1) Anlage 13 2) Anlage 15
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 27693
(A) (C)
(D)(B)
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
* für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver-
sammlung des Europarates
** für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver-
sammlung der OSZE
Anlage 2
Erklärungen nach § 31 GO
zur Abstimmung über den Entwurf eines Zwei-
undzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des
Bundeswahlgesetzes (Tagesordnungspunkt 9 a)
Dr. Philipp Murmann (CDU/CSU): „Ich begrüße es,
dass nach intensiven Verhandlungen eine Neuregelung
des Wahlrechts gefunden wurde. EbensoD ist zu begrü-
ßen, dass mit dem vorliegenden Gesetz das negative
Stimmgewicht beseitigt wird. Daher stimme ich dem
Kompromiss insgesamt zu.
Gleichzeitig ist es bedauerlich, dass es mit der Oppo-
sition nicht möglich war, den Spielraum, den das
Bundesverfassungsgericht bei der Gewährung einer
Obergrenze von Überhangmandaten – 15 – zugelassen
hat, auszunutzen.
Daher ist absehbar, dass sich durch das vorliegende
Gesetz, welches umfangreiche Regelungen zum Aus-
gleich von Mandaten vorsieht, die Gesamtsitzzahl des
Bundestages deutlich erhöht:
Erstens. Das führt zu höheren Kosten für den Steuer-
zahler. Schon jetzt ist der Bundestag eines der größten
und damit auch teuersten Parlamente weltweit. Auch die
Komplexität von Abstimmungsprozessen nimmt zu.
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Bätzing-Lichtenthäler,
Sabine
SPD 21.02.2013
Barnett, Doris SPD 21.02.2013**
Canel, Sylvia FDP 21.02.2013
von Cramon-Taubadel,
Viola
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
21.02.2013**
Daub, Helga FDP 21.02.2013**
Gohlke, Nicole DIE LINKE 21.02.2013
Gottschalck, Ulrike SPD 21.02.2013
Hardt, Jürgen CDU/CSU 21.02.2013
Heinen-Esser, Ursula CDU/CSU 21.02.2013
Hempelmann, Rolf SPD 21.02.2013
Högl, Dr. Eva SPD 21.02.2013
Höger, Inge DIE LINKE 21.02.2013**
Hörster, Joachim CDU/CSU 21.02.2013**
Hunko, Andrej DIE LINKE 21.02.2013*
Karl, Alois CDU/CSU 21.02.2013**
Kilic, Memet BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
21.02.2013
Kolbe (Leipzig), Daniela SPD 21.02.2013
Krumwiede, Agnes BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
21.02.2013
Liebich, Stefan DIE LINKE 21.02.2013**
Möhring, Cornelia DIE LINKE 21.02.2013
Möller, Kornelia DIE LINKE 21.02.2013
Pau, Petra DIE LINKE 21.02.2013
Paus, Lisa BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
21.02.2013
Poland, Christoph CDU/CSU 21.02.2013
Remmers, Ingrid DIE LINKE 21.02.2013
Roth (Augsburg),
Claudia
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
21.02.2013
Sarrazin, Manuel BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
21.02.2013
Schmidt (Eisleben),
Silvia
SPD 21.02.2013
Schreiner, Ottmar SPD 21.02.2013
Schwarzelühr-Sutter,
Rita
SPD 21.02.2013
Süßmair, Alexander DIE LINKE 21.02.2013
Zimmermann, Sabine DIE LINKE 21.02.2013
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Anlagen
27694 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013
(A) (C)
(D)(B)
Zweitens. Wenn mehr Abgeordnete über Landeslisten
in den Bundestag gewählt werden, schwächt dies die
Stellung der direkt gewählten Abgeordneten. Der Ein-
fluss der Wählerinnen und Wähler auf die personelle
Zusammensetzung des Deutschen Bundestages sinkt
dadurch.
Drittens. Die Komplexität des Wahlrechts wird un-
nötigerweise erhöht. Für Wählerinnen und Wähler wird
es in Zukunft noch schwieriger, nachzuvollziehen,
warum bestimmte Abgeordnete in den Bundestag einzie-
hen. Ein verfassungskonformes Wahlrecht, das kaum
jemand versteht, ist aus demokratietheoretischer Sicht
fragwürdig.
Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD): Der Wahlrechts-
reform werde ich trotz des im Übrigen zu würdigenden
Kompromisses in der vorliegenden Form nicht zustim-
men.
Als Behindertenbeauftragte der SPD-Bundestagsfrak-
tion stelle ich fest, dass der Verstoß gegen Art. 29 der in
Deutschland geltenden UN-Behindertenrechtskonven-
tion durch die Regelung aus § 13 Nr. 2 und 3 des
Bundeswahlgesetzes sowie aus § 6 a des Europawahl-
gesetzes, der mehrfach von den Vereinten Nationen so-
wie von der Nationalen Monitoringstelle des Deutschen
Instituts für Menschenrechte gerügt wurde, mit dem vor-
liegenden Gesetzentwurf nicht beseitigt wird. Dies stellt
einen fortgesetzten Verstoß gegen internationales Recht
und die Menschenrechte der Betroffenen dar.
Gemäß § 13 Nr. 2 Bundeswahlgesetz verlieren Men-
schen, denen aufgrund einer gerichtlichen Entscheidung
eine Betreuung in allen Angelegenheiten zugewiesen
wurde, automatisch ihr Wahlrecht. Gemäß § 13 Nr. 3
Bundeswahlgesetz verlieren auch Straftäter, die auf-
grund einer gerichtlichen Anordnung in einem psychia-
trischen Krankenhaus untergebracht sind, automatisch
ihr Wahlrecht. In beiden Fällen ist nicht ersichtlich, wa-
rum durch einen Automatismus ein elementares demo-
kratisches Bürgerrecht entzogen werden kann. Ebenso
ist nicht einzusehen, warum die Annahme des Nicht-
Wählen-Könnens für einzelne Gruppen automatisch gel-
ten soll und in der Realität keiner Prüfung unterzogen
wird. So kann ein Mensch mit Demenz mit einer ent-
sprechenden Vorsorgevollmacht wählen, ein Mensch,
der unter Betreuung gestellt wird, kann dies nicht.
Ich begrüße daher den Antrag der SPD 17/12380, in
dem eine Änderung der aktuellen Rechtslage eingefor-
dert wird.
Christian Freiherr von Stetten (CDU/CSU): Dem
als Reaktion auf das Bundesverfassungsgerichtsurteil
vom 25. Juli 2012 von den Fraktionen von CDU/CSU,
SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen erarbeitete und
heute zur Abstimmung vorgelegte Gesetz zur Änderung
des Bundeswahlgesetzes – Wahlrechtsreform – kann ich
nicht zustimmen.
Eine jetzt schon voraussehbare deutliche Vergröße-
rung des bundesdeutschen Parlaments dient weder seiner
Arbeitsfähigkeit noch dem Ziel des sparsamen Umgangs
mit uns anvertrauten Steuergeldern.
Das sinnvolle, aber selten erreichte ausgeglichene
Verhältnis zwischen direkt gewählten Wahlkreisabge-
ordneten und den von Parteien über Bundes- oder Lan-
deslisten ins Parlament entsandten Abgeordneten wird
durch den Gesetzentwurf weiter zuungunsten der direkt
gewählten Wahlkreisvertreter verschoben.
Bereits jetzt wird offen über eine eventuell notwen-
dige Reduzierung der Wahlkreise für die 19. Wahlperiode
diskutiert. Das wird die Unabhängigkeit der Parlamenta-
rier nicht stärken und zu bundesweiten Verwerfungen in
den betroffenen Wahlkreisen führen.
Anlage 3
Erklärung nach § 31 GO
des Abgeordneten Torsten Staffeldt (FDP) zur
Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes
zur Umsetzung des Seearbeitsübereinkommens
2006 der Internationalen Arbeitsorganisation
(Tagesordnungspunkt 17)
Ich werde dem Gesetzentwurf aus folgenden Gründen
nicht zustimmen:
Erstens. Der vorliegende Entwurf des Gesetzes zur
Umsetzung des Seearbeitsübereinkommens 2006 der In-
ternationalen Arbeitsorganisation geht in einzelnen
Punkten über die international vereinbarten Regelungen
hinaus. Hierzu gehört unter anderem, dass im Gegensatz
zur Maritime Labour Convention – MLC – im deutschen
Durchführungsgesetz die maximale Anzahl der Arbeits-
stunden an Bord und die minimale Anzahl der Ruhestun-
den miteinander verkoppelt sind. Im Originaltext ist dort
ein „oder“ zu finden. Dies bedeutet, dass deutschem
Recht unterliegende, deutschgeflaggte Handelsschiffe
anderem Recht unterliegen als der Großteil der interna-
tional tätigen Schiffe. Aufgeweicht wird diese Regelung
des § 48 durch die umgangssprachlich sogenannte Tarif-
öffnungsklausel in § 49. Diese verkompliziert die einfa-
che Regelung des Originaltextes zusätzlich. Dort ist von
36 Stunden zwischen Lotsversetzstationen, Ausgleichs-
zeiten innerhalb von zwei Wochen und anderen schwer
nachvollziehbaren Ausnahmen die Rede.
Zweitens. Die mit der Prüfung beauftragten Berufsge-
nossenschaften hierzulande werden Mühe haben, diese
deutschen Regelungen zu überprüfen. Erst recht wird
dies für die ausländischen Überprüfungsinstitutionen
gelten. Denn die Einhaltung der MLC kann und wird im
Rahmen der Port State Controls ausgeführt werden. Ein
neues, scharfes Schwert, dessen Durchsetzung auf der
Basis des internationalen Textes richtig ist, im Falle
deutschgeflaggter Schiffe nun aber zu Blacklisting und
verlängerten Hafenliegezeiten und -kosten führen kann.
Niemand kann erwarten, dass ausländische Kontrolleure
sich in den Details der deutschen Gesetzgebung ausken-
nen.
Drittens. Erschwerend kommt hinzu, dass diese Rege-
lungen ausschließlich für deutsche Besatzungsmitglieder
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 27695
(A) (C)
(D)(B)
an Bord deutschgeflaggter Schiffe gelten. Wer die Bord-
praxis kennt, weiß, dass diese nicht die Mehrheit sind.
Andere Nationalitäten an Bord unterliegen dem Recht
ihres Heimatstaates. Statt der dringend benötigten Ver-
einfachung des Arbeitsrechtes an Bord deutscher Schiffe
erhalten wir nun eine völlig unnötige Verkomplizierung.
So wird die deutsche Flagge nicht gestärkt. Leider sind
die Entwürfe des federführenden Bundesministeriums
für Arbeit und Soziales den Fachleuten und Verbänden
erst spät zugestellt worden. Auch in den Berichterstatter-
gesprächen zwischen Arbeits- und Verkehrspolitikern
konnte nicht die benötigte 1:1-Umsetzung des internatio-
nalen Originaltextes ausgehandelt werden.
Viertens. Wer den Bordbetrieb kennt, der weiß, dass
die Besatzung meist froh ist, auf See arbeiten zu können,
statt die Zeit totzuschlagen. Hier soll geschützt werden,
wo dies gar nicht erforderlich ist. Als ehemaliger See-
mann kenne ich dies aus eigener Erfahrung. Dieses Ge-
setz wird daher mit hoher Wahrscheinlichkeit mehr
Rechtsunsicherheit schaffen als vorher. Ich lehne es da-
her ab.
Anlage 4
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Entwürfe: Gesetz zur Stär-
kung der beruflichen Aus- und Weiterbildung
in der Altenpflege (Tagesordnungspunkt 15)
Erwin Rüddel (CDU/CSU): Mit der Verabschiedung
des vorliegenden Gesetzentwurfs werden wir die Zahl
qualifizierter Berufsabschlüsse in der Altenpflege signi-
fikant erhöhen und zugleich die Lebensqualität pflege-
bedürftiger Menschen deutlich verbessern. Wir setzen
damit eine wesentliche Maßnahme im Rahmen der Aus-
bildungs- und Qualifizierungsoffensive um, auf die sich
im Dezember vier Bundesministerien, die Bundesländer
sowie die Bundesagentur für Arbeit und zahlreiche Ver-
bände und Organisationen verständigt haben.
Bereits heute fehlen in den Pflegeberufen Fachkräfte.
Hiervon sind alle Bundesländer betroffen. Dank der ge-
stiegenen Lebenserwartung, die so vielen Menschen wie
nie zuvor die Chance auf ein langes Leben eröffnet, wird
in Zukunft aber auch die Zahl der pflegebedürftigen
Menschen in Deutschland weiter anwachsen. Das wird
wiederum den Bedarf an qualifiziertem Personal be-
trächtlich steigern. Deshalb wird niemand in diesem
Haus bestreiten, dass wir dringend mehr Altenpflegerin-
nen und Altenpfleger benötigen und dass wir vor allem
gut ausgebildete und motivierte Fachkräfte brauchen.
Genau dieses Ziel verfolgen wir mit dem vorliegen-
den Gesetzentwurf: Wir wollen bis 2015 die Ausbil-
dungszahlen stufenweise um jährlich 10 Prozent steigern
und bis zu 4 000 Pflegehelferinnen und Pflegehelfer
nachqualifizieren. Bei entsprechenden Vorkenntnissen
ist auch eine verkürzte Ausbildungszeit möglich. Das
heißt, bereits erworbene Qualifikationen oder Berufs-
erfahrungen können auf eine Aus- und Weiterbildung
angerechnet werden. Die Umschulungsförderung wird
befristet wieder eingeführt. Umschulungen mit dem Ab-
schluss Altenpflegerin bzw. Altenpfleger werden wieder
ganz durch die Bundesagentur für Arbeit und die Job-
center übernommen. Dafür werden sowohl Mittel aus
dem Bundeshaushalt wie aus dem Haushalt der Bundes-
agentur für Arbeit eingesetzt.
Mit der neuen Offensive geht zudem eine intensive
Information und Beratung vor Ort in Pflegeeinrichtun-
gen und Altenpflegeschulen in allen Regionen Deutsch-
lands einher. Dazu hat Frau Bundesministerin Schröder
bereits dankenswerterweise beim Bundesamt für Familie
und zivilgesellschaftliche Aufgaben eine bundesweit tätige
Informations- und Beratungsstelle eingerichtet und pa-
rallel dazu das neue Informationsportal www.altenpflege-
ausbildung.net freigeschaltet. Hier können sich Menschen
in einer beruflichen Orientierungsphase umfassend un-
terrichten.
Das breite Bündnis für eine bundesweite Offensive im
Bereich der Altenpflege soll und muss aber auch dazu
beitragen, die Attraktivität des Berufsfeldes und seine
gesellschaftliche Wertschätzung deutlich zu steigern.
Damit schaffen wir nicht nur Anreize, den Altenpflege-
beruf zu ergreifen, sondern tragen auch dazu bei, die Be-
dingungen für die über 950 000 Beschäftigten zu ver-
bessern, die bereits in der Pflege arbeiten und damit
einen für unsere Gesellschaft insgesamt unverzichtbaren
Dienst leisten. Ich füge hinzu: Die Altenpflege ist schon
aufgrund der demografischen Entwicklung ein stark
wachsender Dienstleistungssektor, der seinen Beschäf-
tigten hervorragende und sichere berufliche Perspektiven
bietet.
Zu den künftig notwendigen Maßnahmen zählen auch
die verbesserte Anerkennung im Ausland erworbener
Qualifikationen im Pflegebereich und die Wahrnehmung
der Chancen, die sich aufgrund der Arbeitnehmerfreizü-
gigkeit in der EU bieten. Bei alledem gilt selbstverständ-
lich, dass die hohen Qualitätsanforderungen an die Aus-
bildung in einem Gesundheitsfachberuf auch künftig
gewahrt werden. Und ganz wichtig für den Erfolg des
gesamten Vorhabens ist natürlich, dass die Bundesländer
künftig ausreichend Schulungsplätze zur Verfügung stel-
len.
Die Probleme, die der demografische Wandel für den
Pflegebereich mit sich bringt, werden uns auch in den
kommenden Jahren intensiv beschäftigen. Aber ich bin
mir sicher, dass wir mit diesem Gesetz zur Stärkung der
beruflichen Aus- und Weiterbildung in der Altenpflege
einen sehr wichtigen Schritt in die richtige Richtung un-
ternehmen. Denn das Gesetz macht den Weg frei für
Zehntausende von neuen Auszubildenden und Umschü-
lern im Bereich der Altenpflege. Das ist ein starkes
Signal, dass wir das Thema Pflege als eine der großen
gesellschaftlichen und sozialen Herausforderungen der
kommenden Jahre ernst nehmen. Durch dieses Gesetz
werden wir lebens- und berufserfahrene Menschen für
eine Umschulung zu gut ausgebildeten und motivierten
Fachkräften in der Altenpflege gewinnen. Und wenn es
uns gemeinsam gelingt, den Pflegeberuf durch anstän-
dige Bezahlung und eine angemessene gesellschaftliche
Wertschätzung noch attraktiver zu machen, dann wird
27696 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013
(A) (C)
(D)(B)
das vorliegende Gesetz zu einem entscheidenden Bau-
stein für die gute Pflege von morgen.
Norbert Geis (CDU/CSU): Die soziale Kultur einer
Gesellschaft zeigt sich am ehesten im Umgang mit den
Schwachen und Hilflosen, mit Kranken, Behinderten
und alten Menschen. Auch wenn das im Einzelfall nicht
immer durchgehalten wird, so gilt in den westlichen Ge-
sellschaften doch der Grundsatz, dass der Wert eines
Menschen nicht an seinem Nutzen für die Gesellschaft
oder an den Kosten, die er verursacht, gemessen werden
kann. Die Würde des Menschen hat Geltung vom An-
fang bis zum Ende seines Lebens. Das steht in jeder Ver-
fassung der westlichen Welt. Daraus folgt die Achtung
des alten und schwachen Menschen. Daraus erwächst
auch die Aufgabe für den Staat, die Menschen in ihrer
Hilflosigkeit und Bedürftigkeit zu unterstützen.
Am Beginn des Alters ist die Hinfälligkeit und Hilfs-
bedürftigkeit der älteren Menschen noch nicht wahr-
nehmbar. Diese Menschen sind oft sehr gesund, voller
Lebensfreude, voller Schaffenskraft und großer Vitalität.
Sie nehmen uneingeschränkt am gesellschaftlichen Le-
ben teil. Die auf Konsum ausgerichtete Wirtschaft hat
dies auch längst erkannt. Sie sieht in den älteren Men-
schen interessante Marktteilnehmer mit eigenständigen
Bedürfnissen. Die ständig wachsende Angebotsfülle in
den Schaufenstern und sogar auf den eigens dafür einge-
richteten Seniorenmessen ist Beweis dafür.
Dennoch aber ist auch in dieser Lebensphase, wenn
die alten Menschen noch rüstig sind und sich selbst noch
helfen können, nicht selten Hilfe notwendig. Alte Men-
schen leben oft allein in großer Einsamkeit in ihrer Woh-
nung im Hochhaus einer anonymen Großstadt. Sie leben
als Single. Sie haben oft niemanden, der an die Tür
klopft und sie mit „Du“ anredet. Nicht selten wird ein
solches Leben für diese alten und einsamen Menschen
zum Albtraum. Diese Menschen dürfen wir nicht allein
lassen, sonst wird auch der sonnigste Tag in ihrem mo-
dernen Wohnblock zum Albtraum.
Vor allem die Kommunen haben hier eine große Auf-
gabe. Die Kommunen sind am nächsten. Sie sind am
ehesten in der Lage, auf solche Menschen zuzugehen.
Dazu aber gehört Personal, Fachpersonal. Daran fehlt es.
Es fehlt auch am Geld. Deshalb ist eine strukturelle und
finanzielle Stärkung der Landkreise und der kreisfreien
Städte notwendig.
Aufgrund der Medizin und der geänderten Lebens-
führung übersteigen aber immer mehr Menschen diese
Phase des rüstigen Alters und werden im biblischen
Sinne hochbetagt. Diese Menschen werden dann aber
auch oft gebrechlich und sind auf fremde Hilfe angewie-
sen. Dann ist es Aufgabe der Politik, der Städte und Ge-
meinden, den pflegebedürftigen Menschen zu helfen und
ihnen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Die
höhere Lebenserwartung ist zwar eine erfreuliche Ent-
wicklung. Zugleich aber steigt auch die Zahl der Pflege-
bedürftigen. Heute sind es 2,4 Millionen, im Jahre 2030
werden es 3,3 Millionen Menschen sein, die auf Betreu-
ung und professionelle Pflege angewiesen sind.
Der Dienstleistungsbereich Pflege ist heute schon
eine der wichtigsten Säulen im gesamten Gesundheits-
wesen. Schon heute leisten 11 600 Pflegeeinrichtungen
und 12 000 ambulante Dienste mit nahezu 900 000 Be-
schäftigten wertvolle Arbeit für die Betroffenen und für
die Gesellschaft insgesamt. 200 000 Altenpflegerinnen
und Altenpfleger übernehmen als Fachkräfte die Schlüs-
selrolle in der Altenpflege. Der Mangel an Fachkräften
in den ambulanten und stationären Pflegeeinrichtungen
wird aber immer größer. Deshalb müssen die Rahmenbe-
dingungen für die Fachkräfte im Pflegebereich verbes-
sert und muss die Zahl der Auszubildenden erhöht wer-
den. Der Beruf der Altenpflegerin und des Altenpflegers
muss attraktiver gestaltet werden, damit sich mehr Men-
schen für diesen Beruf interessieren.
Aufgrund des Mangels an Fachkräften haben die
Bundesregierung, die Länder und die Kommunen, die
Wohlfahrtsverbände, die Fach- und Berufsverbände für
Altenpflege, die Bundesagentur und die Gewerkschaften
und Kostenträger erstmals gemeinsam eine Qualifizie-
rungsoffensive gestartet. In einer gemeinsamen Anstren-
gung haben sich diese Bündnispartner am 22. November
2012 auf zehn Handlungsfelder der Ausbildungs- und
Qualifizierungsoffensive „Altenpflege“ geeinigt. Insge-
samt also sollen die Rahmenbedingungen verbessert und
mehr Menschen für den Altenpflegeberuf gewonnen
werden.
Mit dem von der Frau Ministerin Dr. Schröder vorge-
legten Gesetzentwurf, den wir heute verabschieden, wird
das Grundanliegen der Vereinbarung vom 22. November
2012 umgesetzt. Durch die Änderung der Ausbildung
soll mehr Fachpersonal in der Pflege erreicht werden.
Ziel ist es, die Ausbildungszahlen stufenweise jährlich
um 10 Prozent zu steigern. Im gleichen Zeitraum sollen
etwa 4 000 Pflegehelferinnen und Pflegehelfer zu Fach-
kräften im Pflegebereich nachqualifiziert werden. Es soll
eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf in der
Altenpflege erreicht werden. Ziel des Gesetzes ist auch,
dass ältere und lebenserfahrene Menschen für einen Be-
ruf in der Altenpflege gewonnen werden. Viele Frauen,
die sich nach der Familienphase neu orientieren wollen,
können sich eine Beschäftigung in der Pflege gut vor-
stellen. Ihnen soll der Weg zur Pflegefachkraft auch
durch finanzielle Unterstützung erleichtert werden.
Es geht also darum, Fachkräfte für die Pflege zu mo-
bilisieren. Bei der immer größer werdenden Zahl der
Pflegebedürftigen geht es aber auch um eine Neuaus-
richtung der Pflegeversicherung. Durch das Gesetz zur
Neuausrichtung der Pflegeversicherung soll diesem An-
liegen Rechnung getragen werden. So erhalten ab 1. Ja-
nuar 2013 die Demenzkranken mit Pflegestufe 0 ein an-
teiliges Pflegegeld bzw. anteilige Sachleistungen. Auch
die vorgesehene Förderung der privaten Vorsorge ist zu
bejahen. Es besteht aber auch noch Nachbesserungsbe-
darf. Es fehlt noch eine stärkere Berücksichtigung der
Erziehungszeiten. Es geht um eine bessere rechtliche
Absicherung von Pflegepersonen. Die Aufwendungen
zur Sicherstellung der häuslichen Pflege von Angehöri-
gen sollten in Zukunft steuerlich besser absetzbar sein.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 27697
(A) (C)
(D)(B)
Die Pflegeversicherung wird in Zukunft wohl kaum
mit der jetzigen Höhe des Beitrags auskommen. Hier
sind ebenfalls Änderungen notwendig.
Der demografische Wandel gehört zu den großen Zu-
kunftsaufgaben der Politik. Die Politik kann sich aber
nicht nur auf die Betrachtung der Folgen des Bevölke-
rungswandels beschränken. Sie muss sich vielmehr auch
um die Ursachen des demografischen Wandels sorgen
und Maßnahmen treffen, die vor allem auf die Bekämp-
fung der Ursachen abzielen.
Petra Crone (SPD): Wir sind uns alle einig: Wir
brauchen gut ausgebildete Fachkräfte in der Altenpflege,
die mit Herz und Verstand für hochaltrige, bettlägerige,
demente oder multimorbide Menschen sorgen – ambu-
lant oder stationär. Denn obwohl wir uns alle wünschen,
so lange wie möglich selbstständig zu bleiben, wissen
wir auch, dass es schnell gehen kann, auf Hilfe angewie-
sen zu sein. Angehörige dürfen nicht auf sich allein ge-
stellt sein, sie fühlen sich oft hilflos und alleingelassen,
sind überfordert mit dem Mix aus Pflege, Kindererzie-
hung und Beruf. Für sie muss es eine verlässliche und
professionelle Entlastung geben.
Wir brauchen Fachkräfte, und wir brauchen sie
schnell. Schon jetzt hängt das Wort „Fachkräftemangel“
über jeder Kommune, die mangelnde Attraktivität des
Berufsbildes Altenpflege tut ihr Übriges. Allein aus die-
sem Grund, glaube ich, gibt es keine Alternative zur
vollständigen Finanzierung der Umschulung durch die
Bundesagentur für Arbeit.
Ein Fakt ist dies übrigens, den die SPD schon lange be-
nannt hat und an dem wir festhalten. Nur eine komplette
Finanzierung der Umschulung durch die BA macht Sinn.
Weder Ausbilder noch Auszubildende sollten einem der-
artigen Kuddelmuddel und einer subjektiv wahrgenom-
menen Unsicherheit ausgesetzt sein. Und: Jeder ernst-
hafte Interessent ist uns eine Unterstützung wert. Das
muss das Signal nach draußen sein.
In meinem Wahlkreis habe ich schon mehrmals
Workshops veranstaltet für Auszubildende in Pflegebe-
rufen. Die Resonanz war wirklich beeindruckend. Junge
Menschen, die einen helfenden Beruf erlernen, sind hoch-
motiviert und haben ganz konkrete Vorstellungen davon,
wie es im Krankenhaus oder Pflegeheim zugehen soll.
Sie wünschen sich Anerkennung und Wertschätzung für
ihren Beruf und natürlich auch eine leistungsgerechte
Bezahlung. Die sollten wir ihnen nicht verweigern. Für
mich ist klar: In der pflegerischen Ausbildung müssen
wir einen Einstieg auf allen Ebenen ermöglichen, ange-
fangen bei einer Pflegeassistenz mit guten Weiterbil-
dungsangeboten bis hin zur Führungskraft in der Pflege.
Generell gilt doch: Um den Beruf für Männer und
Frauen attraktiver zu gestalten, sind angemessene Ar-
beitsbedingungen für diese körperlich und seelisch kräf-
tezehrende Arbeit notwendig. Die Rahmenbedingungen
zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf müssen drin-
gend verbessert werden. Zudem sollten Altenpflegerin-
nen und Altenpfleger flexibler als bisher zwischen am-
bulanter und stationärer Beschäftigung wechseln
können. Wir begrüßen daher grundsätzlich die mögliche
Verkürzung der Ausbildungszeit auf zwei Jahre entwe-
der bei Vorliegen entsprechender Vorqualifikation oder
auf Grundlage einer gutachterlichen Kompetenzfeststel-
lung. Auf eine hohe Qualität bei der Ausbildung müssen
wir weiterhin ein Auge haben.
Von den Altenpflegefachkräften werden in Zukunft
noch mehr Kompetenz und mehr Verantwortung ver-
langt. Demente und depressive Menschen, aber auch die
alternden Generationen von Menschen mit Migrations-
hintergrund benötigen ein speziell geschultes Altenpfle-
gepersonal. Notwendig werden auch ganzheitliche und
integrierte Behandlungs- und Versorgungsformen. Prä-
vention und Prophylaxe gewinnen an Bedeutung.
Die Quantität der Auszubildenden ist unser aktuelles
Problem, dem wir uns stellen. Wir müssen aber ebenso
verhindern, dass die Qualität irgendwann eines wird.
Mein Wunsch wäre daher gewesen, dass eine Ausbil-
dungs- und Qualifizierungsoffensive für die Altenpflege
mit dem großen Projekt Reform der Pflegeausbildungen
einhergeht. Wir haben kein Verständnis mehr dafür, dass
dieses Projekt auf die lange Bank geschoben wird. – Ja,
es sind unheimlich viele verschiedene Interessen zusam-
menzuführen, und, ja, die Finanzierung ist nicht geklärt;
aber die Bundesregierung hatte dafür schon drei Jahre
Zeit. Der seit vielen Monaten angekündigte Gesetzent-
wurf zur Zusammenlegung der drei Pflegeausbildungen
in eine neue generalisierte Ausbildung liegt immer noch
nicht vor. Das ist keine Erfolgsgeschichte.
Wir stimmen dem Gesetzentwurf zu. Wir gehen den
Kompromiss ein, damit Türen geöffnet werden für eine
bessere Ausbildung. Denn wir unterstützen alle Bestre-
bungen, die dazu führen, das Berufsbild der Altenpflege-
fachkraft und damit einhergehend die Aus- und Weiter-
bildung attraktiver zu gestalten: sowohl für Menschen,
die bereits in der Pflege arbeiten, als auch für diejenigen,
die dort eine mögliche Perspektive für sich sehen.
Nicole Bracht-Bendt (FDP): Bis 2030 wird die
Zahl der pflegebedürftigen Menschen in Deutschland
um 40 Prozent ansteigen. Das bedeutet, 3,4 Millionen
Menschen werden auf Pflege angewiesen sein.
Der Gesetzentwurf, den wir heute beraten, ist ein
wichtiger Schritt, um die Zahl der Fachkräfte in der
Altenpflege zu erhöhen. Genügend qualifizierte Pflege-
fachkräfte auszubilden, gehört zu den zentralen Heraus-
forderungen des demografischen Wandels. Diesen He-
rausforderungen stellt sich die christlich-liberale
Koalition.
Die FDP-Bundestagsfraktion begrüßt, dass wir dieses
Projekt als Bund gemeinsam mit den Ländern und rund
30 Verbänden und Kostenträgern gestaltet haben. Bei der
Vereinbarung zur Ausbildungs- und Qualifizierungs-
offensive in der Altenpflege haben alle an einem Strang
gezogen, und das ist ein positives Signal.
Mit der Qualifizierungsoffensive wollen wir die Aus-
bildungszahlen im Bereich Altenpflege in den nächsten
drei Jahren um 30 Prozent steigern. Auch wird die beruf-
liche Weiterbildung von Fachkräften gestärkt.
27698 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013
(A) (C)
(D)(B)
Besonders hervorheben möchte ich, dass wir die
Familienfreundlichkeit von Unternehmen und die Ver-
einbarkeit von Familie und Beruf bzw. Ausbildung im
Blick haben. Das ist für Frauen und Männer, die in der
Pflege tätig sind, ein wesentlicher Punkt. Die Koopera-
tion zwischen Pflegeeinrichtungen und Kommunen soll
intensiviert werden, um Betreuungsangebote für die
Kinder von Pflegekräften zu schaffen. Dadurch werden
berufstätige Eltern ganz gezielt unterstützt und wird ein
Wechsel von einer Teilzeit- zurück in die Vollzeit-
beschäftigung ermöglicht. Das unterstütze ich ausdrück-
lich.
Die Koalition sichert mit den Maßnahmen des
Gesetzentwurfs aber auch die Aus- und Weiterbildungs-
förderung in der Altenpflege – und das auf hohem
Niveau. Ein zentraler Punkt des Gesetzentwurfs ist, die
Ausbildungszeit für berufliche Weiterbildungen um ein
Jahr gegenüber der Regelausbildung zu verkürzen und
gleichzeitig die Vollfinanzierung des dritten Weiterbil-
dungsjahres zur Altenpflegerin oder zum Altenpfleger
durch die Bundesagentur für Arbeit und die Jobcenter zu
sichern. Die Initiative kommt berufserfahrenen und älte-
ren Menschen zugute, die umschulen möchten, aber
auch den rund 4 000 Altenpflegehelferinnen und -hel-
fern, die sich zur Fachkraft weiterbilden wollen. Das ist
eine großartige Sache.
Deshalb ist die Offensive für mehr Pflegekräfte nicht
nur eine Verbesserung für die Pflegebedürftigen. Sie ist
auch eine Chance für Frauen und Männer, die beruflich
noch einmal durchstarten wollen. Gerade für jene, die
nach Erwerbsunterbrechungen wieder einsteigen wollen,
sind spezielle Programme für den Wiedereinstieg in den
Beruf geplant.
Der Gesetzentwurf strebt daneben Verbesserungen
bei der Kooperation zwischen Pflegekräften, Hilfskräf-
ten und Ehrenamtlichen an, und zwar möglichst unbüro-
kratisch. Das begrüßen wir Liberale – genauso wie das
Ziel, mehr männliche Bewerber für die Altenpflege zu
gewinnen und junge Menschen mit Migrationshinter-
grund.
Diese Initiative zur Sicherung der Fachkräfte in der
Altenpflege ist eine gute Chance, die Rahmenbedingun-
gen und das Image der Berufe in der Altenpflege zu ver-
bessern. Qualifizierte und motivierte Altenpflegerinnen
und Altenpfleger verdienen im gesellschaftlichen Anse-
hen mehr Würdigung ihrer Arbeit. Dies kann der Staat
aber nicht per Gesetz verordnen. Hier ist die Gesell-
schaft insgesamt gefordert. Die FDP-Fraktion unterstützt
in diesem Sinne eine intensive Öffentlichkeitsarbeit,
durch die gezielt Menschen für diese Berufe gewonnen
werden und über Chancen und Berufsaussichten in der
immer wichtiger werdenden Altenpflege informiert wer-
den soll.
Dieser Gesetzentwurf ist ein wichtiger Baustein, um
Deutschland für die Herausforderungen des demografi-
schen Wandels fit zu machen.
Kathrin Senger-Schäfer (DIE LINKE): Wir beraten
heute in abschließender Lesung den überschaubaren Ent-
wurf eines Gesetzes zur Stärkung der beruflichen Aus-
und Weiterbildung in der Altenpflege. Der Entwurf sieht
vor, zwei Punkte der im Dezember 2012 beschlossenen
Ausbildungs- und Qualifizierungsoffensive Altenpflege
umzusetzen. Zum einen geht es um die Ausbildungsver-
kürzung und zum anderen um die Möglichkeit, dass die
Bundesagentur für Arbeit befristet für drei Jahre die Fi-
nanzierung des dritten Umschulungsjahres im Rahmen
der beruflichen Weiterbildung übernimmt, wo eine Ver-
kürzung nicht möglich ist.
Die Linke unterstützt die Offensive ausdrücklich,
welche gemeinsam mit den Ländern, Verbänden und Ge-
werkschaften auf den Weg gebracht wurde, und deshalb
werden wir dem Gesetzentwurf zustimmen – auch wenn
er an der einen oder anderen Stelle Bauchschmerzen ver-
ursacht. Angemerkt werden muss an dieser Stelle aber
auch, dass es lange gebraucht hat, bis die Maßnahmen
der Offensive verabredet werden konnten und schließ-
lich öffentlich bekannt gegeben wurden.
Gemessen an der Dringlichkeit, welche uns der augen-
fällige Fachkräftemangel in der Altenpflege auferlegt,
weise ich darauf hin, dass wir uns ewiges Taktieren wirk-
lich nicht mehr leisten können, wenn wir auch künftig die
pflegerische Versorgung sichergestellt wissen wollen.
Gerade die Bundesregierung hätte die beiden vorliegen-
den kleinen Maßnahmen längst auf den Weg gebracht ha-
ben können. Versprochen waren diese Schritte immerhin
bereits im Sommer letzten Jahres. Warum also hat das so
lange gedauert?
Schade ist auch, dass die Bundesregierung offensicht-
lich aus den Erfahrungen des Konjunkturpakets II keine
Lehren ziehen wollte. Damals wurde schon einmal – für
zwei Jahre befristet – das dritte Umschulungsjahr in der
Kranken- und Altenpflege gefördert, mit dem Ergebnis,
dass die beachtliche Anzahl der Umschulungen im Be-
reich der Altenpflege nach dem Auslaufen der befriste-
ten Finanzierung wieder deutlich abnahm. Daneben
wurde bis zum heutigen Tag keine verlässliche Finanzie-
rung der Altenpflegeausbildung insgesamt und landes-
weit auf den Weg gebracht.
Vor diesem Hintergrund ist die neuerliche Befristung
ein falsches Signal an alle Umschulungswilligen – und an
die Pflegeeinrichtungen sowieso. Dass das von Schwarz-
Gelb versprochene neue Pflegeberufegesetz nach wie vor
auf sich warten lässt, ist ebenfalls kein Zeichen dafür,
dass es der Bundesregierung mit der Bekämpfung des
Fachkräftemangels und der Attraktivitätssteigerung der
Altenpflege besonders ernst ist.
Die Finanzierung des dritten Umschulungsjahres
hätte nach Auffassung der Linken von der Bundesregie-
rung so lange entfristet werden müssen, bis eine dauer-
hafte Finanzierungsgrundlage für eine weiterentwickelte
neue Pflegeausbildung gefunden ist. Zumindest aber
hätte die Befristung wenigstens deutlich verlängert wer-
den müssen.
Auch mit dem Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz hat
sich die Bundesregierung in Sachen Attraktivitätssteige-
rung im letzten Jahr nicht mit Ruhm bekleckert. Im Ge-
genteil: Das Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz riecht ver-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 27699
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(D)(B)
dammt nach Deprofessionalisierung. Zum einen betrifft
das den erleichterten Einsatz von Einzelpflegekräften
und zum anderen die Tatsache, dass es sich bei den Ein-
zelpflegekräften nicht mehr um eine Pflegefachkraft
handeln muss. Ich meine, dass diese Maßnahme des
Pflege-Neuausrichtungs-Gesetzes im krassen Wider-
spruch zur Qualifizierungsoffensive steht.
Daneben darf die Regelung des Pflege-Neuausrich-
tungs-Gesetzes nicht unerwähnt bleiben, nach welcher
– bei einem Abschluss eines Versorgungsvertrages für
Pflegeeinrichtungen – nicht mehr die Zahlung einer orts-
üblichen Vergütung für die Pflegekräfte ausschlagge-
bend ist, sondern der Pflegemindestlohn ausreichend
sein soll, obwohl die ortsübliche Vergütung häufig um
ein Vielfaches höher ist. Damit wird die unterste Halteli-
nie, die Lohndumping eigentlich verhindern sollte, zum
Instrument für Lohndrückerei missbraucht. Auch das hat
mit Attraktivitätssteigerung überhaupt nichts zu tun.
Der heute vorliegende Gesetzentwurf hat in Sachen
Deprofessionalisierung ebenfalls seine Tücken. Wer
keine Ausbildung hat, aber eine zweijährige Vollbe-
schäftigung in einer Pflegeeinrichtung vorweisen kann,
soll Kraft des Gesetzes, auf Antrag die Möglichkeit zur
Weiterbildungsverkürzung bekommen. Die Hürde hier-
für ist ein Kompetenzfeststellungsverfahren, für das die
Bundesländer verantwortlich zeichnen. Die Frage ist,
wie dabei die Qualität der Ausbildung und damit der Al-
tenpflege insgesamt gesichert wird. Wie wird die Kom-
petenz festgestellt?
Wie werden ein möglichst einheitliches Vorgehen der
Länder bzw. einheitliche Kriterien gewährleistet? Wel-
che Einflussnahme hat der Bund dabei überhaupt, und
wer wird am Ende überhaupt noch eine dreijährige Um-
schulung machen? Oder soll mit dieser Maßnahme
schlicht das Geld der Bundesagentur gespart werden? Es
wird darauf ankommen, hier die künftige Entwicklung
scharf im Auge zu behalten.
An die Adresse der Bundesregierung – als Teil der Ini-
tiatoren der Ausbildungs- und Qualifizierungsoffensive
Altenpflege – möchte ich abschließend appellieren, dass
allein mit dem Papier, auf dem die vielen Maßnahmen
niedergeschrieben wurden, der Kampf gegen den Fach-
kräftemangel und für gute Pflege nicht gewonnen wird.
Gute Pflege kommt von guter Arbeit und diese wiede-
rum von guten Löhnen und einem attraktiven Arbeitsum-
feld. Außerdem muss eine ausreichende Personalausstat-
tung durch eine bundesweit gültige Personalbemessung
abgesichert werden.
An diesen Stellschrauben gibt es für den Gesetzgeber
noch einige Runden zu drehen; denn wir befinden uns
hier eher auf der Stufe eines Entwicklungslandes. Über
die Bundestagswahl im September hinaus wird die Linke
aufpassen, dass die Bundesregierung hierfür den richti-
gen pflegepolitischen Schraubenschlüssel in die Hand
nimmt. Dessen dürfen Sie sich absolut sicher sein.
Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Der Fachkräftemangel in der Pflege ist seit Jahren
ein Dauerbrenner. Aus einem unveröffentlichten Bericht
aus dem Bundesarbeitsministerium erfahren wir, dass es
derzeit 14 000 offene Stellen in der Altenpflege gibt.
Damit hat sich die Zahl der gesuchten Fachkräfte inner-
halb von fünf Jahren verdreifacht.
Es besteht also Handlungsbedarf, und das schon seit
Jahren. Durch das Konjunkturpaket II wurde von der
damaligen Bundesregierung ein kleiner Baustein zur
Fachkräftesicherung gelegt. Es wurde vereinbart, dass
die Finanzierung des dritten Umschulungsjahrs für die
Altenpflege zeitlich befristet von der Bundesagentur für
Arbeit übernommen wird. Nach dem Auslaufen dieser
befristeten Sonderregelung im Jahr 2010 hat man – na,
raten Sie mal – genau diesen Baustein wieder aus dem
Gebäude entfernt.
Nun kommt man damit erneut um die Ecke und feiert
ihn als Meilenstein der politischen Entscheidungskraft.
Bei diesem Hin und Her haben wir jedoch drei Jahre
verloren – drei Jahre, in denen eine Vielzahl von Interes-
senten abgesprungen ist, drei Jahre, in denen die Anzahl
der Umschulungen um 40 Prozent gesunken ist, drei
Jahre, in denen nichts, aber auch gar nichts passiert ist.
Der nun vorliegende Gesetzentwurf ist ein weiterer
Baustein im Gebäude der Fachkräftesicherung – mehr
aber auch nicht. Wir hoffen sehr, dass sich dieser nicht in
einen Stolperstein verwandelt. Im Gesetz ist nämlich zu
lesen, dass auf das dritte Ausbildungsjahr gänzlich ver-
zichtet werden kann, indem bereits erworbene Erfahrun-
gen und Kenntnisse angerechnet werden. Wie ist das zu
verstehen? Wird jetzt jede nur im Verdacht stehende
pflegerische Tätigkeit im Lebenslauf auf die Aus-
bildungszeit angerechnet, nur um das dritte Jahr ein-
zusparen? So sieht also die Sparpolitik von Schwarz-
Gelb aus.
Bereits am Dienstag konnte man der Fachpresse ent-
nehmen, dass der erste Vorschlag zur Verkürzung der
Altenpflegeausbildung von Gesundheitssenator Czaja
vorliegt. Damit ist schon der Erste der schwarz-gelben
Bundesregierung auf den Leim gegangen. Ich appelliere
hier an die Länder, die für das Anerkennungsverfahren
verantwortlich zeichnen: Gebieten Sie Einhalt vor zu
großem Spielraum! Es geht sonst zulasten der Qualität
der Auszubildenden.
Es ist doch janusköpfig, wenn sich alle hier im Raum
in Funk und Fernsehen für Qualität in der Altenpflege
aussprechen, gegen Missstände in der Pflege und für die
Attraktivitätssteigerung des Berufs. Gleichzeitig disku-
tieren wir hier darüber, dass Quantität vorgeht und man
im Eilverfahren möglichst viele Umschülerinnen und
Umschüler in den Beruf bringt. Wir sind natürlich für
eine Durchlässigkeit des Berufs, aber bitte in einer quali-
fizierten und durchdachten Art und Weise und nicht im
Schnellschussverfahren.
Wir warnen hier: Dieser Baustein kann auch uns auf
die Füße fallen. Ich hoffe sehr, dass die Länder ein ein-
heitliches Vorgehen finden und es der BA nicht ersparen,
so vielen Personen wie möglich das qualifizierte dritte
Ausbildungsjahr zu finanzieren.
27700 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013
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Anlage 5
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Für ein neues Ver-
ständnis der Zusammenarbeit von Schule und
Jugendhilfe – Schulsozialarbeit an allen Schu-
len (Tagesordnungspunkt 16)
Dr. Peter Tauber (CDU/CSU): Wenn wir heute über
das Thema Schulsozialarbeit sprechen, so besteht ohne
Zweifel Einigkeit darüber, dass wir über ein Thema de-
battieren, das in den zurückliegenden Jahren an Bedeu-
tung gewonnen hat. Unbestritten ist sicher auch, dass die
Schulsozialarbeit eine Reihe von beachtlichen Erfolgen
hervorgebracht hat. Die Angebote sind in aller Regel
sehr direkt erreichbar und dort zu finden, wo die Schüle-
rinnen und Schüler sich aufhalten. Jugendliche brauchen
nicht erst in ein Amt zu gehen, das aus ihrem Erfah-
rungshorizont meistens weit entfernt ist. Viele Beteiligte
berichten davon, dass sich das Klima in den Schulen mit
funktionierender Schulsozialarbeit verbessert hat. Ent-
lastung erfahren zudem die Lehrerinnen und Lehrer, die
sich stärker auf den Unterricht konzentrieren können und
bei komplizierten Problemen im Umgang mit den
Schülerinnen und Schülern eine Hilfestellung erhalten
können.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, klar ist aber
auch: Für die Schulsozialarbeit sind in allererster Linie
die Länder bzw. kommunalen Gebietskörperschaften zu-
ständig. Der Bund hat sich im Rahmen des Vermittlungs-
verfahrens zum Gesetz zur Ermittlung von Regelbedar-
fen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches
Sozialgesetzbuch bereit erklärt, den Ländern und Kom-
munen befristet bis 2013 zusätzlich 400 Millionen Euro
zum Ausbau der Schulsozialarbeit zur Verfügung zu stel-
len. Der Bund unterstützt Länder und Kommunen also,
obwohl er dafür eigentlich nicht originär zuständig ist.
Er hat damit viel mehr gemacht, als er müsste.
Wir sind der Bundesregierung sehr dankbar, dass sie
die größte kommunale Entlastung der Geschichte auf
den Weg gebracht hat. Der Bund wird ab dem Jahr 2014
die Nettoausgaben des Vorvorjahres für die Grundsiche-
rung im Alter und bei Erwerbsminderung vollständig er-
statten. Dadurch entstehen Ländern und Kommunen
vielfach neue Spielräume, um dauerhaft auch die kom-
munalen Aufwendungen erhöhen zu können. Die mil-
liardenschwere Entlastung der Kommunen war immer
auch mit dem Ziel gedacht, dass die Kommunen zukünf-
tig für eine ausreichende Finanzierung der Schulsozial-
arbeit Sorge tragen können. Der vorliegende Antrag
blendet dies vollständig aus.
Wir haben es erneut mit einem Antrag der Linken zu
tun, der mehr Zentralismus bedeutet. Jegliche staatliche
Zuständigkeit wird zugunsten von zentralistischen
Lösungen ausgeblendet. Dafür soll sogar die Verfassung
geändert werden. Aus gutem Grund haben wir einen
föderalen Staat. Würden wir allen Rufen der Linkspartei
nachkommen, wäre der föderale Staat innerhalb einer
Legislaturperiode Vergangenheit. Dies haben sich unse-
rer Verfassungsväter anders vorgestellt, und dies wäre
auch sehr unklug.
Es ist leicht, nach Verfassungsänderungen zu rufen,
die die vermeintliche Lösung darstellen. Ganz schnell
kommen Folgeprobleme auf uns zu, zudem dürfen wir
die berechtigten Interessen der Länder nicht vergessen.
Es sind jetzt die Kommunen und die Länder am Zug,
ihre Spielräume zu nutzen, um eine Belebung der Schul-
sozialarbeit zu organisieren.
Auf eines möchte ich an dieser Stelle noch einmal
hinweisen: Der Antrag der Linken liest sich so, als wäre
die Schulsozialarbeit der Schlüssel zur Lösung aller Pro-
bleme junger Menschen. Bei allen Erfolgen warne ich
davor, die Schulsozialarbeit mit zu hohen Erwartungen
zu überfrachten. Sie kann ein guter und sinnvoller Be-
gleiter der Schülerinnen und Schüler sein. Schulsozial-
arbeit kann aber kein Ersatz für Vernachlässigung zu
Hause oder für die vollumfänglichen Angebote der
Jugendhilfe sein. Denn viele Probleme lassen sich nicht
alleine in der Schule lösen. Ich denke, dies ist uns auch
allen bewusst. Ich warne daher die Linkspartei davor, in
allzu leichten Bildern zu denken, nach dem Motto „Mit
einer Aufstockung der Schulsozialarbeit sind alle
Probleme gelöst“. Dies wird der komplexen sozialen
Wirklichkeit nicht gerecht.
Ich bin überzeugt, dass Länder und Kommunen ihren
finanziellen Auftrag ernst nehmen und die Schulsozial-
arbeit dort verstärken, wo der Bedarf besteht. Der Antrag
der Linken ist nicht realistisch. Wir lehnen ihn daher ab.
Stefan Schwartze (SPD): Als im Jahr 2011 die Ver-
änderungen im SGB II verhandelt wurden, da war es die
SPD, die darauf bestanden hat, dass die Schulsozialar-
beit ein Teil des Bildungs- und Teilhabepakets wird. Die
Erfahrungen vor Ort haben gezeigt, dass Schulsozialar-
beiterinnen und Schulsozialarbeiter eine gute und wich-
tige Arbeit leisten. Sie sind direkt bei den Menschen und
leisten einen wichtigen Beitrag für den Bildungserfolg
unserer Kinder.
Die Finanzierung ist dabei indirekt durch die Über-
nahme eines höheren Anteils des Bundes an den Kosten
der Unterkunft im SGB II erfolgt. Die Verantwortung für
den Einsatz von Schulsozialarbeit verblieb bei den Kom-
munen und Ländern. Das ist auch gut und richtig. Die
Fraktion Die Linke will nun die Schulsozialarbeit verste-
tigen. Das ist ein guter Ansatz. Er zielt jedoch zu kurz.
Was die SPD will, hat sie klar dargelegt: Wir wollen
gute Ganztagsschulen. Wir wollen die soziale Spaltung
im Bildungssystem überwinden und junge Menschen un-
terstützen, ihre Bildungspotenziale zu entfalten. Deshalb
wollen wir ein zweites Ausbauprogramm für Ganztags-
schulen, das bis zum Jahr 2020 jedem Kind die Möglich-
keit eröffnet, eine gute Ganztagsschule zu besuchen. Dafür
ist die Hauptvoraussetzung, das sogenannte Koopera-
tionsverbot abzuschaffen. Das Kooperationsverbot un-
tersagt dem Bund Finanzhilfen für die Bereiche, die in
alleiniger Zuständigkeit der Länder liegen. Dazu gehö-
ren auch die Schulen. Damit ist der Bund aber genau da
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 27701
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außen vor, wo die Weichen für eine gute und lebens-
werte Zukunft gestellt werden.
Der Ausbau der Ganztagsschulen kann nicht allein
von den Ländern und Kommunen gestemmt werden. Es
liegen Schätzungen vor, die von jährlichen Mehrkosten
von 6 bis 14 Milliarden Euro ausgehen. Mit dem Fi-
nanzierungskonzept „Nationaler Pakt für Bildung und
Entschuldung“ hat die SPD als einzige Partei einen um-
fassenden Vorschlag für eine Ausweitung der Bildungs-
finanzierung von Bund und Ländern vorgelegt. Wir wer-
den für Bildung zusätzlich 20 Milliarden Euro im Jahr
bereitstellen, je 10 Milliarden Euro von Bund und Län-
dern.
Wir wollen ein neues Ausbauprogramm „Masterplan
Ganztagsschule 2020“. Unser Ziel ist es, bis zum Jahr
2020 jedem Kind und jedem Jugendlichen einen Ganz-
tagsschulplatz anzubieten. Darauf wollen wir den Eltern
einen Rechtsanspruch geben.
Der Masterplan muss ein Qualitätsprogramm sein.
Die hohen Potenziale und die nachhaltige Attraktivität
ganztägiger Schulformen hängen entscheidend von der
Qualität der Lehr- und Betreuungsangebote ab. Den
Kommunen kommt eine Schlüsselrolle beim Ganztags-
schulausbau zu. Kommunen müssen als Partner auf Au-
genhöhe mit Stimme und Gewicht einbezogen werden
und über die Länder verlässlich in die arbeitsteilige Auf-
gabenerfüllung des Masterplans eingebunden werden.
Wir wollen zwei Förderlinien: Erstens ein Investitions-
programm zur Förderung der baulichen Voraussetzungen
für ganztägigen Schulbetrieb. Zweitens ein Personal-
und Qualitätsbudget für die Förderung der konzeptionel-
len und qualitativen Entwicklung der Ganztagsschulen.
Bei der Verwendung des Personal- und Qualitätsbudgets,
darunter fällt auch die Schulsozialarbeit, sollen die
Schulen ein Mitspracherecht erhalten.
Die SPD geht von folgenden Eckpunkten der Finan-
zierung aus: Für die erste vierjährige Phase wird der
Bund 8 Milliarden Euro zur Verfügung stellen. Für die
zweite Phase sind die Kosten mit Blick auf die Ausbau-
ziele neu zu bestimmen und die Finanzierungsquoten für
den Bund und die Länder zu vereinbaren. Der Bund
bleibt bis zur Erreichung eines flächendeckenden Ganz-
tagsangebots in der gemeinsamen Pflicht mit den Län-
dern.
Das ist ein gutes und vernünftiges Konzept. Hier sind
sich alle Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten al-
ler föderalen Ebenen einig. Überall dort, wo die Sozial-
demokratie in Ländern und Kommunen Verantwortung
trägt, werden wir mit aller Kraft am Ausbau von hoch-
wertigen Ganztagsangeboten arbeiten. Schulsozialarbeit
soll es dort geben, wo sie gebraucht wird.
Swen Schulz (Spandau) (SPD): Schulsozialarbeit ist
ein wichtiger Beitrag zur Verbesserung der Unterstüt-
zung und Förderung der Schülerinnen und Schüler.
Nicht ohne Grund haben wir Sozialdemokraten darauf
gedrungen, dass im Rahmen des Bildungs- und Teilha-
bepakets auch die Finanzierung von Schulsozialarbeit
durch zusätzliche Mittel des Bundes in den Kommunen
ermöglicht wird.
Das Problem ist jedoch, dass die Finanzierungszu-
sage, zu der die Bundesregierung von CDU/CSU und
FDP bereit war, Ende des Jahres ausläuft. Es müssen
dann wieder Schulsozialarbeiterstellen gestrichen wer-
den. Alleine in meinem Berliner Bezirk Spandau sind es
fünf Stellen. Darunter leiden Schülerinnen und Schüler
insbesondere in sogenannten Problemkiezen, wo es viel-
fältige Probleme gibt.
Ich habe die Bundesregierung gefragt, ob sie die Fi-
nanzierungszusage verlängert. Die Antwort war deut-
lich: Nein!
Dabei muss uns doch allen klar sein, dass wir mehr
anstatt weniger Schulsozialarbeit benötigen. Um nur ei-
nen Aspekt zu benennen: Vor kurzem ist eine Studie ver-
öffentlicht worden, wonach Schulsozialarbeit die Krimi-
nalität senkt. Warum will die Bundesregierung also
nichts unternehmen, um den Schulen, den Schülerinnen
und Schülern, den Eltern und den Lehrern zu helfen? Ich
kann nur zu einer Schlussfolgerung kommen: weil es ihr
egal ist – egal wie die Situation in den Ortsteilen ist,
egal, was mit den jungen Menschen geschieht, egal, dass
sie schlechte Chancen haben.
Der Antrag der Linken dagegen hat das richtige Ziel:
mehr Schulsozialarbeit und auch eine verbesserte Zu-
sammenarbeit von Schule und Jugendhilfe. Wir teilen
das Ziel – und wollen noch darüber hinaus einen Rechts-
anspruch auf Ganztagsschulen verwirklichen, damit
durch Schulsozialarbeit und über Schulsozialarbeit hi-
naus alle Schülerinnen und Schüler optimal gefördert
und unterstützt werden. Ich denke, dass auch die Frak-
tion Die Linke dieses weiter gefasste Ziel teilt.
Unser Konzept für ein neues Ganztagsschulpro-
gramm erfordert zum einen erhebliche Investitionen in
die Infrastruktur, also in die Baulichkeiten der Schulen.
Es müssen Küchen, Mensen, Aufenthalts- und Gruppen-
räume, Sportanlagen, Computerräume und anderes mehr
geschaffen werden. Zum anderen geht es um die Finan-
zierung von zusätzlichem Personal: Lehrerinnen und
Lehrer, Erzieherinnen und Erzieher sowie eben Schulso-
zialarbeiterinnen und Schulsozialarbeiter.
Um ein solches bundesweites Ganztagsschulpro-
gramm bewerkstelligen zu können, braucht es erstens
viel Geld – allein die Personalkosten im Jahr des
Endausbaus 2020 können auf 10 Milliarden Euro ge-
schätzt werden – und es braucht dafür zweitens eine
Aufhebung des Kooperationsverbotes. Das Grundgesetz
verbietet nämlich die Zusammenarbeit von Bund und
Ländern sowohl in der als auch für die Bildung.
Die SPD hat bereits einen Entwurf für die Änderung
des Grundgesetzes eingebracht, damit künftig der Bund
im gesamten Bildungsbereich, von der Kita bis zur
Hochschule, helfen kann. CDU/CSU und FDP jedoch
blockieren diesen Entwurf. Auch hier wenden sie sich
gegen die Anliegen der großen Mehrheit der Bevölke-
rung. Stattdessen hat die Bundesregierung einen eigenen
Vorschlag eingebracht, mit dem lediglich einige wenige
Spitzeneinrichtungen der Wissenschaft von überregiona-
27702 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013
(A) (C)
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ler Bedeutung, wie es heißt, unterstützt werden sollen.
Diese Änderung des Grundgesetzes reicht bei weitem
nicht aus. Wir setzen uns weiterhin für die Bildung, für
die Unterstützung aller Kinder und Jugendlichen ein, un-
abhängig von ihrer sozialen Herkunft.
Florian Bernschneider (FDP): Unsere heutige
Antragsberatung könnten wir unter das Motto stellen:
„Unsere sitzungswöchentliche Verfassungsänderung gib
uns heute.“ So häufig wie die Linke fordert wohl
niemand in Anträgen und Gesetzentwürfen, unsere
Verfassung zu verändern. Da sind Sie einsame Spitze,
meine Damen und Herren; das ist hier im Hause wohl
unstrittig. Denn egal ob es um Kindertagesstätten, Hoch-
schulpolitik oder Bildungspolitik in Ihren Anträgen geht:
Auf die Linke ist Verlass. Die Linke fordert regelmäßig
den Bund auf, sich in Länderzuständigkeiten einzumi-
schen – zur Not mit einer schnellen Verfassungsände-
rung. Das gehört bei Ihnen offenbar zum guten Ton.
In einem Punkt stimme ich Ihrem Antrag jedoch aus-
drücklich zu. Der Schulsozialarbeit kommt, angesichts
größer werdender Schulen und der zunehmenden Zahl
an Ganztagsschulen, eine wichtige Bedeutung zu. Es ist
schön, dass Sie das in einem eigenen Antrag feststellen.
Nur verwundert es mich, dass Sie hier einen solchen
Antrag einbringen. Auf der einen Seite waren und sind
es die Länder, die mit aller Vehemenz für ihre Zuständig-
keit in Bildungsfragen gekämpft haben. Ziel vieler Be-
mühungen von Länderseite war es, den Bund aus dem
Bildungsbereich möglichst herauszuhalten; da schließe
ich ehemalige oder aktuell rot-rot regierte Länder aus-
drücklich nicht aus. Fragen Sie mal in Berlin oder Bran-
denburg nach! Ihre Parteikollegen saßen bei den letzten
Föderalismuskommissionen von Bund und Ländern
doch mit am Tisch. Und zum Bildungsbereich gehört
mittelbar auch die Schulsozialarbeit. Das, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen, hören Sie schon am Namen.
Vieles in Ihrem vorliegenden Antrag passt einfach
nicht zusammen. Sie fordern, die Schulsozialarbeit im
SGB VIII als Regelleistung unter den schulbezogenen
Angeboten zu verankern. Damit wäre es dann eine ge-
setzliche Regelleistung, die durch den Träger der Sozial-
arbeit, die Kreise und Kommunen, zu leisten wäre. Sie
fordern damit de facto Millionenmehrbelastungen für
Kommunen und Kreise. Denn längst nicht alle Länder
beteiligen sich an den Kosten für die Schulsozialarbeit,
was ohne Frage wünschenswert wäre; aber auch das
kann und darf der Bund nicht regeln.
Da es folglich nicht möglich ist, Kreisen und Kom-
munen diese Aufgabe alleine zu überlassen, weil es
finanziell nicht tragbar ist, soll nun ein Programm des
Bundes diese Kosten übernehmen – und dies wiederum
nur so lange, bis sich Bund und Länder darauf geeinigt
haben, die Schulsozialarbeit als einzelnen Bereich durch
eine Föderalismusreform in eine gemeinsame Zuständig-
keit zu überführen. Nun, meine Damen und Herren, die-
ses Vorgehen, wie Sie es vorschlagen, ist nicht nur ziem-
lich kompliziert, um nicht zu sagen „von hinten durch
die Brust ins Auge“; es ist auch verfassungsrechtlich
mehr als nur bedenklich.
Eine Regelleistung für einen Bereich, für den der
Bund gar nicht zuständig ist, können wir nicht ohne Wei-
teres beschließen, ein flächendeckendes Programm, also
kein Modellprogramm, als Ersatz ebenso nicht – auch
nicht übergangsweise. Und damit ist das Herzstück Ihres
Antrages eigentlich erledigt, mal ganz davon abgesehen,
dass Sie im Bundesrat mit diesem Anliegen scheitern
würden. Und damit landen Sie in einer Sackgasse.
Und es ist auch sachlich falsch, die Schulsozialarbeit
an den Bund zu übertragen. Viele Kommunen tun hier
freiwillig sehr viel mehr, haben zusätzliche Stellen
geschaffen, haben Kooperationsnetzwerke mit Schulen,
Jugendclubs, Jugendgruppen gebildet. Eine bundesweite
Standardsozialarbeit würde Engagement und Ideenreich-
tum auf lokaler Ebene zu einer Minimalschulsozialarbeit
reduzieren.
Außerdem beschleicht mich das Gefühl, dass Sie hier
– wie so häufig – Missstände in den Ländern öffentlich
beklagen und, anstatt sich vor Ort darum zu bemühen,
etwas daran zu ändern, den Schwarzen Peter schnell an
den Bund weiterreichen wollen – ganz nach dem Motto:
Wir haben uns auf Landesebene zwar nicht gekümmert,
aber wenigstens darüber gesprochen. Nur, dieses Spiel
hilft niemandem! Die Länder sind hier in der Verantwor-
tung.
Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE): Vor einigen Jah-
ren sagte mir ein Lehrer aus einer Sekundarschule in
Sachsen-Anhalt, etwa eine halbe Unterrichtsstunde sei-
nes Unterrichts ginge regelmäßig erst einmal drauf für
die Herstellung der Lernbereitschaft seiner Schülerinnen
und Schüler. Er agiere die halbe Zeit seines Unterrichts
als Schulsozialarbeiter.
Nicht dass dieser Kollege seine Arbeit auf das Unter-
richtgeben beschränkt sehen wollte; er ist ein auch sonst
sehr sozial engagierter Kollege. Doch angesichts der
konkreten Situation an seiner Schule und der Situation in
den Elternhäusern seiner Schülerinnen und Schüler sah
er eine erhebliche Gefährdung für die Bildungsarbeit an
seiner Schule. Das war noch vor der ersten PISA-Studie,
die dem deutschen Schulwesen nicht nur große Defizite
in den Lernergebnissen, sondern auch eine übergroße
Abhängigkeit des Bildungserfolges von der sozialen Si-
tuation der Familien bescheinigte.
Seit etwa zwanzig Jahren scheint dagegen ein Kraut
gewachsen zu sein, und immer mehr Schulen und Eltern
wissen es zu schätzen. Es heißt Schulsozialarbeit. In den
60er- und 70er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts im
Zuge der Bildungsreformen in der Bundesrepublik ent-
wickelt, hat sie sich zu einem verlässlichen Anker im
Fluss der dramatisch veränderten gesellschaftlichen
Bedingungen für das Aufwachsen von Kindern und
Jugendlichen entwickelt. Damit werden zwar bei Wei-
tem nicht alle Fehlstellen des deutschen Bildungs-
systems behoben, aber Schulsozialarbeit hat sich als
wirkungsvolles Instrument erwiesen, vielen Schwierig-
keiten von Kindern und Jugendlichen frühzeitig zu be-
gegnen, die sie beim Lernen behindern.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 27703
(A) (C)
(D)(B)
Die Kinder- und Jugendberichte der letzten zehn
Jahre belegen, dass sich die Bedingungen, unter denen
Kinder und Jugendliche in diesem Land aufwachsen, er-
heblich verändert haben. Sie haben seltener Geschwister,
ihre Eltern sind häufiger arbeitslos oder arm trotz Arbeit,
oder sie haben zu wenig Zeit für sie wegen hoher berufli-
cher Belastungen. Schulsozialarbeit kann da wirkungs-
voll sein. Der jüngste, der 14. Kinder- und Jugend-
bericht, widmet der Schulsozialarbeit sogar einen
ganzen umfangreichen Abschnitt. Und nun zitiere ich
aus dem 14. Kinder- und Jugendbericht, der heute vorge-
stellt wurde: „Schulsozialarbeit und Formen schulbezo-
gener Jugendsozialarbeit sind Angebote, die mittlerweile
von den Lehrerkollegien und Schulträgern anerkannt,
geschätzt und als zunehmend notwendig für eine gelin-
gende Schule eingeschätzt werden“ – Bundestagsdruck-
sache 17/12200, Seite 329.
Im Bericht ist zu lesen, dass sich seit 1998 die Zahl
der in der Schulsozialarbeit tätigen Personen vervier-
facht hat. Mehr als 3 000 Fachkräfte sind heute in der
Schulsozialarbeit tätig.
Aber bundesweit gibt es weit über 43 000 Schulen,
Das heißt, nicht einmal in jeder zehnten Schule steht
heute Schulsozialarbeit zur Verfügung.
Wenn aber Schulsozialarbeit zunehmend notwendig
ist für gelingende Schule: Was machen dann die mehr als
90 Prozent der Schulen, denen Schulsozialarbeit als
Leistung nicht zur Verfügung steht? Gelingt ihre Schule
nicht? Oder wer trägt die Last? Und auf wessen Kosten?
Die bislang erreichten Fortschritte können offensicht-
lich nicht im Ansatz zufriedenstellen. Dabei wurde
schon im 12. Kinder- und Jugendbericht, der im Jahre
2002 erschienen ist, festgestellt, dass Schule und Bil-
dung heute komplexer gefasst werden müssen, dass
Schule weit mehr ist als ein Ort des Unterrichtens und
der Wissensvermittlung, dass es vielmehr ebenfalls auf
die Ausprägung sozialer Kompetenzen ankomme und,
vor allem, dass sich die Lebenswelt von Familien und
damit von Kindern und Jugendlichen so verändert hat,
dass Schule im herkömmlichen Verständnis den Aufga-
ben für gute Bildung nicht mehr gewachsen sein kann.
Und genau das hat mir der Kollege aus Sachsen-Anhalt
recht plastisch vor Augen geführt.
Schule von heute muss ein Lernort sein, in dem Lehr-
kräfte, Schulsozialarbeiterinnen und Schulsozialarbei-
ter, aber auch Schulpsychologen und andere Fachkräfte
zusammenwirken, damit aus der Schule im besten Sinne
ein Lernort wird, der die Bedingungen des Aufwachsens
von Kindern und Jugendlichen aufnimmt und gestaltet
und der es ermöglicht, auch für jede und jeden gute
Bildung zu sichern.
Seit 2002 hat sich Schulsozialarbeit zwar weitgehend
profiliert und etabliert, aber für viele Schulen bleibt es
ein Wunsch.
In vielen Fällen setzt Schulsozialarbeit außerdem erst
dann ein, wenn Defizite erkannt werden oder das be-
rühmte Kind schon in den Brunnen gefallen ist. So sehe
ich auch das Bundesprogramm „Zweite Chance“; denn
die erste Chance wurde offensichtlich vertan. Vielleicht
hätte sie aber nicht vertan werden müssen, wenn gute
Schulsozialarbeit die Bildungsarbeit begleitet hätte.
Und es gibt heute keine Schulform und keine Schule
mehr, die von sich behaupten könnte, ihr würde Schul-
sozialarbeit nicht helfen. Es geht auch nicht nur um so-
genannte Brennpunktschulen, es geht nicht nur um
schwierige soziale Ausgangslagen. Auch der Lerndruck
an Gymnasien und die Erwartungshaltungen in mancher
Familie könnten der Begleitung durch Schulsozialarbeit
bedürfen; es wird nur noch nicht überall so gesehen.
Schulsozialarbeiterinnen und Schulsozialarbeiter
können Partnerinnen und Partner für Lehrende wie für
Lernende sein und auch Eltern beratend zur Seite stehen.
Es kommt darum darauf an, Schulsozialarbeit endgültig
aus der Ecke der nachsorgenden Sozialarbeit und aus der
Fürsorgerolle herauszuholen und sie zu einem festen Be-
standteil schulischer Arbeit zu machen. Lehrende könn-
ten sich dann stärker auf ihre Bildungsarbeit konzentrie-
ren und sich in Problemsituationen beraten.
Fachkräfte der Schulsozialarbeit haben in der Bil-
dungseinrichtung Schule ihre eigenständige Funktion.
Sie können oft leichter das Gespräch mit Lernenden su-
chen, schon weil sie eben keine Zensuren vergeben und
nicht übers Sitzenbleiben entscheiden. Sie können eine
Scharnierfunktion zwischen Lehrenden und Lernenden,
zwischen Kindern und Eltern, zwischen Eltern und Lehr-
kräften und zum gesellschaftlichen Umfeld wahrnehmen
und praktische Hilfen anbieten. Durch ihre Tätigkeit an
der Schule kann sich das Schulklima und damit das Ar-
beitsklima in der Bildungsarbeit erheblich verbessern.
Zweite Chancen würden dann in der Regel überflüssig,
und Bildungserfolge würden sich für mehr Kinder und
Jugendliche einstellen.
Doch Schulsozialarbeit ist nach wie vor rechtlich
nicht genügend abgesichert. So wurden durch das Bil-
dungs- und Teilhabepaket zwar zahlreiche Stellen neu
geschaffen, aber sie sind wie fast alle anderen Stellen für
Schulsozialarbeit an befristete Projektmittel gebunden
und nicht auf Dauer angelegt. Schulsozialarbeit ist in nur
wenigen Schulgesetzen der Länder verankert, und die
Bestimmung von schulbezogener Jugendsozialarbeit im
Kinder- und Jugendhilferecht des Bundes ist vorrangig
auf die Behebung vorhandener Defizite ausgerichtet.
In der Antwort auf meine schriftliche Frage zur
Schulsozialarbeit wird sogar die Bedeutung des ein-
schlägigen ESF-Programmes „Schulerfolg sichern“
durch das zuständige Bundesministerium verneint. Stel-
len für Schulsozialarbeit seien aus diesem Programm
nicht zu finanzieren. Bloß gut, dass sich die Länder nicht
daran halten!
In der Stellungnahme der Bundesregierung zum
14. Kinder- und Jugendbericht, der ja ein ganzes Kapitel
der Schulsozialarbeit widmet, kommt das Wort Schul-
sozialarbeit nicht einmal vor. Ich kann hierin nur eine
grobe Unterschätzung dieses Arbeitsbereiches der Kin-
der- und Jugendhilfe erkennen. Das kann für die Zukunft
nicht zufriedenstellen.
Im Dezember des vergangenen Jahres trafen sich in
Hannover Schulsozialarbeiterinnen und Schulsozialar-
27704 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013
(A) (C)
(D)(B)
beiter zu einem Kongress. Ihre Forderungen sind klar:
Schulsozialarbeit gehört an jede Schule. „Ziel muss eine
strukturell abgesicherte Finanzierung von Schulsozial-
arbeit sein, die auf Jugendhilfe- und Schulentwicklungs-
plänen beruht,“ hieß es dort. Verantwortung dafür trügen
die Jugend- und Kultusminister der Länder.
Wir haben die vielfältigen Anregungen aufgegriffen
und schlagen vor, die Schulsozialarbeit oder auch schul-
bezogene Jugendsozialarbeit in einem eigenen Para-
grafen im Kinder- und Jugendhilferecht zu verankern.
Dort sollen die Aufgaben beschrieben und Zuständig-
keiten bestimmt werden. Der Bund könnte dann nach
§ 83 Abs. 1 des Kinder- und Jugendhilfegesetzes die
Einrichtung von Schulsozialarbeit an jeder Schule als
gesamtstaatliche Aufgabe fördern. Eine Aufhebung des
Kooperationsverbotes in der Bildung würde diese Zu-
sammenarbeit erleichtern, aber auch unter den jetzigen
grundgesetzlichen Rahmenbedingungen sind eine Ver-
stetigung und ein Ausbau von Schulsozialarbeit mög-
lich.
Ein letztes Wort zum Personal: Schulsozialarbeit wird
zum übergroßen Teil von Fachkräften mit einem Hoch-
schulabschluss geleistet. Das entspricht auch dem hohen
Anspruch an diese Tätigkeit. Schulsozialarbeit ist nicht
pädagogische Hilfstätigkeit, sondern eine hochprofessio-
nelle, eigenständige pädagogische Arbeit.
Die Bezahlung dieser Fachkräfte erfolgt aber nicht sel-
ten auf einem sehr niedrigen Niveau, weit unter der ohne-
hin nicht üppigen Eingruppierung im Tarif des öffentli-
chen Dienstes. Hinzu kommt, dass die Arbeitsverträge,
weil an Projektmittel gebunden, sehr oft nur befristet sind.
Das ist weder zufriedenstellend noch angemessen.
Der Stellenwert der Schulsozialarbeit muss im Zuge
ihrer rechtlichen Neubestimmung und Ausgestaltung
auch durch ihre tarifliche Eingruppierung gebührend ge-
würdigt werden. Auszahlen wird sich das allemal: für
die Kinder und Jugendlichen und ihre Familien, für die
Lehrenden, für die Profile und die Leistungsfähigkeit
von Schulen, für den Bildungserfolg und den sozialen
Ausgleich und damit am Ende auch in der gesellschaftli-
chen Gesamtrechnung. Auch hier gilt: Investitionen in
die Bildung rechnen sich.
Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Schul-
sozialarbeit leistet einen wichtigen Beitrag zur Gestal-
tung einer Schule, die Kinder und Jugendliche gerade in
schwierigen Lebensphasen individuell fördert. Damit ist
sie elementar für die Umsetzung von mehr Bildungsge-
rechtigkeit. Diverse Studien bestätigen die positiven
Wirkungen der Schulsozialarbeit ebenso wie einen wach-
senden Bedarf nach entsprechenden Maßnahmen. Die
Bundesregierung darf sich deshalb bei diesem Thema
nicht aus der Verantwortung stehlen.
Es ist ein Armutszeugnis für die ausgerufene „Bil-
dungsrepublik“, dass es keine verlässliche Finanzierung
der Schulsozialarbeit in Deutschland gibt. Symptoma-
tisch ist, dass der Bund lediglich Mittel im Rahmen eines
Kuhhandels um das Bildungs- und Teilhabepaket zur
Verfügung stellt. Diese Mittel sind bis März 2013 befris-
tet und laufen somit in den nächsten Wochen aus. Dies
ist eine Zumutung für alle Beteiligten: für die Schulen,
die Kinder und Jugendlichen und nicht zuletzt für die en-
gagierten Beschäftigten.
Wir Grüne haben dieser Vereinbarung im Vermitt-
lungsausschuss und im Bundestag aus guten Gründen
nicht zugestimmt: die überbürokratische Grundkonstruk-
tion des Bildungs- und Teilhabepaketes lehnen wir ab,
und wir wollten statt der Festlegung auf Schulsozialar-
beit individuelle und damit passgenaue Lösungen vor
Ort fördern, die in einer jeweils örtlich sinnvollen Struk-
tur und mit einem nachhaltigen Ansatz begonnen werden
sollten. Dafür haben wir leider keine Mehrheit gefunden.
Die faulen Kompromisse beim Bildungs- und Teilha-
bepaket, die negativen Erfahrungen bei dessen Umset-
zung und die damit verbundene Hängepartie bei der
Schulsozialarbeit machen es erneut überdeutlich: Das bil-
dungsfeindliche Kooperationsverbot im Grundgesetz
muss fallen, damit tragfähige Vereinbarungen zwischen
Bund und Ländern im Bildungsbereich gefunden werden
können. Deswegen werben wir weiterhin für eine Verfas-
sungsänderung, mit der dauerhafte und finanzwirksame
Vereinbarungen zwischen Bund und Ländern im Bil-
dungs- und Wissenschaftsbereich getroffen werden kön-
nen. Dazu könnte dann auch die Schulsozialarbeit zählen,
wenngleich unsere erste Priorität weiter auf dem flächen-
deckenden Ausbau qualitativ guter und gebundener
Ganztagsschulen liegt. Klar ist: Schulen, gerade solche in
„sozialen Brennpunkten“, brauchen mehr Unterstützung,
auch eine gute Schulsozialarbeit. Deren dauerhafte Fi-
nanzierung muss staatlicherseits gewährleistet werden.
Was im vorliegenden Antrag der Linken leider viel zu
kurz kommt, sind klare Aussagen zur Zusammenarbeit
von Schule, Sozialarbeit und Jugendhilfe. Hier besteht
sehr häufig noch ein Nebeneinander, das nicht im Sinne
der betroffenen Schülerinnen und Schüler sowie deren
Eltern ist.
Laut dem aktuellen Kinder- und Jugendbericht wer-
den die Angebote der Schulsozialarbeit und der schulbe-
zogenen Jugendsozialarbeit mittlerweile von den Lehr-
kräften und Schulträgern anerkannt, geschätzt und als
zunehmend notwendig für eine gelingende Schule einge-
schätzt. Allerdings wird ihre Zuordnung im Bericht ge-
rade in den Schnittmengen zwischen Jugendhilfe und
Schule weiterhin als unklar, uneinheitlich und sehr un-
terschiedlich geregelt beschrieben. Wir wollen deshalb
hier mehr Vernetzung und gleichberechtigte Zusammen-
arbeit. Junge Menschen dürfen nicht zwischen Trägern
und Maßnahmen hin- und hergeschoben werden, son-
dern brauchen verlässliche Ansprechpartner und abge-
stimmte „Maßnahmen aus einer Hand“. Kommunale
Bildungsbündnisse leisten bei der Etablierung solcher
Konzepte wertvolle Arbeit und müssen weiter ausgebaut
werden. Beispielsweise gilt es, vernetzte Angebote der
Schulsozialarbeit für Schülerinnen und Schüler, die eine
wachsende Schuldistanz bis hin zu längerfristiger Schul-
verweigerung aufweisen, zu sichern und auszuweiten.
Schulsozialarbeit darf jedoch nicht auf solche Interven-
tionen reduziert werden, sondern muss regelhaft als An-
gebot zur Unterstützung junger Menschen bei der Ent-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 27705
(A) (C)
(D)(B)
wicklung positiver Lebensperspektiven zur Verfügung
stehen.
Stattdessen nimmt die Bundesregierung völlig kontra-
produktive Kürzungen bei den Programmen der „Sozia-
len Stadt“ vor. Wer in Sonntagsreden von niedrigschwel-
ligen Angeboten gerade für sozial benachteiligte Kinder
und Jugendliche, von besserer Quartiersentwicklung und
der Einbindung ins Schulumfeld spricht, der darf nicht
gleichzeitig die notwendige Förderung der Infrastruktur
ausbluten lassen.
Die Schulsozialarbeit darf nicht zwischen den politi-
schen Ebenen zerrieben werden. Es gab in den letzten
Monaten Gespräche zwischen den Kultusministerien der
Länder und der Bundesbildungsministerin, inwieweit
der Bund im Bereich der Schulsozialarbeit aktiv bleiben
kann. Soweit uns bekannt ist, beabsichtigte die ehema-
lige Bundesbildungsministerin Schavan, dieses Anliegen
an die Bundesarbeitsministerin weiterzuleiten. Bei die-
sem wichtigen Thema darf es aber nicht zu einem Ver-
schiebebahnhof ins Nirgendwo kommen. Wie die neue
Bundesbildungsministerin mit diesem Anliegen verfah-
ren wird, ist noch nicht bekannt. Angesichts dieser Lage
ist leider auch die Forderung im vorliegenden Antrag der
Linken unrealistisch, dass bis Januar 2014 an allen Schu-
len verlässliche Angebotsstrukturen realisiert werden.
Ministerin Wanka muss nun schnellstens Klarheit schaf-
fen und Lösungen sowohl mit ihren Länderkolleginnen
und -kollegen als auch im Kabinett voranbringen, damit
die Schulsozialarbeit in Deutschland umgehend verläss-
lich ausgebaut wird und nicht den Bach heruntergeht.
Anlage 6
Zu Protokoll gegebene Rede
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Umsetzung des Seearbeitsübereinkommens
2006 der Internationalen Arbeitsorganisation
(Tagesordnungspunkt 17)
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Wir beraten heute in
zweiter und dritter Lesung abschließend den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung, mit dem die Voraussetzungen
dafür geschaffen werden, dass die Bundesrepublik
Deutschland das ILO-Übereinkommen über Mindestar-
beitsnormen im Seeverkehr ratifizieren kann. Das Seear-
beitsübereinkommen, das bereits 2006 verabschiedet
wurde, legt die grundlegenden Rechte und Prinzipien für
menschenwürdige Arbeits- und Lebensbedingungen an
Bord von Schiffen fest. Vor diesem Hintergrund bin ich
sehr zufrieden damit, dass wir die Umsetzungsgesetzge-
bung – in unserer Regierungsverantwortung – nunmehr
zum Abschluss bringen.
Die Bundesregierung hat mit dem umfangreichen Re-
gelwerk ein wichtiges und gutes Gesetz vorgelegt. Wir
haben intensive Beratungen unter Beteiligung aller be-
troffenen Akteure geführt, haben kritische Detailfragen
aufgegriffen und diese überwiegend einvernehmlich ab-
gestimmt. Nachjustierungen, die aus Sicht der Koali-
tionsfraktionen nötig waren, sind erfolgt. Für entspre-
chende Änderungen hat sich auch der Ausschuss für
Arbeit und Soziales mehrheitlich ausgesprochen.
Die wesentlichen Nachbesserungen betreffen etwa die
Regelung über die Verantwortung des Reeders. Hier gibt
es nunmehr eine Klarstellung, dass der Reeder für die
Einhaltung der Bestimmungen des Seearbeitsgesetzes
auch in Bezug auf diejenigen Besatzungsmitglieder ver-
antwortlich ist, die vertraglich an einen anderen Arbeit-
geber als den Reeder gebunden sind.
Des Weiteren ist das Offshorepersonal – das sind die
auf See zur Errichtung von baulichen Anlagen eingesetz-
ten Mitarbeiter – vom Anwendungsbereich des Gesetzes
ausgenommen.
Um Mehrfachbegehungen auszuschließen, sind die
Kontrollintervalle zur Überprüfung von seearbeits- und
schiffssicherheitsrechtliche Vorschriften sowie betref-
fend die Überprüfung der medizinischen Ausstattung
und der medizinischen Räumlichkeiten geändert und
harmonisiert worden.
Weitere wichtige Änderungen betreffen die Arbeits-
zeitvorschriften. Bei einer engen Abfolge von Häfen ist
künftig eine höhere Wochenarbeitszeit möglich, die
– und das haben mir die Gespräche mit den Experten be-
stätigt – durchaus auch im Interesse der Seeleute liegen,
die so durch geleistete Überstunden ihre Heuer erhöhen
können. Gleichzeitig wird damit den Bedürfnissen der
Reeder nach Flexibilität in Fällen, die einen besonderen
Arbeitseinsatz erfordern, hinreichend Rechnung getra-
gen. Mehr Flexibilität bringt zudem die Tariföffnungs-
klausel, die eine Abweichung bei der Mindestruhezeit
durch Tarifvertrag erlaubt und künftig für alle Schiffe
und nicht nur für Bergungsfahrzeuge und Schlepper gilt.
Alle diese Änderungen haben noch einmal zu einer
Optimierung des Gesetzentwurfs beigetragen, und so
werden wir heute über ein gutes Gesetz abstimmen, mit
dem wir künftig für gleiche Ausgangsbedingungen auf
internationaler Ebene für alle Flaggen und für alle See-
leute sorgen. Dafür möchte ich mich auch einmal aus-
drücklich bei allen an den Verhandlungen Beteiligten für
die gute und zielorientierte Zusammenarbeit bedanken.
Anlage 7
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Förderung und Regulierung einer Honorarbe-
ratung über Finanzinstrumente (Honoraranla-
geberatungsgesetz) (Tagesordnungspunkt 19)
Ralph Brinkhaus (CDU/CSU): Wir bringen heute in
erster Lesung das Gesetz zur Förderung und Regulierung
einer Honorarberatung über Finanzinstrumente – oder
etwas kürzer: das Honoraranlageberatungsgesetz – in
den parlamentarischen Prozess ein.
Die Bundesregierung hat in ihrem Beitrag bereits aus-
führlich den Inhalt des Gesetzentwurfes erläutert. Ich
möchte nur noch einmal ausdrücklich das Ziel und den
Zweck dieses Regulierungsvorhabens unterstreichen.
Mit dem Gesetz wollen wir die rechtlichen Rahmenbe-
dingungen für eine honorarbasierte Anlageberatung
27706 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013
(A) (C)
(D)(B)
schaffen. Wir etablieren damit das Berufsbild Honorar-
anlageberater als gleichwertiges Berufsbild neben der
provisionsbasierten Anlageberatung und knüpfen an ein
gleich hohes Regulierungsniveau an, das wir zuvor auch
für die provisionsbasierte Anlageberatung geschaffen
haben.
Honorarberatung gibt es in Deutschland schon länger.
Bisher hat sie sich – aus verschiedenen Gründen – am
Markt nicht durchsetzen können. Im Vergleich zur provi-
sionsbasierten Anlageberatung ist ihr Marktanteil sehr
gering. Mit der Etablierung des Berufsbildes durch den
vorliegenden Gesetzentwurf gehen wir einen wichtigen
Schritt. Wir schaffen damit die Rahmenbedingungen für
eine Stärkung der Honorarberatung und eine stärkere
Wahrnehmung und Akzeptanz bei Anlegern.
In den letzten Jahren haben wir in der christlich-libe-
ralen Koalition in verschiedenen Regulierungsvorhaben
– ich denke da zum Beispiel an das Anlegerschutz- und
Funktionsverbesserungsgesetz und das Finanzanlagenver-
mittlergesetz – dafür Sorge getragen, dass Anlageberater,
die provisionsbasierte Beratung anbieten, bestimmte
Pflichten einzuhalten haben: Sie müssen Wohlverhal-
tenspflichten einhalten, sie müssen sich registrieren, sie
müssen ihre Sachkunde nachweisen, sie müssen eine Be-
rufshaftpflichtversicherung abschließen usw. Damit ha-
ben wir eine ganze Reihe von Maßnahmen umgesetzt,
die das Qualitätsniveau bei der Anlageberatung – unab-
hängig davon, ob diese durch einen Bankberater oder ei-
nen freien Finanzanlagenvermittler erfolgt – erheblich
erhöht haben.
Das Gleiche muss nun natürlich auch für Honorarbe-
rater gelten, um hier ein entsprechendes, qualitativ hohes
Niveau zu schaffen und den Verbraucherschutz zu stär-
ken. Die Qualität der Beratung muss sichergestellt wer-
den, unabhängig davon, ob sie von einem Honorarbera-
ter oder einem Provisionsberater durchgeführt wird.
Daher müssen wir die gleichen Anforderungen an die
Sachkunde, Aufsicht, Haftpflicht etc. stellen wie bei al-
len anderen Anlageberatern auch. Und genau das haben
wir mit unserem Gesetzentwurf vorgelegt.
Ziel und Zweck unseres Gesetzentwurfs ist ausdrück-
lich nicht, einer Form der Anlageberatung den Vorzug
vor der anderen zu geben. Ich persönlich halte überhaupt
nichts davon, den Anlegern vorzuschreiben, welchen
Weg der Anlageberatung sie wählen sollen. Ich bin nach-
haltig davon überzeugt, dass es falsch ist, die provisions-
basierte Beratung zu verteufeln und die Honoraranlage-
beratung per se als Allheilmittel gegen Falschberatung
anzupreisen. Beide Anlageberatungsformen haben ihre
Vor- und Nachteile und bergen ihre entsprechenden Risi-
ken und Chancen. Jeder Anleger muss letztendlich für
sich entscheiden können, welche Form der Anlagebera-
tung er bzw. sie für die geeignetste hält, seinen bzw. ih-
ren Bedürfnissen gerecht zu werden. Es liegt jedoch an
uns, die Grundlagen so zu legen, dass beide Berufsbilder
gleichberechtigt und wertungsfrei nebeneinander eta-
bliert sind und der Weg dafür geebnet ist, dass jeder An-
leger diese Entscheidung vollkommen unabhängig und
eigenständig für sich treffen kann.
Das Produkt bzw. die Form der Anlageberatung muss
sich dann selbstverständlich alleine am Markt durchset-
zen. Hier bin ich ein großer Befürworter von „Angebot
und Nachfrage“. Voraussetzung dafür ist, dass die Ange-
botsbedingungen vergleichbar sind. Und dafür schaffen
wir jetzt bessere Voraussetzungen, als es sie bisher für
Anbieter von Honorarberatung gab. Das ist allemal fai-
rer und besser, als die Honorarberatung durch „Anreiz-
programme“ gegenüber anderen Beratungsformen zu
privilegieren. Es liegt nun auch an den Honorarberatern
selbst, ihre – dann hoffentlich qualitativ hochwertige –
Dienstleistung entsprechend am Markt zu positionieren.
Nun mag man sich fragen, warum wir hier national
mit einer Regelung voranschreiten, die in vergleichba-
rer Weise mit der Neufassung zur MiFID-Richtlinie,
MiFID 2, auf europäischer Ebene geplant ist. Natürlich
hätten wir hier auch warten können, bis MiFID 2 in
Kraft tritt. Leider ist aber hier nicht einmal absehbar, wie
lange die Verhandlungen auf europäischer Ebene noch
andauern werden; und so lange wollten wir dann doch
nicht warten. Die Erfahrungen mit den immer noch nicht
erfolgten Umsetzungen von Basel III und Solvency II
haben uns da sehr vorsichtig gemacht.
Wir haben aber versucht, mit unserem Vorschlag die
voraussichtlichen MiFID-2-Lösungen weitgehend zu an-
tizipieren. Trotzdem werden nach Abschluss der MiFID-2-
Verhandlungen Anpassungen notwendig sein. Schon
deshalb kann dieses Gesetz auch nur ein erster Schritt
sein.
Langfristig besteht durchaus noch Potenzial zur Wei-
terentwicklung der Honorarberatung: So wäre es wün-
schenswert, ein Regelungswerk für eine einheitlich
regulierte und überwachte Allfinanzhonorarberatung in-
klusive der Honorarberatung im Versicherungsbereich
auf den Weg zu bringen. Auf dem Weg dahin sind aber
noch viele Fragen zu klären. So müssen wir uns dann
auch mit dem äußerst heiklen Komplex des Provisions-
abgabeverbotes im Versicherungsbereich beschäftigen.
Wir müssen darüber hinaus beispielsweise die Regelung
der steuerlichen Behandlung der Honorarberatung im
Vergleich zur Provisionsberatung im Auge behalten. Das
wird aber alles seine Zeit brauchen.
Es bleibt also auch nach diesem Gesetz noch einiges
zu tun. Wir sind aber davon überzeugt, dass wir mit dem
jetzigen Entwurf eine gute erste Grundlage geschaffen
haben, die die Honorarberatung auch kurzfristig als Al-
ternative zur provisionsbasierten Beratung weiter eta-
blieren wird.
Wir freuen uns auf die weiteren Beratungen des Ge-
setzentwurfs und auf Ihre konstruktive Mitarbeit.
Dr. Carsten Sieling (SPD): Am Dienstag dieser Wo-
che hat sich in Deutschland ein ausgewachsener Justiz-
krimi abgespielt. 1 200 Polizisten und Staatsanwälte
durchsuchten die noble Firmenadresse der S&K Immo-
bilienholding in Frankfurt. Der ungeheuerliche Ver-
dacht: Mittels eines Schneeballsystems wurden Hun-
derte Anlegerinnen und Anleger um ihr Geld betrogen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 27707
(A) (C)
(D)(B)
Möglicher Schaden: 100 Millionen Euro. Der Fall wird
die Gerichte wohl noch lang beschäftigten.
Wieder einmal stehen Teile der Finanzbranche mit ih-
ren windigen Produkten und undurchsichtigen Vertriebs-
wegen am Pranger und im Fokus der Öffentlichkeit.
Wieder einmal fragt man sich: Wie kann so etwas im
Jahr fünf nach der Lehman-Pleite mitten in Deutschland
noch möglich sein?
S&K heute, Lehman, Phoenix, Kauphting gestern –
die Liste ließe sich fortsetzen. Wann endlich können wir
verhindern, dass Kleinanlegerinnen und Kleinanleger
auf Betrüger hereinfallen oder falsch bzw. unpassend be-
raten werden? Wann endlich werden schlicht Finanzpro-
dukte verkauft, die ihrer persönlichen und finanziellen
Lage entsprechen?
Viele Konzepte liegen dazu auf dem Tisch. Die SPD-
Bundestagsfraktion hat in den letzten Jahren dazu eine
Reihe von Vorschlägen gemacht. Wir haben uns kon-
struktiv an den Debatten beteiligt und Alternativen auf-
gezeigt. Ich will nur ein paar Stichworte nennen: Schaf-
fung von Marktwächtern, eine einheitliche Aufsicht bei
der BaFin, standardisierte Produktinformationsblätter
und die Etablierung der Honorarberatung, über die wir
heute sprechen. Passiert ist bisher allerdings wenig.
Heute ist Finanzvermittlung in Deutschland noch häu-
fig provisionsgetrieben. Den 250 000 Vermittlern, die auf
Provisionsbasis tätig sind, stehen nur wenige Hundert
Honorarberater gegenüber. Von Gleichberechtigung kann
da keine Rede sein. Der Markt setzt hierzu auch den An-
reiz, da er die Beratungsleistung nicht in den Mittelpunkt
stellt, sondern das Entgelt des Vermittlers an den Ab-
schluss des Geschäfts bindet. Provisionsberatung ist zu-
dem wenig transparent und kann zu Interessenkonflikten
zwischen den Wünschen der Anlegerinnen und Anleger
einerseits und dem Verkaufsdruck der Vermittler anderer-
seits führen.
Viele Anlegerinnen und Anleger glauben überdies,
die Provisionsvermittlung sei kostenlos. Dabei sind ihre
versteckten Kosten teils enorm: Schnell sind die Ver-
triebskosten einer privaten Rentenversicherung bei
1 400 bis 2 500 Euro. Doch welcher Anleger weiß das,
wenn er seine Unterschrift auf den Vertrag setzt?
Die Bundesregierung legt nun mit dem Entwurf eines
Honoraranlageberatungsgesetzes ihr Konzept für dieses
überaus wichtige Thema vor. Ich habe selten ein so am-
bitionsloses Vorhaben der Regierung in Sachen Finanz-
marktregulierung wie diesen Vorschlag gesehen. Selbst
hinter den dürftigen Eckpunkten zur Honorarberatung
von Verbraucherschutzministerin Aigner, die sie schon
vor fast zwei Jahren vorgestellt hat, bleibt dieser Gesetz-
entwurf weit zurück. Das auffällige Schweigen von Frau
Aigner zu diesem Vorstoß aus dem Hause Schäuble ist
da übrigens vielsagend genug.
Ich prophezeie Ihnen: Mit diesem Gesetzentwurf wird
die Honorarberatung in Deutschland weiter ein Nischen-
dasein fristen müssen. Sie hätte alles Zeug zum Trend-
setter; nun bleibt sie eine Subkultur im Finanzvertrieb.
Das will ich an drei Punkten deutlich machen:
Erstens. Die Bundesregierung schafft ein untaugli-
ches und verzerrendes Berufsbild für die Honorarbera-
tung. Dabei ist die Etablierung eines Berufsbildes der
Dreh- und Angelpunkt einer tauglichen Regulierung.
Oberste Prämisse muss die Transparenz sein. Für die
SPD gilt: Wer Provisionen erhält, vermittelt, wer auf Ho-
norarbasis tätig ist, der berät. Das muss sich auch in den
Bezeichnungen niederschlagen.
Und die Realität im Gesetzentwurf? Bei dem Pro-
duktvertrieb in Banken ist es künftig nur solchen Perso-
nen erlaubt, die Bezeichnung „Honoraranlageberater“ zu
führen, die ausschließlich auf Honorarbasis tätig sind.
Das klingt auf den ersten Blick überzeugend. Nur: Der
Begriff „Beratung“ selbst wird gerade nicht geschützt.
Stattdessen darf sich weiter auch der auf Provisionsbasis
Tätige „Berater“ nennen. Das führt die Anlegerinnen
und Anleger bewusst in die Irre; denn bei der Vermitt-
lung ist die Beratung nur eine Nebenpflicht. Es herr-
schen zudem ganz andere Anforderungen an die Bera-
tung.
Noch schlimmer sieht es aber aus, würden die Pläne
der Bundesregierung für die freien Finanzanlagenver-
mittler Realität, also für Personen, die außerhalb von
Banken Finanzprodukte vermitteln. Hier ist es nicht ein-
mal verboten, gleichzeitig auf Honorarbasis und Provi-
sionsbasis tätig zu sein. In der Praxis wird die betreffende
Person damit im Zweifel über zwei gewerberechtliche Er-
laubnisse verfügen: einmal als „Finanzanlagenvermitt-
ler“, mit der Provisionsempfang möglich ist, zusätzlich
demnächst auch als „Honorar-Finanzanlagenberater“.
Von Kunde zu Kunde könnte so das Firmenschild
oder, zugespitzt, seine Visitenkarte ganz legal gewech-
selt werden. Diese sogenannten Mischmodelle treiben
die Intransparenz auf die Spitze. Wie soll ein Anleger
noch wissen, ob sein Gegenüber ausschließlich im Inte-
resse der Kunden handelt? Es ist völlig unverständlich,
warum die Bundesregierung diese begriffliche Konfu-
sion ermöglichen will.
Die Pläne der Bundesregierung entsprechen damit üb-
rigens auch wenig der europäischen Finanzmarktrichtli-
nie MiFID, die derzeit in Brüssel diskutiert wird. Eine
Anlageberatung ist hiernach unabhängig, wenn eine aus-
reichende Anzahl von auf dem Markt angebotenen Fi-
nanzprodukten bewertet wurde und für die Erbringung
der Dienstleistung an die Kunden keinerlei Gebühren,
Provisionen oder andere monetäre Vorteile einer dritten
Partei oder einer Person, die im Namen eines Dritten
handelt, vereinnahmt werden.
Dieser Grundsatz sollte auch für die nationale Rege-
lung der Honorarberatung Geltung erreichen. Hiernach
darf ein Honorarberater nicht auch als provisionsvergüte-
ter Vermittler/Makler auftreten. Diesem Anspruch wird
der vorliegende Gesetzentwurf nicht gerecht.
Nicht, dass Missverständnisse auftreten: Ein Honorar-
berater muss Produkte, zu denen er beraten hat, auch
verkaufen dürfen – dann selbstverständlich ohne Provi-
sionen. Es wäre auch unsinnig, wenn der Berater am
Ende des Beratungsgespräches dem Kunden sagen
27708 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013
(A) (C)
(D)(B)
müsste, er solle doch jetzt zum Vermittler gehen, bei
dem er im Übrigen noch Provisionen zahlt.
Die Vorschläge der Bundesregierung zum Berufsbild
Honorarberatung sind strikt abzulehnen. Auch der Bun-
desrat fordert in diesem Zusammenhang übrigens deutli-
che Verbesserungen.
Zweitens. Die Bundesregierung will mit diesem Ge-
setzentwurf die Provisionsdurchleitung erlauben. Damit
müssten Honoraranlageberater künftig das Geld, das sie
von Anbietern erhalten, an die Kunden weiterleiten. Auch
das ist der falsche Weg. Seien wir doch einmal ehrlich:
Welcher Anleger wird dann bei seiner Anlageentschei-
dung nicht auch mit einem Seitenblick darauf schauen,
welcher Kauf die höchste Durchleitung bringt? Das sind
Fehlanreize, die sich vermeiden lassen, wenn man klar
trennt: Honorarberater dürfen keine Provisionen anneh-
men, weiterleiten oder durchreichen. Hier muss im Ge-
setzentwurf nachgearbeitet werden.
Die andere Seite der Medaille ist dann übrigens, dass
die Anbieter verpflichtet werden, provisionsfreie Pro-
dukte anzubieten. Solche sogenannten Nettotarife sind
möglich und hat die SPD schon länger gefordert.
Drittens. Der Gesetzentwurf ist nicht nur ein Rumpf
an sich, er gilt auch nur für einen Bruchteil von Finanz-
beratungen. Der Verkauf von Bausparverträgen, Kredi-
ten und Sparprodukten wird von dem vorliegenden Ent-
wurf erst gar nicht erfasst. Dabei muss Honorarberatung
alle Finanzprodukte umfassen. Wie soll der Berater die
Bedürfnisse, Probleme und Anliegen der Kunden umfas-
send bewerten und Lösungen entwickeln, wenn er nur
auf einen kleinen Teil der Produktgruppen beschränkt
ist? Wie kann ein Beratungsgespräch zum Beispiel zur
Altersvorsorge ohne die Einbeziehung von Bausparver-
trägen anleger- und anlagegerecht sein? Die Antwort
bleibt der Entwurf schuldig. Hier muss dringend nachge-
bessert werden.
Klar ist, dass es nicht reichen wird, nur auf die Hono-
rarberatung zu hoffen. Auch in der Säule der Provisions-
beratung selbst muss sich etwas tun. Vor allem braucht
es umfassende Transparenz über fließende Provisionen
und versteckte Kosten.
Schon diese kurze Aufzählung zeigt, dass dieser Ge-
setzentwurf ein untauglicher Versuch der Bundesregie-
rung ist, den provisionsgetriebenen Markt im Interesse
der Verbraucherinnen und Verbraucher zu verändern.
Einmal mehr bleiben sie so auf der Strecke.
Björn Sänger (FDP): Honorarberatung gilt vielen
als Königsweg zur Vermeidung von Falschberatung.
Provisionszahlungen und Vertriebsdruck werden als Ur-
sachen für mangelhafte Anlegerberatung durch Banken
ausgemacht. Statt des Verkäufers soll der Honorarberater
unabhängige Beratung zum Wohle des Verbrauchers ge-
währleisten. Diese Schwarz-Weiß-Malerei finde ich im
Namen meiner Fraktion gefährlich.
Aber zunächst die Frage: Worum geht es uns eigent-
lich? Die Europäische Kommission hat inzwischen in
ihrem Vorschlag zur Neufassung der EU-Finanzmarkt-
richtlinie MifID ein Verbot der Provisionszahlungen ins
Spiel gebracht. Die Niederlande und Großbritannien
haben diesen Weg bereits beschritten, und auch die
christlich-liberale Koalition sieht Honorarberatung als
eine sinnvolle Ergänzung.
Für die christlich-liberale Koalition steht fest: Wir
wollen den Anleger besser schützen. Deshalb haben wir
auch bereits wichtige Schritte unternommen. Mit dem
Gesetz zur Stärkung des Anlegerschutzes und zur Ver-
besserung der Funktionsfähigkeit des Kapitalmarkts,
Anlegerschutzgesetz, haben wir Beratungsprotokolle
und Produktinformationsblätter zur Pflicht gemacht und
die Sanktionsregelungen bei Falschberatungen ver-
schärft, und dies nicht nur für Banken, sondern auch für
den Bereich freier Vermittler und des grauen Kapital-
marktes. Wir haben das Verbot ungedeckter Leer-
verkäufe umgesetzt und damit hochspekulative Anlage-
formen vom Markt genommen.
Nun sehen wir auch Handlungsbedarf für mehr Trans-
parenz und mehr Anlegerschutz bei Fragen der Beratung
und Vermittlung. Wir wollen somit das eingeschlichene
Vertriebsproblem anpacken und die Berater wieder
vertrauenswürdiger machen. Verbraucher sollten die
Möglichkeit haben, zwischen verschiedenen Beratungs-
formen eine für die eigenen Zwecke am besten geeignete
wählen zu können: Wollen sie lieber einen kostenfreien
Verkäufer aufsuchen oder einen unabhängigen Honorar-
berater kontaktieren?
Die FDP-Fraktion sieht den Verbraucher am besten
geschützt, wenn ihm das Bezahlmodell transparent ist
und er wählen kann, ob er provisions- oder honorar-
basiert beraten werden möchte. Das Konzept einer pro-
visionsunabhängigen Beratung sollte daher dort gesetz-
lich verankert werden, wo dies heute noch nicht der Fall
ist und Produkte ohne Ausgabeaufschlag oder Provision
angeboten werden. Wir legen ausdrücklich darauf Wert,
dass die Honorarberatung keinesfalls verpflichtend aus-
gestaltet sein wird.
Ziel soll es sein, für Verbraucherinnen und Verbrau-
cher einen gesetzlichen Rahmen für ein erweitertes
Angebot an Beratungsmöglichkeiten über Finanzinstru-
mente im Sinne des Wertpapierhandelsgesetzes in der
Fassung des Gesetzes zur Novellierung des Finanzanla-
gevermittler- und Vermögensanlagenrechts zu schaffen.
Hierfür sollen im Vorgriff auf die MiFID-Richtlinie
rechtliche Rahmenbedingungen für eine honorarbasierte
Anlageberatung geschaffen werden, die den Verbrauche-
rinnen und Verbrauchern als alternatives Angebot zur
provisionsbasierten Anlageberatung und Vermittlung zur
Verfügung stehen soll.
Honorarbasierte Anlageberatung soll demnach nur
derjenige durchführen dürfen, der bei der Anlagebe-
ratung einen ausreichenden Marktüberblick zugrunde
legen kann und sich die Erbringung der Beratungsleis-
tung allein durch Zuwendungen des Kunden entgelten
lässt. Vielmehr soll es eine Option von provisionsunab-
hängiger Honorarberatung geben, die schrittweise sämt-
liche Finanzprodukte einbeziehen soll. Dabei können auf
lange Sicht die drei Bereiche Finanzanlagevermittlung,
Darlehensberatung und Versicherungsberatung mit ihren
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 27709
(A) (C)
(D)(B)
jeweils unterschiedlichen Regelungskreisen berücksich-
tigt werden.
Mit einer schrittweisen Einführung der Honorarbera-
tung zunächst im Bereich der Finanzanlageberatung
sehen wir daher einen sinnvollen Ansatz zu noch mehr
Aufklärung und Wahlfreiheit der Verbraucher. Im Versi-
cherungsbereich haben wir mit dem Versicherungsbera-
ter bereits heute die Option der Honorarberatung. Inwie-
weit die Palette von provisionsfreien Angeboten noch
erweitert werden kann, wird sich zeigen. Hier ist die
Versicherungsvermittler-Richtlinie abzuwarten, die sich
dieses Themas annimmt.
Das Qualifikationsniveau soll sich an den schon gel-
tenden Regeln für Finanzvermittler- und Bankberater
orientieren. Die Zulassung zum Versicherungsberater ist
dabei Vorbild, wenn die Zulassung eines provisions-
unabhängigen Finanzanlageberaters nach der GewO ge-
regelt werden wird. Die Qualifikationsanforderungen
entsprechen denen der Finanzanlagevermittlerverord-
nung. Parallel dazu ist die Option der provisionsunab-
hängigen Beratung im Wertpapierhandelsgesetz zu
verankern. So soll neben der ausschließlichen Vergütung
durch den Kunden auch eine Vermittlung des empfohle-
nen Produktes möglich sein. Erhält der Berater für die
Vermittlung Provisionen, so wären diese an den Anleger
auszukehren. Ebenso wird die Vergütung des Beraters
nicht anhand einer Gebührenordnung oder von etwas
Ähnlichem gemessen.
Jedoch können wir als FDP-Fraktion auch nur im
Rahmen des rechtlich Möglichen agieren und vorberei-
ten. So hätte eine Durchleitung der Provision durch den
Versicherungsberater rechtliche Folgen, die so nicht ge-
wünscht werden können. Die Versicherungssteuer auf
die Prämie würde sich insofern verringern. Zudem muss
durchaus erst die Gestaltung der Versicherungsvermitt-
ler-Richtlinie abgewartet werden. Insofern haben wir
bezüglich der MiFID auch allein den Vorgriff auf einen
unabhängigen Berater bezüglich bankbezogener Instru-
mente sowie bezüglich Wertpapiergeschäfte gewagt.
Alles in allem kann Honorarberatung zwar den Wett-
bewerb zwischen den Beratern und den Beratungsfor-
men beleben und damit auch von Vorteil für die Anleger
sein. Zum effizienten Verbraucherschutz braucht es aber
einen sinnvollen Rechtsrahmen ebenso wie die Einsicht,
dass auch ein Honorarberater kein Allwissender ist.
Harald Koch (DIE LINKE): Viele viele Monate nach
seiner Ankündigung liegt nun endlich der lang ersehnte
Gesetzentwurf zur Honorarberatung vor. Doch das War-
ten hat sich leider nicht gelohnt. Der Entwurf ist Stück-
werk, handwerklich teilweise unsauber gemacht, und er
geht insgesamt an den Bedürfnissen der Verbraucherinnen
und Verbraucher vorbei.
Ende Dezember 2012 zeigte das Gutachten eines
Bamberger Finanzwissenschaftlers, dass deutschen Ver-
brauchern jährlich ein Verlust von mindestens 50 Mil-
liarden Euro durch Falschberatung von Banken und Fi-
nanzdienstleistern entsteht. Das ist ein Skandal. Schuld
daran ist die immer noch dominierende provisionsgetrie-
bene Beratung und Vermittlung. Die Linke will dagegen
unabhängige Beratung, also auch Honorarberatung,
wirklich stärken.
Der vorliegende Gesetzentwurf tut dies entgegen sei-
nes Titels nicht, was ich an drei zentralen Punkten ver-
deutlichen möchte.
Erstens wird kein klar geregeltes, umfassendes Be-
rufsbild des Honorar- oder Finanzberaters geschaffen.
Man unterscheidet zwischen Anlageberatern, Honorar-
anlageberatern nach dem Wertpapierhandelsgesetz und
gewerblichen Honorar-Finanzanlagenberatern. Die bei-
den letztgenannten Berufsbilder werden mit dem Gesetz-
entwurf neu geschaffen. Eine Einstufung erfolgt dort
nach den Produkten, zu denen beraten werden darf. Dies
kann aber kein Verbraucher nachvollziehen und schafft
noch mehr Intransparenz. Verbraucher müssen vorab er-
kennen können, welche Art von Geschäftsbeziehung sie
eingehen. Ich fordere verpflichtende Bezeichnungen nach
dem Grundsatz: Jeder, der Provisionen erhält, ist ein
Vermittler, also Verkäufer, jeder, der unabhängig auf Ho-
norarbasis tätig ist, ist ein Berater. Letztere dürfen aus-
schließlich die Bezeichnung „Beraterin“ oder „Berater“
führen. Vermittler müssen hingegen „Provision“ in ihrer
Tätigkeitsbezeichnung erwähnen. Für mehr Klarheit
hätte auch gesorgt, die gesamte Honorarberatung in ei-
nem eigenständigen Gesetz zu regeln.
Zweitens wird kein ganzheitlicher Beratungsansatz
gestärkt. Honoraranlageberater und Honorar-Finanzan-
lagenberater dürfen nicht zu den gleichen Finanzinstru-
menten beraten. Insgesamt dürfen beide nur auf einen
eingeschränkten Kreis von Finanzinstrumenten zurück-
greifen. Versicherungspolicen, Festgeld und Bausparver-
träge bleiben zum Beispiel außen vor. Dies ist aus Sicht
der Linken der falsche Weg.
Ein Honorarberater muss aus dem gesamten Spektrum
von Finanzinstrumenten optimale individuelle Lösungen
für seine Kunden bereitstellen können. Eine Einschrän-
kung der freien Auswahl macht das Alleinstellungsmerk-
mal gegenüber der Vermittlung zunichte. Finanzberatung
muss von den Bedürfnissen der Verbraucher ausgehen,
nicht von Finanzinstrumenten. Ich fordere deshalb, per-
spektivisch eine gemeinsame Zulassung aller Honorar-
berater zu allen Finanzinstrumenten zu schaffen.
Drittens wird eine Aufsichtsarbitrage verfestigt. Es stellt
sich das gleiche Problem wie schon beim Finanzanla-
genvermittler- und Vermögensanlagengesetz aus dieser
Wahlperiode. Honorar-Finanzanlagenberater sollen durch
die Gewerbeämter beaufsichtigt werden. Wohingegen
die BaFin Honoraranlageberater beaufsichtigt. Gewerbe-
ämter sind mit Aufsicht und Kontrolle jedoch überfordert.
Die Industrie- und Handelskammer als Zulassungsstelle
steckt zudem als Vertreterin von Gewerbetreibenden in
einem Interessenskonflikt. Eine Kontrolle von Frittenbu-
den, Nichtraucherschutz und Finanzinstrumenten ist
nicht sinnvoll unter einen Hut zu bringen. Schluss mit
dem Flickenteppich! Ich fordere eine kompetente, län-
derübergreifend einheitliche Aufsicht durch die BaFin.
Bei Umsetzung einer einheitlichen BaFin-Aufsicht müs-
sen wir jedoch aufpassen, dass unter anderem aufgrund
der hohen Kosten für eine Erlaubnis nach dem Kreditwe-
27710 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013
(A) (C)
(D)(B)
sengesetz kleine und mittelständische Berater nicht vom
Markt gedrängt werden.
Es liegt noch einiges mehr im Argen bei diesem Ge-
setzentwurf:
So können beispielsweise Banken weiterhin Provisions-
und Honorarberatung unter einem Dach anbieten. Wo es
Honorarberatung gibt, sollte es aber keine Vermittlung
auf Provisionsbasis geben. Eine organisatorische und
funktionale Trennung in ein und demselben Unterneh-
men ist kaum möglich. Diese Chinese Walls werden
nicht halten. Die Interessenskonflikte wären schlicht zu
gravierend.
Es ist für mich des Weiteren ganz wichtig, auszu-
schließen, dass Honorarberater gleichzeitig als Vermitt-
ler tätig werden können, egal über welche Ecken und
Tricks auch immer.
Ferner ist es laut Gesetzentwurf nicht einmal verbo-
ten, dass ein Honorarberater ein konzerneigenes Finanz-
instrument empfiehlt, an dem er letztlich über Provisio-
nen mitverdienen kann. Offenlegungspflichten reichen
hier bei weitem nicht aus. Wenn Honorarberater für ein
empfehlenswertes, aber nicht provisionsfrei erhältliches
Finanzinstrument Zuwendungen erhalten, sollen sie
diese „unverzüglich und ungemindert“ auskehren. Dies
ist doch für Verbraucher überhaupt nicht kontrollierbar.
Die Stellungnahme des Bundesrates zielt in die rich-
tige Richtung, wenn dort unter anderem gefordert wird,
das Aufstellen von Vertriebsvorgaben für die Honorar-
anlagenberatung generell zu untersagen. Ich unterstütze
ebenfalls die Forderung, für alle Finanzinstrumente ver-
pflichtend Nettotarife auszuweisen, um eine objektivere
Vergleichbarkeit sicherzustellen.
Wie man es auch dreht und wendet, zeigt sich in dem
Gesetzentwurf einmal wieder das grundlegende Pro-
blem: Solange es erlaubt ist, Finanzinstrumente gegen
Provision zu verkaufen, ist die Gefahr der Falschbera-
tung immens hoch. Denn Provisionen schaffen Anreize,
den Verbrauchern teure und oftmals riskante, dafür un-
passende Produkte aufzudrängen. Provisionen sind für
Berater und Vermittler das, was die Sirenengesänge für
Seefahrer in der griechischen Mythologie waren. So
kann Beratung aber nie vollends unabhängig sein.
Würde provisionsgetriebene Vermittlung nicht mehr be-
stehen, hätten sich etliche Probleme, die diesem Gesetz-
entwurf zu eigen sind, bereits erledigt.
Deshalb fordern wir die Überwindung provisionsge-
triebener Finanzdienstleistungen. Gute Beratung, nicht
das Entgelt, muss ins Blickfeld rücken, eine Beratung,
die sich am Bedarf, der individuellen Situation und der
Lebenswirklichkeit der Anleger orientiert, eine wirklich
unabhängige Beratung, die auch keine Frage des Geld-
beutels sein darf. Dafür müssen die Verbraucherzentra-
len und die Honorarberatung nachhaltig gestärkt werden.
Gerade Verbraucherzentralen müssen personell und fi-
nanziell besser in die Lage versetzt werden, ihr Angebot
besonders für einkommensschwache Haushalte aus-
bauen zu können. Ergänzend zur staatlichen Regulierung
muss man die Verbraucherzentralen auch als Finanz-
marktwächter etablieren. Begleitend brauchen wir eine
Verbraucherschutzbehörde, die einen Finanz-TÜV ent-
wickelt, mit dem Finanzmarktakteure und -instrumente
vor ihrer Zulassung auf volkswirtschaftliches Risiko-
potenzial und Verbraucherfreundlichkeit geprüft werden.
Die Bundesregierung geht ihrer Klientel der provi-
sionsgetriebenen Vermittler nicht an den Pelz. Dank ihres
Placeboentwurfs wird die Honorarberatung weiterhin ein
Mauerblümchendasein fristen. Ihre Politik ist verhee-
rend, weil sie wirklich unabhängige Beratung nicht nach
vorne bringen will und damit den Verbrauchern weiter-
hin enormen finanziellen Schaden zufügt.
Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es ist
kein Wunder, dass die Koalition diese Debatte ganz hin-
ten auf der Tagesordnung versteckt: Der vorliegende
Gesetzentwurf ist nämlich nichts anderes als ein Hono-
rarberatungsverhinderungsgesetz. Er ist so konstruiert,
dass er den Verdacht nährt, dass damit die Honorarbera-
tung als Alternative für ratsuchende Kunden disqualifi-
ziert und für erfolgreiche Anbieter, die ein Interesse
daran haben, zur Honorarberatung zu wechseln, unat-
traktiv gemacht werden soll.
Welcher Makler oder welche Bank sollte auf Grund-
lage dieses Entwurfs in die Honorarberatung einsteigen?
Es fehlen vernünftige Übergangsfristen, die erfolgrei-
chen Unternehmerinnen und Unternehmern einen realis-
tischen Umstieg von der provisions- auf die honorarfi-
nanzierte Beratung möglich machen. Was soll denn eine
erfolgreiche Maklerin oder Ausschließlichkeitsvertrete-
rin bzw. Mehrfachagentin, welche einen Großteil ihres
Einkommens aus Bestandspflegeprovisionen generiert,
machen? Es kann doch nicht unser Ziel sein, nur Frisch-
linge im Markt für Honorarberatung zu haben.
Es fehlt eine Gleichstellung von Honoraren und
Provisionen bezüglich der Abgeltungsteuer. Gezahlte
Provisionen mindern die zu zahlende Abgeltungsteuer,
Honorare nicht.
Es fehlt die Pflicht, Nettotarife für alle Finanz-
produkte inklusive Versicherungspolicen anzubieten,
damit echte Vergleichbarkeit entsteht und damit der
Honorarberater auch aus einem großen Angebot von
Finanzprodukten für seine Kunden auswählen kann.
Es fehlt eine Best-Advice-Regelung, mit der Sie den
Widerspruch im Gesetz auflösen, dass Berater konzern-
eigene Produkte empfehlen dürfen.
Und – wahrscheinlich der gröbste Webfehler in Ihrem
Entwurf –: Der Honoraranlageberater darf nur zu Pro-
dukten nach WpHG beraten und ist damit eine absolute
Fehlkonstruktion, die für die breite Masse der Menschen
in diesem Land nicht die richtige Anlaufstelle für ihre
Fragen zu Finanzthemen ist.
Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Eine Berufsanfängerin
mit kleinem Einkommen: Was braucht die neben einem
Girokonto und einem Tagesgeldkonto an Finanzproduk-
ten? Eine Privathaftpflicht, eine Berufsunfähigkeitsver-
sicherung, eine Riester-Rente. Darf der fiktive Berater
aus ihrem Gesetzentwurf sie zu all diesen Produkten be-
raten? Nein, er darf es nicht – und das ist das Problem!
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 27711
(A) (C)
(D)(B)
Zu allem Überfluss haben die in § 31 WpHG einge-
fügten Vorschriften der Absätze 4 b Nr. 3 Satz 2 und 4 c
Satz 2, die zwischen Referentenentwurf und Gesetzent-
wurf eingefügt wurden, weitere unnötige Hürden aufge-
baut, die die Honorarberatung für viele Anbieter unat-
traktiv macht.
Meine Damen und Herren, man weiß nicht, was
schlimmer wäre: wenn Sie selbst auf diesen Murks ge-
kommen wären oder wenn Ihnen einer der vielen Hun-
dert Lobbyisten die Feder geführt hätte. Wenn es Ihnen
wirklich um die Förderung der Honorarberatung für die
breite Masse an Menschen und um echten Wettbewerb
zwischen Provisions- und Honorarberatung geht: Nutzen
Sie die Chance in den parlamentarischen Beratungen
und machen Sie einen Vorschlag, der sich nicht verste-
cken muss, sondern der Honorarberatung eine faire
Chance gibt!
Hartmut Koschyk, Parl. Staatssekretär beim Bun-
desminister der Finanzen: Wir alle wissen, in welchem
Ausmaß die Finanz- und Wirtschaftskrise Privatanleger
und Sparer unmittelbar getroffen hat. Sie mussten wäh-
rend der Finanzkrise schmerzhafte Vermögensverluste
hinnehmen. Grund hierfür war nicht zuletzt auch eine
ungenügende oder falsche Beratung, oft zu Anlagefor-
men, die den Bedürfnissen und Zielen der Privatanleger
nicht entsprochen haben. Das Vertrauen gegenüber der
Finanzbranche wurde erschüttert.
Mit dem vorliegenden Honoraranlageberatungsgesetz
unternehmen wir einen weiteren Schritt, um dieses verlo-
rene Vertrauen wiederherzustellen. Wir wollen rechtliche
Rahmenbedingungen für eine honorarbasierte Anlagebe-
ratung schaffen, damit der Kunde eine Alternative zur
provisionsbasierten Anlageberatung und Vermittlung hat;
denn wir müssen feststellen, dass reine Honorarberatung
in Deutschland kaum verbreitet ist. Anlageberatung wird
in Deutschland hauptsächlich in Form der provisionsge-
stützten Beratung erbracht und nachgefragt. Beratungen,
für die der Kunde ein Honorar zahlt, haben nur einen sehr
geringen Marktanteil. Grund hierfür ist nicht zuletzt auch
eine fehlende gesetzliche Verankerung – bisher auch auf
europäischer Ebene.
Weiter müssen wir feststellen, dass trotz der bestehen-
den Pflicht zur Offenlegung der Provision Kunden oft
keine Vorstellung darüber haben, wer die provisionsge-
stützte Anlageberatung bezahlt. Der Kunde wird von der
Vorstellung geleitet, dass der gesamte von ihm einge-
setzte Betrag zur Erzielung seiner Rendite zur Verfügung
steht. Für einen Großteil der Kunden ist schlicht und er-
greifend die Unterscheidung zwischen provisionsge-
stützter und provisionsfreier Anlageberatung nicht klar.
Wir wollen daher für Transparenz sorgen. Dem Kun-
den soll durch den Schutz der Bezeichnung „Honorar-
anlageberatung“ klar und deutlich signalisiert werden,
mit wem er es im Beratungsgespräch zu tun hat: mit ei-
nem Berater, der über Provisionen vom Verkauf der
empfohlenen Finanzprodukte profitiert, oder mit einem
Berater, der ein Honorar für die Beratungsleistung ver-
dient und nicht Provisionen für den Verkauf der Finanz-
produkte erhält.
Künftig darf nur derjenige diesen Begriff verwenden,
der bei der Beratung einen ausreichenden Marktüber-
blick zugrunde legen kann und sich die Beratungsleis-
tung allein durch Zuwendungen des Kunden entgelten
lässt. Darauf soll der Verbraucher vertrauen können.
Die geschützte Bezeichnung können sowohl Unter-
nehmen verwenden, die von der Bundesanstalt für Fi-
nanzdienstleistungsaufsicht beaufsichtigt werden, als
auch Unternehmen, die wegen ihres eingeschränkten Tä-
tigkeitsbereichs der Gewerbeaufsicht unterliegen. Da-
mit kann auch in dem auf bestimmte Finanzinstrumente
beschränkten Beratungssegment eine honorargestützte
Anlageberatung erbracht werden.
Lassen Sie mich zum Inhalt des vorliegenden Gesetz-
entwurfs kommen:
Wir führen einen Bezeichnungsschutz, sozusagen ein
Gütesiegel, ein. Unternehmen, die den Begriff „Honorar-
anlageberatung“ verwenden wollen, müssen mehr An-
forderungen als andere Anlageberater erfüllen:
Sie dürfen erstens – und das ist der wichtigste Punkt –
keinerlei monetäre Zuwendungen von Dritten annehmen
oder behalten. Monetäre Zuwendungen, also insbeson-
dere die klassischen Vertriebs- oder Bestandsprovisio-
nen, dürfen nur dann angenommen werden, wenn kein
vergleichbares Finanzprodukt ohne Provision erhältlich
ist. In diesem Fall sind die Provisionen an den Kunden
weiterzuleiten. Nicht monetäre Zuwendungen, also zum
Beispiel kostenfreie Schulungen oder Tagungen, sind
auf jeden Fall verboten.
Zweitens muss die Honoraranlageberatung organisa-
torisch, funktional und personell von der provisionsge-
stützten Anlageberatung getrennt werden. Damit wird
zweierlei erreicht: Es wird sichergestellt, dass es zwi-
schen den beiden Bereichen keine Verflechtungen gibt,
aus denen Interessenkonflikte resultieren können, und es
wird gleichzeitig sichergestellt, dass auch kleine Spar-
kassen und Genossenschaftsbanken die Honorarberatung
in der Fläche anbieten können, wenn sie die Bereiche or-
ganisatorisch trennen.
Drittens verlangt der Gesetzentwurf, dass der Hono-
raranlageberater Marktüberblick haben muss, das heißt,
dass er seiner Beratung und Empfehlung nicht nur ei-
gene oder konzerneigene Produkte zugrunde legen darf.
Wenn er diese Produkte empfiehlt, muss er den Kunden
über das Vorliegen eines eigenen Gewinninteresses in-
formieren.
Damit Kunden wissen können, wer Honorarberatung
anbietet, wird schließlich ein öffentlich einsehbares Re-
gister auf der Internetseite der Bundesanstalt für Finanz-
dienstleistungsaufsicht bzw. bei den Industrie- und Han-
delskammern eingerichtet. Hier sind die Unternehmen
eingetragen, die Honoraranlageberatung erbringen wol-
len. Für den Kunden besteht damit die schnelle, einfache
und Transparenz schaffende Möglichkeit, diese Form der
Anlageberatung gezielt nachzufragen. Das wird sowohl
die Angebotsvielfalt für Kunden verbessern als auch den
Markt für Honorarberater stärken.
27712 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013
(A) (C)
(D)(B)
Die Bundesregierung sieht sich durch die Stellung-
nahme des Bundesrates in ihrem Anliegen bestätigt, die
Honorarberatung über Finanzinstrumente zu regeln.
Auch der Bundesrat begrüßt, dass das Angebot an Bera-
tungsmöglichkeiten für Anleger und Anlegerinnen er-
weitert werden soll.
Die Bundesregierung wird die Änderungsbitten des
Bundesrates prüfen, insbesondere die mit Bezug auf die
gewerberechtlichen Regelungen und die Konkretisie-
rung von Begriffen.
Das geplante Gesetz regelt die Honorarberatung für
den Bereich der Finanzinstrumente, nicht für die Berei-
che Darlehen oder Versicherungen. Das ist aus Sicht der
Bundesregierung als erster Schritt auch sinnvoll, weil
die Finanz- und Wirtschaftskrise in erster Linie das Ver-
trauen der Anleger in die Beratung über Finanzprodukte
erschüttert hat.
Daher werden auch auf europäischer Ebene zunächst
die Regelungen für die Beratung über Finanzprodukte
neu justiert. In Europa geht man den Weg, Honorarbera-
tung durch klare Regeln zu fördern und für den Anleger
transparent zu machen, mit welcher Art von Beratung er
es zu tun hat. Diesen Weg schlagen wir auch mit dem
deutschen Gesetzentwurf ein. Im Einklang mit den Ge-
setzgebungsvorschlägen der EU-Kommission in MiFID 2
sieht der Gesetzentwurf daher auch davon ab, die Provi-
sionsberatung ganz zu verbieten.
Wir müssen uns in einem ersten Schritt darum küm-
mern, dass Honorarberatung flächendeckend angeboten
wird und auch der Kunde außerhalb der Städte eine Al-
ternative zur Provisionsberatung hat. Das erreichen wir
nicht, indem wir kleine Sparkassen und Genossen-
schaftsbanken faktisch von der Beratung ausschließen.
Aus Sicht der Bundesregierung ist entscheidend, dass
der Kunde vor der Beratung künftig klar erkennen kann,
wie die Beratung bezahlt wird – durch Provision im Fall
eines Geschäftsabschlusses oder durch Honorar unab-
hängig von einem Geschäftsabschluss.
Der Kunde kann dann entscheiden, ob er bereit ist, für
die Beratung ein Honorar zu zahlen, oder ob er dazu
nicht bereit ist. Wenn der Kunde dann eine Honorarbera-
tung in Anspruch nehmen will, kann er im geplanten Re-
gister nachsehen, wer Honorarberatung anbietet. Damit
stärken wir nicht nur die Wahlmöglichkeiten des Kun-
den, sondern fördern auch die Honorarberatung als Al-
ternative zur provisionsgestützten Anlageberatung.
Als Fazit bleibt festzuhalten, dass wir mit dem vorlie-
genden Entwurf eines Honoraranlageberatungsgesetzes
einen weiteren wichtigen Beitrag im neuen Ordnungs-
rahmen für die Finanzmärkte leisten und damit unter-
streichen, dass die effektive Regulierung der Finanz-
märkte ein zentrales Ziel dieser Bundesregierung ist.
Die parlamentarische Unterstützung dieses Gesetzge-
bungsverfahrens liegt vor dem Hintergrund unseres ge-
meinsamen Zieles im Interesse aller.
Anlage 8
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes über
die Statistik der Bevölkerungsbewegung und die
Fortschreibung des Bevölkerungsstandes (Be-
völkerungsstatistikgesetz – BevStatG) (Tages-
ordnungspunkt 20)
Michael Frieser (CDU/CSU): Der Gesetzentwurf
zum Bevölkerungsstatistikgesetz, den wir heute in zwei-
ter und dritter Lesung verabschieden wollen, klingt auf
den ersten Blick wenig aufregend. Bevölkerungsstatistik
scheint auf den ersten Blick eine recht trockene Materie
zu sein. Wer sich aber, wie ich es als Berichterstatter ge-
tan habe, länger mit dem Thema beschäftigt, merkt recht
schnell, dass selbst bei diesem Thema durchaus einige
zu lösende Fragen aufkommen, bei denen es nicht nur
auf die Beachtung bereits geltender Gesetze, sondern
durchaus auf politischen Gestaltungswillen ankommt.
Worum geht es eigentlich, und warum brauchen wir
dieses Gesetz? Auch hier gilt der schöne Satz: Politik be-
ginnt mit der Betrachtung der Realität. – Genau darum
geht es beim Bevölkerungsstatistikgesetz: um die Be-
trachtung der Realität. Das bisher geltende Bevölke-
rungsstatistikgesetz stammt aus dem Jahr 1957. Seitdem
wurden Änderungen stets nur auf das jeweils Notwen-
dige beschränkt. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf
soll nun jedoch das bestehende und in seinem Grunde
bewährte Gesetz überarbeitet und an verschiedene Ge-
setzesänderungen der letzten Jahre angepasst werden.
Da wir letztlich das Gesetz umfassend überarbeitet ha-
ben, hat es sich angeboten, eine Neufassung statt eines
Änderungsgesetzes vorzusehen.
Gesetze sind wie Würste, man sollte besser nicht da-
bei sein, wenn sie gemacht werden. Je weniger die Leute
wissen, wie beide gemacht werden, desto besser schlafen
sie: Das sagte schon der amerikanische Dichter John
Godfrey Saxe, 1816 bis 1887. Was das Bevölkerungssta-
tistikgesetz angeht, möchte ich dem, im Rückblick auf
die parlamentarische Arbeit, uneingeschränkt zustim-
men. Dieses Gesetzentwurf, mit dem ich mich als Be-
richterstatter der CDU/CSU-Fraktion quasi durch einige
erneute Änderungen am Änderungsvertrag bis zur letz-
ten Minute befasste, ja verkettet war, hat mich so man-
che schlaflose Nacht gekostet:
Inhaltlich regelt das Bevölkerungsstatistikgesetz fol-
gende Bundesstatistiken, um die Veränderungen in Zahl
und Zusammensetzung der Bevölkerung und ihre Ursa-
chen festzustellen: erstens die Statistik der natürlichen
Bevölkerungsbewegung einschließlich der Todesursa-
chenstatistik – darin enthalten sind die Statistik der Ehe-
schließungen und Lebenspartnerschaften, die Geburten-
statistik und Sterbefallstatistik –, zweitens die Statistik
der rechtskräftigen Beschlüsse in Eheauflösungssachen,
drittens die Statistik der rechtskräftigen Aufhebungen
von Lebenspartnerschaften, viertens die Wanderungssta-
tistik, fünftens die Fortschreibung des Bevölkerungs-
standes.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 27713
(A) (C)
(D)(B)
Ein Aspekt der Änderungen sind sprachliche Anpas-
sungen – zum einen an das vor Jahren geänderte Schei-
dungs- und Kindschaftsrecht, zum anderen aber auch an
das 2009 in Kraft getretene Gesetz über das Verfahren in
Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwil-
ligen Gerichtsbarkeit. In unserem Gesetzentwurf werden
aber auch Änderungen berücksichtigt, die sich aus der
Reform des Personenstandsrechts 2009 und aus dem Le-
benspartnerschaftsgesetz aus dem Jahre 2001 ergeben
haben.
Es geht uns also letztlich darum, ein Gesetz von 1957
an unsere heutigen Realitäten anzupassen. So wurden
beispielsweise in der Reform des Personenstandsrechts
von 2009 auch die eingetragenen Lebenspartnerschaften
als Personenstand aufgenommen. Deshalb sollten diese
auch in der Statistik zukünftig erfasst werden. Daneben
werden fachstatistisch gebotene Verbesserungen, insbe-
sondere die Festlegung von Erhebungs- und Hilfsmerk-
malen, umgesetzt. Durch diese Regelungen können Sta-
tistiken in Zukunft genauer und damit auch für die
Politik eine noch konkretere Grundlage für alle Ent-
scheidungen werden.
Was mir besonders wichtig zu betonen ist: Es geht le-
diglich um Übermittlungspflichten für die Verwaltung.
Es sollen nur Daten übermittelt werden, die bereits in der
Verwaltung vorhanden sind. Bei den Bürgerinnen und
Bürgern in Deutschland werden keine Informations-
pflichten neu eingeführt, und auch für die Wirtschaft ent-
stehen keine Kosten.
Haben wir eine Alternative zu diesem Gesetz, und
wie sähe diese aus? Natürlich haben wir eine Alternative,
nämlich das Gesetz nicht zu verabschieden und bei dem
bisherigen Stand zu bleiben. Aber das können wir ei-
gentlich nicht ernsthaft in Betracht ziehen. Das alte und
inzwischen und mittlerweile unzweifelhaft veraltete Ge-
setz würde weiter in Kraft bleiben. Seine sprachlichen
Ungenauigkeiten würden nicht beseitigt werden, auch
würden wir uns der Lebensrealität, wie zum Beispiel
den Lebenspartnerschaften, statistisch verschließen. Das
können wir nicht wollen.
Nicht nur viele gute Gründe sprechen für eine heutige
Verabschiedung des Bevölkerungsstatistikgesetzes, auch
gibt es keine ernsthaft in Betracht zu ziehende Alterna-
tive. Deshalb empfehle ich auch der Opposition, dem
Gesetzentwurf zuzustimmen.
Manfred Behrens (Börde) (CDU/CSU): Das Ur-
sprungsgesetz wurde 1957 verabschiedet. Die darin defi-
nierten Bundesstatistiken über Geburten, Eheschließun-
gen und das Sterben werden seither geführt. Ziel des
Gesetzes ist es, die Zahl der Bevölkerung, ihre Verände-
rungen und deren Ursachen festzustellen und daraus Fol-
gen abzuleiten. Regierung, Verwaltung, Wirtschaft und
Wissenschaft benötigen für ihre Arbeit Statistiken über
Zahl und Zusammensetzung der Bevölkerung. Das Ge-
setz soll dabei nur die wichtigsten Vorgänge der Bevöl-
kerungsbewegung erfassbar machen und die Fortschrei-
bung des Bevölkerungsstandes ermöglichen.
Die Statistik der natürlichen Bevölkerungsbewegung
liefert in diesem Rahmen die wichtigsten Unterlagen,
um demografische Vorgänge zu beurteilen. Sie ermög-
licht zum Beispiel überhaupt erst, dass zukunftsorien-
tierte politische und wirtschaftliche Planungen auf dem
Gebiet der gesetzlichen Rentenversicherung möglich
sind.
Das Gesetz steht nunmehr vor einer grundlegenden
Überarbeitung. Es werden Unzulänglichkeiten des 1957
in Kraft getretenen Gesetzes beseitigt. Darüber hinaus
geht es auch um sprachliche Anpassungen. Diese sprach-
lichen Veränderungen sind nach den Änderungen im
Scheidungsrecht oder auch im Kindschaftsrecht erforder-
lich geworden. Zudem müssen einige Erhebungsmerk-
male neu und konkret festgelegt werden. Inhaltlich sieht
das Gesetz vor, dass die Bevölkerung nach dem aktuellen
Familienstand fortzuschreiben ist. Hier werden auch ein-
getragene Lebenspartnerschaften statistisch erfasst.
Der Regierungsentwurf hat bei der Überarbeitung des
Gesetzes alle rechtlichen Standards beachtet. Das über-
arbeitete Bevölkerungsstatistikgesetz wird mit dem
Recht der Europäischen Union vereinbar sein. Die ge-
planten Änderungen sind zahlreich, sodass sich der Re-
gierungsentwurf für ein Ablösegesetz einsetzt.
Das neue Gesetz wird dauerhaften Charakter haben,
da es sich um eine dauerhafte Erhebung handelt. Für die
Bürgerinnen und Bürger in der Bundesrepublik Deutsch-
land werden keine neuen Informationspflichten einge-
führt. Damit werden Bürgerinnen und Bürger in diesem
Lande nicht belastet. Auch für die Wirtschaft steht kein
zusätzlicher finanzieller Aufwand für die Erfüllung be-
vor.
Ersten Überlegungen zufolge sollte das Gesetz rück-
wirkend zum 1. Januar 2013 in Kraft treten. An dieser
Stelle wäre es allerdings zu einem erheblichen Mehrauf-
wand gekommen. Wir wollen den Mehraufwand für die
Stellen, die die Daten übertragen, vermeiden. Daher ist
die richtige und auch sinnvolle Entscheidung gefallen,
das Gesetz am 1. Januar 2014 in Kraft treten zu lassen.
Die Bundesregierung fordert nunmehr, dass dieses
Gesetz zum 1. Januar 2014 in Kraft tritt. Gleichzeitig
fordern wir, dass das bisherige Bevölkerungsstatistikge-
setz in der Fassung der Bekanntmachung von 1980 außer
Kraft tritt.
Kirsten Lühmann (SPD): Die durchschnittliche
Nutzungsdauer einer Bohrmaschine im gesamten Leben
eines Menschen beträgt 13 Minuten. Es gibt Statistiken,
die niemand braucht, auch wenn sie vielleicht zum
Nachdenken anregen. Es gibt aber auch Statistiken, die
brauchen wir unbedingt. Wenn wir Gesetze machen, nut-
zen wir als Entscheidungsgrundlage statistische Daten.
Wenn wir Strategien entwerfen, zum Beispiel dafür, wie
wir Verkehrsanbindungen in bestimmten Regionen aus-
bauen, wie wir den Fachkräftebedarf decken, wie viele
Kitaplätze wir brauchen werden, dann nutzen wir statis-
tische Daten.
Statistische Daten sind eine wichtige Grundlage für
politische Entscheidungen. Das gilt ganz besonders für
27714 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013
(A) (C)
(D)(B)
die Bevölkerungsentwicklung, also die Geburten- und
Sterberaten, die Wanderungsbewegungen usw. Diese
Daten ermöglichen uns Erkenntnisse über die demogra-
fische Lage unseres Landes. Und daraus wiederum
lassen sich Prognosen über zukünftige Entwicklungen
erstellen. Und die brauchen wir, um politische Weichen-
stellungen zu treffen.
Rechtliche Grundlage für die Erhebung statistischer
Daten ist immer ein Gesetz. Wir beraten heute das
Bevölkerungsstatistikgesetz, welches 1957 in Kraft
getreten ist und nun durch eine Neufassung abgelöst
werden soll.
Das alte Bevölkerungsstatistikgesetz ist zwar immer
wieder in einzelnen Punkten angepasst worden. Mittler-
weile bedarf es aber einer grundlegenden Überarbeitung.
In der alten Fassung des Gesetzes ist zum Beispiel noch
vorgeschrieben, dass die Daten auf Zählkarten eingetra-
gen werden. Das entspricht im Zeitalter der elektroni-
schen Datenverarbeitung natürlich schon längst nicht
mehr den technischen Möglichkeiten und Gepflogenhei-
ten. Deshalb wird im neuen Gesetz auch die elektroni-
sche Datenübermittlung gefordert.
Das Bevölkerungsstatistikgesetz regelt die Daten-
erhebung über Geburten, Sterbefälle einschließlich der
Todesursachen, Eheschließungen und -scheidungen
sowie Wanderungen.
Mit dem neuen Gesetz werden nun auch die Le-
benspartnerschaften erfasst, die vorher nicht abgebildet
wurden. Das ist eine logische Ergänzung der Daten über
die Eheschließungen.
Neu ist auch, dass der Migrationshintergrund bei
Kindern genauer erfasst wird. Bisher umfassten die An-
gaben zu den Eltern in der Geburtenstatistik lediglich die
Staatsangehörigkeit. Mit der Angabe zum Geburtsort
und -staat der Eltern werden die Einwanderungsbewe-
gungen genauer erfasst.
Privatpersonen werden durch das Gesetz nicht beein-
trächtigt, da es lediglich um Daten geht, die bereits
vorhandenen Verwaltungsunterlagen entnommen wer-
den. Geburten zum Beispiel werden beim Standesamt
gemeldet. Die Standesämter wiederum geben die Daten
an die Statistischen Landesämter weiter, die wiederum
dem statistischen Bundesamt Daten liefern.
Da die Angabe der Religionszugehörigkeit beim Stan-
desamt mittlerweile freiwillig ist, werden die Standes-
ämter zukünftig nicht mehr verpflichtet, Daten dazu an
die Statistischen Ämter weiterzuleiten.
Ebenso wird zukünftig nicht mehr erhoben, ob die
Eltern eines innerhalb der ersten Lebensjahres verstorbe-
nen Kindes verheiratet sind oder nicht. Der Gesetzent-
wurf weist in seiner Begründung darauf hin, dass diese
Differenzierung wegen der inzwischen veränderten ge-
sellschaftlichen Verhältnisse nicht mehr angemessen ist.
So sinnvoll die neuen Regelungen im Einzelnen sein
mögen, lohnt es sich aber doch, einmal einen Blick auf
die gesetzlichen Grundlagen der Statistikerhebungen zu
werfen. Wir haben es mit einer Vielzahl von Gesetzen
und Regeln zu tun, die mittlerweile zu einem großen Teil
auch auf EU-Recht basieren. Allein für den Themen-
bereich „Bevölkerung“ listet das Bundesamt für Statistik
16 verschiedene Gesetze und Verordnungen auf, die die
Datenerhebung regeln.
Dennoch basieren die Zahlen, die aus dem Zensus ge-
wonnen werden, teilweise lediglich auf Schätzungen.
Vor diesem Hintergrund halte ich die Anregung des
Bundesrates für sinnvoll, einmal zu überprüfen, ob die
Einwohnerzahlenermittlung nicht generell modernisiert
und gegebenenfalls grundlegend neu gestaltet werden
sollte.
Zunächst einmal halten wir die hier vorgeschlagenen
Neuregelungen aber für sinnvoll und stimmen dem Ge-
setzentwurf daher zu.
Manuel Höferlin (FDP): Das Bevölkerungsstatistik-
gesetz wird heute zum ersten Mal seit seiner Einführung
in den 50er-Jahren grundsätzlich reformiert. Die christ-
lich-liberale Koalition hat mit dem nun vorgelegten Ge-
setzentwurf nicht nur technische Anpassungen vorge-
nommen; sie hat das Gesetz auch gegen Widerstände aus
den Ländern verbessert.
Mit der Reform des Kindschaftsrechts im Jahr 2009
hat sich auch Reformbedarf für das Bevölkerungsstatis-
tikgesetz ergeben. Um zeitgemäße Anpassung der
Terminologien haben wir uns in diesem Gesetzentwurf
gekümmert. Zukünftig wird im Bevölkerungsstatistikge-
setz nicht mehr von „Ehelichkeit“ gesprochen, sondern
es wird geprüft, ob die Eltern des Kindes „verheiratet“
sind. Diese Formulierung ist nicht nur zeitgemäßer, son-
dern auch weniger diskriminierend.
Daneben haben wir außerdem die Möglichkeit ge-
schaffen, zukünftig auch eingetragene Lebenspartner-
schaften zu erfassen. Diese Neuerung ist vor dem
Hintergrund der Modernisierung des Partnerschafts-
gesetzes auch absolut notwendig. Sie sehen: Die christ-
lich-liberale Koalition hat ihre Hausaufgaben gemacht.
Doch haben wir auch eine Reihe von Verbesserungen
beim Datenschutz erreicht. So werden in Zukunft keine
Adressdaten als Hilfs- oder Erhebungsmerkmale gesam-
melt. Zwar hatten insbesondere die Vertreter der Länder
bei der Bundesratsberatung diese Forderung gestellt; wir
Liberale dagegen halten dies für nicht erforderlich. Und
es zeigt sich so: Beides geht – hochwertige Statistiken
und Datenschutz!
In diesem Zusammenhang ist es uns auch gelungen,
die Datensammelwut der Länder insgesamt zu bremsen.
Die Erfassung von Körpergröße, Körpergewicht und die
Erfassung von Meldepflichtbefreiten – das alles gibt es
mit der FDP nicht. Die Bevölkerungsstatistik soll
Auskunft über Bevölkerungsbewegungen und hilfreiche
Zusatzinformationen über die Lebensumstände der Bür-
gerinnen und Bürger in Deutschland geben, nicht ihren
Lebenswandel dokumentieren oder Detailinformationen
über sie erfassen.
Die christlich-liberale Koalition hat mit dem vorlie-
genden Gesetzentwurf ein ausgewogenes Gesetz ge-
schaffen, das die nötigen Informationen für die Bildung
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 27715
(A) (C)
(D)(B)
einer angemessenen Bevölkerungsstatistik schafft und
gleichzeitig den Datenschutz in Deutschland berücksich-
tigt.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und vielen
Dank, dass Sie meine Rede bis hierher gelesen haben.
Jan Korte (DIE LINKE): Wenn die Koalition aus
Union und FDP oder die Bundesregierung einen Gesetz-
entwurf vorlegen, der etwas mit Datenerhebungen zu tun
hat, schrillen bekanntlich die Alarmglocken – und das zu
Recht: Meistens geht es dann ja darum, anlasslos Daten
im Namen der Sicherheit zu sammeln, Bürgerdaten an
die Meistbietenden verkaufen zu können oder der Wirt-
schaft neue Märkte zu erschließen. Ich erinnere hier nur
an das Meldegesetz, das jetzt ja zumindest optisch korri-
giert wurde, an die Fluggastdatenspeicherung oder an
das unsägliche Arbeitnehmerüberwachungsgesetz, das
Sie uns hier vorgelegt haben und welches nun hoffent-
lich in einer abschließbaren Schublade ganz weit unten
verschwunden ist.
Heute ist das allerdings etwas anders. Die Bundesre-
gierung hat offenbar mal einen guten Tag erwischt, als
sie beschlossen hat, diesen Gesetzentwurf für ein neues
Bevölkerungsstatistikgesetz einzubringen, ohne irgend-
welche weitergehenden Speicherpflichten, Erhebungsda-
ten oder sonstige Schweinereien mit einzubauen. Gut ist
es, dass zukünftig keine Daten zur Religionszugehörig-
keit erfasst werden. Vorausgesetzt man findet es ver-
nünftig, die Zahl der Eheschließungen zu erfassen, ist es
natürlich auch zeitgemäß, die Lebenspartnerschaften mit
aufzunehmen, zumindest so lange, bis in der Bundesre-
publik alle Menschen, unabhängig von ihrer sexuellen
Orientierung, die gleichen Rechte haben, also alle heira-
ten dürfen, die es wollen.
An die Zukunft hat die Bundesregierung auch ge-
dacht. Um – ich zitiere aus der Begründung – „Ansatz-
punkte für familienpolitische Maßnahmen zu erhalten
sowie die Wirkung entsprechender Maßnahmen auf die
Geburtenentwicklung zu erkennen“, sollen zukünftig die
exakten Geburtsdaten von Eltern und Kindern erfasst
werden, damit ausgerechnet werden kann, wie alt die El-
tern bei der Geburt ihres Kindes genau waren. Hier hat
der Schuh also bisher gedrückt in der Familienpolitik der
Bundesregierung! Da ist es ja kein Wunder, dass gerade
Hunderttausende Kitaplätze fehlen und die milliarden-
schweren Förderinstrumente bei der Familienpolitik sich
als weitgehend wirkungslos herausgestellt haben. Aber
das wird zukünftig, nach dieser Korrektur, sicherlich an-
ders.
Wir sind uns – ganz im Ernst – bewusst, dass Politik
Zahlen und Statistiken zur Orientierung benötigt. Die
wichtige Frage, die wir uns stellen müssen, ist aber, wie
viele das eigentlich sein müssen. Am Bevölkerungssta-
tistikgesetz, dem wir hier heute zustimmen, ist unter Da-
tenschutzaspekten nichts auszusetzen. Aber da hört es ja
leider nicht auf, wie wir zum Beispiel an der Volkszäh-
lung sehen können, die etliche Bürgerinnen und Bürger
verpflichtet, persönlichste Daten offenzulegen – und das
wiederum, um Zahlen für Statistiken zu produzieren. Je
näher die Politik am Menschen ist – und ich meine hier
tatsächlich den persönlichen Kontakt zu den Menschen,
in unseren Wahlkreisen, wie auch die Stärkung demokra-
tischer Mitentscheidungsrechte von Bürgerinnen und
Bürgern, – desto weniger ist sie von Zahlen abhängig.
Die Linke würde es jedenfalls begrüßen, wenn wir hier
im Bundestag weniger Politik für schöne Statistiken und
viel mehr Politik für die Menschen machen würden, die
individuell von unseren Entscheidungen betroffen sind.
Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Neben Zensus und Mikrozensus zählt die lau-
fende Fortschreibung des Bevölkerungsstandes zu einem
weiteren Instrument der Statistikbehörden, um ihren
Aufgaben der Sammlung von Daten zu Massenphäno-
menen gemäß Bundesstatistikgesetz nachzukommen.
Was da seit einigen Jahren, ja seit Jahrzehnten konti-
nuierlich fortgeschrieben wird, stellt eine bürokratisch
peinlich genaue Chronik unseres erwarteten Niedergan-
ges dar, so könnte man es etwas salopp formulieren.
Nicht dass uns das Statistikwesen hier zur Selffulfilling
Prophecy wird. Immerhin bleiben bei allen aus Statisti-
ken abgeleiteten Prognosen große Unsicherheiten hin-
sichtlich der Verlängerung in die Zukunft. Zu viele Fak-
toren könnten die Prognose im Zeitverlauf doch noch in
die eine oder andere Richtung verändern. Wir können
also letztlich nur sehr bedingt anhand von Statistiken in
die Zukunft schauen. Doch bei aller, übrigens auch ko-
gnitionswissenschaftlich gebotenen Vorsicht im Umgang
mit Statistiken müssen wir doch zur Kenntnis nehmen:
Die Zahl der Lebendgeborenen liegt, mit weiter fallen-
dem Trend, strukturell unter der Zahl der Gestorbenen.
Bei ungehindertem zeitlichem Ablauf sterben „wir“ aus.
Immer mehr ältere Menschen, immer weniger jüngere
Menschen, Jugendliche und Kinder schon eher gar nicht,
so schreibt sich unsere Geschichte derzeit statistisch fort.
Ebenfalls dokumentiert wird die weiter fallende Bereit-
schaft, sich „ewig zu binden“. Die Zahl der Neuehen
geht zurück; die Scheidungsraten bleiben auf hohem Ni-
veau.
Diese Zahlen sind zunächst nicht mehr und nicht we-
niger als die Grundlage und Voraussetzung für die Poli-
tik, für eine verantwortbare und, ich sage das hier mit al-
ler Vorsicht, seriöse Demografiepolitik, die sich der
Veränderlichkeit und des besonderen Erkenntniswerts
von Statistiken bewusst ist. Es kommt darauf an, welche
Schlüsse wir aus den uns präsentierten Zahlen und Kur-
ven ziehen.
Die Bevölkerungsstatistik konfrontiert die Politik da-
bei immer wieder mit unangenehmen Fakten, die bei al-
ler Interpretierbarkeit doch auch harte und nicht wegzu-
diskutierende Kernprobleme aufzeigen. Dieser Stachel
im besten Sinne ist es, der mit der Fortschreibung der
Bevölkerungsstatistik auch weiterhin funktionieren
sollte.
Wir begrüßen es, dass zeitgemäß die Lebenspartner-
schaften mit aufgenommen wurden, ohne das dafür, wie
ja im gesamten Gesetzentwurf nicht, irgendwelche zu-
sätzlichen Neuerhebungen angeordnet werden müssen.
Denn auch das gehört zu einer seriösen Statistikarbeit:
die Beschränkung auf das Notwendige und rechtlich Er-
27716 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013
(A) (C)
(D)(B)
forderliche und damit die Beachtung eines hohen Daten-
schutzstandards, damit Statistik nicht am Ende doch
wieder Nachteile oder gar Risiken mit sich bringt.
Gleichzeitig darf man sich jedoch auch fragen, weshalb
es so wichtig sein soll, bestimmte Daten überhaupt zu er-
fassen, so zum Beispiel, wenn damit Stigmatisierung
und Diskriminierung drohen und kein sachgerechter An-
knüpfungspunkt für die Erfassung vorgetragen wird.
Die im Personenstandsrecht in der zurückliegenden
Sitzungswoche hier von uns diskutierten, überwiegend
begrüßenswerten Änderungen werden sinnvollerweise
mit der Bevölkerungsstatistik synchronisiert. Dement-
sprechend wird zum Beispiel das Religionsmerkmal ent-
sprechend seiner nur noch in wenigen Fällen und auch
nur auf Wunsch erfolgenden Eintragung beim Standes-
amt auch im Zusammenhang mit diesem Gesetz nicht er-
hoben.
Zu prüfen bleibt, ob die überraschende Bereitschaft
der Bundesregierung, eine eigene Personenstandschaft
für Intersexuelle anzuerkennen, entsprechend auch ihre
Abbildung im Bevölkerungsstatistikgesetz finden sollte.
Ausdrücklich begrüßen wir, dass entgegen dem
Wunsch des Bundesrates die durchaus Anklänge an
„Volksstatistiken“ bergende Erfassung von Körpergröße
und Gewicht von Neugeborenen samt Berufstätigkeit der
Mutter bei Geburt zukünftig nicht mehr erfasst wird. Der
dazu erforderliche Nachweis der Erforderlichkeit harrt
einer zeitgemäßen Rechtfertigung. Es ist schwer vor-
stellbar, dass diese Informationen für sich und ohne je-
den weiteren Kontext eine Relevanz für Auswertungen
der Bevölkerungsstatistik entfalten.
Die Bevölkerungsstatistik wird in dem Maße im Um-
bruch bleiben, wie der gesellschaftliche Wandel Verän-
derungen von Ehe, Familie oder auch Identitätsvorstel-
lungen allgemein nach sich zieht. Gerade bei der von uns
maßgeblich erstrittenen Lebenspartnerschaft werden wir
weiter darauf hinwirken, dass die Gleichbehandlung auf
allen Ebenen gewahrt bleibt. Datenschutz und Datensi-
cherheit bleiben ebenfalls aktuell: Von besonderer Be-
deutung bleibt dabei die Einhaltung des Erforderlich-
keitsgrundsatzes und die Beschränkung der Erfassung
von personenbezogenen Daten auf das zur Zweckerrei-
chung unbedingt Erforderliche.
Anlage 9
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Anträge:
– Arbeitsbedingungen von Lehrkräften in In-
tegrationskursen verbessern
– Lehrkräfte von Integrationskursen stärken
und den Kurszugang erweitern
(Tagesordnungspunkt 21 a und b)
Helmut Brandt (CDU/CSU): Integration in Deutsch-
land ohne Kenntnisse der deutschen Sprache ist unmög-
lich. Deshalb müssen seit 2005 – zu Recht – hier lebende
Ausländer mit einer Aufenthaltserlaubnis nach § 44
Abs. 1 Aufenthaltsgesetz an einem Sprachkurs teilneh-
men. Die meisten der seit dem Jahre 2005 bislang circa
900 000 Teilnehmer absolvierten ihren Kurs mit Erfolg,
und ich bin überzeugt, dass hierzu gerade auch die
Qualifikation und das Engagement der Lehrkräfte beige-
tragen hat.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Fraktion der
SPD und von Bündnis 90/Die Grünen, ich bin völlig Ih-
rer Meinung, wenn Sie sagen, wer gut arbeitet, muss
auch gut bezahlt werden. Aus diesem Grund wurde mit
Wirkung zum 1. Januar 2013 der für die Finanzierung
von Integrationskursen maßgebliche Kostenerstattungs-
satz von 2,54 Euro je Kursteilnehmer und Unterrichts-
einheit auf 2,94 Euro erhöht. Dieser Betrag ist keines-
wegs willkürlich gewählt. Liest man Ihre Anträge,
entsteht der Eindruck, als sei der gezahlte Betrag weit
unter jeglichem akzeptablen Niveau. Dabei ist Grund-
lage der Erhöhung ein Preisermittlungsverfahren des
Statistischen Bundesamtes, das Preise von Gruppen-
sprachkursen zum Vergleich herangezogen hat.
Wir können und wollen den Trägern nicht die Höhe
der Honorarsätze für ihre Lehrkräfte vorschreiben. Die
Bundesregierung hat in ihren Antworten auf Ihre Anfra-
gen immer wieder mitgeteilt, dass unmittelbar verant-
wortlich für die Lehrkräftehonorierung die Kursträger
– und nur die Kursträger – selbst sind, die im Wege der
Aufgabenprivatisierung gemäß § 43 Abs. 3 des Aufent-
haltsgesetzes in Verbindung mit §§ 18 ff. der Integra-
tionskursverordnung vom Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge mit der Kursdurchführung betraut werden
und die direkten Vertragspartner der Lehrkräfte sind.
Eine unmittelbare Einflussnahme auf die Höhe des Ho-
norars würde einen Eingriff in die Privatautonomie des
Kursträgers bedeuten. Einen solchen Eingriff lehnen wir
aus verfassungs- und vergaberechtlichen Gründen ab.
Vor diesem Hintergrund steuert das Bundesamt für
Migration und Flüchtlinge die Honorarhöhe nur inso-
fern, als es seit September 2008 als qualitatives Steue-
rungselement die Zulassung der Träger von einer Hono-
raruntergrenze abhängig macht.
Um eine bessere Vergütung der Lehrkräfte zu errei-
chen, wird die derzeit geltende Honoraruntergrenze von
18 Euro je Unterrichtseinheit zum 1. März 2013 auf
20 Euro heraufgesetzt. Vergütet ein Träger Honorarlehr-
kräfte unterhalb dieser Grenze, hat dies zur Folge, dass
der Kursträger eine Zulassung zur Durchführung von In-
tegrationskursen für nur ein Jahr statt bis zu fünf Jahren
erhält. Dies betraf im Jahr 2012 42 Kursträger von ins-
gesamt 1 334 Kursträgern.
Die von Ihnen vorgeschlagene automatische Nicht-
verlängerung der Zulassung bei fortgesetzter Unter-
schreitung der Honorargrenze lehnen wir ab; denn sie
würde faktisch die Einführung eines Mindesthonorars
durch die Hintertür bedeuten.
Auch Ihr Vorschlag, die Quote der festangestellten
Lehrkräfte in die Integrationskursverordnung aufzuneh-
men, verstößt unserer Auffassung nach gegen den
Grundsatz der Privatautonomie. Ich sage es noch einmal:
Die Vergütung und die Stundenzahl der Lehrtätigkeit
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 27717
(A) (C)
(D)(B)
obliegen der individuellen Vertragsgestaltung zwischen
der Lehrkraft und dem Kursträger.
Außerdem bin ich davon überzeugt, dass es eine
ganze Reihe von Lehrern gibt, die in ihrer Tätigkeit nur
einen Nebenverdienst sehen und auf diesem Gebiet gar
nicht hauptamtlich tätig sein wollen. Aus eben diesem
Grund sehe ich auch nicht die Notwendigkeit der von
Ihnen geforderten Statusfeststellung. Abgesehen davon
können bei bestehenden Zweifeln, ob eine selbstständige
Tätigkeit oder eine abhängige Beschäftigung vorliegt,
sowohl der Auftraggeber als auch der Auftragnehmer
den Antrag auf Klärung des sozialversicherungsrechtli-
chen Status stellen.
Nun zu den Teilnahmemöglichkeiten von EU-Bür-
gern: Da sich die Integrationskurse in erster Linie an
Ausländer aus Drittstaaten richten, haben EU-Bürger
keinen Anspruch auf Teilnahme. Sie sind damit deut-
schen Staatsangehörigen rechtlich gleichgestellt und
können, wie diese auch, gar nicht zu einem Integrations-
kurs verpflichtet werden. Gleichwohl haben EU-Bürger
nach § 11 Freizügigkeitsgesetz in Verbindung mit § 44
Abs. 4 Aufenthaltsgesetz die Möglichkeit, an Integra-
tionskursen teilzunehmen. Im Rahmen verfügbarer
Kursplätze werden EU-Bürger bevorzugt zu Integra-
tionskursen zugelassen.
Da über das Zulassungsverfahren der Kursträger ein
flächendeckendes bundesweites Angebot an Integra-
tionskursen gesichert wird, können derzeit alle EU-Bür-
ger, die an einem Integrationskurs teilnehmen wollen,
ohne längere Wartezeiten zu einem Integrationskurs zu-
gelassen werden. Ich sehe hier deshalb überhaupt keinen
Handlungsbedarf.
Inhaber humanitärer Titel nach §§ 22, 23 Abs. 1, 23 a,
25 Abs. 3, 25 Abs. 5, 25 a Abs. 2 oder § 104 a Abs. 1
Satz 1 Aufenthaltsgesetz werden ebenfalls im Rahmen
verfügbarer Kursplätze zugelassen – § 44 Abs. 4 Aufent-
haltsgesetz. Damit haben sie die gleiche Rechtsstellung
wie EU-Bürger und können in der Praxis ebenfalls ohne
längere Wartezeiten an einem Integrationskurs teilneh-
men.
Mit Änderung der Integrationskursverordnung zum
1. März 2012 ist zudem der Kurszugang von Personen
mit humanitären Aufenthaltstiteln, die nach § 5 Abs. 3
Satz 2 Nr. 3 IntV vorrangig bei der Zulassung im Rah-
men verfügbarer Kursplätze nach § 44 Abs. 4 Aufent-
haltsgesetz zu berücksichtigen sind, ausgeweitet worden
auf Inhaber von Titeln nach §§ 23 a, 25 Abs. 3 und 25 a
Abs. 2 Aufenthaltsgesetz.
Nach geltender Rechtslage haben nur Ausländer, die
sich rechtmäßig und auf Dauer im Bundesgebiet aufhal-
ten, die Möglichkeit, an Integrationskursen teilzuneh-
men. Daher fallen darunter weder Geduldete – da kein
rechtmäßiger Aufenthalt – noch Asylbewerber – da, so-
lange das Asylverfahren nicht abgeschlossen ist, nicht
absehbar ist, ob sie sich überhaupt auf Dauer im Bundes-
gebiet aufhalten. Nur wenn diese Voraussetzungen vor-
liegen, ist Integration als umfassende Teilhabe an allen
Lebensbereichen überhaupt möglich und sinnvoll.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Fraktion der
SPD und Bündnis 90/Die Grünen, Sie versuchen in Ihren
Anträgen immer wieder, den Eindruck zu vermitteln, als
würde die christlich-liberale Koalition nicht genug für
die Integration hier lebender Ausländer tun. Die Wahr-
heit ist, dass wir jährlich – ich betone: jährlich – über
200 Millionen Euro in die Integrationskurse investieren.
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bietet
Alphabetisierungs-, Jugendintegrations-, Eltern- und
Frauenkurse an. Auch im ländlichen Raum wird durch
die Anzahl der zugelassenen Integrationskursträger ein
flächendeckendes Integrationskursangebot sicherge-
stellt. Im Rahmen des Nationalen Aktionsplans hat das
Bundesamt in Zusammenarbeit mit Experten Maßnah-
men zur Verbesserung des Kurszugangs gerade im länd-
lichen Raum erarbeitet, die bereits umgesetzt wurden.
Migration und Integration sind bedeutende Themen in
unserer Gesellschaft und in der Politik. Wir alle haben
ein eigenes Interesse daran, dass hier lebende Ausländer
sich so schnell es geht integrieren. Deshalb müssen wir
die Rahmenbedingungen von Migration und Integration
immer wieder an die Realitäten anpassen und dort nach-
bessern, wo es notwendig ist.
Ich möchte aber auch einmal darauf hinweisen, dass
wir jährlich Millionen für die Integration von Auslän-
dern ausgeben. In Europa gibt es nur wenige Länder, die
so bemüht um die Integration von Ausländern sind und
so viel Geld dafür zur Verfügung stellen, wie wir es tun.
Vielleicht sollten Sie hierüber einmal nachdenken.
Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD): Die Regierung
Merkel versteht sich in der Integrationspolitik sehr auf
Symbole: Gerne schmückt sie sich auf Empfängen mit
Gesichtern unserer Einwanderungsgesellschaft. Angela
Merkel initiierte Islam-, Integrations- und Bildungsgip-
fel. Gerne überreicht die Regierung Merkel Preise für
gelungene Integration. Symbole sind wichtig. Diese
„Grußtantenpolitik“ reicht aber nicht aus. Integrations-
politik muss sich daran messen lassen, ob sie wirklich
zur Verbesserung der Lebenssituation der in Deutschland
lebenden Menschen beiträgt.
Erinnern wir uns zurück: Die Integrationskurse sind
das Herzstück des rot-grünen Zuwanderungsgesetzes.
Sie haben sich als integrationspolitisches Erfolgsinstru-
ment bewährt: Sie erfreuen sich bei „alten“ und neuen
Einwanderinnen und Einwanderern großer Beliebtheit.
Das liegt auch an der hervorragenden Arbeit der Lehre-
rinnen und Lehrer dieser Kurse. Sie sind die Visitenkarte
Deutschlands.
Die Dozentinnen und Dozenten sind akademisch aus-
gebildete Fachkräfte für Sprach- und Gesellschaftsunter-
richt. Und sie leisten eine gesellschaftlich unverzicht-
bare Arbeit. Die teilweise prekären Arbeitsbedingungen
haben Lehrkräfte dazu gebracht, sich zu organisieren,
um gemeinschaftlich auf ihre schwierige Situation auf-
merksam zu machen. Viele arbeiten unter prekären Be-
dingungen, als Honorarkraft, zu niedrigen Löhnen, ohne
soziale Absicherung.
27718 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013
(A) (C)
(D)(B)
Wir nehmen ihre Sorgen und Nöte ernst. Daher haben
wir innerhalb der SPD-Fraktion intensiv beraten, wie die
Arbeitsbedingungen von Lehrkräften in Integrationskur-
sen verbessert werden können. Keine leichte Aufgabe!
An dieser Stelle danke ich den Vertreterinnen und Ver-
tretern aus Lehrkräfteinitiativen und Gewerkschaften für
ihre Expertise und ihr Engagement. Gemeinsam mit
meinen Fraktionskolleginnen und -kollegen aus den Be-
reichen Bildungs-, Arbeits- und Innenpolitik machen wir
im vorliegenden Antrag gute Vorschläge für die Verbes-
serung der Arbeitsbedingungen von Lehrkräften in Inte-
grationskursen.
Gute Bezahlung und faire Arbeitsbedingungen sind
unser Ziel. Hier haben wir und die Lehrkräfte auch die
Integrationsministerkonferenz auf unserer Seite.
Zwei Aspekte möchte ich in aller Kürze besonders
hervorheben, die aus Sicht der SPD-Bundestagsfraktion
von entscheidender Bedeutung sind, um gute Arbeitsbe-
dingungen für die Lehrkräfte zu erreichen:
Erstens. Wir wollen die Vergütung anheben. Gute und
qualifizierte Arbeit muss angemessen entlohnt werden.
Ich möchte nicht, dass die Lehrerinnen und Lehrer für
Integrationskurse aufstocken müssen. Sie sind akade-
misch ausgebildete Fachkräfte. Daher schlagen wir in ei-
nem ersten Schritt einen Mindestverdienst von 26 Euro
vor. Wir müssen als Politik unseren Gestaltungsauftrag
ernst nehmen und vorhandene Spielräume nutzen. Das
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge muss und soll
daher nach unserem Willen bei der Zulassung von Trä-
gern darauf hinwirken, dass die Vergütung von 26 Euro
nicht unterschritten wird. Diese Untergrenze soll aber
nicht in Stein gemeißelt sein. Perspektivisch wollen wir
die Vergütung weiter erhöhen.
Zweitens. Wir wollen die Quote der festangestellten
Lehrkräfte erhöhen. Auch dafür wollen wir die Gestal-
tungsspielräume innerhalb der Integrationskursverord-
nung nutzen. Lehrkräfte brauchen, wie alle anderen Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer auch, Planungssicher-
heit und eine soziale Absicherung. Mit Honorarvergü-
tung rücken Familien- und Lebensplanung für die Lehr-
kräfte in weite Ferne, und perspektivisch rückt Alters-
armut in Sichtweite. Daher wollen wir die Quote als
Qualitätskriterium in die Verordnung aufnehmen. In ei-
nem weiteren Schritt brauchen wir ein Konzept, das wei-
tere Möglichkeiten zur Erhöhung der Quote festange-
stellter Lehrkräfte aufzeigt. Das ist die Aufgabe der
Bundesregierung.
Wir wollen die Arbeit der Integrationslehrkräfte ange-
messen anerkennen und wertschätzen. Schließlich wol-
len wir die Besten, um die Teilnehmer mit größtmögli-
chem Erfolg durch die Kurse zu führen. Dafür müssen
wir sie qualifikationsangemessen bezahlen und ihre so-
ziale Absicherung verbessern. Nur wer angemessen ho-
noriert wird, kann dauerhaft gute und engagierte Arbeit
leisten.
Dieser Antrag ist sicher nicht der letzte Schritt auf
dem Weg. Wir haben uns in der Vergangenheit für eine
Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Lehrkräften
eingesetzt, und wir werden das weiterhin tun. Denn:
Symbole reichen hier nicht aus, Herr Minister Friedrich.
Oliver Kaczmarek (SPD): Erneut geht es heute um
Wertschätzung: Wertschätzung der Bedeutung von Ein-
wanderinnen und Einwanderern für unsere Gesellschaft,
Wertschätzung der integrationspolitischen Anstrengun-
gen, Wertschätzung der Arbeit hochqualifizierter Fach-
kräfte.
Die vorgeschriebenen Integrationskurse für Migran-
tinnen und Migranten sind ohne Zweifel ein wichtiger
Grundpfeiler für die Integration in Deutschland. Dem-
entsprechend ist die pädagogische Tätigkeit in Integra-
tionskursen sowohl für die Integrationspolitik als auch
für die Alphabetisierungs- und Grundbildungsarbeit un-
erlässlich. Dies spiegelt sich leider nicht in den Arbeits-
bedingungen und der Entlohnung der Integrationslehr-
kräfte wider.
Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft hat in
ihrem Schwarzbuch zur Arbeit in Integrationskursen die
prekären Arbeitsbedingungen der hochqualifizierten Pä-
dagoginnen und Pädagogen aufgezeigt und dringend
Verbesserungen angemahnt. Das Bundesamt für Migra-
tion und Flüchtlinge, das die Integrationskurse organi-
siert und über die Träger finanziert, weiß bestens über
die inakzeptablen Verhältnisse Bescheid – hat es doch
selbst ein Gutachten in Auftrag gegeben, das eine unter-
durchschnittliche Vergütung der Lehrkräfte konstatiert.
So sieht echte Wertschätzung nicht aus.
Die SPD-Bundestagsfraktion hat als erste Fraktion auf
die erschreckenden Ergebnisse der leo.-Level-One-Studie
reagiert. Besonders die immens hohe Zahl funktionaler
Analphabeten in Deutschland – 7,5 Millionen Menschen
im erwerbsfähigen Alter – muss endlich reduziert wer-
den. Neben den örtlichen Volkshochschulen leisten auch
die Integrationskurse einen wichtigen Beitrag zur Alpha-
betisierung und Grundbildung in Deutschland. Sie wer-
den in der überwiegenden Mehrheit von kleinen, lokalen
Trägern angeboten. Wenn man einmal mit diesen Trä-
gern spricht, wird deutlich, dass diese die Arbeitsbedin-
gungen ihrer Lehrkräfte auch sehr gerne verbessern wür-
den. Sie sind jedoch schlicht und einfach nicht in der
Lage, die unzureichende Vergütung durch das BAMF
aus eigenen Mitteln aufzustocken. Genauso wenig kön-
nen sie die Ausfälle bei den Sozialversicherungsbeiträ-
gen auffangen. Und das sollte auch nicht ihre Aufgabe
sein. Integration ist eine gesamtstaatliche Aufgabe, und
der Bund muss dringend seiner Verantwortung gerecht
werden, indem er für eine qualifikationsangemessene
Bezahlung und faire Arbeitsbedingungen Sorge trägt.
Deshalb legen wir heute diesen Antrag vor, der vielfach
auch mit den betroffenen Lehrkräften, Trägern und
Kommunen besprochen wurde.
Die herausgehobene Bedeutung der Arbeit in Integra-
tionskursen für unsere gesamte Gesellschaft muss sich
endlich in Wertschätzung der Lehrkräfte, also auch in ei-
ner angemessenen Entlohnung und in sozialer Absiche-
rung, niederschlagen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 27719
(A) (C)
(D)(B)
Serkan Tören (FDP): Ich muss mich doch sehr
wundern. SPD und Grüne werfen der Regierungskoali-
tion vor, die Lehrkräfte von Integrationskursen würden
viel zu wenig verdienen. Sie fordern ein, dass dies
schnellstmöglich geändert werden müsse. Sie werden
nicht müde, die vermeintliche Ungerechtigkeit landauf,
landab anzuprangern. Sie brüsten sich damit, die Integra-
tionskurse eingeführt zu haben. Aber sie verschweigen,
was sie damals den Lehrkräften der Integrationskurse
gezahlt haben. Den Kostenerstattungssatz hat die rot-
grüne Bundesregierung 2005 auf 2 Euro und 5 Cent fest-
gesetzt. Schwarz-Rot hat ihn 2007 auf 2,35 Euro ange-
hoben. Schwarz-Gelb hat dann 2011 auf 2,54 Euro auf-
gestockt und schließlich dieses Jahr auf 2,94 Euro. Der
Kostenerstattungssatz unter CDU/CSU und FDP ist
heute anderthalbmal so hoch wie unter SPD und Grünen.
Anderthalbmal so hoch! Sie haben damals festgelegt, auf
welchem Niveau die Entlohnung der Lehrkräfte gestartet
ist. Wir haben ordentlich draufgelegt. Und nun ist die
Entlohnung angeblich ausbeuterisch? So nicht, meine
Damen und Herren von SPD und Grünen!
Bei den Integrationskursen haben SPD und Grüne
längst auf Wahlkampf umgeschaltet. Groß war die Auf-
regung, als das Gesamtbudget für die Integrationskurse
auf 209 Millionen Euro festgesetzt worden ist. Daniela
Kolbe von der SPD erklärte: „Zum Nulltarif ist gelun-
gene Integration aber nicht zu haben.“ Frau Kolbe, wis-
sen Sie, wie SPD und Grüne die Integrationskurse aus-
gestattet haben? Mit 208 Millionen Euro pro Jahr! Wie
kann eine Summe, die bei Ihnen damals offenbar voll-
kommen ausgereicht hat, bei uns zu niedrig sein?
Nun fordern Sie eine Erhöhung des Budgets für Inte-
grationskurse um mehr als 40 Millionen Euro. Auch das
widerspricht Ihrem eigenen Handeln. Schwarz-Gelb in-
vestiert nach wie vor insgesamt mehr in die Integrations-
kurse als Rot-Grün. Der Kostenerstattungssatz ist sogar
anderthalbmal so hoch. Entweder haben Sie damals
nicht genügend in die Integrationskurse investiert und
damit die von Ihnen gesehenen Probleme erst hervorge-
rufen – oder aber die Situation ist weit weniger drama-
tisch als von Ihnen geschildert.
Viel hilft viel. Nach diesem Motto wollen Sie mit der
Gießkanne Geld verteilen. Lassen Sie uns aber mal von
der Gießkanne ablassen, die Ihnen nicht groß genug sein
kann! Schauen wir auf das Feld, das damit gegossen
werden soll! Mehr als 1 Million Menschen haben mitt-
lerweile an den Integrationskursen teilgenommen. Von
Jahr zu Jahr nehmen deshalb weniger Menschen an Inte-
grationskursen teil. Sie kritisieren, dass weniger Men-
schen an den Kursen teilnehmen – ich freue mich da-
rüber, dass offenbar immer weniger Menschen die
Integrationskurse brauchen. Ihnen gefällt einfach nicht,
dass die Menschen sich integrieren und nicht mehr auf
staatliche Hilfe angewiesen sind. Wir brauchen keine
neuen Abhängigkeiten, sondern gut funktionierende In-
tegrationskurse.
Da die Altzuwanderer nach und nach an den Integra-
tionskursen teilnehmen oder schon teilgenommen haben,
sinkt der Bedarf für Plätze in Integrationskursen. Daran
ändert auch eine Öffnung der Integrationskurse für
Flüchtlinge nichts, die ich mir ebenfalls vorstellen kann.
Die Zeit der hohen Teilnehmerzahlen ist vorbei. Wir tre-
ten nun in eine Phase ein, in der sich das Angebot bei
den Integrationskursen neu ordnet. Ging es früher da-
rum, möglichst viele Kurse anzubieten, so wird sich in
den kommenden Jahren zeigen, welche Integrationskurs-
träger sich erfolgreich am Markt behaupten können. Das
werden diejenigen sein, die hohe Synergieeffekte erzie-
len, weil sie ihre Strukturen nicht allein über Integra-
tionskurse finanzieren, sondern auch über andere Ange-
bote. Und es werden diejenigen sein, die die besten
Integrationskurslehrer beschäftigen und sie entsprechend
entlohnen. Dieser Trend ist bei der Zusammensetzung
der Integrationskursträger längst absehbar.
In der Phase der hohen Teilnehmerzahlen haben sich
Kapazitäten ausgebildet, die schon heute nicht mehr und
in Zukunft noch weniger gebraucht werden. Das ist of-
fenbar auch SPD und Grünen klar. Anders ist mir nicht
zu erklären, warum sie nun ständig nach mehr Festan-
stellungen von Integrationskurslehrkräften rufen. Wir
Liberale lehnen strikt ab, dass den Integrationskursträ-
gern feste Quoten für Festanstellungen vorgeschrieben
werden. Träger und Lehrkräfte müssen eigenständig mit-
einander verhandeln können. Da hat der Staat nicht mit-
zureden. Hand aufs Herz: Liebe Kolleginnen und Kolle-
gen von SPD und Grünen, Sie fordern die Quoten für
Festanstellungen für Integrationskurslehrkräfte doch nur,
weil Sie wissen, dass die Beschäftigung einiger Lehr-
kräfte anders gar nicht auf Dauer gesichert werden kann.
Sie betreiben Lobbypolitik für die Integrationskurslehr-
kräfte, nicht für die Integration in Deutschland. Das ist
Ihr gutes Recht. Das müssen Sie dann aber auch klar be-
nennen.
Wir Liberale bemessen den Erfolg der Integration in
Deutschland nicht daran, wie viele Menschen mit der In-
tegration ihr Geld verdienen. Wir bemessen den Erfolg
der Integration in Deutschland daran, wie viele Men-
schen in Deutschland gut integriert sind. Wir sind noch
nicht am Ziel, aber unsere Erfolge brauchen wir nicht zu
verstecken. Während wir dafür sorgen, dass die Integra-
tion in diesem Land voranschreitet, machen Sie leere
Versprechungen für den Wahlkampf. Das ist schade und
hilft keinem Teilnehmer eines Integrationskurses.
Sevim Dağdelen (DIE LINKE): Im November 2012
vermeldete das Bundesamt für Migration und Flücht-
linge höhere Erfolgsquoten bei Sprachprüfungen der In-
tegrationskurse. Wir freuen uns natürlich, dass immer
mehr Menschen den Sprachkurs mit Bestnote abschlie-
ßen.
Schlecht ist allerdings, dass für knapp die Hälfte aller
Kursabsolventinnen und -absolventen der Kursabschluss
keineswegs ein Grund zur Freude ist, weil sie das gefor-
derte Sprachniveau verfehlten. Seit Mitte 2011 erhalten
infolge einer Gesetzesverschärfung nur diejenigen Migran-
tinnen und Migranten eine mehr als einjährige Aufent-
haltserlaubnis, die den Kurs auf dem höchsten Sprachniveau
beenden konnten. Das ist pädagogisches Steinzeitalter
und eine Bestrafungspolitik gerade für sozial- und bil-
27720 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013
(A) (C)
(D)(B)
dungsbenachteiligte und ältere Menschen, die die Linke
entschieden ablehnt.
Kein Grund zur Freude ist auch, dass die Mittel für
die so hoch gelobten Integrationskurse jüngst um
15 Millionen Euro gekürzt wurden. Bisher für die Inte-
grationskurse vorgesehene Gelder werden wegen selbst-
verschuldet rückläufiger Teilnahmezahlen nicht etwa für
eine Ausweitung und Verbesserung des Kursangebots
oder eine bessere Bezahlung der Lehrkräfte verwendet,
nein, diese Mittel sollen ausgerechnet unter anderem der
Bundespolizei zugeschanzt werden, die mit ihren rassis-
tischen Kontrollpraktiken, dem sogenannten Racial Pro-
filing, nicht Integration, sondern Ausgrenzung befördert.
Keinen Grund zur Freude haben auch jene, die maß-
geblich für das erfolgreiche Abschneiden der Integrations-
kursteilnehmerinnen und -teilnehmer mitverantwortlich
sind: die Lehrkräfte. Denn die angebliche Erfolgsge-
schichte der Integrationskurse ist auch eine Geschichte
der Unterbezahlung, der prekären Beschäftigung und der
Missachtung der qualifizierten Arbeit der Lehrkräfte,
wie die GEW in ihrem Schwarzbuch zu den Integra-
tionskursen zurecht beklagt.
Um es vorweg zu sagen: Die Linke ist vermutlich die
einzige Partei, die die absolut berechtigten Forderungen
der Lehrkräfte nach besserer Bezahlung von Anfang an
voll und ganz unterstützt hat. Schließlich wurde das jet-
zige mangelhafte Integrationskurssystem von Rot-Grün
geschaffen, von Schwarz-Rot fortgeführt und jetzt von
Schwarz-Gelb verwaltet – ohne, dass es in dieser langen
Zeit irgendwelche substanziellen Verbesserungen für die
Lehrkräfte gegeben hätte. Es ist in meinen Augen uner-
träglich, dass sich die Bundesregierung der Integrations-
kurse als Vorzeigeprojekt rühmt, während zugleich all
diejenigen, die sich dieser wichtigen Arbeit alltäglich
mit Engagement, Menschenkenntnis und hoher Qualifi-
kation widmen, mit Hungerlöhnen abgespeist und häufig
in prekäre Scheinselbstständigkeit gepresst werden.
Die Linke kritisiert seit langem die zunehmend pre-
käre Beschäftigungssituation von Menschen in Deutsch-
land, aber eben auch von Lehrkräften in Integrationskur-
sen, und fordert substanzielle Änderungen. In den letzten
Jahren haben wir im Rahmen mehrerer Kleiner Anfragen
auf die „unzumutbaren Arbeitsbedingungen in Integra-
tionskursen“ – so zum Beispiel erstmalig auf Bundes-
tagsdrucksache 16/13972 – hingewiesen.
Seit Einführung der Integrationskurse verlangt die
Linke bei den alljährlichen Haushaltsberatungen im Bun-
destag eine Aufstockung des entsprechenden Etats – aus-
drücklich auch mit der Begründung einer besseren Be-
zahlung der Lehrkräfte. Die Linke will, dass endlich
Schluss ist mit dieser Politik, die zulasten der Lehrkräfte
und der Migrantinnen und Migranten geht, während sich
die Bundesregierung heuchlerisch einer angeblichen Er-
folgsgeschichte rühmt.
Im derzeitigen Rahmen überwiegend scheinselbst-
ständiger Lehrtätigkeit ist die Anhebung der Honorare
auf 30 Euro pro Unterrichtseinheit, die wir seit Jahren
fordern, nur eine Mindestmaßnahme, wie wir immer er-
klärt haben. Mittelfristig streben wir ein ganz anders
strukturiertes Integrationskurssystem an, das den in die-
sem Bereich tätigen Lehrkräften gute Arbeitsbedingun-
gen, sichere Beschäftigungsverhältnisse und faire Löhne
sichert – idealerweise in sozialversicherungspflichtigen
Beschäftigungsverhältnissen, in jedem Fall aber unter
Berücksichtigung von Urlaubs- und Weiterbildungsan-
sprüchen, Krankheitszeiten, der Sicherung von Renten-
ansprüchen usw.
Es ist zu begrüßen, dass SPD und Grüne aus ihrem
neoliberalen Tiefschlaf zumindest teilweise erwacht
sind. Hatten beide 2005 noch gar keine Mindesthonorare
vorgesehen, fordern die Grünen nun ebenfalls 30 Euro –
jedenfalls in ihrem aktuellen Antrag. In einem anderen,
ebenfalls noch im parlamentarischen Verfahren befind-
lichen Antrag, der erst gut ein Jahr alt ist – Bundestags-
drucksache 17/7639 –, sind es nur 24 Euro. Die SPD
liegt aktuell bei 26 Euro.
Was Grüne und SPD gerne unerwähnt lassen, ist, dass
die eklatanten Schwächen des Integrationskurssystems
von Rot-Grün zu verantworten sind. Das rot-grüne Inte-
grationskurssystem führte wegen der unzureichenden
Trägerpauschale zu sinkenden Honoraren der Lehrkräfte
von unter 10, 12 oder 15 Euro, und bereits vor dem Jahr
2005 wurde fachlich kritisiert, dass die damals unter-
schiedslos für alle geltenden 600 Stunden zur Erreichung
des Sprachniveaus B1 des Gemeinsamen Europäischen
Referenzrahmens völlig unzureichend waren. Bei aller
Kritik am jetzigen Integrationskurssystem muss man
deshalb eines feststellen: Was Rot-Grün 2005 zu verant-
worten hatte, war weitaus schlechter.
Die Linke strebt eine grundlegende Umgestaltung des
Integrationskurssystems an. Im Rahmen der Haushalts-
beratungen haben wir uns bislang auf Forderungen zu
Mindesthonoraren beschränkt. Dazu, wie ein grundlegend
anderes Integrationskurssystem im Detail ausgestaltet
werden müsste, werden wir bald Vorschläge machen.
Dabei könnte eine Möglichkeit sein, dass die Lehrkräfte
als abhängig Beschäftigte im Sinne des § 7 SGB IV ein-
gestuft und entsprechend nach Tarif bezahlen werden.
Die Linke will ein umfassendes und qualitativ hoch-
wertiges Sprachkursangebot ohne Zwangsandrohungen
und aufenthaltsrechtliche Sanktionen. Wir setzen auf die
Freiwilligkeit des Lernens und kritisieren die Instrumen-
talisierung des Spracherwerbs als ein Sanktionierungs-
mittel gegen vermeintlich integrationsunwillige Migran-
tinnen und Migranten. Auch viele Lehrkräfte lehnen
diese Einbindung in ein immer mehr auf Zwang setzen-
des Integrationskurssystem ab. Daneben wollen wir eine
Ausweitung des zugangsberechtigten Personenkreises,
zum Beispiel auf Asylsuchende und Flüchtlinge mit
noch ungesichertem Aufenthaltsstatus.
Dies und anderes wollen wir gemeinsam mit Lehr-
kräften, Gewerkschaften und anderen Expertinnen und
Experten schon bald diskutieren.
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Wir haben uns schon des Öfteren mit den Integrations-
kursen hier im Deutschen Bundestag beschäftigt, und
das hat einen guten Grund; denn die Bundesregierung ist
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 27721
(A) (C)
(D)(B)
bei diesem Thema ausgesprochen doppelzüngig unter-
wegs: Einerseits lässt sie keine Gelegenheit aus, zu beto-
nen, wie wichtig Deutschkenntnisse für eine gelungene
Integration sind. Andererseits sind unter ihrer Ägide die
Bedingungen, unter denen diese Kurse stattfinden, im-
mer schlechter geworden – sowohl für die Kursteilneh-
merinnen und Kursteilnehmer als auch für die Lehr-
kräfte. Das passt nicht zusammen.
Die Integrationskurse sind das Herzstück der Integra-
tionspolitik, und an die Lehrkräfte werden hohe Anfor-
derungen gestellt. Doch die Erfahrungen zeigen: Die
Bundesregierung verlangt viel und gibt wenig. Das spü-
ren die Lehrkräfte Monat für Monat in ihrem Geldbeutel.
Inzwischen ist sogar die Qualität der Kurse durch die mi-
serable Bezahlung der Kurslehrkräfte gefährdet.
Lediglich 25 Prozent der Lehrkräfte arbeiten in einem
festen Beschäftigungsverhältnis und werden angemessen
bezahlt. Die überwältigende Mehrzahl der rund 17 000
studierten Lehrkräfte aber ist freiberuflich tätig. Der
Stundensatz für diese Kräfte in den Integrationskursen
beläuft sich gegenwärtig auf durchschnittlich 18 Euro
brutto. Davon müssen aber auch noch Sozialversiche-
rungsabgaben gezahlt und Altersvorsorge betrieben wer-
den. Wie viel dann noch von diesen 18 Euro Stunden-
lohn übrig bleibt, kann sich jeder vorstellen.
Freiberufliche Lehrkräfte können sich nicht darauf
verlassen, eine fixe Stundenzahl arbeiten zu können,
Lohnfortzahlung bei Kursausfall oder im Krankheitsfall
sind Fremdwörter für sie. Sie leben im Ungewissen. Die
Höhe der Vergütung kann diese Unsicherheit nicht auf-
fangen. Die Folge ist, dass viele von ihnen gezwunge-
nermaßen die Altersvorsorge vernachlässigen und ergän-
zende Sozialleistungen in Anspruch nehmen müssen.
Das darf nicht sein.
Die Probleme sind lange bekannt, aber die Bundesre-
gierung hat immer noch keine geeigneten Maßnahmen
für bessere Arbeits- und Entlohnungsbedingungen der
freiberuflichen Lehrkräfte vorgelegt. Das geht nicht. Die
Bundesregierung beauftragt die Integrationskurse und
kann sich nicht darauf beschränken, auf die Verantwor-
tung der Kursträger zu verweisen. Sie können sofort
handeln und unverzüglich eine Rechtsgrundlage erlas-
sen, die eine Mindestvergütungsgrenze für freiberufliche
Lehrkräfte in Höhe von 30 Euro festschreibt.
Auch das Problem Scheinselbstständigkeit müssen Sie
angehen. Wo sind Ihre Vorschläge? Wie gehen Sie damit
um, dass der Wissenschaftliche Dienst attestiert hat, dass
etliche Indizien dafür sprechen, dass viele Lehrkräfte
scheinselbstständig sind? Schweigen im Walde reicht da
nicht.
Probleme bestehen aber nicht nur bei der Vergütung
der Integrationskurse. Der Zugang zu diesen Kursen ist
immer noch nicht für alle Zuwanderinnen und Zuwande-
rer gewährleistet. Ihre eigene Integrationsbeauftragte
fordert den Teilnahmeanspruch auch für Unionsbürge-
rinnen und Unionsbürger. Und da hat sie recht. Schauen
Sie doch auf die aktuelle Entwicklung: Die Einwande-
rung aus den Mitgliedstaaten der Europäischen Union
nach Deutschland nahm allein im Jahr 2011 um 34 Pro-
zent zu. Für diese Menschen ist es wichtig, die deutsche
Sprache zu lernen.
Und das gilt auch für Asylsuchende und Geduldete.
Sie sind hier – und das nicht nur vorübergehend. Sie
wollen sich integrieren, und dabei müssen wir sie unter-
stützen. Der Zugang zu den Integrationskursen ist dafür
auch für sie unerlässlich.
Es gibt viel zu tun. Lassen Sie es uns gemeinsam an-
packen!
Anlage 10
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch
und anderer Gesetze (Tagesordnungspunkt 22)
Heike Brehmer (CDU/CSU): Bildung ist der Schlüs-
sel für die Zukunft unserer Kinder. In der christlich-libe-
ralen Koalition wollen wir, dass alle Kinder und Jugend-
lichen unabhängig von ihrer Herkunft und den
finanziellen Möglichkeiten ihrer Eltern eine Chance auf
Bildung und Teilhabe erhalten.
Mit dem Bildungs- und Teilhabepaket ermöglichen
wir Kindern und Jugendlichen aus sozial schwächeren
Familien, an Bildungs- und Teilhabeangeboten erstmals
seit dem 1. Januar 2011 teilzunehmen. Mit dem Bil-
dungs- und Teilhabepaket ermöglichen wir zum Beispiel
die Mitgliedschaft im Sport- oder Musikverein ebenso
wie das warme Mittagessen in der Kita, in der Schule
oder im Hort.
Infolge des Bundesverfassungsgerichtsurteils vom
9. Februar 2010 ist das Bildungs- und Teilhabepaket mit
dem Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur
Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialge-
setzbuch rückwirkend zum 1. Januar 2011 eingeführt
worden. Das Bildungs- und Teilhabepaket beinhaltet fol-
gende Leistungen: die Kosten für ein- oder mehrtägige
Ausflüge in der Schule oder der Kita, die Leistungen für
den persönlichen Schulbedarf in einer Höhe von 70 Euro
jeweils zum 1. August und 30 Euro jeweils zum 1. Februar
eines Schuljahres, die Kosten für die Schülerbeförderung,
wenn diese erforderlich ist, die Kosten für schulnahe
Lernförderung, die Mehrkosten für ein gemeinschaftli-
ches Mittagessen in der Schule, Kita oder in der Kinder-
tagespflege.
Bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres werden
ebenfalls monatlich insgesamt 10 Euro zur gesellschaft-
lichen Teilhabe berücksichtigt wie etwa die Mitglied-
schaft in Vereinen, zum Beispiel in Sport- oder Musik-
vereinen.
Anspruchsberechtigt für das Bildungs- und Teilhabe-
paket sind nicht nur die Kinder und Jugendlichen in der
Grundsicherung gemäß dem Zweiten Buch Sozialgesetz-
buch, SGB II, sondern auch in der Sozialhilfe gemäß
dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch, SGB XII. Kinder
und Jugendliche, deren Eltern Anspruch auf Kindergeld-
zuschlag oder Wohngeld erhalten oder welche unter das
27722 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013
(A) (C)
(D)(B)
Asylbewerberleistungsgesetz fallen, werden im Bil-
dungs- und Teilhabepaket ebenfalls berücksichtigt.
Inzwischen sind rund zwei Jahre in der Umsetzung
des Bildungs- und Teilhabepakets vergangen. Nach an-
fänglichen Anlaufschwierigkeiten wird das Bildungs-
und Teilhabepaket gut von den betroffenen Familien an-
genommen. Die kommunalen Träger leisten eine hervor-
ragende Arbeit vor Ort und sind zuverlässige Ansprech-
partner für die Betroffenen.
Nach zwei Jahren Praxiserfahrung soll mit dem vor-
liegenden Gesetzentwurf die Inanspruchnahme für die
betroffenen Familien und die kommunalen Träger vor
Ort vereinfacht und sollen bürokratische Hürden verrin-
gert werden. Der Deutsche Landkreistag als Vertreter der
Landkreise hat dazu konstruktive Vorschläge zur Ver-
waltungsvereinfachung unterbreitet.
Unsere Ministerin, Frau Dr. Ursula von der Leyen, hat
mit der Etablierung der Runden Tische sofort auf die an-
fänglichen Anlaufschwierigkeiten des Bildungs- und
Teilhabepakets reagiert. Unter Leitung des Bundes-
ministeriums für Arbeit und Soziales können die ver-
schiedenen Akteure rund um das Bildungs- und Teilha-
bepaket an den Runden Tischen ihre Erfahrungen
austauschen.
Die Vertreter von Bund, Ländern und kommunalen
Spitzenverbänden haben sich beim vierten gemeinsamen
Runden Tisch am 15. Oktober 2012 auf eine Vereinfa-
chung des Bildungs- und Teilhabepakets geeinigt. Die
Bund-Länder-AG „Bildung und Teilhabe“ hat daraufhin
Vorschläge erarbeitet, welche von den Arbeits- und So-
zialministern der Länder aufgegriffen wurden.
An dieser Stelle möchte ich Ihnen gern einige Bei-
spiele zur Verwaltungsvereinfachung aufzählen, auf wel-
che sich die Länder einstimmig verständigt haben:
Zum Beispiel sollen Leistungen, die künftig nicht
rechtzeitig erbracht werden, wie etwa vor einem Schul-
oder Kitaausflug, auch im Nachhinein erstattet werden
können.
Der Eigenanteil bei der Schülerbeförderung soll zu-
künftig in der Regel bei einem Wert von 5 Euro angesetzt
werden. Dieser Wert ergibt sich aus aktuellen Datenerhe-
bungen zum Mobilitätsverhalten von Schülerinnen und
Schülern. Ich zitiere aus dem Gesetzentwurf: „Als zumut-
bare Eigenleistung gilt in der Regel ein Betrag in Höhe
von 5 Euro monatlich.“
In Zukunft soll es in Ausnahmefällen möglich sein,
die Teilhabeleistung von 10 Euro pro Monat nicht nur
für die Vereinsmitgliedschaft zu verwenden, sondern
auch für Ausrüstungsgegenstände in Sport oder Kultur.
Hier sind spezielle Sportkleidung oder die Ausstattung
mit einem Musikinstrument denkbar.
Um die Teilnahme an Klassenfahrten oder Kitaausflü-
gen zu erleichtern, sollen die kommunalen Träger nach
ihrem Ermessen die Möglichkeit erhalten, Mittel hierfür
auch als Geldleistungen zu erbringen.
Für den Bereich Teilhabe soll es möglich sein, Mittel
für Freizeiten und andere Angebote im Bewilligungs-
zeitraum auch rückwirkend anzusparen.
Weiterhin soll es möglich sein, dass Träger mit den
Leistungserbringern auch im SGB XII pauschal abrech-
nen können.
Der vorliegende Gesetzentwurf leistet einen wichti-
gen Beitrag zur Vereinfachung und Optimierung des Bil-
dungs- und Teilhabepaketes. Die Vorschläge zur Verwal-
tungsvereinfachung wurden unter anderem durch den
Deutschen Landkreistag eingebracht, welcher die Erfah-
rungen der Landkreise mit in den vorliegenden Gesetz-
entwurf eingebracht hat.
Mit dem Bildungs- und Teilhabepaket haben wir erst-
mals seit der Einführung der Hartz-IV-Gesetze durch die
rot-grüne Bundesregierung im Jahr 2005 bedürftigen
Kindern und Jugendlichen eine Chance gegeben, an Bil-
dungs- und Freizeitangeboten teilzunehmen. Verehrte
Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, ich ap-
pelliere an Sie, in der heutigen zweiten und dritten Le-
sung dem Gesetzentwurf zuzustimmen, welcher von der
Bund-Länder-AG konstruktiv vorbereitet wurde, und
sich nicht aus der Verantwortung zu nehmen, wenn es
darum geht, Kindern und Jugendlichen die Chance auf
Bildung und Teilhabe zu ermöglichen. Mit dem Gesetz
soll das Bildungs- und Teilhabepaket für betroffene Fa-
milien und Träger vereinfacht werden. Kindern und Ju-
gendlichen sollen echte Zukunftschancen ermöglicht
werden. Denn wir dürfen nicht vergessen: Kinder sind
unsere Zukunft.
Angelika Krüger-Leißner (SPD): Uns liegt heute
der Gesetzentwurf der Bundesländer zu Änderungen im
Bildungs- und Teilhabepaket zur abschließenden Bera-
tung vor. Wir wissen alle, dass das Bildungs- und Teilha-
bepaket gut gemeint war – aber nicht gut gemacht wurde.
Nach zwei Jahren müssen wir feststellen, dass die
Leistungen zur Garantie des verfassungsrechtlich ge-
währten sozio-kulturellen Existenzminimums – und die
Zahlen belegen das – die Kinder und Jugendlichen nur in
geringem Maße erreichen. Das ist uns zu wenig und hat
mit gerechter Teilhabe nichts zu tun.
Die vielen komplizierten, bürokratischen und diskri-
minierenden Regelungen im Bildungs- und Teilhabepa-
ket bilden eine hohe Hemmschwelle und halten viele
Anspruchsberechtigte davon ab, die gewährten Leistun-
gen in Anspruch zu nehmen. Das ist ein Desaster, vor al-
lem vor dem Hintergrund, dass der Bund eine erhebliche
Summe Geld für die Teilhabe von Kindern und Jugendli-
chen an Bildung und am gesellschaftlichen Leben, im
sportlichen wie kreativen Bereich, zur Verfügung stellt,
es aber viel zu wenig bei den Kindern ankommt.
Umso schlimmer ist, dass diese Probleme von vorn-
herein absehbar waren. Wir haben in unserem Antrag
„Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes durch eine
transparente Bemessung der Regelsätze und eine Förde-
rung der Teilhabe von Kindern umsetzen“ – Bundestags-
drucksache 17/3648 – frühzeitig auf die zu erwartenden
Probleme und Risiken hingewiesen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 27723
(A) (C)
(D)(B)
Aber diese Bundesregierung und die Koalitionsfrak-
tionen wollten das nicht wahrhaben. Einige der Kollegen
von Schwarz-Gelb hatten das auch erkannt und wie wir
gefordert, die Leistungen zur Teilhabe nicht über das
diskriminierende und verwaltungstechnisch aufwendige
Sach- und Dienstleistungsprinzip zu gewähren, sondern
sie mit den Regelleistungen auszuzahlen.
Ihre Verweigerungshaltung ist für mich ein Ausdruck
dafür, dass Sie sozial Schwächere unter Generalverdacht
stellen und ihnen damit vorwerfen, nicht für ihre Kinder
sorgen zu wollen. Das ist nicht nur falsch, sondern auch
zynisch.
Die aktuelle Situation darf uns nicht ruhen lassen, ge-
meinsam nach besseren Lösungen zu suchen. Die Pro-
bleme wurden von vielen Seiten angesprochen und er-
kannt. Es freut mich, dass sich der Bund und die Länder
mit den kommunalen Spitzenverbänden auf einen Ver-
besserungskatalog einigten und den nun vorliegenden
Gesetzentwurf entwickelt haben.
Wir begrüßen die auf Initiative der Bundesländer ein-
gebrachten gesetzlichen Änderungen des Bildungs- und
Teilhabepakets – Bundestagsdrucksache 17/12036 –, die
zum 1. August 2013 in Kraft treten werden. Diese führen
zu einem geringeren Verwaltungsaufwand, wovon auch
die Leistungsberechtigten profitieren werden.
So kann künftig der monatliche Teilhabebetrag von
derzeit 10 Euro flexibler gewährt und in begründeten
Ausnahmefällen auch zur Beschaffung von Ausrüs-
tungsgegenständen oder für andere Aufwendungen ver-
wendet werden – wie zum Beispiel sportbezogene
Schutzkleidung oder Musikbedarf. Zudem können An-
sparungen vorgenommen und die monatliche Teilhabe-
leistung als Budget für größere Beträge verwendet wer-
den.
Ermöglicht wird außerdem die nachträgliche Erstat-
tung verauslagter Gelder für Bildungs- und Teilhabeleis-
tungen in Fällen begründeter Selbsthilfe. Dies gilt bei-
spielsweise dann, wenn Anbieter auf Barzahlung be-
stehen oder der kommunale Träger die Sach- oder
Dienstleistung nicht rechtzeitig veranlassen kann.
Auch Geldleistungen für Klassenfahrten oder Aus-
flüge sind künftig möglich, wenn es beispielsweise kei-
nen Leistungsanbieter gibt, der eine Direktzahlung ent-
gegennimmt, und dadurch die Gefahr besteht, dass das
Kind nicht teilnehmen kann.
Bei Schülerfahrkarten, die auch privat nutzbar sind,
wird als Regelfall ein zumutbarer Eigenanteil von 5 Euro
festgelegt.
Diese Änderungen sind ein erster Schritt hin zu weni-
ger Bürokratie. Die grundsätzlichen Konstruktionsfeh-
ler bleiben jedoch nach wie vor bestehen und werden le-
diglich in ihren Auswirkungen abgemildert.
Der vorliegende Gesetzentwurf bringt eine Reihe von
Verbesserungen, sowohl für die Antragsberechtigten als
auch für die Verwaltungen. Dennoch kann er nicht da-
rüber hinwegtäuschen, dass weiterer Verbesserungsbe-
darf besteht, um ein gleichberechtigtes Maß an Teilhabe
am gesellschaftlichen Leben und einen gleichberechtigten
Zugang zu Bildung zu ermöglichen.
Viele Vertreter aus der Praxis und einige Länderver-
treter haben weitere Schritte aufgezeigt. Dieses Bil-
dungs- und Teilhabepaket und die damit unnötigerweise
einhergehende Bürokratie wären überhaupt nicht nötig,
wenn die Gewährleistung der sozio-kulturellen Teilhabe
für Kinder und Jugendliche über die Anpassung der Re-
gelsätze erfolgt wäre. Selbst eine CSU-Ministerin, Frau
Haderthauer, machte den Vorschlag, den Teilhabebetrag
von 10 Euro in den Regelbedarf mit einzubeziehen. Das
hätten Sie aufgreifen können. Sie sollten ernsthaft prü-
fen, ob diese und weitere Leistungen nicht sehr schnell
in den Regelsatz eingerechnet werden können.
Dann blieben nur wenige Einzelleistungen zur Ent-
scheidung übrig, die auch von den Verwaltungen bewäl-
tigt werden können. Wir können die Chancengleichheit
der Kinder und Jugendlichen in unserem Land mit dieser
gesetzlichen Regelung lediglich ein Stück verbessern.
Das unterschreiben wir dann auch. Wir würden aber
gerne mehr tun.
Unsere Vorschläge zum Ausbau der Bildungs- und
Betreuungsinfrastruktur liegen auf dem Tisch, und wir
werden sie in einem Antrag erneut zur Diskussion stel-
len. Wir wollen den Kindern und Jugendlichen echte Zu-
kunftschancen und mehr Bildungsgerechtigkeit geben,
und zwar unabhängig von den finanziellen Möglichkei-
ten der Eltern.
Wir werden unserer Überzeugung folgend weiterhin
dafür kämpfen, dass das Bildungs- und Teilhabepaket
überflüssig wird. Wir werden unsere Vorschläge umset-
zen, wenn nicht jetzt, dann im Herbst dieses Jahres.
Pascal Kober (FDP): Das Ziel des heute zu
beschließenden Gesetzes ist es, die bisherigen Praxiser-
fahrungen beim Bildungs- und Teilhabepaket zum An-
lass zu nehmen, um dessen Umsetzung noch weiter zu
vereinfachen. Da dies im Interesse der Kinder und
Jugendlichen ist, deren Eltern Arbeitslosengeld II bezie-
hen, ist es ein gutes Zeichen, wenn wir heute mit breiter
Mehrheit das Gesetz beschließen werden.
Es beinhaltet ganz konkrete Verbesserungen, sodass
das Bildungs- und Teilhabepaket noch besser wirken
kann. Zu den Änderungen gehören insbesondere gesetz-
liche Klarstellungen zu Punkten, die bisher nicht einheit-
lich von den Kommunen umgesetzt wurden, so zum
Beispiel die ausnahmsweise Erstattung bereits veraus-
lagter Mittel. Wir schaffen aber auch neue Möglichkei-
ten, dass der Teilhabebetrag von 10 Euro pro Monat
auch für die Anschaffung von Instrumenten oder Sport-
geräten ausnahmsweise genutzt werden kann.
All diese sinnvollen Änderungen gehen zurück auf
die von Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen
ins Leben gerufenen Runden Tische zwischen Bund,
Ländern und Kommunen. Der vierte Runde Tisch hat im
vergangenen Herbst einen Konsens über die im Antrag
formulierten Änderungen hergestellt, die dann auch von
der Arbeits- und Sozialministerkonferenz im November
2012 so beschlossen wurden.
27724 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013
(A) (C)
(D)(B)
Ziel der Runden Tische ist es gewesen, dass Start-
schwierigkeiten behoben werden sollen. Genau dies
werden wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf
machen.
Als wir 2011 das Bildungs- und Teilhabepaket einge-
führt haben, haben wir uns in diesem Bereich ganz
bewusst für das Sachleistungsprinzip entschieden. Dies
haben auch die Sozialverbände als die richtige Entschei-
dung gesehen. Der Weg, wie die Leistungen erbracht
werden sollen, war umstritten. Während sich die Regie-
rungskoalition für eine einheitliche Erbringung und Ver-
waltung über die Jobcenter durch die Bundesagentur für
Arbeit eingesetzt hat, wollten SPD und Grünen, dass die
Zuständigkeit bei den Kommunen liegen sollte. Im Rah-
men des Vermittlungsverfahrens haben wir dem Drängen
von SPD und Grünen nachgegeben, um einen Kompro-
miss zu erreichen, damit die Kinder schnell die Leistun-
gen in Anspruch nehmen können.
Entstanden sind die Probleme, wie wir sie heute erle-
ben müssen. Die Kommunen verwalten das Bildungs-
und Teilhabepaket ganz unterschiedlich und setzen die
gesetzlichen Vorgaben auf verschiedensten Wegen um.
Dass dies nicht ohne Reibungsverluste geschieht, ist
dabei offensichtlich.
Unser Ziel muss es aber sein, dass die Leistungen
möglichst ohne große Hürden zum Wohle der Kinder
und Jugendlichen bei diesen ankommen. Daher ist es
wichtig, dass sich die Politik stets um Verbesserungen
bemüht, wie dies diese christlich-liberale Regierungs-
koalition getan hat und auch weiter tun wird.
Denn klar ist auch: Mit dem heutigen Tag wird das
Thema Bildungs- und Teilhabepaket nicht abgeschlossen
sein. Wir werden auch künftig darauf achten müssen,
dass auftauchende Probleme unbürokratisch gelöst wer-
den können, und werden hier gegebenenfalls auch nach-
steuern.
Es sind aber auch die Kommunen gefordert, die durch
die Nachahmung von Best-practice-Beispielen aus ande-
ren Kommunen ihre eigene Verwaltung des Bildungs-
und Teilhabepakets verbessern müssen.
Anfang April werden die neuesten Zahlen zum Abruf
der Leistungen des Bildungs- und Teilhabepakets vorlie-
gen. Nach allem, was ich bisher aus den Kommunen
vernommen habe, wird die Inanspruchnahme deutlich
zugenommen haben. Die anfänglichen Probleme sind
durch die stete Begleitung durch das Bundesministerium
für Arbeit und Soziales gelöst.
Es ist also ein gutes Zeichen, dass das Bildungspaket
ankommt und dass es seine Wirkung entfaltet. Dies ist
gerade im Hinblick auf die Aufstiegs- und Entwick-
lungschancen von Kindern und Jugendlichen, deren El-
tern Arbeitslosengeld II beziehen, ein ermutigendes Si-
gnal, über das wir uns gemeinsam freuen sollten und
welches wir durch den heutigen Gesetzentwurf weiter
verstärken.
Diana Golze (DIE LINKE): Mit dem Bildungs- und
Teilhabepaket ist es wie mit Paketen im richtigen Leben.
Nicht immer ist das, was derjenige, der es schnürt,
glaubt, reinpacken zu müssen, das, was der Empfänger
auch wirklich braucht. Im Falle des Paketes, das die Teil-
habe von Kindern an Bildung, Gesellschaft, Kultur und
gesellschaftlichem Leben absichern soll, hat die Bundes-
regierung einmal mehr unter Beweis gestellt, dass sie
vom Leben und vom Alltag der Kinder und Jugendlichen
nicht die geringste Ahnung hat. Wie sonst ist zu erklä-
ren, warum das deutliche und klare Urteil des Bundes-
verfassungsgerichts vom Februar 2010 mit so eklatanten
Fehlern und derart realitätsfernen Maßnahmen umge-
setzt wurde? Nur mit Unkenntnis ist zu erklären, dass
Kinder und Jugendliche ohne Not mit Arbeitsuchenden
gleichgesetzt werden, und nur mit Unwissenheit, dass
die Bundesregierung schulische und außerschulische
Bildung und Förderung nicht bei der Kinder- und Ju-
gendhilfe ansiedelt oder die Notwendigkeit von schuli-
scher Nachhilfe durch Jobcenter entscheiden lässt.
Man kann konstatieren: Laut Bundesverfassungsge-
richtsurteil ist neben dem physischen auch das sozio-
kulturelle Existenzminimum von Kindern unter Berück-
sichtigung ihrer ganz besonderen Bedarfe zu sichern.
Das Bildungs- und Teilhabepaket war in seinem Grund-
ansatz von Beginn an falsch. Nun, zwei Jahre nach sei-
nem Inkrafttreten, kann man nur konstatieren: Es ist un-
wirksam für die Kinder und Jugendlichen und vor allem
in höchstem Maße bürokratisch für alle Beteiligten. Wer
im zuständigen Ministerium wirklich geglaubt hat, mit
einem Gesetzeswerk, das sage und schreibe sechs unter-
schiedliche und unabhängig voneinander jeweils an-
tragsabhängige Leistungen enthält, ein transparentes und
bürgerfreundliches, weil nachvollziehbares, Leistungs-
paket zu schnüren, hat entweder das Ausmaß des Büro-
kratismus und die Folgen für die Betroffenen nicht erah-
nen können oder diese billigend in Kauf genommen.
Ministerin von der Leyen hat, schon lange bevor sie
dem Bundestag ihr Bildungs- und Teilhabepaket vorge-
stellt hat, die Weichen für dieses Programm gestellt. In
einer unglaublichen Verleumdungskampagne hat sie El-
tern, die von ALG II leben müssen, unterstellt, sie wür-
den Geld, das ihnen für Bildung oder Teilhabe unter
Umständen mehr ausgezahlt werden würde, nicht zum
Wohl der Kinder, sondern zur Befriedigung eigener Inte-
ressen ausgeben. Es grenzt fast an Zynismus, dass sie
mit dem Slogan, das Geld müsse bei den Kindern an-
kommen, die Grundlage dafür gelegt hat, dass durch das
Bürokratiemonster Bildungs- und Teilhabepaket fast der
Hälfte der betroffenen Kinder und Jugendlichen das ver-
wehrt wird, was ihnen verfassungsmäßig verbrieft und
per Gerichtsurteil rechtskräftig zugesagt wurde. Sie,
Frau von der Leyen, sind es, die dafür sorgt, dass Fami-
lien vorgeschrieben wird, welche Freizeitangebote über-
haupt antragsfähig sind, wann schulische Nachhilfe not-
wendig ist und wann wie viel Zuschuss für die
Schülerbeförderung gezahlt wird und wann nicht. Wenn
also jemand dafür sorgt, dass das Geld nicht da an-
kommt, wo es so dringend gebraucht wird, dann ist es
diese Bundesregierung, ist es diese Arbeitsministerin.
Die Linke bleibt dabei: Weg mit diesem unsozialen,
stigmatisierenden Antragsgewirr! Bildung und Teilhabe
sind das Recht eines jeden Kindes, und darum müssen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 27725
(A) (C)
(D)(B)
die materiellen und finanziellen Grundlagen dafür so zur
Verfügung stehen, dass sie für jedes Kind, für jeden Ju-
gendlichen auch wirkungsvoll sind. Das geht nur, wenn
ihre Eltern nicht zu Vorleistungen gezwungen werden,
die sie ohnehin nur schwer leisten können, und wenn es
eine Infrastruktur gibt, die einen niedrigschwelligen und
vor allem stigmatisierungsfreien Zugang ermöglicht.
Und es geht nur, wenn man Schule, Bildung und Kultur
endlich als das wertet, was es im Leben von Kindern ist:
etwas, das zum Alltag von Kindern und Jugendlichen
gehört und damit Teil des Regelsatzes sein muss.
All das hätte man mit dem Gesetzentwurf zur Ände-
rung des SGB II schaffen können. Dies hätte aber eines
politischen Willens bedurft. Der aber ist offenkundig
nicht vorhanden.
Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das
Bundesverfassungsgericht hat in seinem sogenannten
Regelsatzurteil vom 9. Februar 2010 klargestellt, dass
Leistungen für Bildung und Teilhabe von Kindern und
Jugendlichen ebenso zum menschenwürdigen Existenz-
minimum gehören wie diejenigen für Nahrung, Klei-
dung und Unterkunft. Dies gilt für alle Kinder und Ju-
gendlichen, auch für solche, die heute Leistungen nach
dem Asylbewerberleistungsgesetz erhalten. Zudem hat
das Bundesverfassungsgericht die damaligen Regelleis-
tungen mit Blick auf die Berücksichtigung von Bil-
dungsausgaben ausdrücklich als unzureichend bewertet.
Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen hat im
Vorfeld des Verfahrens zum sogenannten Regelbedarfs-
Ermittlungsgesetz mehrfach betont, dass die Leistungen
bei den Kindern ankommen müssten. Nicht nur implizit
unterstellten Mitglieder der Regierungskoalition einem
beträchtlichen Teil der leistungsberechtigten Eltern,
diese würden das Sozialgeld im Gegensatz zu allen an-
deren Eltern eher für sich als für ihre Kinder ausgeben.
Eine solche Unterstellung ist nicht nur diskriminierend,
sondern entbehrt zudem sowohl jeglicher wissenschaftli-
cher Belege als auch jeglicher Erfahrungsgrundlage.
Zwar wird niemand bestreiten, dass sich auch unter
den Eltern im Arbeitslosengeld-II-Bezug solche befin-
den, denen es an Erziehungskompetenz mangelt oder die
schlicht unverantwortlich handeln. Jedoch gibt es keinen
Grund, anzunehmen, dass dies häufiger vorkommt als
bei Eltern, die nicht auf Arbeitslosengeld II angewiesen
sind. Eine umfangreiche wissenschaftliche Studie aus
dem Jahr 2011 im Auftrag des Diakonischen Werks der
Evangelisch-lutherischen Landeskirche in Braunschweig
e. V. und der Stiftung Braunschweigischer Kulturbesitz
etwa kommt zu dem Ergebnis, dass Eltern mit geringem
Einkommen zuallerletzt bei ihren Kindern sparen. Viel-
mehr nutzt ein großer Teil der einkommensschwachen
Familien die zur Verfügung stehenden finanziellen Res-
sourcen, um den Kindern ein gelingendes Aufwachsen
zu ermöglichen. Dies ergab beispielhaft eine Untersu-
chung zum Nürnberg-Pass aus dem Jahr 2008.
Überdies kennen Sozialrecht und soziale Praxis schon
heute Möglichkeiten, um Eltern in ihrer Versorgungs-,
Erziehungs- und Unterstützungskompetenz zu stärken.
Sollten aufgrund von Drogen- oder Alkoholabhängigkeit
Probleme dennoch fortbestehen, kann das Existenzmini-
mum in Form von Sachleistungen erbracht werden.
Die Anwendung des Sachleistungsprinzips bei Bil-
dungs- und Teilhabeleistungen allerdings macht aus der
Ausnahme die Regel und stellt mithin alle leistungsbe-
rechtigten Eltern unter den Verdacht unwirtschaftlichen
Verhaltens. Das Bildungs- und Teilhabepaket ist im Er-
gebnis eine Sozialleistung mit paternalistischem Charak-
ter, die das Ziel verfolgt, auf Basis einer materiellen Ab-
hängigkeit den leistungsberechtigten Bürgerinnen und
Bürgern eine bestimmte Lebensführung andienen zu
wollen.
Dies ist zutiefst illiberal und mit einem Sozialstaat,
der auf Befähigung und die Ermöglichung von Teilhabe
zielt, nicht vereinbar. Eine solche maßregelnde Sozialge-
setzgebung kommt naturgemäß nicht ohne ein aufwendi-
ges Antragsverfahren aus. So ist es kein Wunder, dass
wir es nun auch zwei Jahre nach Inkrafttreten des Bil-
dungs- und Teilhabepakets mit der bürokratischsten So-
zialleistung aller Zeiten zu tun haben.
Die im Gesetzentwurf genannten Änderungsvor-
schläge sind zwar grundsätzlich zu begrüßen. Es ist auch
gut, dass die schwarz-gelbe Bundesregierung auf Anre-
gung der Bundesländer – im Übrigen ganz im Gegensatz
zu ihren Antworten auf unsere Kleine Anfrage (siehe
Bundestagsdrucksache 17/11789) – nun zu Änderungen
im Detail bereit ist. Den großen Geburtsfehler des Bil-
dungs- und Teilhabepakets löst der Gesetzentwurf indes
nicht. Es ist dringend geboten, die Kinderregelbedarfe
nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts indi-
viduell und bedarfsdeckend zu berechnen sowie die ein-
zelnen Leistungen des sogenannten Bildungs- und Teil-
habepakets realitätsgerecht zu ermitteln und über eine
Erhöhung des Regelbedarfs sowie über Investitionen in
die Bildungs- und Teilhabeinfrastruktur abzugelten. Die
grüne Bundestagsfraktion hat mit ihren Anträgen „Für
eine sozio-kulturelle Existenzsicherung ohne Lücken“
(Bundestagsdrucksache 17/12389) und „Das Bildungs-
und Teilhabepaket – Leistungen für Kinder und Jugendli-
che unbürokratisch, zielgenau und bedarfsgerecht erbrin-
gen“ (Bundestagsdrucksache 17/8149) entsprechende
konkrete Vorschläge eingebracht.
Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär bei der
Bundesministerin für Arbeit und Soziales: Der Deutsche
Bundestag hat heute abschließend über einen Gesetzent-
wurf des Bundesrates zur Verwaltungsvereinfachung des
Bildungs- und Teilhabepakets zu entscheiden. Diesen
Gesetzentwurf begrüße ich auch aus Sicht der Bundesre-
gierung. Damit will ich aber keineswegs der aktuellen
Debatte um den angeblichen Misserfolg des Bildungs-
und Teilhabepakets Vorschub leisten. Die Zahlen der
kommunalen Spitzenverbände und des Instituts für Sozial-
forschung und Gesellschaftspolitik, ISG, mit Stand März
2012 belegen, dass weder das behauptete „bürokratische
Monster“ noch Stigmatisierungssorgen Eltern und Kin-
der davon abhalten, die Leistungen des Bildungs- und
Teilhabepakets einzufordern:
27726 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013
(A) (C)
(D)(B)
Rund 54 Prozent der berechtigten Kinder und Jugend-
lichen haben bereits mindestens eine Leistung des Bil-
dungs- und Teilhabepakets beantragt.
Dass Leistungen unterschiedlich häufig genutzt wer-
den, liegt insbesondere daran, dass der Bedarf sehr un-
terschiedlich ist. Lernförderung kommt zum Beispiel nur
bei Schulkindern und bei ernsten Problemen im Unter-
richt in Betracht. Wo zum Beispiel keine Schulkantine be-
steht, ist auch keine Teilnahme am gemeinsamen Mittag-
essen möglich.
Nur 8 Prozent der Befragten nannten einen hohen An-
tragsaufwand als Grund für die Nichtinanspruchnahme
des Bildungs- und Teilhabepakets. Stigmatisierungssor-
gen spielten nahezu keine Rolle, so 1,7 Prozent der Ant-
worten.
Von den Befragten, die Anträge gestellt hatten, haben
dies 65 Prozent als „leicht“, weitere 19 Prozent als „mit-
tel“ und nur 16 Prozent als „schwierig“ empfunden.
Viele Leistungen werden dabei erstmals in Anspruch
genommen; 63 Prozent bei mehrtägigen Klassenfahrten,
78 Prozent bei gemeinschaftlichem Mittagessen, 78 Pro-
zent bei eintägigen Schul- und Kitaausflügen.
Für diesen Erfolg haben sich alle Beteiligten enga-
giert. Für das Bundesministerium für Arbeit und Sozia-
les ist dabei insbesondere auf den von Frau Ministerin
Dr. Ursula von der Leyen initiierten, politisch hochran-
gig besetzten Runden Tisch zum Bildungs- und Teilha-
bepaket hinzuweisen. Dabei konnten unter Federführung
des Bundes für vielfältige Fragestellungen untergesetz-
liche Lösungsvorschläge erarbeitet werden. Diese betra-
fen insbesondere das Verwaltungsverfahren bzw. dessen
Vereinfachung. Die Lösungsvorschläge können Länder
und Kommunen jedoch nicht binden. Teilweise werden
sie nur von einzelnen Ländern und Kommunen aufge-
griffen, jedoch nicht bundesweit angewandt.
Dies ist ein entscheidender Punkt, insbesondere in der
aktuellen medialen Auseinandersetzung um das Bil-
dungs- und Teilhabepaket. Für die Frage, ob die Leistun-
gen beim Kind ankommen, ob Umsetzungsverfahren
und Gesetzesauslegung aus Sicht der Berechtigten, der
Leistungserbringer, Schulen, Kitas und Leistungsan-
bieter einfach und klar sind, stehen die Kommunen als
Träger und die Länder als Aufsichtsbehörden in der Ver-
antwortung – auf ausdrücklichen eigenen Wunsch im
Rahmen des damaligen Vermittlungsverfahrens. Das Ge-
setz jedenfalls lässt genügend Spielräume, um die Le-
benswirklichkeit mithilfe des Bildungs- und Teilhabe-
pakets zu unterstützen, seien es Babyschwimmkurse,
qualitativ hochwertiges Schulessen oder Nachhilfeunter-
richt. Man muss es nur wollen, und man muss im Auge
behalten, dass es hier um verfassungsrechtlich begrün-
dete Ansprüche von Kindern geht. Dort muss das Au-
genmerk liegen. Dann erübrigen sich Diskussionen wie
diejenige über eine angebliche finanzielle Verantwor-
tung des Bundes für die Infrastruktur der Länder und
Kommunen.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang kurz auf
die fehlerhaften Behauptungen der Opposition zum Ab-
rechnungsmodus eingehen: Es ist falsch, wenn behauptet
wird, der Bund fordere die Länder zur Abrechnung der
Ausgaben für das Bildungs- und Teilhabepaket auf, um
daraus die Rückführung von Mitteln in den Bundeshaus-
halt abzuleiten. Im Jahr 2013 kommt vielmehr erstmals
die im Gesetz verankerte Revisionsklausel zum Zuge,
die vorsieht, dass nach Vorlage der Leistungsdaten für
das Jahr 2012 die erhöhte Bundesbeteiligung an den
Kosten der Unterkunft und Heizung für das laufende
Jahr, 2013, auf der Grundlage dieser Leistungsdaten an-
gepasst und fortgeschrieben wird. Für den Bund ist es
selbstverständlich, etwaige Mehrkosten aus dem Jahr
2012 nachträglich auszugleichen; er geht aber im Gegen-
zug genauso selbstverständlich davon aus, dass auch alle
Beteiligten dazu beitragen, dass die Leistungen vollstän-
dig bei den Kindern ankommen. Für andere Zwecke dür-
fen die Mittel nicht eingesetzt bzw. zweckentfremdet
werden, sondern müssen gegebenenfalls zweckgebun-
den verrechnet werden.
Es vermittelt ein falsches Bild, wenn behauptet wird,
es gäbe noch keine Rechtsverordnung für die Anpassung
der Finanzausstattung des Bildungs- und Teilhabepakets.
Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat den
Entwurf einer solchen Verordnung im Herbst vorgelegt.
Dieser wird aber bislang von Länderseite abgelehnt.
Nun aber zurück zum heutigen Gegenstand der De-
batte. Ich denke, es ist deutlich geworden, warum die
Bundesregierung begrüßt, dass der vorliegende Gesetz-
entwurf für eine Reihe von Fragen eine bundeseinheit-
liche und eindeutige Rechtsgrundlage schafft. Die vorge-
schlagenen Rechtsänderungen wurden von Bund und
Ländern unter Beteiligung der kommunalen Spitzenver-
bände konsensual entwickelt. Ziel des Gesetzentwurfs
ist die Erleichterung der Umsetzung des Bildungs- und
Teilhabepakets durch folgende Klarstellungen und Öff-
nungen:
Ausnahmsweise nachträgliche Erstattung bereits vom
Berechtigten verauslagter Geldmittel, wenn Sach- oder
Dienstleistungen unverschuldet nicht rechtzeitig er-
bracht werden konnten; „berechtigte Selbsthilfe“, zum
Beispiel bei kurzfristig angesetzten Schulausflügen.
Die Möglichkeit, den Teilhabebetrag von bis zu
10 Euro monatlich im gesamten Bewilligungszeitraum
– auch rückwirkend ab dessen Beginn – anzusparen,
zum Beispiel für Beiträge für Sportvereine oder Freizei-
ten.
Wenn Schülerfahrkarten auch privat nutzbar sind: re-
gelmäßige Berücksichtigung eines Eigenanteils bei der
Schülerbeförderung in Höhe von 5 Euro monatlich.
Möglichkeit der Geldleistung für Klassenfahrten, aber
keine grundsätzliche Abkehr vom Sachleistungsprinzip.
In den Bereichen Sport, Spiel, Kultur und Freizeit
ausnahmsweise Teilhabeleistung nicht nur wie bisher für
Mitgliedsbeiträge, sondern auch für Ausrüstungsgegen-
stände und andere Teilnahmebedarfe. Voraussetzung: Be-
streiten dieser Aufwendungen aus dem Regelbedarf ist
nicht zumutbar.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 27727
(A) (C)
(D)(B)
Möglichkeit der pauschalen Abrechnung mit den
Leistungsanbietern auch beim Bildungs- und Teilhabe-
paket in der Sozialhilfe.
Ich bitte Sie im Sinne der bedürftigen Kinder um Un-
terstützung für dieses wichtige Vorhaben.
Anlage 11
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
Gesetzes zur Entflechtung von Gemein-
schaftsaufgaben und Finanzhilfen
– Antrag: Eine ausreichende Finanzierung des
öffentlichen Nahverkehrs gewährleisten
(Tagesordnungspunkt 28 a und b)
Karl Holmeier (CDU/CSU): Es war einmal eine Fö-
deralismusreform aus dem Jahr 2006. Dort haben sich
Bund und Länder in großer Eintracht darauf verständigt,
dass jeder künftig nur das zahlt, wofür er auch zuständig
ist.
Diese Eintracht reichte sogar so weit, dass sich der
Bund bereit erklärte, den Ländern bis zum Ende des Jah-
res 2013 jedes Jahr mit über 2,5 Milliarden Euro zur Ge-
meindeverkehrsfinanzierung, für den sozialen Woh-
nungsbau und für den Hochschulbau unter die Arme zu
greifen. Im Gegenzug haben die Länder versprochen,
das viele Geld bis Ende 2013 zweckgebunden zu ver-
wenden für Investitionen in den genannten Aufgabenbe-
reichen. Für die Zeit danach, das heißt, nach 2013,
wollte man sich wieder zusammenfinden, wenn es so
weit ist.
Das glückliche Ende dieser Geschichte steht leider
noch aus. Bislang haben Bund und Länder nicht zusam-
menfinden können. Die christlich-liberale Koalition geht
daher nun eigenständig zur Tat über und legt den hier zur
Debatte stehenden Gesetzentwurf vor.
Wir bieten den Ländern an, vorerst für das Jahr 2014
die Kompensationszahlungen auf dem bisherigen Niveau
fortzusetzen. Damit wollen wir die dringend notwendige
Planungssicherheit für die anstehenden Investitionen er-
höhen. Doch wir retten uns mit diesem Gesetzentwurf
gerade einmal bis zum nächsten Jahr hinüber, das heißt,
der Auftrag des Grundgesetzes infolge der Föderalis-
musreform ist noch lange nicht umgesetzt.
Wir geben zwar weiterhin eine Menge Geld an die
Bundesländer, haben aber künftig keine Möglichkeiten
mehr zu sagen, wofür das Geld konkret ausgegeben wer-
den soll, und können auch nicht mehr kontrollieren, wie
es tatsächlich eingesetzt wird; denn die aufgaben-
spezifische Zweckbindung entfällt. Die Berichtspflicht
ebenso. Das ist nicht im Sinne des Erfinders!
Das kann schon deshalb nicht sein, weil es Länder ge-
geben hat und möglicherweise weiter geben wird, die die
Bundesmittel trotz Zweckbindung zweckwidrig verwen-
det haben. Ich erinnere dabei nur an das Land Berlin, das
unter rot-roter Regentschaft Geld, das eigentlich für In-
vestitionen in den Wohnungsbau vorgesehen war, zur
Altschuldentilgung verwendet hat. So etwas darf es nicht
mehr geben! Das ist Betrug am Steuerzahler, und da hört
für mich der Spaß auf. Hier muss ein Riegel vorgescho-
ben werden!
Hätten in der Vergangenheit alle Länder das Geld des
Bundes für die vorgesehenen Zwecke ausgegeben, zum
Beispiel im Bereich des sozialen Wohnungsbaus, und
selbst noch etwas Geld obendrauf gepackt, dann hätten
wir heute sicherlich mit Problemen wie der Mietpreisex-
plosion nicht zu kämpfen.
Wenn Sie also Ihre Ankündigung erst gemeint haben
und die Gestaltungsmehrheit im Bundesrat tatsächlich
verantwortungsvoll wahrnehmen wollen, dann sind Sie
jetzt am Zug. Wenn ich jedoch in der Stellungnahme des
Bundesrates zu dem vorliegenden Gesetzentwurf lese,
dass Sie in den Bereichen Hochschulbau und Gemeinde-
verkehrsfinanzierung noch mehr Geld und in den ande-
ren Bereichen Bildungsplanung und Soziale Wohnraum-
förderung eine Fortführung der Zahlung in bisheriger
Höhe verlangen, dann frage ich mich ernsthaft, was Sie
unter verantwortungsvoller Politik verstehen. Dies hat
mit Verantwortungsbewusstsein wenig zu tun.
Man sollte eigentlich meinen, dass die Kompensa-
tionszahlungen, die eine Art Übergangsgeld darstellen,
innerhalb des großzügig bemessenen Zeitraumes bis
zum Jahr 2019 allmählich reduziert werden müssten.
Stattdessen fordern Sie mehr Geld. Und am Ende des
Tages, nämlich nach 2019, werden Sie dann in ein tiefes
Loch fallen, vor allem die rot-grün regierten Länder. Das
ist also Ihr Verständnis von Verantwortung?
Damit wir uns nicht falsch verstehen: Selbstverständ-
lich muss sichergestellt sein, dass unsere Kommunen
weiterhin ausreichend GVFG-Mittel für die kommuna-
len Straßen erhalten, es muss sichergestellt sein, dass un-
sere Kommunen ausreichend Geld für den Wohnungs-
bau erhalten, und es muss auch sichergestellt sein, dass
ausreichend Geld für die Hochschulen und die Bildungs-
planung vorhanden ist.
Aber es kann doch nicht sein, dass die Länder die ein-
vernehmliche Aufgabenverteilung nach der Föderalis-
musreform einfach ignorieren und ausschließlich den
Bund in der Verantwortung sehen, wenn es darum geht,
wer die Zeche zahlt!
Ich lade Sie daher ein, sich gemeinsam mit uns an ei-
nen Tisch zu setzen, Ihre Blockadehaltung aufzugeben
und verantwortungsvolle Lösungen für die Zukunft un-
seres Landes zu finden.
Johannes Kahrs (SPD): An den Beginn meiner
Rede möchte ich zwei Zitate stellen:
„Aufgabe des Staates ist es, eine zukunfts- und leis-
tungsfähige Infrastruktur zu garantieren, für faire Wett-
bewerbsregeln zu sorgen sowie den Unternehmen Pla-
nungssicherheit zu gewährleisten.“ und „Über die Höhe
der Finanzausstattung für die ehemalige Gemeindever-
27728 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013
(A) (C)
(D)(B)
kehrsfinanzierung werden wir für die Folgezeit bis 2019
in der Mitte der Legislaturperiode entscheiden.“
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP,
diese Worte sollten Ihnen bekannt vorkommen, stammen
sie doch aus Ihrem Koalitionsvertrag aus dem Herbst
2009.
Bis zur Mitte der Legislaturperiode wollten Sie dieses
Problem vom Tisch haben. Jetzt – sieben Monate vor
Ende der Legislatur – legen Sie einen Gesetzentwurf zur
ersten Lesung vor. In einem Fall, in dem es in allererster
Linie um Planbarkeit und Verlässlichkeit unter Partnern
geht, ist das eine Katastrophe. Wie immer hat sich die
Regierung Merkel als große Enttäuschung für die Bürger
im Lande erwiesen. Aber warum sollte es in der Zusam-
menarbeit mit den Ländern anders sein als bei den Din-
gen, die der Bund zu regeln hat?
Unter der Aufgabenstellung, eine verlässliche Part-
nerschaft mit den Ländern zu gewährleisten, wäre es
Aufgabe der Regierung gewesen, in den vergangenen
zwei Jahren mit den Ländern eine solide und nachhaltige
Regelung zu finden. In dieser Regelung hätte man die
Höhe der Gelder und auch die Auflagen und Regularien
sauber klären müssen. Die vielen Vertragspartner, Unter-
nehmen und Institutionen, die in den Bereichen Bildung,
öffentlicher Personennahverkehr und Wohnungsbau tätig
sind, brauchen seit Jahren eine verlässliche Aussage, wie
es in ihrem Bereich weitergeht.
Alle wissen: Der Anspruch auf die sogenannten Ent-
flechtungsmittel läuft aus, und ab 2013 entfällt die
Zweckbindung der Mittel. In welcher Höhe die Mittel ab
diesem Datum an die Länder fließen sollen, weiß bislang
niemand. In den Verhandlungen mit den Ländern hat das
Bundesministerium der Finanzen eine konstante Absen-
kung der Mittel um jährlich 367 Millionen Euro vorge-
schlagen. Von 2,2 Milliarden Euro im Jahr 2014 sollen
die Gelder dadurch bis 2019 auf null verringert werden.
Diesem Vorschlag haben die Länder eine Forderung
nach einer Erhöhung der Gesamtsumme auf jährlich
3,4 Milliarden Euro entgegengesetzt. Man kann von die-
ser Forderung halten was man will, aber Ihre Aufgabe,
Herr Finanzminister, wäre es doch gewesen, in intensive
Verhandlungen mit den Ländern einzutreten, bis ein Er-
gebnis auf dem Tisch liegt, das über den Tag hinaus Be-
stand hat und allen Partnern Planungssicherheit bietet.
Dass dies hier eindeutig nicht geschehen ist, beweist der
hier vorliegende Gesetzentwurf – ein Trostpflaster.
Das offensichtliche Desinteresse in dieser Frage bettet
sich aber ein in eine Politik der sozialen Kälte, die Sie in
den vergangenen drei Jahren praktizieren. In den vergan-
genen Jahren hat Schwarz-Gelb kontinuierlich im Ein-
zelplan 12 bei den Programmen der Städtebauförderung
gekürzt und zusammengestrichen. Mit besonderer Verve
hat sich diese sogenannte bürgerliche Koalition am Pro-
gramm „Soziale Stadt“ ausgelassen. Unter dem Kom-
mando des kleineren Koalitionspartners hat man hier
sehr deutlich gemacht, was man von Menschen hält, die
man nicht zur originären Wählerklientel zählt. Kürzun-
gen – Streichungen – Ignoranz.
Bei dem hier vorliegenden Gesetzentwurf handelt es
sich um ein Glas voll Wasser, mit dem die Regierung ei-
nen drohenden Flächenbrand bekämpfen will. Es kommt
zu spät – das Haus brennt bereits –, es fehlt der Feuer-
löscher für die kommenden Jahre.
Die Intention dahinter ist eindeutig: Sie verschieben
die Absenkung der Mittel auf die Zeit nach der Wahl.
Regiert Frau Merkel auch nach dem 22. September 2013
noch, brechen schwere Zeiten für die Länder an. Die
Millionen Bürgerinnen und Bürger jeden Tag an den
Bushaltestellen im Land, die Studenten und wissen-
schaftlichen Mitarbeiter an den Unis in Deutschland, die
Millionen Menschen – Rentner, junge Familien und
Empfänger geringer Einkommen –, die auf günstige
Mieten angewiesen sind, sollten sich darüber im Klaren
sein: Schwarz-Gelb lässt sie im Regen stehen.
Otto Fricke (FDP): Wir haben es bei dieser Debatte
über den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Fort-
schreibung der Entflechtungsmittel des Bundes an die
Länder mit einer leider mittlerweile sehr typischen Föde-
ralismusdebatte zu tun. Als typisch muss diese Debatte
deshalb bezeichnet werden, weil es wieder einmal darum
geht, dass der Bund von einigen Ländern finanziell aus-
genutzt werden soll.
Aber worum geht es in diesem Fall konkret? Im Rah-
men der Föderalismuskommission I ist mit den Ländern
vereinbart worden, dass bestimmte Gemeinschaftsaufga-
ben, wie der Aus- und Neubau von Hochschulen
einschließlich der Hochschulkliniken und die Bildungs-
planung, sowie die der Finanzhilfen zur Verbesserung
der Verkehrsverhältnisse der Gemeinden und zur sozia-
len Wohnraumförderung ab 2007 abgeschafft und die
Aufgaben sodann nur noch von den Ländern wahrge-
nommen werden. Zum Ausgleich für die entfallenden
Finanzierungsanteile leistet der Bund auf der Grundlage
des Art. 143 c Grundgesetz bis 2019 jährliche Beiträge
aus seinem Haushalt an die Länder.
Nun sind für die Jahre 2007 bis 2013 die Beträge auf
rund 2,6 Milliarden Euro festgeschrieben worden, und
sie werden zweckgebunden für die Investition in den
Einzelbereichen Hochschulneubau, Bildungsplanung,
Verbesserung der kommunalen Verkehrsverhältnisse und
soziale Wohnraumförderung den Ländern zur Verfügung
gestellt.
Bis Ende dieses Jahres jedoch müssen Bund und Län-
der nach den grundgesetzlichen Bestimmungen prüfen,
in welcher Höhe die vom Bund zu leistenden Beiträge
für den Zeitraum 2014 bis zu deren Auslaufen Ende
2019 zur Aufgabenerfüllung der Länder noch „angemes-
sen und erforderlich sind“. Zudem sind die Mittel ab
2014 nur noch an eine investive Verwendung gebunden;
die bisherige aufgabenbereichspezifische Zweckbindung
entfällt also.
Nun gibt es allerdings unterschiedliche Auffassungen
zwischen Bund und Ländern über die Höhe der Mittel,
die für eine angemessene und erforderliche Aufgabener-
füllung der Länder vom Bund bereitgestellt werden. Der
Bund hat in unserem hier vorliegenden Gesetzentwurf
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 27729
(A) (C)
(D)(B)
den Ländern in Fortschreibung der auch im laufenden
Jahr zur Verfügung gestellten Mittel einen Gesamtbetrag
von 2,6 Milliarden Euro angeboten. Die Länder fordern
jedoch die Aufstockung der Mittel um insgesamt
829,2 Millionen Euro. Diese dann rund 3,4 Milliarden
Euro sollen nach Auffassung der Länder zudem bis Ende
2019 fortgeschrieben werden. Dabei verweist allein
schon die Tatsache, dass die Länder in ihren Einzelbeträ-
gen, die sie nun als mehr als angemessen ansehen – mit
900 Millionen Euro für den Aus- und Neubau von Hoch-
schulen einschließlich der Hochschulkliniken und
1,96 Milliarden Euro für Investitionen zur Verbesserung
der Verkehrsverhältnisse der Gemeinden – durchweg
gerundete Beträge genannt haben, darauf, dass diese
Bedarfe eher als „gegriffen“ denn als angemessen zu
bewerten sind.
Für meine Fraktion möchte ich hier festhalten, dass
wir diese vornehmlich von SPD-geführten Ländern mit-
betriebene Ausbeutungspolitik auf Kosten des Bundes
ablehnen. Hier soll in sehr durchsichtiger Weise nur die
eigene Unfähigkeit zur Haushaltskonsolidierung aus
eigener Kraft kaschiert werden. Eine Haushaltskonsoli-
dierung zulasten Dritter, nämlich vorzugsweise des Bun-
des, ist mittlerweile „gute Übung“ und scheint auch in
diesem Fall in großem Umfang geplant zu sein. Ziel der
Föderalismusreform war die Entflechtung von Finanzbe-
ziehungen und nicht die dauerhafte Subventionierung
einzelner Länderdienstleistungen durch den Bund.
Sollte es aber zu keiner Einigung zwischen Bund und
Ländern in der Frage der Höhe der Ausgleichsmittel
kommen, bedeutet dies aus meiner Sicht, dass rein recht-
lich zunächst einmal keine Ausgleichsmittel seitens des
Bundes an die Länder gezahlt werden können.
Auch an dieser Stelle darf ich noch einmal darauf hin-
weisen, dass Länder und Kommunen gemeinsam mehr
Steuereinnahmen zur Verfügung haben als der Bund.
Auch vor diesem Hintergrund sind die Vorstellungen der
Länder kritisch zu bewerten.
Nun planen die SPD-geführten Länder ganz offen-
sichtlich, das beim Bundesrat liegende Gesetz zur inner-
staatlichen Umsetzung des Fiskalvertrags dazu zu benut-
zen, den Bund unter Druck zu setzen. Ich kann nur davor
warnen, mit einer verzögerten oder gar verhinderten
Umsetzung des Fiskalvertrags in nationales Recht und
damit der Verletzung dieser zentralen, internationalen
Verpflichtung zur Stabilisierung der Euro-Zone großen
Schaden für Deutschland und Europa anzurichten. SPD
und Grüne sollten sich überlegen, ob sie diese im höchs-
ten Maße unrühmliche Rolle übernehmen wollen.
Katrin Kunert (DIE LINKE): Anlässlich des von der
Bundesregierung vorgelegten Gesetzentwurfs zur Zu-
kunft der Entflechtungsmittel haben wir uns entschlos-
sen, das mit den Entflechtungsmitteln eng verzahnte
Thema der Finanzierung des öffentlichen Personennah-
verkehrs auf die Tagesordnung zu setzen. Dazu wurde
durch die Linke auch ein entsprechender Antrag vorge-
legt.
Die sogenannten Entflechtungsmittel, also die Mittel,
die nach dem Entflechtungsgesetz vom Bund an die Län-
der zu zahlen sind, dienen als Ausgleich dafür, dass sich
der Bund infolge der Föderalismusreform aus der Finan-
zierung bestimmter Aufgaben zurückgezogen hat. Das
Ziel der Föderalismusreform bestand darin, bestehende
Mischfinanzierungen abzubauen. Erreicht werden sollte
dies durch eine entsprechende Grundgesetzänderung.
Durch diese Grundgesetzänderung wurde – verein-
facht gesagt – festgeschrieben, dass bestimmte Aufga-
ben zukünftig ausschließlich durch die Länder zu finan-
zieren sind. Im Gegenzug wurde festgelegt, dass die
Länder für einen Übergangszeitraum bis 2019 durch den
Bund Kompensationszahlungen erhalten sollen. Deren
Höhe ist bis Ende dieses Jahres festgeschrieben.
Betroffen hiervon sind neben unterschiedlichen Auf-
gaben wie zum Beispiel die Wohnraumförderung oder
der Aus- und Neubau von Hochschulen die Investitio-
nen, die zur Verbesserung der Verkehrsverhältnisse in
den Gemeinden erforderlich sind. Diese Investitionen
fließen sowohl in kommunale Straßen als auch in den
ÖPNV.
Auch wenn der von Ihnen vorgelegte Gesetzentwurf
zumindest keine Absenkung der Entflechtungsmittel
vorsieht, geht die nunmehr vorgeschlagene Regelung,
nämlich die Fortführung der Zahlungen in bisheriger
Höhe, also 1,3355 Milliarden Euro pro Jahr, am tatsäch-
lichen Finanzierungsbedarf der Verkehrsinfrastruktur
vorbei. In der Begründung des Gesetzentwurfs sagen
Sie, die in § 6 Abs. 1 des Entflechtungsgesetzes vorge-
schriebene Angemessenheits- und Erforderlichkeitsprü-
fung hat noch nicht stattgefunden. Von Gesetzes wegen
haben Sie dafür ja auch noch bis Ende 2013 Zeit. Es
dürfte allerdings schon jetzt jedem hier im Haus klar
sein, dass die von Ihnen angestrebte Fortführung der
Zahlungen in der bisherigen Höhe den Bedarf nicht de-
cken kann.
Aus den Ergebnissen der von der Verkehrsminister-
konferenz vorgelegten Bedarfsermittlung ergibt sich
hinsichtlich der Investitionen zur Verbesserung der Ver-
kehrsverhältnisse in den Gemeinden ein Bedarf an Bun-
desmitteln in Höhe von 1,96 Milliarden Euro jährlich.
Die Linke unterstützt daher ausdrücklich die Forderung
des Bundesrates in seiner Stellungnahme zum vorgeleg-
ten Gesetzentwurf, die Höhe der Entflechtungsmittel ent-
sprechend anzupassen. Es ist vollkommen unverständ-
lich, dass den Kommunen mit Verweis auf den angeblich
nicht bekannten Bedarf die notwendige Finanzierung in
diesem Bereich versagt wird.
Der ÖPNV ist für die gesellschaftliche Entwicklung
in der Bundesrepublik sowohl in sozialer als auch in
ökologischer Hinsicht von größter Bedeutung. Vor dem
Hintergrund der anstehenden Energiewende denke man
nur an die im Vergleich zum motorisierten Individual-
verkehr deutlich bessere Energiebilanz des ÖPNV.
Gleichzeitig erfüllt der ÖPNV das Mobilitätsbedürfnis
von Millionen Nutzerinnen und Nutzern.
Die Kommunen leiden seit Jahren an einer strukturel-
len Unterfinanzierung und können die Aufgabe, einen at-
27730 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013
(A) (C)
(D)(B)
traktiven und hochwertigen ÖPNV zu organisieren und
zu betreiben, nicht alleine stemmen. Beim straßengebun-
denen ÖPNV, also dem Verkehr mit Bussen, Straßen- und
U-Bahnen, wird der Neu- und Ausbau – in Abhängigkeit
von den landesspezifischen Förderbedingungen – mit
70 Prozent, teilweise sogar mit bis zu 85 Prozent Ent-
flechtungsmitteln finanziert.
Diese Zahlen machen deutlich, wie wichtig die Ent-
flechtungsmittel für die örtliche Verkehrsinfrastruktur
sind. Die Entflechtungsmittel bilden darüber hinaus auch
eine wichtige Finanzierungsquelle für den Schienen-
personennahverkehr, also insbesondere den Verkehr mit
S-Bahnen.
Der von der Bundesregierung vorgelegte Gesetzent-
wurf ist nicht nur in Bezug auf die Finanzierung der In-
vestitionen, die zur Verbesserung der Verkehrsverhält-
nisse in den Gemeinden erforderlich sind, unzureichend.
Völlig ausgeblendet bleiben die Fragen, wie der ÖPNV
vor dem Hintergrund der besonderen Herausforderungen
unserer Zeit, zum Beispiel dem demografischen Wandel
oder der Energiewende, überhaupt aussehen soll. Wenn
die Anforderungen an den ÖPNV steigen, muss sich dies
auch in der Finanzierung bemerkbar machen.
Die Linke fordert neben einer Erhöhung der Entflech-
tungsmittel auf die von Bundesrat und Bundesverkehrs-
ministerkonferenz geforderten 1,96 Milliarden Euro
jährlich eine grundlegende Reform der ÖPNV-Finanzie-
rung, deren Ziel darin bestehen muss, langfristig, also
auch über das Jahr 2019 hinaus, ein attraktives ÖPNV-
Angebot sowohl in Ballungszentren als auch in ländli-
chen Räumen sicherzustellen.
Die Höhe der Zahlungen nach § 5 des Regionalisie-
rungsgesetzes, die neben den Entflechtungsmitteln den
überwiegenden Anteil der Finanzierung des Schienen-
personennahverkehrs sicherstellen, muss mit der Ent-
wicklung der Trassen- und Stationspreise gekoppelt wer-
den. Wenn Letztere um einen bestimmten Prozentsatz
steigen, muss die Höhe der Zahlungen nach § 5 des Re-
gionalisierungsgesetzes um den gleichen Prozentsatz
steigen. Dabei muss sichergestellt werden, dass mit den
Mitteln nach dem Regionalisierungsgesetz tatsächlich
der Schienenpersonennahverkehr gefördert und damit
der öffentliche Verkehr insgesamt gestärkt wird.
Nicht akzeptabel ist es, wenn sich die Bahn, die sich
zu 100 Prozent im Eigentum des Bundes befindet, auf
bestimmten Strecken aus dem Fernverkehr zurückzieht
und dieser nunmehr mit Nahverkehrszügen erbracht
wird. Eine Förderung mit Regionalisierungsmitteln stellt
in diesem Fall eine Zweckentfremdung dar.
Ich möchte Sie darum bitten, unserem Antrag zuzu-
stimmen.
Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Die Regelung zu den Entflechtungsmitteln, die
wir heute diskutieren, ist eng verbunden mit der Umset-
zung des Fiskalvertrags in Deutschland. Eine Neurege-
lung wurde den Ländern von der Bundesregierung in den
Verhandlungen fest zugesagt, aber die Bundesregierung
hat nicht wie versprochen geliefert, sondern vergeblich
versucht, die Länder an der Nase herumzuführen. Die
Länder haben sich das zu Recht nicht bieten lassen.
Dreieinhalb Monate nachdem wir das Gesetz zur
innerstaatlichen Umsetzung des Fiskalvertrags hier im
Deutschen Bundestag zum ersten Mal beschlossen
haben, kommt die Bundesregierung nun endlich ihrer
Zusage an die Länder nach und legt einen Vorschlag zur
Regelung der sogenannten Entflechtungsmittel vor. Es
ist hochgradig peinlich, dass die schwarz-gelbe Bundes-
regierung von den Ländern zur Einhaltung ihrer Verspre-
chen gezwungen werden musste, indem sie die Fiskal-
vertragsumsetzung im Bundesrat blockiert haben. Aber
Merkels Regierung hat daraus nichts gelernt. Im Januar
dieses Jahres hat die Koalition das Fiskalvertragsgesetz
erneut durchgedrückt, ohne die zugesagten Entflech-
tungsmittel zu regeln. Wieder mussten die Länder das
Gesetz im Bundesrat stoppen. Ich frage Frau Merkel:
Wie oft wollen Sie dieses peinliche Pokerspiel eigentlich
noch spielen?
Der Vorstoß, über den wir heute diskutieren, war of-
fenbar auch nicht vorab mit den Ländern abgestimmt.
Fest steht, dass der Bund den Ländern die Entflechtungs-
mittel bis 2019 zahlen sollte. Verantwortungsvolle Poli-
tik würde bedeuten, die Mittelverteilung dann auch bis
dahin zu regeln, so wie es die Länder verlangen. Die ge-
plante Regelung im vorliegenden Gesetzentwurf der
Bundesregierung bezieht sich aber explizit nur auf das
Jahr 2014. Was danach kommt, ist völlig unklar. Diese
kurzsichtige Politik behindert die Planungssicherheit in
den Ländern und untergräbt damit den eigentlichen
Zweck der Entflechtungsmittel, nämlich Investitionen in
Bildung und Infrastruktur.
Es geht mir gar nicht darum, den Ländern mehr Geld
zu geben, die Höhe der Entflechtungsmittel ist meines
Erachtens völlig angemessen. Aber wir brauchen eine
Regelung, die länger als zwölf Monate hält, damit diese
unwürdigen Spielchen nicht jedes Jahr aufs Neue ge-
spielt werden und die Länder wissen, was Sache ist. Das
kostet kein zusätzliches Geld, stärkt aber die Investi-
tionsbereitschaft der Länder maßgeblich.
Wenn der Bund erhebliche öffentliche Mittel bereit-
stellt – wir reden für 2014 immerhin über Finanzhilfen
von fast 2,6 Milliarden Euro –, muss er auch dafür sor-
gen, dass das Geld an den richtigen Stellen ankommt.
Das ist bisher leider nur unzureichend geregelt. Wir
Grünen sagen ganz klar: Bei der Verwendung der Ent-
flechtungsmittel muss der Schwerpunkt auf Investitio-
nen in Hochschulen liegen. Das Kooperationsverbot
verhindert bisher leider jede Möglichkeit zur Bildungsfi-
nanzierung durch den Bund, den Ländern fehlt das Geld
für eine angemessene Ausstattung. Nachdem der Bund
sich aus der Bildungsfinanzierung zurückgezogen hat,
müssen deshalb jetzt wenigstens die Entflechtungsmit-
tel, die der Bund den Ländern als Kompensation zahlt,
gezielt in den Wissenschaftsbereich investiert werden.
Darauf werden wir in den weiteren Verhandlungen
drängen. Immerhin liegt jetzt endlich ein Vorschlag auf
dem Tisch, das ist wenigstens schon einmal eine Diskus-
sionsgrundlage, mit der man arbeiten kann.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 27731
(A) (C)
(D)(B)
Steffen Kampeter, Parl. Staatssekretär beim Bun-
desminister der Finanzen: Es gibt einen klaren Auftrag
aus dem Grundgesetz, nämlich den Prüfauftrag, in wel-
cher Höhe die Entflechtungsmittel zur Aufgabenerfül-
lung der Länder noch angemessen und erforderlich sind.
Das ist der Auftrag.
Aus Sicht der Bundesregierung kann das Ziel nicht
eine dauerhafte Mitfinanzierung früherer Gemein-
schaftsaufgaben bzw. eine Bereitstellung von Finanzhil-
fen durch den Bund sein, sondern im Endergebnis ein
vollständiger Rückzug des Bundes aus diesen Gebieten.
Mit einer schrittweisen Rückführung der Kompensa-
tionszahlungen und der Entflechtung der Aufgaben wer-
den auch die Länder gestärkt. Das wäre im Sinne unseres
föderalen Systems.
Der Bundesrat fordert hingegen, abgeleitet aus Bedar-
fen, für die Jahre 2014 bis 2019, die Kompensationsleis-
tungen für die Bereiche „Hochschulbau“ und „Gemein-
deverkehrsfinanzierung“ zu erhöhen und für die Bereiche
„Bildungsplanung“ und „Wohnraumförderung“ in unver-
änderter Höhe fortzuführen.
Bedarfe – und das wissen wir doch – lassen sich in
beliebiger Höhe errechnen. Aufgabe der Politik ist ge-
rade die Priorisierung dieser Bedarfe.
Zahlreiche Verhandlungsrunden zwischen Bund und
Ländern – nun schon über fast zwei Jahre – führten nicht
zum Erfolg, obwohl die Bundesregierung stets ihre Be-
reitschaft zu einer Verständigung signalisiert hat. Von
den Ländern kamen solche Signale bisher nicht.
Da Länder und Kommunen ein gewisses Maß an Pla-
nungssicherheit fordern, um ihre Investitionstätigkeit
nicht unterbrechen zu müssen, hat sich die Bundesregie-
rung trotz dieser ausgesprochenen Blockadehaltung be-
reit erklärt, die Mittel im Jahr 2014 in unveränderter
Höhe fortzuführen. Es handelt sich hierbei immerhin um
knapp 2,6 Milliarden Euro, die der Bund den Ländern
zur Verfügung stellen will. Und das steht im Gesetzent-
wurf.
Wir wollen weitere Gespräche über die Höhe der Mit-
tel für die Zeit nach 2014 führen.
Dieses Entgegenkommen des Bundes wird von den
Ländern allerdings nicht anerkannt. Der Bundesrat hat in
seiner Stellungnahme zu dem Gesetzentwurf die bisheri-
gen Länderforderungen wiederholt – frei nach dem
Motto: Steter Tropfen höhlt den Stein!
Die Bundesregierung hat in ihrer Gegenäußerung die
Forderungen des Bundesrates zurückgewiesen. Essen-
ziell für uns bleibt, dass die Mittel im Zeitraum bis 2019
abgesenkt werden müssen. Weder aus dem Grundgesetz
noch aus dem Entflechtungsgesetz lässt sich ableiten,
dass sich der Bund dauerhaft an der Finanzierung der ge-
nannten Aufgaben beteiligen soll.
Die Bundesregierung bekräftigt ihre Bereitschaft, ei-
nen konstruktiven Beitrag zu einer fristgerechten Lösung
zu leisten, erwartet dasselbe jedoch auch von den Län-
dern.
Und nun zu dem Junktim:
Zwischen Bund und Ländern wurde im Zusammen-
hang mit der Ratifizierung des Fiskalvertrags Ende Juni
2012 vereinbart, dass im Herbst des Jahres 2012 eine Ei-
nigung über die Fortführung der Entflechtungsmittel er-
zielt werden solle. Das Eckpunktepapier, in dem dies
festgehalten wurde, enthielt auch eine allgemeine Eini-
gung zur innerstaatlichen Umsetzung des Fiskalvertrags.
Die Länder haben zwischen diesen Vorhaben stets eine
direkte Verbindung hergestellt.
So verweigerten sie im Dezember 2012 dem Gesetz
zur innerstaatlichen Umsetzung des Fiskalvertrags im
Bundesrat die Zustimmung, da sie ihre Forderungen zu
den Entflechtungsmitteln nicht erfüllt sahen. Erst letzte
Woche hat der Finanzausschuss des Bundesrates dem
Bundesrat empfohlen, das von den Fraktionen von CDU/
CSU und FDP erneut eingebrachte Gesetz zur innerstaat-
lichen Umsetzung des Fiskalvertrags an den Vermitt-
lungsausschuss zu überweisen. Im Interesse stabiler
Haushalte auf europäischer Ebene appelliere ich daher
auch an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen: Machen
wir alle unseren Kollegen in den Landesregierungen
klar, dass eine Einigung in diesen Bereichen uns allen
hilft.
Haushaltskonsolidierung und solide öffentliche Haus-
halte sind zur Sicherung der langfristigen Handlungsfä-
higkeit des Staates unverzichtbar. Die Forderungen der
Länder sind deshalb nicht akzeptabel. Einzelne Politik-
bereiche dürfen nicht von der Konsolidierung ausge-
nommen werden. Eine Blockadehaltung der Länder ist
wenig hilfreich – ein weiteres Abwarten für Verhandlun-
gen auch nicht.
Ich werbe daher um Zustimmung zum vorliegenden
Gesetzentwurf. Wir unterbreiten den Ländern ein faires
Angebot. Ich appeliere hiermit nochmals ausdrücklich
an die Länder, nicht nur an den Verhandlungstisch zu-
rückzukehren, sondern auch ein Angebot mitzubringen;
denn nur dann kann man verhandeln.
Lassen Sie uns in künftigen Gesprächen eine Eini-
gung für die Jahre nach 2014 erzielen.
Anlage 12
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Umsetzung der Amtshilferichtlinie sowie zur Än-
derung steuerlicher Vorschriften (Amtshilfericht-
linie-Umsetzungsgesetz – AmtshilfeRL-UmsG)
(Tagesordnungspunkt 30)
Olav Gutting (CDU/CSU): Mit dem Amtshilfericht-
linie-Umsetzungsgesetz befassen wir uns heute mit
Maßnahmen, welche eigentlich bereits mit dem Jahres-
steuergesetz 2013 hier im Bundestag – auch mit der
Opposition – hinreichend beraten und auch beschlossen
wurden. Das Jahressteuergesetz 2013 sollte auch diesmal
überwiegend dazu dienen, steuertechnische Anpassun-
gen aus Gerichtsurteilen, EU-rechtlichen Vorgaben, aber
auch aus Anregungen von Verwaltung und Verbänden
und des Bundesrates aus Praktikabilitätsgründen im
27732 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013
(A) (C)
(D)(B)
Rahmen eines Omnibusgesetzes vorzunehmen. Soweit
die bisherige bewährte Praxis.
Leider mussten wir vor Weihnachten erleben, wie die
rot-grüne Opposition über ihre Mehrheit im Bundesrat
parteipolitische Spielchen mit diesem wichtigen Jahres-
steuergesetz betrieben hat. Nachdem man sich im Ver-
mittlungsausschuss im Wesentlichen geeinigt hatte,
musste die rot-grüne Ländermehrheit plötzlich ein neues
Stöckchen hervorzaubern.
Das Ergebnis ist bekannt. Es ist besonders schade,
weil Sie mit diesen taktischen Spielchen auch Ihre eige-
nen für wichtig erachteten und über den Bundesrat ein-
gebrachten Anträge auf dem Altar billiger Polemik und
des Wahlkampfes geopfert haben. Jetzt stellen Sie sich
hin und wundern sich, dass die von uns mit der Mehrheit
der Koalition im Bundestag beschlossene Schließung
von Steuerschlupflöchern nicht umgesetzt werden kann.
Sie haben damit nicht nur unserem Land einen Bären-
dienst erwiesen, sondern vielen Bürgerinnen und Bür-
gern, welche auf rasche Umsetzung wichtiger Regelun-
gen zum Jahresanfang vertraut haben, geschadet.
Ich erinnere hier nur beispielhaft an die Antragsmög-
lichkeit für den Arbeitnehmer, die Geltungsdauer eines
im Lohnsteuerabzugsverfahren zu berücksichtigenden
Freibetrags künftig auf zwei Kalenderjahre zu verlän-
gern, aber auch an die notwendige Regelung zur Einfüh-
rung der elektronischen Lohnsteuerabzugsmerkmale und
der Umsetzung des OECD-Ansatzes zur internationalen
Betriebsstättenbesteuerung.
Ich hoffe nur, die Wählerinnen und Wähler, welche
Geldbezüge im Bundesfreiwilligendienst oder einem
anderen freiwilligen zivilen Dienst, insbesondere im
Jugendfreiwilligendienst, erhalten, werden sich daran er-
innern, dass Sie von der Opposition aus rein wahl-
taktischen Gründen mit Ihrer Obstruktionspolitik im
Bundesrat die Steuerfreiheit beim Taschengeld und ver-
gleichbaren Geldleistungen verhindert haben.
Auch den besonderen Gewerbesteuer-Zerlegungs-
maßstab für Windkraftanlagen, welcher auch auf Solar-
anlagen ausgeweitet werden sollte, haben Sie verhindert.
Das ist insbesondere deshalb ärgerlich, weil wir diese
Maßnahme, welche insbesondere auch vom Rot-Grün
bestimmten Bundesrat mehrfach gefordert wurde, stets
unterstützt haben und weil wir damit auch die im Bericht
des Finanzausschusses zur Umsetzung der Beitreibungs-
richtlinie eingeforderte Regelung endlich einführen
wollten.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf – im Vergleich
zum Jahressteuergesetz 2013 deutlich abgespeckten Ge-
setzentwurf – wollen wir nunmehr wenigstens die zwin-
gend notwendigsten Maßnahmen mit dem geringsten
politischen Konfliktpotenzial schnellstmöglich im Inte-
resse der Betroffenen umsetzen.
Wir beraten hier lediglich knapp 20 Maßnahmen,
während beim Jahressteuergesetz 2013 mit den Empfeh-
lungen des Bundesrates weit über 200 steuerrechtliche
Einzelregelungen zu diskutieren waren. Hierzu zählt die
Umsetzung der Amtshilferichtlinie in deutsches Recht.
Mit der Richtlinie soll eine effizientere Zusammenarbeit
der Steuerbehörden der EU-Mitgliedstaaten erreicht
werden, um Steuern bei grenzüberschreitenden Aktivitä-
ten ordnungsgemäß festsetzen zu können. Wesentlich ist
die Schaffung sogenannter zentraler Verbindungsbüros
in allen Mitgliedstaaten, die stufenweise Entwicklung ei-
nes automatischen Informationsaustauschs und die Ver-
besserung der Verwaltungszusammenarbeit.
Bereits beim Jahressteuergesetz 2013 war es uns be-
sonders wichtig, die Elektromobilität zu fördern. Daran
halten wir auch mit diesem Gesetzentwurf aus gutem
Grunde fest. Wir verstehen die Elektromobilität als ein
wichtiges zukunftsträchtiges und innovatives Element
nachhaltiger Energie- und Verkehrspolitik, wobei es hin-
derliche Steuernachteile auszugleichen gilt, um unser
Land bis zum Jahr 2020 zum Leitmarkt und Leitanbieter
dieser Technologie zu machen.
Zukünftig soll deshalb der Listenpreis eines Elektro-
oder Hybridfahrzeugs – als Besteuerungsgrundlage für
die 1-Prozent-Regelung bei der Dienstwagenbesteue-
rung – um einen pauschalen Betrag, welcher von der
Batteriekapazität und dem Anschaffungsjahr des Fahr-
zeugs und unter Beachtung eines Höchstbetrags abhängt,
gemindert werden.
Wir werden mit diesem Gesetzentwurf dem soge-
nannten „Goldfinger“-Steuergestaltungsmodell einen
Riegel vorschieben, bei dem über Auslandsgesellschaf-
ten durch Erwerb von Edelmetallen Verluste durch zeit-
lich versetzte Berücksichtigung von Betriebsausgaben
bei Progressionseinkünften erzeugt werden. Gerade bei
der bereits im Jahressteuergesetz 2013 geplanten Aus-
trocknung dieser legalen Steuervermeidungspraktik
zeigt sich, dass der Opposition wahltaktisches Kalkül
wichtiger war als die Interessen der Allgemeinheit.
Dringender Optimierungsbedarf besteht auch durch
das mit dem Beitreibungsrichtlinie-Umsetzungsgesetz
geregelte Verfahren zum automationsgestützten Kir-
chensteuerabzug auf Kapitalertragsteuer. Wir wollen
hier die Möglichkeit der Anlassabfrage für alle Kirchen-
steuerabzugsverpflichteten einführen und Sperrvermerke
nur dann berücksichtigen, wenn diese spätestens zwei
Monate vor der Abfrage des Kirchensteuerabzugsver-
pflichteten eingegangen sind.
Auch bei den Vorschriften zur Einführung des Verfah-
rens der elektronischen Lohnsteuerabzugsmerkmale ist
eine Neuregelung erforderlich, weil diese Vorschrift ab
dem 1. Januar 2013 aufgehoben worden ist. Es wird
klargestellt, dass im Übergangszeitraum bis zur erstmali-
gen Anwendung der elektronischen Lohnsteuerabzugs-
merkmale durch den Arbeitgeber entweder die Lohn-
steuerkarte 2010 oder eine vom Finanzamt ausgestellte
Bescheinigung für den Lohnsteuerabzug maßgebend ist.
Anstatt des raschen Einstiegs sämtlicher Arbeitgeber
in das ELStAM-Verfahren ist nunmehr ein einjähriger
Einführungszeitraum vorgesehen, welcher den Arbeitge-
bern mehr Zeit zur Umstellung auf das ELStAM-Verfah-
ren gewährt. Gleichzeitig vermeiden wir damit techni-
sche und organisatorische Probleme, die bei einem
gleichzeitigen Einstieg aller Arbeitgeber zu einem festen
Termin entstehen könnten.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 27733
(A) (C)
(D)(B)
Im Bereich der Umsatzbesteuerung müssen wir auf-
grund europarechtlicher Vorgaben den ermäßigten
Mehrwertsteuersatz für Kunstgegenstände und Samm-
lungsstücke, wozu auch Briefmarken gehören, aufheben.
Diese Umsätze unterliegen künftig dem Regelsteuersatz.
Gleichzeitig werden wir aber im Gegenzug zur Ver-
meidung von Härten im Kunsthandel die Umsatzsteuer
nach dem Betrag bemessen, um den der Verkaufspreis
den Einkaufspreis eines Gegenstands übersteigt, wobei
die zugrunde zu legende Differenz pauschal 30 Prozent
des Verkaufspreises beträgt.
Mit dieser Maßnahme, welche es dringend umzuset-
zen gilt, wollten wir bereits mit dem Jahressteuergesetz
2013 einer Verurteilung durch den EuGH zuvorkommen,
da die Europäische Kommission gegen Deutschland ein
Vertragsverletzungsverfahren wegen des Anwendungs-
bereichs des ermäßigten Umsatzsteuersatzes für Kunst-
gegenstände und Sammlungsstücke eingeleitet hatte.
Parteitaktische Spielchen sind deshalb umso weniger an-
gebracht.
Ich rate deshalb allen Beteiligten, diesen Gesetzent-
wurf auf sachlicher Ebene zu beraten und in der gebote-
nen Eile zu verabschieden, damit auch die weiteren not-
wendigen Maßnahmen beispielsweise im Bereich der
Umsatzsteuer zum Reverse-Charge-Verfahren, aber auch
im Bereich der rückwirkenden Gleichstellung von einge-
tragenen Lebenspartnern und Ehegatten bei der Grund-
erwerbsteuer, schnellstmöglich in Kraft treten können.
Wir können diesen Gesetzentwurf zügig beraten und
verabschieden; denn sämtliche Maßnahmen der jetzigen
Gesetzesvorlage wurden bereits ausgiebig im Finanzaus-
schuss und in der Sachverständigenanhörung zum Jah-
ressteuergesetz 2013 erörtert und beraten.
Ich kann die Opposition nur dazu auffordern, ihre
Obstruktionspolitik im Bundesrat aufzugeben und den
nunmehr vorliegenden Maßnahmen zuerst hier im Ple-
num und letztendlich auch im Bundesrat zuzustimmen.
Alles andere wäre unredlich, schadet unserem Land und
nicht zuletzt unseren Bürgerinnen und Bürgern.
Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): Die Koalitions-
fraktionen haben mit dem Amtshilferichtlinien-Umset-
zungsgesetz, wie es nun heißt, also dem „Jahressteuerge-
setz light“, einen Teil des Jahressteuergesetzes 2013
erneut vorgelegt. Schon diese merkwürdige Wandlung
im Namen des Gesetzes deutet auf einen interessanten
Vorgang. Mal angenommen, FDP und CSU wären in der
Frage eingetragener Lebenspartnerschaften nicht zer-
stritten, mal angenommen, die CDU-Fraktion wäre in
dieser Frage nicht gespalten: Das gesamte Jahressteuer-
gesetz 2013 wäre schon längst beschlossen. Aber dieser
Koalition ist ihr eigener Koalitionsvertrag nichts wert.
Interessant ist dabei weniger der nun vorgelegte Teil
als vielmehr die fehlenden Vorschriften. Weggelassen
wurden leider auch jene Regelungen, auf die sich Koali-
tion und Opposition im Vermittlungsverfahren zum Jah-
ressteuergesetz 2013 schon geeinigt haben. Wohlge-
merkt: Koalition und Opposition! Wie tief müssen die
Gräben zwischen CDU/FDP/CSU sein, wenn die Kraft
fehlt, selbst solche Dinge einzubringen, die von allen als
notwendig angesehen werden!
Die Koalition hat bis vor kurzem für erforderlich
gehaltene und im eigenen Gesetzentwurf enthaltene
Maßnahmen verworfen. Dies gilt zum Beispiel für die
Steuerbefreiung von Geld- und Sachbezügen von Wehr-
pflichtigen, Zivildienstleistenden und Bundesfreiwilli-
gendienstleistenden. Gestrichen wurde die zweijährige
Geltungsdauer der im Lohnsteuerabzugsverfahren zu be-
rücksichtigenden Freibeträge. Es fehlen außerdem die
Änderungen im Außensteuergesetz, durch die Steuerge-
staltungen bei der Verschiebung von Wirtschaftsgütern
zwischen den Betriebsstätten eines international tätigen
Unternehmens verhindert worden wären. Es fehlen also
sehr wichtige Regelungen.
Auf die Bürgerinnen und Bürger nimmt die Koalition
keine Rücksicht. Gut begründete Steuererleichterungen
und berechtigte Steuervereinfachungen bleiben den Be-
troffenen vorenthalten. Ungerechtfertigte Steuergestal-
tungen von Unternehmen mit hohen Steuerausfällen
können unter den Augen der Finanzverwaltung fortge-
setzt werden.
Es ist ein besonderes Ärgernis, dass die Koalition
nicht mehr zu ihren im Vermittlungsverfahren gemach-
ten Zusagen steht. Union und FDP erweisen sich einmal
mehr als unberechenbar. Bei diesen Vereinbarungen han-
delt es sich um Maßnahmen zur Missbrauchsbekämp-
fung, die hohe Steuerausfälle für die öffentlichen Kassen
verhindern könnten.
Anhand von zwei Beispielen möchte ich die Beden-
kenlosigkeit der Koalition illustrieren:
In dem einen Fall handelt es sich um die sogenannte
Cash-GmbH. Solche Cash-GmbHs werden im Bereich
der Erbschaft- und Schenkungsteuer zu umfangreichen
Steuerverkürzungen genutzt. Nach derzeitiger Rechts-
lage besteht die Möglichkeit, Barvermögen erbschaft-
steuerfrei zu übertragen, indem dieses zuvor in das Be-
triebsvermögen einer Gesellschaft, zum Beispiel einer
GmbH, eingelegt wird. Die Empfehlung des Vermitt-
lungsausschusses sah eine Beendigung dieser Steuerge-
staltung vor.
Zusätzlich sollte der Katalog des schädlichen Verwal-
tungsvermögens um die Positionen „Zahlungsmittel,
Sichteinlagen, Bankguthaben und andere Forderungen“
erweitert werden. Diese Positionen sollten erst schädli-
ches Verwaltungsvermögen sein, wenn ihr Gesamtwert
10 Prozent des Unternehmenswertes übersteigt. Die ge-
plante Regelung sah außerdem zugunsten des Steuer-
pflichtigen vor, dass Schulden der Gesellschaft min-
dernd zu berücksichtigen sind, also nur der positive
Saldo aus Forderungen und Schulden als Verwaltungs-
vermögen anzusehen ist.
Weitere Ausnahmeregelungen stellten sicher, dass
eine typische Konzernfinanzierung in Form einer Kon-
zernholding oder Konzern- bzw. Konzernfinanzierungs-
gesellschaft auch künftig möglich bleibt. Von dieser zwi-
schen den Steuerexperten von Bund und Ländern
vereinbarten Regelung will Schwarz-Gelb jetzt nichts
mehr wissen.
27734 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013
(A) (C)
(D)(B)
Die sogenannten RETT-Blocker, also Real-Estate-
Transfer-Tax-Blocker, bilden das zweite Beispiel. Die
mithilfe von RETT-Blocker-Strukturen bei großen Immo-
bilientransaktionen durchgeführten Gestaltungen führen
bei der Grunderwerbsteuer zu jährlichen Steuerausfällen
von mehreren 100 Millionen Euro. Das Aufkommen der
Grunderwerbsteuer wird deshalb immer stärker von den
kleinen Leuten, zum Beispiel beim Erwerb eines Eigen-
heims, getragen.
Der Grunderwerbsteuer unterliegen auch Rechtsge-
schäfte, bei denen 95 Prozent der Anteile einer grundbe-
sitzenden Gesellschaft erworben werden. RETT-Blocker
zielen darauf ab, bei einem Anteilserwerb die grunder-
werbsteuerliche Zuordnung eines Grundstücks durch
Zwischenschaltung einer Gesellschaft zu verhindern.
Dies kann beispielsweise dadurch geschehen, dass sich
der Erwerber an der grundbesitzenden Gesellschaft le-
diglich zu 94 Prozent direkt beteiligt und die restlichen
Anteile über eine andere Gesellschaft erwirbt, an der er
nur mittelbar beteiligt ist. In der bisher geltenden zivil-
rechtlichen Betrachtung unterschreitet er durch die Zwi-
schenschaltung der Gesellschaft die relevante Beteili-
gungsgrenze von 95 Prozent für die gewerbesteuerliche
Zuordnung des Grundstücks.
Durch die vom Vermittlungsausschuss beschlossene
Neuregelung sollte die rein zivilrechtliche Betrachtungs-
weise durch eine wirtschaftliche Betrachtungsweise er-
setzt werden. Danach sollte dem Rechtsträger das Grund-
stück auch dann zugerechnet werden, wenn dessen
wirtschaftliche Beteiligung an der Gesellschaft mit einem
inländischen Grundstück mindestens 95 Prozent beträgt.
Mittelbare und unmittelbare Beteiligung sollen dabei zu-
sammengerechnet werden. Die Steuervermeidung durch
die Zwischenschaltung von Gesellschaften wäre damit
beendet worden.
Das war nun etwas technisch.
Zusammengefasst sollte es Vorschriften zu Real-Es-
tate-Transfer-Tax-, also RETT-Blocker-Strukturen in der
Grunderwerbsteuer an den Kragen gehen, mit denen sich
massiv Grunderwerbsteuer sparen lässt. Durch ihr Abrü-
cken von dieser Regelung verlängert die schwarz-gelbe
Koalition diese Steuergestaltungen zum Schaden der Ge-
meinschaft.
Die SPD-Fraktion bleibt bei ihrer Kritik an dem un-
verantwortlichen Vorgehen der Koalition nicht stehen.
Wir werden in den Beratungen des Gesetzentwurfs die
bereits vereinbarten Regelungen wieder einbringen. Um
eine Einigung nicht zu gefährden, werden wir auf strittig
gebliebene Regelungen verzichten. Uns ist nicht daran
gelegen, den Streit der Koalition über ihre eigene Koali-
tionsvereinbarung wichtiger zu nehmen als die Interes-
sen unserer Gesellschaft. Es geht uns um eine schnelle
Umsetzung der einvernehmlich vereinbarten Maßnah-
men zur Missbrauchsbekämpfung und zu Steuererleich-
terungen. Die taktischen Spielereien von Schwarz-Gelb
auf Kosten der Bürgerinnen und Bürger müssen beendet
werden.
Mit Rücksicht auf unseren erkrankten CDU-Kollegen
Olav Gutting haben alle Fraktionen einvernehmlich ihre
Redebeiträge zu Protokoll gegeben. Im Namen der SPD-
Fraktion und sicher auch im Namen aller Kolleginnen
und Kollegen wünsche ich ihm auf diesem Weg gute
Besserung.
Dr. Daniel Volk (FDP): Das Jahressteuergesetz
2013, welches leider durch taktische Spielchen von Rot-
Grün scheiterte, enthielt eine Reihe von Punkten, die für
mehr Steuergerechtigkeit, einen besseren Steuervollzug
und klarere Regeln in der deutschen Steuergesetzgebung
sorgen sollten. Im Rahmen des Gesetzes zur Umsetzung
der Amtshilferichtlinie sowie zur Änderung steuerlicher
Vorschriften wird nun eine Vielzahl der Punkte erneut
aufgegriffen.
Besonders hilfreich und Bürokratie abbauend wird
sich die zweijährige Geltungsdauer der im Lohnsteuer-
abzugsverfahren zu berücksichtigenden Freibeträge er-
weisen. Diese Verfahrensanweisung ist sowohl für die
Arbeitnehmer als auch für die Finanzverwaltung entlas-
tend. Die in § 39 a Abs. 1 Satz 2 geregelte zweijährige
Geltungsdauer eines Freibetrags im Lohnsteuerabzugs-
verfahren ist erstmals für den Lohnsteuerabzug 2014 an-
zuwenden und befreit den Steuerpflichtigen von den jähr-
lichen Neuanträgen auf Lohnsteuerermäßigung, soweit
sich bezüglich seiner Antragssituation nichts geändert
hat.
Mit dem Jahressteuergesetz 2013 werden die EU-
Amtshilferichtlinie, die Mehrwertsteuersystemrichtlinie,
die Rechnungsstellungsrichtlinie sowie die sogenannte
Mutter-Tochter-Richtlinie umgesetzt. Dies ist zur Ver-
meidung eines Vertragsverletzungsverfahrens durch die
EU-Kommission auch zwingend notwendig. Dabei wird
eine effizientere Zusammenarbeit zwischen den Steuer-
behörden der Mitgliedstaaten ermöglicht, um Steuern
bei grenzüberschreitenden Aktivitäten von Steuerpflich-
tigen besser festsetzen zu können.
Durch das Gesetz werden Regelungen zur Vermei-
dung einer Doppelbesteuerung von Dividendenausschüt-
tungen von Tochtergesellschaften an ihre Muttergesell-
schaften an die Neufassung der Richtlinie 2011/96/EU
des Rates vom 30. November 2011 über das gemein-
same Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaf-
ten verschiedener Mitgliedstaaten – sogenannte Mutter-
Tochter-Richtlinie – angepasst.
Zur Umsetzung des Regierungsprogramms Elektro-
mobilität wird in das Steuerrecht eine Regelung zum
Nachteilsausgleich für die private Nutzung von betrieb-
lichen Elektrofahrzeugen und Hybridelektrofahrzeugen
aufgenommen. Damit unterstützen wir die weitere Ein-
führung von alternativen ökologischen Antrieben.
Weiterhin bekämpfen wir mit dem Gesetz den Um-
satzsteuerbetrug durch die Erweiterung der Steuer-
schuldnerschaft des Leistungsempfängers auf Lieferun-
gen von Erdgas und Elektrizität durch Wiederverkäufer.
Ebenso schließen wir ein Steuerschlupfloch im Be-
reich des negativen Progressionsvorbehalts. Durch das
sogenannte Goldfinger-Modell entgingen dem Staat er-
hebliche Steuereinnahmen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 27735
(A) (C)
(D)(B)
Der Gesetzentwurf zeigt, dass das Steuerrecht sehr
komplex ist und damit der Lebenswirklichkeit einer ent-
wickelten Industrienation entspricht. Dass nur noch Ex-
perten den Durchblick haben, und das auch nur noch in
Teilbereichen, liegt auf der Hand. Forderungen nach
Steuervereinfachung sind berechtigt, setzen aber voraus,
dass dem deutschen Drang nach Einzelfallgerechtigkeit
stärker entgegengetreten wird. Stärkere Pauschalierun-
gen würden ebenfalls helfen, kosten aber Geld und ga-
rantieren ebenfalls keine Einzelfallgerechtigkeit. Das
Ziel der Steuervereinfachung bleibt; trotzdem muss das
bestehende Recht an sich verändernde Verhältnisse an-
gepasst werden.
Die FDP steht für eine verantwortungsbewusste und
nachhaltige Steuer- und Finanzpolitik. Wir haben die Fa-
milien entlastet. Wir haben die Unternehmen entlastet.
Wir haben Arbeitsplätze gesichert. Wir haben Gesund-
heit wieder bezahlbarer gemacht. Wir stehen für Investi-
tionen in die Zukunft. Wir werden die Bildungschancen
für alle Menschen in diesem Land verbessern; denn dies
bedeutet Wettbewerbsfähigkeit auch in vielen Jahren
und damit Wohlstand für die Menschen in diesem Land!
Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Zu Beginn möchte
ich ganz klar festhalten, dass es ein Unding der parla-
mentarischen Verfahrensweise ist, einen Gesetzentwurf
erst am Tage der Behandlung im Finanzausschuss vorlie-
gen zu haben und diesen dann am folgenden Tage im
Plenum zu behandeln und dann in der Folgewoche letzt-
lich abzuschließen.
Worum geht es? Das Jahressteuergesetz 2013 mit der
Drucksachennummer 17/10000 ist letztlich nach langem
hin und her im Vermittlungsausschuss gescheitert, ob-
wohl – und das möchte ich betonen – das Ergebnis des
Vermittlungsausschusses eine Verbesserung zu Ihrem
Gesetzentwurf darstellt; denn zum einen wurde die steu-
erliche Gleichstellung eingetragener Lebenspartnerschaf-
ten aufgenommen, zum anderen die Regelung sogenann-
ter Cash-GmbHs. Da Sie sich jedoch absolut gegen die
steuerliche Gleichstellung eingetragener Lebenspartner-
schaften wehren und wieder einmal auf die Belehrung des
Bundesverfassungsgerichts warten wollen, ist das im Ver-
mittlungsausschuss verbesserte Jahressteuergesetz 2013
gescheitert. Und das verdanken wir nur ihrer Borniertheit.
Nun hätte man ja denken können, Sie greifen jetzt we-
nigstens die wichtigsten Punkte auf, doch ich vermisse
zum Beispiel die Regelung der sogenannten Cash-
GmbHs. Da einige Punkte jedoch dringend umgesetzt
werden müssen, legen Sie uns jetzt schnell einen neu zu-
sammengeschusterten Gesetzentwurf – den Entwurf ei-
nes Amtshilferichtlinie-Umsetzungsgesetzes – vor, um
doch noch einige Dinge aus dem gescheiterten Jahres-
steuergesetz 2013 umzusetzen.
Zum einen betrifft das die Umsetzung der EU-Amts-
hilferichtlinie. Das begrüßen wir; denn sie stellt einen
weiteren Ausbau des automatischen Informationsaus-
tausches, das effektivste Mittel gegen internationale
Steuerhinterziehung, dar. Zum anderen findet sich auch
die Maßnahme gegen die Steuergestaltung unter Ausnut-
zung des negativen Progressionsvorbehalts. Die Maß-
nahme befürworten wir; denn diese aktuellen Steuer-
gestaltungsmodelle, die insbesondere durch An- und
Verkauf von Gold im Ausland umgesetzt werden, hat die
Fraktion Die Linke seit längerem im Fokus. Unter ande-
rem stellten wir dazu eine Kleine Anfrage im Bundestag.
Was Sie uns hier vorlegen, ist sozusagen ein Jahres-
steuergesetz light. Welche Regelungen aus dem bisheri-
gen Gesetzentwurf konkret übernommen worden sind
und ob neue dazugekommen sind, kann ich bisher nicht
genau sagen, da uns der Gesetzentwurf erst seit einem
Tag vorliegt und über 80 Seiten umfasst. Eine tiefer-
gehende inhaltliche Befassung war in der Kürze nicht
möglich. Eine vernünftige parlamentarische Behandlung
machen Sie somit unmöglich. Selbst meine vom letzten
Freitag, dem 15. Februar 2013, beantragte schriftliche
Aufstellung, was nun im Vergleich zum gescheiterten
Jahressteuergesetzes 2013 alles geregelt werden soll und
was nicht, haben wir ebenfalls noch nicht erhalten.
In der gestrigen Finanzausschusssitzung haben wir
daher unter TOP 0 beantragt, hierauf endlich Antworten
zu bekommen. Doch wieder nichts, keine konkreten In-
formationen! Nicht einmal eine Aussage zum parlamen-
tarischen Ablauf konnte der parlamentarische Staatsse-
kretär Hartmut Koschyk geben. Außerdem sagte er, dass
es keine weitere Initiative eines Jahressteuergesetzes ge-
ben wird.
Wir wollen auch Folgendes festhalten:
Dass es jetzt überhaupt zu diesem Durcheinander
kam, liegt einzig und allein an Ihrer Borniertheit, die
steuerliche Gleichstellung von eingetragenen Lebenspart-
nerschaften im Jahressteuergesetz 2013 nicht vornehmen
zu wollen, obwohl diese längst überfällig ist. Linke, SPD
und Grüne weisen sie seit langem darauf hin. Nun soll
der vorliegende Gesetzentwurf innerhalb von acht Tagen
durch das Parlament gepeitscht werden – ohne die Mög-
lichkeit der Anhörung entsprechender Expertinnen und
Experten und ohne, dass sich die Oppositionsfraktionen
ausführlich damit befassen können.
Statt hier fachlich sauber zu arbeiten, schieben Sie
sich den schwarzen Peter gegenseitig zu, und von der
Bundesregierung heißt es, sie habe im Bundesrat die ein-
malige Chance dazu gegeben, nochmals lasse sie sich
nicht über den Tisch ziehen. Da fehlen mir schlicht und
einfach die Worte. Das ist keine seriöse Politik, das ist
Kindergartentheater.
Ich hoffe, dass noch einige wichtige Punkte, wie zum
Beispiel die Cash-GmbHs, in den Gesetzentwurf aufge-
nommen werden.
Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Wir erleben hier heute einen weiteren Akt der
völlig verfehlten Steuerpolitik von Schwarz-Gelb. Das
Schlimme dabei ist, dass die Koalition mit dem vorge-
legten Gesetzentwurf unser Grundgesetz mit Füßen tritt.
Die Koalition gewährt verfassungswidrigen Besserstel-
lungen von Unternehmen in der Erbschaftsteuer Be-
standsschutz und versagt Homosexuellen gleichzeitig
das grundgesetzlich gebotene Recht auf Gleichbehand-
lung auch im Steuerrecht. Ich sage Ihnen gleich zu Be-
27736 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013
(A) (C)
(D)(B)
ginn: Das ist mit uns Grünen nicht zu machen. Hinter
den Konsens aus dem Vermittlungsausschuss zum Jah-
ressteuergesetz wird die grüne Bundestagsfraktion nicht
zurückfallen.
Wir müssen an dieser Stelle weniger über den Inhalt
des von Herrn Schäuble vorgelegten Gesetzentwurfs
reden, sondern über Dinge, die eben nicht in diesem
Steuergesetz auftauchen. Im Vermittlungsausschuss zum
Jahressteuergesetz gab es den Konsens, dass Steuer-
gestaltungsmodelle wie die Cash-GmbH oder die RETT-
Blocker geschlossen werden – zum Wohl der Gesell-
schaft und im Einklang mit unserem Grundgesetz, das
eine Gleichbehandlung auch im Erbschaftsteuerrecht
vorsieht. Es dürfte auch der Koalition nicht entgangen
sein, dass der Bundesfinanzhof und einige Verfassungs-
rechtler die Begünstigungen für Betriebsvermögen in der
Erbschaftsteuer für grundgesetzwidrig erklärt haben; die
Cash-GmbH ist nur eine dieser fragwürdigen Begünsti-
gungen. Hier spielt die FDP mal wieder ihr liebstes Spiel
und versucht unter dem Deckmantel von Liberalität und
Freiheit, die Pfründe der oberen 10 000 zu sichern. Das
ist erbärmlich.
Dass Herr Schäuble und sein Haus dieses Spiel mit-
spielen, ist umso bedenklicher. Aber was soll man schon
von einem ehemaligen Verfassungsminister erwarten,
der in der Abstimmung über die steuerrechtliche Gleich-
stellung von Lesben und Schwulen eine Position von
Vorgestern vertritt und so jeden Respekt vor dem Grund-
gesetz vermissen lässt? So beweist Schwarz-Gelb einmal
mehr, dass diese Koalition keine Zukunft hat, weil sie
schon zu den gesellschaftlich relevanten Fragen von
heute keine oder schlicht die falschen Antworten hat.
Zum Inhalt des Gesetzentwurfes will ich an dieser
Stelle dann doch etwas sagen: Die Bundesregierung will
mit der Einführung des Reverse-Charge-Verfahrens bei
Strom- und Gaslieferungen Umsatzsteuerbetrug be-
kämpfen. Diese Maßnahme befürworten wir ohne
Einschränkungen. Wir vermissen aber, dass sich die
Bundesregierung wirklich fordernd und effektiv für wei-
tere Maßnahmen im Bereich Umsatzsteuerbetrug ein-
setzt. Beim Schnellreaktionsmechanismus versteckt man
sich hinter der strikten Ablehnung von England, dass
eine Änderung des Rechtsrahmens – nämlich des Prin-
zips der Einstimmigkeit – strikt ablehnt.
In Zeiten, in denen der EU-Kommissar die giganti-
sche Summe von 1 000 Milliarden Euro nennt, die in
Europa jährlich durch Steuerhinterziehung und aggres-
sive Steuergestaltung verloren geht, muss Deutschland
auch mit einer verstärkten Öffentlichkeitsarbeit gerade
im Bereich der Umsatzsteuer schnellere Ergebnisse ein-
fordern. Auch national muss die Bundesregierung hier
endlich etwas liefern.
Der Bundesrechnungshof hat kürzlich die Bundesre-
gierung heftig wegen zu schleppender bzw. praktisch
keiner Fortschritte im Bereich der Umsatzsteuer kriti-
siert. Dabei sei der Reformbedarf enorm. „Bei zentralen
Aspekten der Umsatzsteuer sehe ich dringenden
Handlungsbedarf“, so Professor Engels, Präsident des
Bundesrechnungshofes, „handeln wir nicht, nehmen wir
erhebliche Steuerausfälle, unangemessenen Bürokratie-
aufwand und hohe EU-Strafzahlungen in Kauf.“ An die-
ser Stelle geht es also nicht nur um Steuereinnahmen,
sondern vielmehr auch um einen deutlichen Bürokratie-
abbau für Unternehmen. Da würden sich Einnahme-
sicherung mit Wirtschaftsförderung verbinden, gerade
auch für kleine und mittlere Unternehmen.
Der Finanzminister sieht hier aber wohl keinen Hand-
lungsbedarf. Das wäre nicht das Problem, wenn wir ein
wirksames Wirtschaftsministerium hätten. Dieses lässt
aber unter der Führung – oder besser unter der Nichtfüh-
rung – von Herrn Rösler Kompass und Tatkraft total ver-
missen.
Dieser Bundesregierung fehlen insgesamt Kompass,
Richtung und Durchsetzungsvermögen. Viele Steuer-
reformen wurden angesagt, aber die Ergebnisse sind
kläglich. Auch aus dem Jahressteuergesetz wurde dieses
ambitionslose Amtshilferichtlinienumsetzungsgesetz.
Ich zähle die Tage bis zum 22. September; dann hat die-
ses Trauerspiel endlich ein Ende.
Anlage 13
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Internationalen Übereinkommen von Nairobi
von 2007 über die Beseitigung von Wracks (Ta-
gesordnungspunkt 32)
Hans-Werner Kammer (CDU/CSU): Im wirklichen
Leben können Katastrophen auch positive Impulse geben.
Das ist nicht so wie bei uns mit der Opposition.
Das Gesetz zu dem Internationalen Übereinkommen
von Nairobi von 2007, über das wir heute sprechen, ist
so ein Fall. Worum geht es?
Werfen wir einen Blick in die Vergangenheit: Am
18. März 1967 kam es zu der ersten großen Ölpest in der
Geschichte der Menschheit, als der Tanker „Torrey
Canyon“ mit 120 000 Tonnen Öl an Bord vor der walisi-
schen Küste auf ein Riff auflief. Etwa 190 Kilometer der
englischen und 80 Kilometer der französischen Küste
wurden verschmutzt. Die Kosten für die Bekämpfung
der Ölpest waren enorm und mussten von den britischen
und französischen Steuerzahlern aufgebracht werden.
Im August 1990 mussten die deutschen Steuerzahler
für die zumindest teilweise Beseitigung eines anderen
Wracks bluten: 100 Kilometer westlich von Sylt sank die
norwegische Wohnplattform „West Gamma“. Bergungs-
fachleute bauten dieses gefährliche Hindernis mit Spezial-
geräten für den Unterwassereinsatz und mit Sprengun-
gen ab. Die „West Gamma“ war zwar außerhalb des
Hoheitsgebiets der Bundesrepublik Deutschland gesun-
ken, dennoch musste die Bundesrepublik Deutschland
diesen Gefahrenherd beseitigen. Die seewärtigen Zu-
fahrten zu unseren Häfen in der deutschen Ausschließli-
chen Wirtschaftszone – und damit auch die Sicherheit
der deutschen Küste – dürfen nicht gefährdet werden.
Kosten für Deutschland: knapp 10 Millionen D-Mark –
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 27737
(A) (C)
(D)(B)
10 Millionen D-Mark, die zulasten der Allgemeinheit
sozialisiert worden sind. So konnte es nicht weitergehen.
Das Seevölkerrecht half in beiden Fällen nicht weiter.
Die Internationale Seeschifffahrts-Organisation nahm
diese und ähnliche Fälle zum Anlass, die Haftung für
solche Schäden zu diskutieren. Erste Ergebnisse waren
die Haftungsübereinkommen für Ölverschmutzungs-
schäden durch Öltanker von 1969 und für Bunkeröl-
verschmutzungsschäden von 2001. Das Problem der
Wrackbeseitigung wurde jedoch nicht mit der gebotenen
Dringlichkeit behandelt.
Erst nach der Havarie der Wohnplattform „West
Gamma“ wurde das Thema vor allem auf Initiative
Deutschlands, der Niederlande und des Vereinigten Kö-
nigreichs in den Rechtsausschuss der Internationalen
Seeschifffahrts-Organisation eingebracht und dort im
Oktober 1996 erstmals eingehend diskutiert. Fast elf
Jahre später, im Mai 2007, wurde das Internationale
Übereinkommen von Nairobi von 2007 über die Beseiti-
gung von Wracks verabschiedet. Das deutsche Engage-
ment hatte sich gelohnt.
Dieses Übereinkommen ist ein Meilenstein zur Verbes-
serung der Sicherheit des internationalen Seeverkehrs,
zum Schutz der Meeresumwelt und insbesondere zum
Schutz der Küstenstaaten vor Gefahren, die von Wracks
für die Schifffahrt oder die Umwelt ausgehen. Diejeni-
gen, die im Gegensatz zu Ihnen, meine Damen und Her-
ren von der Linken, mit der Komplexität internationaler
Verhandlungen vertraut sind, werden diese enorme Leis-
tung würdigen und dem Gesetzentwurf der Bundesregie-
rung sofort und dankbar zustimmen. Damit auch unsere
Kolleginnen und Kollegen von der Linken verstehen,
worum es uns heute geht, lege ich Grundzüge der Rege-
lung gern noch einmal dar. Vielleicht führt dies ja bei Ih-
nen zu einem Erkenntnisgewinn. Glücklicherweise kön-
nen die, die immer noch Verständnisschwierigkeiten
haben, alles im Stenografischen Protokoll nachlesen.
Das Übereinkommen findet grundsätzlich in der den
nationalen Hoheitsgewässern vorgelagerten Ausschließ-
lichen Wirtschaftszone Anwendung. Der eingetragene
Eigentümer eines Schiffes muss jetzt ein Wrack, von
dem der betroffene Küstenstaat festgestellt hat, dass es
eine Gefahr für die Sicherheit des Schiffsverkehrs oder
die Meeresumwelt darstellt, auf eigene Kosten beseiti-
gen. Dies ist nur recht und billig: Jeder muss seinen
Schrott selbst wegräumen. So ein Übereinkommen sollte
es auch in der Politik geben; dann müssten wir nicht im-
mer die dem sicheren Untergang geweihten Projekte der
Opposition wegräumen. Wird der so verpflichtete Eigen-
tümer nicht tätig, so kann der betroffene Küstenstaat
selbst tätig werden, wenn Gefahr im Verzug ist. Die Kos-
ten muss selbstverständlich auch in diesem Fall der Ei-
gentümer tragen.
Damit sich Eigentümer nicht aus ihrer Verantwortung
stehlen können, sieht das Wrackbeseitigungsüberein-
kommen eine Versicherungspflicht des Eigentümers und
einen Direktanspruch des Küstenstaates gegen die Versi-
cherung vor. Diese Regelung folgt dem Haftungs- und
Entschädigungsregime, das sich schon bei Ölverschmut-
zungsschäden weltweit und speziell in Europa bei
schweren Havarien wie der des Öltankers „Erika“ be-
währt hat. Damit gehen die Kosten für die Beseitigung
von Wracks in der Ausschließlichen Wirtschaftszone in
Zukunft nicht mehr zulasten des Bundeshaushalts und
der Haushalte der Küstenländer. Die Bundesrepublik
Deutschland und ihre Bürger haben kein Geld zu ver-
schenken.
Dieses Gesetz ist ein großer zivilisatorischer Fort-
schritt. Wer gegen die Umsetzung dieses Übereinkom-
mens stimmt, stimmt für Verantwortungslosigkeit, für
die Gefährdung der Schifffahrt und für die Verschwen-
dung von Steuergeldern.
Matthias Lietz (CDU/CSU): Die Vergangenheit hat
es gezeigt: Wenn auch selten, passieren immer wieder
größere und kleinere Schiffsunfälle auf den weiten Welt-
meeren und Wasserstraßen unserer Erde. Während ich
zuletzt erst über den Umgang mit der havarierten „MSC-
Flaminia“ sprach, wird mir heute die Ehre zuteil, einen
Antrag zu begründen, der sich mit dem Internationalen
Übereinkommen von Nairobi von 2007 über die Beseiti-
gung von Wracks auseinandersetzt.
Das Internationale Übereinkommen über die Beseiti-
gung von Schiffswracks von Nairobi ist ein aus dem Jahre
2007 stammendes Abkommen, welches darauf abzielt,
die Meeresumwelt und Küstengebiete nachhaltig durch
die Entsorgung von Wracks zu entlasten. So wurde es
einst im Rahmen einer Diplomatischen Konferenz in Nai-
robi ausgefertigt und soll heute auch in Deutschland in
geltendes Völkerrecht umgewandelt werden können. Wie
üblich bei derartigen Abkommen sind nun die Mitglied-
staaten der Internationalen Schifffahrts-Organisation,
IMO, gefragt, die Beschlüsse aus Nairobi in entsprechen-
der Weise umzusetzen.
Für Deutschland sichert das auch als „Wrackbeseiti-
gungsübereinkommen“ bezeichnete Übereinkommen vor
allem begrüßenswerte Regelungen bei der Beseitigung
von Wracks. Dieses sieht vor, auch Schiffseigner an den
durch die Beseitigung entstehenden Kosten zu beteiligen.
Ein begrüßenswerter Schritt! Schließlich sind es nicht die
Staaten allein, die für Materialfehler oder menschliches
Versagen aufkommen sollten – so geschehen bei den Ha-
varien der „West Gamma“ und der „Jan Heweliusz“ in
den 1990er-Jahren.
Hier war es letztlich der Haushaltsetat der Bundesre-
publik Deutschland, der mit den Rechnungen für die je-
weilige Entsorgung belastet wurde. Die Ausschließliche
Wirtschaftszone vor der Küste der jeweiligen Vertrags-
staaten betreffend, werden Schiffseigner nun allerdings
zukünftig selbst für die Entsorgung einer durch sie ver-
ursachten Behinderung eines Wracks aufkommen!
Wie der Antragsbegründung zu entnehmen ist, soll
der vorliegende Gesetzentwurf den Beitritt für die Bun-
desrepublik Deutschland zum Übereinkommen ermögli-
chen. Zwar hat die Bundesrepublik den Vertrag bereits
2008 ratifiziert, allerdings benötigt er gemäß dem Deut-
schen Grundgesetz auch eine Zustimmung in Form eines
Bundesgesetzes.
27738 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013
(A) (C)
(D)(B)
Das unter Verkehrsminister Tiefensee begrüßte Über-
einkommen wird nun durch uns, wie bei einem völker-
rechtlichen Vertrag vorgesehen, durch ein Bundesgesetz
umgesetzt. Die Zustimmung der Kollegen der SPD setze
ich also zwingend voraus, und auch den Rest der Oppo-
sition kann ich nur um Unterstützung bitten. Schließlich
nutzen uns Konferenzen und Abkommen am Ende herz-
lich wenig, wenn sie auf nationaler Ebene nicht in gel-
tendes Recht durchgesetzt werden können.
Und auch wenn viele ihr Geschwätz von gestern
nichts mehr angeht, kann ich nur darum werben: Lassen
Sie uns dieses Gesetz beschließen, um die Meeresum-
welt und die Küstengewässer zukünftig noch besser vor
Gefahren zu schützen und um unseren Bundeshaushalt
nachhaltig zu entlasten!
Uwe Beckmeyer (SPD): Endstation Schiffsfriedhof!
Auf den Weltmeeren sind im vergangenen Jahr
106 Schiffe bei einem Unglück gesunken oder so schwer
beschädigt worden, dass sie unrettbar gestrandet sind –
auf Kosten der Umwelt und der Verkehrssicherheit.
Spektakulärstes Beispiel war im Jahr 2012 die Havarie
des Kreuzfahrtschiffes „Costa Concordia“ mit 32 Todes-
opfern.
Auch wenn die Zahlen der Schiffsverluste seit Jahren
erfreulicherweise zurückgehen: Der Trend zu immer
mehr und größeren Schiffen bleibt eine Herausforderung
für die Seeschifffahrt – und die Beseitigung der Wracks
ein Problem, vor allem für die Küstenanrainer.
Das jetzt von der Bundesregierung vorgelegte Ver-
tragsgesetz, das den Beitritt zum Internationalen Über-
einkommen von Nairobi ermöglichen soll, ist längst
überfällig. Die International Maritime Organization,
IMO, hat 2007 – mit Unterstützung Deutschlands – Re-
gelungen vereinbart, um die internationale Seesicherheit
und insbesondere den Schutz der Küstenstaaten vor Ge-
fahren für die Schifffahrt und die Umwelt zu vergrößern.
Die meisten verunglückten Schiffe sind Frachtschiffe.
Mehr als 700 waren es laut Statistik einer großen deut-
schen Versicherung in den Jahren 2000 bis 2010 welt-
weit. Hinzu kommen 121 „verlorene“ Tanker. Allein
diese Zahl zeigt die immensen Gefahren für die Meeres-
umwelt.
Ganz zu schweigen von den Containerverlusten auf
dem Meer, die nicht nur auf unsachgemäßes Beladen
oder Verstauen zurückzuführen sind, sondern eben häu-
fig auch auf gestrandete Schiffe oder Kollisionen! Die
Schätzungen schwanken zwischen 2 000 und 10 000
verlorenen Containern, die jährlich über Bord gehen.
Schiffsunglücke ereigneten sich 2012 besonders häu-
fig in Südchina, Indochina, Indonesien und den Philippi-
nen; zweitgefährlichste Regionen sind das östliche
Mittelmeer und das Schwarze Meer.
Aber Schiffsfriedhöfe gibt es auch in Europa – ob nun
im Ärmelkanal, an Teilen der isländischen Küste, in der
Deutschen Bucht oder am Kap Skagen in der Ostsee.
Das zeigt, wie wichtig die Regelungen auch für
Deutschland sind.
Mit der internationalen Vereinbarung wird der Schutz
der deutschen Nord- und Ostseeküste weiter verbessert;
das Abkommen greift in erster Linie in der dem Küsten-
meer vorgelagerten Ausschließlichen Wirtschaftszone.
Erstmals wird mit dem Übereinkommen zudem das
Verursacherprinzip durchgesetzt und das Seevölkerrecht
an dieser Stelle entscheidend weiterentwickelt. Bisher
hatten die Küstenanrainer nur eingeschränkte Möglich-
keiten, gegen Wracks und Schifffahrtshindernisse vorzu-
gehen und den Eigentümer eines Schiffes zur Beseiti-
gung und Kostentragung heranzuziehen. Künftig werden
Schiffseigner hingegen verpflichtet, ein Wrack, das die
Meeresumwelt oder die Schifffahrt gefährdet, auf eigene
Kosten zu beseitigen. Droht Gefahr oder handelt der
Schiffseigentümer nicht, kann auch der betroffene
Küstenstaat tätig werden und seine Kostenforderungen
hinterher an den Eigner richten; denn das Übereinkom-
men sieht erstmals eine Versicherungspflicht der Schiffs-
eigner und eine Direktklagebefugnis der Küstenländer
vor. Damit gehen die Kosten für Beseitigungsmaßnah-
men von Wracks nicht länger zulasten des Bundeshaus-
haltes, und das ist richtig so.
Auch wenn Schiffsverluste durch neue Technologien,
bessere Ausbildung, fortschreitende Regulierung und
Sicherheitsinitiativen der Schifffahrtsbranche selbst
rückläufig sind, lässt doch eines aufhorchen: Menschli-
ches Versagen, das hat die erwähnte Studie der Versiche-
rung erneut gezeigt, bleibt die Hauptursache für Seeun-
glücke. Dahinter stehen Übermüdung, Kostendruck oder
eine unzureichende Ausbildung. Hier ist die Bundes-
regierung dringend aufgefordert, zu handeln, damit sich
die Frage der Kosten für Mensch und Umwelt gar nicht
erst stellt; denn auch die fortschrittlichste Technik ist nur
so gut, wie die Qualifikation derer, die sie bedienen.
Unglücke wie der Untergang der „Costa Concordia“
müssen deshalb, so bitter das klingt, auch genutzt wer-
den, um die Sicherheit zu verbessern. Die SPD-Fraktion
hat als Reaktion auf die Havarie des Kreuzfahrtschiffes
im vergangenen Frühjahr einen umfassenden Antrag im
Deutschen Bundestag und Vorschläge vorgelegt, um die
Umsetzung der sicherheitsrelevanten Standards und die
Abläufe an Bord zu verbessern. Dazu gehören auch die
Arbeitsbedingungen der Seeleute an Bord, die mit dem
Inkrafttreten der bereits 2006 verabschiedeten „Maritime
Labour Convention“ in diesem Jahr weiter verbessert
werden sollen.
Auch die IMO arbeitet nach dem „Costa-Concordia“-
Unglück daran, die bestehenden Sicherheitsbestimmun-
gen zu fassen. Hier ist die Bundesregierung gefordert,
sich im internationalen Rahmen für eine verbesserte Si-
cherheitsvorsorge und die Einhaltung der Standards ein-
zusetzen.
Auch das Thema Containerverluste auf See muss das
Bundesverkehrsministerium bei der IMO auf die Agenda
setzen.
Doch auch vor der eigenen Haustür gibt es in puncto
maritime Sicherheit für die Bundesregierung einiges zu
tun: Dringend notwendig sind etwa verstärkte Sicher-
heitsvorkehrungen in der Bauphase der festen Fehmarn-
belt-Querung, um das Gefährdungspotenzial für die Ost-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 27739
(A) (C)
(D)(B)
see zu verringern. Schließlich wächst der Schiffsverkehr
mit dem zunehmenden Ostseehandel und dem wachsen-
den Tankerverkehr von und nach Russland stürmisch.
Wie wichtig verstärkte Sicherheitsvorkehrungen sind,
hat gerade in dieser Woche die Schiffskollision in der
Deutschen Bucht gezeigt, wo ein Offshoretender mit
dem Standfundament einer Windenergieanlage im
Offshorefeld „Bard I“ kollidiert ist. Angesichts der Aus-
baupläne für den Offshorebereich in der deutschen
Nordsee besteht auch hier dringender Handlungsbedarf.
Notwendig ist eine koordinierte Strategie von Bund,
Ländern und Windparkbetreibern für Sicherheit im Off-
shorebereich. Auch dazu liegen unsere Forderungen auf
dem Tisch.
Die Bundesregierung ist gut beraten, die Segel für
mehr Sicherheit im Schiffsverkehr zu setzen.
Torsten Staffeldt (FDP): Ein Wrack ist ein Wrack
ist ein Wrack. Ganz so einfach ist es jedoch bei näherer
Betrachtung nicht.
Wir beraten heute den Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung zum Internationalen Übereinkommen von Nai-
robi über die Beseitigung von Wracks aus dem Jahre
2007. Selbstverständlich erfordert die Sicherheit der
Schifffahrt und der Meere dessen Ratifizierung. Wie in
anderen Bereichen der Schifffahrt muss uns an den ein-
heitlichen internationalen Regelungen gelegen sein, die
mit dem Gesetz geschaffen werden. Das Übereinkom-
men schafft Klarheit über die völkerrechtliche Behand-
lung aufgegebener Schiffe im Hoheitsgebiet anderer
Staaten und insbesondere über die Haftung für die bei
der Beseitigung entstehenden Kosten.
Diese Kosten können leicht dreistellige Millionenbe-
träge erreichen. Das zeigt das Beispiel der 2011 vor Neu-
seeland auf ein Riff gelaufenen und später zerbrochenen
„Rena“. Wie jüngst in der Deutschen Schiffahrts-Zeitung
berichtet, übersteigen die aufzuwendenden Mittel für
Container, Wrackteile und Ölreste 232 Millionen Dollar.
Die komplette Beseitigung des Schiffes ist extrem
schwierig und risikoreich für die Spezialisten vor Ort.
Das liegt in der Natur der Sache, wird mancher einwen-
den.
Wo Wracks den Verkehr auf Wasserstraßen gefährden
oder das Gleichgewicht der Meeresumwelt erheblich
stören, gehören sie beseitigt. Das ist Pflicht – detailliert
geregelt im vorliegenden Gesetzentwurf –; auch wenn es
teuer wird und Zeit kostet. Da sind wir uns einig. Im
Falle der „Rena“ würde jedoch gerade durch die Ber-
gung weiterer Schaden an der Unterwasserwelt ange-
richtet.
Im Hinblick auf die Handhabung des Gesetzes mahne
ich daher zu Umsicht und Augenmaß im Einzelfall. „Be-
seitigung“ nach Art. 1 Abs. 7 Satz 1 des Übereinkom-
mens ist „jede Form der Verhütung, Verringerung oder
Abwendung der von einem Wrack ausgehenden Ge-
fahr“. In einzelnen Fällen kann es ratsam sein, von der
Bergung abzusehen, weil das Wrack den Schiffsverkehr
nicht beeinträchtigt und um nicht – noch – größeren
Schaden an der Meeresumwelt anzurichten.
Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich rede nicht Bergen
von Wracks das Wort, die liegen bleiben, weil es den
Eignern zu teuer ist und die dann auf lange Sicht quasi
als tickende Zeitbomben unter der Wasseroberfläche
auftürmen. Aber: Wo keine Gefahr oder erhebliche, dau-
erhafte Beeinträchtigung, da kein Handlungsbedarf. Im
Übrigen bilden sich in und um Wracks häufig faszinie-
rende Unterwasserwelten. Wrack ist nicht gleich Wrack.
Herbert Behrens (DIE LINKE): Ich begrüße außer-
ordentlich, dass sich die Bundesregierung endlich dazu
durchringen konnte, die Ratifizierung des Internationa-
len Übereinkommens über die Beseitigung von Schiffs-
wracks auf den Weg zu bringen. Immerhin sind seit der
Unterzeichnung des Abkommens schon fast fünf Jahre
vergangen. Die zögerliche Haltung ist schon deshalb
überraschend, weil die Bundesrepublik maßgeblicher
Initiator der Entwicklung dieses Übereinkommens war.
Aber was lange währt, wird bekanntlich gut, auch wenn
man über die Güte der konkreten Ausgestaltung des
Übereinkommens streiten kann.
Es ist zweifelsohne ein großer Fortschritt, dass zu-
künftig alle Schiffe, welche deutsche Häfen anlaufen,
über einen Versicherungsschutz für alle mit der Beseiti-
gung eines Wracks zusammenhängenden Kosten verfü-
gen müssen. Bisher konnten diese Kosten nur allzu
leicht der Allgemeinheit angelastet werden.
Sobald das Übereinkommen in Kraft tritt, wird zudem
eine entscheidende Lücke im internationalen Seerecht
geschlossen. Erstmals haben Staaten überhaupt die Mög-
lichkeit, rechtssicher die Beseitigung von Schiffswracks
bzw. Wrackteilen selbst in die Hand zu nehmen und den
Schiffseigner zur Übernahme der Kosten zu verpflich-
ten.
Auch wenn der Vertragstext entschiedener hätte for-
muliert werden sollen – man hätte gut und gerne eine
Pflicht zur Beseitigung von Gefahrenquellen durch staat-
liche Behörden verankern können –, werden Gefahren
für den Verkehr und die Umwelt zukünftig leichter ab-
wendbar sein.
In der Tat stellt das Wrackbeseitigungsübereinkom-
men auch einen Schritt zu mehr Umweltschutz und Si-
cherheit auf See dar. Insbesondere in den stark befahre-
nen ausschließlichen Wirtschaftzonen entwickelter Industrie-
staaten ist das von großer Bedeutung. Die Bundesrepu-
blik Deutschland erkennt an, dass die internationale
Staatengemeinschaft handeln muss, um die negativen
Folgen des starken Seeschifffahrtsverkehrs nach und
nach zu begrenzen.
In diesem Zusammenhang ist ein erheblich stärkeres
Bemühen erforderlich, um weitere Schritte zur Gefah-
renabwehr anzugehen. Die internationale Schifffahrt ist
in Sachen Umweltschutz ein echtes Fossil, sagt der Na-
turschutzbund. Während an Land strenge Grenzwerte für
Treibstoffe gelten und Abgastechnik etabliert ist, darf
auf See immer noch billigstes Rückstandsöl als Treib-
stoff verbrannt werden. Die Abgase, die dabei entstehen,
enthalten Unmengen an hochgiftigen und klima- sowie
umweltschädlichen Stoffen: Rußpartikel, Stickoxide,
Schwefeldioxid und natürlich auch Kohlendioxid.
27740 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013
(A) (C)
(D)(B)
Das Schwerölverbot der Internationalen Meeresschutz-
organisation der UNO, der IMO, ist ab 2020 auch auf
EU-Ebene vorgesehen. Doch der Einbau von Abgastech-
nik ist absehbar nicht vorgeschrieben. Hier besteht Hand-
lungsbedarf!
Wir sehen auch beim Internationalen Übereinkom-
men über die Beseitigung von Wracks, wie lange es dau-
ert, Fragen des internationalen Meeresschutzes zu erken-
nen, Lösungen zu verabreden und diese schließlich auch
umzusetzen.
Wir wollen sichere und saubere Meere. Reeder,
Schiffsbauer, EU- und auch die Anrainerstaaten müssen
in diesem Sinne aktiv werden. Wir brauchen Umweltzo-
nen auf See, frei von Wracks, Gefahrgut und umwelt-
schädlichen Schiffsemissionen.
Mit der Ratifizierung des Übereinkommens von Nairobi
ist zumindest ein erster Schritt gemacht.
Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Wir widmen uns heute dem Wrackbeseitigungsabkom-
men von Nairobi, das bereits 2007 unterzeichnet worden
ist und nun, 2013, nach langem Ablagerungsprozess
auch endlich in deutsches Recht umgesetzt werden soll.
Die Beseitigung von gefährlichen Wracks ist ein bis-
lang häufig unterschätztes Problem. Die Hauptfrage, um
die es bei dieser Debatte geht, ist: Wie können die Schiffs-
eigner zur Verantwortung gezogen werden, wenn ein
Schiff zum Beispiel während der Fahrt havariert und auf
den Meeresboden sinkt? Bisher gab es hier keine Rege-
lung, wie der Schiffseigner dafür finanziell haftbar ge-
macht werden kann, wenn sich das Ganze auf hoher See
abspielt. Doch durch das Abkommen von Nairobi gibt es
nun eine gesetzliche Handhabe. Das Abwracken von
Schiffen spielt hierbei zwar vordergründig keine Rolle,
im selben Atemzug muss das jedoch auch genannt wer-
den.
Wenn Sie einen Blick auf die Homepage des Bundes-
amts für Seeschifffahrt und Hydrographie, Hamburg,
werfen, erhalten Sie die Möglichkeit, sich die aktuell
auffindbaren Wracks in der Deutschen Bucht sowie im
deutschen Teil der Ostsee auf einer Karte anzusehen.
Dargestellt sind viele kleine grüne Punkte, die jeweils
für ein Wrack stehen.
Inzwischen gibt es unzählige Wracks auf dem Mee-
resboden, vor allem in den viel befahrenen Gebieten. Die
gesunkenen Schiffe stellen ein Risiko für die Seeschiff-
fahrt und für die Umwelt dar. Das Wrack kann sich auch
nach längerer Zeit noch an der gesunkenen Stelle bewe-
gen oder auseinanderbrechen, weil das Meer ständig in
Bewegung ist. Da Schiffe oft giftige und gefährliche
Stoffe an Bord haben – Treibstoff oder Ladung –, wird
meist auch die Meeresumwelt in Mitleidenschaft gezo-
gen.
Mit dem Wrackbeseitigungsabkommen wird nun end-
lich die Verantwortlichkeit klarer geregelt; das begrüßen
wir.
Was uns eigentlich noch mehr interessiert – und hier-
für gibt es bisher nur vage gesetzliche Grundlagen –, das
ist das Abwracken von Schiffen. Die deutsche Handels-
flotte ist derzeit eine der größten weltweit. Doch die
meisten Schiffsgesellschaften stecken in einer ernsten fi-
nanziellen Lage. Eine Vielzahl der Schiffe könnte von
einer Insolvenz betroffen sein. Führt auch die Insolvenz-
phase nicht zum gewünschten wirtschaftlichen Erfolg,
dann hilft entweder nur noch der Verkauf an die Konkur-
renz, oder man lässt das Schiff verschrotten.
Die Verwertung des Schiffskörpers wird vornehmlich
in den drei Ländern Indien, Pakistan oder Bangladesch
unter menschenunwürdigen und umweltgefährdenden
Bedingungen durchgeführt. Nur in den seltensten Fällen
nimmt eine Reederei den finanziellen Mehraufwand in
Kauf und lässt das Schiff fachgerecht in Europa zerle-
gen.
Es müssen internationale Lösungen gefunden werden,
die die Bedingungen in Indien, Bangladesch, Pakistan
und weiteren Ländern deutlich verbessern. Sicher sind
Ihnen auch die entsprechenden Bilder bekannt von er-
schreckenden Dokumentarfilmen oder Zeitungsberich-
ten, die die Situation auf den Abwrackwerften schildern.
Dass sich die Problematik des Abwrackens von Schif-
fen jetzt noch verschärft, machen folgende zwei Zahlen
deutlich: Hatten die Schiffe, die in Indien, Pakistan oder
Bangladesch abgewrackt wurden, vor wenigen Jahren
noch ein Durchschnittsalter von 30 Jahren, so ist das bin-
nen kurzer Zeit auf 24 Jahre zurückgegangen. Die Schiffe
fahren also ihre mögliche Lebensdauer bei weitem nicht
mehr aus und landen auf dem Schiffsfriedhof.
In den vergangenen 30 Jahren hat sich die Anzahl der
Schiffe in der Welthandelsflotte dramatisch erhöht, und
zwar um knapp über 100 Prozent. Zu dieser Entwicklung
hat Deutschland zu einem großen Teil mit beigetragen.
Viele dieser Schiffe sind über Bedarf gebaut worden und
inzwischen ohne Chartervertrag oder ohne ausreichende
Einnahmen und werden heute ein Fall für das verniedli-
chend so bezeichnete Schiffsrecycling.
Wir müssen endlich auch in Europa bzw. weltweit den
gesamten Zyklus eines Schiffes vom Bau über den Be-
trieb bis zum Recycling in die Schiffslebenszeit einkal-
kulieren. Die Entsorgungsfrage muss dringend geklärt
werden. Dafür brauchen wir die Umsetzung des bereits
unterzeichneten, aber noch nicht ratifizierten Hongkong-
Abkommen zum Recycling von Schiffen.
Wenn das nicht zügig umgesetzt wird, muss hier Eu-
ropa mit eigenen Vorschlägen vorangehen. Wir können
das Problem nicht länger verdrängen. Daher erwarte ich
hier auch von der Bundesregierung rasch umsetzbare
Lösungen.
Anlage 14
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Konsequent voran-
gehen für eine atomwaffenfreie Welt (Zusatz-
tagesordnungspunkt 6
Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU): Wir debattieren
heute über den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen, der sich – es verwundert hier niemanden – auf die
historische Rede des US-Präsidenten Barack Obama in
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 27741
(A) (C)
(D)(B)
Prag stützt. Zweifelsohne hat Obama in dieser Rede am
5. April 2009 deutliche Zeichen gesetzt und auch den
Beweis erbracht, dass er ein Pragmatiker ist. Rückwir-
kend muss man jedoch betrachten, dass die Skepsis vie-
ler politischer Beobachter teilweise auch berechtigt ge-
wesen ist; denn aktuell spekulieren wir darüber, wann
der Iran nach der Bombe greift und den Nahen Osten in
eine Krise stürzt.
Unerwähnt darf auch der Nuklearwaffentest Nord-
koreas in der letzten Woche nicht bleiben. Sie glauben
doch nicht allen Ernstes, dass diese Meldungen der letz-
ten zwei Wochen den Weg zu einer nuklearwaffenfreien
Welt ebnen! Ich bin vor dem Hintergrund solcher Mel-
dungen jedenfalls fest der Meinung, dass uns diese Vor-
bedingungen gewisse Grenzen und Hürden bei unseren
Abrüstungsbemühungen setzen.
Niemand in diesem Hohen Hause wird die Nuklear-
waffenabrüstung per se ablehnen, und auch die Bundes-
regierung hat die Abrüstung, Rüstungskontrolle und
Nichtverbreitung als einen Pfeiler der Außen- und Si-
cherheitspolitik ihres Handelns beschrieben. Wir dürfen
jedoch nicht Gefahr laufen, Obamas Vision einer nukle-
arwaffenfreien Welt als seine konkrete Politik für die
nächsten Jahre zu deuten. Solange wir keine verlässliche
Verifikation haben, dass Staaten wie der Iran und Nord-
korea ebenfalls auf Kernwaffen verzichten, können und
dürfen wir nicht übereifrig handeln.
Nukleare Bedrohung ist für zahlreiche Staaten mehr
denn je in den Fokus gerückt; deswegen liefert Ihr An-
trag gegenwärtig keinen Beitrag zu einer globalen Ab-
rüstung. Eine unilaterale deutsche Erklärung solcher Art
wäre schlicht und einfach vermessen und naiv. Diese
Tatsache müssen Sie zur Kenntnis nehmen.
Es gibt seit der Rede Barack Obamas vor nunmehr
fast vier Jahren nicht wirklich eine Positivbilanz, die hier
präsentiert oder gar gefeiert werden kann. Dessen bin ich
mir ganz bewusst. Aber – und Sie werden mir zustim-
men müssen – auch eine Negativbilanz kann weder der
US-Administration noch der Bundesregierung ausge-
stellt werden.
Im März 2010 hat die CDU/CSU-Fraktion des Deut-
schen Bundestages gemeinsam mit der Fraktion der Frei-
demokraten und mit Ihrer sowie der Fraktion der Sozial-
demokraten einen Antrag verabschiedet, der auch Erfolge
hat hervorbringen lassen. In die Frage der Nuklearabrüs-
tung ist Bewegung gekommen; die USA haben fünf Län-
dern geholfen, ihre Vorräte an hochangereichertem Uran
komplett abzubauen. An dieser Stelle sei die Türkei er-
wähnt. Auch in der Ukraine werden die Bestände abge-
baut.
Mit Russland gibt es auch etliche Erfolge: 2010 haben
die US-Amerikaner den neuen START-Vertrag mit Russ-
land ausgehandelt. Die beiden Atomsupermächte rüsten
ab! Eine Halbierung der Trägersysteme auf 800 Einhei-
ten pro Staat ist ein herausragender Fortschritt, den Sie
hier nicht kleinreden dürfen!
Barack Obama bekannte sich auch erst jüngst zu ei-
nem weiteren Abbau der Nuklearwaffen.
Sie merken, ich zähle hier nicht die Bilanz der letzten
Jahrzehnte auf. Nein, es sind Erfolge der letzten zwei,
drei Jahre. Angesichts der Starre, die wir nun alle aus
dem Kalten Krieg kennen, ist es eine nahezu atemberau-
bende und dynamische Entwicklung.
Der Weg zur nuklearen Abrüstung ist von vielen klei-
nen Schritten gekennzeichnet. Wir alle täten gut daran,
die Vision Obamas von den notwendigen Schritten, die
erst zum Erreichen dieser Vision führen, zu unterschei-
den.
Ihr Antrag ist in keiner Weise ein Fortschritt zum be-
reits von diesem Hohen Hause angenommenen Antrag
vom 26. März 2010, den im Übrigen auch Ihre Fraktion
eingebracht und bejaht hat. Nein, Ihr Antrag, den wir
hier heute beraten, ist ein erneuter Rückschlag für trans-
atlantische Beziehungen. Sie vernachlässigen sträflich
die sicherheitspolitischen Interessen der Bundesrepublik
Deutschland und höhlen das europäische Grundwerte-
fundament aus. Es ist ein weiterer Versuch Ihrer Frak-
tion, aus der Beständigkeit der deutschen Außenpolitik
auszubrechen, um unseren Staat international zu isolie-
ren und der Lächerlichkeit preiszugeben. Ihr Antrag ent-
puppt sich als besondere Form von politischem Eskapis-
mus.
Diese Bundesregierung hat die notwendigen Prozesse
eingeleitet. Diese Schritte werden nun gegangen. Sie
müssen doch einmal lernen, dass Abrüstungspolitik ein
langfristiger, über Generationen andauernder Prozess ist.
Ihr Antrag nützt niemandem und bringt die Abrüstungs-
politik auch nicht weiter.
Unser Sicherheitskonzept beinhaltet und reflektiert
deutsche Sicherheitsinteressen. Aber – und dies ist eben
der bezeichnende Unterschied zwischen unseren Frak-
tionen – unser Sicherheitskonzept integriert eben auch
die Sicherheitsinteressen anderer Staaten. Wir handeln
nicht egoistisch und belehrend, wie es Ihre andauernde
Manier ist. Wir sind uns unserer internationalen Ver-
pflichtung bewusst und stehen in vollem Umfang zu un-
seren Bündnis- und Kooperationspartnern. Die Bundes-
regierung hat unsere volle Unterstützung bei ihrem
Einsatz für das Ziel einer nuklearwaffenfreien Welt.
Ihr Antrag ist heute fehl am Platze. Er ist fehl am
Platze, weil er die Abrüstungsbemühungen zurückwirft
und die Bundesrepublik von den globalen Entwicklungs-
prozessen in der bilateralen Abrüstungspolitik abkop-
peln würde. Unsere Fraktion setzt auf bilaterale Abkom-
men, wir setzen auf Kontinuität, und wir werden unsere
Glaubwürdigkeit mit einem solchen Showantrag, den
Sie hier vor jeder Bundestagswahl vorlegen, nicht aufs
Spiel setzten.
Roderich Kiesewetter (CDU/CSU): Die Nuklear-
waffen, die innerhalb der deutschen Staatsgrenzen gela-
gert werden, sind Eigentum der Vereinigten Staaten von
Amerika. Deshalb sind die USA für die Instandhaltung
dieser Waffen verantwortlich. Die Nuklearwaffen der
NATO dienen einzig und allein defensiven Zwecken und
sorgen für einen glaubhaften Schutz unserer Bündnis-
partner.
27742 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013
(A) (C)
(D)(B)
Auf russischer Seite werden die Nuklearwaffenbe-
stände nach einem entsprechenden Auftrag des russi-
schen Staatspräsidenten Wladimir Putin mit erheblichen
finanziellen Mitteln modernisiert.
Nach Berechnungen des Stockholm International
Peace Research Institute, SIPRI, besaßen die USA im ver-
gangenen Jahr noch rund 2 150 einsatzfähige Nuklear-
sprengköpfe, Russland etwa 1 800.
Unsere NATO-Partner Estland, Lettland, Litauen und
Polen fühlen sich durch die Entwicklung auf russischer
Seite bedroht. Die Modernisierung der nuklearen Vertei-
digungskapazitäten der NATO gewährleistet in diesem
Zusammenhang weiterhin eine glaubhafte Aufrechter-
haltung des Schutzes.
Durch die nukleare Teilhabe nimmt Deutschland sein
Mitspracherecht bei der Handhabe von Nuklearwaffen
wahr. Als NATO-Partner erfüllt Deutschland mit dem
Jagdbombergeschwader in Büchel einen Teil seiner
NATO-Verpflichtungen und trägt somit Verantwortung
für den Schutz unserer Verbündeten. Damit nimmt unser
Land Einfluss auf die Nuklearstrategie der NATO. Die-
ses Mitspracherecht würde verwirkt werden, sollten die
Nuklearwaffen aus Deutschland abgezogen werden.
Generell sind wir uns parteiübergreifend einig, dass
sich Deutschland für eine weltweite Abrüstung einsetzen
muss. CDU und CSU haben 2010 auch für den Abzug
der taktischen Nuklearwaffen in Absprache mit unseren
Bündnispartnern gestimmt. Darüber hinaus hat sich un-
sere Bundesregierung im Bündnis für Abrüstungsinitiati-
ven eingesetzt.
Viele Äußerungen von US-Präsident Obama machen
Hoffnung, dass unsere Bemühungen Wirkung zeigen.
Noch nie hatte ein US-Präsident die nukleare Abrüstung
mit so deutlichen Worten gefordert wie Barack Obama
in seiner Prager Rede im Frühjahr 2009. „Ich erkläre klar
und mit Überzeugung Amerikas Einsatz für Frieden und
Sicherheit in einer Welt ohne Atomwaffen“, so der US-
Präsident. In seiner Rede zur Lage der Nation forderte
Obama erneut die nukleare Abrüstung. Die USA würden
versuchen, Russland zu überzeugen, gemeinsam weiter
abzurüsten.
Allerdings gelten für dieses hehre Ziel weiterhin zwei
zentrale Voraussetzungen:
Erstens muss im Bündnis gemeinsam dafür gestimmt
werden. Es gibt aber Länder wie beispielsweise Polen,
die wollen, dass diese Waffen in Europa bleiben.
Zweitens. Russland muss mehr Transparenz bei den
eigenen taktischen Nuklearwaffen schaffen und Ver-
handlungsbereitschaft signalisieren.
Solange das nicht der Fall ist, müssen die Nuklearwaf-
fen einsatzfähig bleiben. Auch politische Waffen, deren
Einsatz militärisch nicht sinnvoll ist, müssen moderni-
siert werden, sonst werden sie obsolet. Außerdem haben
wir damit ein Verhandlungspfand gegenüber Russland in
der Hand.
Wir dürfen auch nicht vergessen, dass neben den offi-
ziellen Nuklearmächten USA, Russland, Großbritan-
nien, Frankreich und China weitere Staaten, zum Bei-
spiel Indien sowie das politisch instabile Pakistan und
Nordkorea, über die Bombe verfügen. Es ist also noch
ein langer Verhandlungsweg, und der vorschnelle Antrag
der Grünen ist deshalb aus unserer Sicht verfehlt.
Uta Zapf (SPD): Es ist mir schleierhaft, warum wir
zu nachtschlafender Zeit einen solchen Antrag behan-
deln sollen. Inhaltlich bringt der Antrag eigentlich nichts
Neues. Schon 2010 hat dieser Bundestag überfraktionell
weitreichende Beschlüsse gefasst. Und fast alle Forde-
rungen, die die Grünen hier erheben, standen in diesem
gemeinsamen Antrag von CDU/CSU, SPD, FDP und
Bündnis 90/Die Grünen.
Was haben wir damals gemeinsam beschlossen? Die
Bundesregierung solle sich für den Abzug der US-Nu-
klearwaffen von deutschem Boden einsetzen, ebenso für
weltweite Abrüstung! Wir haben gefordert, die Rolle der
Nuklearwaffen im Strategischen Konzept der NATO zu-
rückzuführen. Da dieser Antrag vor dem Abschluss der
Überprüfungskonferenz zum Nichtverbreitungsvertrag
formuliert wurde, gab es eine Reihe von Forderungen,
die auf den Erfolg dieser Konferenz zielten.
In vielen dieser Forderungen haben wir durchaus
Konsens mit der Bundesregierung, und einiges ist auch
durch das neue Strategische Konzept der NATO erreicht.
Es wurde ein Abrüstungsausschuss etabliert, aber es
bleibt abzuwarten, was für Ergebnisse er erreichen wird.
Vieles ist aber nicht erreicht. Die Rolle der Nuklear-
waffen in der NATO wurde nicht minimiert. Das neue
Strategische Konzept bestätigt den alten Mix aus kon-
ventionellen und Nuklearwaffen – als angemessene
Struktur des Waffendispositivs. Die NATO bekräftigt
ausdrücklich, dass sie eine nukleare Allianz bleibe, so-
lange es Nuklearwaffen gibt.
Mit ihrer Unterschrift unter das neue Strategische
Konzept und durch die Akzeptanz der Abschreckungs-
und Verteidigungsdoktrin akzeptiert die Bundesregie-
rung die Modernisierung der in Europa und Deutschland
stationierten US-Nuklearwaffen. Es ist damit fortge-
schrieben, dass die Verbündeten, auf deren Territorium
die US-Nuklearwaffen stationiert sind, die Verantwor-
tung für die volle Funktionsfähigkeit der Trägersysteme
tragen.
Die geplante Modernisierung würde eine höchst kost-
spielige Modernisierung des Trägersystems Tornado er-
fordern. Wir haben das Thema bereits im November dis-
kutiert.
Vielleicht hat der Wunsch der Grünen, den Antrag
heute aufzusetzen, etwas mit der Tatsache zu tun, dass
heute eine Konferenz begonnen hat, die sich mit dem
Weg zur völligen nuklearen Abrüstung beschäftigt.
Heute haben wir den ganzen Tag im Auswärtigen Amt
diskutiert, wie die Rahmenbedingungen für eine Welt
ohne Nuklearwaffen geschaffen werden könnten. Und
sicher spielt der Frust eine Rolle, warum es trotz dekla-
rierten guten Willens aller beteiligter Regierungen keine
wirklichen Fortschritte gibt – weder beim NATO-Kon-
zept noch bei der Umsetzung der Ergebnisse der erfolg-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 27743
(A) (C)
(D)(B)
reichen Überprüfungskonferenz zum Nichtverbreitungs-
vertrag.
Natürlich gibt es einen Hoffnungsschimmer: Präsi-
dent Obama hat in seiner Rede an die Nation weitere Ini-
tiativen zu nuklearen Abrüstungsangeboten an Russland
angekündigt. Dabei sollen alle Nuklearwaffenkategorien
umfasst sein, also auch taktische Nuklearwaffen, Träger-
systeme – ob disloziert oder in Lagern verstaut. Und
Russland hat Interesse signalisiert.
Hier bietet sich eine Chance für die Entfernung dieser
US-Nuklearwaffen von deutschem Boden. Die NATO
muss von der nuklearen Teilhabe abrücken. Alle Bedro-
hungen und Risiken, die die NATO selber analysiert, kön-
nen nicht mit Abschreckung durch Nuklearwaffen beant-
wortet werden. Weder Terroristen noch Cyberattacken,
weder Migrationsströme noch organisierte Kriminalität
können militärisch bekämpft werden. Der geringen kon-
ventionellen Restbedrohung, die die NATO konstatiert,
wird besser durch gemeinsame Sicherheit, konventio-
nelle Abrüstung, Vertrauensbildung und Transparenz
begegnet denn durch nukleare Abschreckung. Es gilt
vielmehr, den zerstörten Vertrag über konventionelle Ab-
rüstung in Europa wieder aufzugreifen und neu zu be-
gründen; es gilt, sich bei der Raketenabwehr mit Russ-
land zu einigen. Wer gemeinsame Sicherheit will, muss
die Sicherheitsbedürfnisse und -interessen des Partners
respektieren.
Im Kalten Krieg argumentierte der Westen, er brauche
wegen der konventionellen Überlegenheit der Sowjet-
union die nukleare Abschreckung. Heute gebraucht
Russland dieses Argument: Die konventionelle Überle-
genheit des USA und der Aufbau konventioneller strate-
gischer Fähigkeiten, Global Strike, bedingten das Fest-
halten an Nuklearwaffen.
Die SPD teilt das Anliegen dieses Antrages der Grü-
nen; wir haben mit der Bundestagsdrucksache 17/11323
einen eigenen Antrag im November 2012 eingebracht.
Allerdings ist die hier vorgeschlagene Hauruckmethode
zur Abschaffung der US-Nuklearwaffen unrealistisch.
Was wir von der Bundesregierung verlangen, ist mehr
Engagement, um sich gegenüber den Allianzpartnern
tatsächlich durchzusetzen. Ihr Engagement ist gefragt,
wenn es darum geht, sich gegen die Modernisierung der
US-Nuklearwaffen in Europa zu wenden, sich bei den
osteuropäischen Partnern für ein Umdenken einzusetzen,
das ja in Wahrheit längst begonnen hat.
Die Modernisierung dieser Waffen ist auch keine na-
tionale Entscheidung der USA, deren Folgen wir passiv
hinzunehmen haben.
Die Bundesregierung argumentiert mit den Mitspra-
cherechten in der Nuklearen Planungsgruppe, die von
der nuklearen Teilhabe abhingen. Auch Nichtstationie-
rungsländer schlüpfen unter den Nuklearschirm und ha-
ben Mitsprache.
Wir sollten uns von der nuklearen Abschreckung völ-
lig trennen und für gemeinsame Sicherheit kämpfen.
Christoph Schnurr (FDP): Wir haben es hier mit
einem großen Rundumschlag zur nuklearen Abrüstung
zu tun. Der Titel des Antrags zeigt, wie die Grünen gerne
gesehen werden wollen: als konsequent und kompro-
misslos, als mutige Avantgarde, als Kämpfer gegen
Atomwaffen.
Zur Profilierung taugen aber Antrag und Thema aus
zwei Gründen nicht:
Erstens gibt es hier im Haus seit langem einen Kon-
sens. Wir alle wollen eine Welt ohne Atomwaffen.
Zweitens ist es schlicht unglaubwürdig, wenn die
Grünen hier Dinge fordern, die sie während ihrer Zeit in
Regierungsverantwortung selbst nie getan haben und
auch künftig nicht tun werden.
Auch deshalb ist es erstaunlich, dass Sie die Glaub-
würdigkeit der Bundesregierung infrage stellen. Im An-
trag wird behauptet, die Bundesrepublik könne nicht
überzeugend für Abrüstung werben, weil hierzulande
noch amerikanische Waffen stationiert sind. Das ist, um
es vorsichtig zu formulieren, eine sehr selektive Wahr-
nehmung. Tatsächlich ist das Engagement der schwarz-
gelben Bundesregierung um Abrüstung, Rüstungskon-
trolle und Nichtverbreitung international sehr anerkannt.
Außenminister Westerwelle hat dazu Wesentliches
beigetragen, zum Beispiel mit der Gründung und den
Aktivitäten der Non-Proliferation and Disarmament Ini-
tiative. Auch im Rahmen der NATO hat sich die Bundes-
regierung für Abrüstung eingesetzt und erreicht, dass
sich das Bündnis zum Ziel einer nuklearwaffenfreien
Welt bekennt, dass sie negative Sicherheitsgarantien aus-
spricht und dass es jetzt einen Abrüstungsausschuss gibt.
Das alles ist keineswegs selbstverständlich. Es ist des-
halb auch sicher nicht richtig, wenn es im Antrag der
Grünen heißt, es hätte in Chicago keine sichtbaren Fort-
schritte gegeben. Natürlich haben wir uns alle noch weit-
reichendere Ergebnisse gewünscht. Trotzdem gab es
größere Fortschritte als in den elf Jahren davor. Wenn sie
jetzt also mit dem Finger auf die Bundesregierung zei-
gen und behaupten, ihr Vorgehen in der nuklearen Ab-
rüstungspolitik sei unentschlossen, dann zeigen drei Fin-
ger auf Sie zurück.
Sie hatten sieben Jahre lang Zeit, um die nukleare
Teilhabe zu beenden. Sie hätten keine Bundeswehrpilo-
ten und Trägersystemen bereitstellen müssen. Sie haben
es aber getan. Ich weiß nicht, warum, aber es war ver-
nünftig, so wie es heute vernünftig ist, die Teilhabe nicht
einseitig aufzukündigen. Es geht hier um kooperative Si-
cherheitspolitik und Solidarität mit unseren Verbünde-
ten.
An anderer Stelle, wenn es nämlich um militärische
Einsätze geht, fordern Sie genau diese Solidarität in letz-
ter Zeit sehr lautstark ein, und hier wollen Sie das Ge-
genteil. Das ist nicht konsequent und nicht glaubwürdig.
Sollten Sie irgendwann wieder einmal an einer Bundes-
regierung beteiligt sein und sollte sich dieses Problem
dann noch stellen, werden wir Sie gerne an Ihre Forde-
rung erinnern.
27744 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013
(A) (C)
(D)(B)
Trotzdem ist es mir wichtig, zu betonen, dass es im
vorliegenden Antrag viele Dinge gibt, die wir teilen.
Auch wir wollen beispielsweise eine Stärkung des
Nichtverbreitungsvertrags, wir wollen die Konflikte mit
dem Iran und mit Nordkorea auf dem Verhandlungsweg
lösen, und wir unterstützen Verhandlungen zwischen den
USA und Russland über alle Atomwaffen.
Ich würde es deshalb begrüßen, wenn die Opposi-
tionsfraktionen die nukleare Abrüstung nicht zur Profi-
lierung nutzten und nicht Dissens suchten, wo Konsens
herrscht.
Inge Höger (DIE LINKE): Am Wochenende erhielt
ein ehemaliger Offizier der Sowjetarmee den Dresdner
Friedenspreis, weil er 1983 nicht auf den Roten Knopf
drückte. Stanislaw Petrow wurde auf seinem Monitor ein
Raketenangriff der USA angezeigt. Er meldete dies nicht
weiter, sondern überprüfte erst einmal die Möglichkeit
eines Fehlers. Heute wissen wir, dass es keinen Atom-
angriff aus den USA gab. Wir wissen aber auch, dass die
Welt eine vollständig andere wäre, wenn Petrow die
Kettenreaktion von Angriff und Gegenangriff ins Rollen
gebracht hätte.
Wir können auch heute nicht ausschließen, dass tech-
nische Fehler eine vergleichbare Situation herbeiführen.
Eine politische Situation, wie zu Zeiten der Kuba-Krise,
könnte leicht eine militärische Eskalation nach sich zie-
hen. Es gibt zwar gegenwärtig weniger Atomwaffen als
in den 1980er-Jahren, aber die verbleibenden knapp
20 000 Sprengköpfe haben immer noch das Potenzial,
die Welt, in der wir leben, mehrfach zu zerstören. Allein
die technischen und politischen Risiken sprechen für
eine Welt ohne Atomwaffen.
Leider konzentriert sich die Abrüstungsdebatte nach
wie vor auf die Abrüstung der anderen, besonders Nord-
koreas oder des Iran. Abrüstung muss im eigenen Land
anfangen. Die Bundesregierung muss ihren Partnern in
Washington endlich unmissverständlich klarmachen,
dass die US-Atomwaffen aus Büchel umgehend abgezo-
gen werden müssen. Es ist pervers, dass nach wie vor
deutsche Piloten das Abwerfen von Atombomben üben.
Völlig unverständlich ist, dass die Bundesregierung bei
der NATO-Konferenz in Chicago Zusagen gemacht hat,
die Kampfflugzeuge der deutschen Luftwaffe so zu mo-
dernisieren, dass sie weiterhin in der Lage sein werden,
einen Atomkrieg zu führen. Das steht im Widerspruch
zum eigenen Koalitionsvertrag.
Die Ankündigung von US-Präsident Obama, er wolle
auf bis zu ein Drittel der US-Atomwaffen verzichten, ist
begrüßenswert. Aber dies eine Drittel reicht immer noch
zur mehrfachen Vernichtung der Welt aus. Und gleich-
zeitig wird der US-Raketenschirm ausgebaut. Dies trägt
wenig zur weltweiten Stabilität bei, sondern befördert
eine neue Aufrüstungsspirale.
Eine Bedrohung für die Aussicht auf Frieden sehe ich
in der Absage der Regierungskonferenz für einen atom-
waffenfreien Nahen und Mittleren Osten, die für Dezem-
ber 2012 in Helsinki geplant gewesen ist. Die Überprü-
fungskonferenz des Atomwaffensperrvertrages 2010
hatte den UN-Generalsekretär aufgefordert, diese Regie-
rungskonferenz unter Beteiligung aller Staaten der
Region durchzuführen. Selbst der Iran hatte zugesagt.
Doch nachdem die israelische Regierung ihre Teilnahme
zurückgezogen hatte, wurde besonders auf Druck der
USA die gesamte Konferenz abgesagt – ohne einen Er-
satztermin festzulegen. So können Apelle zur Abrüstung
schnell als Farce erscheinen.
Trotz Absage der Regierungskonferenz haben sich in
Helsinki Friedensaktivistinnen und -aktivisten getroffen
und beraten, wie atomare Abrüstung im Nahen Osten er-
reicht werden kann. Ich habe mich an dieser Konferenz
beteiligt und kann mich den Forderungen der Teilneh-
menden nur anschließen: Wir brauchen einen baldigen
und konkreten Termin für eine neue Regierungskonfe-
renz. Wir brauchen Schritte zu atomwaffenfreien Zonen
nicht nur im Nahen Osten. Abrüstung funktioniert am
besten durch mutige Schritte. Sie funktioniert schlecht in
einem Klima von Kriegsdrohungen. Es gibt keine guten
oder legalen Atomwaffen. Der Atomwaffensperrvertrag
verpflichtet alle Staaten zur vollständigen Abrüstung. Es
wird höchste Zeit, diese Verpflichtung umzusetzen.
Agnes Brugger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Zwei Ereignisse machten in der letzten Woche deutlich,
wo wir auf dem Weg in eine atomwaffenfreie Welt ste-
hen:
Zum dritten Mal testete Nordkorea eine Atombombe
und verstieß damit abermals gegen Resolutionen des Si-
cherheitsrates der Vereinten Nationen. Der nordkoreani-
sche Atomwaffentest ist eine Provokation gegen die
Weltgemeinschaft und gefährdet die Stabilität in der Re-
gion. Mit seinen militärischen Aggressionen gegen Süd-
korea und dem Test einer Langstreckenrakete im letzten
Jahr hat das Regime in Pjöngjang gezeigt, dass es unbe-
rechenbar ist und eine große Gefahr für den Weltfrieden
darstellt.
Dem Atomwaffentest von Nordkorea steht ein ande-
res Ereignis gegenüber: die Rede des amerikanischen
Präsidenten Obama zur Lage der Nation und die Ankün-
digung, weitere ambitionierte Abrüstungsschritte in An-
griff zu nehmen. Gespräche mit Russland sollen bald
aufgenommen werden, eine Blockade im Kongress soll
vermieden werden. Die Rede ist von einer zusätzlichen
Reduzierung um ein Drittel des amerikanischen Atom-
waffenarsenals.
Diese beiden Ereignisse lassen erkennen: Wir stehen
an einer Weggabelung auf dem Weg zu einer atomwaffen-
freien Welt. Der eine Pfad führt zur weiteren Verbreitung
von Atomwaffen, zu nuklearer Aufrüstung, möglicher-
weise gar zum Zusammenbruch des Nichtverbreitungsre-
gimes. Der andere Pfad weist in die Richtung einer atom-
waffenfreien Welt und erfordert konsequente nukleare
Abrüstung.
Wir müssen den richtigen Weg einschlagen und hier-
für die Weichen stellen. Deutschland muss sich entschei-
den, ob es sich mit der Zuschauerrolle zufriedengibt oder
aktiv mit vorangeht.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 27745
(A) (C)
(D)(B)
Die Bundesregierung ist in dieser Frage bisher zer-
stritten. Das Ergebnis der schwarz-gelben Uneinigkeit ist
wie immer ernüchternd. Sie haben versagt, Deutschland
zum Vorreiter bei der nuklearen Abrüstung zu machen
und dafür zu sorgen, dass die hier stationierten Atom-
waffen endlich verschwinden.
Um Ihnen von der Koalition noch mal die richtige
Richtung zu weisen, legen wir heute einen Antrag vor, der
klar macht, was für Deutschland die nächsten Schritte
sein müssen, um die nukleare Abrüstung voranzubringen:
Zu einer glaubwürdigen Abrüstungspolitik gehört zwin-
gend der Abzug der amerikanischen Atomwaffen aus
Deutschland. Die Bundesregierung muss die Bereitstel-
lung von Bundeswehrpiloten und Trägersystemen zum
Atomwaffeneinsatz einstellen. Eine Modernisierung der
in Deutschland stationierten Waffen und ihrer Trägersys-
teme darf gar nicht infrage kommen. Die Bundesrepublik
muss die Verhandlungen zwischen Russland und den
USA über weitere Abrüstungsschritte voll unterstützen
und sich dafür einsetzen, dass auch substrategische
Atomwaffen einbezogen werden. Deutschland muss sich
außerdem dafür stark machen, dass wir dem Ziel einer
Nuklearwaffenkonvention, die Atomwaffen für immer
verbietet, näher kommen.
Es gibt keinen rationalen Grund, weshalb ausgerech-
net Atomwaffen nicht völkerrechtlich geächtet werden
sollen. Die Herstellung, der Besitz und der Einsatz von
Chemie- und Biowaffen sind aus guten Gründen verbo-
ten. Das Gleiche sollte auch für Atomwaffen gelten. Die
humanitären und ökologischen Folgen eines Atomwaf-
feneinsatzes sind katastrophal und nie wieder gutzuma-
chen.
Am 4. und 5. März findet in Oslo eine Konferenz zu
den humanitären Folgen von Atomwaffen statt. Für die
Durchführung dieser Konferenz haben sich namhafte
NGOs mit großem Engagement eingesetzt. Ihnen gilt
unser aller Dank.
Deutschland muss diese Impulse aufnehmen. Auch
wenn es noch ein weiter und steiniger Weg ist, bis die
Welt frei von Atomwaffen ist: Damit es gelingt, braucht
es dringend Staaten, die mit vorangehen.
Die beiden Ereignisse in der letzten Woche haben
deutlich gemacht: Wir können es uns nicht leisten, ein-
fach stehen zu bleiben und abzuwarten.
Anlage 15
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Originäre Kinder-
filme aus Deutschland stärker fördern (Zusatz-
tagesordnungspunkt 7)
Johannes Selle (CDU/CSU): Kinder sind unser
größter Schatz und unsere Zukunft. Das ist nicht nur
meine Überzeugung, sondern so heißt es in vielen Reden
landauf und landab. In den Medienproduktionen
Deutschlands lässt sich diese Bedeutung der Kinder für
unsere Gesellschaft nicht ablesen. Dabei fehlt es nicht an
der Quantität oder an der Vielfalt. Es fehlen jedoch die
Angebote, die Kinder in ihrer alltäglichen Welt ernst
nehmen, aus ihrem Blickwinkel Fragen des Lebens auf-
greifen und Rollenmodelle und zeitgemäße Helden ent-
halten.
Vor über zehn Jahren hat sich der Freistaat Thüringen
diesem Defizit gewidmet und den sich entwickelnden
Medienstandort auf dieses Thema konzentriert. In Thü-
ringen gibt es jetzt eine Kindermedienakademie, die
Drehbuchentwicklungen für originäre Kinderfilmstoffe
fördert, und es gibt den Studiopark Kindermedienzen-
trum.
Mit Bedauern muss man zur Kenntnis nehmen, dass
in den Jahren 2009 und 2010 kein einziger Kinderfilm
gedreht wurde, der auf einem originären Stoff beruht. Im
Jahre 2012 waren es ganze zwei, einer davon ist der Film
Wintertochter, ein Stoff, der seinen Ursprung in der Aka-
demie für Kindermedien in Thüringen ebenso hatte wie
der Film Kopfüber, dessen erfolgreiche Premiere auf der
gerade zu Ende gegangenen Berlinale stattfand. Der
Film Wintertochter konnte 2012 mit dem Deutschen
Filmpreis in der Kategorie „Kinderfilm“ ausgezeichnet
werden.
„Die Sehnsucht nach guten Stoffen ist ungebrochen,
eine Herausforderung, der wir uns gerne stellen“, sagt
die Chefin der Kindermedienakademie Margret Albers.
Eine lobenswerte Einrichtung allein ist aber nicht im-
stande, einem bundesweiten Defizit abzuhelfen. Hier
sind Veränderungen notwendig, die über die Bereitstel-
lung von Inhalt hinausgehen. Eine breite gesellschaftli-
che Diskussion wird angeregt zum Beispiel durch den
Förderverein Deutscher Kinderfilm, den Bundesver-
band Jugend und Film e. V., die Allianz Deutscher Pro-
duzenten – Film & Fernsehen e. V. und weiterer und es
bedarf eines erhöhten Engagements von Produzenten,
Vertriebsorganisationen und Sendern, insbesondere den
öffentlich-rechtlichen. Inzwischen reichen die Bemü-
hungen für den Kinderfilm über Deutschland hinaus.
Ebenfalls, übrigens auch in Erfurt, hat es den ersten
europäischen Kongress von KIDS Regio gegeben, an
dem Teilnehmer aus verschiedenen europäischen Län-
dern teilnahmen, die sich für den Kinderfilm einsetzen.
KIDS Regio ist ein Interessenverband, der europaweit
für den Kinderfilm hoher Qualität wirbt und in einer De-
klaration die unmittelbaren Erfordernisse verabschiedet
hat. Es geht in der Deklaration darum, eine größere Viel-
falt an Geschichten, Genres und Stilen zu unterstützen,
und nicht zuletzt auch darum, den Kinderfilm als selbst-
verständlichen Bestandteil Europäischer Filmkultur und
-industrie zu verankern.
Im Jahre 2012 wurde der erste Europäische Filmpreis
für den Kinderfilm in Erfurt verliehen. Er wurde von der
Europäischen Filmakademie vergeben. Die Arbeit von
KIDS Regio wird übrigens im nächsten Monat beim
BUFF – International Children and Youth Film Festival
in Malmö fortgesetzt.
Mit dem vorliegenden Antrag „Originäre Kinderfilme
aus Deutschland stärker fördern“ kommen wir als Parla-
ment zur richtigen Zeit in Bezug auf die breit aufge-
27746 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013
(A) (C)
(D)(B)
stellte gesellschaftliche Initiative. Die Punkte in unserem
Antrag, die darauf abzielen, bei den Medienpartnern die
Verantwortung zu schärfen und für eine größeres Enga-
gement zu motivieren, sind dabei sehr wichtig. Nicht al-
les kann von der Bundesregierung oder vom Bundestag
geleistet werden, aber die ernsthaften Anregungen eines
wichtigen Partners verfehlen ihre Wirkung nicht.
Unsere Kinder begegnen der Gesellschaft am inten-
sivsten: Armut und Reichtum, Migration und ge-
schlechtliche Identität, Arbeitslosigkeit und Drogen. Sie
sind vielen Spannungen in der eigenen Familie, in der
Schule, im Freundeskreis und in der Freizeit ausgesetzt.
Sie brauchen Selbstvertrauen, das Bekenntnis zu Werten,
sie benötigen Anerkennung bei der Verarbeitung der
Realität. Wenn wir das wissen und ernst nehmen, dann
dürfen auch medial und unterhaltsam in der Form von
Filmen diese Themen nicht ausgespart werden. Das sind
wir den Kindern ebenso schuldig wie den Erwachsenen,
die sich gut bedient sehen. Kulturelle Bildung geschieht
ganz wesentlich über Bewegtbilder.
Kinder im Alter von 3 bis 13 Jahren konsumieren
nach einer Studie des Bundesministeriums für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend aus dem Jahr 2011 – Titel:
„Geflimmer im Zimmer“ – täglich 90 Minuten audiovi-
suelle Medien. Filme mit Problemen aus dem wirklichen
Leben sind zu wenige darunter, und ein nicht unwesent-
licher Grund liegt in den vergleichsweise hohen Produk-
tionskosten und den vergleichsweise geringen Erlös-
erwartungen bei Filmen für diese Zielgruppe. Erst später
kommt als wesentlicher Einflussfaktor das Internet zu
Fernsehen und Kino hinzu.
Die Arbeitsgruppe der CDU/CSU-Fraktion im Bun-
destag hat am 27. September 2012 ein Fachgespräch
zum Thema Kinderfilm durchgeführt: „Der Kinderfilm
in Deutschland – ein Mercedes ohne Stern?“ Der Einla-
dung sind viele Experten aus dem Bereich Kinderfilm
gefolgt. Deren Erfahrungen aus der Praxis sind in unse-
ren Antrag mit eingeflossen.
Ich bin der Intendantin des Mitteldeutschen Rund-
funks, Frau Professor Dr. Karola Wille, sehr dankbar,
dass sie die Initiative „Der besondere Kinderfilm“ ergrif-
fen hat. Ihr ist es gelungen, eine Allianz zu bilden, um in
diesem Jahr schon die Produktion von zwei Kinderfil-
men vorzubereiten, die dem Anliegen unseres Antrages
entsprechen.
Im Regierungsentwurf der Siebenten Novelle des
Filmförderungsgesetzes hat die Bundesregierung den
Kinderfilm ausdrücklich erwähnt: In § 32 des FFG wird
vorgeschlagen, dass auch Kinderfilmprojekte, die auf
Originalstoffen beruhen, angemessen im Rahmen der
Projektfilmförderung berücksichtigt werden sollen.
Mit unserem Antrag wollen wir den deutschen Kin-
derfilm stärken, wollen wir erreichen, dass bei allen Be-
teiligten und Verantwortlichen die Sensibilität für die
Bedeutung des Kinderfilms gestärkt wird.
Wie Sie sehen, befindet sich der Bundestag mit die-
sem Antrag mitten in einer Bewegung der Gesellschaft,
die das gleiche Ziel hat. Wer kann unseren Antrag ei-
gentlich nicht unterstützen?
Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Die
über 10 Millionen Kinder in unserem Land, die Heran-
wachsenden unter 14 Jahren, sind nicht nur das Filmpu-
blikum von heute, sondern auch von morgen. Für sie
sind bewegte Bilder das Einstiegsmedium für die eigene
Lebensorientierung.
Der Kinderfilm mit dem provozierenden Titel Wer
küsst schon einen Leguan? wurde 2004 ein toller Erfolg.
Er setzte auf eine kindgerechte Geschichte, auf Origina-
lität. Die ARD verbuchte bei der Premiere 4,4 Millionen
Zuschauer, und 25 weitere Ausstrahlungen erfolgten.
Doch dieser Triumph ist jetzt sieben Jahre her. Damals
bildeten von zwölf Kinderfilmproduktionen eines Jahres
noch vier – also ein Viertel – den Kinderalltag ab. Heute
gibt es davon gar keine mehr. Der „Independent“-Film
steht in Deutschland auf der „Roten Liste“. Märchen-
filme oder die Adaption bekannter Kinderbücher dage-
gen werden zahlreich vertrieben und gesendet und fin-
den dann auch ein breites Publikumsinteresse.
Der Kinderfilm in Deutschland ist ein Mercedes ohne
Stern. Ambitioniertere Filme mit Originalstoffen sind
aus der Produktionslandschaft fast vollständig ver-
schwunden. Ist der Kinderfilm in Deutschland zum rei-
nen Wirtschaftsgut geworden? Werden lediglich Bestsel-
lerlisten abgearbeitet? Beachtet das Feuilleton den
Kinderfilm zu wenig? Fest steht: Kinderfilme sind in der
Produktion teurer als andere, auch deshalb, weil die Ar-
beitsbedingungen mit Kindern aufwendiger sind. Auch
sind die kinderfilmspezifischen Förderbudgets geringer.
Ganz anders in Skandinavien. Dort ist der Kinderfilm
eine eigene Marke, die ganz besonders vorbildlich in
meinem Nachbarland, dem Königreich Dänemark, ist.
Das gilt auch für die Niederlande.
In meinen zahlreichen Gesprächen mit Filmschaffen-
den und Vertretern der Filmbranche, im Präsidium der
Filmförderungsanstalt und anderswo bin ich immer wie-
der auf Missstände beim lebensnahen deutschen Kinder-
film aufmerksam gemacht worden. Auch eine Petition
von 2012 an den Deutschen Bundestag macht auf dieses
Defizit aufmerksam. Um dem nachzugehen, hat meine
Fraktion im letzten Jahr Experten und Akteure der Kin-
derfilmbranche zu einem öffentlichen Fachgespräch in
den Deutschen Bundestag eingeladen. Der Kinderfilm
feierte damit seine Premiere als Debattengegenstand im
Deutschen Bundestag. Nun debattieren wir auch erst-
mals im Hohen Haus über seine gegenwärtige Lage.
Wir benötigen Filme, die Kinder ansprechen, ihnen
Mut machen und Selbstbewusstsein vermitteln. Kinder
müssen sich in der Gesellschaft erst noch orientieren ler-
nen. Ihre Filme sollen die Geschichten aus Kindersicht
erzählen; nur Unterhaltung ist zu wenig. Der Stoff sollte
auch für ein junges Publikum realitätsnah sein.
Kinder, so sagt es die Drehbuchautorin Katharina
Reschke, „haben ein Recht auf die gleiche Vielfalt und
Diversität wie wir Erwachsenen“. Deshalb, so Bernd
Merz, „muss hier Qualität eine viel, viel größere Rolle
spielen als die (Einschalt-)Quote“. Ich teile diese Auf-
fassung: Vielfältig sollte die Filmkultur für die Kinder
sein. Derzeit fehlt es an Wahlmöglichkeiten für sie.
Weltaneignung darf im Kanon der Kinoangebote für die
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 27747
(A) (C)
(D)(B)
Kids nicht ausgegrenzt werden. Eine solche Breite wäre
sowohl pädagogisch sinnvoll als auch gesellschaftspoli-
tisch wünschenswert.
Vom Förderverein Deutscher Kinderfilm über die
FFA in Berlin bis hin zu den TV-Verantwortlichen für
den Kinderkanal, KIKA, gibt es forsche wie fachkompe-
tente Filmschaffende und Filmverantwortliche, denen
die Medien, die Produzenten, Verleiher und die Politik
mehr Raum, mehr Förderung und mehr Wagnismöglich-
keiten bieten sollten, um den Kinderfilm zu einer eige-
nen Marke in unserem Land zu machen. Aber derzeit
fehlt dem jungen Publikum offensichtlich eine Lobby.
Die Politik tritt in Vorleistung: Der Kinderfilm, der
auf originären Stoffen beruht, erhält im Regierungsent-
wurf zum neuen Filmförderungsgesetz ab 2014 eine
entschieden deutlichere Würdigung. In der Projektfilm-
förderung, § 32, wird klargestellt, dass auch Kinderfilm-
projekte, die auf Originalstoffen beruhen, angemessen
im Rahmen der Projektfilmförderung berücksichtigt
werden sollen.
In unserem Antrag machen wir einige Vorschläge für
weitere Ergänzungen im FFG, und auch die Produzen-
tenallianz beabsichtigt, dem Kinderfilm einen höheren
Stellenwert zu geben. Doch alles entscheidend für diese
Art von Kinoproduktion ist das Fernsehen. Da es seine
Bereitschaft zur Produktion von „Independent“-Filmen
fast aufgegeben hatte, gab es ein Leerfeld, das nicht zu
verantworten ist.
Auch deshalb hatte meine Fraktion sich des Projektes
Kinderfilm in einem Fachgespräch angenommen. Im
Herbst letzten Jahres hat daraufhin auf Einladung von
MDR-Intendantin Professor Karola Wille in Erfurt ein
Runder Tisch stattgefunden, in dessen Folge eine Ar-
beitsgruppe „Initiative Kinderfilm“ gegründet worden
ist. Diese hat sich darauf verständigt, das sogenannte
holländische Modell zugrunde zu legen und künftig die
Produktion und Vermarktung von zwei Kinderfilmen pro
Jahr zu unterstützen.
Wir gehen davon aus, dass ARD und ZDF für die
Förderung der Initiative Kinderfilm die entsprechenden
Mittel zur Verfügung stellen werden. Der öffentlich-
rechtliche Rundfunk in Deutschland ist mit seinen rund
8 Milliarden Euro Gebührengeldern jährlich einer der
mit am besten ausgestatteten der Welt.
Die Erfüllung des öffentlich-rechtlichen Auftrags
müssen wir bei ARD und ZDF und ihren Sendertöchtern
auch auf anderen Feldern immer wieder anmahnen.
Dazu gehört auch, dass innerhalb der Häuser die Bud-
gets für Kinder- und Jugendfilme deutlich aufgestockt
werden. Doch an dieser Stelle sollte und muss anerkannt
werden, mit welchem unübersehbaren finanziellen En-
gagement beide die Filmförderung in unserem Land po-
sitiv stärken.
Durch die Zusammenarbeit mit der Filmförderungs-
anstalt und den Länderfördereinrichtungen hoffen wir,
mittelfristig auf eine Fördersumme von insgesamt 4 Mil-
lionen Euro für den Kinderfilm zu kommen. Die Initia-
tive ist ein sehr begrüßenswerter Schritt in die richtige
Richtung, doch bei weitem noch nicht ausreichend.
Wir benötigen ein breites Aktionsbündnis für den
Kinderfilm – so die Forderung von Peter Dinges, dem
Vorstand der FFA. Ihm und dem Präsidium der FFA un-
ter dem Vorsitz des Präsidenten Eberhard Junkersdorf
gilt unser Dank. Doch guter Wille an sich ist nicht ge-
nug, wenn die großen Produzenten sich verweigern und
die mittelständischen Filmunternehmen das finanzielle
Wagnis nicht eingehen wollen. Bleibt dann nur noch die
Quote?
Von vielen Experten vorgeschlagen sind eine Sende-
quote für die öffentlich-rechtlichen Anstalten, die einen
Bildungs- wie Kulturauftrag zu erfüllen haben, und eine
Förderquote bei den öffentlichen Filmfördereinrichtun-
gen. Unser Nachbar Frankreich und fast alle anderen
Filmländer praktizieren ein solches System mit Erfolg.
An kreativer Qualität für das Kinderkino mangelt es
nicht in unserem Land. Kinder- und Jugendfilme auf
literarischer Grundlage beweisen, dass es möglich ist, er-
folgreich die junge Generation für den Film zu begeis-
tern. Diese vorliegenden Kompetenzen sollten allen Ver-
antwortlichen Mut machen, sich jetzt dem originären
Kinderfilm zuzuwenden.
Angelika Krüger-Leißner (SPD): Vor wenigen
Tagen ist der weltbekannte deutsche Kinderbuchautor
Otfried Preußler gestorben. Generationen von Kindern
in aller Welt hat er mit seinen Kinderbuch-Klassikern
verzaubert.
Viele seiner Bücher wie Die kleine Hexe, Räuber Hot-
zenplotz oder Krabat wurden verfilmt und haben, nicht
nur, die jungen Zuschauer auch im Kino begeistert.
„Kinder wollen keine Lehrstücke“, sagte Otfried
Preußler einmal, „sondern Geschichten, die der Phanta-
sie Nahrung geben und ihnen auf dem Weg der Poesie
helfen, mit mancherlei Ängsten besser fertig zu werden.“
Damit ist ein ganz wesentlicher Punkt angesprochen, der
auf die große Bedeutung von Kinderbüchern und -filmen
hinweist: Kinder brauchen für ihre Entwicklung Nah-
rung. Und in diesem Sinne sind gute Kinderfilme für
mich ein Grundnahrungsmittel.
Kinderfilme nach Literaturvorlagen, wie zum Bei-
spiel Otfried Preußlers Geschichten, gehören in den Jah-
resbilanzen regelmäßig zu den erfolgreichsten deutschen
Kinofilmproduktionen, zum Beispiel wie zuletzt Fünf
Freunde, Hanni und Nanni, Wicki auf großer Fahrt oder
Vorstadtkrokodile. Das ist sehr erfreulich, aber wir müs-
sen auch im Auge behalten, dass damit nicht das ganze
Spektrum abgedeckt werden kann.
So macht es mir Sorgen, dass es bei uns einen großen
Mangel an solchen Filmen gibt, die ganz direkt mit der
Lebenswirklichkeit der Kinder zu tun haben; denn auch
dieses Angebot brauchen die Kinder für Ihre Entwick-
lung. Sie brauchen Geschichten aus ihrer eigenen Le-
benswelt, in denen sie sich wiederfinden können, mit de-
ren Protagonisten sie sich direkt identifizieren können,
Filme, die ihnen einen geschützten Bereich bieten, in
dem sie sich spielerisch auch auf die Härten des Lebens
vorbereiten können, Filme, in denen sie zum Beispiel
von Konflikten erfahren und lernen können, wie man da-
27748 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013
(A) (C)
(D)(B)
mit konstruktiv umgehen kann. Die Bedeutung von Kin-
derfilmen hat inzwischen aber auch eine große medien-
pädagogische Bedeutung.
Für mich ist damit die Grundsatzfrage verbunden, wie
wir mit unseren Kindern umgehen. Liefern wir sie den
übermächtigen Marktkräften im audiovisuellen Bereich
aus? Überlassen wir sie Facebook, Youtube und Co. und
hoffen, dass sie schon die richtigen Inhalte suchen? Oder
erkennen wir darin eine gemeinsame, gesamtgesell-
schaftliche Aufgabe, den Kindern mit den Mitteln des
Films Orientierung zu geben und sich über die Welt klar
zu werden? Denn genau das können gute Kinderfilme
leisten, die auf Originaldrehbüchern beruhen.
Doch leider gibt es viel zu wenige davon. So hat die
Filmförderungsanstalt, FAA, in den letzten drei Jahren
32 Kinderfilme gefördert, aber nur vier davon basierten
auf Originaldrehbüchern. Vor diesem Hintergrund kann
meine Fraktion die Vorlage der Koalitionsfraktionen nur
begrüßen.
Wir sollten uns nur im Klaren darüber sein, dass die
direkten Möglichkeiten der Politik hier begrenzt sind.
Für einen guten und erfolgreichen originären Kinderfilm
steht am Anfang der Autor mit einer guten Idee. Aber
schon da zeigen sich die Hürden. Nach Einschätzung al-
ler Experten herrscht ein großer Mangel an guten Stof-
fen. Alle Erfahrung zeigt, dass sich eine wirklich gute
Idee in den Fördergremien auch durchsetzt und Unter-
stützung erhält.
Ein Grundproblem scheint darin zu liegen, dass zu
wenige Autoren den Mut zur Entwicklung eigener Stoffe
haben, ganz einfach, weil die Aussicht zu ungewiss ist,
ob sich ein Produzent und ein Sender finden, die das
Drehbuch realisieren. Deshalb geht man lieber auf Num-
mer sicher und arbeitet mit Literaturvorlagen oder TV-
Marken.
Wir müssen also Wege finden, dass Sender, Produ-
zenten und Autoren von Anfang an gemeinsam an Stof-
fen arbeiten. Und dafür haben wir ja auch gute Ansätze.
Wir haben den „Kindertiger“. Das ist der Preis für das
beste verfilmte Drehbuch für einen Kinderfilm, der ge-
meinsam von Vision Kino und der FFA vergeben wird.
Damit belohnen wir den Erfolg und geben dem Autor die
finanzielle Freiheit, sein nächstes Projekt zu entwickeln.
Besonders glücklich bin ich über die jüngste Initia-
tive: „Der besondere Kinderfilm“. Hier arbeiten Film-
branche, Kindermedienstiftung, Filmfördereinrichtungen
und öffentlich-rechtliche Sender eng zusammen, um
dem originären Kinderfilm zu mehr Präsenz zu verhel-
fen. Dabei setzt die Förderung genau da an, wo es nötig
ist, bei der Entwicklung der Stoffe, und begleitet sie bis
zu Kinostart oder Ausstrahlung im Fernsehen. Das ist
ein guter Ansatz.
Ich bin überzeugt, es gibt keinen Königsweg, auf dem
wir den qualitätsvollen Kinderfilm nachhaltig stärken
können. Wir brauchen viele Bausteine in allen Berei-
chen: in der Medienerziehung – hier leistet Vision Kino
mit den Schulkinowochen hervorragende Arbeit –, bei
der Ausbildung der Autoren an den Filmhochschulen,
bei der Weiterbildung, beim Prozess der Stoffentwick-
lung, hinsichtlich der Bereitschaft der Produzenten, sich
auf Originalstoffe einzulassen, und vor allem hinsicht-
lich der Bereitschaft der öffentlich-rechtlichen Sender
mit ihrem Bildungsauftrag zu mehr Engagement.
Unverzichtbare Arbeit leisten hier auch die zahlrei-
chen privaten Initiativen und Vereine für den Kinder-
film. Auch die Festivals, wie kürzlich die Berlinale mit
ihrer Reihe „Generation“, gehören zu den wichtigsten
Förderern des originären Kinderfilms.
Die Politik hat vor allem die Möglichkeit, bei der För-
derung zu steuern. Das ist nach Lage der Dinge aber
nicht nur eine Frage des Geldes, sondern auch der besse-
ren Justierung bestehender Förderinstrumente. So soll
bei der Projektförderung im Filmförderungsgesetz, FFG,
klargestellt werden, dass Kinderfilmprojekte, die auf
Originalstoffen beruhen, angemessen berücksichtigt
werden sollen. Ich kann bestätigen, dass das in der Ver-
gabekommission der FFA bisher bereits die Praxis war,
aber das im Gesetz ausdrücklich zu betonen, kann nur
helfen.
Wichtig wäre es auch, die Förderung talentierter Au-
toren weiter zu stärken, damit sie genügend Zeit für die
Stoffentwicklung haben. Skeptisch bin ich gegenüber ei-
ner festen Förderquote für originäre Kinderfilme. Das
kann nach hinten losgehen, wenn wir am Ende schwache
Stoffe fördern, die keiner sehen will. Damit würden wir
dem guten Kinderfilm einen Bärendienst erweisen.
Wir brauchen mehr Mut zu originären Stoffen – zu-
nächst bei den Autoren selbst, dann bei den Produzenten
und auch den Sendern. Und wenn auf diesem Wege gute
Projekte gemeinsam auf den Weg gebracht werden, dann
müssen wir dafür sorgen, dass sie von allen Seiten be-
sondere Unterstützung erfahren: von der Stoffentwick-
lung über die Produktionsförderung bis hin zur Absatz-
förderung.
Verleih- und Absatzförderung sind ganz wichtig, da-
mit die Originalstoffe am Ende nicht nur auf den Festi-
vals gezeigt werden, sondern auch im Kino, wo sie sich
gegen die erdrückende Präsenz des 3D-Family-Enter-
tainments behaupten müssen.
Der vorliegende Antrag geht in die richtige Richtung.
Wir werden uns die Vorschläge genau anschauen und die
eine oder andere Ergänzung einbringen und im Aus-
schuss beraten. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass wir
hier zu einem gemeinsamen Antrag kommen.
Dr. Claudia Winterstein (FDP): Der Film Winter-
tochter von Johannes Schmid erzählt die Geschichte ei-
nes zwölfjährigen Mädchens, welches sich auf die Suche
nach ihrem leiblichen Vater begibt. Ausgerecht an Weih-
nachten erfährt sie, dass der Mann, den sie bisher Papa
nannte, nicht ihr leiblicher Vater ist. In der Begleitung
ihres besten Freundes und der Nachbarin begibt sich die
kleine Katharina auf eine Reise, um ihren leiblichen Va-
ter zu finden. Der Film ist nicht nur ein toller Familien-
film, sondern greift Empfindungen junger Menschen auf
und erzählt sie aus einer kindlichen Perspektive heraus.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 27749
(A) (C)
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Der Film Wintertochter wurde mit zahlreichen Aus-
zeichnungen bedacht. 2012 gewann er den Deutschen
Filmpreis als bester Kinderfilm. Die Deutsche Film- und
Medienbewertung, FBW, verlieh dem Film die Aus-
zeichnung „Prädikat besonders wertvoll“. Auch die
Filmkritiker übertrafen sich gegenseitig mit positiven
Bewertungen. Die Kritiker der Branche sind sich einig:
Wintertochter ist ein wahrer Lichtblick im Genre des
Kinderfilms.
Leider ist Wintertochter im Genre „Originärer Kin-
derfilm“ ein einzelner Lichtblick; denn Adaptionen von
Kinder- und Jugendbüchern oder die Verfilmung bzw.
Animationen von bekannten Kunst- und Märchenfiguren
dominieren den Kinderfilmbereich. Dagegen sind Pro-
duktionen, die originäre Stoffe für Kinder umsetzen,
kaum auf Kinoleinwänden oder Fernsehbildschirmen zu
finden. Der Kinderfilm leidet unter dem Verlust der Viel-
fältigkeit.
In den Jahren 2009 und 2010 wurde in Deutschland
kein Film nach originären Stoffen produziert, 2011 wa-
ren es gerade einmal zwei. Die Filmförderungsanstalt,
FFA, beispielsweise hat in den letzten drei Jahren
31 Kinderfilme gefördert, von denen jedoch nur vier auf
einem Originalstoff beruhten.
Originäre Kinderfilme aus Deutschland stehen in ei-
nem ungleichen Wettbewerb mit den Produktionen aus
den großen amerikanischen Studios. Mit einem Marke-
tingbudget, das mit dem der Blockbuster-Marken in kei-
ner Weise vergleichbar ist, müssen originäre Kinderfilm-
produktionen um die Gunst der Zuschauer werben. Im
Gegensatz zu den Verfilmungen von Literatur- und Mär-
chenvorlagen oder etablierten Marken treffen originäre
Kinderfilme auf keinen vorbereiteten Markt, sondern
müssen sich erst einen Bekanntheitsgrad erarbeiten. Be-
reits an diesem Punkt ist erkennbar, dass bei der Kinder-
filmproduktion ein hohes wirtschaftliches Risiko be-
steht. Originäre Filme sind kaum mehr zu finanzieren
und werden so gut wie nicht mehr produziert.
Wir benötigen in Deutschland ein Umdenken. Kin-
derfilme sollten zuerst als Kultur- und erst dann als Wirt-
schaftsgut betrachtet werden. Ein vielfältiges und inno-
vatives Kinderfilmangebot ist wünschenswert. Hierbei
sollten insbesondere die skandinavischen Länder als
Vorbild herangezogen werden. Diese Länder produzie-
ren jährlich eine Vielzahl von qualitativ hochwertigen
Kinderfilmen, die nicht nur eine Reihe von Filmpreisen
gewinnen, sondern gleichzeitig an der Kinokasse erfolg-
reich sind.
In Deutschland leben über 10 Millionen Kinder unter
14 Jahren. Für Kinder ist das Fernsehen weiter das wich-
tigste Medium. Erst ab 14 Jahren verdrängt das Internet
das Fernsehen als meistgenutztes Medium. Bewegte Bil-
der üben einen kaum zu überschätzenden Einfluss auf
unsere Kinder und Jugendlichen aus.
Filme haben einen großen Einfluss auf die kulturelle
Prägung von Heranwachsenden. Filme, die Geschichten
aus der Lebenswirklichkeit der Kinder erzählen, sind
hierbei von großer Bedeutung; denn sie setzen sich mit
den Bedürfnissen und Erlebnissen der Kinder auseinan-
der und erzählen Geschichten aus der einzigartigen Per-
spektive eines Kindes heraus. Kinder wollen ernst ge-
nommen werden, sie wollen Geschichten erleben, die
nicht nur auf Entertainment und Unterhaltung ausgerich-
tet sind, sondern auch das berücksichtigen, was Kinder
und Jugendliche realitätsnah bewegt.
Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang eine
Initiative des Beauftragten der Bundesregierung für Kul-
tur und Medien, der Filmförderungsanstalt, der Stiftung
Deutsche Kinemathek und der „Kino macht Schule“
GbR, nämlich die Vision Kino gGmbH. Ziel und Auf-
gabe von Vision Kino ist es, die Filmkompetenz von
Kindern und Jugendlichen zu stärken. Das bedeutendste
Projekt der Vision Kino gGmbH sind die SchulKinoWo-
chen, die mit Unterstützung aller Bundesländer durchge-
führt werden und sich in besonderer Weise um den Kin-
der- und Jugendfilm bemühen. Vision Kino ist mit dieser
Arbeit eine beispielgebende Institution, die alle Unter-
stützung verdient.
Die Politik ist sich ihrer Verantwortung bewusst. Des-
halb ist beabsichtigt, Kinderfilme mit lebenswirklichem
Inhalt stärker zu fördern. Im Regierungsentwurf zur
Siebten Novelle des Filmförderungsgesetzes, FFG, ist
nun klargestellt, dass originäre Kinderfilme bei der Pro-
jektfilmförderung angemessen berücksichtigt werden
sollen.
Mit dem vorliegenden Antrag setzt sich die christlich-
liberale Koalition für die Stärkung des deutschen origi-
nären Kinderfilms ein, um den deutschen Kinderfilm zu
einer eigenen Marke aufzubauen. Kinder und Jugendli-
che haben ein Anrecht auf ein vielfältiges Filmangebot.
Sie sind nicht nur die Zuschauer von heute, sondern auch
die Konsumenten von morgen. Deshalb soll mit dem
vorliegenden Antrag bei allen Akteuren der Filmbranche
das bereits vorhandene Problembewusstsein noch weiter
gesteigert werden.
Wir wollen die Stärkung des originären deutschen
Kinderfilms zu einer Schwerpunktaufgabe machen. Wir
freuen uns auf die gemeinsame Beratung im Ausschuss.
Kathrin Senger-Schäfer (DIE LINKE): Der hier
vorliegende Koalitionsantrag ist für mich und meine
Fraktion in mehrfacher Hinsicht überraschend:
Er ist es zunächst wegen des Zeitpunktes. Nahezu
ohne Anlass oder inhaltlichen Vorlauf stellt die Regie-
rung diesen Antrag und tut damit so, als sei sie eine
nachhaltige Verfechterin der Belange des Kinderfilms.
In allen meinen Fachgesprächen mit den Verbänden,
Freunden und Organisatoren zur Förderung des Kinder-
films, die ich seit drei Jahren kontinuierlich führe, habe
ich nichts darüber gehört, dass sich CDU/CSU und FDP
besonders für den Kinderfilm engagieren oder gar Maß-
nahmen ergriffen haben, dessen sehr schwierige Lage zu
verbessern. Diese Fraktionen sind doch in der Regie-
rungsverantwortung! Da müssen Sie sich fragen lassen,
was Sie bisher geleistet haben – und das frage nicht nur
ich, sondern mit Sicherheit auch die von der Koalition so
hoch gelobte „sehr engagierte Szene“ des Kinderfilms in
Deutschland.
27750 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013
(A) (C)
(D)(B)
Überraschend ist für mich zweitens, dass die Regie-
rung nunmehr offenbar die von ihren eigenen Fachkräf-
ten erarbeitete Neufassung der Förderinstrumentarien für
den deutschen Film im Bereich des Kinderfilms selber
als unzureichend klassifiziert. Anders ist nicht zu erklä-
ren, warum sie – mehr oder weniger an sich selbst appel-
lierend – dazu aufruft, die Ausgestaltung der §§ 15, 23
und 53 des Filmförderungsgesetzes, FFG, für den Kin-
derfilm stärker zu optimieren.
Überraschend ist schließlich auch, dass die Regie-
rungskoalition die öffentlich-rechtlichen Rundfunkan-
stalten in die Pflicht nehmen möchte, „ausreichende
Sendeplätze für originäre Kinderfilme“ zur Verfügung
zu stellen bzw. selbst produzieren zu lassen. Immerhin
ist dabei mindestens die FDP dafür der denkbar ungüns-
tigste Absender; denn ihr Interesse gilt ja, folgt man ih-
ren medienpolitischen Äußerungen der letzten Monate,
weniger der Stärkung des öffentlich-rechtlichen Rund-
funksystems, sondern eher der Reduzierung und Be-
schneidung öffentlich-rechtlicher Kernkompetenzen in
der Berichterstattung und der Mittelverteilung.
Es ist nicht so, dass die Fraktion Die Linke nicht auch
gehörige Kritik am Zustand der öffentlich-rechtlichen
Senderpolitik übt und üben muss. Aber uns geht es hier
um die Rückbesinnung auf den Verfassungsauftrag des
öffentlich-rechtlichen Rundfunks, während die FDP mit
ihrem Marktradikalismus auch noch die letzten Ressour-
cen öffentlich-rechtlicher Information und Unterhaltung
lieber heute als morgen den Privatanbietern übereignen
möchte. Wo bei dieser Doppelzüngigkeit der Kinderfilm
im öffentlich-rechtlichen Fernsehen seinen angemesse-
nen Platz bekommen soll, ist mehr als fragwürdig.
Die inhaltliche Ausrichtung des Antrags ist mit einem
Rundumschlag des guten Willens gleichzusetzen. Frei-
lich werden richtige Dinge angesprochen, Missstände
benannt und die sporadischen Ansätze gewürdigt, die
dafür sorgen, dass es in Deutschland überhaupt noch
Kinderfilme gibt. Aber dann passiert der gleiche Fehler,
der schon die Debatte um die Sicherung und Bewahrung
des nationalen Filmerbes zur Farce verkommen ließ:
Wieder werden Forderungen aufgestellt – in diesem
Falle zwölf –, die erneut „im Rahmen der vorhandenen
Haushaltsmittel“ realisiert werden sollen. Wieder muss
die Fraktion Die Linke dem entgegenhalten: Das wird
bei weitem nicht reichen! Es wird nicht nur nicht rei-
chen, sondern es wird auch auf diesem bedeutenden Feld
der Filmpolitik eher dazu führen, ein wichtiges Thema
zu zerreden und durch folgenlose Prüfaufträge schlicht
zu neutralisieren.
So etwas hilft weder denjenigen, die Kinderfilme pro-
duzieren und zeigen möchten, noch denen, die Kinder-
filme als einen unverzichtbaren kulturellen Bestandteil
in unserem Land ansehen, und eine solche Scheindiskus-
sion hilft natürlich erst recht nicht den Kindern und Ju-
gendlichen selbst. Sie werden aufgrund dieses Antrags
nicht mehr Filme bekommen, auch keine besseren und
vermutlich auch keine originären Kinderfilme, die, dem
Antrag zufolge, „nach zeitgenössischen Stoffen gedreht“
sind und „aus der unmittelbaren Lebenswirklichkeit der
Kinder stammen“.
Wenn es übrigens wirklich ein Anliegen wäre, „an-
sprechende, Mut machende und Selbstbewusstsein ver-
mittelnde Kinder- und Jugendfilme“ zu fördern, dann
müssten diese Filme ein hohes Potenzial an Herrschafts-
kritik beinhalten und sich damit deutlich gegen die Poli-
tik der jetzigen Regierung wenden; denn Anspruch, Mut
und Selbstbewusstsein werden nur in der ästhetischen
Erziehung zur Mündigkeit erzeugt. Dagegen stehen die
systematische soziale Ungerechtigkeit und der Aus-
schluss vom öffentlichen Leben in diesem Land. Bei
Millionen von Kindern und ihren Eltern ist eben das die
traurige Lebenswirklichkeit. Vernünftige Kinderfilme,
die diesen Zustand thematisieren, werden aus ökonomi-
schen und politischen Gründen nicht verlangt. Die Re-
gierung will das eigentlich nicht ändern.
Daher schwadroniert der Antrag auch nebulös über
Filme, „die auf den Werten unserer Gesellschaft auf-
bauen“ und die Erfahrungen mit „Migrationserscheinun-
gen“ verarbeiten sollen, ohne in irgendeiner Form zu re-
flektieren, dass solche Zuschreibungen gerade nicht dafür
geeignet sind, ein gesellschaftlich verträgliches Selbstbe-
wusstsein zu erzeugen. Für die öffentlichen Filmförder-
einrichtungen soll sogar das untaugliche Mittel der För-
derquote angewendet werden. Die Linke wird so etwas
nicht unterstützen.
Die Art der Problembewältigung und ihre Pseudoab-
hilfen sind falsch. Man muss sich eher früher als später
von dem Fetisch des Rahmens der vorhandenen Haus-
haltsmittel verabschieden, wenn eine sinnvolle und ziel-
sichere Aktivität entfaltet werden soll. Ein praktischer
Vorschlag ist zum Beispiel die Auflage eines Sonder-
fonds für Kinderfilme zur Anschubfinanzierung, der aus
Mitteln des Staatsministeriums für Kultur und Medien
und des Bundesministeriums für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend gebildet werden kann. Zur Gegenfi-
nanzierung sind natürlich verschiedene Prestigeobjekte
des Bundes zu streichen – im Sinne und im Interesse des
Kinderfilms in Deutschland.
Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Film: Das ist ja Lichtspielkunst. Aber die Film-
förderpolitik der Bundesregierung ist viel zu oft nur
Schattenspiel.
Wir erkennen an, dass sich die Regierung bei den För-
dermitteln engagiert. Doch Geld ist nur eine Seite. Nötig
sind auch Konzepte und Ideen, damit die Mittel sinnvoll
ausgegeben werden. Hier gibt es eine deutliche Kritik,
auch in den Medien, zum Beispiel hinsichtlich der Qua-
lität und Erkennbarkeit des deutschen Films, und leider
sind auch sinkende Marktanteile zu verzeichnen: auf
wieder unter 20 Prozent.
Wenn Kulturstaatsminister Bernd Neumann diesen
Rückgang analog zum Weinbau erklären will – wo es
auch gute und schlechte Jahrgänge gebe –, dann greift er
zu kurz. Doch lassen Sie uns bei diesem Bild bleiben;
denn wir Grüne haben beim Weinbau ja einige Kompe-
tenz, zum Beispiel mit der tollen Arbeit unserer Wein-
bauministerin im Kernland des Weinbaus, in Rheinland-
Pfalz.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 27751
(A) (C)
(D)(B)
Wer deutsche Spitzenpositionen verteidigen will, darf
sich nicht blind anpassen. Er muss wissen, wo die eige-
nen Stärken liegen, zum Beispiel bei einem Top-Riesling
aus dem Rheingau im Vergleich zu massenindustriell ge-
fertigten Weinen – sagen wir einmal, aus Kalifornien.
Und das gilt auch für die Filmkultur. Und weil das so ist,
würde ich mich auch über eine Überschrift „Hollywood
in Potsdam – Traumfabrik, Außenstelle Babelsberg“
nicht so freuen, wie Staatsminister Neumann es in einer
Rede Anfang Februar getan hat.
Es gilt doch, unsere eigenen Stärken zu erkennen und
zu entwickeln. Wir dürfen uns nicht verzetteln, indem
wir von Traumfabriken träumen und am Ende dann nur
schlechte Kopie sind und nicht das Original. Wir dürfen
uns auch nicht damit zufriedengeben, sogar im deutsch-
sprachigen Raum oft nur hinterherzuhinken, zum Bei-
spiel gegenüber einem österreichischen Kino, das wirk-
lich fulminante Filme abliefert. Es reicht auch nicht aus,
nur im Beiboot zu sitzen, mit Co-Produktionen und För-
dermitteln für gute Filme, deren kreative Basis anderswo
liegt.
„Weniger Hollywood, mehr eigene Ideen“: Diese For-
derung haben wir Grüne wiederholt an die Filmförderpo-
litik der Bundesregierung gerichtet, und sie ist nach wie
vor das Gebot der Stunde. Wir brauchen eine Neuaus-
richtung, die sich stärker an Qualitätskriterien orientiert
und gerade nicht die Bedeutung der Referenzfilmförde-
rung herunterfährt, wie die FFG-Novelle das vorsieht.
Die Novelle darf keine Lex „Weißes Band“ werden,
die Qualitätsfilme bestraft, und sie muss auch einen Un-
terschied darin machen, ob Filme eine Förderung kom-
merziell überhaupt nötig haben oder nicht. Über die
Qualität zum wirtschaftlichen Erfolg kommen: Das ist
die nachhaltige Strategie, nicht nur in der Agri-, sondern
auch in der Filmkultur.
Offensichtlich wächst auf Regierungsseite die Ein-
sicht, dass diese grüne Position so falsch nicht sein kann.
Aber sie wächst zu langsam, und es fehlt der Mut, eine
wirkliche Kurskorrektur vorzunehmen. Es reicht letzt-
lich nur für Problembeschreibungen und nicht für konse-
quente politische Lösungen.
Eine solche Problembeschreibung ohne zureichende
Konsequenz ist auch der vorliegende Antrag zum Kin-
derfilm der Koalition. Er kritisiert zu Recht, dass origi-
näre Kinderfilme aus Deutschland fast keine Rolle spie-
len. Originär: Das meint Stoffe, die sich auf unsere
Lebenswirklichkeit beziehen und dabei nicht nur Kino-
adaptionen von bekannten Kinderbüchern oder Mär-
chenstoffen sind. Solche originären Produktionen kann
man bei uns wirklich an den Fingern einer Hand abzäh-
len. Von den über 30 FFA-geförderten Kinderfilmen in
den letzten drei Jahren waren es bloß vier.
Angesichts des unentwegten filmpolitischen Schie-
lens der Bundesfilmpolitik nach Hollywood ist es durch-
aus bemerkenswert, wenn die Regierungsfraktionen
beim Kinderfilm nun den – Zitat – „fast aussichtslosen
Wettbewerb mit Blockbuster-Marken und seriellen Pro-
duktionen aus den großen amerikanischen Studios“ klar
benennen. Diese Klarheit wünschte man sich für die
Filmförderpolitik der Bundesregierung insgesamt.
Das Thema Kinderfilm ist sehr wichtig für unsere
Filmkultur; denn Kinder sind ja nicht nur Zuschauer von
heute, sondern auch von morgen. Gute Kinderfilme und
eine anspruchsvolle Filmbildung sind im besten Sinne
Basisarbeit für die Zukunft der Filmkultur.
Wir begrüßen die Initiative „Der besondere Kinder-
film“, an der unter anderem öffentlich-rechtliche Sender,
Filmproduzenten und Medienstiftungen beteiligt sind
und zu der auch die FFA einen Beitrag leistet, um zwei
originäre Kinderfilme im Jahr zu produzieren. Das wäre
zumindest ein kleiner Fortschritt.
Auch Anpassungen im Filmfördergesetz sind sinnvoll
und nötig, zum Beispiel die Streckung des Zeitraums
zum Erwerb von Referenzförderpunkten für Kinderfilme
in § 23 FFG – ein Vorschlag, den der Kinderfilmantrag
der Koalition etwas schüchtern zur Sprache bringt, näm-
lich im Sinne eines Prüfauftrags und nicht als klare For-
derung. Das ist wirklich ziemlich defensiv.
Nicht erwähnt wird, dass eine solche Verbesserung für
Kinderfilme in einem direkten Widerspruch zu der von
der Regierung in § 23 real beabsichtigten Verschlechte-
rung bei den Aufstockungsmöglichkeiten für Referenz-
punkte stünde. Die Aufstockungsmöglichkeit soll näm-
lich von 150 000 Punkten auf 100 000 abgesenkt werden.
Das dürfte sich gerade für originäre Kinderfilme negativ
auswirken. Kritik an diesem Vorhaben der Bundesregie-
rung findet man im Kinderfilmantrag der Koalition aber
nicht.
Was der Antrag beim § 23 unter dem Strich zu bieten
hat, ist bestenfalls ein Nullsummenspiel. Man erhöht den
Zeitraum des Referenzpunkteerwerbs im Verhältnis zwei
zu drei und akzeptiert gleichzeitig die Absenkung der
Aufstockungsmöglichkeiten im Verhältnis von drei zu
zwei. Das ist Status quo, aber kein positives Ergebnis für
den Kinderfilm.
Etwas hohl klingt dann auch der Hymnus, den der
Antrag auf die Arbeit einer Bundesregierung singt, die
ihrer Verantwortung in der FFG-Novelle angeblich
gerecht würde, wenn sie in § 32 klarstellt, „dass auch
Kinderfilmprojekte, die auf Originalstoffen beruhen, an-
gemessen im Rahmen der Projektfilmförderung berück-
sichtigt werden sollen.“ Selten wurde ein unbestimmter
Rechtsbegriff heftiger abgefeiert!
Wer wissen will, wie ernst die Bundesregierung selbst
diese Formulierung in § 32 nimmt, der muss nur in den
Begründungsteil zur FFG-Novelle schauen, wo die Än-
derung damit relativiert wird, dass man ihr nur einen
„klarstellenden Charakter“ beilegt und keine Verpflich-
tung aus ihr ableiten will.
Augenscheinlich hat die Filmpolitik der Koalition
viel vom Kulissenbau gelernt. Der ist ja beim Film sehr
wichtig. Aber die Kunst des schönen Scheins nach dem
Prinzip Potemkin reicht nicht aus. Den Kinderfilm privi-
legiert man nicht mit falschen Lobgesängen und unbe-
stimmten Rechtsbegriffen, sondern nur mit konkreten
Fördermaßnahmen und der Festlegung entsprechender
Fördervoraussetzungen.
27752 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013
(A) (C)
(D)(B)
Der Antrag der Koalition weiß, wo zuallererst anzu-
setzen wäre, nämlich beim § 15 FFG, bei den Allgemei-
nen Förderungsvoraussetzungen. Aber auch hier traut
man sich wieder nur, einen Prüfauftrag zu vergeben, statt
eine bessere Förderung des Kinderfilms einzufordern. In
der FFG-Novelle der Regierung taucht in § 15 jedenfalls
keine Verbesserung für den Kinderfilm auf.
Problematisch ist schließlich der Wegfall der Dreh-
buchfortentwicklungsförderung in § 32 Abs. 3 der FFG-
Novelle; denn gerade beim Kinderfilm kommt es in be-
sonderer Weise auf die Entwicklung von Stoffen, auf
gute und originäre Drehbücher an. Deshalb sollte man an
dieser Stelle nicht streichen, sondern besser und geziel-
ter fördern, damit ein besonderer Anreiz zur Verbesse-
rung von Kinderfilmdrehbüchern entsteht.
Das kann geschehen, indem die Kreativen, die die
Stoffe entwickeln, die Möglichkeit erhalten, ihre Pro-
jekte selbstständig bei der FFA einzureichen. Auch in-
terne Veränderungen in der FFA wären sinnvoll. So
sollte die Unterkommission Drehbuch, wo ja viel Sach-
verstand für die Stoffentwicklung sitzt, auch bei der
Drehbuchfortentwicklung mehr Kompetenzen erhalten.
Schließlich die Förderungshilfen für Drehbücher un-
ter § 47: Da sollte es in der Novelle doch sinnvollere und
zielführende Änderungen geben als die, wonach Dreh-
bücher zukünftig von vornherein auf Deutsch verfasst
sein müssen.
Ich sehe im Kinderfilmantrag der Koalition richtige
Problembeschreibungen, aber noch keine zureichenden
Problemlösungen. Lassen Sie uns deshalb im parlamen-
tarischen Verfahren konstruktiv diskutieren, und lassen
Sie uns die Punkte, die eine Verbesserung beim Kinder-
film bringen würden, auch in die anstehende FFG-No-
velle hineinschreiben; denn hier spielt die Musik in der
Bundesfilmförderung!
222. Sitzung
Inhaltsverzeichnis
TOP 4 Eidesleistung der Bundesministerin für Bildung und Forschung
TOP 5 Regierungserklärung zum Europäischen Rat
TOP 6 Armuts- und Reichtumsberichterstattung
TOP 38, ZP 3 Überweisungen im vereinfachten Verfahren
TOP 39, ZP 4 Abschließende Beratungen ohne Aussprache
ZP 5 Aktuelle Stunde zu rot-grüner Landespolitik
TOP 7 Verwaltung alternativer Investmentfonds
TOP 8 Missbrauch von Werkverträgen
TOP 9 Wahlrecht
TOP 10 Öffentlich geförderte Beschäftigung
TOP 11 Qualität bei der Vergabe von Dienstleistungen
TOP 12 Ländliche Entwicklung in Entwicklungsländern
TOP 13 Innovationspolitik
TOP 21 Lehrkräfte in Integrationskursen
TOP 15 Aus- und Weiterbildung in der Altenpflege
TOP 16 Zusammenarbeit von Schule und Jugendhilfe
TOP 17 Umsetzung des Seearbeitsübereinkommens 2006
ZP 6 Atomwaffenfreie Welt
TOP 19 Honorarberatung über Finanzinstrumente
TOP 20 Bevölkerungsstatistik
TOP 23 Strafrecht - Bekämpfung der Genitalverstümmelung
TOP 22 SGB II (Bildungs- und Teilhabepaket)
TOP 27 Wahlrecht von Menschen mit Behinderung
TOP 24 Videokonferenztechnik in gerichtlichen Verfahren
TOP 25 Billigkeitsrichtlinie – Umwidmung von Frequenzen
TOP 26 Holzhandels-Sicherungs-Gesetz
TOP 28 Änderung des Entflechtungsgesetzes
TOP 29 Neuorganisation der Unfallkassen
TOP 30 Amtshilferichtlinie und steuerliche Vorschriften
TOP 31 Förderung der elektronischen Verwaltung
TOP 32 Wrackbeseitigungsübereinkommen
ZP 7 Förderung von Kinderfilmen aus Deutschland
Anlagen