäudesanierung für
        Selbstnutzer ein. Diese sollte progressionsunabhängig,
        sozial gerecht und ökologisch zielführend ausgestaltet
        sein.
        Anlage 15
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Antrags: Export von Überwa-
        chungs- und Zensurtechnologie an autoritäre
        Staaten verhindern – Demokratische Proteste
        unterstützen (Zusatztagesordnungspunkt 6)
        Erich G. Fritz (CDU/CSU): Dass Sie, sehr verehrte
        Kollegen von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, mit
        Ihrem Antrag Gutes beabsichtigen, möchte ich nicht be-
        zweifeln. Denn wir reden über ein wichtiges Thema. Da-
        her möchte ich mich bei Ihnen dafür bedanken, dass
        auch Sie dieses Thema zur Sprache bringen. Wir brau-
        chen eine öffentliche und politische Debatte über die Zu-
        kunft von Cybersecurity. In diesem Rahmen müssen wir
        darüber sprechen, wie wir „Überwachungstechnologie“
        weltweit besser regulieren können.
        Ich freue mich, dass wir auch im Bundestag, nämlich
        im Unterausschuss für „Abrüstung, Rüstungskontrolle
        und Nichtverbreitung” am 17. April über dieses Thema
        diskutiert haben. Denn die technischen und politischen
        Entwicklungen der letzten Jahre stellen uns, aber auch
        alle anderen Länder vor entscheidende Herausforderun-
        gen. Und die Dinge müssen zusammenhängend betrach-
        tet werden.
        Die transformative Kraft des Internets hat auch einen
        enormen Einfluss auf Fragen der Menschenrechte, ins-
        besondere der Meinungsfreiheit. Das Internet hat sich zu
        einem Synonym für die Veränderungen und Möglichkei-
        ten der Globalisierung entwickelt. Große Chancen gehen
        Hand in Hand mit schwerwiegenden Risiken. Beides, die
        Chancen und die Risiken, haben sich in den politischen
        Umwälzungen in den Ländern des Nahen und Mittleren
        Ostens manifestiert:
        Einerseits haben wir uns über die demokratieför-
        dernde Wirkung der Neuen Medien gefreut, das muss
        man auch sagen dürfen. Und andererseits sehen wir, dass
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        neue Kommunikationstechnologien, sei es aus Deutsch-
        land oder anderen Innovationsstandorten, für niedere
        Zwecke missbraucht werden können.
        Genau hier müssen wir differenzieren. Denn Überwa-
        chungssoftware ist nicht per se schlecht. Zu Überwa-
        chungssoftware zählen Programme, die zur Kommuni-
        kationsüberwachung geeignet sind. Die Anwendung von
        Kommunikationstechnologie ist ein legitimes Mittel,
        von dem Polizei und Nachrichtendienst profitieren, um
        unseren Rechtsstaat zu schützen. Um es klar zu sagen:
        Überwachungstechnologie kann dabei helfen, Verbre-
        chen zu verhindern. Und deshalb ist es gut, dass wir in
        Deutschland innovative Unternehmen unterstützen, die
        unsere Softwaretechnologien weiterentwickeln und auch
        exportieren.
        Gefährlich wird es in der Tat, wenn diese Überwa-
        chungstechnologie missbraucht wird zu Zwecken der in-
        ternen Repression zum Beispiel für die Überwachung
        und Verfolgung Oppositioneller und von Minderheiten.
        Undemokratische Staaten dürfen nicht die technischen
        Mittel bekommen, um ihre Bürger auszuspionieren und
        zu bedrohen. Dieses Ziel eint uns.
        Cybersecurity ist daher eine große politische Heraus-
        forderung auf nationaler und internationaler Ebene. Ei-
        nes ist sicher: Kein Staat kann den Cyberspace alleine
        regieren. Daher müssen wir international zusammenar-
        beiten, um Antworten auf drängende Fragen zu geben,
        auch in Bezug auf Überwachungstechnologien.
        Damit keine Missverständnisse entstehen: Die deut-
        sche exportkontrollpolitische Linie zu Überwachungs-
        software ist bereits kritisch und strikt einzelfallbezogen,
        sofern die Güter im Rahmen der bestehenden rechtlichen
        Regelungen kontrolliert werden können. Die Politischen
        Grundsätze der Bundesregierung und der Gemeinsame
        Standpunkt der EU zur Kontrolle der Ausfuhr von Mili-
        tärtechnologie sehen vor, dass die Einhaltung von Men-
        schenrechten im Empfängerland und der mögliche Miss-
        brauch der zu liefernden Ware geprüft werden.
        Zudem gibt es im Bereich der sogenannten Dual-Use-
        Güter – Güter mit doppeltem Verwendungszweck: im zi-
        vilen und militärischen Bereich – mit der EU-Dual-Use-
        Verordnung eine Regelung, in der vergleichbare Krite-
        rien an den Export gestellt werden.
        Wichtige Parameter, die bei der Bewertung der Aus-
        fuhrvorhaben bereits gelten und bei sensitiven Empfän-
        gerstaaten besonders sorgfältig geprüft werden, sind:
        Nutzungspotenziale der Güter, angegebene Endverwen-
        dung, Aufgabenprofil des Endverwenders, bestehende
        gesetzliche Regelungen des Einsatzes von Technologien
        und mögliche Hinweise auf innere Repression.
        Der Export von Software muss also in vielen Fällen
        vorher genehmigt werden. Dies ist immer dann der Fall,
        wenn die Software von der Ausfuhrliste erfasst ist. Wenn
        beispielsweise eine Werkzeugmaschine aufgrund ihrer
        technischen Merkmale ausfuhrgenehmigungspflichtig
        ist, dann ist auch die zugehörige Steuerungssoftware ge-
        nehmigungspflichtig. Dies gilt dann auch für nachträg-
        lich gelieferte Softwareanpassungen.
        Neben den „normalen“ Exportkontrollvorschriften
        sind Embargos zu beachten. Zum Teil sind Güter im Be-
        reich der Überwachungssoftware bereits durch EU-
        Sanktionen erfasst. Dafür hatte sich auch Bundesminis-
        ter Westerwelle seit 2011 ausgesprochen. Dem wurde im
        Rahmen der EU-Sanktionen gegen Syrien und Iran be-
        reits Rechnung getragen.
        Unser Problem besteht darin, dass Softwareprodukte
        nicht immer als Dual-Use-Güter gelten oder auf der Aus-
        fuhrliste stehen und daher oft nicht unter die zu kontrol-
        lierenden Güter fallen. Es gibt noch keine übergreifende
        Exportkontrolle für jede Form von Überwachungssoft-
        ware. Die Bundesregierung arbeitet aktuell daran, den
        Export von Überwachungssoftware stärker regulieren zu
        können.
        Grundsätzlich kann die Ausfuhr von Überwachungs-
        software in die Länder, in denen Missbrauch vorherzuse-
        hen ist, nur überwacht werden, wenn diese als zu kon-
        trollierendes Gut auf Ausfuhrlisten aufgenommen ist.
        Erst dann besteht die Verpflichtung, vorab eine Ausfuhr-
        genehmigung zu beantragen.
        Es wird also an der Erfassung von Überwachungs-
        software durch exportkontrollpolitische Regime gearbei-
        tet, ohne dass es bislang bereits ein Ergebnis gäbe – ei-
        ner Herausforderung, der wir uns stellen müssen. Im
        Übrigen sind andere Staaten dabei nicht weiter als wir.
        Nun kritisieren Sie in Ihrem Antrag, dass die Bundes-
        regierung trotz anders lautender Absichtserklärungen,
        nicht tätig geworden sei, um die Exportkontrolle für Gü-
        ter der Überwachungstechnik zu verschärfen. Diese Be-
        hauptung zeigt, dass Sie sich nicht gut genug informiert
        haben, oder aber, dass Sie vor der Bundestagswahl eine
        Chance wittern, ein emotionales Thema für Ihren Wahl-
        kampf zu missbrauchen. Und das wäre vor dem Hinter-
        grund der ernsthaften Thematik sehr schade.
        Fakt ist: Diese Bundesregierung stellt sich den verän-
        derten technologischen Rahmenbedingungen und re-
        agiert angemessen auf sie. Das Motto lautet auch hier:
        Qualität ist wichtiger als ein Schnellschuss aus der
        Hüfte. Ich glaube, ich spreche für die gesamte Koalition,
        wenn ich das Bestreben der Europäischen Kommission,
        die Effizienz und Wirksamkeit des europäischen Aus-
        fuhrkontrollsystems für Dual-Use-Güter zu optimieren,
        ausdrücklich unterstütze.
        In Ihrem Antrag, verehrte Kollegen von den Grünen,
        sprechen Sie das Wassenaar Arrangement an. Das Was-
        senaar Arrangement ist das internationale Exportkon-
        trollregime für konventionelle Waffen und für relevante
        Dual-Use-Güter und -technologien. Die in Deutschland
        geltenden Güterlisten für Dual-Use-Güter werden haupt-
        sächlich in den internationalen Exportkontrollregimen,
        wie dem Wassenaar Arrangement, verhandelt und be-
        schlossen. Deren Umsetzung in unmittelbar geltendes
        Recht erfolgt durch die Europäische Union (in Anhang I
        der Dual-Use-Verordnung (EG) Nr. 428/2009).
        Ziel des Wassenaar Arrangement ist die Schaffung
        harmonisierter Exportkontrollen für diese Güter. Gerne
        teile ich Ihnen mit, dass im Moment Diskussionen im
        Bereich des Wassenaar Arrangement über die Aufnahme
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013 30507
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        bestimmter Güter aus dem Bereich Überwachungssoft-
        ware in die Kontrolllisten stattfinden, an der die Bundes-
        regierung sich konstruktiv beteiligt. Im Kontext der EU-
        Dual-Use-Verordnung gibt es auch Diskussionen über
        eine „catch all“-Klausel, deren Wirksamkeit allerdings
        von verschiedener Seite angezweifelt wird.
        Sicherlich wissen Sie, verehrte Kollegen von den
        Grünen, auch, dass eine Regelung auf internationaler
        Ebene – zum Beispiel im Wassenaar Arrangement oder
        in der EU – ein langwieriges Unterfangen ist. Dies hängt
        zusammen mit der notwendigen technischen Spezifizie-
        rung, der Einigung zwischen den Mitgliedstaaten und
        mit der darauf folgenden Aufnahme in europäische und
        nationale Ausfuhrlisten. Die Leitlinien des Wassenaar-
        Abkommens sehen vor, dass die zu kontrollierenden Gü-
        ter klar, präzise und anhand objektiver Parameter be-
        schrieben werden sollen. Durch die rasante technische
        Weiterentwicklung im Bereich der Überwachungssoft-
        ware ist es sehr schwierig, klar zu bestimmen, welche
        Überwachungstechnologien auf die Ausfuhrliste gehö-
        ren und wie diese genau definiert sein sollen. Zudem
        haben viele Überwachungstechnologien mehrere Funk-
        tionalitäten und sind auch für den ordnungsgemäßen
        Betrieb des Telekommunikationsnetzes erforderlich.
        Technisch präzise Listungen solcher Güter sind daher
        unverzichtbar, und darüber reden wir gerade.
        Es muss deswegen mit klaren Begrifflichkeiten argu-
        mentiert werden (wie im Wassenaar Arrangement vorge-
        sehen). Ein Beispiel: Der Begriff „digitale Waffen“ für
        Überwachungssoftware ist plakativ, könnte aber zu einer
        Verharmlosung der schrecklichen unmittelbar tödlichen
        Wirkung „echter“ Waffen führen. Wir sollten diese Sa-
        chen auseinanderhalten. Zudem wird im öffentlichen
        Raum Überwachungssoftware gelegentlich als Dual-
        Use-Gut bezeichnet, weil es legale und illegale Nut-
        zungsmöglichkeiten gebe. Dual-Use-Güter sind aber sol-
        che, die sowohl im militärischen als auch im zivilen Be-
        reich genutzt werden.
        So laut Sie auch schreien: Man kann diese Regelun-
        gen nicht übers Knie brechen. Solch eine Regelung ist
        aber bei Einigung der Mitgliedstaaten sehr zielführend.
        Eine Ausweitung der Kontrollen in diesem Rahmen
        hätte internationale Kontrollen von Überwachungssoft-
        ware zur Folge. Beschlüsse des Wassenaar Arrangement
        würden in EU-Recht umgesetzt und wären damit auch
        für alle Mitgliedstaaten der EU unmittelbar geltendes
        Recht.
        Die Bundesregierung hat mir versichert, sich für eine
        schnelle Regelung starkzumachen. Sollte eine Verständi-
        gung auf internationaler Ebene nicht erreicht werden
        können, wird die Bundesregierung Maßnahmen auf EU-
        Ebene prüfen. Sie sehen also, die Vorwürfe in dem vor-
        liegenden Antrag sind völlig unbegründet.
        Die Diskussion im politischen und öffentlichen Raum
        zeigt, dass sich das Thema weiterentwickelt und den-
        noch eine Herausforderung bleiben wird. Parallel zu den
        laufenden Verhandlungen könnten Hersteller von Über-
        wachungssoftware auch über eine Selbstverpflichtung
        nachdenken, die den Export nicht gelisteter Güter in be-
        stimmte Staaten ausschließt.
        Sie sehen die Komplexität dieser Fragen und dass
        sich durchaus etwas bewegt, wenngleich es einen langen
        Atem braucht. Ich bin überzeugt, dass dieses Thema bei
        unserer Bundesregierung in guten Händen ist, und lehne
        den vorliegenden Antrag daher ab. Dennoch freue ich
        mich über einen regen Austausch. Insbesondere darf
        diese Debatte sich nicht auf Deutschland beschränken,
        sondern muss international geführt werden.
        Klaus Barthel (SPD): Auch für Krieg und Gewalt
        bei innerstaatlichen und zwischenstaatlichen Konflikten
        muss das Internet, müssen Bits und Bytes immer mehr
        herhalten. Die Wirkung kann genauso tödlich sein wie
        „unmittelbares“ Kriegsmaterial. Informations- und
        Kommunikationstechnologien entziehen sich in beson-
        derer Weise klassischen und belastbaren Definitionen
        von „Rüstung“ oder „Waffe“, „Dual-Use“ ist in Fällen
        zum Beispiel von Software noch schwerer abgrenzbar
        als bei anderem Kriegsmaterial. Von daher sind auch
        Einschränkungen und Verbote schwer zu praktizieren
        und zu kontrollieren. Betroffene Unternehmen weisen
        mit Recht darauf hin, dass es auch die Falschen treffen
        könnte. Allerdings gibt es genug Beispiele, bei denen die
        Zwecke einschlägiger Exporte schon vorher erkennbar
        sind. Der vorliegende Antrag liefert leider wenige kon-
        krete und handhabbare Hinweise für Kontrollen und Ver-
        bote. Heute kann es nur darum gehen, ein Nachdenken
        über diese Problematik zu befördern.
        An Berichte, wonach der Export von Panzern nach
        Saudi-Arabien, Katar und Indonesien in wachsendem
        Umfang und wiederholt genehmigt wird, musste sich die
        Öffentlichkeit in Deutschland in den letzten dreieinhalb
        Regierungsjahren von Schwarz-Gelb leider gewöhnen.
        Neben materiellen Rüstungsexporten fällt in die Amts-
        zeit dieser Bundesregierung auch der Export von Späh-
        software und Überwachungsprogrammen, die massiv
        Menschenrechte wie die Meinungs- und Pressefreiheit
        beeinträchtigen können.
        Im Einzelnen sieht das dann so aus: Deutsche Unter-
        nehmen schreiben Programme, mit denen E-Mails mit-
        gelesen, Skype-Gespräche mitgeschnitten oder Benut-
        zer von Computern direkt abgehört oder sogar gefilmt
        werden können. Nach Fertigstellung der Software wird
        sie an interessierte Länder verkauft, und diese setzen sie
        dann gegen unliebsame Oppositionelle im eigenen Land
        oder im Ausland ein. Nach einem Bericht des NDR-
        Medienmagazins ZAPP vom 7. Dezember 2011 wurden
        mindestens folgende Länder mit Software-Know-how
        aus Deutschland beliefert: Syrien, Bahrain und Iran.
        Die Menschenrechtslage in diesen Ländern zeigt ein
        mehr als besorgniserregendes Bild: Im ansonsten mit
        Sanktionen belegten Iran werden, gemessen an der Be-
        völkerungszahl, die meisten Todesurteile weltweit voll-
        streckt. In Bahrain wurden im Februar und März 2011
        Proteste brutal niedergeschlagen. Es gab 35 Tote und
        Hunderte Verletzte. Das Thema Syrien kann hier nur er-
        wähnt, aber nicht ernsthaft abgehandelt werden.
        Und wie reagiert die schwarz-gelbe Bundesregie-
        rung? Auf die Kleine Anfrage der Grünen, Bundestags-
        drucksache 17/8052, ob die Bundesregierung aus den
        30508 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013
        (A) (C)
        (D)(B)
        damals bekannten Entwicklungen des Exports von Über-
        wachungs- und Zensursoftware Rückschlüsse hinsicht-
        lich einer Überarbeitung der Exportrichtlinien ziehen
        wolle, antwortete diese, dass sie nicht plant, die Richtli-
        nien zu überarbeiten, und dass sich die bestehenden Re-
        gelungen bewährt hätten. Für die schwarz-gelbe Bundes-
        regierung hat es sich also bewährt, indirekt autoritäre
        Regierungen im Kampf gegen Oppositionelle zu unter-
        stützen.
        Die Bundesregierung hat nicht nur weggesehen,
        sondern es wurden auch indirekte finanzielle Hilfen
        durch Hermesbürgschaften geleistet. Sie räumte ein,
        „Exportkreditgarantien zur Absicherung von Waren und
        Dienstleistungen aus dem Bereich der Telekommunika-
        tionstechnik“ übernommen zu haben. Leistet die Bun-
        desregierung damit einen Beitrag zur Überwachung von
        Oppositionellen und Demokratiebewegungen? Nicht
        Kritiker von zweifelhaften undemokratischen Regimen
        sollten überwacht werden, sondern der Export von Soft-
        ware, mit der man Menschen ausspähen und/oder über-
        wachen kann. Darüber hat diese Bundesregierung offen-
        bar noch nicht einmal nachgedacht.
        Selbstverständlich können wir auch an Unternehmen
        appellieren und sie auffordern, keine Spähsoftware zu
        exportieren. Aber welche praktische Bedeutung hat das
        dann? Hier ist der Staat gefordert, zu prüfen und even-
        tuelle Exportverbote auszusprechen, wenn nötig auf
        Grundlage neuer gesetzlicher Regelungen.
        Auch wir fordern mit Nachdruck, dass Software, die
        zur Einschränkung von Demokratie und Menschenrech-
        ten dienen kann, gegebenenfalls der Rüstungsexportkon-
        trolle unterworfen und damit genehmigungspflichtig
        werden soll. Außerdem fordern wir die Auflistung von
        Exporten von Überwachungs- und Spähsoftware im
        jährlichen Rüstungsexportbericht.
        Wie auch im Bereich von bereits aufgelisteten Rüs-
        tungsgütern hat es die schwarz-gelbe Bundesregierung
        nicht geschafft und nicht gewollt, eine verantwortungs-
        bewusste, transparente und vor allem restriktive Rüs-
        tungsexportpolitik umzusetzen. Anstatt demokratische
        Werte zu fördern, schauen CDU/CSU und FDP zu und
        unterstützen es, dass Panzer, Kriegsschiffe und Überwa-
        chungssoftware an zwielichtige Regime geliefert wer-
        den. Auch diese Rüstungsexportpolitik stellt einen wich-
        tigen Grund für die Notwendigkeit neuer politischer
        Mehrheiten im Herbst dieses Jahres dar.
        Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP): Mit dem Antrag
        möchte die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ihrem all-
        seits bekannten Hobby frönen: der Schaffung neuer Re-
        striktionen für deutsche und europäische Exportgüter. Das
        hehre Ziel, die demokratischen Prozesse in Krisenregio-
        nen zu unterstützen, verfehlt dieser Antrag komplett!
        So ist einer der Hauptangriffspunkte dieses Antrags,
        dass die Bundesregierung auf den Stand internationaler
        Verhandlungen verweise und nicht pro-aktiv genug
        handle. Nationale Alleingänge sind bei diesem Thema
        allerdings fehl am Platz. Wir stehen zu unseren interna-
        tionalen Verpflichtungen und Verträgen, wir stehen zu
        unseren Verbündeten und befreundeten Nationen in Eu-
        ropa und in der Welt!
        Die Bundesregierung hat sich aktiv für die Kontrolle
        von Überwachungstechnik in den Sanktionen gegen Iran
        und Syrien eingesetzt. Mit diesen Sanktionen ist es uns
        gelungen, den Export von Ausrüstung, Technologie und
        Software zur Überwachung des Internets und des Tele-
        fonverkehrs nach Syrien und Iran ohne vorherige Geneh-
        migung mit Inkrafttreten der Syrien-Embargo-Verord-
        nung (EU) Nr. 36/2012 am 19. Januar 2012 und der Iran-
        Embargo-Verordnung (EU) Nr. 264/201 2 am 24. März
        2012 zu verbieten.
        Die bestehenden Regelungen der Ausfuhrliste zu
        Rüstungsgütern oder Dual-use-Gütern aus Anhang I der
        Verordnung (EG) Nr. 428/2009 (Dual-Use-Verordnung)
        werden strikt angewendet. Auch bei der Einzelfallprü-
        fung gilt der gemeinsame Standpunkt 2008/944/GASP
        des Rates der Europäischen Union und wird auch für den
        Export von Dual-Use-Gütern angewendet. Ausfuhrge-
        nehmigungen werden beim hinreichenden Verdacht des
        Missbrauchs zur inneren Repression oder zu sonstigen
        fortdauernden und systematischen Menschenrechtsver-
        letzungen grundsätzlich nicht erteilt. Ein Export ohne
        vorherige Genehmigung ist streng verboten.
        Die Bundesregierung wirkt erfolgreich auf multilate-
        raler Ebene an den relevanten, internationalen Verhand-
        lungen mit und stimmt sich regelmäßig und sehr erfolg-
        reich mit den internationalen Partnern zu weiteren
        Möglichkeiten der Exportkontrolle von Überwachungs-
        technik ab. Eine Ausweitung der Kontrollen des Was-
        senaar Arrangements in dem von den Grünen geforder-
        ten Rahmen hätte dagegen internationale Kontrollen
        unbekannten und unpraktikablen Ausmaßes zur Folge.
        Ein weiterer unbegründeter Vorwurf der Grünen ist,
        dass der damalige Bundeswirtschaftsminister Brüderle
        2011 Verschärfungen der Kontrolle von Dual-Use-Gü-
        tern verhindert habe. Dabei ging es damals weder um die
        Ausweitung von Exportkontrollen noch um Überwa-
        chungstechnologie. Richtig ist vielmehr, dass das Euro-
        päische Parlament damals Verfahrenserleichterungen für
        die Ausfuhr bestimmter genehmigungspflichtiger Güter
        für unkritische Zwecke an einen begrenzten Länderkreis
        verabschiedet hat. Die dort verabschiedeten EU-Allge-
        meingenehmigungen betreffen indes keine Güter der
        Überwachungstechnik. Auch in der Stellungnahme zu
        dem entsprechenden Grünbuch der EU-Kommission im
        Oktober 2011 hat die Bundesregierung das Bestreben
        der Europäischen Kommission begrüßt, die Effizienz
        und Wirksamkeit des europäischen Ausfuhrkontrollsys-
        tems für Dual-Use-Güter zu optimieren. Denn wir unter-
        stützen grundsätzlich weitergehende Harmonisierungs-
        bestrebungen.
        Natürlich unterliegen die Exportkreditgarantien des
        Bundes wie auch die anderen staatlichen Kreditversiche-
        rungen der OECD-Länder umfangreichen internationa-
        len Regeln wie dem OECD-Konsensus und den Leitli-
        nien zum Umgang mit Umwelt- und Sozialaspekten.
        Diese sind bei der Vergabe zu berücksichtigen.
        Wir lehnen daher den Antrag der Fraktion Bündnis 90/
        Die Grünen ab.
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013 30509
        (A) (C)
        (D)(B)
        Andrej Hunko (DIE LINKE): Ich freue mich, dass
        sich auch die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen
        Ausfuhren neuer Technologien an autoritäre Regimes
        stellt. Nicht nur die Revolten in Nordafrika haben deut-
        lich gemacht, in welchem Umfang Behörden von digita-
        len Schnüffelwerkzeugen Gebrauch machen. Auch in
        Deutschland werden Mobiltelefone und private Rechner
        mit entsprechender Soft- und Hardware ausgeforscht.
        Wir haben uns immer wieder dafür eingesetzt, die in
        Rede stehende Technologie einer strikten Exportkon-
        trolle zu unterwerfen. Dabei geht es unseres Erachtens
        aber nicht nur um Trojaner oder Software zum Durch-
        leuchten von Datenpaketen, um damit die Kommunika-
        tion von Oppositionellen oder ihrer Computer zu über-
        wachen.
        Die Liste jener Dual-Use-Güter, für deren Export es
        einer Genehmigung bedarf, müsste deutlich erweitert
        werden. Hierzu gehören Anwendungen zur Versendung
        einer „Stillen SMS“ oder die sogenannten IMSI-Catcher
        und WLAN-Catcher, um Mobiltelefone zu lokalisieren
        und die Kommunikation der Besitzerinnen und Besitzer
        abzuhören. Auch die sogenannte Funkzellenauswertung
        gehört immer mehr zum Standard. Die beschriebenen
        Kommunikationsvorgänge laufen in „Monitoring Cen-
        tres“ zusammen, wie sie etwa Siemens, Nokia und nun
        die Firma Trovicor in arabische Länder exportiert.
        Angesichts der Vorverlagerung von Strafverfolgung
        zähle ich auch die zunehmende Nutzung von Data-Mi-
        ning-Software zu jenen Technologien, die – etwa im Na-
        men eines „Kampfes gegen Terrorismus“ – gegen miss-
        liebige Aktivitäten eingesetzt werden. Hersteller von
        Data-Mining-Programmen versprechen, über eine „vo-
        rausschauende Analyse“ Kriminalitätsmuster erkennen
        und dadurch Straftaten vorhersehen zu können. Was die-
        ser algorithmusgestützte Machbarkeitswahn für Bürger-
        und Menschenrechte nicht nur unter autoritären Regie-
        rungen bedeutet, lässt sich heute noch gar nicht ermes-
        sen.
        Erst zähe Nachfragen haben enthüllt, dass Polizeibe-
        hörden des Bundes zahlreiche ausländische Behörden in
        der Anwendung der Spionagewerkzeuge beraten: so ge-
        schehen etwa in Belarus oder in Kirgistan. Zur Verkaufs-
        förderung von Trojanersoftware hatte das Bundeskrimi-
        nalamt mit den deutschen Herstellern ein informelles
        Netzwerk eingerichtet, das in mehreren Ländern regel-
        rechte Tupperpartys zum „Informationsaustausch“ orga-
        nisierte.
        In Ländern des arabischen Frühlings führt das Bun-
        deskriminalamt Schulungen zur „Open Source Internet-
        auswertung“ durch – entsprechende Lehrgänge fanden
        sogar noch unter den damaligen Machthabern statt.
        Durch die Analyse sozialer Netzwerke im Internet, in öf-
        fentlichen Blogs und Chaträumen wird so nach Auffäl-
        ligkeiten, Interessen von Gruppen, Trends oder anderen
        Aussagen über Beziehungen zwischen Personen und
        Vorgängen gesucht. Mit entsprechenden Maßnahmen
        wenige Wochen vor Ausbruch der Revolutionen in Tu-
        nesien und Ägypten ist die Bundesregierung mitverant-
        wortlich für Verhaftung, Folter und Tod von Netzaktivis-
        ten.
        Ich glaube also nicht, dass sich die gegenwärtige Bun-
        desregierung für Exportbeschränkungen einsetzen wird.
        Denn der Markt für Überwachungstechnologie verzeich-
        net hohe Wachstumsraten. Alle Zeichen stehen darauf,
        dass die Meinungsverschiedenheiten zwischen den FDP-
        geführten Ministerien für Außen- und Wirtschaftspolitik
        zuungunsten der Menschenrechte ausgehen.
        Denn einerseits stellte Außenminister Westerwelle im
        Herbst auf der Konferenz „The Internet and Human
        Rights: Building a free, open and secure Internet“ in Aus-
        sicht, Deutschland würde sich für Exportbeschränkungen
        digitaler Ermittlungswerkzeuge einsetzen. Wenige Tage
        später richtete das Bundeswirtschaftsministerium in Düs-
        seldorf eine Verkaufsveranstaltung des Golfkoopera-
        tionsrats aus, in der es ausdrücklich um Überwachungs-
        technologie ging. Regierungs- und Industrievertreter aus
        der Bundesrepublik trafen sich dort mit Kolleginnen und
        Kollegen aus Bahrain, Katar, Kuwait, Oman, Saudi-Ara-
        bien und den Vereinigten Arabischen Emiraten.
        Der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen geht
        in die richtige Richtung, enthält allerdings den Vorschlag
        zu weiteren „einzelfallbezogen Länderembargos“. Ich
        halte dies aber nicht für zielführend: Denn Ausfuhrbe-
        schränkungen von Überwachungstechnologie laufen ins
        Leere, wenn über betroffene Länder von den zuständigen
        Ministerien nach politischem Gutdünken entschieden
        wird. Der Forderung nach Entwicklung und Verbreitung
        von Techniken, die eine Umgehung staatlicher Überwa-
        chungs- und Zensurbestrebungen zum Ziel haben,
        stimme ich hingegen vorbehaltlos zu.
        Die Bundesregierung muss sich in internationalen
        Gremien, vor allem auf Ebene der Europäischen Union,
        für den Abbau der digitalen Überwachung einsetzen.
        Das langfristige Ziel einer Ächtung der beschriebenen
        Spionagesoftware sollte dabei im Vordergrund stehen.
        Denn die Spähwerkzeuge werden weltweit gegen poli-
        tisch unliebsame Bewegungen genutzt – in Teheran ge-
        nauso wie in Dresden, Minsk, Tunis und Riad.
        Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
        NEN): Der arabische Frühling hat einmal mehr bewie-
        sen, welch demokratisches Potenzial Internet und neue
        Medien heute bieten. Ganze Protestbewegungen entste-
        hen online, Demonstrationen werden über soziale Netz-
        werke organisiert, und die Blogosphäre entwickelt sich
        zum Sprachrohr von denjenigen, die sonst nicht zu Wort
        kommen, obwohl ihre Stimmen für demokratische Pro-
        zesse wichtig sind. Nicht ganz ohne Grund also fürchten
        sich hochgerüstete Diktaturen vor Twitter-Nachrichten
        und begreifen YouTube oder Facebook als Gefahr für ihr
        Regime. Das zeigt: Die zunehmende Vernetzung demo-
        kratischer und oppositioneller Proteste mithilfe der
        neuen Medien hat ein enormes Potenzial für die Demo-
        kratisierung von nichtdemokratischen Staaten.
        Doch die zunehmende Vernetzung unserer Welt birgt
        auch erhebliche Gefahren. Das wissen wir nicht erst seit-
        dem wir über zahlreiche große Daten- und Überwa-
        chungsskandale in verschiedenen deutschen Unterneh-
        men sprechen. Wir wissen es nicht erst seitdem wir über
        die Möglichkeit der Auswertung von Daten, die im Zuge
        30510 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013
        (A) (C)
        (D)(B)
        die Vorratsdatenspeicherung gesammelt wurden, disku-
        tieren. Und wir wissen es nicht erst seitdem die Praxis
        der massenhaften Funkzellenabfragen bei Demonstratio-
        nen und in anderen Zusammenhängen bekannt wurde.
        Spätestens aber seitdem der Chaos Computer Club den
        sogenannten Staatstrojaner zur heimlichen „Online-
        durchsuchung“ untersucht und herausgefunden hat, dass
        dessen potenzielle, im Quellcode versteckten Funktio-
        nen offenbar mit verfassungsrechtlichen Vorgaben kaum
        in Einklang zu bringen sind, wissen wir um die Gefahren
        einer durch zunehmende Vernetzung möglichen umfas-
        senden Überwachung unserer Kommunikation. Genau
        aus dem Grund wollen wir das Fernmeldegeheimnis des
        Art. 10 GG zu einem umfassenden Kommunikations-
        und Mediennutzungsgeheimnis weiterentwickeln.
        Nicht ohne Grund gelingt es dem BKA trotz größter
        Mühen bis heute nicht, einen verfassungskonformen
        Staatstrojaner herzustellen. Das zeigt: Wir bewegen uns
        hier in einem verfassungsrechtlich hochsensiblen Be-
        reich. Das zeigt aber auch: Wir haben es in ebendiesem
        Bereich viel zu lange privaten Firmen überlassen, die
        Verfassungskonformität der entsprechenden Programme
        sicherzustellen. Wir haben outgesourct, wo man nicht
        outsourcen darf. Dass das BKA noch immer auf die Pro-
        dukte der einschlägigen Firmen zurückgreift, halten wir
        daher für grundlegend falsch.
        Heute wissen wir, welchen Zweck die sogenannte
        Nachladefunktion des Staatstrojaners hatte, dessen
        Quellcode den Behörden vor dem Hack des CCC
        schlicht unbekannt war: Die mit öffentlichen Mitteln er-
        stellten Programme wurden an zahlreiche Staaten dieser
        Welt weitergeliefert, auch an solche, die es oftmals lei-
        der mit der Einhaltung von Menschenrechtsstandards
        nicht so genau nehmen, bzw. solche, die völlig offen die
        Menschenrechte mit Füßen treten. So spürten Geheim-
        dienste in Ländern wie Iran, Syrien oder Bahrain
        mithilfe deutscher Technik politische Gegner auf. Unbe-
        merkt zeichneten Programme Telefongespräche mit,
        werteten Chatprotokolle und SMS aus, kopierten Pass-
        wörter und beobachteten in sogenannten Monitoring-
        Centern das Zusammentreffen von Zielpersonen. De-
        monstrationen konnten so zielgerichtet aufgelöst und
        Oppositionelle festgenommen werden. Nicht selten kam
        es in der Folge zu Folter, unfairen Gerichtsverfahren
        oder Hinrichtungen.
        Nach dem Fall zahlreicher Regime haben wir Gewiss-
        heit darüber, was vorher nur gemutmaßt werden konnte:
        In zahlreichen Ländern des Nahen und Mittleren Ostens
        sowie Nordafrikas wurden Programme deutscher und
        europäischer Firmen eingesetzt, um die eigene Bevölke-
        rung zu überwachen, auszuspähen und Oppositioneller
        habhaft zu werden. Deutsche Unternehmen spielen auf
        dem Markt der Überwachungs- und Zensurtechnik heute
        eine herausgehobene Rolle. Die Entwicklungen der letz-
        ten Jahre und die intensive Debatte über die Rolle der
        neuen Medien in den Demokratiebewegungen verschie-
        dener Länder haben auch den Fokus auf diejenigen ge-
        richtet, die durch ihre Technik dazu beitragen, dass de-
        mokratischer und oppositioneller Protest häufig
        verstummte. Diese Diskussionen haben aber eben auch
        gezeigt, dass erhebliche Defizite bezüglich der Kontrolle
        des Exports entsprechender Technologie und Software
        auf deutscher, europäischer und internationaler Ebene
        bestehen.
        Als Grüne machen wir die Bundesregierung seit lan-
        gem auf diesen Umstand aufmerksam. Wir fordern, nicht
        nur den Einsatz entsprechender Programme in Deutsch-
        land solange auszusetzen, bis einwandfrei nachgewiesen
        werden konnte, dass verfassungsrechtliche Vorgaben
        auch eingehalten werden können. Zudem fordern wir die
        schwarz-gelbe Bundesregierung seit mehreren Jahren
        auf, dafür zu sorgen, dass deutsche Technik nicht länger
        einen entscheidenden Beitrag zu massiven Menschen-
        rechtsverletzungen weltweit leistet. Wir haben Sie,
        meine Damen und Herren von CDU/CSU und FDP, im-
        mer und immer wieder aufgefordert, nicht länger die
        Augen vor diesen höchst fragwürdigen Geschäften zu
        verschließen, sondern sich stattdessen für eine Effekti-
        vierung der Exportbestimmungen einzusetzen. Gesche-
        hen ist nichts.
        Auch durch unsere wiederholten parlamentarischen
        Nachfragen wurde vielmehr deutlich, dass Sie hier ein
        wirklich perfides doppeltes Spiel spielen. Vertreterinnen
        und Vertreter der Bundesregierung haben mit Hinweis
        auf entsprechende Formulierungen des schwarz-gelben
        Koalitionsvertrags, nach dem das Internet „das freiheit-
        lichste und effizienteste Informations- und Kommunika-
        tionsforum der Welt“ ist und „maßgeblich zur Entwick-
        lung einer globalen Gemeinschaft“ beiträgt, in der
        Vergangenheit wiederholt das demokratische Potenzial
        der neuen Medien im Allgemeinen und des Internets im
        Speziellen gelobt. So wurde Bundeskanzlerin Angela
        Merkel im Zuge der Münchner Sicherheitskonferenz
        2011 mit folgenden Worten zitiert: „Und dass man Face-
        book und Twitter überall auf der Welt hat, dass es zuneh-
        mend schwer wird, das zu sperren, ob es in China ist, in
        Ägypten, in Tunesien oder sonst wo auf der Welt, das ist
        auch ein kleines bisschen unser Verdienst.“
        Während sich führende Vertreterinnen und Vertreter
        der Bundesregierung erdreisten, die demokratisierende
        Wirkung der neuen Medien als ihr ureigenes Verdienst
        zu verkaufen, macht das innerhalb der Bundesregierung
        federführende Ministerium bislang alles, um entspre-
        chende Exporte weiter zu unterstützen und eine Begren-
        zung des Exports zu verhindern. Während Sonntags-
        reden über die demokratisierende Wirkung von sozialen
        Netzwerken, Twitter und Co geschwungen werden,
        drückt man bei CDU/CSU und FDP seit Jahren nicht nur
        beide Augen zu, wenn es darum geht, dass deutsche
        Technik demokratischen und oppositionellen Protest
        verstummen lässt und man so mithilft, Regimekritiker in
        Folterkellern verschwinden zu lassen. Man hilft diesen
        Unternehmen sogar dabei, ihre Technik an den Despoten
        zu bringen. Durch die Gewährung von Hermesbürg-
        schaften, durch die Unterstützung bei Reisen und Auf-
        tritten bei einschlägigen Messen, durch das Drucken von
        Flyern, in denen diese „Ziviltechnik“ gelobt wird, durch
        Schulungen von Personal im Umgang mit entsprechen-
        den Technologien, aber auch dadurch, dass man, wenn
        eine Effektivierung der Exportbestimmungen auf EU-
        Ebene auf der politischen Agenda steht, entsprechende
        Briefe an die deutschen Liberalen versendet, um sie mit
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013 30511
        (A) (C)
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        Hinweis auf hierdurch für deutsche Unternehmen entste-
        hende bürokratische Hürden davon zu überzeugen, an-
        ders als die Liberalen zahlreicher anderer Länder Euro-
        pas, bitte gegen eine Effektivierung zu stimmen.
        Während FDP-Bundesaußenminister Westerwelle bei
        einer am Ende letzten Jahres durchgeführten internatio-
        nalen Konferenz zu „Internet-Freedom“, übrigens wis-
        send, dass er innerhalb der Bundesregierung gar nicht
        zuständig ist, noch eine verbesserte Regulierung entspre-
        chender Exporte in Aussicht stellte und sich mit den
        Worten zitieren ließ, man dürfe „diesen Regimes nicht
        die technischen Mittel geben, ihre Bevölkerung zu über-
        wachen“, sieht das federführende Bundeswirtschafts-
        ministerium das noch immer ganz anders. Auf meine
        entsprechende Nachfrage an die Bundesregierung, wie
        eine vom Bundesaußenminister in Aussicht gestellte
        Kontrolle entsprechender Exporte durch deutsche Unter-
        nehmen denn konkret aussehen soll, antwortet das Bun-
        deswirtschaftsministerium vollkommen nichtssagend
        und verweist auf Diskussionen zu einer möglichen Aus-
        weitung des Kontrollregimes auf internationaler Ebene
        im Rahmen des Wassenaar-Arrangements.
        So sieht also die „verantwortungsbewusste Export-
        kontrolle“ aus, von der Sie bis heute schwadronieren. Sie
        suggerieren, sich für die Freiheit des Netzes einzusetzen,
        und in Wirklichkeit ermöglichen Sie – zumindest indi-
        rekt – Verfolgung und Folter „made in Germany“. Vor
        Ihrer Verantwortung für eine freies und offenes Netz und
        einem grundlegenden Schutz der Menschenrechte drü-
        cken Sie sich. Ihnen ist der Profit eines einzigen Wirt-
        schaftszweigs bis heute wichtiger als der Schutz der
        Menschenrechte von Tausenden Aktivistinnen und Akti-
        visten weltweit. Das ist schäbig.
        Leider sind weder der vollmundigen Ankündigung
        des Bundeswirtschaftsministers noch denen aus Reihen
        der CSU-Fraktion, eine Gesetzesänderung, die „einen
        demokratiefeindlichen Missbrauch von moderner Über-
        wachungstechnik verhindert“, vorzulegen, aber auch der
        Vertreter der FDP-Fraktion, die eine „Klarstellung im
        Kriegswaffenkontrollgesetz“, mit der verhindert werden
        soll, dass „Regierungen, die menschenrechtswidrig han-
        deln“, einen „Zugang zu solcher Software erhalten“, in
        Aussicht stellten, bis heute irgendwelche Taten gefolgt.
        Weil Sie scheinbar weder willens noch in der Lage
        sind, endlich den Export dieser digitalen Waffen, die
        heute ähnlich gefährlich wie ein Kampfpanzer sind, ef-
        fektiv einzudämmen, aber auch, um Ihnen die Chance zu
        geben, Ihren hehren Worten doch noch am Ende dieser
        Legislatur tatsächlich Taten folgen zu lassen, haben wir
        nun unseren lange angekündigten Antrag mit dem Titel
        „Export von Überwachungs- und Zensurtechnologie an
        autoritäre Staaten verhindern – Demokratischen Protest
        unterstützen“ vorgelegt.
        In unserem Antrag machen wir Ihnen verschiedene
        Vorschläge, wie eine Effektivierung konkret aussehen
        könnte. Wir fordern Sie auf, sofort alle Möglichkeiten zu
        nutzen, um den Export von entsprechender Technologie
        und Software auf nationaler Ebene zu regulieren und in
        autoritäre Staaten zu unterbinden sowie, sollte dies not-
        wendig sein, dem Bundestag hierzu eine entsprechende
        Gesetzesinitiative vorzulegen.
        Darüber hinaus fordern wir Sie auf, auch auf europäi-
        scher Ebene dafür zu sorgen, dass entsprechende Techno-
        logie und Software entweder in die Dual-Use-Liste aufge-
        nommen wird oder dass ein dem bisherigen Dual-Use-
        Regime entsprechender Kontrollmechanismus eingerich-
        tet wird. Da wir wissen, dass dies eine gewisse Zeit in An-
        spruch nimmt, empfehlen wir Ihnen, sich bis zur Umset-
        zung dieser Maßnahmen für mehr Einzelembargos gegen
        Länder einzusetzen, bei denen Defizite im Rechtsstaat-
        lichkeits- oder Menschrechtsbereich bestehen.
        Diese Länderembargos, die es unter anderem für Iran
        und Syrien heute schon gibt, dürfen jedoch nur eine Über-
        gangslösung sein. Daher fordern wir Sie noch einmal dazu
        auf, sich auch im Rahmen der Verhandlungen um eine
        Neuauflage des Wassenaar-Abkommens tatsächlich dafür
        einzusetzen, dass Technologien und Software, die zur in-
        ternen Überwachung und Zensur genutzt werden können,
        künftig als „digitale Rüstungsgüter“ erfasst werden und
        der Handel mit ihnen so effektiv reguliert wird.
        Ferner erwarten wir von Ihnen, die Entwicklung von
        Überwachungs- und Zensursoftware durch private
        Unternehmen nicht länger mit öffentlichen Geldern zu
        fördern und zu gewährleisten, dass keine Hermesbürg-
        schaften für entsprechende Exporte mehr übernommen
        werden. Statt den Handel mit Technologien zu beför-
        dern, die lediglich das Ziel haben, Menschen zu über-
        wachen und auszuforschen, um sie anschließend Repres-
        sionen auszusetzen, fordern wir Sie auf, sich auf
        europäischer und internationaler Ebene verstärkt für den
        freien und ungehinderten Zugang zum Internet einzuset-
        zen, um so das demokratische Potenzial der neuen
        Medien für Demokratie und Rechtstaatlichkeit tatsäch-
        lich bestmöglich nutzbar zu machen. Hierfür ist es von
        elementarer Bedeutung, auch die Entwicklung und die
        Verbreitung von Techniken, die eine Umgehung staatli-
        cher Überwachungs- und Zensurbestrebungen ermögli-
        chen und so Menschen, die demokratischen und opposi-
        tionellen Protest zum Ausdruck bringen, vor staatlicher
        Verfolgung schützen, stärker zu unterstützen.
        Zu guter Letzt fordern wir Sie auf, dem Bundestag
        halbjährlich über Ihre bisherigen Tätigkeiten einen
        Bericht vorzulegen. Vor dem Hintergrund entsprechen-
        der – interfraktionell verabschiedeter – Handlungsemp-
        fehlungen der Enquete-Kommission „Internet und digi-
        tale Gesellschaft“, aber auch vor dem Hintergrund
        deutlicher Aussagen sowohl von Vertretern der Bundes-
        regierung als auch der Koalitionsfraktionen dieses
        Hohen Hauses werden wir uns die heutigen Debattenbei-
        träge ganz genau anschauen.
        Anlage 16
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Antrags: Bologna-Reform –
        Positive Entwicklungen stützen, Fehler korri-
        gieren und Verbesserungen durchsetzen (Zu-
        satztagesordnungspunkt 7)
        Tankred Schipanski (CDU/CSU): Wir debattieren
        heute einen Antrag der SPD mit dem Titel „Bologna-Re-
        form: Positive Entwicklungen stützen, Fehler korrigie-
        30512 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013
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        ren und Verbesserungen durchsetzen“. Viele der Forde-
        rungen haben mit dem Bologna-Prozess allerdings
        wenig oder gar nichts zu tun; andere sind alte Evergreens
        der SPD, die kurz vor der Bundestagswahl noch einmal
        aufgewärmt werden. So kennen wir die Forderungen
        nach einem „Hochschulsozialpakt“ aus der Plenar-
        debatte vom 9. Februar 2012. Der „Hochschulpakt Plus“
        war bereits am 20. Oktober 2011 Thema.
        Lassen Sie mich eingangs festhalten, dass wir bei der
        Umsetzung des Bologna-Prozesses auf einem sehr guten
        Weg sind. Die Umstellung auf eine gestufte Studien-
        gangstruktur verläuft sehr erfolgreich. An Universitäten
        führen heute 85 Prozent der Studiengänge zu einem
        Bachelor- oder Masterabschluss; an Fachhochschulen
        sind es sogar 97 Prozent. Absolventen haben sehr gute
        Chancen auf dem Arbeitsmarkt; die Akzeptanz für die
        neuen Studienabschlüsse – insbesondere auch für den
        Bachelor – steigt. Es stehen ausreichend Masterstudien-
        plätze für Bachelorabsolventen zur Verfügung. Die Zahl
        der deutschen Studierenden im Ausland ist 2009 auf
        115 500 gestiegen. Das sind mehr als doppelt so viele
        wie 1999. Diese Erfolge sind umso bemerkenswerter, da
        die Hochschulen während der Umsetzung des Bologna-
        Prozesses enorme Zuwächse bei den Studierendenzahlen
        verkraften müssen. Zu Beginn des Bologna-Prozesses
        im Jahr 1998 waren 272 000 Studierende an deutschen
        Hochschulen eingeschrieben. Heute sind es ungefähr
        doppelt so viele.
        Einige dieser Erfolge erkennen Sie in Ihrem Antrag
        – nicht zuletzt in der Überschrift – ausdrücklich an. Den-
        noch gehen unsere Auffassungen zu den Auswirkungen
        des Bologna-Prozesses gleich auf der ersten Seite Ihres
        Antrags auseinander. Sie sind der Auffassung, dass die
        schlechte Umsetzung des Bologna-Prozesses „zur Redu-
        zierung von selbstbestimmten kritischen Anteilen im
        Studium, zur Gefährdung der Einheit von Forschung und
        Lehre und zur Verengung auf eine Fachlichkeit ohne in-
        terdisziplinäre Bezüge und Einbettung in umfassende
        theoretische Kontexte geführt hat.“
        Ich sehe die Entwicklung deutlich positiver. Nach
        meiner Überzeugung hat die Einführung abgestufter Stu-
        diengänge in erster Linie zu einem spürbar besser struk-
        turierten Studienverlauf geführt. Das gilt für die Sozial-
        wissenschaften in besonderem Maße. Auch wird die
        Einheit von Forschung und Lehre durch den Bologna-
        Prozess nicht gefährdet; vielmehr führt ein stärkerer Pra-
        xisbezug in vielen Studiengängen zu spürbar besserer
        Vorbereitung auf das spätere Berufsleben.
        Bei der Beurteilung der Studienabbrecherquoten
        zeichnen Sie in Ihrem Antrag ein Zerrbild der Realität.
        Richtig ist, dass die Quoten in den ersten Jahren nach der
        Einführung von Bachelor- und Masterstudiengängen we-
        gen Übergangs- und Anpassungsproblemen angestiegen
        sind. Zur Wahrheit gehört aber auch: An Fachhochschu-
        len hat sich die Quote der Studienabbrecher nach der
        Einführung von Bachelor und Master zwischen 2006
        und 2010 von 39 Prozent auf 19 Prozent halbiert. Dies
        geht aus einer HIS-Studie vom 7. Mai 2012 hervor, auf
        die Sie sich offenbar auch berufen. Die Autoren weisen
        darauf hin, dass diese positive Entwicklung an Fach-
        hochschulen – wegen der dort früheren Einführung von
        Bachelor und Master – zeitverzögert voraussichtlich
        auch an Universitäten Einzug halten wird. Deshalb darf
        erwartet werden, dass der Bologna-Prozess durch die
        Einführung abgestufter Studiengänge sehr wohl zur Sen-
        kung der Studienabbrecherquoten beitragen wird. Ihre
        Schlussfolgerung, wonach das Ziel der Senkung der Ab-
        brecherquoten verfehlt worden sei, ist nicht statthaft.
        Lassen Sie mich zu Ihrem Forderungskatalog kom-
        men und einige der SPD-Vorschläge kommentieren. Zu-
        nächst wollen Sie die soziale Situation der Studierenden
        verbessern und hierfür das BAföG erhöhen sowie einen
        Hochschulsozialpakt beschließen. Zu Letzterem habe
        ich in meiner Rede vom 9. Februar 2012 bereits Stellung
        genommen, deshalb hier nur so viel: Die Finanzierung
        von Wohnheimplätzen, Kinderbetreuungsangeboten und
        Studierendenwerken ist Ländersache. Anders sieht es
        beim BAföG aus, das Bund (60 Prozent) und Länder
        (40 Prozent) gemeinsam finanzieren. Die Bundesregie-
        rung muss nicht zu einer Erhöhung von Bedarfssätzen
        und Freibeträgen aufgefordert werden. Hierzu hat sich
        Ministerin Wanka im Vorfeld der letzten GWK-Sitzung
        am 12. April 2013 schon bereit erklärt. Zielführender
        wäre es, diesen Appell an die SPD-Wissenschaftsminis-
        ter zu richten. Die Länder müssen sich endlich einigen,
        ob sie die vom Bund vorgeschlagene Erhöhung mittra-
        gen wollen oder nicht. Bei einer BAföG-Erhöhung kom-
        men wir nur gemeinsam voran, und die Länder sind am
        Zug.
        Zweitens fordern Sie – wieder einmal – einen „Hoch-
        schulpakt Plus“, um die Kapazitäten der Hochschulen
        weiter auszuweiten. Erst vor wenigen Wochen hat sich
        die Bundesregierung bereit erklärt, den Hochschulpakt
        nochmals massiv aufzustocken. Für die zweite Förder-
        phase (2011 bis 2015) stellt der Bund zusätzlich 2,2 Mil-
        liarden Euro zur Finanzierung neuer Studienplätze zur
        Verfügung. Damit sind bis 2015 insgesamt 625 000 Stu-
        dienplätze ausfinanziert. Für die Jahre 2016 bis 2018 hat
        der Bund seine Zusagen um 1,7 Milliarden Euro auf
        nunmehr 2,7 Milliarden Euro erhöht. Insgesamt stellt die
        Bundesregierung bis 2018 noch einmal zusätzlich 4 Mil-
        liarden Euro zur Verfügung, obwohl die Grundfinanzie-
        rung von Hochschulen Ländersache ist. Das freiwillige
        Engagement der Bundesregierung zur Ausfinanzierung
        von Studienplätzen ist enorm. Vor diesem Hintergrund
        einen zusätzlichen „Hochschulpakt Plus“ zu fordern,
        halte ich für abwegig.
        Nun zu Ihrem dritten Forderungspunkt – die Stärkung
        der Forschung an Fachhochschulen. Es ist richtig, dass
        die Fachhochschulen die Herausforderungen des
        Bologna-Prozesses besonders gut bewältigt haben. Ich
        bin jedoch auch überzeugt, dass wir mit der bisherigen
        Aufgabenteilung zwischen Universitäten und Fachhoch-
        schulen sehr erfolgreich gewesen sind und sie deshalb
        beibehalten werden muss. Die Stärke der Fachhochschu-
        len liegt im Angebot von praxisnahen und anwendungs-
        orientierten Studiengängen, die Absolventen optimal auf
        Berufe in der Wirtschaft vorbereiten. Universitäten bie-
        ten demgegenüber stärker forschungsgeleitete Studien-
        gänge an und bereiten auf eine Karriere in der Wissen-
        schaft vor. Für leistungsstarke FH-Studenten gibt es die
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013 30513
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        Möglichkeit, in Kooperation mit einer Universität zu
        promovieren. Eine weitere Vermischung dieser erfolg-
        reichen Aufgabenteilung, so wie Sie es in Ihrem Antrag
        vorschlagen, lehne ich ab.
        Des Weiteren fordern Sie den Bund auf, die Grund-
        finanzierung der Hochschulen zu verbessern. Wie Sie
        wissen, ist die Sicherstellung der Grundfinanzierung der
        Hochschulen aber Ländersache. Tatsächlich könnten die
        Länder zum Beispiel Ihre Forderung nach der „Auflage
        einer Personaloffensive für die Hochschulen“ sofort in
        die Tat umsetzen. Ich schlage deshalb vor, Sie wenden
        sich mit dieser Anregung an Ihre SPD-Wissenschafts-
        minister. Wie eine solche Personaloffensive inhaltlich
        ausgestaltet werden könnte, haben wir in unserem An-
        trag „Exzellente Rahmenbedingungen für den wissen-
        schaftlichen Nachwuchs fortentwickeln“ – Bundestags-
        drucksache 17/9396 – aufgezeigt.
        Abenteuerlich wird es bei Forderungspunkt 6, der
        Aufforderung zur Vorlage eines Gesetzentwurfs für eine
        Grundgesetzänderung. Die Bundesregierung hat bereits
        im vergangenen Jahr einen solchen Entwurf vorgelegt,
        der es dem Bund erlauben würde, Hochschulen dauer-
        haft mitzufinanzieren. Diesen Vorschlag blockiert der
        SPD-geführte Bundesrat aber seit Monaten. Der Verweis
        auf den darin nicht geregelten Bildungsbereich ist ein
        durchsichtiges Ablenkungsmanöver. Tatsächlich werden
        die Hochschulen von der SPD für rein wahltaktische
        Manöver in Geiselhaft genommen. Wenn es nach CDU/
        CSU und FDP ginge, könnten Universitäten und Fach-
        hochschulen schon heute dauerhaft finanzielle Unterstüt-
        zung vom Bund erhalten. Es ist schlichtweg heuchle-
        risch, auf Seite 1 Ihres Antrags zu der Erkenntnis zu
        gelangen, dass Probleme bei der Umsetzung der Bolo-
        gna-Reformen auf die chronische Unterfinanzierung der
        Hochschulen zurückzuführen seien, und gleichzeitig
        eine bessere finanzielle Ausstattung von Universitäten
        und Fachhochschulen durch die eigene Blockadehaltung
        systematisch zu verhindern.
        Lassen Sie mich das Wesentliche zusammenfassen.
        Erstens. Wir kommen bei der Umsetzung des Bologna-
        Prozesses insgesamt sehr gut voran. Anzeichen hierfür
        sind die weitgehend abgeschlossene Umstellung der Stu-
        diengänge auf Bachelor und Master und der rasante
        Anstieg der internationalen Mobilität. Zweitens. Viele
        Vorschläge, die vonseiten der SPD im heute debattierten
        Antrag unterbreitet werden, sind entweder altherge-
        bracht oder haben mit dem Bologna-Prozess nichts zu
        tun. Und drittens sind wir bei einigen grundlegenden
        Forderungen der SPD schlicht anderer Auffassung. Dies
        gilt beispielsweise für die Ausrichtung der Fachhoch-
        schulen, die Zuständigkeit für die Grundfinanzierung der
        Hochschulen oder den Umgang mit unserem Gesetzent-
        wurf zur Änderung des Grundgesetzes. Aus diesen
        Gründen lehnen wir den SPD-Antrag ab.
        Swen Schulz (Spandau) (SPD): Die hochschulpoli-
        tische Bilanz der Koalition fällt dürftig aus. Mit Hängen
        und Würgen und auf den letzten Metern hat es die Bun-
        desregierung – gemeinsam mit den Ländern – geschafft,
        den Hochschulpakt auszuweiten. Das ist gut, aber doch
        nicht mehr als eine Pflichtaufgabe gewesen. Doch da-
        rüber hinaus hat die Koalition fast nichts zuwege ge-
        bracht. Abgesehen natürlich vom sogenannten Deutsch-
        land-Stipendium, das aber leider in die falsche Richtung
        geht: Statt Bedürftigen einen Rechtsanspruch auf Unter-
        stützung zu geben, werden hier wenige unabhängig von
        Bedürftigkeit finanziert.
        Die Handlungsverweigerung der Koalition ist ange-
        sichts der Herausforderungen im Hochschulbereich
        nachgerade sträflich. Wie steht es um die Bologna-
        Hochschulreform in Deutschland?
        Grundsätzlich ist zu sagen, dass es richtig war,
        Europa im Hochschulbereich mit dem Bologna-Prozess
        durch die Einführung eines gestuften Studiensystems aus
        Bachelor und Master mit europaweit vergleichbaren Ab-
        schlüssen und der Steigerung der Mobilität zusammen-
        wachsen zu lassen. Doch auch nach zehn Jahren gibt es
        Probleme. Die sind zu einem wesentlichen Teil dadurch
        entstanden, dass die Hochschulen in Deutschland chro-
        nisch unterfinanziert sind. Für den durch den Bologna-
        Prozess entstandenen Mehrbedarf sind keine ausreichen-
        den finanziellen Mittel zur Verfügung gestellt worden,
        und das hat teilweise zu unvertretbaren Studienbedin-
        gungen geführt. Die seit Jahren erfreulicherweise stei-
        genden Studierendenzahlen werden das Problem der Un-
        terfinanzierung noch verstärken.
        Unser Antrag greift die wesentlichen Probleme im
        Hochschulwesen auf und zeigt die Richtung, in die wir
        nach Regierungsübernahme gehen wollen. Von zentraler
        Bedeutung ist, die soziale Situation der Studierenden zu
        verbessern und damit die Bildungschancen auszuweiten.
        In diesem Zusammenhang ist es auch wichtig, die Hoch-
        schulen für alle, die studieren möchten, zu öffnen. Das
        wollen wir erreichen durch die Verbesserung des BAföG.
        Bedarfssätze und Freibeträge müssen bedarfsgerecht er-
        höht und künftig kontinuierlich an steigende Lebenshal-
        tungskosten angepasst werden.
        Wir müssen die Lernbedingungen für Menschen mit
        Behinderung und chronisch Kranke verbessern durch
        optimierte Studierbarkeit, Beratung und Betreuung so-
        wie entsprechende Infrastruktur.
        Mit einem neuen Schüler-BAföG wollen wir mehr
        jungen Menschen den Weg zur Hochschule ebnen.
        Ein Hochschulsozialpakt ist nötig zur Ausweitung ei-
        nes preiswerten Angebotes an Wohnheimplätzen, an flä-
        chendeckenden Kinderbetreuungsangeboten sowie zur
        Stärkung der Studierendenwerke und ihrer Beratungs-
        und Unterstützungsangebote.
        Beruflich Qualifizierten muss der Einstieg in die
        Hochschulen erleichtert werden durch passgenaue Ange-
        bote und durch Anreize im Hochschulpakt mit einer er-
        höhten Finanzierungssumme für diese Studienanfänge-
        rinnen und Studienanfänger.
        Strukturierte Vorbereitungskurse in Zusammenarbeit
        mit Schulen, Bildungsträgern und Betrieben können hel-
        fen, die Hochschulen weiter für Menschen zu öffnen, die
        bislang nicht studieren.
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        Der Ausbau und die bessere Förderung der berufsbe-
        gleitenden Studiengänge sowie die verstärkte Schaffung
        von Teilzeitstudienangeboten, um insbesondere Studie-
        rende, die Angehörige pflegen, Kinder erziehen und mit
        Erkrankungen leben müssen, zu unterstützen, sind eben-
        falls nötig.
        Ziel dieser Maßnahmen ist, allen die gleichen Bil-
        dungschancen zu geben, unabhängig von ihrer Herkunft,
        ihrer Familie, ihrer individuellen Lebenssituation. Das
        kann aber natürlich nur erfolgreich sein, wenn ausrei-
        chend Studienangebote zur Verfügung stehen. Die Kapa-
        zitäten der Hochschulen müssen weiter ausgeweitet und
        damit die Zulassungsbeschränkungen wie NC zurückge-
        drängt werden. Dazu muss die Bundesregierung mit den
        Ländern sofort in Gespräche über die Vereinbarung eines
        „Hochschulpaktes Plus“ eintreten. Wesentliche Ele-
        mente dieses neuen Hochschulpaktes sind die frühzeitige
        Vereinbarung einer dritten Programmphase bis 2020 zur
        Abdeckung des Bedarfs entsprechend der aktuellen Stu-
        dienanfängerprognosen und der Ausbau von Masterstu-
        dienplätzen durch ein Sonderprogramm, um sicherzu-
        stellen, dass allen interessierten Bachelorabsolventinnen
        und -absolventen der Weg zum Master offensteht.
        Wenn wir über die Hochschullandschaft sprechen,
        dürfen wir uns nicht nur auf die Universitäten fokussie-
        ren. Im Gegenteil sehen wir, wie erfolgreich und wichtig
        die Fachhochschulen sind. Sie wollen wir weiter stärken
        durch eine intensivierte Förderung kooperativer Promo-
        tionsvorhaben von Fachhochschulen und Universitäten,
        die Erhöhung des Haushaltstitels „Forschung an Fach-
        hochschulen“ um 20 Millionen Euro pro Jahr und eine
        stärkere Einbindung und Förderung von an Fachhoch-
        schulen aktiven Wissenschaftlerinnen und Wissenschaft-
        lern durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft.
        Eine weitere wichtige Herausforderung: die Verbesse-
        rung der Lehre an den Hochschulen und die Verbesse-
        rung der Grundfinanzierung. Wir wollen das Prinzip
        „Geld folgt Studierenden“ einführen. Damit werden die
        Aufwendungen für die Lehre und das Bemühen um Stu-
        dierende belohnt, und der Bund übernimmt die Kosten
        für ausländische Studierende.
        Wir wollen darüber hinaus einen „Abschlussbonus“,
        mit dem erfolgreiche Lehre angereizt und unterstützt
        wird, einführen, eine „Deutsche Gesellschaft für Hoch-
        schullehre“, die innovative Lehrkonzepte finanziell un-
        terstützt, gründen, die Auflage einer Personaloffensive
        für die Hochschulen mit zunächst 2 500 zusätzlichen
        Professuren sowie 1 000 zusätzlichen Juniorprofessuren,
        die Aus- und Weiterbildungsangebote von Lehrenden
        fördern und zusammen mit den Ländern darauf hinwir-
        ken, die Bezahlung von wissenschaftlichen und studenti-
        schen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu verbessern.
        Weiterhin ist die Struktur und Studierbarkeit der Stu-
        diengänge gemeinsam mit den Ländern und Hochschu-
        len zu verbessern. Zu diesem Zweck soll eine „Nationale
        Bologna-Konferenz“ auf zunächst fünf Jahre eingerich-
        tet und institutionalisiert werden. Sie soll in Zusammen-
        arbeit aller Akteure von Bund, Ländern, Hochschulen
        und unter Einbezug der Studierenden eine kritische
        Überprüfung der bisherigen Reform vornehmen und
        Verbesserungen erarbeiten.
        Der Bund muss auch bei den Ländern und Hochschu-
        len darauf hinwirken, die Mobilität Studierender zu stär-
        ken. Hierbei muss der Fokus auf der europaweiten An-
        gleichung der ECTS-Punkte, der Anerkennung von im
        Ausland bzw. an anderen Hochschulen erbrachten Leis-
        tungen und einer verstärkten Wahlfreiheit von Modulen
        liegen. Grundsätzlich sind die Chancen einer solchen
        europaweiten Hochschulreform auch für eine Intensivie-
        rung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit der
        Hochschulen in Europa zu nutzen, um die europäische
        Bildungsidee, den europäischen Hochschullehrer und
        den Austausch und die Kooperation der Hochschulen in
        Studium, Lehre, Forschung und Management zu beför-
        dern bis hin zur verstärkten Einrichtung von Europa-
        Hochschulen.
        Und schließlich sind die Zugangsvoraussetzungen zum
        öffentlichen Dienst an die neue gestufte Studienstruktur
        anzupassen und der Wertigkeit eines Bachelorabschlusses
        angemessener als bisher Rechnung zu tragen. Wir wollen
        das erreichen, indem Bachelorabsolventen bei Vorliegen
        zusätzlicher, beruflicher Qualifikationen zum höheren
        öffentlichen Dienst zugelassen werden können. Die da-
        für bisher geltenden Verfahren sollen einer Evaluation
        unterzogen und dem Deutschen Bundestag soll im Jahr
        2014 ein Bericht vorgelegt werden.
        Viele der hier vorgestellten Initiativen sind letztlich
        nicht möglich, wenn nicht die Kooperation von Bund
        und Ländern verbessert wird. Eine entsprechende
        Grundgesetzänderung ist dafür unerlässlich – und zwar
        nicht die leichtgewichtige Variante der CDU/CSU und
        FDP, beschränkt auf einige wenige Spitzeninstitute der
        Wissenschaft. Vielmehr ist eine umfassende Koopera-
        tionsermöglichung für den gesamten Bildungsbereich
        nötig, so, wie sie von der SPD in Bundestag und Bun-
        desrat vorgeschlagen wurde.
        Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP): In gewohnter
        Weise legt die SPD-Fraktion dem Deutschen Bundestag
        ihren alljährlichen Bologna-Antrag zur Beratung vor.
        Während die Sozialdemokraten im Feststellungsteil ein
        von Jahr zu Jahr immer weniger negatives Bild zu den
        Ergebnissen des Bologna-Reformprozesses malen, wird
        – je näher die Bundestagswahl rückt – der Forderungsteil
        immer länger. Allein dieser augenfällige Umstand macht
        hellhörig – zu Recht, wie ich meine.
        Die Bologna-Beschlüsse waren die richtige Weichen-
        stellung hin zu einem europäischen Hochschulraum. Die
        Einführung von Bachelor und Master hat unsere deut-
        sche Hochschullandschaft vollkommen umgekrempelt.
        Einen solch tiefgreifenden Reformprozess hat es in der
        Geschichte unserer Hochschulen noch nicht gegeben.
        Und nach mehr als einer Dekade haben die Studierenden
        von heute – im Gegensatz zu den meisten Lehrenden –
        niemals eine andere Hochschullandschaft kennengelernt.
        Auch wenn die Kollegen von der SPD dies offenbar an-
        ders wahrnehmen: Die meisten Studierenden – das zeigt
        der jüngste Bericht zur Umsetzung des Bologna-Prozes-
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013 30515
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        ses in Deutschland – sind mit sich und der eigenen Stu-
        diensituation äußerst zufrieden.
        Auch im Allgemeinen kann und darf der Bologna-Re-
        formprozess trotz der vielen Fehler, die leider zu Beginn
        unter rot-grüner Ägide gemacht wurden, als erfolgreich
        bezeichnet werden. Heute ist Deutschland Spitze bei der
        Umstellung auf Bachelor und Master: 85 Prozent aller
        Studiengänge sind bereits umgestellt, und bei den Fach-
        hochschulen sind es gar 97 Prozent. Auch nimmt die
        Mobilität der Studierenden stetig zu. Jeder dritte Hoch-
        schulabsolvent hat einen studienbezogenen Auslands-
        aufenthalt hinter sich. In den letzten zehn Jahren hat sich
        die Zahl der deutschen Studierenden im Ausland auf
        115 500 verdoppelt. Und schließlich sind unsere Hoch-
        schulen auch bei der Qualitätssicherung spitze, was
        glücklicherweise in den hervorragenden Beschäftigungs-
        chancen für unsere Bachelorabsolventen sichtbar wird.
        Das bestätigen zahlreiche Studien.
        Angesichts der vielen Fehler – die Antragsteller wei-
        sen dankenswerterweise selbst darauf hin –, die in den
        Anfangsjahren gemacht wurden, muss dieses Resultat
        überraschen. Obwohl die damalige rot-grüne Bundes-
        regierung die Bologna-Reform wie ein Findelkind denk-
        bar schlecht finanziell ausgestattet in die harte Realität
        ausgesetzt hat, haben unsere Hochschulen diese Mam-
        mutaufgabe bisher gut geschultert. Dort, wo sich Hoch-
        schulen, Lehrende und Studierende dem Reformprozess
        gestellt haben, ist er heute weitestgehend geglückt. An-
        ders kann meine Fraktion jedenfalls nicht bewerten, dass
        zum Beispiel die Zahl der Studienanfänger von 2009 bis
        2011 um mehr als 20 Prozent angewachsen ist und die
        Studienanfängerquote heute bei über 50 Prozent liegt.
        Die Rahmenbedingungen für den Bologna-Reformpro-
        zess hätten schlechter kaum sein können. Die seinerzei-
        tige Bundesministerin Edelgard Bulmahn von der SPD
        gab zwar gern mit lautem Getöse den Startschuss, das nö-
        tige Geld jedoch stellte sie den Hochschulen nicht zur
        Verfügung. Die ohnehin unterfinanzierten Hochschulen
        wurden ihrem Schicksal „Bologna“ selbst überlassen und
        versuchten, diese Mammutaufgabe bestmöglich zu meis-
        tern. Erst als die Umsetzungsschwierigkeiten immer
        deutlicher sichtbar wurden, musste gegengesteuert wer-
        den, um den Prozess nicht zum Scheitern zu bringen.
        Schließlich war es diese christlich-liberale Koalition, die
        kurz nach Regierungsantritt das Heft des Handelns an
        sich nahm und durch eine deutliche Aufstockung des
        Hochschulpakts mit einem heutigen Gesamtanteil des
        Bundes von mehr als 10 Milliarden Euro, mit einem
        2 Milliarden Euro schweren Qualitätspakt für eine bes-
        sere Lehre und mit einer lange überfälligen Modernisie-
        rung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes, BAföG,
        den Bologna-Reformprozess vor dem Scheitern be-
        wahrte. Doch wo waren eigentlich Sie, verehrte Kolle-
        gen von der SPD? Anstatt unsere Initiativen berechtig-
        terweise zu loben und positiv zu begleiten, erdreisten Sie
        sich seit Jahren – nachdem Sie so gut wie nichts für ein
        erfolgreiches Gelingen beigetragen haben –, uns zu kriti-
        sieren und immer mehr zu fordern, als wir es bereits tun!
        Angesichts dessen, was wir seit Herbst 2009 geleistet
        haben, ist es eben dann doch nicht ein so überraschendes
        Resultat des Bologna-Prozesses in Deutschland. Es sind
        die Früchte erfolgreicher Arbeit von CDU/CSU und
        FDP. 13 Milliarden Euro mehr für Bildung und For-
        schung zeitigen eben Effekte. Es ist nur traurig, dass die
        Anstrengungen des Bundes gerade im Bereich der Hoch-
        schulfinanzierung, die ja ureigenste Aufgabe der Länder
        ist, von eben den Ländern, die von SPD, Grünen und
        Linken regiert werden, nicht adäquat flankiert werden.
        Viel schlimmer noch: Gerade diese Länder kürzen den
        Hochschulen fleißig die Mittel weg – ob nun in Branden-
        burg oder Sachsen-Anhalt. Und sie schlagen ihnen mit
        der populistischen Abschaffung der Studienbeiträge ein
        wichtiges finanzielles Standbein weg – ob nun in Baden-
        Württemberg oder Nordrhein-Westfalen. Sofort folgt der
        berühmte sozialdemokratische Ruf nach mehr Bundes-
        mitteln. Sie wollen den Bund als Lückenbüßer und Spar-
        schwein der SPD-regierten Länder missbrauchen, die
        nicht in der Lage oder willens sind, ausreichend eigene
        Anstrengungen zu unternehmen und die Prioritäten rich-
        tig zu setzen.
        Der heute vorliegende Antrag der SPD-Fraktion ist
        ein trauriger Höhepunkt in der Präsentation der hoch-
        schulpolitischen Ahnungslosigkeit der Antragsteller.
        Obwohl gerade eben der Hochschulpakt erneut aufge-
        stockt wurde, fordern sie einen „Hochschulpakt-Plus“ –
        vermutlich in völliger Unwissenheit um die Wirkung der
        Schuldenbremse in den Ländern. Der Bund jedenfalls
        unterstützt die Länder sehr großzügig bei ihrer grund-
        gesetzlich verankerten Aufgabe, die Finanzierung der
        Hochschulen sicherzustellen. Selbst beim BAföG haben
        wir wiederholt Verhandlungsbereitschaft signalisiert.
        Ein verbindliches Angebot seitens der Länder ist mir je-
        doch bis heute nicht bekannt. Gleiches Bild bei der For-
        derung nach einer Änderung des Grundgesetzes: Unser
        Vorschlag zur Lockerung des Kooperationsverbots für
        den Hochschulbereich durch eine Änderung in Art. 91 b
        des Grundgesetzes liegt seit Monaten vor. Einzig die Op-
        positionsfraktionen und natürlich die von SPD, Grünen
        und Linken regierten Länder verweigern sich auch hier.
        Ich fordere Sie auf: Hören Sie auf, Bologna schlecht zu
        reden, sondern begleiten Sie dort, wo Sie Verantwortung
        haben, den Reformprozess positiv! Und unternehmen
        Sie endlich eigene Anstrengungen, Bologna zum Erfolg
        zu führen!
        Nicole Gohlke (DIE LINKE): Von Anfang an waren
        mit der Umsetzung der Bologna-Reform große Schwie-
        rigkeiten verbunden: eine massive Zunahme an zeitlicher
        Belastung, an Workload und Prüfungen, eine Verschlech-
        terung hinsichtlich eines selbstbestimmten, kritischen
        und interdisziplinären Studierens, die Entstehung neuer
        sozialer Hürden durch den Master oder die Verknappung
        von Studieninhalten durch die Verkürzung der Regelstu-
        dienzeit.
        An der Bundesregierung ging das alles vorbei, Ganz
        nach gewohntem Muster ignorierte sie das Thema und
        versuchte, entstandene Probleme auszusitzen. Wenn die
        Regierung reagierte, dann nur, weil sich der Widerstand
        gegen die Reform und weil sich der Druck der Studie-
        renden und Lehrenden wie bei den Bildungsprotesten
        2009/2010 einfach nicht mehr ignorieren ließen.
        30516 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013
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        Eine Maßnahme war die Einberufung einer Nationa-
        len Bologna-Konferenz, bei der sich die Politik mit den
        Nöten und Sorgen der Studierenden beschäftigen sollte.
        Konsequenzen folgten daraus allerdings nicht. Die Fol-
        gekonferenz im vergangenen Jahr wurde sogar ohne Be-
        gründung einfach komplett abgesagt. Die Regierung
        stellte wieder auf Ignoranz und das Prinzip Hoffnung:
        Das Thema möge doch bitte sehr im Sande verlaufen.
        Dass das Thema weiterhin wirklich drängend ist, be-
        legt eine kürzlich erschienene Studie: Zwei Drittel der
        Universitätsprofessorinnen und Universitätsprofessoren
        sind unzufrieden mit der Einführung der BA/MA-Struk-
        tur. Und das belegen nicht zuletzt Äußerungen der Hoch-
        schulrektorenkonferenz und sogar der Wirtschaft, die im
        Zweifel sind, ob die verkürzten Studienzeiten, ob die
        Mega-Ausdifferenzierung in 16 000 Studiengänge und
        ob die Einseitigkeiten, die dadurch hervorgerufen wur-
        den, überhaupt noch in ihrem Interesse sind. Im Interesse
        der Studierenden und Lehrenden war es nie – wie auch,
        wenn zum Beispiel Uni-Absolventinnen und -Absolven-
        ten mit Bachelorabschluss 20,3 Prozent weniger gegen-
        über den Absolventen mit traditionellen Abschlüssen
        verdienen.
        Die Linke fordert weiterhin die grundlegende Reform
        des Bologna-Prozesses. Unser Ziel ist, die Durchlässigkeit
        im Studium zu erhöhen, anstatt neue Hürden einzuziehen.
        Diesbezüglich haben wir bereits viele Vorschläge ge-
        macht:
        Der Zugang zum Masterstudium darf von keinen wei-
        teren Zugangskriterien abhängig gemacht werden als
        dem Bachelorabschluss.
        Neben dem Ziel der beruflichen Qualifizierung müssen
        gleichwertig weitere Studienziele wie wissenschaftliches
        Arbeiten, Persönlichkeitsentwicklung und Verständnis ge-
        sellschaftlicher Zusammenhänge und Prozesse verankert
        werden.
        Das Studium muss selbstbestimmt gestaltet werden
        können, mit einem großen Anteil frei wählbarer Lehr-
        veranstaltungen bzw. Module, die eine eigene Schwer-
        punktsetzung wirklich ermöglichen.
        Die Chance von Kindern aus akademischen Eltern-
        häusern, ein Studium aufzunehmen, ist sechsmal höher
        als bei Kindern aus sogenannten bildungsfernen Schich-
        ten. Politisches Anliegen muss es doch sein, die soziale
        Dimension zu stärken. Gemeinsam mit den anderen Bo-
        logna-Staaten muss das verbindliche Ziel der Öffnung
        der Hochschule und der Verbesserung der sozialen Lage
        der Studierenden verankert werden, um allen, die studie-
        ren möchten, dies auch zu ermöglichen. So macht eine
        koordinierte Hochschulpolitik Sinn: und nicht das, was
        wir hier seit 14 Jahren präsentiert bekommen.
        Dafür müsste sich die europäische Hochschulpolitik
        allerdings erst einmal von der Wirtschaftspolitik der EU
        emanzipieren und eigenständige Ziele für die Entwick-
        lung der Hochschulen und deren Beitrag zu den europäi-
        schen Gesellschaften formulieren. Das wäre die Aufgabe
        einer Bundesregierung, die bildungspolitische Realitäten
        ernst nimmt, anstatt sie zu ignorieren.
        Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Bolo-
        gna muss besser werden! Wir unterstützen das visionäre
        Ziel eines europäischen Hochschulraums. Wir werden
        dieses Ziel in Deutschland aber nur erreichen, wenn so-
        wohl die Hochschulen als auch Bund und Länder ge-
        meinsam Probleme und Umsetzungsschwierigkeiten
        identifizieren und beheben – von der Studienorganisa-
        tion bis hin zur sozialen Öffnung der Hochschulen, die
        ausgewiesenes Bologna-Ziel ist.
        Für uns ist klar: Nicht die Bologna-Reform an sich,
        sondern ihre Umsetzung in Deutschland ist Problem und
        Herausforderung, die angenommen werden muss.
        Wesentliche Reformziele werden nach wie vor ver-
        fehlt: Die Auslandsmobilität in den Bachelorstudien-
        gängen an Universitäten stagniert. Um die Mobilität
        deutscher Studierender zu steigern, müssen Bachelorstu-
        diengänge flexibilisiert und Zeitfenster für Mobilität ein-
        gebaut werden.
        Auslandsaufenthalte müssen aber nicht nur ermög-
        licht, sondern auch ohne Schwierigkeiten und Zeitver-
        lust zu bewerkstelligen sein. Es kann nicht sein, dass nur
        magere 52 Prozent der im Ausland erworbenen Studien-
        leistungen an deutschen Hochschulen anerkannt werden.
        Denn das bedeutet im Umkehrschluss: Jede zweite Stu-
        dienleistung wird nicht anerkannt. Das ist eine beschä-
        mende und mobilitätsfeindliche Anerkennungspraxis,
        die Studierende demotiviert. Die Studierenden dürfen
        nicht unter einer bürokratischen und überpeniblen Aner-
        kennungspraxis der Universitäten und Fakultäten leiden,
        sondern sie brauchen eine grundsätzliche Anerken-
        nungsgarantie.
        Eine zentrale Herausforderung ist die Studienorgani-
        sation: Gerade in den ersten Reformjahren haben die
        Hochschulen nach dem Motto „verschulen, verdichten,
        umbenennen“ die gesamten Inhalte der alten, längeren
        Magister- bzw. Diplomstudiengänge in den Bachelor hi-
        neingepresst. Diese Fehler müssen korrigiert, die Stu-
        dierbarkeit erhöht und die Arbeitsbelastung gesenkt wer-
        den. Frei Denken und selbstbestimmtes Lernen müssen
        wieder besser möglich sein.
        Ständiger Prüfungsstress und Bulimie-Lernen erhö-
        hen nicht die Fähigkeit zu ganzheitlichem Denken, son-
        dern Abbruchquoten. Über ein Viertel aller Studierenden
        hängen laut der HIS-Studie zu Schwund- und Studien-
        abbruchquoten, die im Mai 2012 veröffentlicht wurde,
        das Bachelorstudium an den Nagel, an den Universitäten
        sogar 35 Prozent. Deswegen ist es dringend notwendig,
        dass Hochschulen ihre Studienprogramme überarbeiten,
        mehr sieben- oder achtsemestrige Bachelorangebote ma-
        chen, den Workload herunterschrauben und die Prü-
        fungsdichte reduzieren. Das kommt übrigens mittelbar
        auch der Studienqualität zugute, denn auch die Lehren-
        den haben dann mehr Luft für und Lust auf gute Lehre
        und Betreuung.
        All die skizzierten Probleme sind seit längerem be-
        kannt; zahlreiche Studien haben sie belegt, die Studie-
        renden haben mit kreativen und lautstarken Protesten auf
        die Umsetzungsprobleme hingewiesen. Die Bundesre-
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 240. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2013 30517
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        gierung hat sich die Probleme dagegen tatenlos von der
        Zuschauertribüne aus angesehen.
        Bezeichnend ist es, dass die damalige Bundesbil-
        dungsministerin Annette Schavan die richtigen und
        wichtigen Bildungsproteste 2009 zuerst als „gestrig“ be-
        zeichnete. Erst nachdem der Druck zu groß geworden
        war, berief sie einen „Beschwichtigungsgipfel“ ein. Ge-
        nau zweimal gab es seitdem eine „Nationale Bologna-
        Konferenz“. Eine dritte hat die Bundesregierung abge-
        sagt und gar nicht mehr terminiert. Stattdessen verweist
        die Bundesregierung auf die Bologna-Evaluation durch
        die Hochschulrektorenkonferenz, nach dem Motto: „Ihr
        habt die Probleme – also evaluiert euch selbst und macht
        mal“. Das ist kurzsichtig: Bologna ist nach wie vor
        Chance und Herausforderung – für die Hochschulen und
        für die Hochschulpolitik in Bund und Ländern. Es ist in-
        akzeptabel, dass die Bundesregierung die Probleme al-
        lenfalls zur Kenntnis nimmt, aber fast gar nichts zur Lö-
        sung beiträgt.
        Wer die Umsetzungsprobleme unter den Teppich
        kehrt, gefährdet die Akzeptanz der Reform und verhin-
        dert vor allem die notwendigen Korrekturen, die mit al-
        len Akteuren gemeinsam angepackt und fortgesetzt wer-
        den müssen.
        Wir wollen, dass der nationale Bologna-Bericht, den
        Bund und Länder alle zwei Jahre erstellen, die Realität
        differenziert wiedergibt anstatt sie schönzufärben. In
        Folgeberichten muss deutlich werden, welche Konse-
        quenzen aus den im Bericht zuvor ausgesprochenen
        Handlungsempfehlungen gezogen worden sind und wel-
        che Effekte dies gebracht hat.
        Das gilt auch für eine weitere große Bologna-Bau-
        stelle hierzulande: die soziale Öffnung der Hochschulen.
        Wir wollen deutlich mehr Bildungsaufsteiger für ein Stu-
        dium gewinnen. Dafür brauchen wir deutlich mehr Stu-
        dienplätze, eine Aufstockung und Ausweitung des
        Hochschulpakts und flächendeckend bessere Studienbe-
        dingungen. Dazu zählt auch ein BAföG, das zum Leben
        reicht. Hier sehen wir viel Übereinstimmung mit der
        SPD, auch wenn manche Forderung in dem SPD-Antrag
        wenig mit der Bachelor-Master-Reform zu tun hat.
        Sicher ist: Um Bildungsaufsteigerland zu werden,
        brauchen wir endlich eine BAföG-Reform und -Moder-
        nisierung. Anstatt auf die Länder mit einem echten An-
        gebot zuzugehen, hat die Bundesregierung die Hände in
        den Schoß gelegt und die Studierenden mit ihren Finan-
        zierungssorgen alleine gelassen. Diese schwarz-gelben
        Taktikspielchen auf dem Rücken der Studierenden wird
        eine Bundesregierung aus SPD und Grünen beenden.
        Wir brauchen ein höheres und besseres BAföG, das zu-
        dem einfacher zu beantragen sein muss. Mittelfristig
        wollen wir das BAföG zu einem Zwei-Säulen-Modell
        erweitern – bestehend aus einer Sockelfinanzierung für
        alle Studierenden und einer bedarfsabhängigen Säule.
        Daneben braucht es gezielte Investitionen in die so-
        ziale Infrastruktur an den Hochschulen: also den Ausbau
        von Studien- und Sozialberatung, von studentischem
        Wohnen und der Infrastruktur zum Beispiel für Kinder-
        betreuung. Hier muss mehr passieren. Die oberste Leitli-
        nie für die soziale Dimension muss sein, zu mehr gesell-
        schaftlicher Vielfalt auf dem Campus zu kommen. In
        diesem Sinne müssen Bund, Länder und Hochschulen
        die Ärmel weiter hochkrempeln und handeln.
        240. Sitzung
        Inhaltsverzeichnis
        TOP 3 Regierungserklärung zur Neuausrichtung der Bundeswehr
        TOP 4 Bildungs- und Integrationspolitik
        TOP 56, ZP 2 Überweisungen im vereinfachten Verfahren
        TOP 57, ZP 3 Abschließende Beratungen ohne Aussprache
        ZP 4 Aktuelle Stunde zur Bilanz nach einem Jahr Bundesminister Peter Altmaier
        TOP 5 Finanzmarktregulierung
        TOP 6 Verpflegung in Schulen und Kindertagesstätten
        TOP 7 Beitritt der Republik Kroatien zur EU
        TOP 57 c Abfälle der Rhein- und Binnenschifffahrt
        TOP 9 EU-Operation Atalanta
        TOP 8 Schutz bei Gewalt gegen Frauen
        TOP 10 Managergehälter
        TOP 11 Straßenverkehrsgesetz – Fahreignungsregister –
        TOP 12 Informationsfreiheit und Transparenz
        TOP 13 Regulierung im Eisenbahnbereich
        TOP 14 Überprüfung der Namen von Bundeswehrkasernen
        TOP 17 Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahren
        TOP 16 Rente für Dopingopfer in der DDR
        TOP 18 Justizkostenrecht
        TOP 20 Kinder- und Jugendpolitik
        TOP 19 Rechte intersexueller Menschen
        TOP 22 Gesetz über die Kreditanstalt für Wiederaufbau
        TOP 21 Religionsfreiheit im Iran
        TOP 24 Änderung des Energieeinsparungsgesetzes
        TOP 23 Schließung des Schienenhersteller TSTG
        TOP 26 Arbeitsbedingungen von Hausangestellten
        TOP 25 Sozio-kulturelle Existenzsicherung
        TOP 28 Zuständigkeit für die Soldatenversorgung
        TOP 29 Ehegattennachzug
        TOP 30 Aufenthaltsrecht
        TOP 36 Situation Minderjähriger im Aufenthaltsrecht
        TOP 32 Investitionen in den Ersatz der Schienenwege
        TOP 31 Umweltbelastung durch Humanarzneimittel
        TOP 33 Treibhausgas-Emissionshandel
        TOP 35 Durchführung der EU-Phosphatverordnung
        TOP 34 Sicherheitsabkommen mit Mexiko
        TOP 37 Elektronischer Kfz-Halterdatenaustausch in der EU
        TOP 38 Datenschutz in Europa
        TOP 39 Durchführung der Biozid-Verordnung
        TOP 42 Gesundheit in Entwicklungsländern
        TOP 41 Änderung des Güterkraftverkehrsgesetzes
        TOP 40, ZP 5 Kontrolle im Prozess der Organspende
        TOP 43 Steuerabkommen mit den Cookinseln und Grenada
        ZP 6 Export von Überwachungs- und Zensurtechnologie
        TOP 45 Funktionen der Betreuungsbehörde
        TOP 44 Deutscher Innovationsfonds
        TOP 47 Verfahrensrechte im Strafverfahren
        ZP 7 Bologna-Reform
        TOP 49 Bundesverfassungsgerichtsgesetz
        TOP 46, ZP 8 Zukunft der Solarindustrie
        TOP 48 Netzneutralität
        TOP 50 Sozialer Tourismus
        Anlagen