Protokoll:
17222

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 17

  • date_rangeSitzungsnummer: 222

  • date_rangeDatum: 21. Februar 2013

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 22:43 Uhr

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 17/222 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 222. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 I n h a l t : Glückwünsche zum Geburtstag der Abge- ordneten Ernst Hinsken und Dr. Peter Röhlinger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wahl der Abgeordneten Beatrix Philipp und des Herrn Professor Dr. Dr. h. c. Horst Möller in den Beirat beim Bundesbeauftrag- ten für die Unterlagen des Staatssicherheits- dienstes der ehemaligen DDR . . . . . . . . . . . . Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Absetzung der Tagesordnungspunkte 14 und 18 Tagesordnungspunkt 4: Eidesleistung der Bundesministerin für Bildung und Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 5: Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin: zu den Ergebnissen des Europäischen Rates am 7./8. Februar 2013 in Brüssel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Angela Merkel,  Bundeskanzlerin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Peer Steinbrück (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rainer Brüderle (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sahra Wagenknecht (DIE LINKE) . . . . . . . . . Dr. Michael Meister (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Johannes Singhammer (CDU/CSU) . . . . . . . Michael Roth (Heringen) (SPD) . . . . . . . . . . Bettina Kudla (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Alexander Ulrich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Veronika Bellmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Roderich Kiesewetter (CDU/CSU) . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 6: a) Beratung der Großen Anfrage der Abge- ordneten Markus Kurth, Katrin Göring- Eckardt, Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Der 4. Armuts- und Reichtumsbericht (Drucksache 17/11900) . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Markus Kurth, Katrin Göring-Eckardt, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Für eine sozio-kulturelle Existenzsicherung ohne Lücken (Drucksache 17/12389) . . . . . . . . . . . . . . c) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales – zu dem Antrag der Abgeordneten Hilde Mattheis, Gabriele Hiller-Ohm, Anette Kramme, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion der SPD: Vorbe- reitung des 4. Armuts- und Reich- tumsberichts der Bundesregierung in der 17. Wahlperiode – Armuts- und Reichtumsberichterstattung wei- terentwickeln 27485 A 27485 B 27485 B 27487 C 27487 C 27488 A 27488 B 27492 A 27495 C 27498 D 27500 B 27502 B 27504 C 27506 A 27506 D 27508 B 27509 B 27510 B 27511 B 27511 B Inhaltsverzeichnis II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 – zu dem Antrag der Abgeordneten Katja Kipping, Diana Golze, Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion DIE LINKE: Armuts- und Reichtumsbericht zum Ausgangs- punkt für Politikwechsel zur Her- stellung sozialer Gerechtigkeit ma- chen (Drucksachen 17/4552, 17/6389, 17/8508) Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (zur Geschäftsordnung) . . Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU)  (zur Geschäftsordnung) . . . . . . . . . . . . . . . Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (zur Geschäftsordnung) . . Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP)  (zur Geschäftsordnung) . . . . . . . . . . . . . . . Sigmar Gabriel (SPD)  (zur Geschäftsordnung) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU) . . . . . . . . . Sigmar Gabriel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Katja Kipping (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Max Straubinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Hilde Mattheis (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP) . . . . . . Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) . . . . . . . Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Frank Heinrich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 38: a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Beschleunigung der Rückholung radioaktiver Abfälle und der Stilllegung der Schachtanlage Asse II (Drucksache 17/12298) . . . . . . . . . . . . . . b) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Drit- ten Gesetzes zur Änderung des Lebens- mittel- und Futtermittelgesetzbuches sowie anderer Vorschriften (Drucksache 17/12299) . . . . . . . . . . . . . . . c) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Abschaffung des Brannt- weinmonopols (Branntweinmonopolab- schaffungsgesetz) (Drucksache 17/12301) . . . . . . . . . . . . . . d) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Drit- ten Gesetzes zur Änderung des Vorläu- figen Tabakgesetzes (Drucksache 17/12338) . . . . . . . . . . . . . . e) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Zusatzprotokoll von Na- goya/Kuala Lumpur vom 15. Oktober 2010 über Haftung und Wiedergutma- chung zum Protokoll von Cartagena über die biologische Sicherheit (Drucksache 17/12337) . . . . . . . . . . . . . . f) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Abkommen vom 3. Mai 2012 zwischen der Regierung der Bundesre- publik Deutschland und der Republik Korea über die Seeschifffahrt (Drucksache 17/12336) . . . . . . . . . . . . . . g) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Änderung seeverkehrsrechtli- cher und sonstiger Vorschriften mit Bezug zum Seerecht (Drucksache 17/12348) . . . . . . . . . . . . . . h) Antrag der Abgeordneten Cornelia Behm, Friedrich Ostendorff, Harald Ebner, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Grünlanderhalt ist Klimaschutz (Drucksache 17/11028) . . . . . . . . . . . . . . i) Antrag der Abgeordneten Kornelia Möller, Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Sozial und regional – Tou- rismus in ländlichen Räumen stärken (Drucksache 17/11373) . . . . . . . . . . . . . . j) Antrag der Abgeordneten Omid Nouripour, Volker Beck (Köln), Marieluise Beck (Bremen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Landbeschaffungsgesetz überprüfen (Drucksache 17/12195) . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 3: a) Antrag der Abgeordneten Heinz Paula, Dr. Matthias Miersch, Dirk Becker, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Wildtierhandel und -haltung in 27511 C 27511 D 27514 B 27514 C 27515 B 27515 C 27515 C 27516 C 27518 C 27522 A 27523 B 27525 A 27527 A 27528 B 27529 D 27530 D 27532 D 27534 A 27536 B 27536 C 27536 C 27536 C 27536 D 27536 D 27537 A 27537 A 27537 A 27537 B Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 III Deutschland einschränken und so den Tier- und Artenschutz stärken (Drucksache 17/12386) . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Dr. Wilhelm Priesmeier, Willi Brase, Petra Crone, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Ein effizientes Tierarzneimittelge- setz schaffen und die Antibiotikagaben in der Nutztierhaltung wirkungsvoll re- duzieren (Drucksache 17/12385) . . . . . . . . . . . . . . c) Antrag der Abgeordneten Bettina Herlitzius, Dr. Valerie Wilms, Dr. Anton Hofreiter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Hinter- landanbindung der ZARA-Häfen ver- bessern (Drucksache 17/12194) . . . . . . . . . . . . . . d) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Fünf- zehnten Gesetzes zur Änderung des Sol- datengesetzes (Drucksache 17/12353) . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 39: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 12. Januar 2012 zwischen der Bundes- republik Deutschland und dem König- reich der Niederlande über die Zusam- menarbeit bei der Bekämpfung des grenzüberschreitenden Missbrauchs bei Sozialversicherungsleistungen und -beiträgen durch Erwerbstätigkeit und bei Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende sowie von nicht angemeldeter Erwerbstätigkeit und ille- galer grenzüberschreitender Leiharbeit (Deutsch-Niederländischer Vertrag zur Bekämpfung grenzüberschreitender Schwarzarbeit) (Drucksachen 17/12015, 17/12410) . . . . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu der Verordnung der Bundesregierung: Verordnung zur Um- setzung der Richtlinie über Industrie- emissionen, zur Änderung der Verord- nung zur Begrenzung der Emissionen flüchtiger organischer Verbindungen beim Umfüllen oder Lagern von Otto- kraftstoffen, Kraftstoffgemischen oder Rohbenzin sowie zur Änderung der Verordnung zur Begrenzung der Koh- lenwasserstoffemissionen bei der Betan- kung von Kraftfahrzeugen (Drucksachen 17/12164, 17/12238 Nr. 2, 17/12411) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung – Antrag auf Ge- nehmigung zur Durchführung eines Strafverfahrens (Drucksache 17/12285) . . . . . . . . . . . . . . d) Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung – Antrag auf Ge- nehmigung zur Durchführung eines Strafverfahrens (Drucksache 17/12286) . . . . . . . . . . . . . . Roland Claus (DIE LINKE)  (Erklärung nach § 31 GO) . . . . . . . . . . Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU) Sonja Steffen (SPD) (Erklärung  nach § 31 GO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jörg van Essen (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Erklärung nach § 31 GO) e) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses: zu dem Streitver- fahren vor dem Bundesverfassungsge- richt 2 BvE 4/12 (Drucksache 17/12397) . . . . . . . . . . . . . . f) Beratung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses: Übersicht 8 über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfas- sungsgericht (Drucksache 17/12398) . . . . . . . . . . . . . . g) – q) Beratung der Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses: Sammelübersich- ten 526, 527, 528, 529, 530, 531, 532, 533, 534, 535 und 536 zu Petitionen (Drucksachen 17/12201, 17/12202, 17/12203, 17/12204, 17/12205, 17/12206, 17/12207, 17/12208, 17/12209, 17/12210, 17/12211) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 4: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadt- entwicklung zu dem Antrag der Abgeord- neten Bettina Herlitzius, Dr. Harald Terpe, Britta Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN: Angebot von Spielhallen mit dem Baugesetzbuch begrenzen (Drucksachen 17/4201, 17/5698) . . . . . . . 27537 B 27537 C 27537 C 27537 C 27537 D 27538 A 27538 C 27538 C 27538 C 27539 C 27540 B 27541 C 27542 C 27543 C 27543 D 27544 A 27544 D IV Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadt- entwicklung zu dem Antrag der Abgeord- neten Dr. Anton Hofreiter, Nicole Maisch, Markus Tressel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Stärkung der Fahrgastrechte im Fernbusverkehr (Drucksachen 17/5057, 17/7822) . . . . . . . c) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadt- entwicklung zu dem Antrag der Abgeord- neten Dr. Anton Hofreiter, Stephan Kühn, Dr. Valerie Wilms, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Für ein einheitliches Lkw- Tempolimit von 80 km/h auf Autobah- nen in Europa (Drucksachen 17/6480, 17/7887) . . . . . . . d) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadt- entwicklung zu dem Antrag der Abgeord- neten Dr. Valerie Wilms, Sven-Christian Kindler, Bettina Herlitzius, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Anbindung deutscher Seehäfen verbessern – Alternativen zur Y-Trasse vorantreiben (Drucksachen 17/11352, 17/12366) . . . . . e) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadt- entwicklung zu dem Antrag der Abgeord- neten Stephan Kühn, Dr. Anton Hofreiter, Dr. Valerie Wilms, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Verbesserung des Schienen- verkehrs zwischen Deutschland und Po- len (Drucksachen 17/9947, 17/12369) . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 5: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktio- nen der CDU/CSU und FDP: Umstrittene Weichenstellungen – rot-grüne Politik in den Bundesländern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Frank Steffel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Hubertus Heil (Peine) (SPD) . . . . . . . . . . . . . Patrick Döring (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Johanna Voß (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andreas Mattfeldt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Oliver Kaczmarek (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Birgit Homburger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Albert Rupprecht (Weiden) (CDU/CSU) . . . Lothar Binding (Heidelberg) (SPD) . . . . . . . Dr. Volker Wissing (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . Dirk Fischer (Hamburg) (CDU/CSU) . . . . . . Tagesordnungspunkt 7: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2011/61/EU über die Verwalter alternativer Investmentfonds (AIFM-Umsetzungsgesetz – AIFM-UmsG) (Drucksache 17/12294) . . . . . . . . . . . . . . . . . Hartmut Koschyk, Parl. Staatssekretär  BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Carsten Sieling (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Björn Sänger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Axel Troost (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ralph Brinkhaus (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Lothar Binding (Heidelberg) (SPD) . . . . . . . Klaus Breil (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. h. c. Hans Michelbach (CDU/CSU) . . . . Tagesordnungspunkt 8: a) Antrag der Abgeordneten Anette Kramme, Gabriele Hiller-Ohm, Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Missbrauch von Werkverträ- gen bekämpfen (Drucksache 17/12378) . . . . . . . . . . . . . . b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jutta Krellmann, Sabine Zimmermann, Diana Golze, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verhinde- rung des Missbrauchs von Werkverträ- gen (Drucksache 17/12373) . . . . . . . . . . . . . . Anette Kramme (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Karl Schiewerling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Anton Schaaf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27545 A 27545 B 27545 C 27545 C 27545 D 27546 A 27547 C 27549 B 27550 C 27551 D 27553 A 27554 C 27555 D 27557 A 27558 C 27559 D 27561 A 27562 A 27562 B 27563 C 27565 C 27566 D 27568 A 27569 C 27571 D 27573 A 27573 D 27574 D 27575 A 27575 A 27576 C 27577 D 27579 A 27580 C 27581 C 27582 D Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 V Ulrich Lange (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Josip Juratovic (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP) . . . . . . Gabriele Groneberg (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Gitta Connemann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 9: a) – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ein- gebrachten Entwurfs eines Zweiund- zwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes  (Drucksachen 17/11819, 17/12417) . . – Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Halina Wawzyniak, Dr. Dagmar Enkelmann, Jan Korte, weiteren Abgeordneten und der Frak- tion DIE LINKE eingebrachten Ent- wurfs eines … Gesetzes zur Ände- rung des Bundeswahlgesetzes (Drucksachen 17/11821, 17/12417) . . b) – Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Ent- wurfs eines … Gesetzes zur Ände- rung des Grundgesetzes (Artikel 28 Absatz 1) (Drucksachen 17/1047, 17/12424) . . . – Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Memet Kilic, Josef Philip Winkler, Ingrid Hönlinger, wei- teren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge- brachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 28 Absatz 1 – Kommunales Ausländerwahlrecht) (Drucksachen 17/1150, 17/12424) . . . c) Beschlussempfehlung und Bericht des In- nenausschusses zu dem Antrag der Abge- ordneten Sevim Dağdelen, Matthias W. Birkwald, Andrej Hunko, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion DIE LINKE: Kommunales Wahlrecht für Drittstaa- tenangehörige einführen (Drucksachen 17/1146, 17/12424) . . . . . . Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU) . . . . . . Thomas Oppermann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Dr. Stefan Ruppert (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . Halina Wawzyniak (DIE LINKE) . . . . . . . . . Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Günter Krings (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD) . . . . . . . . . . . . Serkan Tören (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 10: Antrag der Abgeordneten Sabine Zimmermann, Jutta Krellmann, Dr. Axel Troost, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Einstieg in gute öffentlich geförderte Be- schäftigung beginnen (Drucksache 17/12377) . . . . . . . . . . . . . . . . . Jutta Krellmann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU) . . . . . . . . Katja Mast (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kathrin Vogler (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP) . . . . Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 11: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Arbeit und Soziales – zu dem Antrag der Abgeordneten Maria Michalk, Michael Grosse-Brömer, Stefan Müller (Erlangen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Gabriele Molitor, Rainer Brüderle und der Fraktion der FDP: Mehr Berücksichtigung von Qualität bei der Vergabe von Dienstleistungen – zu dem Antrag der Abgeordneten Silvia Schmidt (Eisleben), Anette Kramme, Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Ausschrei- bungspflicht für Leistungen der Inte- grationsfachdienste stoppen – Sicher- stellung von Qualität, Transparenz und Effizienz – zu dem Antrag der Abgeordneten Markus Kurth, Fritz Kuhn, Brigitte Pothmer, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion 27583 D 27585 A 27586 A 27587 B 27588 C 27590 D 27590 D 27591 A 27591 A 27591 A 27591 B 27593 D 27594 D 27595 B 27596 C 27597 D 27599 B 27600 D 27602 B 27603 D 27604 D 27606 A 27606 B 27607 A 27608 A 27609 D 27610 D 27612 B 27612 D 27614 A VI Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Alternati- ven zur öffentlichen Ausschreibung für Leistungen der Integrationsfachdienste ermöglichen (Drucksachen 17/10113, 17/4847, 17/5205, 17/11084) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Maria Michalk (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Katja Mast (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gabriele Molitor (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 12: Antrag der Abgeordneten Dr. Sascha Raabe, Dr. h. c. Gernot Erler, Petra Ernstberger, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Ernährung sichern, (Über-)Lebensbedin- gungen in Entwicklungsländern strukturell verbessern – Ländliche Entwicklung als Schlüssel zur Bekämpfung von Hunger und Armut (Drucksache 17/12379) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Sascha Raabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Helmut Heiderich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Niema Movassat (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Dr. Sascha Raabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Christiane Ratjen-Damerau (FDP) . . . . . Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 13: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Wirtschaft und Technologie zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Joachim Pfeiffer, Dr. Heinz Riesenhuber, Nadine Schön (St. Wendel), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordne- ten Dr. Hermann Otto Solms, Dr. Martin Lindner (Berlin), Claudia Bögel, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion der FDP: Innova- tionen stärken und Lust auf Technik we- cken (Drucksachen 17/11859, 17/12099) . . . . . . . . Birgit Homburger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Andrea Wicklein (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Heinz Riesenhuber (CDU/CSU) . . . . . . . Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Dr. Tobias Lindner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nadine Schön (St. Wendel) (CDU/CSU) . . . René Röspel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 21: a) Antrag der Abgeordneten Daniela Kolbe (Leipzig), Ulla Burchardt, Rüdiger Veit, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Arbeitsbedingungen von Lehr- kräften in Integrationskursen verbes- sern (Drucksache 17/10647) . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Memet Kilic, Josef Philip Winkler, Katja Dörner, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Lehrkräfte von Integrationskursen stärken und den Kurszugang erweitern (Drucksache 17/11577) . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 15: – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der beruflichen Aus- und Weiterbildung in der Altenpflege (Drucksachen 17/12179, 17/12421) . . . . – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der berufli- chen Aus- und Weiterbildung in der Al- tenpflege (Drucksachen 17/12327, 17/12421) . . . . . – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung (Drucksache 17/12422) . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 16: Antrag der Abgeordneten Dr. Rosemarie Hein, Diana Golze, Agnes Alpers, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion DIE LINKE: Für ein neues Verständnis der Zusammenarbeit von Schule und Jugendhilfe – Schulsozial- arbeit an allen Schulen (Drucksache 17/11870) . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 17: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines 27615 C 27615 D 27616 D 27618 B 27619 C 27620 B 27621 B 27622 D 27623 A 27625 A 27627 B 27628 B 27628 D 27629 D 27631 A 27631 A 27632 C 27633 D 27635 B 27636 B 27637 A 27638 C 27639 C 27639 D 27640 A 27640 A 27640 A 27640 C Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 VII Gesetzes zur Umsetzung des Seearbeits- übereinkommens 2006 der Internationalen Arbeitsorganisation (Drucksachen 17/10959, 17/12420) . . . . . . . . Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU) . . . . . . . . . Josip Juratovic (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Herbert Behrens (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 6: Antrag der Abgeordneten Agnes Brugger, Volker Beck (Köln), Marieluise Beck (Bre- men), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Konsequent vorangehen für eine atomwaffenfreie Welt (Drucksache 17/9983) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 19: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung und Regulierung einer Hono- rarberatung über Finanzinstrumente (Ho- noraranlageberatungsgesetz) (Drucksache 17/12295) . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 20: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Statistik der Bevölke- rungsbewegung und die Fortschreibung des Bevölkerungsstandes (Bevölkerungs- statistikgesetz – BevStatG) (Drucksachen 17/9219, 17/12396) . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 23: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Christine Lambrecht, Burkhard Lischka, Sonja Steffen, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Ent- wurfs eines … Strafrechtsänderungsge- setzes – Wirksame Bekämpfung der Ge- nitalverstümmelung (Drucksache 17/12374) . . . . . . . . . . . . . . . b) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- brachten Entwurfs eines … Strafrechts- änderungsgesetzes – Strafbarkeit der Verstümmelung weiblicher Genitalien (… StrÄndG) (Drucksache 17/1217) . . . . . . . . . . . . . . . . Ute Granold (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Sonja Steffen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marco Buschmann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . Halina Wawzyniak (DIE LINKE) . . . . . . . . . Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 22: Zweite und dritte Beratung des vom Bundes- rat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches Sozial- gesetzbuch und anderer Gesetze (Drucksachen 17/12036, 17/12412) . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 27: Antrag der Fraktion der SPD: Verbesserung des Wahlrechts von Menschen mit Behin- derungen und Analphabeten (Drucksache 17/12380) . . . . . . . . . . . . . . . . . Reinhard Grindel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Gabriele Fograscher (SPD) . . . . . . . . . . . . Gabriele Molitor (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 24: Zweite und dritte Beratung des vom Bundes- rat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Intensivierung des Einsatzes von Vi- deokonferenztechnik in gerichtlichen und staatsanwaltschaftlichen Verfahren (Drucksachen 17/1224, 17/12418) . . . . . . . . . Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU) . . . . . . . . Sonja Steffen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jörg van Essen (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Jens Petermann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 25: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Wirtschaft und Technologie zu dem Antrag der Abgeordneten Katrin Kunert, Dr. Lukrezia Jochimsen, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE 27640 D 27641 A 27642 D 27644 A 27645 A 27646 A 27646 A 27646 B 27646 C 27646 D 27647 A 27648 D 27649 D 27650 B 27651 B 27652 D 27653 A 27653 A 27654 D 27656 A 27657 A 27657 D 27658 C 27658 D 27660 B 27660 D 27661 C 27662 C VIII Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 LINKE: Die Billigkeitsrichtlinie zu den Umstellungskosten aus der Umwidmung von Frequenzen den Realitäten anpassen (Drucksachen 17/7655, 17/10183) . . . . . . . . Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Andreas G. Lämmel (CDU/CSU) . . . . . . . . . Martin Dörmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Claudia Bögel (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Katrin Kunert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 26: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Holzhan- dels-Sicherungs-Gesetzes (Drucksachen 17/12033, 17/12400) . . . . . . . . Cajus Caesar (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Petra Crone (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) . . . . . . Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) . . . . . . Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 28: a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Änderung des Gesetzes zur Ent- flechtung von Gemeinschaftsaufgaben und Finanzhilfen (Drucksache 17/12296) . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Katrin Kunert, Sabine Leidig, Dr. Kirsten Tackmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Eine ausreichende Finan- zierung des öffentlichen Nahverkehrs gewährleisten (Drucksache 17/12376) . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 29: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuorganisation der bundesunmittelbaren Unfallkassen, zur Änderung des Sozialge- richtsgesetzes und zur Änderung anderer Gesetze (BUK-Neuorganisationsgesetz – BUK-NOG) (Drucksache 17/12297) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU) . . . . . . . Max Straubinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD) . . . . . . . . . . Miriam Gruß (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) . . . . . . Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 30: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Amtshil- ferichtlinie sowie zur Änderung steuerli- cher Vorschriften (Amtshilferichtlinie-Um- setzungsgesetz – AmtshilfeRLUmsG) (Drucksache 17/12375) . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 31: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung der elektronischen Verwaltung sowie zur Änderung weiterer Vorschriften (Drucksache 17/11473) . . . . . . . . . . . . . . . . . Clemens Binninger (CDU/CSU) . . . . . . . . . Gerold Reichenbach (SPD) . . . . . . . . . . . . . Manuel Höferlin (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Jan Korte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär  BMI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 32: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Internationalen Übereinkommen von Nairobi von 2007 über die Beseitigung von Wracks  (Drucksache 17/12343) . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 7: Antrag der Abgeordneten Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Marco Wanderwitz, Johannes Selle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Claudia Winterstein, Burkhardt Müller- Sönksen, Reiner Deutschmann, weiterer Ab- 27663 D 27664 A 27665 C 27666 C 27667 D 27669 A 27669 D 27670 D 27670 D 27672 C 27674 A 27675 B 27676 A 27677 A 27677 A 27677 C 27677 C 27678 D 27679 C 27680 B 27681 C 27682 A 27683 A 27683 B 27683 C 27684 B 27685 D 27686 C 27689 A 27691 A 27692 A Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 IX geordneter und der Fraktion der FDP: Origi- näre Kinderfilme aus Deutschland stärker fördern (Drucksache 17/12381) . . . . . . . . . . . . . . . . . Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . Anlage 2 Erklärungen nach § 31 GO zur Abstimmung über den Entwurf eines Zweiundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgeset- zes (Tagesordnungspunkt 9 a) Dr. Philipp Murmann (CDU/CSU) . . . . . . . . Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD) . . . . . . . . . . Christian Freiherr von Stetten (CDU/CSU) . Anlage 3 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Torsten Staffeldt (FDP) zur Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung des Seearbeitsübereinkommens 2006 der In- ternationalen Arbeitsorganisation (Tagesord- nungspunkt 17) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Entwürfe: Gesetz zur Stärkung der beruf- lichen Aus- und Weiterbildung in der Alten- pflege (Tagesordnungspunkt 15) Erwin Rüddel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Norbert Geis (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Petra Crone (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nicole Bracht-Bendt (FDP) . . . . . . . . . . . . . Kathrin Senger-Schäfer (DIE LINKE) . . . . . Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Für ein neues Verständnis der Zusammenarbeit von Schule und Jugend- hilfe – Schulsozialarbeit an allen Schulen (Ta- gesordnungspunkt 16) Dr. Peter Tauber (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Stefan Schwartze (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Swen Schulz (Spandau) (SPD) . . . . . . . . . . . Florian Bernschneider (FDP) . . . . . . . . . . . Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE) . . . . . . . . Kai Gehring (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung des Seearbeitsübereinkommens 2006 der Interna- tionalen Arbeitsorganisation (Tagesordnungs- punkt 17) Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung und Regulierung einer Honorarberatung über Finanzinstrumente (Honoraranlageberatungs- gesetz) (Tagesordnungspunkt 19) Ralph Brinkhaus (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Dr. Carsten Sieling (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Björn Sänger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Harald Koch (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hartmut Koschyk, Parl. Staatssekretär  BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes über die Statistik der Bevölkerungsbewegung und die Fort- schreibung des Bevölkerungsstandes (Bevöl- kerungsstatistikgesetz – BevStatG) (Tages- ordnungspunkt 20) Michael Frieser (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Manfred Behrens (Börde) (CDU/CSU) . . . . Kirsten Lühmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Manuel Höferlin (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Jan Korte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . 27692 B 27692 C 27693 A 27693 D 27694 A 27694 B 27694 C 27695 B 27696 A 27697 A 27697 D 27698 B 27699 B 27700 A 27700 D 27701 B 27702 A 27702 C 27704 B 27705 B 27705 D 27706 D 27708 B 27709 B 27710 C 27711 A 27712 C 27713 B 27713 D 27714 C 27715 A X Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Anträge: – Arbeitsbedingungen von Lehrkräften in Integrationskursen verbessern – Lehrkräfte von Integrationskursen stärken und den Kurszugang erweitern (Tagesordnungspunkte 21 a und 21 b) Helmut Brandt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD) . . . . . . . . . . . Oliver Kaczmarek (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Serkan Tören (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 10 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch und an- derer Gesetze (Tagesordnungspunkt 22) Heike Brehmer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Angelika Krüger-Leißner (SPD) . . . . . . . . . . Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diana Golze (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär  BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 11 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Entflechtung von Gemein- schaftsaufgaben und Finanzhilfen – Antrag: Eine ausreichende Finanzierung des öffentlichen Nahverkehrs gewährleis- ten (Tagesordnungspunkte 28 a und 28 b) Karl Holmeier (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Johannes Kahrs (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Otto Fricke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Katrin Kunert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Steffen Kampeter, Parl. Staatssekretär  BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 12 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Amtshilferichtlinie sowie zur Änderung steuerlicher Vorschriften (Amtshilferichtlinie- Umsetzungsgesetz – AmtshilfeRL-UmsG) (Tagesordnungspunkt 30) Olav Gutting (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Lothar Binding (Heidelberg) (SPD) . . . . . . . Dr. Daniel Volk (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 13 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zu dem Interna- tionalen Übereinkommen von Nairobi von 2007 über die Beseitigung von Wracks (Ta- gesordnungspunkt 32) Hans-Werner Kammer (CDU/CSU) . . . . . . . Matthias Lietz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Uwe Beckmeyer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Torsten Staffeldt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Herbert Behrens (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 14 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Konsequent vorangehen für eine atomwaffenfreie Welt (Zusatztagesordnungs- punkt 6) Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU) . . . . . . . Roderich Kiesewetter (CDU/CSU) . . . . . . . Uta Zapf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christoph Schnurr (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . Inge Höger (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . 27715 C 27716 B 27717 D 27718 C 27719 A 27719 D 27720 D 27721 C 27722 D 27723 D 27724 B 27725 A 27725 D 27727 A 27727 D 27728 C 27729 B 27730 B 27731 A 27731 D 27733 B 27734 C 27735 A 27735 D 27736 D 27737 C 27738 A 27739 A 27739 C 27740 A 27740 D 27741 D 27742 C 27743 C 27744 A Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 XI Agnes Brugger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 15 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Originäre Kinderfilme aus Deutschland stärker fördern (Zusatztagesord- nungspunkt 7) Johannes Selle (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU) . Angelika Krüger-Leißner (SPD) . . . . . . . . . Dr. Claudia Winterstein (FDP) . . . . . . . . . . Kathrin Senger-Schäfer (DIE LINKE) . . . . . Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27744 C 27745 B 27746 C 27747 C 27748 D 27749 D 27750 D Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 27485 (A) (C) (D)(B) 222. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 Beginn: 9.00 Uhr
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    1) Anlage 13 2) Anlage 15 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 27693 (A) (C) (D)(B) Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten * für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver- sammlung des Europarates ** für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver- sammlung der OSZE Anlage 2 Erklärungen nach § 31 GO zur Abstimmung über den Entwurf eines Zwei- undzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes (Tagesordnungspunkt 9 a) Dr. Philipp Murmann (CDU/CSU): „Ich begrüße es, dass nach intensiven Verhandlungen eine Neuregelung des Wahlrechts gefunden wurde. EbensoD ist zu begrü- ßen, dass mit dem vorliegenden Gesetz das negative Stimmgewicht beseitigt wird. Daher stimme ich dem Kompromiss insgesamt zu. Gleichzeitig ist es bedauerlich, dass es mit der Oppo- sition nicht möglich war, den Spielraum, den das Bundesverfassungsgericht bei der Gewährung einer Obergrenze von Überhangmandaten – 15 – zugelassen hat, auszunutzen. Daher ist absehbar, dass sich durch das vorliegende Gesetz, welches umfangreiche Regelungen zum Aus- gleich von Mandaten vorsieht, die Gesamtsitzzahl des Bundestages deutlich erhöht: Erstens. Das führt zu höheren Kosten für den Steuer- zahler. Schon jetzt ist der Bundestag eines der größten und damit auch teuersten Parlamente weltweit. Auch die Komplexität von Abstimmungsprozessen nimmt zu.  Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Bätzing-Lichtenthäler, Sabine SPD 21.02.2013 Barnett, Doris SPD 21.02.2013** Canel, Sylvia FDP 21.02.2013 von Cramon-Taubadel, Viola BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 21.02.2013** Daub, Helga FDP 21.02.2013** Gohlke, Nicole DIE LINKE 21.02.2013 Gottschalck, Ulrike SPD 21.02.2013 Hardt, Jürgen CDU/CSU 21.02.2013 Heinen-Esser, Ursula CDU/CSU 21.02.2013 Hempelmann, Rolf SPD 21.02.2013 Högl, Dr. Eva SPD 21.02.2013 Höger, Inge DIE LINKE 21.02.2013** Hörster, Joachim CDU/CSU 21.02.2013** Hunko, Andrej DIE LINKE 21.02.2013* Karl, Alois CDU/CSU 21.02.2013** Kilic, Memet BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 21.02.2013 Kolbe (Leipzig), Daniela SPD 21.02.2013 Krumwiede, Agnes BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 21.02.2013 Liebich, Stefan DIE LINKE 21.02.2013** Möhring, Cornelia DIE LINKE 21.02.2013 Möller, Kornelia DIE LINKE 21.02.2013 Pau, Petra DIE LINKE 21.02.2013 Paus, Lisa BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 21.02.2013 Poland, Christoph CDU/CSU 21.02.2013 Remmers, Ingrid DIE LINKE 21.02.2013 Roth (Augsburg), Claudia BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 21.02.2013 Sarrazin, Manuel BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 21.02.2013 Schmidt (Eisleben), Silvia SPD 21.02.2013 Schreiner, Ottmar SPD 21.02.2013 Schwarzelühr-Sutter, Rita SPD 21.02.2013 Süßmair, Alexander DIE LINKE 21.02.2013 Zimmermann, Sabine DIE LINKE 21.02.2013  Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Anlagen 27694 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 (A) (C) (D)(B) Zweitens. Wenn mehr Abgeordnete über Landeslisten in den Bundestag gewählt werden, schwächt dies die Stellung der direkt gewählten Abgeordneten. Der Ein- fluss der Wählerinnen und Wähler auf die personelle Zusammensetzung des Deutschen Bundestages sinkt dadurch. Drittens. Die Komplexität des Wahlrechts wird un- nötigerweise erhöht. Für Wählerinnen und Wähler wird es in Zukunft noch schwieriger, nachzuvollziehen, warum bestimmte Abgeordnete in den Bundestag einzie- hen. Ein verfassungskonformes Wahlrecht, das kaum jemand versteht, ist aus demokratietheoretischer Sicht fragwürdig. Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD): Der Wahlrechts- reform werde ich trotz des im Übrigen zu würdigenden Kompromisses in der vorliegenden Form nicht zustim- men. Als Behindertenbeauftragte der SPD-Bundestagsfrak- tion stelle ich fest, dass der Verstoß gegen Art. 29 der in Deutschland geltenden UN-Behindertenrechtskonven- tion durch die Regelung aus § 13 Nr. 2 und 3 des Bundeswahlgesetzes sowie aus § 6 a des Europawahl- gesetzes, der mehrfach von den Vereinten Nationen so- wie von der Nationalen Monitoringstelle des Deutschen Instituts für Menschenrechte gerügt wurde, mit dem vor- liegenden Gesetzentwurf nicht beseitigt wird. Dies stellt einen fortgesetzten Verstoß gegen internationales Recht und die Menschenrechte der Betroffenen dar. Gemäß § 13 Nr. 2 Bundeswahlgesetz verlieren Men- schen, denen aufgrund einer gerichtlichen Entscheidung eine Betreuung in allen Angelegenheiten zugewiesen wurde, automatisch ihr Wahlrecht. Gemäß § 13 Nr. 3 Bundeswahlgesetz verlieren auch Straftäter, die auf- grund einer gerichtlichen Anordnung in einem psychia- trischen Krankenhaus untergebracht sind, automatisch ihr Wahlrecht. In beiden Fällen ist nicht ersichtlich, wa- rum durch einen Automatismus ein elementares demo- kratisches Bürgerrecht entzogen werden kann. Ebenso ist nicht einzusehen, warum die Annahme des Nicht- Wählen-Könnens für einzelne Gruppen automatisch gel- ten soll und in der Realität keiner Prüfung unterzogen wird. So kann ein Mensch mit Demenz mit einer ent- sprechenden Vorsorgevollmacht wählen, ein Mensch, der unter Betreuung gestellt wird, kann dies nicht. Ich begrüße daher den Antrag der SPD 17/12380, in dem eine Änderung der aktuellen Rechtslage eingefor- dert wird. Christian Freiherr von Stetten (CDU/CSU): Dem als Reaktion auf das Bundesverfassungsgerichtsurteil vom 25. Juli 2012 von den Fraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen erarbeitete und heute zur Abstimmung vorgelegte Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes – Wahlrechtsreform – kann ich nicht zustimmen. Eine jetzt schon voraussehbare deutliche Vergröße- rung des bundesdeutschen Parlaments dient weder seiner Arbeitsfähigkeit noch dem Ziel des sparsamen Umgangs mit uns anvertrauten Steuergeldern. Das sinnvolle, aber selten erreichte ausgeglichene Verhältnis zwischen direkt gewählten Wahlkreisabge- ordneten und den von Parteien über Bundes- oder Lan- deslisten ins Parlament entsandten Abgeordneten wird durch den Gesetzentwurf weiter zuungunsten der direkt gewählten Wahlkreisvertreter verschoben. Bereits jetzt wird offen über eine eventuell notwen- dige Reduzierung der Wahlkreise für die 19. Wahlperiode diskutiert. Das wird die Unabhängigkeit der Parlamenta- rier nicht stärken und zu bundesweiten Verwerfungen in den betroffenen Wahlkreisen führen. Anlage 3 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Torsten Staffeldt (FDP) zur Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung des Seearbeitsübereinkommens 2006 der Internationalen Arbeitsorganisation (Tagesordnungspunkt 17) Ich werde dem Gesetzentwurf aus folgenden Gründen nicht zustimmen: Erstens. Der vorliegende Entwurf des Gesetzes zur Umsetzung des Seearbeitsübereinkommens 2006 der In- ternationalen Arbeitsorganisation geht in einzelnen Punkten über die international vereinbarten Regelungen hinaus. Hierzu gehört unter anderem, dass im Gegensatz zur Maritime Labour Convention – MLC – im deutschen Durchführungsgesetz die maximale Anzahl der Arbeits- stunden an Bord und die minimale Anzahl der Ruhestun- den miteinander verkoppelt sind. Im Originaltext ist dort ein „oder“ zu finden. Dies bedeutet, dass deutschem Recht unterliegende, deutschgeflaggte Handelsschiffe anderem Recht unterliegen als der Großteil der interna- tional tätigen Schiffe. Aufgeweicht wird diese Regelung des § 48 durch die umgangssprachlich sogenannte Tarif- öffnungsklausel in § 49. Diese verkompliziert die einfa- che Regelung des Originaltextes zusätzlich. Dort ist von 36 Stunden zwischen Lotsversetzstationen, Ausgleichs- zeiten innerhalb von zwei Wochen und anderen schwer nachvollziehbaren Ausnahmen die Rede. Zweitens. Die mit der Prüfung beauftragten Berufsge- nossenschaften hierzulande werden Mühe haben, diese deutschen Regelungen zu überprüfen. Erst recht wird dies für die ausländischen Überprüfungsinstitutionen gelten. Denn die Einhaltung der MLC kann und wird im Rahmen der Port State Controls ausgeführt werden. Ein neues, scharfes Schwert, dessen Durchsetzung auf der Basis des internationalen Textes richtig ist, im Falle deutschgeflaggter Schiffe nun aber zu Blacklisting und verlängerten Hafenliegezeiten und -kosten führen kann. Niemand kann erwarten, dass ausländische Kontrolleure sich in den Details der deutschen Gesetzgebung ausken- nen. Drittens. Erschwerend kommt hinzu, dass diese Rege- lungen ausschließlich für deutsche Besatzungsmitglieder Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 27695 (A) (C) (D)(B) an Bord deutschgeflaggter Schiffe gelten. Wer die Bord- praxis kennt, weiß, dass diese nicht die Mehrheit sind. Andere Nationalitäten an Bord unterliegen dem Recht ihres Heimatstaates. Statt der dringend benötigten Ver- einfachung des Arbeitsrechtes an Bord deutscher Schiffe erhalten wir nun eine völlig unnötige Verkomplizierung. So wird die deutsche Flagge nicht gestärkt. Leider sind die Entwürfe des federführenden Bundesministeriums für Arbeit und Soziales den Fachleuten und Verbänden erst spät zugestellt worden. Auch in den Berichterstatter- gesprächen zwischen Arbeits- und Verkehrspolitikern konnte nicht die benötigte 1:1-Umsetzung des internatio- nalen Originaltextes ausgehandelt werden. Viertens. Wer den Bordbetrieb kennt, der weiß, dass die Besatzung meist froh ist, auf See arbeiten zu können, statt die Zeit totzuschlagen. Hier soll geschützt werden, wo dies gar nicht erforderlich ist. Als ehemaliger See- mann kenne ich dies aus eigener Erfahrung. Dieses Ge- setz wird daher mit hoher Wahrscheinlichkeit mehr Rechtsunsicherheit schaffen als vorher. Ich lehne es da- her ab. Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Entwürfe: Gesetz zur Stär- kung der beruflichen Aus- und Weiterbildung in der Altenpflege (Tagesordnungspunkt 15) Erwin Rüddel (CDU/CSU): Mit der Verabschiedung des vorliegenden Gesetzentwurfs werden wir die Zahl qualifizierter Berufsabschlüsse in der Altenpflege signi- fikant erhöhen und zugleich die Lebensqualität pflege- bedürftiger Menschen deutlich verbessern. Wir setzen damit eine wesentliche Maßnahme im Rahmen der Aus- bildungs- und Qualifizierungsoffensive um, auf die sich im Dezember vier Bundesministerien, die Bundesländer sowie die Bundesagentur für Arbeit und zahlreiche Ver- bände und Organisationen verständigt haben. Bereits heute fehlen in den Pflegeberufen Fachkräfte. Hiervon sind alle Bundesländer betroffen. Dank der ge- stiegenen Lebenserwartung, die so vielen Menschen wie nie zuvor die Chance auf ein langes Leben eröffnet, wird in Zukunft aber auch die Zahl der pflegebedürftigen Menschen in Deutschland weiter anwachsen. Das wird wiederum den Bedarf an qualifiziertem Personal be- trächtlich steigern. Deshalb wird niemand in diesem Haus bestreiten, dass wir dringend mehr Altenpflegerin- nen und Altenpfleger benötigen und dass wir vor allem gut ausgebildete und motivierte Fachkräfte brauchen. Genau dieses Ziel verfolgen wir mit dem vorliegen- den Gesetzentwurf: Wir wollen bis 2015 die Ausbil- dungszahlen stufenweise um jährlich 10 Prozent steigern und bis zu 4 000 Pflegehelferinnen und Pflegehelfer nachqualifizieren. Bei entsprechenden Vorkenntnissen ist auch eine verkürzte Ausbildungszeit möglich. Das heißt, bereits erworbene Qualifikationen oder Berufs- erfahrungen können auf eine Aus- und Weiterbildung angerechnet werden. Die Umschulungsförderung wird befristet wieder eingeführt. Umschulungen mit dem Ab- schluss Altenpflegerin bzw. Altenpfleger werden wieder ganz durch die Bundesagentur für Arbeit und die Job- center übernommen. Dafür werden sowohl Mittel aus dem Bundeshaushalt wie aus dem Haushalt der Bundes- agentur für Arbeit eingesetzt. Mit der neuen Offensive geht zudem eine intensive Information und Beratung vor Ort in Pflegeeinrichtun- gen und Altenpflegeschulen in allen Regionen Deutsch- lands einher. Dazu hat Frau Bundesministerin Schröder bereits dankenswerterweise beim Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben eine bundesweit tätige Informations- und Beratungsstelle eingerichtet und pa- rallel dazu das neue Informationsportal www.altenpflege- ausbildung.net freigeschaltet. Hier können sich Menschen in einer beruflichen Orientierungsphase umfassend un- terrichten. Das breite Bündnis für eine bundesweite Offensive im Bereich der Altenpflege soll und muss aber auch dazu beitragen, die Attraktivität des Berufsfeldes und seine gesellschaftliche Wertschätzung deutlich zu steigern. Damit schaffen wir nicht nur Anreize, den Altenpflege- beruf zu ergreifen, sondern tragen auch dazu bei, die Be- dingungen für die über 950 000 Beschäftigten zu ver- bessern, die bereits in der Pflege arbeiten und damit einen für unsere Gesellschaft insgesamt unverzichtbaren Dienst leisten. Ich füge hinzu: Die Altenpflege ist schon aufgrund der demografischen Entwicklung ein stark wachsender Dienstleistungssektor, der seinen Beschäf- tigten hervorragende und sichere berufliche Perspektiven bietet. Zu den künftig notwendigen Maßnahmen zählen auch die verbesserte Anerkennung im Ausland erworbener Qualifikationen im Pflegebereich und die Wahrnehmung der Chancen, die sich aufgrund der Arbeitnehmerfreizü- gigkeit in der EU bieten. Bei alledem gilt selbstverständ- lich, dass die hohen Qualitätsanforderungen an die Aus- bildung in einem Gesundheitsfachberuf auch künftig gewahrt werden. Und ganz wichtig für den Erfolg des gesamten Vorhabens ist natürlich, dass die Bundesländer künftig ausreichend Schulungsplätze zur Verfügung stel- len. Die Probleme, die der demografische Wandel für den Pflegebereich mit sich bringt, werden uns auch in den kommenden Jahren intensiv beschäftigen. Aber ich bin mir sicher, dass wir mit diesem Gesetz zur Stärkung der beruflichen Aus- und Weiterbildung in der Altenpflege einen sehr wichtigen Schritt in die richtige Richtung un- ternehmen. Denn das Gesetz macht den Weg frei für Zehntausende von neuen Auszubildenden und Umschü- lern im Bereich der Altenpflege. Das ist ein starkes Signal, dass wir das Thema Pflege als eine der großen gesellschaftlichen und sozialen Herausforderungen der kommenden Jahre ernst nehmen. Durch dieses Gesetz werden wir lebens- und berufserfahrene Menschen für eine Umschulung zu gut ausgebildeten und motivierten Fachkräften in der Altenpflege gewinnen. Und wenn es uns gemeinsam gelingt, den Pflegeberuf durch anstän- dige Bezahlung und eine angemessene gesellschaftliche Wertschätzung noch attraktiver zu machen, dann wird 27696 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 (A) (C) (D)(B) das vorliegende Gesetz zu einem entscheidenden Bau- stein für die gute Pflege von morgen. Norbert Geis (CDU/CSU): Die soziale Kultur einer Gesellschaft zeigt sich am ehesten im Umgang mit den Schwachen und Hilflosen, mit Kranken, Behinderten und alten Menschen. Auch wenn das im Einzelfall nicht immer durchgehalten wird, so gilt in den westlichen Ge- sellschaften doch der Grundsatz, dass der Wert eines Menschen nicht an seinem Nutzen für die Gesellschaft oder an den Kosten, die er verursacht, gemessen werden kann. Die Würde des Menschen hat Geltung vom An- fang bis zum Ende seines Lebens. Das steht in jeder Ver- fassung der westlichen Welt. Daraus folgt die Achtung des alten und schwachen Menschen. Daraus erwächst auch die Aufgabe für den Staat, die Menschen in ihrer Hilflosigkeit und Bedürftigkeit zu unterstützen. Am Beginn des Alters ist die Hinfälligkeit und Hilfs- bedürftigkeit der älteren Menschen noch nicht wahr- nehmbar. Diese Menschen sind oft sehr gesund, voller Lebensfreude, voller Schaffenskraft und großer Vitalität. Sie nehmen uneingeschränkt am gesellschaftlichen Le- ben teil. Die auf Konsum ausgerichtete Wirtschaft hat dies auch längst erkannt. Sie sieht in den älteren Men- schen interessante Marktteilnehmer mit eigenständigen Bedürfnissen. Die ständig wachsende Angebotsfülle in den Schaufenstern und sogar auf den eigens dafür einge- richteten Seniorenmessen ist Beweis dafür. Dennoch aber ist auch in dieser Lebensphase, wenn die alten Menschen noch rüstig sind und sich selbst noch helfen können, nicht selten Hilfe notwendig. Alte Men- schen leben oft allein in großer Einsamkeit in ihrer Woh- nung im Hochhaus einer anonymen Großstadt. Sie leben als Single. Sie haben oft niemanden, der an die Tür klopft und sie mit „Du“ anredet. Nicht selten wird ein solches Leben für diese alten und einsamen Menschen zum Albtraum. Diese Menschen dürfen wir nicht allein lassen, sonst wird auch der sonnigste Tag in ihrem mo- dernen Wohnblock zum Albtraum. Vor allem die Kommunen haben hier eine große Auf- gabe. Die Kommunen sind am nächsten. Sie sind am ehesten in der Lage, auf solche Menschen zuzugehen. Dazu aber gehört Personal, Fachpersonal. Daran fehlt es. Es fehlt auch am Geld. Deshalb ist eine strukturelle und finanzielle Stärkung der Landkreise und der kreisfreien Städte notwendig. Aufgrund der Medizin und der geänderten Lebens- führung übersteigen aber immer mehr Menschen diese Phase des rüstigen Alters und werden im biblischen Sinne hochbetagt. Diese Menschen werden dann aber auch oft gebrechlich und sind auf fremde Hilfe angewie- sen. Dann ist es Aufgabe der Politik, der Städte und Ge- meinden, den pflegebedürftigen Menschen zu helfen und ihnen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Die höhere Lebenserwartung ist zwar eine erfreuliche Ent- wicklung. Zugleich aber steigt auch die Zahl der Pflege- bedürftigen. Heute sind es 2,4 Millionen, im Jahre 2030 werden es 3,3 Millionen Menschen sein, die auf Betreu- ung und professionelle Pflege angewiesen sind. Der Dienstleistungsbereich Pflege ist heute schon eine der wichtigsten Säulen im gesamten Gesundheits- wesen. Schon heute leisten 11 600 Pflegeeinrichtungen und 12 000 ambulante Dienste mit nahezu 900 000 Be- schäftigten wertvolle Arbeit für die Betroffenen und für die Gesellschaft insgesamt. 200 000 Altenpflegerinnen und Altenpfleger übernehmen als Fachkräfte die Schlüs- selrolle in der Altenpflege. Der Mangel an Fachkräften in den ambulanten und stationären Pflegeeinrichtungen wird aber immer größer. Deshalb müssen die Rahmenbe- dingungen für die Fachkräfte im Pflegebereich verbes- sert und muss die Zahl der Auszubildenden erhöht wer- den. Der Beruf der Altenpflegerin und des Altenpflegers muss attraktiver gestaltet werden, damit sich mehr Men- schen für diesen Beruf interessieren. Aufgrund des Mangels an Fachkräften haben die Bundesregierung, die Länder und die Kommunen, die Wohlfahrtsverbände, die Fach- und Berufsverbände für Altenpflege, die Bundesagentur und die Gewerkschaften und Kostenträger erstmals gemeinsam eine Qualifizie- rungsoffensive gestartet. In einer gemeinsamen Anstren- gung haben sich diese Bündnispartner am 22. November 2012 auf zehn Handlungsfelder der Ausbildungs- und Qualifizierungsoffensive „Altenpflege“ geeinigt. Insge- samt also sollen die Rahmenbedingungen verbessert und mehr Menschen für den Altenpflegeberuf gewonnen werden. Mit dem von der Frau Ministerin Dr. Schröder vorge- legten Gesetzentwurf, den wir heute verabschieden, wird das Grundanliegen der Vereinbarung vom 22. November 2012 umgesetzt. Durch die Änderung der Ausbildung soll mehr Fachpersonal in der Pflege erreicht werden. Ziel ist es, die Ausbildungszahlen stufenweise jährlich um 10 Prozent zu steigern. Im gleichen Zeitraum sollen etwa 4 000 Pflegehelferinnen und Pflegehelfer zu Fach- kräften im Pflegebereich nachqualifiziert werden. Es soll eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf in der Altenpflege erreicht werden. Ziel des Gesetzes ist auch, dass ältere und lebenserfahrene Menschen für einen Be- ruf in der Altenpflege gewonnen werden. Viele Frauen, die sich nach der Familienphase neu orientieren wollen, können sich eine Beschäftigung in der Pflege gut vor- stellen. Ihnen soll der Weg zur Pflegefachkraft auch durch finanzielle Unterstützung erleichtert werden. Es geht also darum, Fachkräfte für die Pflege zu mo- bilisieren. Bei der immer größer werdenden Zahl der Pflegebedürftigen geht es aber auch um eine Neuaus- richtung der Pflegeversicherung. Durch das Gesetz zur Neuausrichtung der Pflegeversicherung soll diesem An- liegen Rechnung getragen werden. So erhalten ab 1. Ja- nuar 2013 die Demenzkranken mit Pflegestufe 0 ein an- teiliges Pflegegeld bzw. anteilige Sachleistungen. Auch die vorgesehene Förderung der privaten Vorsorge ist zu bejahen. Es besteht aber auch noch Nachbesserungsbe- darf. Es fehlt noch eine stärkere Berücksichtigung der Erziehungszeiten. Es geht um eine bessere rechtliche Absicherung von Pflegepersonen. Die Aufwendungen zur Sicherstellung der häuslichen Pflege von Angehöri- gen sollten in Zukunft steuerlich besser absetzbar sein. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 27697 (A) (C) (D)(B) Die Pflegeversicherung wird in Zukunft wohl kaum mit der jetzigen Höhe des Beitrags auskommen. Hier sind ebenfalls Änderungen notwendig. Der demografische Wandel gehört zu den großen Zu- kunftsaufgaben der Politik. Die Politik kann sich aber nicht nur auf die Betrachtung der Folgen des Bevölke- rungswandels beschränken. Sie muss sich vielmehr auch um die Ursachen des demografischen Wandels sorgen und Maßnahmen treffen, die vor allem auf die Bekämp- fung der Ursachen abzielen. Petra Crone (SPD): Wir sind uns alle einig: Wir brauchen gut ausgebildete Fachkräfte in der Altenpflege, die mit Herz und Verstand für hochaltrige, bettlägerige, demente oder multimorbide Menschen sorgen – ambu- lant oder stationär. Denn obwohl wir uns alle wünschen, so lange wie möglich selbstständig zu bleiben, wissen wir auch, dass es schnell gehen kann, auf Hilfe angewie- sen zu sein. Angehörige dürfen nicht auf sich allein ge- stellt sein, sie fühlen sich oft hilflos und alleingelassen, sind überfordert mit dem Mix aus Pflege, Kindererzie- hung und Beruf. Für sie muss es eine verlässliche und professionelle Entlastung geben. Wir brauchen Fachkräfte, und wir brauchen sie schnell. Schon jetzt hängt das Wort „Fachkräftemangel“ über jeder Kommune, die mangelnde Attraktivität des Berufsbildes Altenpflege tut ihr Übriges. Allein aus die- sem Grund, glaube ich, gibt es keine Alternative zur vollständigen Finanzierung der Umschulung durch die Bundesagentur für Arbeit. Ein Fakt ist dies übrigens, den die SPD schon lange be- nannt hat und an dem wir festhalten. Nur eine komplette Finanzierung der Umschulung durch die BA macht Sinn. Weder Ausbilder noch Auszubildende sollten einem der- artigen Kuddelmuddel und einer subjektiv wahrgenom- menen Unsicherheit ausgesetzt sein. Und: Jeder ernst- hafte Interessent ist uns eine Unterstützung wert. Das muss das Signal nach draußen sein. In meinem Wahlkreis habe ich schon mehrmals Workshops veranstaltet für Auszubildende in Pflegebe- rufen. Die Resonanz war wirklich beeindruckend. Junge Menschen, die einen helfenden Beruf erlernen, sind hoch- motiviert und haben ganz konkrete Vorstellungen davon, wie es im Krankenhaus oder Pflegeheim zugehen soll. Sie wünschen sich Anerkennung und Wertschätzung für ihren Beruf und natürlich auch eine leistungsgerechte Bezahlung. Die sollten wir ihnen nicht verweigern. Für mich ist klar: In der pflegerischen Ausbildung müssen wir einen Einstieg auf allen Ebenen ermöglichen, ange- fangen bei einer Pflegeassistenz mit guten Weiterbil- dungsangeboten bis hin zur Führungskraft in der Pflege. Generell gilt doch: Um den Beruf für Männer und Frauen attraktiver zu gestalten, sind angemessene Ar- beitsbedingungen für diese körperlich und seelisch kräf- tezehrende Arbeit notwendig. Die Rahmenbedingungen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf müssen drin- gend verbessert werden. Zudem sollten Altenpflegerin- nen und Altenpfleger flexibler als bisher zwischen am- bulanter und stationärer Beschäftigung wechseln können. Wir begrüßen daher grundsätzlich die mögliche Verkürzung der Ausbildungszeit auf zwei Jahre entwe- der bei Vorliegen entsprechender Vorqualifikation oder auf Grundlage einer gutachterlichen Kompetenzfeststel- lung. Auf eine hohe Qualität bei der Ausbildung müssen wir weiterhin ein Auge haben. Von den Altenpflegefachkräften werden in Zukunft noch mehr Kompetenz und mehr Verantwortung ver- langt. Demente und depressive Menschen, aber auch die alternden Generationen von Menschen mit Migrations- hintergrund benötigen ein speziell geschultes Altenpfle- gepersonal. Notwendig werden auch ganzheitliche und integrierte Behandlungs- und Versorgungsformen. Prä- vention und Prophylaxe gewinnen an Bedeutung. Die Quantität der Auszubildenden ist unser aktuelles Problem, dem wir uns stellen. Wir müssen aber ebenso verhindern, dass die Qualität irgendwann eines wird. Mein Wunsch wäre daher gewesen, dass eine Ausbil- dungs- und Qualifizierungsoffensive für die Altenpflege mit dem großen Projekt Reform der Pflegeausbildungen einhergeht. Wir haben kein Verständnis mehr dafür, dass dieses Projekt auf die lange Bank geschoben wird. – Ja, es sind unheimlich viele verschiedene Interessen zusam- menzuführen, und, ja, die Finanzierung ist nicht geklärt; aber die Bundesregierung hatte dafür schon drei Jahre Zeit. Der seit vielen Monaten angekündigte Gesetzent- wurf zur Zusammenlegung der drei Pflegeausbildungen in eine neue generalisierte Ausbildung liegt immer noch nicht vor. Das ist keine Erfolgsgeschichte. Wir stimmen dem Gesetzentwurf zu. Wir gehen den Kompromiss ein, damit Türen geöffnet werden für eine bessere Ausbildung. Denn wir unterstützen alle Bestre- bungen, die dazu führen, das Berufsbild der Altenpflege- fachkraft und damit einhergehend die Aus- und Weiter- bildung attraktiver zu gestalten: sowohl für Menschen, die bereits in der Pflege arbeiten, als auch für diejenigen, die dort eine mögliche Perspektive für sich sehen. Nicole Bracht-Bendt (FDP): Bis 2030 wird die Zahl der pflegebedürftigen Menschen in Deutschland um 40 Prozent ansteigen. Das bedeutet, 3,4 Millionen Menschen werden auf Pflege angewiesen sein. Der Gesetzentwurf, den wir heute beraten, ist ein wichtiger Schritt, um die Zahl der Fachkräfte in der Altenpflege zu erhöhen. Genügend qualifizierte Pflege- fachkräfte auszubilden, gehört zu den zentralen Heraus- forderungen des demografischen Wandels. Diesen He- rausforderungen stellt sich die christlich-liberale Koalition. Die FDP-Bundestagsfraktion begrüßt, dass wir dieses Projekt als Bund gemeinsam mit den Ländern und rund 30 Verbänden und Kostenträgern gestaltet haben. Bei der Vereinbarung zur Ausbildungs- und Qualifizierungs- offensive in der Altenpflege haben alle an einem Strang gezogen, und das ist ein positives Signal. Mit der Qualifizierungsoffensive wollen wir die Aus- bildungszahlen im Bereich Altenpflege in den nächsten drei Jahren um 30 Prozent steigern. Auch wird die beruf- liche Weiterbildung von Fachkräften gestärkt. 27698 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 (A) (C) (D)(B) Besonders hervorheben möchte ich, dass wir die Familienfreundlichkeit von Unternehmen und die Ver- einbarkeit von Familie und Beruf bzw. Ausbildung im Blick haben. Das ist für Frauen und Männer, die in der Pflege tätig sind, ein wesentlicher Punkt. Die Koopera- tion zwischen Pflegeeinrichtungen und Kommunen soll intensiviert werden, um Betreuungsangebote für die Kinder von Pflegekräften zu schaffen. Dadurch werden berufstätige Eltern ganz gezielt unterstützt und wird ein Wechsel von einer Teilzeit- zurück in die Vollzeit- beschäftigung ermöglicht. Das unterstütze ich ausdrück- lich. Die Koalition sichert mit den Maßnahmen des Gesetzentwurfs aber auch die Aus- und Weiterbildungs- förderung in der Altenpflege – und das auf hohem Niveau. Ein zentraler Punkt des Gesetzentwurfs ist, die Ausbildungszeit für berufliche Weiterbildungen um ein Jahr gegenüber der Regelausbildung zu verkürzen und gleichzeitig die Vollfinanzierung des dritten Weiterbil- dungsjahres zur Altenpflegerin oder zum Altenpfleger durch die Bundesagentur für Arbeit und die Jobcenter zu sichern. Die Initiative kommt berufserfahrenen und älte- ren Menschen zugute, die umschulen möchten, aber auch den rund 4 000 Altenpflegehelferinnen und -hel- fern, die sich zur Fachkraft weiterbilden wollen. Das ist eine großartige Sache. Deshalb ist die Offensive für mehr Pflegekräfte nicht nur eine Verbesserung für die Pflegebedürftigen. Sie ist auch eine Chance für Frauen und Männer, die beruflich noch einmal durchstarten wollen. Gerade für jene, die nach Erwerbsunterbrechungen wieder einsteigen wollen, sind spezielle Programme für den Wiedereinstieg in den Beruf geplant. Der Gesetzentwurf strebt daneben Verbesserungen bei der Kooperation zwischen Pflegekräften, Hilfskräf- ten und Ehrenamtlichen an, und zwar möglichst unbüro- kratisch. Das begrüßen wir Liberale – genauso wie das Ziel, mehr männliche Bewerber für die Altenpflege zu gewinnen und junge Menschen mit Migrationshinter- grund. Diese Initiative zur Sicherung der Fachkräfte in der Altenpflege ist eine gute Chance, die Rahmenbedingun- gen und das Image der Berufe in der Altenpflege zu ver- bessern. Qualifizierte und motivierte Altenpflegerinnen und Altenpfleger verdienen im gesellschaftlichen Anse- hen mehr Würdigung ihrer Arbeit. Dies kann der Staat aber nicht per Gesetz verordnen. Hier ist die Gesell- schaft insgesamt gefordert. Die FDP-Fraktion unterstützt in diesem Sinne eine intensive Öffentlichkeitsarbeit, durch die gezielt Menschen für diese Berufe gewonnen werden und über Chancen und Berufsaussichten in der immer wichtiger werdenden Altenpflege informiert wer- den soll. Dieser Gesetzentwurf ist ein wichtiger Baustein, um Deutschland für die Herausforderungen des demografi- schen Wandels fit zu machen. Kathrin Senger-Schäfer (DIE LINKE): Wir beraten heute in abschließender Lesung den überschaubaren Ent- wurf eines Gesetzes zur Stärkung der beruflichen Aus- und Weiterbildung in der Altenpflege. Der Entwurf sieht vor, zwei Punkte der im Dezember 2012 beschlossenen Ausbildungs- und Qualifizierungsoffensive Altenpflege umzusetzen. Zum einen geht es um die Ausbildungsver- kürzung und zum anderen um die Möglichkeit, dass die Bundesagentur für Arbeit befristet für drei Jahre die Fi- nanzierung des dritten Umschulungsjahres im Rahmen der beruflichen Weiterbildung übernimmt, wo eine Ver- kürzung nicht möglich ist. Die Linke unterstützt die Offensive ausdrücklich, welche gemeinsam mit den Ländern, Verbänden und Ge- werkschaften auf den Weg gebracht wurde, und deshalb werden wir dem Gesetzentwurf zustimmen – auch wenn er an der einen oder anderen Stelle Bauchschmerzen ver- ursacht. Angemerkt werden muss an dieser Stelle aber auch, dass es lange gebraucht hat, bis die Maßnahmen der Offensive verabredet werden konnten und schließ- lich öffentlich bekannt gegeben wurden. Gemessen an der Dringlichkeit, welche uns der augen- fällige Fachkräftemangel in der Altenpflege auferlegt, weise ich darauf hin, dass wir uns ewiges Taktieren wirk- lich nicht mehr leisten können, wenn wir auch künftig die pflegerische Versorgung sichergestellt wissen wollen. Gerade die Bundesregierung hätte die beiden vorliegen- den kleinen Maßnahmen längst auf den Weg gebracht ha- ben können. Versprochen waren diese Schritte immerhin bereits im Sommer letzten Jahres. Warum also hat das so lange gedauert? Schade ist auch, dass die Bundesregierung offensicht- lich aus den Erfahrungen des Konjunkturpakets II keine Lehren ziehen wollte. Damals wurde schon einmal – für zwei Jahre befristet – das dritte Umschulungsjahr in der Kranken- und Altenpflege gefördert, mit dem Ergebnis, dass die beachtliche Anzahl der Umschulungen im Be- reich der Altenpflege nach dem Auslaufen der befriste- ten Finanzierung wieder deutlich abnahm. Daneben wurde bis zum heutigen Tag keine verlässliche Finanzie- rung der Altenpflegeausbildung insgesamt und landes- weit auf den Weg gebracht. Vor diesem Hintergrund ist die neuerliche Befristung ein falsches Signal an alle Umschulungswilligen – und an die Pflegeeinrichtungen sowieso. Dass das von Schwarz- Gelb versprochene neue Pflegeberufegesetz nach wie vor auf sich warten lässt, ist ebenfalls kein Zeichen dafür, dass es der Bundesregierung mit der Bekämpfung des Fachkräftemangels und der Attraktivitätssteigerung der Altenpflege besonders ernst ist. Die Finanzierung des dritten Umschulungsjahres hätte nach Auffassung der Linken von der Bundesregie- rung so lange entfristet werden müssen, bis eine dauer- hafte Finanzierungsgrundlage für eine weiterentwickelte neue Pflegeausbildung gefunden ist. Zumindest aber hätte die Befristung wenigstens deutlich verlängert wer- den müssen. Auch mit dem Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz hat sich die Bundesregierung in Sachen Attraktivitätssteige- rung im letzten Jahr nicht mit Ruhm bekleckert. Im Ge- genteil: Das Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz riecht ver- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 27699 (A) (C) (D)(B) dammt nach Deprofessionalisierung. Zum einen betrifft das den erleichterten Einsatz von Einzelpflegekräften und zum anderen die Tatsache, dass es sich bei den Ein- zelpflegekräften nicht mehr um eine Pflegefachkraft handeln muss. Ich meine, dass diese Maßnahme des Pflege-Neuausrichtungs-Gesetzes im krassen Wider- spruch zur Qualifizierungsoffensive steht. Daneben darf die Regelung des Pflege-Neuausrich- tungs-Gesetzes nicht unerwähnt bleiben, nach welcher – bei einem Abschluss eines Versorgungsvertrages für Pflegeeinrichtungen – nicht mehr die Zahlung einer orts- üblichen Vergütung für die Pflegekräfte ausschlagge- bend ist, sondern der Pflegemindestlohn ausreichend sein soll, obwohl die ortsübliche Vergütung häufig um ein Vielfaches höher ist. Damit wird die unterste Halteli- nie, die Lohndumping eigentlich verhindern sollte, zum Instrument für Lohndrückerei missbraucht. Auch das hat mit Attraktivitätssteigerung überhaupt nichts zu tun. Der heute vorliegende Gesetzentwurf hat in Sachen Deprofessionalisierung ebenfalls seine Tücken. Wer keine Ausbildung hat, aber eine zweijährige Vollbe- schäftigung in einer Pflegeeinrichtung vorweisen kann, soll Kraft des Gesetzes, auf Antrag die Möglichkeit zur Weiterbildungsverkürzung bekommen. Die Hürde hier- für ist ein Kompetenzfeststellungsverfahren, für das die Bundesländer verantwortlich zeichnen. Die Frage ist, wie dabei die Qualität der Ausbildung und damit der Al- tenpflege insgesamt gesichert wird. Wie wird die Kom- petenz festgestellt? Wie werden ein möglichst einheitliches Vorgehen der Länder bzw. einheitliche Kriterien gewährleistet? Wel- che Einflussnahme hat der Bund dabei überhaupt, und wer wird am Ende überhaupt noch eine dreijährige Um- schulung machen? Oder soll mit dieser Maßnahme schlicht das Geld der Bundesagentur gespart werden? Es wird darauf ankommen, hier die künftige Entwicklung scharf im Auge zu behalten. An die Adresse der Bundesregierung – als Teil der Ini- tiatoren der Ausbildungs- und Qualifizierungsoffensive Altenpflege – möchte ich abschließend appellieren, dass allein mit dem Papier, auf dem die vielen Maßnahmen niedergeschrieben wurden, der Kampf gegen den Fach- kräftemangel und für gute Pflege nicht gewonnen wird. Gute Pflege kommt von guter Arbeit und diese wiede- rum von guten Löhnen und einem attraktiven Arbeitsum- feld. Außerdem muss eine ausreichende Personalausstat- tung durch eine bundesweit gültige Personalbemessung abgesichert werden. An diesen Stellschrauben gibt es für den Gesetzgeber noch einige Runden zu drehen; denn wir befinden uns hier eher auf der Stufe eines Entwicklungslandes. Über die Bundestagswahl im September hinaus wird die Linke aufpassen, dass die Bundesregierung hierfür den richti- gen pflegepolitischen Schraubenschlüssel in die Hand nimmt. Dessen dürfen Sie sich absolut sicher sein. Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Der Fachkräftemangel in der Pflege ist seit Jahren ein Dauerbrenner. Aus einem unveröffentlichten Bericht aus dem Bundesarbeitsministerium erfahren wir, dass es derzeit 14 000 offene Stellen in der Altenpflege gibt. Damit hat sich die Zahl der gesuchten Fachkräfte inner- halb von fünf Jahren verdreifacht. Es besteht also Handlungsbedarf, und das schon seit Jahren. Durch das Konjunkturpaket II wurde von der damaligen Bundesregierung ein kleiner Baustein zur Fachkräftesicherung gelegt. Es wurde vereinbart, dass die Finanzierung des dritten Umschulungsjahrs für die Altenpflege zeitlich befristet von der Bundesagentur für Arbeit übernommen wird. Nach dem Auslaufen dieser befristeten Sonderregelung im Jahr 2010 hat man – na, raten Sie mal – genau diesen Baustein wieder aus dem Gebäude entfernt. Nun kommt man damit erneut um die Ecke und feiert ihn als Meilenstein der politischen Entscheidungskraft. Bei diesem Hin und Her haben wir jedoch drei Jahre verloren – drei Jahre, in denen eine Vielzahl von Interes- senten abgesprungen ist, drei Jahre, in denen die Anzahl der Umschulungen um 40 Prozent gesunken ist, drei Jahre, in denen nichts, aber auch gar nichts passiert ist. Der nun vorliegende Gesetzentwurf ist ein weiterer Baustein im Gebäude der Fachkräftesicherung – mehr aber auch nicht. Wir hoffen sehr, dass sich dieser nicht in einen Stolperstein verwandelt. Im Gesetz ist nämlich zu lesen, dass auf das dritte Ausbildungsjahr gänzlich ver- zichtet werden kann, indem bereits erworbene Erfahrun- gen und Kenntnisse angerechnet werden. Wie ist das zu verstehen? Wird jetzt jede nur im Verdacht stehende pflegerische Tätigkeit im Lebenslauf auf die Aus- bildungszeit angerechnet, nur um das dritte Jahr ein- zusparen? So sieht also die Sparpolitik von Schwarz- Gelb aus. Bereits am Dienstag konnte man der Fachpresse ent- nehmen, dass der erste Vorschlag zur Verkürzung der Altenpflegeausbildung von Gesundheitssenator Czaja vorliegt. Damit ist schon der Erste der schwarz-gelben Bundesregierung auf den Leim gegangen. Ich appelliere hier an die Länder, die für das Anerkennungsverfahren verantwortlich zeichnen: Gebieten Sie Einhalt vor zu großem Spielraum! Es geht sonst zulasten der Qualität der Auszubildenden. Es ist doch janusköpfig, wenn sich alle hier im Raum in Funk und Fernsehen für Qualität in der Altenpflege aussprechen, gegen Missstände in der Pflege und für die Attraktivitätssteigerung des Berufs. Gleichzeitig disku- tieren wir hier darüber, dass Quantität vorgeht und man im Eilverfahren möglichst viele Umschülerinnen und Umschüler in den Beruf bringt. Wir sind natürlich für eine Durchlässigkeit des Berufs, aber bitte in einer quali- fizierten und durchdachten Art und Weise und nicht im Schnellschussverfahren. Wir warnen hier: Dieser Baustein kann auch uns auf die Füße fallen. Ich hoffe sehr, dass die Länder ein ein- heitliches Vorgehen finden und es der BA nicht ersparen, so vielen Personen wie möglich das qualifizierte dritte Ausbildungsjahr zu finanzieren. 27700 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 (A) (C) (D)(B) Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Für ein neues Ver- ständnis der Zusammenarbeit von Schule und Jugendhilfe – Schulsozialarbeit an allen Schu- len (Tagesordnungspunkt 16) Dr. Peter Tauber (CDU/CSU): Wenn wir heute über das Thema Schulsozialarbeit sprechen, so besteht ohne Zweifel Einigkeit darüber, dass wir über ein Thema de- battieren, das in den zurückliegenden Jahren an Bedeu- tung gewonnen hat. Unbestritten ist sicher auch, dass die Schulsozialarbeit eine Reihe von beachtlichen Erfolgen hervorgebracht hat. Die Angebote sind in aller Regel sehr direkt erreichbar und dort zu finden, wo die Schüle- rinnen und Schüler sich aufhalten. Jugendliche brauchen nicht erst in ein Amt zu gehen, das aus ihrem Erfah- rungshorizont meistens weit entfernt ist. Viele Beteiligte berichten davon, dass sich das Klima in den Schulen mit funktionierender Schulsozialarbeit verbessert hat. Ent- lastung erfahren zudem die Lehrerinnen und Lehrer, die sich stärker auf den Unterricht konzentrieren können und bei komplizierten Problemen im Umgang mit den Schülerinnen und Schülern eine Hilfestellung erhalten können. Meine sehr geehrten Damen und Herren, klar ist aber auch: Für die Schulsozialarbeit sind in allererster Linie die Länder bzw. kommunalen Gebietskörperschaften zu- ständig. Der Bund hat sich im Rahmen des Vermittlungs- verfahrens zum Gesetz zur Ermittlung von Regelbedar- fen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch bereit erklärt, den Ländern und Kom- munen befristet bis 2013 zusätzlich 400 Millionen Euro zum Ausbau der Schulsozialarbeit zur Verfügung zu stel- len. Der Bund unterstützt Länder und Kommunen also, obwohl er dafür eigentlich nicht originär zuständig ist. Er hat damit viel mehr gemacht, als er müsste. Wir sind der Bundesregierung sehr dankbar, dass sie die größte kommunale Entlastung der Geschichte auf den Weg gebracht hat. Der Bund wird ab dem Jahr 2014 die Nettoausgaben des Vorvorjahres für die Grundsiche- rung im Alter und bei Erwerbsminderung vollständig er- statten. Dadurch entstehen Ländern und Kommunen vielfach neue Spielräume, um dauerhaft auch die kom- munalen Aufwendungen erhöhen zu können. Die mil- liardenschwere Entlastung der Kommunen war immer auch mit dem Ziel gedacht, dass die Kommunen zukünf- tig für eine ausreichende Finanzierung der Schulsozial- arbeit Sorge tragen können. Der vorliegende Antrag blendet dies vollständig aus. Wir haben es erneut mit einem Antrag der Linken zu tun, der mehr Zentralismus bedeutet. Jegliche staatliche Zuständigkeit wird zugunsten von zentralistischen Lösungen ausgeblendet. Dafür soll sogar die Verfassung geändert werden. Aus gutem Grund haben wir einen föderalen Staat. Würden wir allen Rufen der Linkspartei nachkommen, wäre der föderale Staat innerhalb einer Legislaturperiode Vergangenheit. Dies haben sich unse- rer Verfassungsväter anders vorgestellt, und dies wäre auch sehr unklug. Es ist leicht, nach Verfassungsänderungen zu rufen, die die vermeintliche Lösung darstellen. Ganz schnell kommen Folgeprobleme auf uns zu, zudem dürfen wir die berechtigten Interessen der Länder nicht vergessen. Es sind jetzt die Kommunen und die Länder am Zug, ihre Spielräume zu nutzen, um eine Belebung der Schul- sozialarbeit zu organisieren. Auf eines möchte ich an dieser Stelle noch einmal hinweisen: Der Antrag der Linken liest sich so, als wäre die Schulsozialarbeit der Schlüssel zur Lösung aller Pro- bleme junger Menschen. Bei allen Erfolgen warne ich davor, die Schulsozialarbeit mit zu hohen Erwartungen zu überfrachten. Sie kann ein guter und sinnvoller Be- gleiter der Schülerinnen und Schüler sein. Schulsozial- arbeit kann aber kein Ersatz für Vernachlässigung zu Hause oder für die vollumfänglichen Angebote der Jugendhilfe sein. Denn viele Probleme lassen sich nicht alleine in der Schule lösen. Ich denke, dies ist uns auch allen bewusst. Ich warne daher die Linkspartei davor, in allzu leichten Bildern zu denken, nach dem Motto „Mit einer Aufstockung der Schulsozialarbeit sind alle Probleme gelöst“. Dies wird der komplexen sozialen Wirklichkeit nicht gerecht. Ich bin überzeugt, dass Länder und Kommunen ihren finanziellen Auftrag ernst nehmen und die Schulsozial- arbeit dort verstärken, wo der Bedarf besteht. Der Antrag der Linken ist nicht realistisch. Wir lehnen ihn daher ab. Stefan Schwartze (SPD): Als im Jahr 2011 die Ver- änderungen im SGB II verhandelt wurden, da war es die SPD, die darauf bestanden hat, dass die Schulsozialar- beit ein Teil des Bildungs- und Teilhabepakets wird. Die Erfahrungen vor Ort haben gezeigt, dass Schulsozialar- beiterinnen und Schulsozialarbeiter eine gute und wich- tige Arbeit leisten. Sie sind direkt bei den Menschen und leisten einen wichtigen Beitrag für den Bildungserfolg unserer Kinder. Die Finanzierung ist dabei indirekt durch die Über- nahme eines höheren Anteils des Bundes an den Kosten der Unterkunft im SGB II erfolgt. Die Verantwortung für den Einsatz von Schulsozialarbeit verblieb bei den Kom- munen und Ländern. Das ist auch gut und richtig. Die Fraktion Die Linke will nun die Schulsozialarbeit verste- tigen. Das ist ein guter Ansatz. Er zielt jedoch zu kurz. Was die SPD will, hat sie klar dargelegt: Wir wollen gute Ganztagsschulen. Wir wollen die soziale Spaltung im Bildungssystem überwinden und junge Menschen un- terstützen, ihre Bildungspotenziale zu entfalten. Deshalb wollen wir ein zweites Ausbauprogramm für Ganztags- schulen, das bis zum Jahr 2020 jedem Kind die Möglich- keit eröffnet, eine gute Ganztagsschule zu besuchen. Dafür ist die Hauptvoraussetzung, das sogenannte Koopera- tionsverbot abzuschaffen. Das Kooperationsverbot un- tersagt dem Bund Finanzhilfen für die Bereiche, die in alleiniger Zuständigkeit der Länder liegen. Dazu gehö- ren auch die Schulen. Damit ist der Bund aber genau da Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 27701 (A) (C) (D)(B) außen vor, wo die Weichen für eine gute und lebens- werte Zukunft gestellt werden. Der Ausbau der Ganztagsschulen kann nicht allein von den Ländern und Kommunen gestemmt werden. Es liegen Schätzungen vor, die von jährlichen Mehrkosten von 6 bis 14 Milliarden Euro ausgehen. Mit dem Fi- nanzierungskonzept „Nationaler Pakt für Bildung und Entschuldung“ hat die SPD als einzige Partei einen um- fassenden Vorschlag für eine Ausweitung der Bildungs- finanzierung von Bund und Ländern vorgelegt. Wir wer- den für Bildung zusätzlich 20 Milliarden Euro im Jahr bereitstellen, je 10 Milliarden Euro von Bund und Län- dern. Wir wollen ein neues Ausbauprogramm „Masterplan Ganztagsschule 2020“. Unser Ziel ist es, bis zum Jahr 2020 jedem Kind und jedem Jugendlichen einen Ganz- tagsschulplatz anzubieten. Darauf wollen wir den Eltern einen Rechtsanspruch geben. Der Masterplan muss ein Qualitätsprogramm sein. Die hohen Potenziale und die nachhaltige Attraktivität ganztägiger Schulformen hängen entscheidend von der Qualität der Lehr- und Betreuungsangebote ab. Den Kommunen kommt eine Schlüsselrolle beim Ganztags- schulausbau zu. Kommunen müssen als Partner auf Au- genhöhe mit Stimme und Gewicht einbezogen werden und über die Länder verlässlich in die arbeitsteilige Auf- gabenerfüllung des Masterplans eingebunden werden. Wir wollen zwei Förderlinien: Erstens ein Investitions- programm zur Förderung der baulichen Voraussetzungen für ganztägigen Schulbetrieb. Zweitens ein Personal- und Qualitätsbudget für die Förderung der konzeptionel- len und qualitativen Entwicklung der Ganztagsschulen. Bei der Verwendung des Personal- und Qualitätsbudgets, darunter fällt auch die Schulsozialarbeit, sollen die Schulen ein Mitspracherecht erhalten. Die SPD geht von folgenden Eckpunkten der Finan- zierung aus: Für die erste vierjährige Phase wird der Bund 8 Milliarden Euro zur Verfügung stellen. Für die zweite Phase sind die Kosten mit Blick auf die Ausbau- ziele neu zu bestimmen und die Finanzierungsquoten für den Bund und die Länder zu vereinbaren. Der Bund bleibt bis zur Erreichung eines flächendeckenden Ganz- tagsangebots in der gemeinsamen Pflicht mit den Län- dern. Das ist ein gutes und vernünftiges Konzept. Hier sind sich alle Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten al- ler föderalen Ebenen einig. Überall dort, wo die Sozial- demokratie in Ländern und Kommunen Verantwortung trägt, werden wir mit aller Kraft am Ausbau von hoch- wertigen Ganztagsangeboten arbeiten. Schulsozialarbeit soll es dort geben, wo sie gebraucht wird. Swen Schulz (Spandau) (SPD): Schulsozialarbeit ist ein wichtiger Beitrag zur Verbesserung der Unterstüt- zung und Förderung der Schülerinnen und Schüler. Nicht ohne Grund haben wir Sozialdemokraten darauf gedrungen, dass im Rahmen des Bildungs- und Teilha- bepakets auch die Finanzierung von Schulsozialarbeit durch zusätzliche Mittel des Bundes in den Kommunen ermöglicht wird. Das Problem ist jedoch, dass die Finanzierungszu- sage, zu der die Bundesregierung von CDU/CSU und FDP bereit war, Ende des Jahres ausläuft. Es müssen dann wieder Schulsozialarbeiterstellen gestrichen wer- den. Alleine in meinem Berliner Bezirk Spandau sind es fünf Stellen. Darunter leiden Schülerinnen und Schüler insbesondere in sogenannten Problemkiezen, wo es viel- fältige Probleme gibt. Ich habe die Bundesregierung gefragt, ob sie die Fi- nanzierungszusage verlängert. Die Antwort war deut- lich: Nein! Dabei muss uns doch allen klar sein, dass wir mehr anstatt weniger Schulsozialarbeit benötigen. Um nur ei- nen Aspekt zu benennen: Vor kurzem ist eine Studie ver- öffentlicht worden, wonach Schulsozialarbeit die Krimi- nalität senkt. Warum will die Bundesregierung also nichts unternehmen, um den Schulen, den Schülerinnen und Schülern, den Eltern und den Lehrern zu helfen? Ich kann nur zu einer Schlussfolgerung kommen: weil es ihr egal ist – egal wie die Situation in den Ortsteilen ist, egal, was mit den jungen Menschen geschieht, egal, dass sie schlechte Chancen haben. Der Antrag der Linken dagegen hat das richtige Ziel: mehr Schulsozialarbeit und auch eine verbesserte Zu- sammenarbeit von Schule und Jugendhilfe. Wir teilen das Ziel – und wollen noch darüber hinaus einen Rechts- anspruch auf Ganztagsschulen verwirklichen, damit durch Schulsozialarbeit und über Schulsozialarbeit hi- naus alle Schülerinnen und Schüler optimal gefördert und unterstützt werden. Ich denke, dass auch die Frak- tion Die Linke dieses weiter gefasste Ziel teilt. Unser Konzept für ein neues Ganztagsschulpro- gramm erfordert zum einen erhebliche Investitionen in die Infrastruktur, also in die Baulichkeiten der Schulen. Es müssen Küchen, Mensen, Aufenthalts- und Gruppen- räume, Sportanlagen, Computerräume und anderes mehr geschaffen werden. Zum anderen geht es um die Finan- zierung von zusätzlichem Personal: Lehrerinnen und Lehrer, Erzieherinnen und Erzieher sowie eben Schulso- zialarbeiterinnen und Schulsozialarbeiter. Um ein solches bundesweites Ganztagsschulpro- gramm bewerkstelligen zu können, braucht es erstens viel Geld – allein die Personalkosten im Jahr des Endausbaus 2020 können auf 10 Milliarden Euro ge- schätzt werden – und es braucht dafür zweitens eine Aufhebung des Kooperationsverbotes. Das Grundgesetz verbietet nämlich die Zusammenarbeit von Bund und Ländern sowohl in der als auch für die Bildung. Die SPD hat bereits einen Entwurf für die Änderung des Grundgesetzes eingebracht, damit künftig der Bund im gesamten Bildungsbereich, von der Kita bis zur Hochschule, helfen kann. CDU/CSU und FDP jedoch blockieren diesen Entwurf. Auch hier wenden sie sich gegen die Anliegen der großen Mehrheit der Bevölke- rung. Stattdessen hat die Bundesregierung einen eigenen Vorschlag eingebracht, mit dem lediglich einige wenige Spitzeneinrichtungen der Wissenschaft von überregiona- 27702 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 (A) (C) (D)(B) ler Bedeutung, wie es heißt, unterstützt werden sollen. Diese Änderung des Grundgesetzes reicht bei weitem nicht aus. Wir setzen uns weiterhin für die Bildung, für die Unterstützung aller Kinder und Jugendlichen ein, un- abhängig von ihrer sozialen Herkunft. Florian Bernschneider (FDP): Unsere heutige Antragsberatung könnten wir unter das Motto stellen: „Unsere sitzungswöchentliche Verfassungsänderung gib uns heute.“ So häufig wie die Linke fordert wohl niemand in Anträgen und Gesetzentwürfen, unsere Verfassung zu verändern. Da sind Sie einsame Spitze, meine Damen und Herren; das ist hier im Hause wohl unstrittig. Denn egal ob es um Kindertagesstätten, Hoch- schulpolitik oder Bildungspolitik in Ihren Anträgen geht: Auf die Linke ist Verlass. Die Linke fordert regelmäßig den Bund auf, sich in Länderzuständigkeiten einzumi- schen – zur Not mit einer schnellen Verfassungsände- rung. Das gehört bei Ihnen offenbar zum guten Ton. In einem Punkt stimme ich Ihrem Antrag jedoch aus- drücklich zu. Der Schulsozialarbeit kommt, angesichts größer werdender Schulen und der zunehmenden Zahl an Ganztagsschulen, eine wichtige Bedeutung zu. Es ist schön, dass Sie das in einem eigenen Antrag feststellen. Nur verwundert es mich, dass Sie hier einen solchen Antrag einbringen. Auf der einen Seite waren und sind es die Länder, die mit aller Vehemenz für ihre Zuständig- keit in Bildungsfragen gekämpft haben. Ziel vieler Be- mühungen von Länderseite war es, den Bund aus dem Bildungsbereich möglichst herauszuhalten; da schließe ich ehemalige oder aktuell rot-rot regierte Länder aus- drücklich nicht aus. Fragen Sie mal in Berlin oder Bran- denburg nach! Ihre Parteikollegen saßen bei den letzten Föderalismuskommissionen von Bund und Ländern doch mit am Tisch. Und zum Bildungsbereich gehört mittelbar auch die Schulsozialarbeit. Das, liebe Kolle- ginnen und Kollegen, hören Sie schon am Namen. Vieles in Ihrem vorliegenden Antrag passt einfach nicht zusammen. Sie fordern, die Schulsozialarbeit im SGB VIII als Regelleistung unter den schulbezogenen Angeboten zu verankern. Damit wäre es dann eine ge- setzliche Regelleistung, die durch den Träger der Sozial- arbeit, die Kreise und Kommunen, zu leisten wäre. Sie fordern damit de facto Millionenmehrbelastungen für Kommunen und Kreise. Denn längst nicht alle Länder beteiligen sich an den Kosten für die Schulsozialarbeit, was ohne Frage wünschenswert wäre; aber auch das kann und darf der Bund nicht regeln. Da es folglich nicht möglich ist, Kreisen und Kom- munen diese Aufgabe alleine zu überlassen, weil es finanziell nicht tragbar ist, soll nun ein Programm des Bundes diese Kosten übernehmen – und dies wiederum nur so lange, bis sich Bund und Länder darauf geeinigt haben, die Schulsozialarbeit als einzelnen Bereich durch eine Föderalismusreform in eine gemeinsame Zuständig- keit zu überführen. Nun, meine Damen und Herren, die- ses Vorgehen, wie Sie es vorschlagen, ist nicht nur ziem- lich kompliziert, um nicht zu sagen „von hinten durch die Brust ins Auge“; es ist auch verfassungsrechtlich mehr als nur bedenklich. Eine Regelleistung für einen Bereich, für den der Bund gar nicht zuständig ist, können wir nicht ohne Wei- teres beschließen, ein flächendeckendes Programm, also kein Modellprogramm, als Ersatz ebenso nicht – auch nicht übergangsweise. Und damit ist das Herzstück Ihres Antrages eigentlich erledigt, mal ganz davon abgesehen, dass Sie im Bundesrat mit diesem Anliegen scheitern würden. Und damit landen Sie in einer Sackgasse. Und es ist auch sachlich falsch, die Schulsozialarbeit an den Bund zu übertragen. Viele Kommunen tun hier freiwillig sehr viel mehr, haben zusätzliche Stellen geschaffen, haben Kooperationsnetzwerke mit Schulen, Jugendclubs, Jugendgruppen gebildet. Eine bundesweite Standardsozialarbeit würde Engagement und Ideenreich- tum auf lokaler Ebene zu einer Minimalschulsozialarbeit reduzieren. Außerdem beschleicht mich das Gefühl, dass Sie hier – wie so häufig – Missstände in den Ländern öffentlich beklagen und, anstatt sich vor Ort darum zu bemühen, etwas daran zu ändern, den Schwarzen Peter schnell an den Bund weiterreichen wollen – ganz nach dem Motto: Wir haben uns auf Landesebene zwar nicht gekümmert, aber wenigstens darüber gesprochen. Nur, dieses Spiel hilft niemandem! Die Länder sind hier in der Verantwor- tung. Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE): Vor einigen Jah- ren sagte mir ein Lehrer aus einer Sekundarschule in Sachsen-Anhalt, etwa eine halbe Unterrichtsstunde sei- nes Unterrichts ginge regelmäßig erst einmal drauf für die Herstellung der Lernbereitschaft seiner Schülerinnen und Schüler. Er agiere die halbe Zeit seines Unterrichts als Schulsozialarbeiter. Nicht dass dieser Kollege seine Arbeit auf das Unter- richtgeben beschränkt sehen wollte; er ist ein auch sonst sehr sozial engagierter Kollege. Doch angesichts der konkreten Situation an seiner Schule und der Situation in den Elternhäusern seiner Schülerinnen und Schüler sah er eine erhebliche Gefährdung für die Bildungsarbeit an seiner Schule. Das war noch vor der ersten PISA-Studie, die dem deutschen Schulwesen nicht nur große Defizite in den Lernergebnissen, sondern auch eine übergroße Abhängigkeit des Bildungserfolges von der sozialen Si- tuation der Familien bescheinigte. Seit etwa zwanzig Jahren scheint dagegen ein Kraut gewachsen zu sein, und immer mehr Schulen und Eltern wissen es zu schätzen. Es heißt Schulsozialarbeit. In den 60er- und 70er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts im Zuge der Bildungsreformen in der Bundesrepublik ent- wickelt, hat sie sich zu einem verlässlichen Anker im Fluss der dramatisch veränderten gesellschaftlichen Bedingungen für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen entwickelt. Damit werden zwar bei Wei- tem nicht alle Fehlstellen des deutschen Bildungs- systems behoben, aber Schulsozialarbeit hat sich als wirkungsvolles Instrument erwiesen, vielen Schwierig- keiten von Kindern und Jugendlichen frühzeitig zu be- gegnen, die sie beim Lernen behindern. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 27703 (A) (C) (D)(B) Die Kinder- und Jugendberichte der letzten zehn Jahre belegen, dass sich die Bedingungen, unter denen Kinder und Jugendliche in diesem Land aufwachsen, er- heblich verändert haben. Sie haben seltener Geschwister, ihre Eltern sind häufiger arbeitslos oder arm trotz Arbeit, oder sie haben zu wenig Zeit für sie wegen hoher berufli- cher Belastungen. Schulsozialarbeit kann da wirkungs- voll sein. Der jüngste, der 14. Kinder- und Jugend- bericht, widmet der Schulsozialarbeit sogar einen ganzen umfangreichen Abschnitt. Und nun zitiere ich aus dem 14. Kinder- und Jugendbericht, der heute vorge- stellt wurde: „Schulsozialarbeit und Formen schulbezo- gener Jugendsozialarbeit sind Angebote, die mittlerweile von den Lehrerkollegien und Schulträgern anerkannt, geschätzt und als zunehmend notwendig für eine gelin- gende Schule eingeschätzt werden“ – Bundestagsdruck- sache 17/12200, Seite 329. Im Bericht ist zu lesen, dass sich seit 1998 die Zahl der in der Schulsozialarbeit tätigen Personen vervier- facht hat. Mehr als 3 000 Fachkräfte sind heute in der Schulsozialarbeit tätig. Aber bundesweit gibt es weit über 43 000 Schulen, Das heißt, nicht einmal in jeder zehnten Schule steht heute Schulsozialarbeit zur Verfügung. Wenn aber Schulsozialarbeit zunehmend notwendig ist für gelingende Schule: Was machen dann die mehr als 90 Prozent der Schulen, denen Schulsozialarbeit als Leistung nicht zur Verfügung steht? Gelingt ihre Schule nicht? Oder wer trägt die Last? Und auf wessen Kosten? Die bislang erreichten Fortschritte können offensicht- lich nicht im Ansatz zufriedenstellen. Dabei wurde schon im 12. Kinder- und Jugendbericht, der im Jahre 2002 erschienen ist, festgestellt, dass Schule und Bil- dung heute komplexer gefasst werden müssen, dass Schule weit mehr ist als ein Ort des Unterrichtens und der Wissensvermittlung, dass es vielmehr ebenfalls auf die Ausprägung sozialer Kompetenzen ankomme und, vor allem, dass sich die Lebenswelt von Familien und damit von Kindern und Jugendlichen so verändert hat, dass Schule im herkömmlichen Verständnis den Aufga- ben für gute Bildung nicht mehr gewachsen sein kann. Und genau das hat mir der Kollege aus Sachsen-Anhalt recht plastisch vor Augen geführt. Schule von heute muss ein Lernort sein, in dem Lehr- kräfte, Schulsozialarbeiterinnen und Schulsozialarbei- ter, aber auch Schulpsychologen und andere Fachkräfte zusammenwirken, damit aus der Schule im besten Sinne ein Lernort wird, der die Bedingungen des Aufwachsens von Kindern und Jugendlichen aufnimmt und gestaltet und der es ermöglicht, auch für jede und jeden gute Bildung zu sichern. Seit 2002 hat sich Schulsozialarbeit zwar weitgehend profiliert und etabliert, aber für viele Schulen bleibt es ein Wunsch. In vielen Fällen setzt Schulsozialarbeit außerdem erst dann ein, wenn Defizite erkannt werden oder das be- rühmte Kind schon in den Brunnen gefallen ist. So sehe ich auch das Bundesprogramm „Zweite Chance“; denn die erste Chance wurde offensichtlich vertan. Vielleicht hätte sie aber nicht vertan werden müssen, wenn gute Schulsozialarbeit die Bildungsarbeit begleitet hätte. Und es gibt heute keine Schulform und keine Schule mehr, die von sich behaupten könnte, ihr würde Schul- sozialarbeit nicht helfen. Es geht auch nicht nur um so- genannte Brennpunktschulen, es geht nicht nur um schwierige soziale Ausgangslagen. Auch der Lerndruck an Gymnasien und die Erwartungshaltungen in mancher Familie könnten der Begleitung durch Schulsozialarbeit bedürfen; es wird nur noch nicht überall so gesehen. Schulsozialarbeiterinnen und Schulsozialarbeiter können Partnerinnen und Partner für Lehrende wie für Lernende sein und auch Eltern beratend zur Seite stehen. Es kommt darum darauf an, Schulsozialarbeit endgültig aus der Ecke der nachsorgenden Sozialarbeit und aus der Fürsorgerolle herauszuholen und sie zu einem festen Be- standteil schulischer Arbeit zu machen. Lehrende könn- ten sich dann stärker auf ihre Bildungsarbeit konzentrie- ren und sich in Problemsituationen beraten. Fachkräfte der Schulsozialarbeit haben in der Bil- dungseinrichtung Schule ihre eigenständige Funktion. Sie können oft leichter das Gespräch mit Lernenden su- chen, schon weil sie eben keine Zensuren vergeben und nicht übers Sitzenbleiben entscheiden. Sie können eine Scharnierfunktion zwischen Lehrenden und Lernenden, zwischen Kindern und Eltern, zwischen Eltern und Lehr- kräften und zum gesellschaftlichen Umfeld wahrnehmen und praktische Hilfen anbieten. Durch ihre Tätigkeit an der Schule kann sich das Schulklima und damit das Ar- beitsklima in der Bildungsarbeit erheblich verbessern. Zweite Chancen würden dann in der Regel überflüssig, und Bildungserfolge würden sich für mehr Kinder und Jugendliche einstellen. Doch Schulsozialarbeit ist nach wie vor rechtlich nicht genügend abgesichert. So wurden durch das Bil- dungs- und Teilhabepaket zwar zahlreiche Stellen neu geschaffen, aber sie sind wie fast alle anderen Stellen für Schulsozialarbeit an befristete Projektmittel gebunden und nicht auf Dauer angelegt. Schulsozialarbeit ist in nur wenigen Schulgesetzen der Länder verankert, und die Bestimmung von schulbezogener Jugendsozialarbeit im Kinder- und Jugendhilferecht des Bundes ist vorrangig auf die Behebung vorhandener Defizite ausgerichtet. In der Antwort auf meine schriftliche Frage zur Schulsozialarbeit wird sogar die Bedeutung des ein- schlägigen ESF-Programmes „Schulerfolg sichern“ durch das zuständige Bundesministerium verneint. Stel- len für Schulsozialarbeit seien aus diesem Programm nicht zu finanzieren. Bloß gut, dass sich die Länder nicht daran halten! In der Stellungnahme der Bundesregierung zum 14. Kinder- und Jugendbericht, der ja ein ganzes Kapitel der Schulsozialarbeit widmet, kommt das Wort Schul- sozialarbeit nicht einmal vor. Ich kann hierin nur eine grobe Unterschätzung dieses Arbeitsbereiches der Kin- der- und Jugendhilfe erkennen. Das kann für die Zukunft nicht zufriedenstellen. Im Dezember des vergangenen Jahres trafen sich in Hannover Schulsozialarbeiterinnen und Schulsozialar- 27704 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 (A) (C) (D)(B) beiter zu einem Kongress. Ihre Forderungen sind klar: Schulsozialarbeit gehört an jede Schule. „Ziel muss eine strukturell abgesicherte Finanzierung von Schulsozial- arbeit sein, die auf Jugendhilfe- und Schulentwicklungs- plänen beruht,“ hieß es dort. Verantwortung dafür trügen die Jugend- und Kultusminister der Länder. Wir haben die vielfältigen Anregungen aufgegriffen und schlagen vor, die Schulsozialarbeit oder auch schul- bezogene Jugendsozialarbeit in einem eigenen Para- grafen im Kinder- und Jugendhilferecht zu verankern. Dort sollen die Aufgaben beschrieben und Zuständig- keiten bestimmt werden. Der Bund könnte dann nach § 83 Abs. 1 des Kinder- und Jugendhilfegesetzes die Einrichtung von Schulsozialarbeit an jeder Schule als gesamtstaatliche Aufgabe fördern. Eine Aufhebung des Kooperationsverbotes in der Bildung würde diese Zu- sammenarbeit erleichtern, aber auch unter den jetzigen grundgesetzlichen Rahmenbedingungen sind eine Ver- stetigung und ein Ausbau von Schulsozialarbeit mög- lich. Ein letztes Wort zum Personal: Schulsozialarbeit wird zum übergroßen Teil von Fachkräften mit einem Hoch- schulabschluss geleistet. Das entspricht auch dem hohen Anspruch an diese Tätigkeit. Schulsozialarbeit ist nicht pädagogische Hilfstätigkeit, sondern eine hochprofessio- nelle, eigenständige pädagogische Arbeit. Die Bezahlung dieser Fachkräfte erfolgt aber nicht sel- ten auf einem sehr niedrigen Niveau, weit unter der ohne- hin nicht üppigen Eingruppierung im Tarif des öffentli- chen Dienstes. Hinzu kommt, dass die Arbeitsverträge, weil an Projektmittel gebunden, sehr oft nur befristet sind. Das ist weder zufriedenstellend noch angemessen. Der Stellenwert der Schulsozialarbeit muss im Zuge ihrer rechtlichen Neubestimmung und Ausgestaltung auch durch ihre tarifliche Eingruppierung gebührend ge- würdigt werden. Auszahlen wird sich das allemal: für die Kinder und Jugendlichen und ihre Familien, für die Lehrenden, für die Profile und die Leistungsfähigkeit von Schulen, für den Bildungserfolg und den sozialen Ausgleich und damit am Ende auch in der gesellschaftli- chen Gesamtrechnung. Auch hier gilt: Investitionen in die Bildung rechnen sich. Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Schul- sozialarbeit leistet einen wichtigen Beitrag zur Gestal- tung einer Schule, die Kinder und Jugendliche gerade in schwierigen Lebensphasen individuell fördert. Damit ist sie elementar für die Umsetzung von mehr Bildungsge- rechtigkeit. Diverse Studien bestätigen die positiven Wirkungen der Schulsozialarbeit ebenso wie einen wach- senden Bedarf nach entsprechenden Maßnahmen. Die Bundesregierung darf sich deshalb bei diesem Thema nicht aus der Verantwortung stehlen. Es ist ein Armutszeugnis für die ausgerufene „Bil- dungsrepublik“, dass es keine verlässliche Finanzierung der Schulsozialarbeit in Deutschland gibt. Symptoma- tisch ist, dass der Bund lediglich Mittel im Rahmen eines Kuhhandels um das Bildungs- und Teilhabepaket zur Verfügung stellt. Diese Mittel sind bis März 2013 befris- tet und laufen somit in den nächsten Wochen aus. Dies ist eine Zumutung für alle Beteiligten: für die Schulen, die Kinder und Jugendlichen und nicht zuletzt für die en- gagierten Beschäftigten. Wir Grüne haben dieser Vereinbarung im Vermitt- lungsausschuss und im Bundestag aus guten Gründen nicht zugestimmt: die überbürokratische Grundkonstruk- tion des Bildungs- und Teilhabepaketes lehnen wir ab, und wir wollten statt der Festlegung auf Schulsozialar- beit individuelle und damit passgenaue Lösungen vor Ort fördern, die in einer jeweils örtlich sinnvollen Struk- tur und mit einem nachhaltigen Ansatz begonnen werden sollten. Dafür haben wir leider keine Mehrheit gefunden. Die faulen Kompromisse beim Bildungs- und Teilha- bepaket, die negativen Erfahrungen bei dessen Umset- zung und die damit verbundene Hängepartie bei der Schulsozialarbeit machen es erneut überdeutlich: Das bil- dungsfeindliche Kooperationsverbot im Grundgesetz muss fallen, damit tragfähige Vereinbarungen zwischen Bund und Ländern im Bildungsbereich gefunden werden können. Deswegen werben wir weiterhin für eine Verfas- sungsänderung, mit der dauerhafte und finanzwirksame Vereinbarungen zwischen Bund und Ländern im Bil- dungs- und Wissenschaftsbereich getroffen werden kön- nen. Dazu könnte dann auch die Schulsozialarbeit zählen, wenngleich unsere erste Priorität weiter auf dem flächen- deckenden Ausbau qualitativ guter und gebundener Ganztagsschulen liegt. Klar ist: Schulen, gerade solche in „sozialen Brennpunkten“, brauchen mehr Unterstützung, auch eine gute Schulsozialarbeit. Deren dauerhafte Fi- nanzierung muss staatlicherseits gewährleistet werden. Was im vorliegenden Antrag der Linken leider viel zu kurz kommt, sind klare Aussagen zur Zusammenarbeit von Schule, Sozialarbeit und Jugendhilfe. Hier besteht sehr häufig noch ein Nebeneinander, das nicht im Sinne der betroffenen Schülerinnen und Schüler sowie deren Eltern ist. Laut dem aktuellen Kinder- und Jugendbericht wer- den die Angebote der Schulsozialarbeit und der schulbe- zogenen Jugendsozialarbeit mittlerweile von den Lehr- kräften und Schulträgern anerkannt, geschätzt und als zunehmend notwendig für eine gelingende Schule einge- schätzt. Allerdings wird ihre Zuordnung im Bericht ge- rade in den Schnittmengen zwischen Jugendhilfe und Schule weiterhin als unklar, uneinheitlich und sehr un- terschiedlich geregelt beschrieben. Wir wollen deshalb hier mehr Vernetzung und gleichberechtigte Zusammen- arbeit. Junge Menschen dürfen nicht zwischen Trägern und Maßnahmen hin- und hergeschoben werden, son- dern brauchen verlässliche Ansprechpartner und abge- stimmte „Maßnahmen aus einer Hand“. Kommunale Bildungsbündnisse leisten bei der Etablierung solcher Konzepte wertvolle Arbeit und müssen weiter ausgebaut werden. Beispielsweise gilt es, vernetzte Angebote der Schulsozialarbeit für Schülerinnen und Schüler, die eine wachsende Schuldistanz bis hin zu längerfristiger Schul- verweigerung aufweisen, zu sichern und auszuweiten. Schulsozialarbeit darf jedoch nicht auf solche Interven- tionen reduziert werden, sondern muss regelhaft als An- gebot zur Unterstützung junger Menschen bei der Ent- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 27705 (A) (C) (D)(B) wicklung positiver Lebensperspektiven zur Verfügung stehen. Stattdessen nimmt die Bundesregierung völlig kontra- produktive Kürzungen bei den Programmen der „Sozia- len Stadt“ vor. Wer in Sonntagsreden von niedrigschwel- ligen Angeboten gerade für sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche, von besserer Quartiersentwicklung und der Einbindung ins Schulumfeld spricht, der darf nicht gleichzeitig die notwendige Förderung der Infrastruktur ausbluten lassen. Die Schulsozialarbeit darf nicht zwischen den politi- schen Ebenen zerrieben werden. Es gab in den letzten Monaten Gespräche zwischen den Kultusministerien der Länder und der Bundesbildungsministerin, inwieweit der Bund im Bereich der Schulsozialarbeit aktiv bleiben kann. Soweit uns bekannt ist, beabsichtigte die ehema- lige Bundesbildungsministerin Schavan, dieses Anliegen an die Bundesarbeitsministerin weiterzuleiten. Bei die- sem wichtigen Thema darf es aber nicht zu einem Ver- schiebebahnhof ins Nirgendwo kommen. Wie die neue Bundesbildungsministerin mit diesem Anliegen verfah- ren wird, ist noch nicht bekannt. Angesichts dieser Lage ist leider auch die Forderung im vorliegenden Antrag der Linken unrealistisch, dass bis Januar 2014 an allen Schu- len verlässliche Angebotsstrukturen realisiert werden. Ministerin Wanka muss nun schnellstens Klarheit schaf- fen und Lösungen sowohl mit ihren Länderkolleginnen und -kollegen als auch im Kabinett voranbringen, damit die Schulsozialarbeit in Deutschland umgehend verläss- lich ausgebaut wird und nicht den Bach heruntergeht. Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung des Seearbeitsübereinkommens 2006 der Internationalen Arbeitsorganisation (Tagesordnungspunkt 17) Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Wir beraten heute in zweiter und dritter Lesung abschließend den Gesetzent- wurf der Bundesregierung, mit dem die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass die Bundesrepublik Deutschland das ILO-Übereinkommen über Mindestar- beitsnormen im Seeverkehr ratifizieren kann. Das Seear- beitsübereinkommen, das bereits 2006 verabschiedet wurde, legt die grundlegenden Rechte und Prinzipien für menschenwürdige Arbeits- und Lebensbedingungen an Bord von Schiffen fest. Vor diesem Hintergrund bin ich sehr zufrieden damit, dass wir die Umsetzungsgesetzge- bung – in unserer Regierungsverantwortung – nunmehr zum Abschluss bringen. Die Bundesregierung hat mit dem umfangreichen Re- gelwerk ein wichtiges und gutes Gesetz vorgelegt. Wir haben intensive Beratungen unter Beteiligung aller be- troffenen Akteure geführt, haben kritische Detailfragen aufgegriffen und diese überwiegend einvernehmlich ab- gestimmt. Nachjustierungen, die aus Sicht der Koali- tionsfraktionen nötig waren, sind erfolgt. Für entspre- chende Änderungen hat sich auch der Ausschuss für Arbeit und Soziales mehrheitlich ausgesprochen. Die wesentlichen Nachbesserungen betreffen etwa die Regelung über die Verantwortung des Reeders. Hier gibt es nunmehr eine Klarstellung, dass der Reeder für die Einhaltung der Bestimmungen des Seearbeitsgesetzes auch in Bezug auf diejenigen Besatzungsmitglieder ver- antwortlich ist, die vertraglich an einen anderen Arbeit- geber als den Reeder gebunden sind. Des Weiteren ist das Offshorepersonal – das sind die auf See zur Errichtung von baulichen Anlagen eingesetz- ten Mitarbeiter – vom Anwendungsbereich des Gesetzes ausgenommen. Um Mehrfachbegehungen auszuschließen, sind die Kontrollintervalle zur Überprüfung von seearbeits- und schiffssicherheitsrechtliche Vorschriften sowie betref- fend die Überprüfung der medizinischen Ausstattung und der medizinischen Räumlichkeiten geändert und harmonisiert worden. Weitere wichtige Änderungen betreffen die Arbeits- zeitvorschriften. Bei einer engen Abfolge von Häfen ist künftig eine höhere Wochenarbeitszeit möglich, die – und das haben mir die Gespräche mit den Experten be- stätigt – durchaus auch im Interesse der Seeleute liegen, die so durch geleistete Überstunden ihre Heuer erhöhen können. Gleichzeitig wird damit den Bedürfnissen der Reeder nach Flexibilität in Fällen, die einen besonderen Arbeitseinsatz erfordern, hinreichend Rechnung getra- gen. Mehr Flexibilität bringt zudem die Tariföffnungs- klausel, die eine Abweichung bei der Mindestruhezeit durch Tarifvertrag erlaubt und künftig für alle Schiffe und nicht nur für Bergungsfahrzeuge und Schlepper gilt. Alle diese Änderungen haben noch einmal zu einer Optimierung des Gesetzentwurfs beigetragen, und so werden wir heute über ein gutes Gesetz abstimmen, mit dem wir künftig für gleiche Ausgangsbedingungen auf internationaler Ebene für alle Flaggen und für alle See- leute sorgen. Dafür möchte ich mich auch einmal aus- drücklich bei allen an den Verhandlungen Beteiligten für die gute und zielorientierte Zusammenarbeit bedanken. Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung und Regulierung einer Honorarbe- ratung über Finanzinstrumente (Honoraranla- geberatungsgesetz) (Tagesordnungspunkt 19) Ralph Brinkhaus (CDU/CSU): Wir bringen heute in erster Lesung das Gesetz zur Förderung und Regulierung einer Honorarberatung über Finanzinstrumente – oder etwas kürzer: das Honoraranlageberatungsgesetz – in den parlamentarischen Prozess ein. Die Bundesregierung hat in ihrem Beitrag bereits aus- führlich den Inhalt des Gesetzentwurfes erläutert. Ich möchte nur noch einmal ausdrücklich das Ziel und den Zweck dieses Regulierungsvorhabens unterstreichen. Mit dem Gesetz wollen wir die rechtlichen Rahmenbe- dingungen für eine honorarbasierte Anlageberatung 27706 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 (A) (C) (D)(B) schaffen. Wir etablieren damit das Berufsbild Honorar- anlageberater als gleichwertiges Berufsbild neben der provisionsbasierten Anlageberatung und knüpfen an ein gleich hohes Regulierungsniveau an, das wir zuvor auch für die provisionsbasierte Anlageberatung geschaffen haben. Honorarberatung gibt es in Deutschland schon länger. Bisher hat sie sich – aus verschiedenen Gründen – am Markt nicht durchsetzen können. Im Vergleich zur provi- sionsbasierten Anlageberatung ist ihr Marktanteil sehr gering. Mit der Etablierung des Berufsbildes durch den vorliegenden Gesetzentwurf gehen wir einen wichtigen Schritt. Wir schaffen damit die Rahmenbedingungen für eine Stärkung der Honorarberatung und eine stärkere Wahrnehmung und Akzeptanz bei Anlegern. In den letzten Jahren haben wir in der christlich-libe- ralen Koalition in verschiedenen Regulierungsvorhaben – ich denke da zum Beispiel an das Anlegerschutz- und Funktionsverbesserungsgesetz und das Finanzanlagenver- mittlergesetz – dafür Sorge getragen, dass Anlageberater, die provisionsbasierte Beratung anbieten, bestimmte Pflichten einzuhalten haben: Sie müssen Wohlverhal- tenspflichten einhalten, sie müssen sich registrieren, sie müssen ihre Sachkunde nachweisen, sie müssen eine Be- rufshaftpflichtversicherung abschließen usw. Damit ha- ben wir eine ganze Reihe von Maßnahmen umgesetzt, die das Qualitätsniveau bei der Anlageberatung – unab- hängig davon, ob diese durch einen Bankberater oder ei- nen freien Finanzanlagenvermittler erfolgt – erheblich erhöht haben. Das Gleiche muss nun natürlich auch für Honorarbe- rater gelten, um hier ein entsprechendes, qualitativ hohes Niveau zu schaffen und den Verbraucherschutz zu stär- ken. Die Qualität der Beratung muss sichergestellt wer- den, unabhängig davon, ob sie von einem Honorarbera- ter oder einem Provisionsberater durchgeführt wird. Daher müssen wir die gleichen Anforderungen an die Sachkunde, Aufsicht, Haftpflicht etc. stellen wie bei al- len anderen Anlageberatern auch. Und genau das haben wir mit unserem Gesetzentwurf vorgelegt. Ziel und Zweck unseres Gesetzentwurfs ist ausdrück- lich nicht, einer Form der Anlageberatung den Vorzug vor der anderen zu geben. Ich persönlich halte überhaupt nichts davon, den Anlegern vorzuschreiben, welchen Weg der Anlageberatung sie wählen sollen. Ich bin nach- haltig davon überzeugt, dass es falsch ist, die provisions- basierte Beratung zu verteufeln und die Honoraranlage- beratung per se als Allheilmittel gegen Falschberatung anzupreisen. Beide Anlageberatungsformen haben ihre Vor- und Nachteile und bergen ihre entsprechenden Risi- ken und Chancen. Jeder Anleger muss letztendlich für sich entscheiden können, welche Form der Anlagebera- tung er bzw. sie für die geeignetste hält, seinen bzw. ih- ren Bedürfnissen gerecht zu werden. Es liegt jedoch an uns, die Grundlagen so zu legen, dass beide Berufsbilder gleichberechtigt und wertungsfrei nebeneinander eta- bliert sind und der Weg dafür geebnet ist, dass jeder An- leger diese Entscheidung vollkommen unabhängig und eigenständig für sich treffen kann. Das Produkt bzw. die Form der Anlageberatung muss sich dann selbstverständlich alleine am Markt durchset- zen. Hier bin ich ein großer Befürworter von „Angebot und Nachfrage“. Voraussetzung dafür ist, dass die Ange- botsbedingungen vergleichbar sind. Und dafür schaffen wir jetzt bessere Voraussetzungen, als es sie bisher für Anbieter von Honorarberatung gab. Das ist allemal fai- rer und besser, als die Honorarberatung durch „Anreiz- programme“ gegenüber anderen Beratungsformen zu privilegieren. Es liegt nun auch an den Honorarberatern selbst, ihre – dann hoffentlich qualitativ hochwertige – Dienstleistung entsprechend am Markt zu positionieren. Nun mag man sich fragen, warum wir hier national mit einer Regelung voranschreiten, die in vergleichba- rer Weise mit der Neufassung zur MiFID-Richtlinie, MiFID 2, auf europäischer Ebene geplant ist. Natürlich hätten wir hier auch warten können, bis MiFID 2 in Kraft tritt. Leider ist aber hier nicht einmal absehbar, wie lange die Verhandlungen auf europäischer Ebene noch andauern werden; und so lange wollten wir dann doch nicht warten. Die Erfahrungen mit den immer noch nicht erfolgten Umsetzungen von Basel III und Solvency II haben uns da sehr vorsichtig gemacht. Wir haben aber versucht, mit unserem Vorschlag die voraussichtlichen MiFID-2-Lösungen weitgehend zu an- tizipieren. Trotzdem werden nach Abschluss der MiFID-2- Verhandlungen Anpassungen notwendig sein. Schon deshalb kann dieses Gesetz auch nur ein erster Schritt sein. Langfristig besteht durchaus noch Potenzial zur Wei- terentwicklung der Honorarberatung: So wäre es wün- schenswert, ein Regelungswerk für eine einheitlich regulierte und überwachte Allfinanzhonorarberatung in- klusive der Honorarberatung im Versicherungsbereich auf den Weg zu bringen. Auf dem Weg dahin sind aber noch viele Fragen zu klären. So müssen wir uns dann auch mit dem äußerst heiklen Komplex des Provisions- abgabeverbotes im Versicherungsbereich beschäftigen. Wir müssen darüber hinaus beispielsweise die Regelung der steuerlichen Behandlung der Honorarberatung im Vergleich zur Provisionsberatung im Auge behalten. Das wird aber alles seine Zeit brauchen. Es bleibt also auch nach diesem Gesetz noch einiges zu tun. Wir sind aber davon überzeugt, dass wir mit dem jetzigen Entwurf eine gute erste Grundlage geschaffen haben, die die Honorarberatung auch kurzfristig als Al- ternative zur provisionsbasierten Beratung weiter eta- blieren wird. Wir freuen uns auf die weiteren Beratungen des Ge- setzentwurfs und auf Ihre konstruktive Mitarbeit. Dr. Carsten Sieling (SPD): Am Dienstag dieser Wo- che hat sich in Deutschland ein ausgewachsener Justiz- krimi abgespielt. 1 200 Polizisten und Staatsanwälte durchsuchten die noble Firmenadresse der S&K Immo- bilienholding in Frankfurt. Der ungeheuerliche Ver- dacht: Mittels eines Schneeballsystems wurden Hun- derte Anlegerinnen und Anleger um ihr Geld betrogen. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 27707 (A) (C) (D)(B) Möglicher Schaden: 100 Millionen Euro. Der Fall wird die Gerichte wohl noch lang beschäftigten. Wieder einmal stehen Teile der Finanzbranche mit ih- ren windigen Produkten und undurchsichtigen Vertriebs- wegen am Pranger und im Fokus der Öffentlichkeit. Wieder einmal fragt man sich: Wie kann so etwas im Jahr fünf nach der Lehman-Pleite mitten in Deutschland noch möglich sein? S&K heute, Lehman, Phoenix, Kauphting gestern – die Liste ließe sich fortsetzen. Wann endlich können wir verhindern, dass Kleinanlegerinnen und Kleinanleger auf Betrüger hereinfallen oder falsch bzw. unpassend be- raten werden? Wann endlich werden schlicht Finanzpro- dukte verkauft, die ihrer persönlichen und finanziellen Lage entsprechen? Viele Konzepte liegen dazu auf dem Tisch. Die SPD- Bundestagsfraktion hat in den letzten Jahren dazu eine Reihe von Vorschlägen gemacht. Wir haben uns kon- struktiv an den Debatten beteiligt und Alternativen auf- gezeigt. Ich will nur ein paar Stichworte nennen: Schaf- fung von Marktwächtern, eine einheitliche Aufsicht bei der BaFin, standardisierte Produktinformationsblätter und die Etablierung der Honorarberatung, über die wir heute sprechen. Passiert ist bisher allerdings wenig. Heute ist Finanzvermittlung in Deutschland noch häu- fig provisionsgetrieben. Den 250 000 Vermittlern, die auf Provisionsbasis tätig sind, stehen nur wenige Hundert Honorarberater gegenüber. Von Gleichberechtigung kann da keine Rede sein. Der Markt setzt hierzu auch den An- reiz, da er die Beratungsleistung nicht in den Mittelpunkt stellt, sondern das Entgelt des Vermittlers an den Ab- schluss des Geschäfts bindet. Provisionsberatung ist zu- dem wenig transparent und kann zu Interessenkonflikten zwischen den Wünschen der Anlegerinnen und Anleger einerseits und dem Verkaufsdruck der Vermittler anderer- seits führen. Viele Anlegerinnen und Anleger glauben überdies, die Provisionsvermittlung sei kostenlos. Dabei sind ihre versteckten Kosten teils enorm: Schnell sind die Ver- triebskosten einer privaten Rentenversicherung bei 1 400 bis 2 500 Euro. Doch welcher Anleger weiß das, wenn er seine Unterschrift auf den Vertrag setzt? Die Bundesregierung legt nun mit dem Entwurf eines Honoraranlageberatungsgesetzes ihr Konzept für dieses überaus wichtige Thema vor. Ich habe selten ein so am- bitionsloses Vorhaben der Regierung in Sachen Finanz- marktregulierung wie diesen Vorschlag gesehen. Selbst hinter den dürftigen Eckpunkten zur Honorarberatung von Verbraucherschutzministerin Aigner, die sie schon vor fast zwei Jahren vorgestellt hat, bleibt dieser Gesetz- entwurf weit zurück. Das auffällige Schweigen von Frau Aigner zu diesem Vorstoß aus dem Hause Schäuble ist da übrigens vielsagend genug. Ich prophezeie Ihnen: Mit diesem Gesetzentwurf wird die Honorarberatung in Deutschland weiter ein Nischen- dasein fristen müssen. Sie hätte alles Zeug zum Trend- setter; nun bleibt sie eine Subkultur im Finanzvertrieb. Das will ich an drei Punkten deutlich machen: Erstens. Die Bundesregierung schafft ein untaugli- ches und verzerrendes Berufsbild für die Honorarbera- tung. Dabei ist die Etablierung eines Berufsbildes der Dreh- und Angelpunkt einer tauglichen Regulierung. Oberste Prämisse muss die Transparenz sein. Für die SPD gilt: Wer Provisionen erhält, vermittelt, wer auf Ho- norarbasis tätig ist, der berät. Das muss sich auch in den Bezeichnungen niederschlagen. Und die Realität im Gesetzentwurf? Bei dem Pro- duktvertrieb in Banken ist es künftig nur solchen Perso- nen erlaubt, die Bezeichnung „Honoraranlageberater“ zu führen, die ausschließlich auf Honorarbasis tätig sind. Das klingt auf den ersten Blick überzeugend. Nur: Der Begriff „Beratung“ selbst wird gerade nicht geschützt. Stattdessen darf sich weiter auch der auf Provisionsbasis Tätige „Berater“ nennen. Das führt die Anlegerinnen und Anleger bewusst in die Irre; denn bei der Vermitt- lung ist die Beratung nur eine Nebenpflicht. Es herr- schen zudem ganz andere Anforderungen an die Bera- tung. Noch schlimmer sieht es aber aus, würden die Pläne der Bundesregierung für die freien Finanzanlagenver- mittler Realität, also für Personen, die außerhalb von Banken Finanzprodukte vermitteln. Hier ist es nicht ein- mal verboten, gleichzeitig auf Honorarbasis und Provi- sionsbasis tätig zu sein. In der Praxis wird die betreffende Person damit im Zweifel über zwei gewerberechtliche Er- laubnisse verfügen: einmal als „Finanzanlagenvermitt- ler“, mit der Provisionsempfang möglich ist, zusätzlich demnächst auch als „Honorar-Finanzanlagenberater“. Von Kunde zu Kunde könnte so das Firmenschild oder, zugespitzt, seine Visitenkarte ganz legal gewech- selt werden. Diese sogenannten Mischmodelle treiben die Intransparenz auf die Spitze. Wie soll ein Anleger noch wissen, ob sein Gegenüber ausschließlich im Inte- resse der Kunden handelt? Es ist völlig unverständlich, warum die Bundesregierung diese begriffliche Konfu- sion ermöglichen will. Die Pläne der Bundesregierung entsprechen damit üb- rigens auch wenig der europäischen Finanzmarktrichtli- nie MiFID, die derzeit in Brüssel diskutiert wird. Eine Anlageberatung ist hiernach unabhängig, wenn eine aus- reichende Anzahl von auf dem Markt angebotenen Fi- nanzprodukten bewertet wurde und für die Erbringung der Dienstleistung an die Kunden keinerlei Gebühren, Provisionen oder andere monetäre Vorteile einer dritten Partei oder einer Person, die im Namen eines Dritten handelt, vereinnahmt werden. Dieser Grundsatz sollte auch für die nationale Rege- lung der Honorarberatung Geltung erreichen. Hiernach darf ein Honorarberater nicht auch als provisionsvergüte- ter Vermittler/Makler auftreten. Diesem Anspruch wird der vorliegende Gesetzentwurf nicht gerecht. Nicht, dass Missverständnisse auftreten: Ein Honorar- berater muss Produkte, zu denen er beraten hat, auch verkaufen dürfen – dann selbstverständlich ohne Provi- sionen. Es wäre auch unsinnig, wenn der Berater am Ende des Beratungsgespräches dem Kunden sagen 27708 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 (A) (C) (D)(B) müsste, er solle doch jetzt zum Vermittler gehen, bei dem er im Übrigen noch Provisionen zahlt. Die Vorschläge der Bundesregierung zum Berufsbild Honorarberatung sind strikt abzulehnen. Auch der Bun- desrat fordert in diesem Zusammenhang übrigens deutli- che Verbesserungen. Zweitens. Die Bundesregierung will mit diesem Ge- setzentwurf die Provisionsdurchleitung erlauben. Damit müssten Honoraranlageberater künftig das Geld, das sie von Anbietern erhalten, an die Kunden weiterleiten. Auch das ist der falsche Weg. Seien wir doch einmal ehrlich: Welcher Anleger wird dann bei seiner Anlageentschei- dung nicht auch mit einem Seitenblick darauf schauen, welcher Kauf die höchste Durchleitung bringt? Das sind Fehlanreize, die sich vermeiden lassen, wenn man klar trennt: Honorarberater dürfen keine Provisionen anneh- men, weiterleiten oder durchreichen. Hier muss im Ge- setzentwurf nachgearbeitet werden. Die andere Seite der Medaille ist dann übrigens, dass die Anbieter verpflichtet werden, provisionsfreie Pro- dukte anzubieten. Solche sogenannten Nettotarife sind möglich und hat die SPD schon länger gefordert. Drittens. Der Gesetzentwurf ist nicht nur ein Rumpf an sich, er gilt auch nur für einen Bruchteil von Finanz- beratungen. Der Verkauf von Bausparverträgen, Kredi- ten und Sparprodukten wird von dem vorliegenden Ent- wurf erst gar nicht erfasst. Dabei muss Honorarberatung alle Finanzprodukte umfassen. Wie soll der Berater die Bedürfnisse, Probleme und Anliegen der Kunden umfas- send bewerten und Lösungen entwickeln, wenn er nur auf einen kleinen Teil der Produktgruppen beschränkt ist? Wie kann ein Beratungsgespräch zum Beispiel zur Altersvorsorge ohne die Einbeziehung von Bausparver- trägen anleger- und anlagegerecht sein? Die Antwort bleibt der Entwurf schuldig. Hier muss dringend nachge- bessert werden. Klar ist, dass es nicht reichen wird, nur auf die Hono- rarberatung zu hoffen. Auch in der Säule der Provisions- beratung selbst muss sich etwas tun. Vor allem braucht es umfassende Transparenz über fließende Provisionen und versteckte Kosten. Schon diese kurze Aufzählung zeigt, dass dieser Ge- setzentwurf ein untauglicher Versuch der Bundesregie- rung ist, den provisionsgetriebenen Markt im Interesse der Verbraucherinnen und Verbraucher zu verändern. Einmal mehr bleiben sie so auf der Strecke. Björn Sänger (FDP): Honorarberatung gilt vielen als Königsweg zur Vermeidung von Falschberatung. Provisionszahlungen und Vertriebsdruck werden als Ur- sachen für mangelhafte Anlegerberatung durch Banken ausgemacht. Statt des Verkäufers soll der Honorarberater unabhängige Beratung zum Wohle des Verbrauchers ge- währleisten. Diese Schwarz-Weiß-Malerei finde ich im Namen meiner Fraktion gefährlich. Aber zunächst die Frage: Worum geht es uns eigent- lich? Die Europäische Kommission hat inzwischen in ihrem Vorschlag zur Neufassung der EU-Finanzmarkt- richtlinie MifID ein Verbot der Provisionszahlungen ins Spiel gebracht. Die Niederlande und Großbritannien haben diesen Weg bereits beschritten, und auch die christlich-liberale Koalition sieht Honorarberatung als eine sinnvolle Ergänzung. Für die christlich-liberale Koalition steht fest: Wir wollen den Anleger besser schützen. Deshalb haben wir auch bereits wichtige Schritte unternommen. Mit dem Gesetz zur Stärkung des Anlegerschutzes und zur Ver- besserung der Funktionsfähigkeit des Kapitalmarkts, Anlegerschutzgesetz, haben wir Beratungsprotokolle und Produktinformationsblätter zur Pflicht gemacht und die Sanktionsregelungen bei Falschberatungen ver- schärft, und dies nicht nur für Banken, sondern auch für den Bereich freier Vermittler und des grauen Kapital- marktes. Wir haben das Verbot ungedeckter Leer- verkäufe umgesetzt und damit hochspekulative Anlage- formen vom Markt genommen. Nun sehen wir auch Handlungsbedarf für mehr Trans- parenz und mehr Anlegerschutz bei Fragen der Beratung und Vermittlung. Wir wollen somit das eingeschlichene Vertriebsproblem anpacken und die Berater wieder vertrauenswürdiger machen. Verbraucher sollten die Möglichkeit haben, zwischen verschiedenen Beratungs- formen eine für die eigenen Zwecke am besten geeignete wählen zu können: Wollen sie lieber einen kostenfreien Verkäufer aufsuchen oder einen unabhängigen Honorar- berater kontaktieren? Die FDP-Fraktion sieht den Verbraucher am besten geschützt, wenn ihm das Bezahlmodell transparent ist und er wählen kann, ob er provisions- oder honorar- basiert beraten werden möchte. Das Konzept einer pro- visionsunabhängigen Beratung sollte daher dort gesetz- lich verankert werden, wo dies heute noch nicht der Fall ist und Produkte ohne Ausgabeaufschlag oder Provision angeboten werden. Wir legen ausdrücklich darauf Wert, dass die Honorarberatung keinesfalls verpflichtend aus- gestaltet sein wird. Ziel soll es sein, für Verbraucherinnen und Verbrau- cher einen gesetzlichen Rahmen für ein erweitertes Angebot an Beratungsmöglichkeiten über Finanzinstru- mente im Sinne des Wertpapierhandelsgesetzes in der Fassung des Gesetzes zur Novellierung des Finanzanla- gevermittler- und Vermögensanlagenrechts zu schaffen. Hierfür sollen im Vorgriff auf die MiFID-Richtlinie rechtliche Rahmenbedingungen für eine honorarbasierte Anlageberatung geschaffen werden, die den Verbrauche- rinnen und Verbrauchern als alternatives Angebot zur provisionsbasierten Anlageberatung und Vermittlung zur Verfügung stehen soll. Honorarbasierte Anlageberatung soll demnach nur derjenige durchführen dürfen, der bei der Anlagebe- ratung einen ausreichenden Marktüberblick zugrunde legen kann und sich die Erbringung der Beratungsleis- tung allein durch Zuwendungen des Kunden entgelten lässt. Vielmehr soll es eine Option von provisionsunab- hängiger Honorarberatung geben, die schrittweise sämt- liche Finanzprodukte einbeziehen soll. Dabei können auf lange Sicht die drei Bereiche Finanzanlagevermittlung, Darlehensberatung und Versicherungsberatung mit ihren Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 27709 (A) (C) (D)(B) jeweils unterschiedlichen Regelungskreisen berücksich- tigt werden. Mit einer schrittweisen Einführung der Honorarbera- tung zunächst im Bereich der Finanzanlageberatung sehen wir daher einen sinnvollen Ansatz zu noch mehr Aufklärung und Wahlfreiheit der Verbraucher. Im Versi- cherungsbereich haben wir mit dem Versicherungsbera- ter bereits heute die Option der Honorarberatung. Inwie- weit die Palette von provisionsfreien Angeboten noch erweitert werden kann, wird sich zeigen. Hier ist die Versicherungsvermittler-Richtlinie abzuwarten, die sich dieses Themas annimmt. Das Qualifikationsniveau soll sich an den schon gel- tenden Regeln für Finanzvermittler- und Bankberater orientieren. Die Zulassung zum Versicherungsberater ist dabei Vorbild, wenn die Zulassung eines provisions- unabhängigen Finanzanlageberaters nach der GewO ge- regelt werden wird. Die Qualifikationsanforderungen entsprechen denen der Finanzanlagevermittlerverord- nung. Parallel dazu ist die Option der provisionsunab- hängigen Beratung im Wertpapierhandelsgesetz zu verankern. So soll neben der ausschließlichen Vergütung durch den Kunden auch eine Vermittlung des empfohle- nen Produktes möglich sein. Erhält der Berater für die Vermittlung Provisionen, so wären diese an den Anleger auszukehren. Ebenso wird die Vergütung des Beraters nicht anhand einer Gebührenordnung oder von etwas Ähnlichem gemessen. Jedoch können wir als FDP-Fraktion auch nur im Rahmen des rechtlich Möglichen agieren und vorberei- ten. So hätte eine Durchleitung der Provision durch den Versicherungsberater rechtliche Folgen, die so nicht ge- wünscht werden können. Die Versicherungssteuer auf die Prämie würde sich insofern verringern. Zudem muss durchaus erst die Gestaltung der Versicherungsvermitt- ler-Richtlinie abgewartet werden. Insofern haben wir bezüglich der MiFID auch allein den Vorgriff auf einen unabhängigen Berater bezüglich bankbezogener Instru- mente sowie bezüglich Wertpapiergeschäfte gewagt. Alles in allem kann Honorarberatung zwar den Wett- bewerb zwischen den Beratern und den Beratungsfor- men beleben und damit auch von Vorteil für die Anleger sein. Zum effizienten Verbraucherschutz braucht es aber einen sinnvollen Rechtsrahmen ebenso wie die Einsicht, dass auch ein Honorarberater kein Allwissender ist. Harald Koch (DIE LINKE): Viele viele Monate nach seiner Ankündigung liegt nun endlich der lang ersehnte Gesetzentwurf zur Honorarberatung vor. Doch das War- ten hat sich leider nicht gelohnt. Der Entwurf ist Stück- werk, handwerklich teilweise unsauber gemacht, und er geht insgesamt an den Bedürfnissen der Verbraucherinnen und Verbraucher vorbei. Ende Dezember 2012 zeigte das Gutachten eines Bamberger Finanzwissenschaftlers, dass deutschen Ver- brauchern jährlich ein Verlust von mindestens 50 Mil- liarden Euro durch Falschberatung von Banken und Fi- nanzdienstleistern entsteht. Das ist ein Skandal. Schuld daran ist die immer noch dominierende provisionsgetrie- bene Beratung und Vermittlung. Die Linke will dagegen unabhängige Beratung, also auch Honorarberatung, wirklich stärken. Der vorliegende Gesetzentwurf tut dies entgegen sei- nes Titels nicht, was ich an drei zentralen Punkten ver- deutlichen möchte. Erstens wird kein klar geregeltes, umfassendes Be- rufsbild des Honorar- oder Finanzberaters geschaffen. Man unterscheidet zwischen Anlageberatern, Honorar- anlageberatern nach dem Wertpapierhandelsgesetz und gewerblichen Honorar-Finanzanlagenberatern. Die bei- den letztgenannten Berufsbilder werden mit dem Gesetz- entwurf neu geschaffen. Eine Einstufung erfolgt dort nach den Produkten, zu denen beraten werden darf. Dies kann aber kein Verbraucher nachvollziehen und schafft noch mehr Intransparenz. Verbraucher müssen vorab er- kennen können, welche Art von Geschäftsbeziehung sie eingehen. Ich fordere verpflichtende Bezeichnungen nach dem Grundsatz: Jeder, der Provisionen erhält, ist ein Vermittler, also Verkäufer, jeder, der unabhängig auf Ho- norarbasis tätig ist, ist ein Berater. Letztere dürfen aus- schließlich die Bezeichnung „Beraterin“ oder „Berater“ führen. Vermittler müssen hingegen „Provision“ in ihrer Tätigkeitsbezeichnung erwähnen. Für mehr Klarheit hätte auch gesorgt, die gesamte Honorarberatung in ei- nem eigenständigen Gesetz zu regeln. Zweitens wird kein ganzheitlicher Beratungsansatz gestärkt. Honoraranlageberater und Honorar-Finanzan- lagenberater dürfen nicht zu den gleichen Finanzinstru- menten beraten. Insgesamt dürfen beide nur auf einen eingeschränkten Kreis von Finanzinstrumenten zurück- greifen. Versicherungspolicen, Festgeld und Bausparver- träge bleiben zum Beispiel außen vor. Dies ist aus Sicht der Linken der falsche Weg. Ein Honorarberater muss aus dem gesamten Spektrum von Finanzinstrumenten optimale individuelle Lösungen für seine Kunden bereitstellen können. Eine Einschrän- kung der freien Auswahl macht das Alleinstellungsmerk- mal gegenüber der Vermittlung zunichte. Finanzberatung muss von den Bedürfnissen der Verbraucher ausgehen, nicht von Finanzinstrumenten. Ich fordere deshalb, per- spektivisch eine gemeinsame Zulassung aller Honorar- berater zu allen Finanzinstrumenten zu schaffen. Drittens wird eine Aufsichtsarbitrage verfestigt. Es stellt sich das gleiche Problem wie schon beim Finanzanla- genvermittler- und Vermögensanlagengesetz aus dieser Wahlperiode. Honorar-Finanzanlagenberater sollen durch die Gewerbeämter beaufsichtigt werden. Wohingegen die BaFin Honoraranlageberater beaufsichtigt. Gewerbe- ämter sind mit Aufsicht und Kontrolle jedoch überfordert. Die Industrie- und Handelskammer als Zulassungsstelle steckt zudem als Vertreterin von Gewerbetreibenden in einem Interessenskonflikt. Eine Kontrolle von Frittenbu- den, Nichtraucherschutz und Finanzinstrumenten ist nicht sinnvoll unter einen Hut zu bringen. Schluss mit dem Flickenteppich! Ich fordere eine kompetente, län- derübergreifend einheitliche Aufsicht durch die BaFin. Bei Umsetzung einer einheitlichen BaFin-Aufsicht müs- sen wir jedoch aufpassen, dass unter anderem aufgrund der hohen Kosten für eine Erlaubnis nach dem Kreditwe- 27710 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 (A) (C) (D)(B) sengesetz kleine und mittelständische Berater nicht vom Markt gedrängt werden. Es liegt noch einiges mehr im Argen bei diesem Ge- setzentwurf: So können beispielsweise Banken weiterhin Provisions- und Honorarberatung unter einem Dach anbieten. Wo es Honorarberatung gibt, sollte es aber keine Vermittlung auf Provisionsbasis geben. Eine organisatorische und funktionale Trennung in ein und demselben Unterneh- men ist kaum möglich. Diese Chinese Walls werden nicht halten. Die Interessenskonflikte wären schlicht zu gravierend. Es ist für mich des Weiteren ganz wichtig, auszu- schließen, dass Honorarberater gleichzeitig als Vermitt- ler tätig werden können, egal über welche Ecken und Tricks auch immer. Ferner ist es laut Gesetzentwurf nicht einmal verbo- ten, dass ein Honorarberater ein konzerneigenes Finanz- instrument empfiehlt, an dem er letztlich über Provisio- nen mitverdienen kann. Offenlegungspflichten reichen hier bei weitem nicht aus. Wenn Honorarberater für ein empfehlenswertes, aber nicht provisionsfrei erhältliches Finanzinstrument Zuwendungen erhalten, sollen sie diese „unverzüglich und ungemindert“ auskehren. Dies ist doch für Verbraucher überhaupt nicht kontrollierbar. Die Stellungnahme des Bundesrates zielt in die rich- tige Richtung, wenn dort unter anderem gefordert wird, das Aufstellen von Vertriebsvorgaben für die Honorar- anlagenberatung generell zu untersagen. Ich unterstütze ebenfalls die Forderung, für alle Finanzinstrumente ver- pflichtend Nettotarife auszuweisen, um eine objektivere Vergleichbarkeit sicherzustellen. Wie man es auch dreht und wendet, zeigt sich in dem Gesetzentwurf einmal wieder das grundlegende Pro- blem: Solange es erlaubt ist, Finanzinstrumente gegen Provision zu verkaufen, ist die Gefahr der Falschbera- tung immens hoch. Denn Provisionen schaffen Anreize, den Verbrauchern teure und oftmals riskante, dafür un- passende Produkte aufzudrängen. Provisionen sind für Berater und Vermittler das, was die Sirenengesänge für Seefahrer in der griechischen Mythologie waren. So kann Beratung aber nie vollends unabhängig sein. Würde provisionsgetriebene Vermittlung nicht mehr be- stehen, hätten sich etliche Probleme, die diesem Gesetz- entwurf zu eigen sind, bereits erledigt. Deshalb fordern wir die Überwindung provisionsge- triebener Finanzdienstleistungen. Gute Beratung, nicht das Entgelt, muss ins Blickfeld rücken, eine Beratung, die sich am Bedarf, der individuellen Situation und der Lebenswirklichkeit der Anleger orientiert, eine wirklich unabhängige Beratung, die auch keine Frage des Geld- beutels sein darf. Dafür müssen die Verbraucherzentra- len und die Honorarberatung nachhaltig gestärkt werden. Gerade Verbraucherzentralen müssen personell und fi- nanziell besser in die Lage versetzt werden, ihr Angebot besonders für einkommensschwache Haushalte aus- bauen zu können. Ergänzend zur staatlichen Regulierung muss man die Verbraucherzentralen auch als Finanz- marktwächter etablieren. Begleitend brauchen wir eine Verbraucherschutzbehörde, die einen Finanz-TÜV ent- wickelt, mit dem Finanzmarktakteure und -instrumente vor ihrer Zulassung auf volkswirtschaftliches Risiko- potenzial und Verbraucherfreundlichkeit geprüft werden. Die Bundesregierung geht ihrer Klientel der provi- sionsgetriebenen Vermittler nicht an den Pelz. Dank ihres Placeboentwurfs wird die Honorarberatung weiterhin ein Mauerblümchendasein fristen. Ihre Politik ist verhee- rend, weil sie wirklich unabhängige Beratung nicht nach vorne bringen will und damit den Verbrauchern weiter- hin enormen finanziellen Schaden zufügt. Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es ist kein Wunder, dass die Koalition diese Debatte ganz hin- ten auf der Tagesordnung versteckt: Der vorliegende Gesetzentwurf ist nämlich nichts anderes als ein Hono- rarberatungsverhinderungsgesetz. Er ist so konstruiert, dass er den Verdacht nährt, dass damit die Honorarbera- tung als Alternative für ratsuchende Kunden disqualifi- ziert und für erfolgreiche Anbieter, die ein Interesse daran haben, zur Honorarberatung zu wechseln, unat- traktiv gemacht werden soll. Welcher Makler oder welche Bank sollte auf Grund- lage dieses Entwurfs in die Honorarberatung einsteigen? Es fehlen vernünftige Übergangsfristen, die erfolgrei- chen Unternehmerinnen und Unternehmern einen realis- tischen Umstieg von der provisions- auf die honorarfi- nanzierte Beratung möglich machen. Was soll denn eine erfolgreiche Maklerin oder Ausschließlichkeitsvertrete- rin bzw. Mehrfachagentin, welche einen Großteil ihres Einkommens aus Bestandspflegeprovisionen generiert, machen? Es kann doch nicht unser Ziel sein, nur Frisch- linge im Markt für Honorarberatung zu haben. Es fehlt eine Gleichstellung von Honoraren und Provisionen bezüglich der Abgeltungsteuer. Gezahlte Provisionen mindern die zu zahlende Abgeltungsteuer, Honorare nicht. Es fehlt die Pflicht, Nettotarife für alle Finanz- produkte inklusive Versicherungspolicen anzubieten, damit echte Vergleichbarkeit entsteht und damit der Honorarberater auch aus einem großen Angebot von Finanzprodukten für seine Kunden auswählen kann. Es fehlt eine Best-Advice-Regelung, mit der Sie den Widerspruch im Gesetz auflösen, dass Berater konzern- eigene Produkte empfehlen dürfen. Und – wahrscheinlich der gröbste Webfehler in Ihrem Entwurf –: Der Honoraranlageberater darf nur zu Pro- dukten nach WpHG beraten und ist damit eine absolute Fehlkonstruktion, die für die breite Masse der Menschen in diesem Land nicht die richtige Anlaufstelle für ihre Fragen zu Finanzthemen ist. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Eine Berufsanfängerin mit kleinem Einkommen: Was braucht die neben einem Girokonto und einem Tagesgeldkonto an Finanzproduk- ten? Eine Privathaftpflicht, eine Berufsunfähigkeitsver- sicherung, eine Riester-Rente. Darf der fiktive Berater aus ihrem Gesetzentwurf sie zu all diesen Produkten be- raten? Nein, er darf es nicht – und das ist das Problem! Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 27711 (A) (C) (D)(B) Zu allem Überfluss haben die in § 31 WpHG einge- fügten Vorschriften der Absätze 4 b Nr. 3 Satz 2 und 4 c Satz 2, die zwischen Referentenentwurf und Gesetzent- wurf eingefügt wurden, weitere unnötige Hürden aufge- baut, die die Honorarberatung für viele Anbieter unat- traktiv macht. Meine Damen und Herren, man weiß nicht, was schlimmer wäre: wenn Sie selbst auf diesen Murks ge- kommen wären oder wenn Ihnen einer der vielen Hun- dert Lobbyisten die Feder geführt hätte. Wenn es Ihnen wirklich um die Förderung der Honorarberatung für die breite Masse an Menschen und um echten Wettbewerb zwischen Provisions- und Honorarberatung geht: Nutzen Sie die Chance in den parlamentarischen Beratungen und machen Sie einen Vorschlag, der sich nicht verste- cken muss, sondern der Honorarberatung eine faire Chance gibt! Hartmut Koschyk, Parl. Staatssekretär beim Bun- desminister der Finanzen: Wir alle wissen, in welchem Ausmaß die Finanz- und Wirtschaftskrise Privatanleger und Sparer unmittelbar getroffen hat. Sie mussten wäh- rend der Finanzkrise schmerzhafte Vermögensverluste hinnehmen. Grund hierfür war nicht zuletzt auch eine ungenügende oder falsche Beratung, oft zu Anlagefor- men, die den Bedürfnissen und Zielen der Privatanleger nicht entsprochen haben. Das Vertrauen gegenüber der Finanzbranche wurde erschüttert. Mit dem vorliegenden Honoraranlageberatungsgesetz unternehmen wir einen weiteren Schritt, um dieses verlo- rene Vertrauen wiederherzustellen. Wir wollen rechtliche Rahmenbedingungen für eine honorarbasierte Anlagebe- ratung schaffen, damit der Kunde eine Alternative zur provisionsbasierten Anlageberatung und Vermittlung hat; denn wir müssen feststellen, dass reine Honorarberatung in Deutschland kaum verbreitet ist. Anlageberatung wird in Deutschland hauptsächlich in Form der provisionsge- stützten Beratung erbracht und nachgefragt. Beratungen, für die der Kunde ein Honorar zahlt, haben nur einen sehr geringen Marktanteil. Grund hierfür ist nicht zuletzt auch eine fehlende gesetzliche Verankerung – bisher auch auf europäischer Ebene. Weiter müssen wir feststellen, dass trotz der bestehen- den Pflicht zur Offenlegung der Provision Kunden oft keine Vorstellung darüber haben, wer die provisionsge- stützte Anlageberatung bezahlt. Der Kunde wird von der Vorstellung geleitet, dass der gesamte von ihm einge- setzte Betrag zur Erzielung seiner Rendite zur Verfügung steht. Für einen Großteil der Kunden ist schlicht und er- greifend die Unterscheidung zwischen provisionsge- stützter und provisionsfreier Anlageberatung nicht klar. Wir wollen daher für Transparenz sorgen. Dem Kun- den soll durch den Schutz der Bezeichnung „Honorar- anlageberatung“ klar und deutlich signalisiert werden, mit wem er es im Beratungsgespräch zu tun hat: mit ei- nem Berater, der über Provisionen vom Verkauf der empfohlenen Finanzprodukte profitiert, oder mit einem Berater, der ein Honorar für die Beratungsleistung ver- dient und nicht Provisionen für den Verkauf der Finanz- produkte erhält. Künftig darf nur derjenige diesen Begriff verwenden, der bei der Beratung einen ausreichenden Marktüber- blick zugrunde legen kann und sich die Beratungsleis- tung allein durch Zuwendungen des Kunden entgelten lässt. Darauf soll der Verbraucher vertrauen können. Die geschützte Bezeichnung können sowohl Unter- nehmen verwenden, die von der Bundesanstalt für Fi- nanzdienstleistungsaufsicht beaufsichtigt werden, als auch Unternehmen, die wegen ihres eingeschränkten Tä- tigkeitsbereichs der Gewerbeaufsicht unterliegen. Da- mit kann auch in dem auf bestimmte Finanzinstrumente beschränkten Beratungssegment eine honorargestützte Anlageberatung erbracht werden. Lassen Sie mich zum Inhalt des vorliegenden Gesetz- entwurfs kommen: Wir führen einen Bezeichnungsschutz, sozusagen ein Gütesiegel, ein. Unternehmen, die den Begriff „Honorar- anlageberatung“ verwenden wollen, müssen mehr An- forderungen als andere Anlageberater erfüllen: Sie dürfen erstens – und das ist der wichtigste Punkt – keinerlei monetäre Zuwendungen von Dritten annehmen oder behalten. Monetäre Zuwendungen, also insbeson- dere die klassischen Vertriebs- oder Bestandsprovisio- nen, dürfen nur dann angenommen werden, wenn kein vergleichbares Finanzprodukt ohne Provision erhältlich ist. In diesem Fall sind die Provisionen an den Kunden weiterzuleiten. Nicht monetäre Zuwendungen, also zum Beispiel kostenfreie Schulungen oder Tagungen, sind auf jeden Fall verboten. Zweitens muss die Honoraranlageberatung organisa- torisch, funktional und personell von der provisionsge- stützten Anlageberatung getrennt werden. Damit wird zweierlei erreicht: Es wird sichergestellt, dass es zwi- schen den beiden Bereichen keine Verflechtungen gibt, aus denen Interessenkonflikte resultieren können, und es wird gleichzeitig sichergestellt, dass auch kleine Spar- kassen und Genossenschaftsbanken die Honorarberatung in der Fläche anbieten können, wenn sie die Bereiche or- ganisatorisch trennen. Drittens verlangt der Gesetzentwurf, dass der Hono- raranlageberater Marktüberblick haben muss, das heißt, dass er seiner Beratung und Empfehlung nicht nur ei- gene oder konzerneigene Produkte zugrunde legen darf. Wenn er diese Produkte empfiehlt, muss er den Kunden über das Vorliegen eines eigenen Gewinninteresses in- formieren. Damit Kunden wissen können, wer Honorarberatung anbietet, wird schließlich ein öffentlich einsehbares Re- gister auf der Internetseite der Bundesanstalt für Finanz- dienstleistungsaufsicht bzw. bei den Industrie- und Han- delskammern eingerichtet. Hier sind die Unternehmen eingetragen, die Honoraranlageberatung erbringen wol- len. Für den Kunden besteht damit die schnelle, einfache und Transparenz schaffende Möglichkeit, diese Form der Anlageberatung gezielt nachzufragen. Das wird sowohl die Angebotsvielfalt für Kunden verbessern als auch den Markt für Honorarberater stärken. 27712 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 (A) (C) (D)(B) Die Bundesregierung sieht sich durch die Stellung- nahme des Bundesrates in ihrem Anliegen bestätigt, die Honorarberatung über Finanzinstrumente zu regeln. Auch der Bundesrat begrüßt, dass das Angebot an Bera- tungsmöglichkeiten für Anleger und Anlegerinnen er- weitert werden soll. Die Bundesregierung wird die Änderungsbitten des Bundesrates prüfen, insbesondere die mit Bezug auf die gewerberechtlichen Regelungen und die Konkretisie- rung von Begriffen. Das geplante Gesetz regelt die Honorarberatung für den Bereich der Finanzinstrumente, nicht für die Berei- che Darlehen oder Versicherungen. Das ist aus Sicht der Bundesregierung als erster Schritt auch sinnvoll, weil die Finanz- und Wirtschaftskrise in erster Linie das Ver- trauen der Anleger in die Beratung über Finanzprodukte erschüttert hat. Daher werden auch auf europäischer Ebene zunächst die Regelungen für die Beratung über Finanzprodukte neu justiert. In Europa geht man den Weg, Honorarbera- tung durch klare Regeln zu fördern und für den Anleger transparent zu machen, mit welcher Art von Beratung er es zu tun hat. Diesen Weg schlagen wir auch mit dem deutschen Gesetzentwurf ein. Im Einklang mit den Ge- setzgebungsvorschlägen der EU-Kommission in MiFID 2 sieht der Gesetzentwurf daher auch davon ab, die Provi- sionsberatung ganz zu verbieten. Wir müssen uns in einem ersten Schritt darum küm- mern, dass Honorarberatung flächendeckend angeboten wird und auch der Kunde außerhalb der Städte eine Al- ternative zur Provisionsberatung hat. Das erreichen wir nicht, indem wir kleine Sparkassen und Genossen- schaftsbanken faktisch von der Beratung ausschließen. Aus Sicht der Bundesregierung ist entscheidend, dass der Kunde vor der Beratung künftig klar erkennen kann, wie die Beratung bezahlt wird – durch Provision im Fall eines Geschäftsabschlusses oder durch Honorar unab- hängig von einem Geschäftsabschluss. Der Kunde kann dann entscheiden, ob er bereit ist, für die Beratung ein Honorar zu zahlen, oder ob er dazu nicht bereit ist. Wenn der Kunde dann eine Honorarbera- tung in Anspruch nehmen will, kann er im geplanten Re- gister nachsehen, wer Honorarberatung anbietet. Damit stärken wir nicht nur die Wahlmöglichkeiten des Kun- den, sondern fördern auch die Honorarberatung als Al- ternative zur provisionsgestützten Anlageberatung. Als Fazit bleibt festzuhalten, dass wir mit dem vorlie- genden Entwurf eines Honoraranlageberatungsgesetzes einen weiteren wichtigen Beitrag im neuen Ordnungs- rahmen für die Finanzmärkte leisten und damit unter- streichen, dass die effektive Regulierung der Finanz- märkte ein zentrales Ziel dieser Bundesregierung ist. Die parlamentarische Unterstützung dieses Gesetzge- bungsverfahrens liegt vor dem Hintergrund unseres ge- meinsamen Zieles im Interesse aller. Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes über die Statistik der Bevölkerungsbewegung und die Fortschreibung des Bevölkerungsstandes (Be- völkerungsstatistikgesetz – BevStatG) (Tages- ordnungspunkt 20) Michael Frieser (CDU/CSU): Der Gesetzentwurf zum Bevölkerungsstatistikgesetz, den wir heute in zwei- ter und dritter Lesung verabschieden wollen, klingt auf den ersten Blick wenig aufregend. Bevölkerungsstatistik scheint auf den ersten Blick eine recht trockene Materie zu sein. Wer sich aber, wie ich es als Berichterstatter ge- tan habe, länger mit dem Thema beschäftigt, merkt recht schnell, dass selbst bei diesem Thema durchaus einige zu lösende Fragen aufkommen, bei denen es nicht nur auf die Beachtung bereits geltender Gesetze, sondern durchaus auf politischen Gestaltungswillen ankommt. Worum geht es eigentlich, und warum brauchen wir dieses Gesetz? Auch hier gilt der schöne Satz: Politik be- ginnt mit der Betrachtung der Realität. – Genau darum geht es beim Bevölkerungsstatistikgesetz: um die Be- trachtung der Realität. Das bisher geltende Bevölke- rungsstatistikgesetz stammt aus dem Jahr 1957. Seitdem wurden Änderungen stets nur auf das jeweils Notwen- dige beschränkt. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll nun jedoch das bestehende und in seinem Grunde bewährte Gesetz überarbeitet und an verschiedene Ge- setzesänderungen der letzten Jahre angepasst werden. Da wir letztlich das Gesetz umfassend überarbeitet ha- ben, hat es sich angeboten, eine Neufassung statt eines Änderungsgesetzes vorzusehen. Gesetze sind wie Würste, man sollte besser nicht da- bei sein, wenn sie gemacht werden. Je weniger die Leute wissen, wie beide gemacht werden, desto besser schlafen sie: Das sagte schon der amerikanische Dichter John Godfrey Saxe, 1816 bis 1887. Was das Bevölkerungssta- tistikgesetz angeht, möchte ich dem, im Rückblick auf die parlamentarische Arbeit, uneingeschränkt zustim- men. Dieses Gesetzentwurf, mit dem ich mich als Be- richterstatter der CDU/CSU-Fraktion quasi durch einige erneute Änderungen am Änderungsvertrag bis zur letz- ten Minute befasste, ja verkettet war, hat mich so man- che schlaflose Nacht gekostet: Inhaltlich regelt das Bevölkerungsstatistikgesetz fol- gende Bundesstatistiken, um die Veränderungen in Zahl und Zusammensetzung der Bevölkerung und ihre Ursa- chen festzustellen: erstens die Statistik der natürlichen Bevölkerungsbewegung einschließlich der Todesursa- chenstatistik – darin enthalten sind die Statistik der Ehe- schließungen und Lebenspartnerschaften, die Geburten- statistik und Sterbefallstatistik –, zweitens die Statistik der rechtskräftigen Beschlüsse in Eheauflösungssachen, drittens die Statistik der rechtskräftigen Aufhebungen von Lebenspartnerschaften, viertens die Wanderungssta- tistik, fünftens die Fortschreibung des Bevölkerungs- standes. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 27713 (A) (C) (D)(B) Ein Aspekt der Änderungen sind sprachliche Anpas- sungen – zum einen an das vor Jahren geänderte Schei- dungs- und Kindschaftsrecht, zum anderen aber auch an das 2009 in Kraft getretene Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwil- ligen Gerichtsbarkeit. In unserem Gesetzentwurf werden aber auch Änderungen berücksichtigt, die sich aus der Reform des Personenstandsrechts 2009 und aus dem Le- benspartnerschaftsgesetz aus dem Jahre 2001 ergeben haben. Es geht uns also letztlich darum, ein Gesetz von 1957 an unsere heutigen Realitäten anzupassen. So wurden beispielsweise in der Reform des Personenstandsrechts von 2009 auch die eingetragenen Lebenspartnerschaften als Personenstand aufgenommen. Deshalb sollten diese auch in der Statistik zukünftig erfasst werden. Daneben werden fachstatistisch gebotene Verbesserungen, insbe- sondere die Festlegung von Erhebungs- und Hilfsmerk- malen, umgesetzt. Durch diese Regelungen können Sta- tistiken in Zukunft genauer und damit auch für die Politik eine noch konkretere Grundlage für alle Ent- scheidungen werden. Was mir besonders wichtig zu betonen ist: Es geht le- diglich um Übermittlungspflichten für die Verwaltung. Es sollen nur Daten übermittelt werden, die bereits in der Verwaltung vorhanden sind. Bei den Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland werden keine Informations- pflichten neu eingeführt, und auch für die Wirtschaft ent- stehen keine Kosten. Haben wir eine Alternative zu diesem Gesetz, und wie sähe diese aus? Natürlich haben wir eine Alternative, nämlich das Gesetz nicht zu verabschieden und bei dem bisherigen Stand zu bleiben. Aber das können wir ei- gentlich nicht ernsthaft in Betracht ziehen. Das alte und inzwischen und mittlerweile unzweifelhaft veraltete Ge- setz würde weiter in Kraft bleiben. Seine sprachlichen Ungenauigkeiten würden nicht beseitigt werden, auch würden wir uns der Lebensrealität, wie zum Beispiel den Lebenspartnerschaften, statistisch verschließen. Das können wir nicht wollen. Nicht nur viele gute Gründe sprechen für eine heutige Verabschiedung des Bevölkerungsstatistikgesetzes, auch gibt es keine ernsthaft in Betracht zu ziehende Alterna- tive. Deshalb empfehle ich auch der Opposition, dem Gesetzentwurf zuzustimmen. Manfred Behrens (Börde) (CDU/CSU): Das Ur- sprungsgesetz wurde 1957 verabschiedet. Die darin defi- nierten Bundesstatistiken über Geburten, Eheschließun- gen und das Sterben werden seither geführt. Ziel des Gesetzes ist es, die Zahl der Bevölkerung, ihre Verände- rungen und deren Ursachen festzustellen und daraus Fol- gen abzuleiten. Regierung, Verwaltung, Wirtschaft und Wissenschaft benötigen für ihre Arbeit Statistiken über Zahl und Zusammensetzung der Bevölkerung. Das Ge- setz soll dabei nur die wichtigsten Vorgänge der Bevöl- kerungsbewegung erfassbar machen und die Fortschrei- bung des Bevölkerungsstandes ermöglichen. Die Statistik der natürlichen Bevölkerungsbewegung liefert in diesem Rahmen die wichtigsten Unterlagen, um demografische Vorgänge zu beurteilen. Sie ermög- licht zum Beispiel überhaupt erst, dass zukunftsorien- tierte politische und wirtschaftliche Planungen auf dem Gebiet der gesetzlichen Rentenversicherung möglich sind. Das Gesetz steht nunmehr vor einer grundlegenden Überarbeitung. Es werden Unzulänglichkeiten des 1957 in Kraft getretenen Gesetzes beseitigt. Darüber hinaus geht es auch um sprachliche Anpassungen. Diese sprach- lichen Veränderungen sind nach den Änderungen im Scheidungsrecht oder auch im Kindschaftsrecht erforder- lich geworden. Zudem müssen einige Erhebungsmerk- male neu und konkret festgelegt werden. Inhaltlich sieht das Gesetz vor, dass die Bevölkerung nach dem aktuellen Familienstand fortzuschreiben ist. Hier werden auch ein- getragene Lebenspartnerschaften statistisch erfasst. Der Regierungsentwurf hat bei der Überarbeitung des Gesetzes alle rechtlichen Standards beachtet. Das über- arbeitete Bevölkerungsstatistikgesetz wird mit dem Recht der Europäischen Union vereinbar sein. Die ge- planten Änderungen sind zahlreich, sodass sich der Re- gierungsentwurf für ein Ablösegesetz einsetzt. Das neue Gesetz wird dauerhaften Charakter haben, da es sich um eine dauerhafte Erhebung handelt. Für die Bürgerinnen und Bürger in der Bundesrepublik Deutsch- land werden keine neuen Informationspflichten einge- führt. Damit werden Bürgerinnen und Bürger in diesem Lande nicht belastet. Auch für die Wirtschaft steht kein zusätzlicher finanzieller Aufwand für die Erfüllung be- vor. Ersten Überlegungen zufolge sollte das Gesetz rück- wirkend zum 1. Januar 2013 in Kraft treten. An dieser Stelle wäre es allerdings zu einem erheblichen Mehrauf- wand gekommen. Wir wollen den Mehraufwand für die Stellen, die die Daten übertragen, vermeiden. Daher ist die richtige und auch sinnvolle Entscheidung gefallen, das Gesetz am 1. Januar 2014 in Kraft treten zu lassen. Die Bundesregierung fordert nunmehr, dass dieses Gesetz zum 1. Januar 2014 in Kraft tritt. Gleichzeitig fordern wir, dass das bisherige Bevölkerungsstatistikge- setz in der Fassung der Bekanntmachung von 1980 außer Kraft tritt. Kirsten Lühmann (SPD): Die durchschnittliche Nutzungsdauer einer Bohrmaschine im gesamten Leben eines Menschen beträgt 13 Minuten. Es gibt Statistiken, die niemand braucht, auch wenn sie vielleicht zum Nachdenken anregen. Es gibt aber auch Statistiken, die brauchen wir unbedingt. Wenn wir Gesetze machen, nut- zen wir als Entscheidungsgrundlage statistische Daten. Wenn wir Strategien entwerfen, zum Beispiel dafür, wie wir Verkehrsanbindungen in bestimmten Regionen aus- bauen, wie wir den Fachkräftebedarf decken, wie viele Kitaplätze wir brauchen werden, dann nutzen wir statis- tische Daten. Statistische Daten sind eine wichtige Grundlage für politische Entscheidungen. Das gilt ganz besonders für 27714 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 (A) (C) (D)(B) die Bevölkerungsentwicklung, also die Geburten- und Sterberaten, die Wanderungsbewegungen usw. Diese Daten ermöglichen uns Erkenntnisse über die demogra- fische Lage unseres Landes. Und daraus wiederum lassen sich Prognosen über zukünftige Entwicklungen erstellen. Und die brauchen wir, um politische Weichen- stellungen zu treffen. Rechtliche Grundlage für die Erhebung statistischer Daten ist immer ein Gesetz. Wir beraten heute das Bevölkerungsstatistikgesetz, welches 1957 in Kraft getreten ist und nun durch eine Neufassung abgelöst werden soll. Das alte Bevölkerungsstatistikgesetz ist zwar immer wieder in einzelnen Punkten angepasst worden. Mittler- weile bedarf es aber einer grundlegenden Überarbeitung. In der alten Fassung des Gesetzes ist zum Beispiel noch vorgeschrieben, dass die Daten auf Zählkarten eingetra- gen werden. Das entspricht im Zeitalter der elektroni- schen Datenverarbeitung natürlich schon längst nicht mehr den technischen Möglichkeiten und Gepflogenhei- ten. Deshalb wird im neuen Gesetz auch die elektroni- sche Datenübermittlung gefordert. Das Bevölkerungsstatistikgesetz regelt die Daten- erhebung über Geburten, Sterbefälle einschließlich der Todesursachen, Eheschließungen und -scheidungen sowie Wanderungen. Mit dem neuen Gesetz werden nun auch die Le- benspartnerschaften erfasst, die vorher nicht abgebildet wurden. Das ist eine logische Ergänzung der Daten über die Eheschließungen. Neu ist auch, dass der Migrationshintergrund bei Kindern genauer erfasst wird. Bisher umfassten die An- gaben zu den Eltern in der Geburtenstatistik lediglich die Staatsangehörigkeit. Mit der Angabe zum Geburtsort und -staat der Eltern werden die Einwanderungsbewe- gungen genauer erfasst. Privatpersonen werden durch das Gesetz nicht beein- trächtigt, da es lediglich um Daten geht, die bereits vorhandenen Verwaltungsunterlagen entnommen wer- den. Geburten zum Beispiel werden beim Standesamt gemeldet. Die Standesämter wiederum geben die Daten an die Statistischen Landesämter weiter, die wiederum dem statistischen Bundesamt Daten liefern. Da die Angabe der Religionszugehörigkeit beim Stan- desamt mittlerweile freiwillig ist, werden die Standes- ämter zukünftig nicht mehr verpflichtet, Daten dazu an die Statistischen Ämter weiterzuleiten. Ebenso wird zukünftig nicht mehr erhoben, ob die Eltern eines innerhalb der ersten Lebensjahres verstorbe- nen Kindes verheiratet sind oder nicht. Der Gesetzent- wurf weist in seiner Begründung darauf hin, dass diese Differenzierung wegen der inzwischen veränderten ge- sellschaftlichen Verhältnisse nicht mehr angemessen ist. So sinnvoll die neuen Regelungen im Einzelnen sein mögen, lohnt es sich aber doch, einmal einen Blick auf die gesetzlichen Grundlagen der Statistikerhebungen zu werfen. Wir haben es mit einer Vielzahl von Gesetzen und Regeln zu tun, die mittlerweile zu einem großen Teil auch auf EU-Recht basieren. Allein für den Themen- bereich „Bevölkerung“ listet das Bundesamt für Statistik 16 verschiedene Gesetze und Verordnungen auf, die die Datenerhebung regeln. Dennoch basieren die Zahlen, die aus dem Zensus ge- wonnen werden, teilweise lediglich auf Schätzungen. Vor diesem Hintergrund halte ich die Anregung des Bundesrates für sinnvoll, einmal zu überprüfen, ob die Einwohnerzahlenermittlung nicht generell modernisiert und gegebenenfalls grundlegend neu gestaltet werden sollte. Zunächst einmal halten wir die hier vorgeschlagenen Neuregelungen aber für sinnvoll und stimmen dem Ge- setzentwurf daher zu. Manuel Höferlin (FDP): Das Bevölkerungsstatistik- gesetz wird heute zum ersten Mal seit seiner Einführung in den 50er-Jahren grundsätzlich reformiert. Die christ- lich-liberale Koalition hat mit dem nun vorgelegten Ge- setzentwurf nicht nur technische Anpassungen vorge- nommen; sie hat das Gesetz auch gegen Widerstände aus den Ländern verbessert. Mit der Reform des Kindschaftsrechts im Jahr 2009 hat sich auch Reformbedarf für das Bevölkerungsstatis- tikgesetz ergeben. Um zeitgemäße Anpassung der Terminologien haben wir uns in diesem Gesetzentwurf gekümmert. Zukünftig wird im Bevölkerungsstatistikge- setz nicht mehr von „Ehelichkeit“ gesprochen, sondern es wird geprüft, ob die Eltern des Kindes „verheiratet“ sind. Diese Formulierung ist nicht nur zeitgemäßer, son- dern auch weniger diskriminierend. Daneben haben wir außerdem die Möglichkeit ge- schaffen, zukünftig auch eingetragene Lebenspartner- schaften zu erfassen. Diese Neuerung ist vor dem Hintergrund der Modernisierung des Partnerschafts- gesetzes auch absolut notwendig. Sie sehen: Die christ- lich-liberale Koalition hat ihre Hausaufgaben gemacht. Doch haben wir auch eine Reihe von Verbesserungen beim Datenschutz erreicht. So werden in Zukunft keine Adressdaten als Hilfs- oder Erhebungsmerkmale gesam- melt. Zwar hatten insbesondere die Vertreter der Länder bei der Bundesratsberatung diese Forderung gestellt; wir Liberale dagegen halten dies für nicht erforderlich. Und es zeigt sich so: Beides geht – hochwertige Statistiken und Datenschutz! In diesem Zusammenhang ist es uns auch gelungen, die Datensammelwut der Länder insgesamt zu bremsen. Die Erfassung von Körpergröße, Körpergewicht und die Erfassung von Meldepflichtbefreiten – das alles gibt es mit der FDP nicht. Die Bevölkerungsstatistik soll Auskunft über Bevölkerungsbewegungen und hilfreiche Zusatzinformationen über die Lebensumstände der Bür- gerinnen und Bürger in Deutschland geben, nicht ihren Lebenswandel dokumentieren oder Detailinformationen über sie erfassen. Die christlich-liberale Koalition hat mit dem vorlie- genden Gesetzentwurf ein ausgewogenes Gesetz ge- schaffen, das die nötigen Informationen für die Bildung Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 27715 (A) (C) (D)(B) einer angemessenen Bevölkerungsstatistik schafft und gleichzeitig den Datenschutz in Deutschland berücksich- tigt. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und vielen Dank, dass Sie meine Rede bis hierher gelesen haben. Jan Korte (DIE LINKE): Wenn die Koalition aus Union und FDP oder die Bundesregierung einen Gesetz- entwurf vorlegen, der etwas mit Datenerhebungen zu tun hat, schrillen bekanntlich die Alarmglocken – und das zu Recht: Meistens geht es dann ja darum, anlasslos Daten im Namen der Sicherheit zu sammeln, Bürgerdaten an die Meistbietenden verkaufen zu können oder der Wirt- schaft neue Märkte zu erschließen. Ich erinnere hier nur an das Meldegesetz, das jetzt ja zumindest optisch korri- giert wurde, an die Fluggastdatenspeicherung oder an das unsägliche Arbeitnehmerüberwachungsgesetz, das Sie uns hier vorgelegt haben und welches nun hoffent- lich in einer abschließbaren Schublade ganz weit unten verschwunden ist. Heute ist das allerdings etwas anders. Die Bundesre- gierung hat offenbar mal einen guten Tag erwischt, als sie beschlossen hat, diesen Gesetzentwurf für ein neues Bevölkerungsstatistikgesetz einzubringen, ohne irgend- welche weitergehenden Speicherpflichten, Erhebungsda- ten oder sonstige Schweinereien mit einzubauen. Gut ist es, dass zukünftig keine Daten zur Religionszugehörig- keit erfasst werden. Vorausgesetzt man findet es ver- nünftig, die Zahl der Eheschließungen zu erfassen, ist es natürlich auch zeitgemäß, die Lebenspartnerschaften mit aufzunehmen, zumindest so lange, bis in der Bundesre- publik alle Menschen, unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung, die gleichen Rechte haben, also alle heira- ten dürfen, die es wollen. An die Zukunft hat die Bundesregierung auch ge- dacht. Um – ich zitiere aus der Begründung – „Ansatz- punkte für familienpolitische Maßnahmen zu erhalten sowie die Wirkung entsprechender Maßnahmen auf die Geburtenentwicklung zu erkennen“, sollen zukünftig die exakten Geburtsdaten von Eltern und Kindern erfasst werden, damit ausgerechnet werden kann, wie alt die El- tern bei der Geburt ihres Kindes genau waren. Hier hat der Schuh also bisher gedrückt in der Familienpolitik der Bundesregierung! Da ist es ja kein Wunder, dass gerade Hunderttausende Kitaplätze fehlen und die milliarden- schweren Förderinstrumente bei der Familienpolitik sich als weitgehend wirkungslos herausgestellt haben. Aber das wird zukünftig, nach dieser Korrektur, sicherlich an- ders. Wir sind uns – ganz im Ernst – bewusst, dass Politik Zahlen und Statistiken zur Orientierung benötigt. Die wichtige Frage, die wir uns stellen müssen, ist aber, wie viele das eigentlich sein müssen. Am Bevölkerungssta- tistikgesetz, dem wir hier heute zustimmen, ist unter Da- tenschutzaspekten nichts auszusetzen. Aber da hört es ja leider nicht auf, wie wir zum Beispiel an der Volkszäh- lung sehen können, die etliche Bürgerinnen und Bürger verpflichtet, persönlichste Daten offenzulegen – und das wiederum, um Zahlen für Statistiken zu produzieren. Je näher die Politik am Menschen ist – und ich meine hier tatsächlich den persönlichen Kontakt zu den Menschen, in unseren Wahlkreisen, wie auch die Stärkung demokra- tischer Mitentscheidungsrechte von Bürgerinnen und Bürgern, – desto weniger ist sie von Zahlen abhängig. Die Linke würde es jedenfalls begrüßen, wenn wir hier im Bundestag weniger Politik für schöne Statistiken und viel mehr Politik für die Menschen machen würden, die individuell von unseren Entscheidungen betroffen sind. Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Neben Zensus und Mikrozensus zählt die lau- fende Fortschreibung des Bevölkerungsstandes zu einem weiteren Instrument der Statistikbehörden, um ihren Aufgaben der Sammlung von Daten zu Massenphäno- menen gemäß Bundesstatistikgesetz nachzukommen. Was da seit einigen Jahren, ja seit Jahrzehnten konti- nuierlich fortgeschrieben wird, stellt eine bürokratisch peinlich genaue Chronik unseres erwarteten Niedergan- ges dar, so könnte man es etwas salopp formulieren. Nicht dass uns das Statistikwesen hier zur Selffulfilling Prophecy wird. Immerhin bleiben bei allen aus Statisti- ken abgeleiteten Prognosen große Unsicherheiten hin- sichtlich der Verlängerung in die Zukunft. Zu viele Fak- toren könnten die Prognose im Zeitverlauf doch noch in die eine oder andere Richtung verändern. Wir können also letztlich nur sehr bedingt anhand von Statistiken in die Zukunft schauen. Doch bei aller, übrigens auch ko- gnitionswissenschaftlich gebotenen Vorsicht im Umgang mit Statistiken müssen wir doch zur Kenntnis nehmen: Die Zahl der Lebendgeborenen liegt, mit weiter fallen- dem Trend, strukturell unter der Zahl der Gestorbenen. Bei ungehindertem zeitlichem Ablauf sterben „wir“ aus. Immer mehr ältere Menschen, immer weniger jüngere Menschen, Jugendliche und Kinder schon eher gar nicht, so schreibt sich unsere Geschichte derzeit statistisch fort. Ebenfalls dokumentiert wird die weiter fallende Bereit- schaft, sich „ewig zu binden“. Die Zahl der Neuehen geht zurück; die Scheidungsraten bleiben auf hohem Ni- veau. Diese Zahlen sind zunächst nicht mehr und nicht we- niger als die Grundlage und Voraussetzung für die Poli- tik, für eine verantwortbare und, ich sage das hier mit al- ler Vorsicht, seriöse Demografiepolitik, die sich der Veränderlichkeit und des besonderen Erkenntniswerts von Statistiken bewusst ist. Es kommt darauf an, welche Schlüsse wir aus den uns präsentierten Zahlen und Kur- ven ziehen. Die Bevölkerungsstatistik konfrontiert die Politik da- bei immer wieder mit unangenehmen Fakten, die bei al- ler Interpretierbarkeit doch auch harte und nicht wegzu- diskutierende Kernprobleme aufzeigen. Dieser Stachel im besten Sinne ist es, der mit der Fortschreibung der Bevölkerungsstatistik auch weiterhin funktionieren sollte. Wir begrüßen es, dass zeitgemäß die Lebenspartner- schaften mit aufgenommen wurden, ohne das dafür, wie ja im gesamten Gesetzentwurf nicht, irgendwelche zu- sätzlichen Neuerhebungen angeordnet werden müssen. Denn auch das gehört zu einer seriösen Statistikarbeit: die Beschränkung auf das Notwendige und rechtlich Er- 27716 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 (A) (C) (D)(B) forderliche und damit die Beachtung eines hohen Daten- schutzstandards, damit Statistik nicht am Ende doch wieder Nachteile oder gar Risiken mit sich bringt. Gleichzeitig darf man sich jedoch auch fragen, weshalb es so wichtig sein soll, bestimmte Daten überhaupt zu er- fassen, so zum Beispiel, wenn damit Stigmatisierung und Diskriminierung drohen und kein sachgerechter An- knüpfungspunkt für die Erfassung vorgetragen wird. Die im Personenstandsrecht in der zurückliegenden Sitzungswoche hier von uns diskutierten, überwiegend begrüßenswerten Änderungen werden sinnvollerweise mit der Bevölkerungsstatistik synchronisiert. Dement- sprechend wird zum Beispiel das Religionsmerkmal ent- sprechend seiner nur noch in wenigen Fällen und auch nur auf Wunsch erfolgenden Eintragung beim Standes- amt auch im Zusammenhang mit diesem Gesetz nicht er- hoben. Zu prüfen bleibt, ob die überraschende Bereitschaft der Bundesregierung, eine eigene Personenstandschaft für Intersexuelle anzuerkennen, entsprechend auch ihre Abbildung im Bevölkerungsstatistikgesetz finden sollte. Ausdrücklich begrüßen wir, dass entgegen dem Wunsch des Bundesrates die durchaus Anklänge an „Volksstatistiken“ bergende Erfassung von Körpergröße und Gewicht von Neugeborenen samt Berufstätigkeit der Mutter bei Geburt zukünftig nicht mehr erfasst wird. Der dazu erforderliche Nachweis der Erforderlichkeit harrt einer zeitgemäßen Rechtfertigung. Es ist schwer vor- stellbar, dass diese Informationen für sich und ohne je- den weiteren Kontext eine Relevanz für Auswertungen der Bevölkerungsstatistik entfalten. Die Bevölkerungsstatistik wird in dem Maße im Um- bruch bleiben, wie der gesellschaftliche Wandel Verän- derungen von Ehe, Familie oder auch Identitätsvorstel- lungen allgemein nach sich zieht. Gerade bei der von uns maßgeblich erstrittenen Lebenspartnerschaft werden wir weiter darauf hinwirken, dass die Gleichbehandlung auf allen Ebenen gewahrt bleibt. Datenschutz und Datensi- cherheit bleiben ebenfalls aktuell: Von besonderer Be- deutung bleibt dabei die Einhaltung des Erforderlich- keitsgrundsatzes und die Beschränkung der Erfassung von personenbezogenen Daten auf das zur Zweckerrei- chung unbedingt Erforderliche. Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Anträge: – Arbeitsbedingungen von Lehrkräften in In- tegrationskursen verbessern – Lehrkräfte von Integrationskursen stärken und den Kurszugang erweitern (Tagesordnungspunkt 21 a und b) Helmut Brandt (CDU/CSU): Integration in Deutsch- land ohne Kenntnisse der deutschen Sprache ist unmög- lich. Deshalb müssen seit 2005 – zu Recht – hier lebende Ausländer mit einer Aufenthaltserlaubnis nach § 44 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz an einem Sprachkurs teilneh- men. Die meisten der seit dem Jahre 2005 bislang circa 900 000 Teilnehmer absolvierten ihren Kurs mit Erfolg, und ich bin überzeugt, dass hierzu gerade auch die Qualifikation und das Engagement der Lehrkräfte beige- tragen hat. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Fraktion der SPD und von Bündnis 90/Die Grünen, ich bin völlig Ih- rer Meinung, wenn Sie sagen, wer gut arbeitet, muss auch gut bezahlt werden. Aus diesem Grund wurde mit Wirkung zum 1. Januar 2013 der für die Finanzierung von Integrationskursen maßgebliche Kostenerstattungs- satz von 2,54 Euro je Kursteilnehmer und Unterrichts- einheit auf 2,94 Euro erhöht. Dieser Betrag ist keines- wegs willkürlich gewählt. Liest man Ihre Anträge, entsteht der Eindruck, als sei der gezahlte Betrag weit unter jeglichem akzeptablen Niveau. Dabei ist Grund- lage der Erhöhung ein Preisermittlungsverfahren des Statistischen Bundesamtes, das Preise von Gruppen- sprachkursen zum Vergleich herangezogen hat. Wir können und wollen den Trägern nicht die Höhe der Honorarsätze für ihre Lehrkräfte vorschreiben. Die Bundesregierung hat in ihren Antworten auf Ihre Anfra- gen immer wieder mitgeteilt, dass unmittelbar verant- wortlich für die Lehrkräftehonorierung die Kursträger – und nur die Kursträger – selbst sind, die im Wege der Aufgabenprivatisierung gemäß § 43 Abs. 3 des Aufent- haltsgesetzes in Verbindung mit §§ 18 ff. der Integra- tionskursverordnung vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mit der Kursdurchführung betraut werden und die direkten Vertragspartner der Lehrkräfte sind. Eine unmittelbare Einflussnahme auf die Höhe des Ho- norars würde einen Eingriff in die Privatautonomie des Kursträgers bedeuten. Einen solchen Eingriff lehnen wir aus verfassungs- und vergaberechtlichen Gründen ab. Vor diesem Hintergrund steuert das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die Honorarhöhe nur inso- fern, als es seit September 2008 als qualitatives Steue- rungselement die Zulassung der Träger von einer Hono- raruntergrenze abhängig macht. Um eine bessere Vergütung der Lehrkräfte zu errei- chen, wird die derzeit geltende Honoraruntergrenze von 18 Euro je Unterrichtseinheit zum 1. März 2013 auf 20 Euro heraufgesetzt. Vergütet ein Träger Honorarlehr- kräfte unterhalb dieser Grenze, hat dies zur Folge, dass der Kursträger eine Zulassung zur Durchführung von In- tegrationskursen für nur ein Jahr statt bis zu fünf Jahren erhält. Dies betraf im Jahr 2012 42 Kursträger von ins- gesamt 1 334 Kursträgern. Die von Ihnen vorgeschlagene automatische Nicht- verlängerung der Zulassung bei fortgesetzter Unter- schreitung der Honorargrenze lehnen wir ab; denn sie würde faktisch die Einführung eines Mindesthonorars durch die Hintertür bedeuten. Auch Ihr Vorschlag, die Quote der festangestellten Lehrkräfte in die Integrationskursverordnung aufzuneh- men, verstößt unserer Auffassung nach gegen den Grundsatz der Privatautonomie. Ich sage es noch einmal: Die Vergütung und die Stundenzahl der Lehrtätigkeit Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 27717 (A) (C) (D)(B) obliegen der individuellen Vertragsgestaltung zwischen der Lehrkraft und dem Kursträger. Außerdem bin ich davon überzeugt, dass es eine ganze Reihe von Lehrern gibt, die in ihrer Tätigkeit nur einen Nebenverdienst sehen und auf diesem Gebiet gar nicht hauptamtlich tätig sein wollen. Aus eben diesem Grund sehe ich auch nicht die Notwendigkeit der von Ihnen geforderten Statusfeststellung. Abgesehen davon können bei bestehenden Zweifeln, ob eine selbstständige Tätigkeit oder eine abhängige Beschäftigung vorliegt, sowohl der Auftraggeber als auch der Auftragnehmer den Antrag auf Klärung des sozialversicherungsrechtli- chen Status stellen. Nun zu den Teilnahmemöglichkeiten von EU-Bür- gern: Da sich die Integrationskurse in erster Linie an Ausländer aus Drittstaaten richten, haben EU-Bürger keinen Anspruch auf Teilnahme. Sie sind damit deut- schen Staatsangehörigen rechtlich gleichgestellt und können, wie diese auch, gar nicht zu einem Integrations- kurs verpflichtet werden. Gleichwohl haben EU-Bürger nach § 11 Freizügigkeitsgesetz in Verbindung mit § 44 Abs. 4 Aufenthaltsgesetz die Möglichkeit, an Integra- tionskursen teilzunehmen. Im Rahmen verfügbarer Kursplätze werden EU-Bürger bevorzugt zu Integra- tionskursen zugelassen. Da über das Zulassungsverfahren der Kursträger ein flächendeckendes bundesweites Angebot an Integra- tionskursen gesichert wird, können derzeit alle EU-Bür- ger, die an einem Integrationskurs teilnehmen wollen, ohne längere Wartezeiten zu einem Integrationskurs zu- gelassen werden. Ich sehe hier deshalb überhaupt keinen Handlungsbedarf. Inhaber humanitärer Titel nach §§ 22, 23 Abs. 1, 23 a, 25 Abs. 3, 25 Abs. 5, 25 a Abs. 2 oder § 104 a Abs. 1 Satz 1 Aufenthaltsgesetz werden ebenfalls im Rahmen verfügbarer Kursplätze zugelassen – § 44 Abs. 4 Aufent- haltsgesetz. Damit haben sie die gleiche Rechtsstellung wie EU-Bürger und können in der Praxis ebenfalls ohne längere Wartezeiten an einem Integrationskurs teilneh- men. Mit Änderung der Integrationskursverordnung zum 1. März 2012 ist zudem der Kurszugang von Personen mit humanitären Aufenthaltstiteln, die nach § 5 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 IntV vorrangig bei der Zulassung im Rah- men verfügbarer Kursplätze nach § 44 Abs. 4 Aufent- haltsgesetz zu berücksichtigen sind, ausgeweitet worden auf Inhaber von Titeln nach §§ 23 a, 25 Abs. 3 und 25 a Abs. 2 Aufenthaltsgesetz. Nach geltender Rechtslage haben nur Ausländer, die sich rechtmäßig und auf Dauer im Bundesgebiet aufhal- ten, die Möglichkeit, an Integrationskursen teilzuneh- men. Daher fallen darunter weder Geduldete – da kein rechtmäßiger Aufenthalt – noch Asylbewerber – da, so- lange das Asylverfahren nicht abgeschlossen ist, nicht absehbar ist, ob sie sich überhaupt auf Dauer im Bundes- gebiet aufhalten. Nur wenn diese Voraussetzungen vor- liegen, ist Integration als umfassende Teilhabe an allen Lebensbereichen überhaupt möglich und sinnvoll. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Fraktion der SPD und Bündnis 90/Die Grünen, Sie versuchen in Ihren Anträgen immer wieder, den Eindruck zu vermitteln, als würde die christlich-liberale Koalition nicht genug für die Integration hier lebender Ausländer tun. Die Wahr- heit ist, dass wir jährlich – ich betone: jährlich – über 200 Millionen Euro in die Integrationskurse investieren. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bietet Alphabetisierungs-, Jugendintegrations-, Eltern- und Frauenkurse an. Auch im ländlichen Raum wird durch die Anzahl der zugelassenen Integrationskursträger ein flächendeckendes Integrationskursangebot sicherge- stellt. Im Rahmen des Nationalen Aktionsplans hat das Bundesamt in Zusammenarbeit mit Experten Maßnah- men zur Verbesserung des Kurszugangs gerade im länd- lichen Raum erarbeitet, die bereits umgesetzt wurden. Migration und Integration sind bedeutende Themen in unserer Gesellschaft und in der Politik. Wir alle haben ein eigenes Interesse daran, dass hier lebende Ausländer sich so schnell es geht integrieren. Deshalb müssen wir die Rahmenbedingungen von Migration und Integration immer wieder an die Realitäten anpassen und dort nach- bessern, wo es notwendig ist. Ich möchte aber auch einmal darauf hinweisen, dass wir jährlich Millionen für die Integration von Auslän- dern ausgeben. In Europa gibt es nur wenige Länder, die so bemüht um die Integration von Ausländern sind und so viel Geld dafür zur Verfügung stellen, wie wir es tun. Vielleicht sollten Sie hierüber einmal nachdenken. Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD): Die Regierung Merkel versteht sich in der Integrationspolitik sehr auf Symbole: Gerne schmückt sie sich auf Empfängen mit Gesichtern unserer Einwanderungsgesellschaft. Angela Merkel initiierte Islam-, Integrations- und Bildungsgip- fel. Gerne überreicht die Regierung Merkel Preise für gelungene Integration. Symbole sind wichtig. Diese „Grußtantenpolitik“ reicht aber nicht aus. Integrations- politik muss sich daran messen lassen, ob sie wirklich zur Verbesserung der Lebenssituation der in Deutschland lebenden Menschen beiträgt. Erinnern wir uns zurück: Die Integrationskurse sind das Herzstück des rot-grünen Zuwanderungsgesetzes. Sie haben sich als integrationspolitisches Erfolgsinstru- ment bewährt: Sie erfreuen sich bei „alten“ und neuen Einwanderinnen und Einwanderern großer Beliebtheit. Das liegt auch an der hervorragenden Arbeit der Lehre- rinnen und Lehrer dieser Kurse. Sie sind die Visitenkarte Deutschlands. Die Dozentinnen und Dozenten sind akademisch aus- gebildete Fachkräfte für Sprach- und Gesellschaftsunter- richt. Und sie leisten eine gesellschaftlich unverzicht- bare Arbeit. Die teilweise prekären Arbeitsbedingungen haben Lehrkräfte dazu gebracht, sich zu organisieren, um gemeinschaftlich auf ihre schwierige Situation auf- merksam zu machen. Viele arbeiten unter prekären Be- dingungen, als Honorarkraft, zu niedrigen Löhnen, ohne soziale Absicherung. 27718 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 (A) (C) (D)(B) Wir nehmen ihre Sorgen und Nöte ernst. Daher haben wir innerhalb der SPD-Fraktion intensiv beraten, wie die Arbeitsbedingungen von Lehrkräften in Integrationskur- sen verbessert werden können. Keine leichte Aufgabe! An dieser Stelle danke ich den Vertreterinnen und Ver- tretern aus Lehrkräfteinitiativen und Gewerkschaften für ihre Expertise und ihr Engagement. Gemeinsam mit meinen Fraktionskolleginnen und -kollegen aus den Be- reichen Bildungs-, Arbeits- und Innenpolitik machen wir im vorliegenden Antrag gute Vorschläge für die Verbes- serung der Arbeitsbedingungen von Lehrkräften in Inte- grationskursen. Gute Bezahlung und faire Arbeitsbedingungen sind unser Ziel. Hier haben wir und die Lehrkräfte auch die Integrationsministerkonferenz auf unserer Seite. Zwei Aspekte möchte ich in aller Kürze besonders hervorheben, die aus Sicht der SPD-Bundestagsfraktion von entscheidender Bedeutung sind, um gute Arbeitsbe- dingungen für die Lehrkräfte zu erreichen: Erstens. Wir wollen die Vergütung anheben. Gute und qualifizierte Arbeit muss angemessen entlohnt werden. Ich möchte nicht, dass die Lehrerinnen und Lehrer für Integrationskurse aufstocken müssen. Sie sind akade- misch ausgebildete Fachkräfte. Daher schlagen wir in ei- nem ersten Schritt einen Mindestverdienst von 26 Euro vor. Wir müssen als Politik unseren Gestaltungsauftrag ernst nehmen und vorhandene Spielräume nutzen. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge muss und soll daher nach unserem Willen bei der Zulassung von Trä- gern darauf hinwirken, dass die Vergütung von 26 Euro nicht unterschritten wird. Diese Untergrenze soll aber nicht in Stein gemeißelt sein. Perspektivisch wollen wir die Vergütung weiter erhöhen. Zweitens. Wir wollen die Quote der festangestellten Lehrkräfte erhöhen. Auch dafür wollen wir die Gestal- tungsspielräume innerhalb der Integrationskursverord- nung nutzen. Lehrkräfte brauchen, wie alle anderen Ar- beitnehmerinnen und Arbeitnehmer auch, Planungssicher- heit und eine soziale Absicherung. Mit Honorarvergü- tung rücken Familien- und Lebensplanung für die Lehr- kräfte in weite Ferne, und perspektivisch rückt Alters- armut in Sichtweite. Daher wollen wir die Quote als Qualitätskriterium in die Verordnung aufnehmen. In ei- nem weiteren Schritt brauchen wir ein Konzept, das wei- tere Möglichkeiten zur Erhöhung der Quote festange- stellter Lehrkräfte aufzeigt. Das ist die Aufgabe der Bundesregierung. Wir wollen die Arbeit der Integrationslehrkräfte ange- messen anerkennen und wertschätzen. Schließlich wol- len wir die Besten, um die Teilnehmer mit größtmögli- chem Erfolg durch die Kurse zu führen. Dafür müssen wir sie qualifikationsangemessen bezahlen und ihre so- ziale Absicherung verbessern. Nur wer angemessen ho- noriert wird, kann dauerhaft gute und engagierte Arbeit leisten. Dieser Antrag ist sicher nicht der letzte Schritt auf dem Weg. Wir haben uns in der Vergangenheit für eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Lehrkräften eingesetzt, und wir werden das weiterhin tun. Denn: Symbole reichen hier nicht aus, Herr Minister Friedrich. Oliver Kaczmarek (SPD): Erneut geht es heute um Wertschätzung: Wertschätzung der Bedeutung von Ein- wanderinnen und Einwanderern für unsere Gesellschaft, Wertschätzung der integrationspolitischen Anstrengun- gen, Wertschätzung der Arbeit hochqualifizierter Fach- kräfte. Die vorgeschriebenen Integrationskurse für Migran- tinnen und Migranten sind ohne Zweifel ein wichtiger Grundpfeiler für die Integration in Deutschland. Dem- entsprechend ist die pädagogische Tätigkeit in Integra- tionskursen sowohl für die Integrationspolitik als auch für die Alphabetisierungs- und Grundbildungsarbeit un- erlässlich. Dies spiegelt sich leider nicht in den Arbeits- bedingungen und der Entlohnung der Integrationslehr- kräfte wider. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft hat in ihrem Schwarzbuch zur Arbeit in Integrationskursen die prekären Arbeitsbedingungen der hochqualifizierten Pä- dagoginnen und Pädagogen aufgezeigt und dringend Verbesserungen angemahnt. Das Bundesamt für Migra- tion und Flüchtlinge, das die Integrationskurse organi- siert und über die Träger finanziert, weiß bestens über die inakzeptablen Verhältnisse Bescheid – hat es doch selbst ein Gutachten in Auftrag gegeben, das eine unter- durchschnittliche Vergütung der Lehrkräfte konstatiert. So sieht echte Wertschätzung nicht aus. Die SPD-Bundestagsfraktion hat als erste Fraktion auf die erschreckenden Ergebnisse der leo.-Level-One-Studie reagiert. Besonders die immens hohe Zahl funktionaler Analphabeten in Deutschland – 7,5 Millionen Menschen im erwerbsfähigen Alter – muss endlich reduziert wer- den. Neben den örtlichen Volkshochschulen leisten auch die Integrationskurse einen wichtigen Beitrag zur Alpha- betisierung und Grundbildung in Deutschland. Sie wer- den in der überwiegenden Mehrheit von kleinen, lokalen Trägern angeboten. Wenn man einmal mit diesen Trä- gern spricht, wird deutlich, dass diese die Arbeitsbedin- gungen ihrer Lehrkräfte auch sehr gerne verbessern wür- den. Sie sind jedoch schlicht und einfach nicht in der Lage, die unzureichende Vergütung durch das BAMF aus eigenen Mitteln aufzustocken. Genauso wenig kön- nen sie die Ausfälle bei den Sozialversicherungsbeiträ- gen auffangen. Und das sollte auch nicht ihre Aufgabe sein. Integration ist eine gesamtstaatliche Aufgabe, und der Bund muss dringend seiner Verantwortung gerecht werden, indem er für eine qualifikationsangemessene Bezahlung und faire Arbeitsbedingungen Sorge trägt. Deshalb legen wir heute diesen Antrag vor, der vielfach auch mit den betroffenen Lehrkräften, Trägern und Kommunen besprochen wurde. Die herausgehobene Bedeutung der Arbeit in Integra- tionskursen für unsere gesamte Gesellschaft muss sich endlich in Wertschätzung der Lehrkräfte, also auch in ei- ner angemessenen Entlohnung und in sozialer Absiche- rung, niederschlagen. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 27719 (A) (C) (D)(B) Serkan Tören (FDP): Ich muss mich doch sehr wundern. SPD und Grüne werfen der Regierungskoali- tion vor, die Lehrkräfte von Integrationskursen würden viel zu wenig verdienen. Sie fordern ein, dass dies schnellstmöglich geändert werden müsse. Sie werden nicht müde, die vermeintliche Ungerechtigkeit landauf, landab anzuprangern. Sie brüsten sich damit, die Integra- tionskurse eingeführt zu haben. Aber sie verschweigen, was sie damals den Lehrkräften der Integrationskurse gezahlt haben. Den Kostenerstattungssatz hat die rot- grüne Bundesregierung 2005 auf 2 Euro und 5 Cent fest- gesetzt. Schwarz-Rot hat ihn 2007 auf 2,35 Euro ange- hoben. Schwarz-Gelb hat dann 2011 auf 2,54 Euro auf- gestockt und schließlich dieses Jahr auf 2,94 Euro. Der Kostenerstattungssatz unter CDU/CSU und FDP ist heute anderthalbmal so hoch wie unter SPD und Grünen. Anderthalbmal so hoch! Sie haben damals festgelegt, auf welchem Niveau die Entlohnung der Lehrkräfte gestartet ist. Wir haben ordentlich draufgelegt. Und nun ist die Entlohnung angeblich ausbeuterisch? So nicht, meine Damen und Herren von SPD und Grünen! Bei den Integrationskursen haben SPD und Grüne längst auf Wahlkampf umgeschaltet. Groß war die Auf- regung, als das Gesamtbudget für die Integrationskurse auf 209 Millionen Euro festgesetzt worden ist. Daniela Kolbe von der SPD erklärte: „Zum Nulltarif ist gelun- gene Integration aber nicht zu haben.“ Frau Kolbe, wis- sen Sie, wie SPD und Grüne die Integrationskurse aus- gestattet haben? Mit 208 Millionen Euro pro Jahr! Wie kann eine Summe, die bei Ihnen damals offenbar voll- kommen ausgereicht hat, bei uns zu niedrig sein? Nun fordern Sie eine Erhöhung des Budgets für Inte- grationskurse um mehr als 40 Millionen Euro. Auch das widerspricht Ihrem eigenen Handeln. Schwarz-Gelb in- vestiert nach wie vor insgesamt mehr in die Integrations- kurse als Rot-Grün. Der Kostenerstattungssatz ist sogar anderthalbmal so hoch. Entweder haben Sie damals nicht genügend in die Integrationskurse investiert und damit die von Ihnen gesehenen Probleme erst hervorge- rufen – oder aber die Situation ist weit weniger drama- tisch als von Ihnen geschildert. Viel hilft viel. Nach diesem Motto wollen Sie mit der Gießkanne Geld verteilen. Lassen Sie uns aber mal von der Gießkanne ablassen, die Ihnen nicht groß genug sein kann! Schauen wir auf das Feld, das damit gegossen werden soll! Mehr als 1 Million Menschen haben mitt- lerweile an den Integrationskursen teilgenommen. Von Jahr zu Jahr nehmen deshalb weniger Menschen an Inte- grationskursen teil. Sie kritisieren, dass weniger Men- schen an den Kursen teilnehmen – ich freue mich da- rüber, dass offenbar immer weniger Menschen die Integrationskurse brauchen. Ihnen gefällt einfach nicht, dass die Menschen sich integrieren und nicht mehr auf staatliche Hilfe angewiesen sind. Wir brauchen keine neuen Abhängigkeiten, sondern gut funktionierende In- tegrationskurse. Da die Altzuwanderer nach und nach an den Integra- tionskursen teilnehmen oder schon teilgenommen haben, sinkt der Bedarf für Plätze in Integrationskursen. Daran ändert auch eine Öffnung der Integrationskurse für Flüchtlinge nichts, die ich mir ebenfalls vorstellen kann. Die Zeit der hohen Teilnehmerzahlen ist vorbei. Wir tre- ten nun in eine Phase ein, in der sich das Angebot bei den Integrationskursen neu ordnet. Ging es früher da- rum, möglichst viele Kurse anzubieten, so wird sich in den kommenden Jahren zeigen, welche Integrationskurs- träger sich erfolgreich am Markt behaupten können. Das werden diejenigen sein, die hohe Synergieeffekte erzie- len, weil sie ihre Strukturen nicht allein über Integra- tionskurse finanzieren, sondern auch über andere Ange- bote. Und es werden diejenigen sein, die die besten Integrationskurslehrer beschäftigen und sie entsprechend entlohnen. Dieser Trend ist bei der Zusammensetzung der Integrationskursträger längst absehbar. In der Phase der hohen Teilnehmerzahlen haben sich Kapazitäten ausgebildet, die schon heute nicht mehr und in Zukunft noch weniger gebraucht werden. Das ist of- fenbar auch SPD und Grünen klar. Anders ist mir nicht zu erklären, warum sie nun ständig nach mehr Festan- stellungen von Integrationskurslehrkräften rufen. Wir Liberale lehnen strikt ab, dass den Integrationskursträ- gern feste Quoten für Festanstellungen vorgeschrieben werden. Träger und Lehrkräfte müssen eigenständig mit- einander verhandeln können. Da hat der Staat nicht mit- zureden. Hand aufs Herz: Liebe Kolleginnen und Kolle- gen von SPD und Grünen, Sie fordern die Quoten für Festanstellungen für Integrationskurslehrkräfte doch nur, weil Sie wissen, dass die Beschäftigung einiger Lehr- kräfte anders gar nicht auf Dauer gesichert werden kann. Sie betreiben Lobbypolitik für die Integrationskurslehr- kräfte, nicht für die Integration in Deutschland. Das ist Ihr gutes Recht. Das müssen Sie dann aber auch klar be- nennen. Wir Liberale bemessen den Erfolg der Integration in Deutschland nicht daran, wie viele Menschen mit der In- tegration ihr Geld verdienen. Wir bemessen den Erfolg der Integration in Deutschland daran, wie viele Men- schen in Deutschland gut integriert sind. Wir sind noch nicht am Ziel, aber unsere Erfolge brauchen wir nicht zu verstecken. Während wir dafür sorgen, dass die Integra- tion in diesem Land voranschreitet, machen Sie leere Versprechungen für den Wahlkampf. Das ist schade und hilft keinem Teilnehmer eines Integrationskurses. Sevim Dağdelen (DIE LINKE): Im November 2012 vermeldete das Bundesamt für Migration und Flücht- linge höhere Erfolgsquoten bei Sprachprüfungen der In- tegrationskurse. Wir freuen uns natürlich, dass immer mehr Menschen den Sprachkurs mit Bestnote abschlie- ßen. Schlecht ist allerdings, dass für knapp die Hälfte aller Kursabsolventinnen und -absolventen der Kursabschluss keineswegs ein Grund zur Freude ist, weil sie das gefor- derte Sprachniveau verfehlten. Seit Mitte 2011 erhalten infolge einer Gesetzesverschärfung nur diejenigen Migran- tinnen und Migranten eine mehr als einjährige Aufent- haltserlaubnis, die den Kurs auf dem höchsten Sprachniveau beenden konnten. Das ist pädagogisches Steinzeitalter und eine Bestrafungspolitik gerade für sozial- und bil- 27720 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 (A) (C) (D)(B) dungsbenachteiligte und ältere Menschen, die die Linke entschieden ablehnt. Kein Grund zur Freude ist auch, dass die Mittel für die so hoch gelobten Integrationskurse jüngst um 15 Millionen Euro gekürzt wurden. Bisher für die Inte- grationskurse vorgesehene Gelder werden wegen selbst- verschuldet rückläufiger Teilnahmezahlen nicht etwa für eine Ausweitung und Verbesserung des Kursangebots oder eine bessere Bezahlung der Lehrkräfte verwendet, nein, diese Mittel sollen ausgerechnet unter anderem der Bundespolizei zugeschanzt werden, die mit ihren rassis- tischen Kontrollpraktiken, dem sogenannten Racial Pro- filing, nicht Integration, sondern Ausgrenzung befördert. Keinen Grund zur Freude haben auch jene, die maß- geblich für das erfolgreiche Abschneiden der Integrations- kursteilnehmerinnen und -teilnehmer mitverantwortlich sind: die Lehrkräfte. Denn die angebliche Erfolgsge- schichte der Integrationskurse ist auch eine Geschichte der Unterbezahlung, der prekären Beschäftigung und der Missachtung der qualifizierten Arbeit der Lehrkräfte, wie die GEW in ihrem Schwarzbuch zu den Integra- tionskursen zurecht beklagt. Um es vorweg zu sagen: Die Linke ist vermutlich die einzige Partei, die die absolut berechtigten Forderungen der Lehrkräfte nach besserer Bezahlung von Anfang an voll und ganz unterstützt hat. Schließlich wurde das jet- zige mangelhafte Integrationskurssystem von Rot-Grün geschaffen, von Schwarz-Rot fortgeführt und jetzt von Schwarz-Gelb verwaltet – ohne, dass es in dieser langen Zeit irgendwelche substanziellen Verbesserungen für die Lehrkräfte gegeben hätte. Es ist in meinen Augen uner- träglich, dass sich die Bundesregierung der Integrations- kurse als Vorzeigeprojekt rühmt, während zugleich all diejenigen, die sich dieser wichtigen Arbeit alltäglich mit Engagement, Menschenkenntnis und hoher Qualifi- kation widmen, mit Hungerlöhnen abgespeist und häufig in prekäre Scheinselbstständigkeit gepresst werden. Die Linke kritisiert seit langem die zunehmend pre- käre Beschäftigungssituation von Menschen in Deutsch- land, aber eben auch von Lehrkräften in Integrationskur- sen, und fordert substanzielle Änderungen. In den letzten Jahren haben wir im Rahmen mehrerer Kleiner Anfragen auf die „unzumutbaren Arbeitsbedingungen in Integra- tionskursen“ – so zum Beispiel erstmalig auf Bundes- tagsdrucksache 16/13972 – hingewiesen. Seit Einführung der Integrationskurse verlangt die Linke bei den alljährlichen Haushaltsberatungen im Bun- destag eine Aufstockung des entsprechenden Etats – aus- drücklich auch mit der Begründung einer besseren Be- zahlung der Lehrkräfte. Die Linke will, dass endlich Schluss ist mit dieser Politik, die zulasten der Lehrkräfte und der Migrantinnen und Migranten geht, während sich die Bundesregierung heuchlerisch einer angeblichen Er- folgsgeschichte rühmt. Im derzeitigen Rahmen überwiegend scheinselbst- ständiger Lehrtätigkeit ist die Anhebung der Honorare auf 30 Euro pro Unterrichtseinheit, die wir seit Jahren fordern, nur eine Mindestmaßnahme, wie wir immer er- klärt haben. Mittelfristig streben wir ein ganz anders strukturiertes Integrationskurssystem an, das den in die- sem Bereich tätigen Lehrkräften gute Arbeitsbedingun- gen, sichere Beschäftigungsverhältnisse und faire Löhne sichert – idealerweise in sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen, in jedem Fall aber unter Berücksichtigung von Urlaubs- und Weiterbildungsan- sprüchen, Krankheitszeiten, der Sicherung von Renten- ansprüchen usw. Es ist zu begrüßen, dass SPD und Grüne aus ihrem neoliberalen Tiefschlaf zumindest teilweise erwacht sind. Hatten beide 2005 noch gar keine Mindesthonorare vorgesehen, fordern die Grünen nun ebenfalls 30 Euro – jedenfalls in ihrem aktuellen Antrag. In einem anderen, ebenfalls noch im parlamentarischen Verfahren befind- lichen Antrag, der erst gut ein Jahr alt ist – Bundestags- drucksache 17/7639 –, sind es nur 24 Euro. Die SPD liegt aktuell bei 26 Euro. Was Grüne und SPD gerne unerwähnt lassen, ist, dass die eklatanten Schwächen des Integrationskurssystems von Rot-Grün zu verantworten sind. Das rot-grüne Inte- grationskurssystem führte wegen der unzureichenden Trägerpauschale zu sinkenden Honoraren der Lehrkräfte von unter 10, 12 oder 15 Euro, und bereits vor dem Jahr 2005 wurde fachlich kritisiert, dass die damals unter- schiedslos für alle geltenden 600 Stunden zur Erreichung des Sprachniveaus B1 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens völlig unzureichend waren. Bei aller Kritik am jetzigen Integrationskurssystem muss man deshalb eines feststellen: Was Rot-Grün 2005 zu verant- worten hatte, war weitaus schlechter. Die Linke strebt eine grundlegende Umgestaltung des Integrationskurssystems an. Im Rahmen der Haushalts- beratungen haben wir uns bislang auf Forderungen zu Mindesthonoraren beschränkt. Dazu, wie ein grundlegend anderes Integrationskurssystem im Detail ausgestaltet werden müsste, werden wir bald Vorschläge machen. Dabei könnte eine Möglichkeit sein, dass die Lehrkräfte als abhängig Beschäftigte im Sinne des § 7 SGB IV ein- gestuft und entsprechend nach Tarif bezahlen werden. Die Linke will ein umfassendes und qualitativ hoch- wertiges Sprachkursangebot ohne Zwangsandrohungen und aufenthaltsrechtliche Sanktionen. Wir setzen auf die Freiwilligkeit des Lernens und kritisieren die Instrumen- talisierung des Spracherwerbs als ein Sanktionierungs- mittel gegen vermeintlich integrationsunwillige Migran- tinnen und Migranten. Auch viele Lehrkräfte lehnen diese Einbindung in ein immer mehr auf Zwang setzen- des Integrationskurssystem ab. Daneben wollen wir eine Ausweitung des zugangsberechtigten Personenkreises, zum Beispiel auf Asylsuchende und Flüchtlinge mit noch ungesichertem Aufenthaltsstatus. Dies und anderes wollen wir gemeinsam mit Lehr- kräften, Gewerkschaften und anderen Expertinnen und Experten schon bald diskutieren. Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir haben uns schon des Öfteren mit den Integrations- kursen hier im Deutschen Bundestag beschäftigt, und das hat einen guten Grund; denn die Bundesregierung ist Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 27721 (A) (C) (D)(B) bei diesem Thema ausgesprochen doppelzüngig unter- wegs: Einerseits lässt sie keine Gelegenheit aus, zu beto- nen, wie wichtig Deutschkenntnisse für eine gelungene Integration sind. Andererseits sind unter ihrer Ägide die Bedingungen, unter denen diese Kurse stattfinden, im- mer schlechter geworden – sowohl für die Kursteilneh- merinnen und Kursteilnehmer als auch für die Lehr- kräfte. Das passt nicht zusammen. Die Integrationskurse sind das Herzstück der Integra- tionspolitik, und an die Lehrkräfte werden hohe Anfor- derungen gestellt. Doch die Erfahrungen zeigen: Die Bundesregierung verlangt viel und gibt wenig. Das spü- ren die Lehrkräfte Monat für Monat in ihrem Geldbeutel. Inzwischen ist sogar die Qualität der Kurse durch die mi- serable Bezahlung der Kurslehrkräfte gefährdet. Lediglich 25 Prozent der Lehrkräfte arbeiten in einem festen Beschäftigungsverhältnis und werden angemessen bezahlt. Die überwältigende Mehrzahl der rund 17 000 studierten Lehrkräfte aber ist freiberuflich tätig. Der Stundensatz für diese Kräfte in den Integrationskursen beläuft sich gegenwärtig auf durchschnittlich 18 Euro brutto. Davon müssen aber auch noch Sozialversiche- rungsabgaben gezahlt und Altersvorsorge betrieben wer- den. Wie viel dann noch von diesen 18 Euro Stunden- lohn übrig bleibt, kann sich jeder vorstellen. Freiberufliche Lehrkräfte können sich nicht darauf verlassen, eine fixe Stundenzahl arbeiten zu können, Lohnfortzahlung bei Kursausfall oder im Krankheitsfall sind Fremdwörter für sie. Sie leben im Ungewissen. Die Höhe der Vergütung kann diese Unsicherheit nicht auf- fangen. Die Folge ist, dass viele von ihnen gezwunge- nermaßen die Altersvorsorge vernachlässigen und ergän- zende Sozialleistungen in Anspruch nehmen müssen. Das darf nicht sein. Die Probleme sind lange bekannt, aber die Bundesre- gierung hat immer noch keine geeigneten Maßnahmen für bessere Arbeits- und Entlohnungsbedingungen der freiberuflichen Lehrkräfte vorgelegt. Das geht nicht. Die Bundesregierung beauftragt die Integrationskurse und kann sich nicht darauf beschränken, auf die Verantwor- tung der Kursträger zu verweisen. Sie können sofort handeln und unverzüglich eine Rechtsgrundlage erlas- sen, die eine Mindestvergütungsgrenze für freiberufliche Lehrkräfte in Höhe von 30 Euro festschreibt. Auch das Problem Scheinselbstständigkeit müssen Sie angehen. Wo sind Ihre Vorschläge? Wie gehen Sie damit um, dass der Wissenschaftliche Dienst attestiert hat, dass etliche Indizien dafür sprechen, dass viele Lehrkräfte scheinselbstständig sind? Schweigen im Walde reicht da nicht. Probleme bestehen aber nicht nur bei der Vergütung der Integrationskurse. Der Zugang zu diesen Kursen ist immer noch nicht für alle Zuwanderinnen und Zuwande- rer gewährleistet. Ihre eigene Integrationsbeauftragte fordert den Teilnahmeanspruch auch für Unionsbürge- rinnen und Unionsbürger. Und da hat sie recht. Schauen Sie doch auf die aktuelle Entwicklung: Die Einwande- rung aus den Mitgliedstaaten der Europäischen Union nach Deutschland nahm allein im Jahr 2011 um 34 Pro- zent zu. Für diese Menschen ist es wichtig, die deutsche Sprache zu lernen. Und das gilt auch für Asylsuchende und Geduldete. Sie sind hier – und das nicht nur vorübergehend. Sie wollen sich integrieren, und dabei müssen wir sie unter- stützen. Der Zugang zu den Integrationskursen ist dafür auch für sie unerlässlich. Es gibt viel zu tun. Lassen Sie es uns gemeinsam an- packen! Anlage 10 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze (Tagesordnungspunkt 22) Heike Brehmer (CDU/CSU): Bildung ist der Schlüs- sel für die Zukunft unserer Kinder. In der christlich-libe- ralen Koalition wollen wir, dass alle Kinder und Jugend- lichen unabhängig von ihrer Herkunft und den finanziellen Möglichkeiten ihrer Eltern eine Chance auf Bildung und Teilhabe erhalten. Mit dem Bildungs- und Teilhabepaket ermöglichen wir Kindern und Jugendlichen aus sozial schwächeren Familien, an Bildungs- und Teilhabeangeboten erstmals seit dem 1. Januar 2011 teilzunehmen. Mit dem Bil- dungs- und Teilhabepaket ermöglichen wir zum Beispiel die Mitgliedschaft im Sport- oder Musikverein ebenso wie das warme Mittagessen in der Kita, in der Schule oder im Hort. Infolge des Bundesverfassungsgerichtsurteils vom 9. Februar 2010 ist das Bildungs- und Teilhabepaket mit dem Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialge- setzbuch rückwirkend zum 1. Januar 2011 eingeführt worden. Das Bildungs- und Teilhabepaket beinhaltet fol- gende Leistungen: die Kosten für ein- oder mehrtägige Ausflüge in der Schule oder der Kita, die Leistungen für den persönlichen Schulbedarf in einer Höhe von 70 Euro jeweils zum 1. August und 30 Euro jeweils zum 1. Februar eines Schuljahres, die Kosten für die Schülerbeförderung, wenn diese erforderlich ist, die Kosten für schulnahe Lernförderung, die Mehrkosten für ein gemeinschaftli- ches Mittagessen in der Schule, Kita oder in der Kinder- tagespflege. Bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres werden ebenfalls monatlich insgesamt 10 Euro zur gesellschaft- lichen Teilhabe berücksichtigt wie etwa die Mitglied- schaft in Vereinen, zum Beispiel in Sport- oder Musik- vereinen. Anspruchsberechtigt für das Bildungs- und Teilhabe- paket sind nicht nur die Kinder und Jugendlichen in der Grundsicherung gemäß dem Zweiten Buch Sozialgesetz- buch, SGB II, sondern auch in der Sozialhilfe gemäß dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch, SGB XII. Kinder und Jugendliche, deren Eltern Anspruch auf Kindergeld- zuschlag oder Wohngeld erhalten oder welche unter das 27722 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 (A) (C) (D)(B) Asylbewerberleistungsgesetz fallen, werden im Bil- dungs- und Teilhabepaket ebenfalls berücksichtigt. Inzwischen sind rund zwei Jahre in der Umsetzung des Bildungs- und Teilhabepakets vergangen. Nach an- fänglichen Anlaufschwierigkeiten wird das Bildungs- und Teilhabepaket gut von den betroffenen Familien an- genommen. Die kommunalen Träger leisten eine hervor- ragende Arbeit vor Ort und sind zuverlässige Ansprech- partner für die Betroffenen. Nach zwei Jahren Praxiserfahrung soll mit dem vor- liegenden Gesetzentwurf die Inanspruchnahme für die betroffenen Familien und die kommunalen Träger vor Ort vereinfacht und sollen bürokratische Hürden verrin- gert werden. Der Deutsche Landkreistag als Vertreter der Landkreise hat dazu konstruktive Vorschläge zur Ver- waltungsvereinfachung unterbreitet. Unsere Ministerin, Frau Dr. Ursula von der Leyen, hat mit der Etablierung der Runden Tische sofort auf die an- fänglichen Anlaufschwierigkeiten des Bildungs- und Teilhabepakets reagiert. Unter Leitung des Bundes- ministeriums für Arbeit und Soziales können die ver- schiedenen Akteure rund um das Bildungs- und Teilha- bepaket an den Runden Tischen ihre Erfahrungen austauschen. Die Vertreter von Bund, Ländern und kommunalen Spitzenverbänden haben sich beim vierten gemeinsamen Runden Tisch am 15. Oktober 2012 auf eine Vereinfa- chung des Bildungs- und Teilhabepakets geeinigt. Die Bund-Länder-AG „Bildung und Teilhabe“ hat daraufhin Vorschläge erarbeitet, welche von den Arbeits- und So- zialministern der Länder aufgegriffen wurden. An dieser Stelle möchte ich Ihnen gern einige Bei- spiele zur Verwaltungsvereinfachung aufzählen, auf wel- che sich die Länder einstimmig verständigt haben: Zum Beispiel sollen Leistungen, die künftig nicht rechtzeitig erbracht werden, wie etwa vor einem Schul- oder Kitaausflug, auch im Nachhinein erstattet werden können. Der Eigenanteil bei der Schülerbeförderung soll zu- künftig in der Regel bei einem Wert von 5 Euro angesetzt werden. Dieser Wert ergibt sich aus aktuellen Datenerhe- bungen zum Mobilitätsverhalten von Schülerinnen und Schülern. Ich zitiere aus dem Gesetzentwurf: „Als zumut- bare Eigenleistung gilt in der Regel ein Betrag in Höhe von 5 Euro monatlich.“ In Zukunft soll es in Ausnahmefällen möglich sein, die Teilhabeleistung von 10 Euro pro Monat nicht nur für die Vereinsmitgliedschaft zu verwenden, sondern auch für Ausrüstungsgegenstände in Sport oder Kultur. Hier sind spezielle Sportkleidung oder die Ausstattung mit einem Musikinstrument denkbar. Um die Teilnahme an Klassenfahrten oder Kitaausflü- gen zu erleichtern, sollen die kommunalen Träger nach ihrem Ermessen die Möglichkeit erhalten, Mittel hierfür auch als Geldleistungen zu erbringen. Für den Bereich Teilhabe soll es möglich sein, Mittel für Freizeiten und andere Angebote im Bewilligungs- zeitraum auch rückwirkend anzusparen. Weiterhin soll es möglich sein, dass Träger mit den Leistungserbringern auch im SGB XII pauschal abrech- nen können. Der vorliegende Gesetzentwurf leistet einen wichti- gen Beitrag zur Vereinfachung und Optimierung des Bil- dungs- und Teilhabepaketes. Die Vorschläge zur Verwal- tungsvereinfachung wurden unter anderem durch den Deutschen Landkreistag eingebracht, welcher die Erfah- rungen der Landkreise mit in den vorliegenden Gesetz- entwurf eingebracht hat. Mit dem Bildungs- und Teilhabepaket haben wir erst- mals seit der Einführung der Hartz-IV-Gesetze durch die rot-grüne Bundesregierung im Jahr 2005 bedürftigen Kindern und Jugendlichen eine Chance gegeben, an Bil- dungs- und Freizeitangeboten teilzunehmen. Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, ich ap- pelliere an Sie, in der heutigen zweiten und dritten Le- sung dem Gesetzentwurf zuzustimmen, welcher von der Bund-Länder-AG konstruktiv vorbereitet wurde, und sich nicht aus der Verantwortung zu nehmen, wenn es darum geht, Kindern und Jugendlichen die Chance auf Bildung und Teilhabe zu ermöglichen. Mit dem Gesetz soll das Bildungs- und Teilhabepaket für betroffene Fa- milien und Träger vereinfacht werden. Kindern und Ju- gendlichen sollen echte Zukunftschancen ermöglicht werden. Denn wir dürfen nicht vergessen: Kinder sind unsere Zukunft. Angelika Krüger-Leißner (SPD): Uns liegt heute der Gesetzentwurf der Bundesländer zu Änderungen im Bildungs- und Teilhabepaket zur abschließenden Bera- tung vor. Wir wissen alle, dass das Bildungs- und Teilha- bepaket gut gemeint war – aber nicht gut gemacht wurde. Nach zwei Jahren müssen wir feststellen, dass die Leistungen zur Garantie des verfassungsrechtlich ge- währten sozio-kulturellen Existenzminimums – und die Zahlen belegen das – die Kinder und Jugendlichen nur in geringem Maße erreichen. Das ist uns zu wenig und hat mit gerechter Teilhabe nichts zu tun. Die vielen komplizierten, bürokratischen und diskri- minierenden Regelungen im Bildungs- und Teilhabepa- ket bilden eine hohe Hemmschwelle und halten viele Anspruchsberechtigte davon ab, die gewährten Leistun- gen in Anspruch zu nehmen. Das ist ein Desaster, vor al- lem vor dem Hintergrund, dass der Bund eine erhebliche Summe Geld für die Teilhabe von Kindern und Jugendli- chen an Bildung und am gesellschaftlichen Leben, im sportlichen wie kreativen Bereich, zur Verfügung stellt, es aber viel zu wenig bei den Kindern ankommt. Umso schlimmer ist, dass diese Probleme von vorn- herein absehbar waren. Wir haben in unserem Antrag „Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes durch eine transparente Bemessung der Regelsätze und eine Förde- rung der Teilhabe von Kindern umsetzen“ – Bundestags- drucksache 17/3648 – frühzeitig auf die zu erwartenden Probleme und Risiken hingewiesen. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 27723 (A) (C) (D)(B) Aber diese Bundesregierung und die Koalitionsfrak- tionen wollten das nicht wahrhaben. Einige der Kollegen von Schwarz-Gelb hatten das auch erkannt und wie wir gefordert, die Leistungen zur Teilhabe nicht über das diskriminierende und verwaltungstechnisch aufwendige Sach- und Dienstleistungsprinzip zu gewähren, sondern sie mit den Regelleistungen auszuzahlen. Ihre Verweigerungshaltung ist für mich ein Ausdruck dafür, dass Sie sozial Schwächere unter Generalverdacht stellen und ihnen damit vorwerfen, nicht für ihre Kinder sorgen zu wollen. Das ist nicht nur falsch, sondern auch zynisch. Die aktuelle Situation darf uns nicht ruhen lassen, ge- meinsam nach besseren Lösungen zu suchen. Die Pro- bleme wurden von vielen Seiten angesprochen und er- kannt. Es freut mich, dass sich der Bund und die Länder mit den kommunalen Spitzenverbänden auf einen Ver- besserungskatalog einigten und den nun vorliegenden Gesetzentwurf entwickelt haben. Wir begrüßen die auf Initiative der Bundesländer ein- gebrachten gesetzlichen Änderungen des Bildungs- und Teilhabepakets – Bundestagsdrucksache 17/12036 –, die zum 1. August 2013 in Kraft treten werden. Diese führen zu einem geringeren Verwaltungsaufwand, wovon auch die Leistungsberechtigten profitieren werden. So kann künftig der monatliche Teilhabebetrag von derzeit 10 Euro flexibler gewährt und in begründeten Ausnahmefällen auch zur Beschaffung von Ausrüs- tungsgegenständen oder für andere Aufwendungen ver- wendet werden – wie zum Beispiel sportbezogene Schutzkleidung oder Musikbedarf. Zudem können An- sparungen vorgenommen und die monatliche Teilhabe- leistung als Budget für größere Beträge verwendet wer- den. Ermöglicht wird außerdem die nachträgliche Erstat- tung verauslagter Gelder für Bildungs- und Teilhabeleis- tungen in Fällen begründeter Selbsthilfe. Dies gilt bei- spielsweise dann, wenn Anbieter auf Barzahlung be- stehen oder der kommunale Träger die Sach- oder Dienstleistung nicht rechtzeitig veranlassen kann. Auch Geldleistungen für Klassenfahrten oder Aus- flüge sind künftig möglich, wenn es beispielsweise kei- nen Leistungsanbieter gibt, der eine Direktzahlung ent- gegennimmt, und dadurch die Gefahr besteht, dass das Kind nicht teilnehmen kann. Bei Schülerfahrkarten, die auch privat nutzbar sind, wird als Regelfall ein zumutbarer Eigenanteil von 5 Euro festgelegt. Diese Änderungen sind ein erster Schritt hin zu weni- ger Bürokratie. Die grundsätzlichen Konstruktionsfeh- ler bleiben jedoch nach wie vor bestehen und werden le- diglich in ihren Auswirkungen abgemildert. Der vorliegende Gesetzentwurf bringt eine Reihe von Verbesserungen, sowohl für die Antragsberechtigten als auch für die Verwaltungen. Dennoch kann er nicht da- rüber hinwegtäuschen, dass weiterer Verbesserungsbe- darf besteht, um ein gleichberechtigtes Maß an Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und einen gleichberechtigten Zugang zu Bildung zu ermöglichen. Viele Vertreter aus der Praxis und einige Länderver- treter haben weitere Schritte aufgezeigt. Dieses Bil- dungs- und Teilhabepaket und die damit unnötigerweise einhergehende Bürokratie wären überhaupt nicht nötig, wenn die Gewährleistung der sozio-kulturellen Teilhabe für Kinder und Jugendliche über die Anpassung der Re- gelsätze erfolgt wäre. Selbst eine CSU-Ministerin, Frau Haderthauer, machte den Vorschlag, den Teilhabebetrag von 10 Euro in den Regelbedarf mit einzubeziehen. Das hätten Sie aufgreifen können. Sie sollten ernsthaft prü- fen, ob diese und weitere Leistungen nicht sehr schnell in den Regelsatz eingerechnet werden können. Dann blieben nur wenige Einzelleistungen zur Ent- scheidung übrig, die auch von den Verwaltungen bewäl- tigt werden können. Wir können die Chancengleichheit der Kinder und Jugendlichen in unserem Land mit dieser gesetzlichen Regelung lediglich ein Stück verbessern. Das unterschreiben wir dann auch. Wir würden aber gerne mehr tun. Unsere Vorschläge zum Ausbau der Bildungs- und Betreuungsinfrastruktur liegen auf dem Tisch, und wir werden sie in einem Antrag erneut zur Diskussion stel- len. Wir wollen den Kindern und Jugendlichen echte Zu- kunftschancen und mehr Bildungsgerechtigkeit geben, und zwar unabhängig von den finanziellen Möglichkei- ten der Eltern. Wir werden unserer Überzeugung folgend weiterhin dafür kämpfen, dass das Bildungs- und Teilhabepaket überflüssig wird. Wir werden unsere Vorschläge umset- zen, wenn nicht jetzt, dann im Herbst dieses Jahres. Pascal Kober (FDP): Das Ziel des heute zu beschließenden Gesetzes ist es, die bisherigen Praxiser- fahrungen beim Bildungs- und Teilhabepaket zum An- lass zu nehmen, um dessen Umsetzung noch weiter zu vereinfachen. Da dies im Interesse der Kinder und Jugendlichen ist, deren Eltern Arbeitslosengeld II bezie- hen, ist es ein gutes Zeichen, wenn wir heute mit breiter Mehrheit das Gesetz beschließen werden. Es beinhaltet ganz konkrete Verbesserungen, sodass das Bildungs- und Teilhabepaket noch besser wirken kann. Zu den Änderungen gehören insbesondere gesetz- liche Klarstellungen zu Punkten, die bisher nicht einheit- lich von den Kommunen umgesetzt wurden, so zum Beispiel die ausnahmsweise Erstattung bereits veraus- lagter Mittel. Wir schaffen aber auch neue Möglichkei- ten, dass der Teilhabebetrag von 10 Euro pro Monat auch für die Anschaffung von Instrumenten oder Sport- geräten ausnahmsweise genutzt werden kann. All diese sinnvollen Änderungen gehen zurück auf die von Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen ins Leben gerufenen Runden Tische zwischen Bund, Ländern und Kommunen. Der vierte Runde Tisch hat im vergangenen Herbst einen Konsens über die im Antrag formulierten Änderungen hergestellt, die dann auch von der Arbeits- und Sozialministerkonferenz im November 2012 so beschlossen wurden. 27724 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 (A) (C) (D)(B) Ziel der Runden Tische ist es gewesen, dass Start- schwierigkeiten behoben werden sollen. Genau dies werden wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf machen. Als wir 2011 das Bildungs- und Teilhabepaket einge- führt haben, haben wir uns in diesem Bereich ganz bewusst für das Sachleistungsprinzip entschieden. Dies haben auch die Sozialverbände als die richtige Entschei- dung gesehen. Der Weg, wie die Leistungen erbracht werden sollen, war umstritten. Während sich die Regie- rungskoalition für eine einheitliche Erbringung und Ver- waltung über die Jobcenter durch die Bundesagentur für Arbeit eingesetzt hat, wollten SPD und Grünen, dass die Zuständigkeit bei den Kommunen liegen sollte. Im Rah- men des Vermittlungsverfahrens haben wir dem Drängen von SPD und Grünen nachgegeben, um einen Kompro- miss zu erreichen, damit die Kinder schnell die Leistun- gen in Anspruch nehmen können. Entstanden sind die Probleme, wie wir sie heute erle- ben müssen. Die Kommunen verwalten das Bildungs- und Teilhabepaket ganz unterschiedlich und setzen die gesetzlichen Vorgaben auf verschiedensten Wegen um. Dass dies nicht ohne Reibungsverluste geschieht, ist dabei offensichtlich. Unser Ziel muss es aber sein, dass die Leistungen möglichst ohne große Hürden zum Wohle der Kinder und Jugendlichen bei diesen ankommen. Daher ist es wichtig, dass sich die Politik stets um Verbesserungen bemüht, wie dies diese christlich-liberale Regierungs- koalition getan hat und auch weiter tun wird. Denn klar ist auch: Mit dem heutigen Tag wird das Thema Bildungs- und Teilhabepaket nicht abgeschlossen sein. Wir werden auch künftig darauf achten müssen, dass auftauchende Probleme unbürokratisch gelöst wer- den können, und werden hier gegebenenfalls auch nach- steuern. Es sind aber auch die Kommunen gefordert, die durch die Nachahmung von Best-practice-Beispielen aus ande- ren Kommunen ihre eigene Verwaltung des Bildungs- und Teilhabepakets verbessern müssen. Anfang April werden die neuesten Zahlen zum Abruf der Leistungen des Bildungs- und Teilhabepakets vorlie- gen. Nach allem, was ich bisher aus den Kommunen vernommen habe, wird die Inanspruchnahme deutlich zugenommen haben. Die anfänglichen Probleme sind durch die stete Begleitung durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales gelöst. Es ist also ein gutes Zeichen, dass das Bildungspaket ankommt und dass es seine Wirkung entfaltet. Dies ist gerade im Hinblick auf die Aufstiegs- und Entwick- lungschancen von Kindern und Jugendlichen, deren El- tern Arbeitslosengeld II beziehen, ein ermutigendes Si- gnal, über das wir uns gemeinsam freuen sollten und welches wir durch den heutigen Gesetzentwurf weiter verstärken. Diana Golze (DIE LINKE): Mit dem Bildungs- und Teilhabepaket ist es wie mit Paketen im richtigen Leben. Nicht immer ist das, was derjenige, der es schnürt, glaubt, reinpacken zu müssen, das, was der Empfänger auch wirklich braucht. Im Falle des Paketes, das die Teil- habe von Kindern an Bildung, Gesellschaft, Kultur und gesellschaftlichem Leben absichern soll, hat die Bundes- regierung einmal mehr unter Beweis gestellt, dass sie vom Leben und vom Alltag der Kinder und Jugendlichen nicht die geringste Ahnung hat. Wie sonst ist zu erklä- ren, warum das deutliche und klare Urteil des Bundes- verfassungsgerichts vom Februar 2010 mit so eklatanten Fehlern und derart realitätsfernen Maßnahmen umge- setzt wurde? Nur mit Unkenntnis ist zu erklären, dass Kinder und Jugendliche ohne Not mit Arbeitsuchenden gleichgesetzt werden, und nur mit Unwissenheit, dass die Bundesregierung schulische und außerschulische Bildung und Förderung nicht bei der Kinder- und Ju- gendhilfe ansiedelt oder die Notwendigkeit von schuli- scher Nachhilfe durch Jobcenter entscheiden lässt. Man kann konstatieren: Laut Bundesverfassungsge- richtsurteil ist neben dem physischen auch das sozio- kulturelle Existenzminimum von Kindern unter Berück- sichtigung ihrer ganz besonderen Bedarfe zu sichern. Das Bildungs- und Teilhabepaket war in seinem Grund- ansatz von Beginn an falsch. Nun, zwei Jahre nach sei- nem Inkrafttreten, kann man nur konstatieren: Es ist un- wirksam für die Kinder und Jugendlichen und vor allem in höchstem Maße bürokratisch für alle Beteiligten. Wer im zuständigen Ministerium wirklich geglaubt hat, mit einem Gesetzeswerk, das sage und schreibe sechs unter- schiedliche und unabhängig voneinander jeweils an- tragsabhängige Leistungen enthält, ein transparentes und bürgerfreundliches, weil nachvollziehbares, Leistungs- paket zu schnüren, hat entweder das Ausmaß des Büro- kratismus und die Folgen für die Betroffenen nicht erah- nen können oder diese billigend in Kauf genommen. Ministerin von der Leyen hat, schon lange bevor sie dem Bundestag ihr Bildungs- und Teilhabepaket vorge- stellt hat, die Weichen für dieses Programm gestellt. In einer unglaublichen Verleumdungskampagne hat sie El- tern, die von ALG II leben müssen, unterstellt, sie wür- den Geld, das ihnen für Bildung oder Teilhabe unter Umständen mehr ausgezahlt werden würde, nicht zum Wohl der Kinder, sondern zur Befriedigung eigener Inte- ressen ausgeben. Es grenzt fast an Zynismus, dass sie mit dem Slogan, das Geld müsse bei den Kindern an- kommen, die Grundlage dafür gelegt hat, dass durch das Bürokratiemonster Bildungs- und Teilhabepaket fast der Hälfte der betroffenen Kinder und Jugendlichen das ver- wehrt wird, was ihnen verfassungsmäßig verbrieft und per Gerichtsurteil rechtskräftig zugesagt wurde. Sie, Frau von der Leyen, sind es, die dafür sorgt, dass Fami- lien vorgeschrieben wird, welche Freizeitangebote über- haupt antragsfähig sind, wann schulische Nachhilfe not- wendig ist und wann wie viel Zuschuss für die Schülerbeförderung gezahlt wird und wann nicht. Wenn also jemand dafür sorgt, dass das Geld nicht da an- kommt, wo es so dringend gebraucht wird, dann ist es diese Bundesregierung, ist es diese Arbeitsministerin. Die Linke bleibt dabei: Weg mit diesem unsozialen, stigmatisierenden Antragsgewirr! Bildung und Teilhabe sind das Recht eines jeden Kindes, und darum müssen Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 27725 (A) (C) (D)(B) die materiellen und finanziellen Grundlagen dafür so zur Verfügung stehen, dass sie für jedes Kind, für jeden Ju- gendlichen auch wirkungsvoll sind. Das geht nur, wenn ihre Eltern nicht zu Vorleistungen gezwungen werden, die sie ohnehin nur schwer leisten können, und wenn es eine Infrastruktur gibt, die einen niedrigschwelligen und vor allem stigmatisierungsfreien Zugang ermöglicht. Und es geht nur, wenn man Schule, Bildung und Kultur endlich als das wertet, was es im Leben von Kindern ist: etwas, das zum Alltag von Kindern und Jugendlichen gehört und damit Teil des Regelsatzes sein muss. All das hätte man mit dem Gesetzentwurf zur Ände- rung des SGB II schaffen können. Dies hätte aber eines politischen Willens bedurft. Der aber ist offenkundig nicht vorhanden. Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem sogenannten Regelsatzurteil vom 9. Februar 2010 klargestellt, dass Leistungen für Bildung und Teilhabe von Kindern und Jugendlichen ebenso zum menschenwürdigen Existenz- minimum gehören wie diejenigen für Nahrung, Klei- dung und Unterkunft. Dies gilt für alle Kinder und Ju- gendlichen, auch für solche, die heute Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz erhalten. Zudem hat das Bundesverfassungsgericht die damaligen Regelleis- tungen mit Blick auf die Berücksichtigung von Bil- dungsausgaben ausdrücklich als unzureichend bewertet. Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen hat im Vorfeld des Verfahrens zum sogenannten Regelbedarfs- Ermittlungsgesetz mehrfach betont, dass die Leistungen bei den Kindern ankommen müssten. Nicht nur implizit unterstellten Mitglieder der Regierungskoalition einem beträchtlichen Teil der leistungsberechtigten Eltern, diese würden das Sozialgeld im Gegensatz zu allen an- deren Eltern eher für sich als für ihre Kinder ausgeben. Eine solche Unterstellung ist nicht nur diskriminierend, sondern entbehrt zudem sowohl jeglicher wissenschaftli- cher Belege als auch jeglicher Erfahrungsgrundlage. Zwar wird niemand bestreiten, dass sich auch unter den Eltern im Arbeitslosengeld-II-Bezug solche befin- den, denen es an Erziehungskompetenz mangelt oder die schlicht unverantwortlich handeln. Jedoch gibt es keinen Grund, anzunehmen, dass dies häufiger vorkommt als bei Eltern, die nicht auf Arbeitslosengeld II angewiesen sind. Eine umfangreiche wissenschaftliche Studie aus dem Jahr 2011 im Auftrag des Diakonischen Werks der Evangelisch-lutherischen Landeskirche in Braunschweig e. V. und der Stiftung Braunschweigischer Kulturbesitz etwa kommt zu dem Ergebnis, dass Eltern mit geringem Einkommen zuallerletzt bei ihren Kindern sparen. Viel- mehr nutzt ein großer Teil der einkommensschwachen Familien die zur Verfügung stehenden finanziellen Res- sourcen, um den Kindern ein gelingendes Aufwachsen zu ermöglichen. Dies ergab beispielhaft eine Untersu- chung zum Nürnberg-Pass aus dem Jahr 2008. Überdies kennen Sozialrecht und soziale Praxis schon heute Möglichkeiten, um Eltern in ihrer Versorgungs-, Erziehungs- und Unterstützungskompetenz zu stärken. Sollten aufgrund von Drogen- oder Alkoholabhängigkeit Probleme dennoch fortbestehen, kann das Existenzmini- mum in Form von Sachleistungen erbracht werden. Die Anwendung des Sachleistungsprinzips bei Bil- dungs- und Teilhabeleistungen allerdings macht aus der Ausnahme die Regel und stellt mithin alle leistungsbe- rechtigten Eltern unter den Verdacht unwirtschaftlichen Verhaltens. Das Bildungs- und Teilhabepaket ist im Er- gebnis eine Sozialleistung mit paternalistischem Charak- ter, die das Ziel verfolgt, auf Basis einer materiellen Ab- hängigkeit den leistungsberechtigten Bürgerinnen und Bürgern eine bestimmte Lebensführung andienen zu wollen. Dies ist zutiefst illiberal und mit einem Sozialstaat, der auf Befähigung und die Ermöglichung von Teilhabe zielt, nicht vereinbar. Eine solche maßregelnde Sozialge- setzgebung kommt naturgemäß nicht ohne ein aufwendi- ges Antragsverfahren aus. So ist es kein Wunder, dass wir es nun auch zwei Jahre nach Inkrafttreten des Bil- dungs- und Teilhabepakets mit der bürokratischsten So- zialleistung aller Zeiten zu tun haben. Die im Gesetzentwurf genannten Änderungsvor- schläge sind zwar grundsätzlich zu begrüßen. Es ist auch gut, dass die schwarz-gelbe Bundesregierung auf Anre- gung der Bundesländer – im Übrigen ganz im Gegensatz zu ihren Antworten auf unsere Kleine Anfrage (siehe Bundestagsdrucksache 17/11789) – nun zu Änderungen im Detail bereit ist. Den großen Geburtsfehler des Bil- dungs- und Teilhabepakets löst der Gesetzentwurf indes nicht. Es ist dringend geboten, die Kinderregelbedarfe nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts indi- viduell und bedarfsdeckend zu berechnen sowie die ein- zelnen Leistungen des sogenannten Bildungs- und Teil- habepakets realitätsgerecht zu ermitteln und über eine Erhöhung des Regelbedarfs sowie über Investitionen in die Bildungs- und Teilhabeinfrastruktur abzugelten. Die grüne Bundestagsfraktion hat mit ihren Anträgen „Für eine sozio-kulturelle Existenzsicherung ohne Lücken“ (Bundestagsdrucksache 17/12389) und „Das Bildungs- und Teilhabepaket – Leistungen für Kinder und Jugendli- che unbürokratisch, zielgenau und bedarfsgerecht erbrin- gen“ (Bundestagsdrucksache 17/8149) entsprechende konkrete Vorschläge eingebracht. Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Arbeit und Soziales: Der Deutsche Bundestag hat heute abschließend über einen Gesetzent- wurf des Bundesrates zur Verwaltungsvereinfachung des Bildungs- und Teilhabepakets zu entscheiden. Diesen Gesetzentwurf begrüße ich auch aus Sicht der Bundesre- gierung. Damit will ich aber keineswegs der aktuellen Debatte um den angeblichen Misserfolg des Bildungs- und Teilhabepakets Vorschub leisten. Die Zahlen der kommunalen Spitzenverbände und des Instituts für Sozial- forschung und Gesellschaftspolitik, ISG, mit Stand März 2012 belegen, dass weder das behauptete „bürokratische Monster“ noch Stigmatisierungssorgen Eltern und Kin- der davon abhalten, die Leistungen des Bildungs- und Teilhabepakets einzufordern: 27726 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 (A) (C) (D)(B) Rund 54 Prozent der berechtigten Kinder und Jugend- lichen haben bereits mindestens eine Leistung des Bil- dungs- und Teilhabepakets beantragt. Dass Leistungen unterschiedlich häufig genutzt wer- den, liegt insbesondere daran, dass der Bedarf sehr un- terschiedlich ist. Lernförderung kommt zum Beispiel nur bei Schulkindern und bei ernsten Problemen im Unter- richt in Betracht. Wo zum Beispiel keine Schulkantine be- steht, ist auch keine Teilnahme am gemeinsamen Mittag- essen möglich. Nur 8 Prozent der Befragten nannten einen hohen An- tragsaufwand als Grund für die Nichtinanspruchnahme des Bildungs- und Teilhabepakets. Stigmatisierungssor- gen spielten nahezu keine Rolle, so 1,7 Prozent der Ant- worten. Von den Befragten, die Anträge gestellt hatten, haben dies 65 Prozent als „leicht“, weitere 19 Prozent als „mit- tel“ und nur 16 Prozent als „schwierig“ empfunden. Viele Leistungen werden dabei erstmals in Anspruch genommen; 63 Prozent bei mehrtägigen Klassenfahrten, 78 Prozent bei gemeinschaftlichem Mittagessen, 78 Pro- zent bei eintägigen Schul- und Kitaausflügen. Für diesen Erfolg haben sich alle Beteiligten enga- giert. Für das Bundesministerium für Arbeit und Sozia- les ist dabei insbesondere auf den von Frau Ministerin Dr. Ursula von der Leyen initiierten, politisch hochran- gig besetzten Runden Tisch zum Bildungs- und Teilha- bepaket hinzuweisen. Dabei konnten unter Federführung des Bundes für vielfältige Fragestellungen untergesetz- liche Lösungsvorschläge erarbeitet werden. Diese betra- fen insbesondere das Verwaltungsverfahren bzw. dessen Vereinfachung. Die Lösungsvorschläge können Länder und Kommunen jedoch nicht binden. Teilweise werden sie nur von einzelnen Ländern und Kommunen aufge- griffen, jedoch nicht bundesweit angewandt. Dies ist ein entscheidender Punkt, insbesondere in der aktuellen medialen Auseinandersetzung um das Bil- dungs- und Teilhabepaket. Für die Frage, ob die Leistun- gen beim Kind ankommen, ob Umsetzungsverfahren und Gesetzesauslegung aus Sicht der Berechtigten, der Leistungserbringer, Schulen, Kitas und Leistungsan- bieter einfach und klar sind, stehen die Kommunen als Träger und die Länder als Aufsichtsbehörden in der Ver- antwortung – auf ausdrücklichen eigenen Wunsch im Rahmen des damaligen Vermittlungsverfahrens. Das Ge- setz jedenfalls lässt genügend Spielräume, um die Le- benswirklichkeit mithilfe des Bildungs- und Teilhabe- pakets zu unterstützen, seien es Babyschwimmkurse, qualitativ hochwertiges Schulessen oder Nachhilfeunter- richt. Man muss es nur wollen, und man muss im Auge behalten, dass es hier um verfassungsrechtlich begrün- dete Ansprüche von Kindern geht. Dort muss das Au- genmerk liegen. Dann erübrigen sich Diskussionen wie diejenige über eine angebliche finanzielle Verantwor- tung des Bundes für die Infrastruktur der Länder und Kommunen. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang kurz auf die fehlerhaften Behauptungen der Opposition zum Ab- rechnungsmodus eingehen: Es ist falsch, wenn behauptet wird, der Bund fordere die Länder zur Abrechnung der Ausgaben für das Bildungs- und Teilhabepaket auf, um daraus die Rückführung von Mitteln in den Bundeshaus- halt abzuleiten. Im Jahr 2013 kommt vielmehr erstmals die im Gesetz verankerte Revisionsklausel zum Zuge, die vorsieht, dass nach Vorlage der Leistungsdaten für das Jahr 2012 die erhöhte Bundesbeteiligung an den Kosten der Unterkunft und Heizung für das laufende Jahr, 2013, auf der Grundlage dieser Leistungsdaten an- gepasst und fortgeschrieben wird. Für den Bund ist es selbstverständlich, etwaige Mehrkosten aus dem Jahr 2012 nachträglich auszugleichen; er geht aber im Gegen- zug genauso selbstverständlich davon aus, dass auch alle Beteiligten dazu beitragen, dass die Leistungen vollstän- dig bei den Kindern ankommen. Für andere Zwecke dür- fen die Mittel nicht eingesetzt bzw. zweckentfremdet werden, sondern müssen gegebenenfalls zweckgebun- den verrechnet werden. Es vermittelt ein falsches Bild, wenn behauptet wird, es gäbe noch keine Rechtsverordnung für die Anpassung der Finanzausstattung des Bildungs- und Teilhabepakets. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat den Entwurf einer solchen Verordnung im Herbst vorgelegt. Dieser wird aber bislang von Länderseite abgelehnt. Nun aber zurück zum heutigen Gegenstand der De- batte. Ich denke, es ist deutlich geworden, warum die Bundesregierung begrüßt, dass der vorliegende Gesetz- entwurf für eine Reihe von Fragen eine bundeseinheit- liche und eindeutige Rechtsgrundlage schafft. Die vorge- schlagenen Rechtsänderungen wurden von Bund und Ländern unter Beteiligung der kommunalen Spitzenver- bände konsensual entwickelt. Ziel des Gesetzentwurfs ist die Erleichterung der Umsetzung des Bildungs- und Teilhabepakets durch folgende Klarstellungen und Öff- nungen: Ausnahmsweise nachträgliche Erstattung bereits vom Berechtigten verauslagter Geldmittel, wenn Sach- oder Dienstleistungen unverschuldet nicht rechtzeitig er- bracht werden konnten; „berechtigte Selbsthilfe“, zum Beispiel bei kurzfristig angesetzten Schulausflügen. Die Möglichkeit, den Teilhabebetrag von bis zu 10 Euro monatlich im gesamten Bewilligungszeitraum – auch rückwirkend ab dessen Beginn – anzusparen, zum Beispiel für Beiträge für Sportvereine oder Freizei- ten. Wenn Schülerfahrkarten auch privat nutzbar sind: re- gelmäßige Berücksichtigung eines Eigenanteils bei der Schülerbeförderung in Höhe von 5 Euro monatlich. Möglichkeit der Geldleistung für Klassenfahrten, aber keine grundsätzliche Abkehr vom Sachleistungsprinzip. In den Bereichen Sport, Spiel, Kultur und Freizeit ausnahmsweise Teilhabeleistung nicht nur wie bisher für Mitgliedsbeiträge, sondern auch für Ausrüstungsgegen- stände und andere Teilnahmebedarfe. Voraussetzung: Be- streiten dieser Aufwendungen aus dem Regelbedarf ist nicht zumutbar. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 27727 (A) (C) (D)(B) Möglichkeit der pauschalen Abrechnung mit den Leistungsanbietern auch beim Bildungs- und Teilhabe- paket in der Sozialhilfe. Ich bitte Sie im Sinne der bedürftigen Kinder um Un- terstützung für dieses wichtige Vorhaben. Anlage 11 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Entflechtung von Gemein- schaftsaufgaben und Finanzhilfen – Antrag: Eine ausreichende Finanzierung des öffentlichen Nahverkehrs gewährleisten (Tagesordnungspunkt 28 a und b) Karl Holmeier (CDU/CSU): Es war einmal eine Fö- deralismusreform aus dem Jahr 2006. Dort haben sich Bund und Länder in großer Eintracht darauf verständigt, dass jeder künftig nur das zahlt, wofür er auch zuständig ist. Diese Eintracht reichte sogar so weit, dass sich der Bund bereit erklärte, den Ländern bis zum Ende des Jah- res 2013 jedes Jahr mit über 2,5 Milliarden Euro zur Ge- meindeverkehrsfinanzierung, für den sozialen Woh- nungsbau und für den Hochschulbau unter die Arme zu greifen. Im Gegenzug haben die Länder versprochen, das viele Geld bis Ende 2013 zweckgebunden zu ver- wenden für Investitionen in den genannten Aufgabenbe- reichen. Für die Zeit danach, das heißt, nach 2013, wollte man sich wieder zusammenfinden, wenn es so weit ist. Das glückliche Ende dieser Geschichte steht leider noch aus. Bislang haben Bund und Länder nicht zusam- menfinden können. Die christlich-liberale Koalition geht daher nun eigenständig zur Tat über und legt den hier zur Debatte stehenden Gesetzentwurf vor. Wir bieten den Ländern an, vorerst für das Jahr 2014 die Kompensationszahlungen auf dem bisherigen Niveau fortzusetzen. Damit wollen wir die dringend notwendige Planungssicherheit für die anstehenden Investitionen er- höhen. Doch wir retten uns mit diesem Gesetzentwurf gerade einmal bis zum nächsten Jahr hinüber, das heißt, der Auftrag des Grundgesetzes infolge der Föderalis- musreform ist noch lange nicht umgesetzt. Wir geben zwar weiterhin eine Menge Geld an die Bundesländer, haben aber künftig keine Möglichkeiten mehr zu sagen, wofür das Geld konkret ausgegeben wer- den soll, und können auch nicht mehr kontrollieren, wie es tatsächlich eingesetzt wird; denn die aufgaben- spezifische Zweckbindung entfällt. Die Berichtspflicht ebenso. Das ist nicht im Sinne des Erfinders! Das kann schon deshalb nicht sein, weil es Länder ge- geben hat und möglicherweise weiter geben wird, die die Bundesmittel trotz Zweckbindung zweckwidrig verwen- det haben. Ich erinnere dabei nur an das Land Berlin, das unter rot-roter Regentschaft Geld, das eigentlich für In- vestitionen in den Wohnungsbau vorgesehen war, zur Altschuldentilgung verwendet hat. So etwas darf es nicht mehr geben! Das ist Betrug am Steuerzahler, und da hört für mich der Spaß auf. Hier muss ein Riegel vorgescho- ben werden! Hätten in der Vergangenheit alle Länder das Geld des Bundes für die vorgesehenen Zwecke ausgegeben, zum Beispiel im Bereich des sozialen Wohnungsbaus, und selbst noch etwas Geld obendrauf gepackt, dann hätten wir heute sicherlich mit Problemen wie der Mietpreisex- plosion nicht zu kämpfen. Wenn Sie also Ihre Ankündigung erst gemeint haben und die Gestaltungsmehrheit im Bundesrat tatsächlich verantwortungsvoll wahrnehmen wollen, dann sind Sie jetzt am Zug. Wenn ich jedoch in der Stellungnahme des Bundesrates zu dem vorliegenden Gesetzentwurf lese, dass Sie in den Bereichen Hochschulbau und Gemeinde- verkehrsfinanzierung noch mehr Geld und in den ande- ren Bereichen Bildungsplanung und Soziale Wohnraum- förderung eine Fortführung der Zahlung in bisheriger Höhe verlangen, dann frage ich mich ernsthaft, was Sie unter verantwortungsvoller Politik verstehen. Dies hat mit Verantwortungsbewusstsein wenig zu tun. Man sollte eigentlich meinen, dass die Kompensa- tionszahlungen, die eine Art Übergangsgeld darstellen, innerhalb des großzügig bemessenen Zeitraumes bis zum Jahr 2019 allmählich reduziert werden müssten. Stattdessen fordern Sie mehr Geld. Und am Ende des Tages, nämlich nach 2019, werden Sie dann in ein tiefes Loch fallen, vor allem die rot-grün regierten Länder. Das ist also Ihr Verständnis von Verantwortung? Damit wir uns nicht falsch verstehen: Selbstverständ- lich muss sichergestellt sein, dass unsere Kommunen weiterhin ausreichend GVFG-Mittel für die kommuna- len Straßen erhalten, es muss sichergestellt sein, dass un- sere Kommunen ausreichend Geld für den Wohnungs- bau erhalten, und es muss auch sichergestellt sein, dass ausreichend Geld für die Hochschulen und die Bildungs- planung vorhanden ist. Aber es kann doch nicht sein, dass die Länder die ein- vernehmliche Aufgabenverteilung nach der Föderalis- musreform einfach ignorieren und ausschließlich den Bund in der Verantwortung sehen, wenn es darum geht, wer die Zeche zahlt! Ich lade Sie daher ein, sich gemeinsam mit uns an ei- nen Tisch zu setzen, Ihre Blockadehaltung aufzugeben und verantwortungsvolle Lösungen für die Zukunft un- seres Landes zu finden. Johannes Kahrs (SPD): An den Beginn meiner Rede möchte ich zwei Zitate stellen: „Aufgabe des Staates ist es, eine zukunfts- und leis- tungsfähige Infrastruktur zu garantieren, für faire Wett- bewerbsregeln zu sorgen sowie den Unternehmen Pla- nungssicherheit zu gewährleisten.“ und „Über die Höhe der Finanzausstattung für die ehemalige Gemeindever- 27728 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 (A) (C) (D)(B) kehrsfinanzierung werden wir für die Folgezeit bis 2019 in der Mitte der Legislaturperiode entscheiden.“ Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP, diese Worte sollten Ihnen bekannt vorkommen, stammen sie doch aus Ihrem Koalitionsvertrag aus dem Herbst 2009. Bis zur Mitte der Legislaturperiode wollten Sie dieses Problem vom Tisch haben. Jetzt – sieben Monate vor Ende der Legislatur – legen Sie einen Gesetzentwurf zur ersten Lesung vor. In einem Fall, in dem es in allererster Linie um Planbarkeit und Verlässlichkeit unter Partnern geht, ist das eine Katastrophe. Wie immer hat sich die Regierung Merkel als große Enttäuschung für die Bürger im Lande erwiesen. Aber warum sollte es in der Zusam- menarbeit mit den Ländern anders sein als bei den Din- gen, die der Bund zu regeln hat? Unter der Aufgabenstellung, eine verlässliche Part- nerschaft mit den Ländern zu gewährleisten, wäre es Aufgabe der Regierung gewesen, in den vergangenen zwei Jahren mit den Ländern eine solide und nachhaltige Regelung zu finden. In dieser Regelung hätte man die Höhe der Gelder und auch die Auflagen und Regularien sauber klären müssen. Die vielen Vertragspartner, Unter- nehmen und Institutionen, die in den Bereichen Bildung, öffentlicher Personennahverkehr und Wohnungsbau tätig sind, brauchen seit Jahren eine verlässliche Aussage, wie es in ihrem Bereich weitergeht. Alle wissen: Der Anspruch auf die sogenannten Ent- flechtungsmittel läuft aus, und ab 2013 entfällt die Zweckbindung der Mittel. In welcher Höhe die Mittel ab diesem Datum an die Länder fließen sollen, weiß bislang niemand. In den Verhandlungen mit den Ländern hat das Bundesministerium der Finanzen eine konstante Absen- kung der Mittel um jährlich 367 Millionen Euro vorge- schlagen. Von 2,2 Milliarden Euro im Jahr 2014 sollen die Gelder dadurch bis 2019 auf null verringert werden. Diesem Vorschlag haben die Länder eine Forderung nach einer Erhöhung der Gesamtsumme auf jährlich 3,4 Milliarden Euro entgegengesetzt. Man kann von die- ser Forderung halten was man will, aber Ihre Aufgabe, Herr Finanzminister, wäre es doch gewesen, in intensive Verhandlungen mit den Ländern einzutreten, bis ein Er- gebnis auf dem Tisch liegt, das über den Tag hinaus Be- stand hat und allen Partnern Planungssicherheit bietet. Dass dies hier eindeutig nicht geschehen ist, beweist der hier vorliegende Gesetzentwurf – ein Trostpflaster. Das offensichtliche Desinteresse in dieser Frage bettet sich aber ein in eine Politik der sozialen Kälte, die Sie in den vergangenen drei Jahren praktizieren. In den vergan- genen Jahren hat Schwarz-Gelb kontinuierlich im Ein- zelplan 12 bei den Programmen der Städtebauförderung gekürzt und zusammengestrichen. Mit besonderer Verve hat sich diese sogenannte bürgerliche Koalition am Pro- gramm „Soziale Stadt“ ausgelassen. Unter dem Kom- mando des kleineren Koalitionspartners hat man hier sehr deutlich gemacht, was man von Menschen hält, die man nicht zur originären Wählerklientel zählt. Kürzun- gen – Streichungen – Ignoranz. Bei dem hier vorliegenden Gesetzentwurf handelt es sich um ein Glas voll Wasser, mit dem die Regierung ei- nen drohenden Flächenbrand bekämpfen will. Es kommt zu spät – das Haus brennt bereits –, es fehlt der Feuer- löscher für die kommenden Jahre. Die Intention dahinter ist eindeutig: Sie verschieben die Absenkung der Mittel auf die Zeit nach der Wahl. Regiert Frau Merkel auch nach dem 22. September 2013 noch, brechen schwere Zeiten für die Länder an. Die Millionen Bürgerinnen und Bürger jeden Tag an den Bushaltestellen im Land, die Studenten und wissen- schaftlichen Mitarbeiter an den Unis in Deutschland, die Millionen Menschen – Rentner, junge Familien und Empfänger geringer Einkommen –, die auf günstige Mieten angewiesen sind, sollten sich darüber im Klaren sein: Schwarz-Gelb lässt sie im Regen stehen. Otto Fricke (FDP): Wir haben es bei dieser Debatte über den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Fort- schreibung der Entflechtungsmittel des Bundes an die Länder mit einer leider mittlerweile sehr typischen Föde- ralismusdebatte zu tun. Als typisch muss diese Debatte deshalb bezeichnet werden, weil es wieder einmal darum geht, dass der Bund von einigen Ländern finanziell aus- genutzt werden soll. Aber worum geht es in diesem Fall konkret? Im Rah- men der Föderalismuskommission I ist mit den Ländern vereinbart worden, dass bestimmte Gemeinschaftsaufga- ben, wie der Aus- und Neubau von Hochschulen einschließlich der Hochschulkliniken und die Bildungs- planung, sowie die der Finanzhilfen zur Verbesserung der Verkehrsverhältnisse der Gemeinden und zur sozia- len Wohnraumförderung ab 2007 abgeschafft und die Aufgaben sodann nur noch von den Ländern wahrge- nommen werden. Zum Ausgleich für die entfallenden Finanzierungsanteile leistet der Bund auf der Grundlage des Art. 143 c Grundgesetz bis 2019 jährliche Beiträge aus seinem Haushalt an die Länder. Nun sind für die Jahre 2007 bis 2013 die Beträge auf rund 2,6 Milliarden Euro festgeschrieben worden, und sie werden zweckgebunden für die Investition in den Einzelbereichen Hochschulneubau, Bildungsplanung, Verbesserung der kommunalen Verkehrsverhältnisse und soziale Wohnraumförderung den Ländern zur Verfügung gestellt. Bis Ende dieses Jahres jedoch müssen Bund und Län- der nach den grundgesetzlichen Bestimmungen prüfen, in welcher Höhe die vom Bund zu leistenden Beiträge für den Zeitraum 2014 bis zu deren Auslaufen Ende 2019 zur Aufgabenerfüllung der Länder noch „angemes- sen und erforderlich sind“. Zudem sind die Mittel ab 2014 nur noch an eine investive Verwendung gebunden; die bisherige aufgabenbereichspezifische Zweckbindung entfällt also. Nun gibt es allerdings unterschiedliche Auffassungen zwischen Bund und Ländern über die Höhe der Mittel, die für eine angemessene und erforderliche Aufgabener- füllung der Länder vom Bund bereitgestellt werden. Der Bund hat in unserem hier vorliegenden Gesetzentwurf Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 27729 (A) (C) (D)(B) den Ländern in Fortschreibung der auch im laufenden Jahr zur Verfügung gestellten Mittel einen Gesamtbetrag von 2,6 Milliarden Euro angeboten. Die Länder fordern jedoch die Aufstockung der Mittel um insgesamt 829,2 Millionen Euro. Diese dann rund 3,4 Milliarden Euro sollen nach Auffassung der Länder zudem bis Ende 2019 fortgeschrieben werden. Dabei verweist allein schon die Tatsache, dass die Länder in ihren Einzelbeträ- gen, die sie nun als mehr als angemessen ansehen – mit 900 Millionen Euro für den Aus- und Neubau von Hoch- schulen einschließlich der Hochschulkliniken und 1,96 Milliarden Euro für Investitionen zur Verbesserung der Verkehrsverhältnisse der Gemeinden – durchweg gerundete Beträge genannt haben, darauf, dass diese Bedarfe eher als „gegriffen“ denn als angemessen zu bewerten sind. Für meine Fraktion möchte ich hier festhalten, dass wir diese vornehmlich von SPD-geführten Ländern mit- betriebene Ausbeutungspolitik auf Kosten des Bundes ablehnen. Hier soll in sehr durchsichtiger Weise nur die eigene Unfähigkeit zur Haushaltskonsolidierung aus eigener Kraft kaschiert werden. Eine Haushaltskonsoli- dierung zulasten Dritter, nämlich vorzugsweise des Bun- des, ist mittlerweile „gute Übung“ und scheint auch in diesem Fall in großem Umfang geplant zu sein. Ziel der Föderalismusreform war die Entflechtung von Finanzbe- ziehungen und nicht die dauerhafte Subventionierung einzelner Länderdienstleistungen durch den Bund. Sollte es aber zu keiner Einigung zwischen Bund und Ländern in der Frage der Höhe der Ausgleichsmittel kommen, bedeutet dies aus meiner Sicht, dass rein recht- lich zunächst einmal keine Ausgleichsmittel seitens des Bundes an die Länder gezahlt werden können. Auch an dieser Stelle darf ich noch einmal darauf hin- weisen, dass Länder und Kommunen gemeinsam mehr Steuereinnahmen zur Verfügung haben als der Bund. Auch vor diesem Hintergrund sind die Vorstellungen der Länder kritisch zu bewerten. Nun planen die SPD-geführten Länder ganz offen- sichtlich, das beim Bundesrat liegende Gesetz zur inner- staatlichen Umsetzung des Fiskalvertrags dazu zu benut- zen, den Bund unter Druck zu setzen. Ich kann nur davor warnen, mit einer verzögerten oder gar verhinderten Umsetzung des Fiskalvertrags in nationales Recht und damit der Verletzung dieser zentralen, internationalen Verpflichtung zur Stabilisierung der Euro-Zone großen Schaden für Deutschland und Europa anzurichten. SPD und Grüne sollten sich überlegen, ob sie diese im höchs- ten Maße unrühmliche Rolle übernehmen wollen. Katrin Kunert (DIE LINKE): Anlässlich des von der Bundesregierung vorgelegten Gesetzentwurfs zur Zu- kunft der Entflechtungsmittel haben wir uns entschlos- sen, das mit den Entflechtungsmitteln eng verzahnte Thema der Finanzierung des öffentlichen Personennah- verkehrs auf die Tagesordnung zu setzen. Dazu wurde durch die Linke auch ein entsprechender Antrag vorge- legt. Die sogenannten Entflechtungsmittel, also die Mittel, die nach dem Entflechtungsgesetz vom Bund an die Län- der zu zahlen sind, dienen als Ausgleich dafür, dass sich der Bund infolge der Föderalismusreform aus der Finan- zierung bestimmter Aufgaben zurückgezogen hat. Das Ziel der Föderalismusreform bestand darin, bestehende Mischfinanzierungen abzubauen. Erreicht werden sollte dies durch eine entsprechende Grundgesetzänderung. Durch diese Grundgesetzänderung wurde – verein- facht gesagt – festgeschrieben, dass bestimmte Aufga- ben zukünftig ausschließlich durch die Länder zu finan- zieren sind. Im Gegenzug wurde festgelegt, dass die Länder für einen Übergangszeitraum bis 2019 durch den Bund Kompensationszahlungen erhalten sollen. Deren Höhe ist bis Ende dieses Jahres festgeschrieben. Betroffen hiervon sind neben unterschiedlichen Auf- gaben wie zum Beispiel die Wohnraumförderung oder der Aus- und Neubau von Hochschulen die Investitio- nen, die zur Verbesserung der Verkehrsverhältnisse in den Gemeinden erforderlich sind. Diese Investitionen fließen sowohl in kommunale Straßen als auch in den ÖPNV. Auch wenn der von Ihnen vorgelegte Gesetzentwurf zumindest keine Absenkung der Entflechtungsmittel vorsieht, geht die nunmehr vorgeschlagene Regelung, nämlich die Fortführung der Zahlungen in bisheriger Höhe, also 1,3355 Milliarden Euro pro Jahr, am tatsäch- lichen Finanzierungsbedarf der Verkehrsinfrastruktur vorbei. In der Begründung des Gesetzentwurfs sagen Sie, die in § 6 Abs. 1 des Entflechtungsgesetzes vorge- schriebene Angemessenheits- und Erforderlichkeitsprü- fung hat noch nicht stattgefunden. Von Gesetzes wegen haben Sie dafür ja auch noch bis Ende 2013 Zeit. Es dürfte allerdings schon jetzt jedem hier im Haus klar sein, dass die von Ihnen angestrebte Fortführung der Zahlungen in der bisherigen Höhe den Bedarf nicht de- cken kann. Aus den Ergebnissen der von der Verkehrsminister- konferenz vorgelegten Bedarfsermittlung ergibt sich hinsichtlich der Investitionen zur Verbesserung der Ver- kehrsverhältnisse in den Gemeinden ein Bedarf an Bun- desmitteln in Höhe von 1,96 Milliarden Euro jährlich. Die Linke unterstützt daher ausdrücklich die Forderung des Bundesrates in seiner Stellungnahme zum vorgeleg- ten Gesetzentwurf, die Höhe der Entflechtungsmittel ent- sprechend anzupassen. Es ist vollkommen unverständ- lich, dass den Kommunen mit Verweis auf den angeblich nicht bekannten Bedarf die notwendige Finanzierung in diesem Bereich versagt wird. Der ÖPNV ist für die gesellschaftliche Entwicklung in der Bundesrepublik sowohl in sozialer als auch in ökologischer Hinsicht von größter Bedeutung. Vor dem Hintergrund der anstehenden Energiewende denke man nur an die im Vergleich zum motorisierten Individual- verkehr deutlich bessere Energiebilanz des ÖPNV. Gleichzeitig erfüllt der ÖPNV das Mobilitätsbedürfnis von Millionen Nutzerinnen und Nutzern. Die Kommunen leiden seit Jahren an einer strukturel- len Unterfinanzierung und können die Aufgabe, einen at- 27730 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 (A) (C) (D)(B) traktiven und hochwertigen ÖPNV zu organisieren und zu betreiben, nicht alleine stemmen. Beim straßengebun- denen ÖPNV, also dem Verkehr mit Bussen, Straßen- und U-Bahnen, wird der Neu- und Ausbau – in Abhängigkeit von den landesspezifischen Förderbedingungen – mit 70 Prozent, teilweise sogar mit bis zu 85 Prozent Ent- flechtungsmitteln finanziert. Diese Zahlen machen deutlich, wie wichtig die Ent- flechtungsmittel für die örtliche Verkehrsinfrastruktur sind. Die Entflechtungsmittel bilden darüber hinaus auch eine wichtige Finanzierungsquelle für den Schienen- personennahverkehr, also insbesondere den Verkehr mit S-Bahnen. Der von der Bundesregierung vorgelegte Gesetzent- wurf ist nicht nur in Bezug auf die Finanzierung der In- vestitionen, die zur Verbesserung der Verkehrsverhält- nisse in den Gemeinden erforderlich sind, unzureichend. Völlig ausgeblendet bleiben die Fragen, wie der ÖPNV vor dem Hintergrund der besonderen Herausforderungen unserer Zeit, zum Beispiel dem demografischen Wandel oder der Energiewende, überhaupt aussehen soll. Wenn die Anforderungen an den ÖPNV steigen, muss sich dies auch in der Finanzierung bemerkbar machen. Die Linke fordert neben einer Erhöhung der Entflech- tungsmittel auf die von Bundesrat und Bundesverkehrs- ministerkonferenz geforderten 1,96 Milliarden Euro jährlich eine grundlegende Reform der ÖPNV-Finanzie- rung, deren Ziel darin bestehen muss, langfristig, also auch über das Jahr 2019 hinaus, ein attraktives ÖPNV- Angebot sowohl in Ballungszentren als auch in ländli- chen Räumen sicherzustellen. Die Höhe der Zahlungen nach § 5 des Regionalisie- rungsgesetzes, die neben den Entflechtungsmitteln den überwiegenden Anteil der Finanzierung des Schienen- personennahverkehrs sicherstellen, muss mit der Ent- wicklung der Trassen- und Stationspreise gekoppelt wer- den. Wenn Letztere um einen bestimmten Prozentsatz steigen, muss die Höhe der Zahlungen nach § 5 des Re- gionalisierungsgesetzes um den gleichen Prozentsatz steigen. Dabei muss sichergestellt werden, dass mit den Mitteln nach dem Regionalisierungsgesetz tatsächlich der Schienenpersonennahverkehr gefördert und damit der öffentliche Verkehr insgesamt gestärkt wird. Nicht akzeptabel ist es, wenn sich die Bahn, die sich zu 100 Prozent im Eigentum des Bundes befindet, auf bestimmten Strecken aus dem Fernverkehr zurückzieht und dieser nunmehr mit Nahverkehrszügen erbracht wird. Eine Förderung mit Regionalisierungsmitteln stellt in diesem Fall eine Zweckentfremdung dar. Ich möchte Sie darum bitten, unserem Antrag zuzu- stimmen. Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Die Regelung zu den Entflechtungsmitteln, die wir heute diskutieren, ist eng verbunden mit der Umset- zung des Fiskalvertrags in Deutschland. Eine Neurege- lung wurde den Ländern von der Bundesregierung in den Verhandlungen fest zugesagt, aber die Bundesregierung hat nicht wie versprochen geliefert, sondern vergeblich versucht, die Länder an der Nase herumzuführen. Die Länder haben sich das zu Recht nicht bieten lassen. Dreieinhalb Monate nachdem wir das Gesetz zur innerstaatlichen Umsetzung des Fiskalvertrags hier im Deutschen Bundestag zum ersten Mal beschlossen haben, kommt die Bundesregierung nun endlich ihrer Zusage an die Länder nach und legt einen Vorschlag zur Regelung der sogenannten Entflechtungsmittel vor. Es ist hochgradig peinlich, dass die schwarz-gelbe Bundes- regierung von den Ländern zur Einhaltung ihrer Verspre- chen gezwungen werden musste, indem sie die Fiskal- vertragsumsetzung im Bundesrat blockiert haben. Aber Merkels Regierung hat daraus nichts gelernt. Im Januar dieses Jahres hat die Koalition das Fiskalvertragsgesetz erneut durchgedrückt, ohne die zugesagten Entflech- tungsmittel zu regeln. Wieder mussten die Länder das Gesetz im Bundesrat stoppen. Ich frage Frau Merkel: Wie oft wollen Sie dieses peinliche Pokerspiel eigentlich noch spielen? Der Vorstoß, über den wir heute diskutieren, war of- fenbar auch nicht vorab mit den Ländern abgestimmt. Fest steht, dass der Bund den Ländern die Entflechtungs- mittel bis 2019 zahlen sollte. Verantwortungsvolle Poli- tik würde bedeuten, die Mittelverteilung dann auch bis dahin zu regeln, so wie es die Länder verlangen. Die ge- plante Regelung im vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung bezieht sich aber explizit nur auf das Jahr 2014. Was danach kommt, ist völlig unklar. Diese kurzsichtige Politik behindert die Planungssicherheit in den Ländern und untergräbt damit den eigentlichen Zweck der Entflechtungsmittel, nämlich Investitionen in Bildung und Infrastruktur. Es geht mir gar nicht darum, den Ländern mehr Geld zu geben, die Höhe der Entflechtungsmittel ist meines Erachtens völlig angemessen. Aber wir brauchen eine Regelung, die länger als zwölf Monate hält, damit diese unwürdigen Spielchen nicht jedes Jahr aufs Neue ge- spielt werden und die Länder wissen, was Sache ist. Das kostet kein zusätzliches Geld, stärkt aber die Investi- tionsbereitschaft der Länder maßgeblich. Wenn der Bund erhebliche öffentliche Mittel bereit- stellt – wir reden für 2014 immerhin über Finanzhilfen von fast 2,6 Milliarden Euro –, muss er auch dafür sor- gen, dass das Geld an den richtigen Stellen ankommt. Das ist bisher leider nur unzureichend geregelt. Wir Grünen sagen ganz klar: Bei der Verwendung der Ent- flechtungsmittel muss der Schwerpunkt auf Investitio- nen in Hochschulen liegen. Das Kooperationsverbot verhindert bisher leider jede Möglichkeit zur Bildungsfi- nanzierung durch den Bund, den Ländern fehlt das Geld für eine angemessene Ausstattung. Nachdem der Bund sich aus der Bildungsfinanzierung zurückgezogen hat, müssen deshalb jetzt wenigstens die Entflechtungsmit- tel, die der Bund den Ländern als Kompensation zahlt, gezielt in den Wissenschaftsbereich investiert werden. Darauf werden wir in den weiteren Verhandlungen drängen. Immerhin liegt jetzt endlich ein Vorschlag auf dem Tisch, das ist wenigstens schon einmal eine Diskus- sionsgrundlage, mit der man arbeiten kann. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 27731 (A) (C) (D)(B) Steffen Kampeter, Parl. Staatssekretär beim Bun- desminister der Finanzen: Es gibt einen klaren Auftrag aus dem Grundgesetz, nämlich den Prüfauftrag, in wel- cher Höhe die Entflechtungsmittel zur Aufgabenerfül- lung der Länder noch angemessen und erforderlich sind. Das ist der Auftrag. Aus Sicht der Bundesregierung kann das Ziel nicht eine dauerhafte Mitfinanzierung früherer Gemein- schaftsaufgaben bzw. eine Bereitstellung von Finanzhil- fen durch den Bund sein, sondern im Endergebnis ein vollständiger Rückzug des Bundes aus diesen Gebieten. Mit einer schrittweisen Rückführung der Kompensa- tionszahlungen und der Entflechtung der Aufgaben wer- den auch die Länder gestärkt. Das wäre im Sinne unseres föderalen Systems. Der Bundesrat fordert hingegen, abgeleitet aus Bedar- fen, für die Jahre 2014 bis 2019, die Kompensationsleis- tungen für die Bereiche „Hochschulbau“ und „Gemein- deverkehrsfinanzierung“ zu erhöhen und für die Bereiche „Bildungsplanung“ und „Wohnraumförderung“ in unver- änderter Höhe fortzuführen. Bedarfe – und das wissen wir doch – lassen sich in beliebiger Höhe errechnen. Aufgabe der Politik ist ge- rade die Priorisierung dieser Bedarfe. Zahlreiche Verhandlungsrunden zwischen Bund und Ländern – nun schon über fast zwei Jahre – führten nicht zum Erfolg, obwohl die Bundesregierung stets ihre Be- reitschaft zu einer Verständigung signalisiert hat. Von den Ländern kamen solche Signale bisher nicht. Da Länder und Kommunen ein gewisses Maß an Pla- nungssicherheit fordern, um ihre Investitionstätigkeit nicht unterbrechen zu müssen, hat sich die Bundesregie- rung trotz dieser ausgesprochenen Blockadehaltung be- reit erklärt, die Mittel im Jahr 2014 in unveränderter Höhe fortzuführen. Es handelt sich hierbei immerhin um knapp 2,6 Milliarden Euro, die der Bund den Ländern zur Verfügung stellen will. Und das steht im Gesetzent- wurf. Wir wollen weitere Gespräche über die Höhe der Mit- tel für die Zeit nach 2014 führen. Dieses Entgegenkommen des Bundes wird von den Ländern allerdings nicht anerkannt. Der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme zu dem Gesetzentwurf die bisheri- gen Länderforderungen wiederholt – frei nach dem Motto: Steter Tropfen höhlt den Stein! Die Bundesregierung hat in ihrer Gegenäußerung die Forderungen des Bundesrates zurückgewiesen. Essen- ziell für uns bleibt, dass die Mittel im Zeitraum bis 2019 abgesenkt werden müssen. Weder aus dem Grundgesetz noch aus dem Entflechtungsgesetz lässt sich ableiten, dass sich der Bund dauerhaft an der Finanzierung der ge- nannten Aufgaben beteiligen soll. Die Bundesregierung bekräftigt ihre Bereitschaft, ei- nen konstruktiven Beitrag zu einer fristgerechten Lösung zu leisten, erwartet dasselbe jedoch auch von den Län- dern. Und nun zu dem Junktim: Zwischen Bund und Ländern wurde im Zusammen- hang mit der Ratifizierung des Fiskalvertrags Ende Juni 2012 vereinbart, dass im Herbst des Jahres 2012 eine Ei- nigung über die Fortführung der Entflechtungsmittel er- zielt werden solle. Das Eckpunktepapier, in dem dies festgehalten wurde, enthielt auch eine allgemeine Eini- gung zur innerstaatlichen Umsetzung des Fiskalvertrags. Die Länder haben zwischen diesen Vorhaben stets eine direkte Verbindung hergestellt. So verweigerten sie im Dezember 2012 dem Gesetz zur innerstaatlichen Umsetzung des Fiskalvertrags im Bundesrat die Zustimmung, da sie ihre Forderungen zu den Entflechtungsmitteln nicht erfüllt sahen. Erst letzte Woche hat der Finanzausschuss des Bundesrates dem Bundesrat empfohlen, das von den Fraktionen von CDU/ CSU und FDP erneut eingebrachte Gesetz zur innerstaat- lichen Umsetzung des Fiskalvertrags an den Vermitt- lungsausschuss zu überweisen. Im Interesse stabiler Haushalte auf europäischer Ebene appelliere ich daher auch an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen: Machen wir alle unseren Kollegen in den Landesregierungen klar, dass eine Einigung in diesen Bereichen uns allen hilft. Haushaltskonsolidierung und solide öffentliche Haus- halte sind zur Sicherung der langfristigen Handlungsfä- higkeit des Staates unverzichtbar. Die Forderungen der Länder sind deshalb nicht akzeptabel. Einzelne Politik- bereiche dürfen nicht von der Konsolidierung ausge- nommen werden. Eine Blockadehaltung der Länder ist wenig hilfreich – ein weiteres Abwarten für Verhandlun- gen auch nicht. Ich werbe daher um Zustimmung zum vorliegenden Gesetzentwurf. Wir unterbreiten den Ländern ein faires Angebot. Ich appeliere hiermit nochmals ausdrücklich an die Länder, nicht nur an den Verhandlungstisch zu- rückzukehren, sondern auch ein Angebot mitzubringen; denn nur dann kann man verhandeln. Lassen Sie uns in künftigen Gesprächen eine Eini- gung für die Jahre nach 2014 erzielen. Anlage 12 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Amtshilferichtlinie sowie zur Än- derung steuerlicher Vorschriften (Amtshilfericht- linie-Umsetzungsgesetz – AmtshilfeRL-UmsG) (Tagesordnungspunkt 30) Olav Gutting (CDU/CSU): Mit dem Amtshilfericht- linie-Umsetzungsgesetz befassen wir uns heute mit Maßnahmen, welche eigentlich bereits mit dem Jahres- steuergesetz 2013 hier im Bundestag – auch mit der Opposition – hinreichend beraten und auch beschlossen wurden. Das Jahressteuergesetz 2013 sollte auch diesmal überwiegend dazu dienen, steuertechnische Anpassun- gen aus Gerichtsurteilen, EU-rechtlichen Vorgaben, aber auch aus Anregungen von Verwaltung und Verbänden und des Bundesrates aus Praktikabilitätsgründen im 27732 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 (A) (C) (D)(B) Rahmen eines Omnibusgesetzes vorzunehmen. Soweit die bisherige bewährte Praxis. Leider mussten wir vor Weihnachten erleben, wie die rot-grüne Opposition über ihre Mehrheit im Bundesrat parteipolitische Spielchen mit diesem wichtigen Jahres- steuergesetz betrieben hat. Nachdem man sich im Ver- mittlungsausschuss im Wesentlichen geeinigt hatte, musste die rot-grüne Ländermehrheit plötzlich ein neues Stöckchen hervorzaubern. Das Ergebnis ist bekannt. Es ist besonders schade, weil Sie mit diesen taktischen Spielchen auch Ihre eige- nen für wichtig erachteten und über den Bundesrat ein- gebrachten Anträge auf dem Altar billiger Polemik und des Wahlkampfes geopfert haben. Jetzt stellen Sie sich hin und wundern sich, dass die von uns mit der Mehrheit der Koalition im Bundestag beschlossene Schließung von Steuerschlupflöchern nicht umgesetzt werden kann. Sie haben damit nicht nur unserem Land einen Bären- dienst erwiesen, sondern vielen Bürgerinnen und Bür- gern, welche auf rasche Umsetzung wichtiger Regelun- gen zum Jahresanfang vertraut haben, geschadet. Ich erinnere hier nur beispielhaft an die Antragsmög- lichkeit für den Arbeitnehmer, die Geltungsdauer eines im Lohnsteuerabzugsverfahren zu berücksichtigenden Freibetrags künftig auf zwei Kalenderjahre zu verlän- gern, aber auch an die notwendige Regelung zur Einfüh- rung der elektronischen Lohnsteuerabzugsmerkmale und der Umsetzung des OECD-Ansatzes zur internationalen Betriebsstättenbesteuerung. Ich hoffe nur, die Wählerinnen und Wähler, welche Geldbezüge im Bundesfreiwilligendienst oder einem anderen freiwilligen zivilen Dienst, insbesondere im Jugendfreiwilligendienst, erhalten, werden sich daran er- innern, dass Sie von der Opposition aus rein wahl- taktischen Gründen mit Ihrer Obstruktionspolitik im Bundesrat die Steuerfreiheit beim Taschengeld und ver- gleichbaren Geldleistungen verhindert haben. Auch den besonderen Gewerbesteuer-Zerlegungs- maßstab für Windkraftanlagen, welcher auch auf Solar- anlagen ausgeweitet werden sollte, haben Sie verhindert. Das ist insbesondere deshalb ärgerlich, weil wir diese Maßnahme, welche insbesondere auch vom Rot-Grün bestimmten Bundesrat mehrfach gefordert wurde, stets unterstützt haben und weil wir damit auch die im Bericht des Finanzausschusses zur Umsetzung der Beitreibungs- richtlinie eingeforderte Regelung endlich einführen wollten. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf – im Vergleich zum Jahressteuergesetz 2013 deutlich abgespeckten Ge- setzentwurf – wollen wir nunmehr wenigstens die zwin- gend notwendigsten Maßnahmen mit dem geringsten politischen Konfliktpotenzial schnellstmöglich im Inte- resse der Betroffenen umsetzen. Wir beraten hier lediglich knapp 20 Maßnahmen, während beim Jahressteuergesetz 2013 mit den Empfeh- lungen des Bundesrates weit über 200 steuerrechtliche Einzelregelungen zu diskutieren waren. Hierzu zählt die Umsetzung der Amtshilferichtlinie in deutsches Recht. Mit der Richtlinie soll eine effizientere Zusammenarbeit der Steuerbehörden der EU-Mitgliedstaaten erreicht werden, um Steuern bei grenzüberschreitenden Aktivitä- ten ordnungsgemäß festsetzen zu können. Wesentlich ist die Schaffung sogenannter zentraler Verbindungsbüros in allen Mitgliedstaaten, die stufenweise Entwicklung ei- nes automatischen Informationsaustauschs und die Ver- besserung der Verwaltungszusammenarbeit. Bereits beim Jahressteuergesetz 2013 war es uns be- sonders wichtig, die Elektromobilität zu fördern. Daran halten wir auch mit diesem Gesetzentwurf aus gutem Grunde fest. Wir verstehen die Elektromobilität als ein wichtiges zukunftsträchtiges und innovatives Element nachhaltiger Energie- und Verkehrspolitik, wobei es hin- derliche Steuernachteile auszugleichen gilt, um unser Land bis zum Jahr 2020 zum Leitmarkt und Leitanbieter dieser Technologie zu machen. Zukünftig soll deshalb der Listenpreis eines Elektro- oder Hybridfahrzeugs – als Besteuerungsgrundlage für die 1-Prozent-Regelung bei der Dienstwagenbesteue- rung – um einen pauschalen Betrag, welcher von der Batteriekapazität und dem Anschaffungsjahr des Fahr- zeugs und unter Beachtung eines Höchstbetrags abhängt, gemindert werden. Wir werden mit diesem Gesetzentwurf dem soge- nannten „Goldfinger“-Steuergestaltungsmodell einen Riegel vorschieben, bei dem über Auslandsgesellschaf- ten durch Erwerb von Edelmetallen Verluste durch zeit- lich versetzte Berücksichtigung von Betriebsausgaben bei Progressionseinkünften erzeugt werden. Gerade bei der bereits im Jahressteuergesetz 2013 geplanten Aus- trocknung dieser legalen Steuervermeidungspraktik zeigt sich, dass der Opposition wahltaktisches Kalkül wichtiger war als die Interessen der Allgemeinheit. Dringender Optimierungsbedarf besteht auch durch das mit dem Beitreibungsrichtlinie-Umsetzungsgesetz geregelte Verfahren zum automationsgestützten Kir- chensteuerabzug auf Kapitalertragsteuer. Wir wollen hier die Möglichkeit der Anlassabfrage für alle Kirchen- steuerabzugsverpflichteten einführen und Sperrvermerke nur dann berücksichtigen, wenn diese spätestens zwei Monate vor der Abfrage des Kirchensteuerabzugsver- pflichteten eingegangen sind. Auch bei den Vorschriften zur Einführung des Verfah- rens der elektronischen Lohnsteuerabzugsmerkmale ist eine Neuregelung erforderlich, weil diese Vorschrift ab dem 1. Januar 2013 aufgehoben worden ist. Es wird klargestellt, dass im Übergangszeitraum bis zur erstmali- gen Anwendung der elektronischen Lohnsteuerabzugs- merkmale durch den Arbeitgeber entweder die Lohn- steuerkarte 2010 oder eine vom Finanzamt ausgestellte Bescheinigung für den Lohnsteuerabzug maßgebend ist. Anstatt des raschen Einstiegs sämtlicher Arbeitgeber in das ELStAM-Verfahren ist nunmehr ein einjähriger Einführungszeitraum vorgesehen, welcher den Arbeitge- bern mehr Zeit zur Umstellung auf das ELStAM-Verfah- ren gewährt. Gleichzeitig vermeiden wir damit techni- sche und organisatorische Probleme, die bei einem gleichzeitigen Einstieg aller Arbeitgeber zu einem festen Termin entstehen könnten. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 27733 (A) (C) (D)(B) Im Bereich der Umsatzbesteuerung müssen wir auf- grund europarechtlicher Vorgaben den ermäßigten Mehrwertsteuersatz für Kunstgegenstände und Samm- lungsstücke, wozu auch Briefmarken gehören, aufheben. Diese Umsätze unterliegen künftig dem Regelsteuersatz. Gleichzeitig werden wir aber im Gegenzug zur Ver- meidung von Härten im Kunsthandel die Umsatzsteuer nach dem Betrag bemessen, um den der Verkaufspreis den Einkaufspreis eines Gegenstands übersteigt, wobei die zugrunde zu legende Differenz pauschal 30 Prozent des Verkaufspreises beträgt. Mit dieser Maßnahme, welche es dringend umzuset- zen gilt, wollten wir bereits mit dem Jahressteuergesetz 2013 einer Verurteilung durch den EuGH zuvorkommen, da die Europäische Kommission gegen Deutschland ein Vertragsverletzungsverfahren wegen des Anwendungs- bereichs des ermäßigten Umsatzsteuersatzes für Kunst- gegenstände und Sammlungsstücke eingeleitet hatte. Parteitaktische Spielchen sind deshalb umso weniger an- gebracht. Ich rate deshalb allen Beteiligten, diesen Gesetzent- wurf auf sachlicher Ebene zu beraten und in der gebote- nen Eile zu verabschieden, damit auch die weiteren not- wendigen Maßnahmen beispielsweise im Bereich der Umsatzsteuer zum Reverse-Charge-Verfahren, aber auch im Bereich der rückwirkenden Gleichstellung von einge- tragenen Lebenspartnern und Ehegatten bei der Grund- erwerbsteuer, schnellstmöglich in Kraft treten können. Wir können diesen Gesetzentwurf zügig beraten und verabschieden; denn sämtliche Maßnahmen der jetzigen Gesetzesvorlage wurden bereits ausgiebig im Finanzaus- schuss und in der Sachverständigenanhörung zum Jah- ressteuergesetz 2013 erörtert und beraten. Ich kann die Opposition nur dazu auffordern, ihre Obstruktionspolitik im Bundesrat aufzugeben und den nunmehr vorliegenden Maßnahmen zuerst hier im Ple- num und letztendlich auch im Bundesrat zuzustimmen. Alles andere wäre unredlich, schadet unserem Land und nicht zuletzt unseren Bürgerinnen und Bürgern. Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): Die Koalitions- fraktionen haben mit dem Amtshilferichtlinien-Umset- zungsgesetz, wie es nun heißt, also dem „Jahressteuerge- setz light“, einen Teil des Jahressteuergesetzes 2013 erneut vorgelegt. Schon diese merkwürdige Wandlung im Namen des Gesetzes deutet auf einen interessanten Vorgang. Mal angenommen, FDP und CSU wären in der Frage eingetragener Lebenspartnerschaften nicht zer- stritten, mal angenommen, die CDU-Fraktion wäre in dieser Frage nicht gespalten: Das gesamte Jahressteuer- gesetz 2013 wäre schon längst beschlossen. Aber dieser Koalition ist ihr eigener Koalitionsvertrag nichts wert. Interessant ist dabei weniger der nun vorgelegte Teil als vielmehr die fehlenden Vorschriften. Weggelassen wurden leider auch jene Regelungen, auf die sich Koali- tion und Opposition im Vermittlungsverfahren zum Jah- ressteuergesetz 2013 schon geeinigt haben. Wohlge- merkt: Koalition und Opposition! Wie tief müssen die Gräben zwischen CDU/FDP/CSU sein, wenn die Kraft fehlt, selbst solche Dinge einzubringen, die von allen als notwendig angesehen werden! Die Koalition hat bis vor kurzem für erforderlich gehaltene und im eigenen Gesetzentwurf enthaltene Maßnahmen verworfen. Dies gilt zum Beispiel für die Steuerbefreiung von Geld- und Sachbezügen von Wehr- pflichtigen, Zivildienstleistenden und Bundesfreiwilli- gendienstleistenden. Gestrichen wurde die zweijährige Geltungsdauer der im Lohnsteuerabzugsverfahren zu be- rücksichtigenden Freibeträge. Es fehlen außerdem die Änderungen im Außensteuergesetz, durch die Steuerge- staltungen bei der Verschiebung von Wirtschaftsgütern zwischen den Betriebsstätten eines international tätigen Unternehmens verhindert worden wären. Es fehlen also sehr wichtige Regelungen. Auf die Bürgerinnen und Bürger nimmt die Koalition keine Rücksicht. Gut begründete Steuererleichterungen und berechtigte Steuervereinfachungen bleiben den Be- troffenen vorenthalten. Ungerechtfertigte Steuergestal- tungen von Unternehmen mit hohen Steuerausfällen können unter den Augen der Finanzverwaltung fortge- setzt werden. Es ist ein besonderes Ärgernis, dass die Koalition nicht mehr zu ihren im Vermittlungsverfahren gemach- ten Zusagen steht. Union und FDP erweisen sich einmal mehr als unberechenbar. Bei diesen Vereinbarungen han- delt es sich um Maßnahmen zur Missbrauchsbekämp- fung, die hohe Steuerausfälle für die öffentlichen Kassen verhindern könnten. Anhand von zwei Beispielen möchte ich die Beden- kenlosigkeit der Koalition illustrieren: In dem einen Fall handelt es sich um die sogenannte Cash-GmbH. Solche Cash-GmbHs werden im Bereich der Erbschaft- und Schenkungsteuer zu umfangreichen Steuerverkürzungen genutzt. Nach derzeitiger Rechts- lage besteht die Möglichkeit, Barvermögen erbschaft- steuerfrei zu übertragen, indem dieses zuvor in das Be- triebsvermögen einer Gesellschaft, zum Beispiel einer GmbH, eingelegt wird. Die Empfehlung des Vermitt- lungsausschusses sah eine Beendigung dieser Steuerge- staltung vor. Zusätzlich sollte der Katalog des schädlichen Verwal- tungsvermögens um die Positionen „Zahlungsmittel, Sichteinlagen, Bankguthaben und andere Forderungen“ erweitert werden. Diese Positionen sollten erst schädli- ches Verwaltungsvermögen sein, wenn ihr Gesamtwert 10 Prozent des Unternehmenswertes übersteigt. Die ge- plante Regelung sah außerdem zugunsten des Steuer- pflichtigen vor, dass Schulden der Gesellschaft min- dernd zu berücksichtigen sind, also nur der positive Saldo aus Forderungen und Schulden als Verwaltungs- vermögen anzusehen ist. Weitere Ausnahmeregelungen stellten sicher, dass eine typische Konzernfinanzierung in Form einer Kon- zernholding oder Konzern- bzw. Konzernfinanzierungs- gesellschaft auch künftig möglich bleibt. Von dieser zwi- schen den Steuerexperten von Bund und Ländern vereinbarten Regelung will Schwarz-Gelb jetzt nichts mehr wissen. 27734 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 (A) (C) (D)(B) Die sogenannten RETT-Blocker, also Real-Estate- Transfer-Tax-Blocker, bilden das zweite Beispiel. Die mithilfe von RETT-Blocker-Strukturen bei großen Immo- bilientransaktionen durchgeführten Gestaltungen führen bei der Grunderwerbsteuer zu jährlichen Steuerausfällen von mehreren 100 Millionen Euro. Das Aufkommen der Grunderwerbsteuer wird deshalb immer stärker von den kleinen Leuten, zum Beispiel beim Erwerb eines Eigen- heims, getragen. Der Grunderwerbsteuer unterliegen auch Rechtsge- schäfte, bei denen 95 Prozent der Anteile einer grundbe- sitzenden Gesellschaft erworben werden. RETT-Blocker zielen darauf ab, bei einem Anteilserwerb die grunder- werbsteuerliche Zuordnung eines Grundstücks durch Zwischenschaltung einer Gesellschaft zu verhindern. Dies kann beispielsweise dadurch geschehen, dass sich der Erwerber an der grundbesitzenden Gesellschaft le- diglich zu 94 Prozent direkt beteiligt und die restlichen Anteile über eine andere Gesellschaft erwirbt, an der er nur mittelbar beteiligt ist. In der bisher geltenden zivil- rechtlichen Betrachtung unterschreitet er durch die Zwi- schenschaltung der Gesellschaft die relevante Beteili- gungsgrenze von 95 Prozent für die gewerbesteuerliche Zuordnung des Grundstücks. Durch die vom Vermittlungsausschuss beschlossene Neuregelung sollte die rein zivilrechtliche Betrachtungs- weise durch eine wirtschaftliche Betrachtungsweise er- setzt werden. Danach sollte dem Rechtsträger das Grund- stück auch dann zugerechnet werden, wenn dessen wirtschaftliche Beteiligung an der Gesellschaft mit einem inländischen Grundstück mindestens 95 Prozent beträgt. Mittelbare und unmittelbare Beteiligung sollen dabei zu- sammengerechnet werden. Die Steuervermeidung durch die Zwischenschaltung von Gesellschaften wäre damit beendet worden. Das war nun etwas technisch. Zusammengefasst sollte es Vorschriften zu Real-Es- tate-Transfer-Tax-, also RETT-Blocker-Strukturen in der Grunderwerbsteuer an den Kragen gehen, mit denen sich massiv Grunderwerbsteuer sparen lässt. Durch ihr Abrü- cken von dieser Regelung verlängert die schwarz-gelbe Koalition diese Steuergestaltungen zum Schaden der Ge- meinschaft. Die SPD-Fraktion bleibt bei ihrer Kritik an dem un- verantwortlichen Vorgehen der Koalition nicht stehen. Wir werden in den Beratungen des Gesetzentwurfs die bereits vereinbarten Regelungen wieder einbringen. Um eine Einigung nicht zu gefährden, werden wir auf strittig gebliebene Regelungen verzichten. Uns ist nicht daran gelegen, den Streit der Koalition über ihre eigene Koali- tionsvereinbarung wichtiger zu nehmen als die Interes- sen unserer Gesellschaft. Es geht uns um eine schnelle Umsetzung der einvernehmlich vereinbarten Maßnah- men zur Missbrauchsbekämpfung und zu Steuererleich- terungen. Die taktischen Spielereien von Schwarz-Gelb auf Kosten der Bürgerinnen und Bürger müssen beendet werden. Mit Rücksicht auf unseren erkrankten CDU-Kollegen Olav Gutting haben alle Fraktionen einvernehmlich ihre Redebeiträge zu Protokoll gegeben. Im Namen der SPD- Fraktion und sicher auch im Namen aller Kolleginnen und Kollegen wünsche ich ihm auf diesem Weg gute Besserung. Dr. Daniel Volk (FDP): Das Jahressteuergesetz 2013, welches leider durch taktische Spielchen von Rot- Grün scheiterte, enthielt eine Reihe von Punkten, die für mehr Steuergerechtigkeit, einen besseren Steuervollzug und klarere Regeln in der deutschen Steuergesetzgebung sorgen sollten. Im Rahmen des Gesetzes zur Umsetzung der Amtshilferichtlinie sowie zur Änderung steuerlicher Vorschriften wird nun eine Vielzahl der Punkte erneut aufgegriffen. Besonders hilfreich und Bürokratie abbauend wird sich die zweijährige Geltungsdauer der im Lohnsteuer- abzugsverfahren zu berücksichtigenden Freibeträge er- weisen. Diese Verfahrensanweisung ist sowohl für die Arbeitnehmer als auch für die Finanzverwaltung entlas- tend. Die in § 39 a Abs. 1 Satz 2 geregelte zweijährige Geltungsdauer eines Freibetrags im Lohnsteuerabzugs- verfahren ist erstmals für den Lohnsteuerabzug 2014 an- zuwenden und befreit den Steuerpflichtigen von den jähr- lichen Neuanträgen auf Lohnsteuerermäßigung, soweit sich bezüglich seiner Antragssituation nichts geändert hat. Mit dem Jahressteuergesetz 2013 werden die EU- Amtshilferichtlinie, die Mehrwertsteuersystemrichtlinie, die Rechnungsstellungsrichtlinie sowie die sogenannte Mutter-Tochter-Richtlinie umgesetzt. Dies ist zur Ver- meidung eines Vertragsverletzungsverfahrens durch die EU-Kommission auch zwingend notwendig. Dabei wird eine effizientere Zusammenarbeit zwischen den Steuer- behörden der Mitgliedstaaten ermöglicht, um Steuern bei grenzüberschreitenden Aktivitäten von Steuerpflich- tigen besser festsetzen zu können. Durch das Gesetz werden Regelungen zur Vermei- dung einer Doppelbesteuerung von Dividendenausschüt- tungen von Tochtergesellschaften an ihre Muttergesell- schaften an die Neufassung der Richtlinie 2011/96/EU des Rates vom 30. November 2011 über das gemein- same Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaf- ten verschiedener Mitgliedstaaten – sogenannte Mutter- Tochter-Richtlinie – angepasst. Zur Umsetzung des Regierungsprogramms Elektro- mobilität wird in das Steuerrecht eine Regelung zum Nachteilsausgleich für die private Nutzung von betrieb- lichen Elektrofahrzeugen und Hybridelektrofahrzeugen aufgenommen. Damit unterstützen wir die weitere Ein- führung von alternativen ökologischen Antrieben. Weiterhin bekämpfen wir mit dem Gesetz den Um- satzsteuerbetrug durch die Erweiterung der Steuer- schuldnerschaft des Leistungsempfängers auf Lieferun- gen von Erdgas und Elektrizität durch Wiederverkäufer. Ebenso schließen wir ein Steuerschlupfloch im Be- reich des negativen Progressionsvorbehalts. Durch das sogenannte Goldfinger-Modell entgingen dem Staat er- hebliche Steuereinnahmen. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 27735 (A) (C) (D)(B) Der Gesetzentwurf zeigt, dass das Steuerrecht sehr komplex ist und damit der Lebenswirklichkeit einer ent- wickelten Industrienation entspricht. Dass nur noch Ex- perten den Durchblick haben, und das auch nur noch in Teilbereichen, liegt auf der Hand. Forderungen nach Steuervereinfachung sind berechtigt, setzen aber voraus, dass dem deutschen Drang nach Einzelfallgerechtigkeit stärker entgegengetreten wird. Stärkere Pauschalierun- gen würden ebenfalls helfen, kosten aber Geld und ga- rantieren ebenfalls keine Einzelfallgerechtigkeit. Das Ziel der Steuervereinfachung bleibt; trotzdem muss das bestehende Recht an sich verändernde Verhältnisse an- gepasst werden. Die FDP steht für eine verantwortungsbewusste und nachhaltige Steuer- und Finanzpolitik. Wir haben die Fa- milien entlastet. Wir haben die Unternehmen entlastet. Wir haben Arbeitsplätze gesichert. Wir haben Gesund- heit wieder bezahlbarer gemacht. Wir stehen für Investi- tionen in die Zukunft. Wir werden die Bildungschancen für alle Menschen in diesem Land verbessern; denn dies bedeutet Wettbewerbsfähigkeit auch in vielen Jahren und damit Wohlstand für die Menschen in diesem Land! Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Zu Beginn möchte ich ganz klar festhalten, dass es ein Unding der parla- mentarischen Verfahrensweise ist, einen Gesetzentwurf erst am Tage der Behandlung im Finanzausschuss vorlie- gen zu haben und diesen dann am folgenden Tage im Plenum zu behandeln und dann in der Folgewoche letzt- lich abzuschließen. Worum geht es? Das Jahressteuergesetz 2013 mit der Drucksachennummer 17/10000 ist letztlich nach langem hin und her im Vermittlungsausschuss gescheitert, ob- wohl – und das möchte ich betonen – das Ergebnis des Vermittlungsausschusses eine Verbesserung zu Ihrem Gesetzentwurf darstellt; denn zum einen wurde die steu- erliche Gleichstellung eingetragener Lebenspartnerschaf- ten aufgenommen, zum anderen die Regelung sogenann- ter Cash-GmbHs. Da Sie sich jedoch absolut gegen die steuerliche Gleichstellung eingetragener Lebenspartner- schaften wehren und wieder einmal auf die Belehrung des Bundesverfassungsgerichts warten wollen, ist das im Ver- mittlungsausschuss verbesserte Jahressteuergesetz 2013 gescheitert. Und das verdanken wir nur ihrer Borniertheit. Nun hätte man ja denken können, Sie greifen jetzt we- nigstens die wichtigsten Punkte auf, doch ich vermisse zum Beispiel die Regelung der sogenannten Cash- GmbHs. Da einige Punkte jedoch dringend umgesetzt werden müssen, legen Sie uns jetzt schnell einen neu zu- sammengeschusterten Gesetzentwurf – den Entwurf ei- nes Amtshilferichtlinie-Umsetzungsgesetzes – vor, um doch noch einige Dinge aus dem gescheiterten Jahres- steuergesetz 2013 umzusetzen. Zum einen betrifft das die Umsetzung der EU-Amts- hilferichtlinie. Das begrüßen wir; denn sie stellt einen weiteren Ausbau des automatischen Informationsaus- tausches, das effektivste Mittel gegen internationale Steuerhinterziehung, dar. Zum anderen findet sich auch die Maßnahme gegen die Steuergestaltung unter Ausnut- zung des negativen Progressionsvorbehalts. Die Maß- nahme befürworten wir; denn diese aktuellen Steuer- gestaltungsmodelle, die insbesondere durch An- und Verkauf von Gold im Ausland umgesetzt werden, hat die Fraktion Die Linke seit längerem im Fokus. Unter ande- rem stellten wir dazu eine Kleine Anfrage im Bundestag. Was Sie uns hier vorlegen, ist sozusagen ein Jahres- steuergesetz light. Welche Regelungen aus dem bisheri- gen Gesetzentwurf konkret übernommen worden sind und ob neue dazugekommen sind, kann ich bisher nicht genau sagen, da uns der Gesetzentwurf erst seit einem Tag vorliegt und über 80 Seiten umfasst. Eine tiefer- gehende inhaltliche Befassung war in der Kürze nicht möglich. Eine vernünftige parlamentarische Behandlung machen Sie somit unmöglich. Selbst meine vom letzten Freitag, dem 15. Februar 2013, beantragte schriftliche Aufstellung, was nun im Vergleich zum gescheiterten Jahressteuergesetzes 2013 alles geregelt werden soll und was nicht, haben wir ebenfalls noch nicht erhalten. In der gestrigen Finanzausschusssitzung haben wir daher unter TOP 0 beantragt, hierauf endlich Antworten zu bekommen. Doch wieder nichts, keine konkreten In- formationen! Nicht einmal eine Aussage zum parlamen- tarischen Ablauf konnte der parlamentarische Staatsse- kretär Hartmut Koschyk geben. Außerdem sagte er, dass es keine weitere Initiative eines Jahressteuergesetzes ge- ben wird. Wir wollen auch Folgendes festhalten: Dass es jetzt überhaupt zu diesem Durcheinander kam, liegt einzig und allein an Ihrer Borniertheit, die steuerliche Gleichstellung von eingetragenen Lebenspart- nerschaften im Jahressteuergesetz 2013 nicht vornehmen zu wollen, obwohl diese längst überfällig ist. Linke, SPD und Grüne weisen sie seit langem darauf hin. Nun soll der vorliegende Gesetzentwurf innerhalb von acht Tagen durch das Parlament gepeitscht werden – ohne die Mög- lichkeit der Anhörung entsprechender Expertinnen und Experten und ohne, dass sich die Oppositionsfraktionen ausführlich damit befassen können. Statt hier fachlich sauber zu arbeiten, schieben Sie sich den schwarzen Peter gegenseitig zu, und von der Bundesregierung heißt es, sie habe im Bundesrat die ein- malige Chance dazu gegeben, nochmals lasse sie sich nicht über den Tisch ziehen. Da fehlen mir schlicht und einfach die Worte. Das ist keine seriöse Politik, das ist Kindergartentheater. Ich hoffe, dass noch einige wichtige Punkte, wie zum Beispiel die Cash-GmbHs, in den Gesetzentwurf aufge- nommen werden. Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Wir erleben hier heute einen weiteren Akt der völlig verfehlten Steuerpolitik von Schwarz-Gelb. Das Schlimme dabei ist, dass die Koalition mit dem vorge- legten Gesetzentwurf unser Grundgesetz mit Füßen tritt. Die Koalition gewährt verfassungswidrigen Besserstel- lungen von Unternehmen in der Erbschaftsteuer Be- standsschutz und versagt Homosexuellen gleichzeitig das grundgesetzlich gebotene Recht auf Gleichbehand- lung auch im Steuerrecht. Ich sage Ihnen gleich zu Be- 27736 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 (A) (C) (D)(B) ginn: Das ist mit uns Grünen nicht zu machen. Hinter den Konsens aus dem Vermittlungsausschuss zum Jah- ressteuergesetz wird die grüne Bundestagsfraktion nicht zurückfallen. Wir müssen an dieser Stelle weniger über den Inhalt des von Herrn Schäuble vorgelegten Gesetzentwurfs reden, sondern über Dinge, die eben nicht in diesem Steuergesetz auftauchen. Im Vermittlungsausschuss zum Jahressteuergesetz gab es den Konsens, dass Steuer- gestaltungsmodelle wie die Cash-GmbH oder die RETT- Blocker geschlossen werden – zum Wohl der Gesell- schaft und im Einklang mit unserem Grundgesetz, das eine Gleichbehandlung auch im Erbschaftsteuerrecht vorsieht. Es dürfte auch der Koalition nicht entgangen sein, dass der Bundesfinanzhof und einige Verfassungs- rechtler die Begünstigungen für Betriebsvermögen in der Erbschaftsteuer für grundgesetzwidrig erklärt haben; die Cash-GmbH ist nur eine dieser fragwürdigen Begünsti- gungen. Hier spielt die FDP mal wieder ihr liebstes Spiel und versucht unter dem Deckmantel von Liberalität und Freiheit, die Pfründe der oberen 10 000 zu sichern. Das ist erbärmlich. Dass Herr Schäuble und sein Haus dieses Spiel mit- spielen, ist umso bedenklicher. Aber was soll man schon von einem ehemaligen Verfassungsminister erwarten, der in der Abstimmung über die steuerrechtliche Gleich- stellung von Lesben und Schwulen eine Position von Vorgestern vertritt und so jeden Respekt vor dem Grund- gesetz vermissen lässt? So beweist Schwarz-Gelb einmal mehr, dass diese Koalition keine Zukunft hat, weil sie schon zu den gesellschaftlich relevanten Fragen von heute keine oder schlicht die falschen Antworten hat. Zum Inhalt des Gesetzentwurfes will ich an dieser Stelle dann doch etwas sagen: Die Bundesregierung will mit der Einführung des Reverse-Charge-Verfahrens bei Strom- und Gaslieferungen Umsatzsteuerbetrug be- kämpfen. Diese Maßnahme befürworten wir ohne Einschränkungen. Wir vermissen aber, dass sich die Bundesregierung wirklich fordernd und effektiv für wei- tere Maßnahmen im Bereich Umsatzsteuerbetrug ein- setzt. Beim Schnellreaktionsmechanismus versteckt man sich hinter der strikten Ablehnung von England, dass eine Änderung des Rechtsrahmens – nämlich des Prin- zips der Einstimmigkeit – strikt ablehnt. In Zeiten, in denen der EU-Kommissar die giganti- sche Summe von 1 000 Milliarden Euro nennt, die in Europa jährlich durch Steuerhinterziehung und aggres- sive Steuergestaltung verloren geht, muss Deutschland auch mit einer verstärkten Öffentlichkeitsarbeit gerade im Bereich der Umsatzsteuer schnellere Ergebnisse ein- fordern. Auch national muss die Bundesregierung hier endlich etwas liefern. Der Bundesrechnungshof hat kürzlich die Bundesre- gierung heftig wegen zu schleppender bzw. praktisch keiner Fortschritte im Bereich der Umsatzsteuer kriti- siert. Dabei sei der Reformbedarf enorm. „Bei zentralen Aspekten der Umsatzsteuer sehe ich dringenden Handlungsbedarf“, so Professor Engels, Präsident des Bundesrechnungshofes, „handeln wir nicht, nehmen wir erhebliche Steuerausfälle, unangemessenen Bürokratie- aufwand und hohe EU-Strafzahlungen in Kauf.“ An die- ser Stelle geht es also nicht nur um Steuereinnahmen, sondern vielmehr auch um einen deutlichen Bürokratie- abbau für Unternehmen. Da würden sich Einnahme- sicherung mit Wirtschaftsförderung verbinden, gerade auch für kleine und mittlere Unternehmen. Der Finanzminister sieht hier aber wohl keinen Hand- lungsbedarf. Das wäre nicht das Problem, wenn wir ein wirksames Wirtschaftsministerium hätten. Dieses lässt aber unter der Führung – oder besser unter der Nichtfüh- rung – von Herrn Rösler Kompass und Tatkraft total ver- missen. Dieser Bundesregierung fehlen insgesamt Kompass, Richtung und Durchsetzungsvermögen. Viele Steuer- reformen wurden angesagt, aber die Ergebnisse sind kläglich. Auch aus dem Jahressteuergesetz wurde dieses ambitionslose Amtshilferichtlinienumsetzungsgesetz. Ich zähle die Tage bis zum 22. September; dann hat die- ses Trauerspiel endlich ein Ende. Anlage 13 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zu dem Internationalen Übereinkommen von Nairobi von 2007 über die Beseitigung von Wracks (Ta- gesordnungspunkt 32) Hans-Werner Kammer (CDU/CSU): Im wirklichen Leben können Katastrophen auch positive Impulse geben. Das ist nicht so wie bei uns mit der Opposition. Das Gesetz zu dem Internationalen Übereinkommen von Nairobi von 2007, über das wir heute sprechen, ist so ein Fall. Worum geht es? Werfen wir einen Blick in die Vergangenheit: Am 18. März 1967 kam es zu der ersten großen Ölpest in der Geschichte der Menschheit, als der Tanker „Torrey Canyon“ mit 120 000 Tonnen Öl an Bord vor der walisi- schen Küste auf ein Riff auflief. Etwa 190 Kilometer der englischen und 80 Kilometer der französischen Küste wurden verschmutzt. Die Kosten für die Bekämpfung der Ölpest waren enorm und mussten von den britischen und französischen Steuerzahlern aufgebracht werden. Im August 1990 mussten die deutschen Steuerzahler für die zumindest teilweise Beseitigung eines anderen Wracks bluten: 100 Kilometer westlich von Sylt sank die norwegische Wohnplattform „West Gamma“. Bergungs- fachleute bauten dieses gefährliche Hindernis mit Spezial- geräten für den Unterwassereinsatz und mit Sprengun- gen ab. Die „West Gamma“ war zwar außerhalb des Hoheitsgebiets der Bundesrepublik Deutschland gesun- ken, dennoch musste die Bundesrepublik Deutschland diesen Gefahrenherd beseitigen. Die seewärtigen Zu- fahrten zu unseren Häfen in der deutschen Ausschließli- chen Wirtschaftszone – und damit auch die Sicherheit der deutschen Küste – dürfen nicht gefährdet werden. Kosten für Deutschland: knapp 10 Millionen D-Mark – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 27737 (A) (C) (D)(B) 10 Millionen D-Mark, die zulasten der Allgemeinheit sozialisiert worden sind. So konnte es nicht weitergehen. Das Seevölkerrecht half in beiden Fällen nicht weiter. Die Internationale Seeschifffahrts-Organisation nahm diese und ähnliche Fälle zum Anlass, die Haftung für solche Schäden zu diskutieren. Erste Ergebnisse waren die Haftungsübereinkommen für Ölverschmutzungs- schäden durch Öltanker von 1969 und für Bunkeröl- verschmutzungsschäden von 2001. Das Problem der Wrackbeseitigung wurde jedoch nicht mit der gebotenen Dringlichkeit behandelt. Erst nach der Havarie der Wohnplattform „West Gamma“ wurde das Thema vor allem auf Initiative Deutschlands, der Niederlande und des Vereinigten Kö- nigreichs in den Rechtsausschuss der Internationalen Seeschifffahrts-Organisation eingebracht und dort im Oktober 1996 erstmals eingehend diskutiert. Fast elf Jahre später, im Mai 2007, wurde das Internationale Übereinkommen von Nairobi von 2007 über die Beseiti- gung von Wracks verabschiedet. Das deutsche Engage- ment hatte sich gelohnt. Dieses Übereinkommen ist ein Meilenstein zur Verbes- serung der Sicherheit des internationalen Seeverkehrs, zum Schutz der Meeresumwelt und insbesondere zum Schutz der Küstenstaaten vor Gefahren, die von Wracks für die Schifffahrt oder die Umwelt ausgehen. Diejeni- gen, die im Gegensatz zu Ihnen, meine Damen und Her- ren von der Linken, mit der Komplexität internationaler Verhandlungen vertraut sind, werden diese enorme Leis- tung würdigen und dem Gesetzentwurf der Bundesregie- rung sofort und dankbar zustimmen. Damit auch unsere Kolleginnen und Kollegen von der Linken verstehen, worum es uns heute geht, lege ich Grundzüge der Rege- lung gern noch einmal dar. Vielleicht führt dies ja bei Ih- nen zu einem Erkenntnisgewinn. Glücklicherweise kön- nen die, die immer noch Verständnisschwierigkeiten haben, alles im Stenografischen Protokoll nachlesen. Das Übereinkommen findet grundsätzlich in der den nationalen Hoheitsgewässern vorgelagerten Ausschließ- lichen Wirtschaftszone Anwendung. Der eingetragene Eigentümer eines Schiffes muss jetzt ein Wrack, von dem der betroffene Küstenstaat festgestellt hat, dass es eine Gefahr für die Sicherheit des Schiffsverkehrs oder die Meeresumwelt darstellt, auf eigene Kosten beseiti- gen. Dies ist nur recht und billig: Jeder muss seinen Schrott selbst wegräumen. So ein Übereinkommen sollte es auch in der Politik geben; dann müssten wir nicht im- mer die dem sicheren Untergang geweihten Projekte der Opposition wegräumen. Wird der so verpflichtete Eigen- tümer nicht tätig, so kann der betroffene Küstenstaat selbst tätig werden, wenn Gefahr im Verzug ist. Die Kos- ten muss selbstverständlich auch in diesem Fall der Ei- gentümer tragen. Damit sich Eigentümer nicht aus ihrer Verantwortung stehlen können, sieht das Wrackbeseitigungsüberein- kommen eine Versicherungspflicht des Eigentümers und einen Direktanspruch des Küstenstaates gegen die Versi- cherung vor. Diese Regelung folgt dem Haftungs- und Entschädigungsregime, das sich schon bei Ölverschmut- zungsschäden weltweit und speziell in Europa bei schweren Havarien wie der des Öltankers „Erika“ be- währt hat. Damit gehen die Kosten für die Beseitigung von Wracks in der Ausschließlichen Wirtschaftszone in Zukunft nicht mehr zulasten des Bundeshaushalts und der Haushalte der Küstenländer. Die Bundesrepublik Deutschland und ihre Bürger haben kein Geld zu ver- schenken. Dieses Gesetz ist ein großer zivilisatorischer Fort- schritt. Wer gegen die Umsetzung dieses Übereinkom- mens stimmt, stimmt für Verantwortungslosigkeit, für die Gefährdung der Schifffahrt und für die Verschwen- dung von Steuergeldern. Matthias Lietz (CDU/CSU): Die Vergangenheit hat es gezeigt: Wenn auch selten, passieren immer wieder größere und kleinere Schiffsunfälle auf den weiten Welt- meeren und Wasserstraßen unserer Erde. Während ich zuletzt erst über den Umgang mit der havarierten „MSC- Flaminia“ sprach, wird mir heute die Ehre zuteil, einen Antrag zu begründen, der sich mit dem Internationalen Übereinkommen von Nairobi von 2007 über die Beseiti- gung von Wracks auseinandersetzt. Das Internationale Übereinkommen über die Beseiti- gung von Schiffswracks von Nairobi ist ein aus dem Jahre 2007 stammendes Abkommen, welches darauf abzielt, die Meeresumwelt und Küstengebiete nachhaltig durch die Entsorgung von Wracks zu entlasten. So wurde es einst im Rahmen einer Diplomatischen Konferenz in Nai- robi ausgefertigt und soll heute auch in Deutschland in geltendes Völkerrecht umgewandelt werden können. Wie üblich bei derartigen Abkommen sind nun die Mitglied- staaten der Internationalen Schifffahrts-Organisation, IMO, gefragt, die Beschlüsse aus Nairobi in entsprechen- der Weise umzusetzen. Für Deutschland sichert das auch als „Wrackbeseiti- gungsübereinkommen“ bezeichnete Übereinkommen vor allem begrüßenswerte Regelungen bei der Beseitigung von Wracks. Dieses sieht vor, auch Schiffseigner an den durch die Beseitigung entstehenden Kosten zu beteiligen. Ein begrüßenswerter Schritt! Schließlich sind es nicht die Staaten allein, die für Materialfehler oder menschliches Versagen aufkommen sollten – so geschehen bei den Ha- varien der „West Gamma“ und der „Jan Heweliusz“ in den 1990er-Jahren. Hier war es letztlich der Haushaltsetat der Bundesre- publik Deutschland, der mit den Rechnungen für die je- weilige Entsorgung belastet wurde. Die Ausschließliche Wirtschaftszone vor der Küste der jeweiligen Vertrags- staaten betreffend, werden Schiffseigner nun allerdings zukünftig selbst für die Entsorgung einer durch sie ver- ursachten Behinderung eines Wracks aufkommen! Wie der Antragsbegründung zu entnehmen ist, soll der vorliegende Gesetzentwurf den Beitritt für die Bun- desrepublik Deutschland zum Übereinkommen ermögli- chen. Zwar hat die Bundesrepublik den Vertrag bereits 2008 ratifiziert, allerdings benötigt er gemäß dem Deut- schen Grundgesetz auch eine Zustimmung in Form eines Bundesgesetzes. 27738 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 (A) (C) (D)(B) Das unter Verkehrsminister Tiefensee begrüßte Über- einkommen wird nun durch uns, wie bei einem völker- rechtlichen Vertrag vorgesehen, durch ein Bundesgesetz umgesetzt. Die Zustimmung der Kollegen der SPD setze ich also zwingend voraus, und auch den Rest der Oppo- sition kann ich nur um Unterstützung bitten. Schließlich nutzen uns Konferenzen und Abkommen am Ende herz- lich wenig, wenn sie auf nationaler Ebene nicht in gel- tendes Recht durchgesetzt werden können. Und auch wenn viele ihr Geschwätz von gestern nichts mehr angeht, kann ich nur darum werben: Lassen Sie uns dieses Gesetz beschließen, um die Meeresum- welt und die Küstengewässer zukünftig noch besser vor Gefahren zu schützen und um unseren Bundeshaushalt nachhaltig zu entlasten! Uwe Beckmeyer (SPD): Endstation Schiffsfriedhof! Auf den Weltmeeren sind im vergangenen Jahr 106 Schiffe bei einem Unglück gesunken oder so schwer beschädigt worden, dass sie unrettbar gestrandet sind – auf Kosten der Umwelt und der Verkehrssicherheit. Spektakulärstes Beispiel war im Jahr 2012 die Havarie des Kreuzfahrtschiffes „Costa Concordia“ mit 32 Todes- opfern. Auch wenn die Zahlen der Schiffsverluste seit Jahren erfreulicherweise zurückgehen: Der Trend zu immer mehr und größeren Schiffen bleibt eine Herausforderung für die Seeschifffahrt – und die Beseitigung der Wracks ein Problem, vor allem für die Küstenanrainer. Das jetzt von der Bundesregierung vorgelegte Ver- tragsgesetz, das den Beitritt zum Internationalen Über- einkommen von Nairobi ermöglichen soll, ist längst überfällig. Die International Maritime Organization, IMO, hat 2007 – mit Unterstützung Deutschlands – Re- gelungen vereinbart, um die internationale Seesicherheit und insbesondere den Schutz der Küstenstaaten vor Ge- fahren für die Schifffahrt und die Umwelt zu vergrößern. Die meisten verunglückten Schiffe sind Frachtschiffe. Mehr als 700 waren es laut Statistik einer großen deut- schen Versicherung in den Jahren 2000 bis 2010 welt- weit. Hinzu kommen 121 „verlorene“ Tanker. Allein diese Zahl zeigt die immensen Gefahren für die Meeres- umwelt. Ganz zu schweigen von den Containerverlusten auf dem Meer, die nicht nur auf unsachgemäßes Beladen oder Verstauen zurückzuführen sind, sondern eben häu- fig auch auf gestrandete Schiffe oder Kollisionen! Die Schätzungen schwanken zwischen 2 000 und 10 000 verlorenen Containern, die jährlich über Bord gehen. Schiffsunglücke ereigneten sich 2012 besonders häu- fig in Südchina, Indochina, Indonesien und den Philippi- nen; zweitgefährlichste Regionen sind das östliche Mittelmeer und das Schwarze Meer. Aber Schiffsfriedhöfe gibt es auch in Europa – ob nun im Ärmelkanal, an Teilen der isländischen Küste, in der Deutschen Bucht oder am Kap Skagen in der Ostsee. Das zeigt, wie wichtig die Regelungen auch für Deutschland sind. Mit der internationalen Vereinbarung wird der Schutz der deutschen Nord- und Ostseeküste weiter verbessert; das Abkommen greift in erster Linie in der dem Küsten- meer vorgelagerten Ausschließlichen Wirtschaftszone. Erstmals wird mit dem Übereinkommen zudem das Verursacherprinzip durchgesetzt und das Seevölkerrecht an dieser Stelle entscheidend weiterentwickelt. Bisher hatten die Küstenanrainer nur eingeschränkte Möglich- keiten, gegen Wracks und Schifffahrtshindernisse vorzu- gehen und den Eigentümer eines Schiffes zur Beseiti- gung und Kostentragung heranzuziehen. Künftig werden Schiffseigner hingegen verpflichtet, ein Wrack, das die Meeresumwelt oder die Schifffahrt gefährdet, auf eigene Kosten zu beseitigen. Droht Gefahr oder handelt der Schiffseigentümer nicht, kann auch der betroffene Küstenstaat tätig werden und seine Kostenforderungen hinterher an den Eigner richten; denn das Übereinkom- men sieht erstmals eine Versicherungspflicht der Schiffs- eigner und eine Direktklagebefugnis der Küstenländer vor. Damit gehen die Kosten für Beseitigungsmaßnah- men von Wracks nicht länger zulasten des Bundeshaus- haltes, und das ist richtig so. Auch wenn Schiffsverluste durch neue Technologien, bessere Ausbildung, fortschreitende Regulierung und Sicherheitsinitiativen der Schifffahrtsbranche selbst rückläufig sind, lässt doch eines aufhorchen: Menschli- ches Versagen, das hat die erwähnte Studie der Versiche- rung erneut gezeigt, bleibt die Hauptursache für Seeun- glücke. Dahinter stehen Übermüdung, Kostendruck oder eine unzureichende Ausbildung. Hier ist die Bundes- regierung dringend aufgefordert, zu handeln, damit sich die Frage der Kosten für Mensch und Umwelt gar nicht erst stellt; denn auch die fortschrittlichste Technik ist nur so gut, wie die Qualifikation derer, die sie bedienen. Unglücke wie der Untergang der „Costa Concordia“ müssen deshalb, so bitter das klingt, auch genutzt wer- den, um die Sicherheit zu verbessern. Die SPD-Fraktion hat als Reaktion auf die Havarie des Kreuzfahrtschiffes im vergangenen Frühjahr einen umfassenden Antrag im Deutschen Bundestag und Vorschläge vorgelegt, um die Umsetzung der sicherheitsrelevanten Standards und die Abläufe an Bord zu verbessern. Dazu gehören auch die Arbeitsbedingungen der Seeleute an Bord, die mit dem Inkrafttreten der bereits 2006 verabschiedeten „Maritime Labour Convention“ in diesem Jahr weiter verbessert werden sollen. Auch die IMO arbeitet nach dem „Costa-Concordia“- Unglück daran, die bestehenden Sicherheitsbestimmun- gen zu fassen. Hier ist die Bundesregierung gefordert, sich im internationalen Rahmen für eine verbesserte Si- cherheitsvorsorge und die Einhaltung der Standards ein- zusetzen. Auch das Thema Containerverluste auf See muss das Bundesverkehrsministerium bei der IMO auf die Agenda setzen. Doch auch vor der eigenen Haustür gibt es in puncto maritime Sicherheit für die Bundesregierung einiges zu tun: Dringend notwendig sind etwa verstärkte Sicher- heitsvorkehrungen in der Bauphase der festen Fehmarn- belt-Querung, um das Gefährdungspotenzial für die Ost- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 27739 (A) (C) (D)(B) see zu verringern. Schließlich wächst der Schiffsverkehr mit dem zunehmenden Ostseehandel und dem wachsen- den Tankerverkehr von und nach Russland stürmisch. Wie wichtig verstärkte Sicherheitsvorkehrungen sind, hat gerade in dieser Woche die Schiffskollision in der Deutschen Bucht gezeigt, wo ein Offshoretender mit dem Standfundament einer Windenergieanlage im Offshorefeld „Bard I“ kollidiert ist. Angesichts der Aus- baupläne für den Offshorebereich in der deutschen Nordsee besteht auch hier dringender Handlungsbedarf. Notwendig ist eine koordinierte Strategie von Bund, Ländern und Windparkbetreibern für Sicherheit im Off- shorebereich. Auch dazu liegen unsere Forderungen auf dem Tisch. Die Bundesregierung ist gut beraten, die Segel für mehr Sicherheit im Schiffsverkehr zu setzen. Torsten Staffeldt (FDP): Ein Wrack ist ein Wrack ist ein Wrack. Ganz so einfach ist es jedoch bei näherer Betrachtung nicht. Wir beraten heute den Gesetzentwurf der Bundesre- gierung zum Internationalen Übereinkommen von Nai- robi über die Beseitigung von Wracks aus dem Jahre 2007. Selbstverständlich erfordert die Sicherheit der Schifffahrt und der Meere dessen Ratifizierung. Wie in anderen Bereichen der Schifffahrt muss uns an den ein- heitlichen internationalen Regelungen gelegen sein, die mit dem Gesetz geschaffen werden. Das Übereinkom- men schafft Klarheit über die völkerrechtliche Behand- lung aufgegebener Schiffe im Hoheitsgebiet anderer Staaten und insbesondere über die Haftung für die bei der Beseitigung entstehenden Kosten. Diese Kosten können leicht dreistellige Millionenbe- träge erreichen. Das zeigt das Beispiel der 2011 vor Neu- seeland auf ein Riff gelaufenen und später zerbrochenen „Rena“. Wie jüngst in der Deutschen Schiffahrts-Zeitung berichtet, übersteigen die aufzuwendenden Mittel für Container, Wrackteile und Ölreste 232 Millionen Dollar. Die komplette Beseitigung des Schiffes ist extrem schwierig und risikoreich für die Spezialisten vor Ort. Das liegt in der Natur der Sache, wird mancher einwen- den. Wo Wracks den Verkehr auf Wasserstraßen gefährden oder das Gleichgewicht der Meeresumwelt erheblich stören, gehören sie beseitigt. Das ist Pflicht – detailliert geregelt im vorliegenden Gesetzentwurf –; auch wenn es teuer wird und Zeit kostet. Da sind wir uns einig. Im Falle der „Rena“ würde jedoch gerade durch die Ber- gung weiterer Schaden an der Unterwasserwelt ange- richtet. Im Hinblick auf die Handhabung des Gesetzes mahne ich daher zu Umsicht und Augenmaß im Einzelfall. „Be- seitigung“ nach Art. 1 Abs. 7 Satz 1 des Übereinkom- mens ist „jede Form der Verhütung, Verringerung oder Abwendung der von einem Wrack ausgehenden Ge- fahr“. In einzelnen Fällen kann es ratsam sein, von der Bergung abzusehen, weil das Wrack den Schiffsverkehr nicht beeinträchtigt und um nicht – noch – größeren Schaden an der Meeresumwelt anzurichten. Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich rede nicht Bergen von Wracks das Wort, die liegen bleiben, weil es den Eignern zu teuer ist und die dann auf lange Sicht quasi als tickende Zeitbomben unter der Wasseroberfläche auftürmen. Aber: Wo keine Gefahr oder erhebliche, dau- erhafte Beeinträchtigung, da kein Handlungsbedarf. Im Übrigen bilden sich in und um Wracks häufig faszinie- rende Unterwasserwelten. Wrack ist nicht gleich Wrack. Herbert Behrens (DIE LINKE): Ich begrüße außer- ordentlich, dass sich die Bundesregierung endlich dazu durchringen konnte, die Ratifizierung des Internationa- len Übereinkommens über die Beseitigung von Schiffs- wracks auf den Weg zu bringen. Immerhin sind seit der Unterzeichnung des Abkommens schon fast fünf Jahre vergangen. Die zögerliche Haltung ist schon deshalb überraschend, weil die Bundesrepublik maßgeblicher Initiator der Entwicklung dieses Übereinkommens war. Aber was lange währt, wird bekanntlich gut, auch wenn man über die Güte der konkreten Ausgestaltung des Übereinkommens streiten kann. Es ist zweifelsohne ein großer Fortschritt, dass zu- künftig alle Schiffe, welche deutsche Häfen anlaufen, über einen Versicherungsschutz für alle mit der Beseiti- gung eines Wracks zusammenhängenden Kosten verfü- gen müssen. Bisher konnten diese Kosten nur allzu leicht der Allgemeinheit angelastet werden. Sobald das Übereinkommen in Kraft tritt, wird zudem eine entscheidende Lücke im internationalen Seerecht geschlossen. Erstmals haben Staaten überhaupt die Mög- lichkeit, rechtssicher die Beseitigung von Schiffswracks bzw. Wrackteilen selbst in die Hand zu nehmen und den Schiffseigner zur Übernahme der Kosten zu verpflich- ten. Auch wenn der Vertragstext entschiedener hätte for- muliert werden sollen – man hätte gut und gerne eine Pflicht zur Beseitigung von Gefahrenquellen durch staat- liche Behörden verankern können –, werden Gefahren für den Verkehr und die Umwelt zukünftig leichter ab- wendbar sein. In der Tat stellt das Wrackbeseitigungsübereinkom- men auch einen Schritt zu mehr Umweltschutz und Si- cherheit auf See dar. Insbesondere in den stark befahre- nen ausschließlichen Wirtschaftzonen entwickelter Industrie- staaten ist das von großer Bedeutung. Die Bundesrepu- blik Deutschland erkennt an, dass die internationale Staatengemeinschaft handeln muss, um die negativen Folgen des starken Seeschifffahrtsverkehrs nach und nach zu begrenzen. In diesem Zusammenhang ist ein erheblich stärkeres Bemühen erforderlich, um weitere Schritte zur Gefah- renabwehr anzugehen. Die internationale Schifffahrt ist in Sachen Umweltschutz ein echtes Fossil, sagt der Na- turschutzbund. Während an Land strenge Grenzwerte für Treibstoffe gelten und Abgastechnik etabliert ist, darf auf See immer noch billigstes Rückstandsöl als Treib- stoff verbrannt werden. Die Abgase, die dabei entstehen, enthalten Unmengen an hochgiftigen und klima- sowie umweltschädlichen Stoffen: Rußpartikel, Stickoxide, Schwefeldioxid und natürlich auch Kohlendioxid. 27740 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 (A) (C) (D)(B) Das Schwerölverbot der Internationalen Meeresschutz- organisation der UNO, der IMO, ist ab 2020 auch auf EU-Ebene vorgesehen. Doch der Einbau von Abgastech- nik ist absehbar nicht vorgeschrieben. Hier besteht Hand- lungsbedarf! Wir sehen auch beim Internationalen Übereinkom- men über die Beseitigung von Wracks, wie lange es dau- ert, Fragen des internationalen Meeresschutzes zu erken- nen, Lösungen zu verabreden und diese schließlich auch umzusetzen. Wir wollen sichere und saubere Meere. Reeder, Schiffsbauer, EU- und auch die Anrainerstaaten müssen in diesem Sinne aktiv werden. Wir brauchen Umweltzo- nen auf See, frei von Wracks, Gefahrgut und umwelt- schädlichen Schiffsemissionen. Mit der Ratifizierung des Übereinkommens von Nairobi ist zumindest ein erster Schritt gemacht. Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir widmen uns heute dem Wrackbeseitigungsabkom- men von Nairobi, das bereits 2007 unterzeichnet worden ist und nun, 2013, nach langem Ablagerungsprozess auch endlich in deutsches Recht umgesetzt werden soll. Die Beseitigung von gefährlichen Wracks ist ein bis- lang häufig unterschätztes Problem. Die Hauptfrage, um die es bei dieser Debatte geht, ist: Wie können die Schiffs- eigner zur Verantwortung gezogen werden, wenn ein Schiff zum Beispiel während der Fahrt havariert und auf den Meeresboden sinkt? Bisher gab es hier keine Rege- lung, wie der Schiffseigner dafür finanziell haftbar ge- macht werden kann, wenn sich das Ganze auf hoher See abspielt. Doch durch das Abkommen von Nairobi gibt es nun eine gesetzliche Handhabe. Das Abwracken von Schiffen spielt hierbei zwar vordergründig keine Rolle, im selben Atemzug muss das jedoch auch genannt wer- den. Wenn Sie einen Blick auf die Homepage des Bundes- amts für Seeschifffahrt und Hydrographie, Hamburg, werfen, erhalten Sie die Möglichkeit, sich die aktuell auffindbaren Wracks in der Deutschen Bucht sowie im deutschen Teil der Ostsee auf einer Karte anzusehen. Dargestellt sind viele kleine grüne Punkte, die jeweils für ein Wrack stehen. Inzwischen gibt es unzählige Wracks auf dem Mee- resboden, vor allem in den viel befahrenen Gebieten. Die gesunkenen Schiffe stellen ein Risiko für die Seeschiff- fahrt und für die Umwelt dar. Das Wrack kann sich auch nach längerer Zeit noch an der gesunkenen Stelle bewe- gen oder auseinanderbrechen, weil das Meer ständig in Bewegung ist. Da Schiffe oft giftige und gefährliche Stoffe an Bord haben – Treibstoff oder Ladung –, wird meist auch die Meeresumwelt in Mitleidenschaft gezo- gen. Mit dem Wrackbeseitigungsabkommen wird nun end- lich die Verantwortlichkeit klarer geregelt; das begrüßen wir. Was uns eigentlich noch mehr interessiert – und hier- für gibt es bisher nur vage gesetzliche Grundlagen –, das ist das Abwracken von Schiffen. Die deutsche Handels- flotte ist derzeit eine der größten weltweit. Doch die meisten Schiffsgesellschaften stecken in einer ernsten fi- nanziellen Lage. Eine Vielzahl der Schiffe könnte von einer Insolvenz betroffen sein. Führt auch die Insolvenz- phase nicht zum gewünschten wirtschaftlichen Erfolg, dann hilft entweder nur noch der Verkauf an die Konkur- renz, oder man lässt das Schiff verschrotten. Die Verwertung des Schiffskörpers wird vornehmlich in den drei Ländern Indien, Pakistan oder Bangladesch unter menschenunwürdigen und umweltgefährdenden Bedingungen durchgeführt. Nur in den seltensten Fällen nimmt eine Reederei den finanziellen Mehraufwand in Kauf und lässt das Schiff fachgerecht in Europa zerle- gen. Es müssen internationale Lösungen gefunden werden, die die Bedingungen in Indien, Bangladesch, Pakistan und weiteren Ländern deutlich verbessern. Sicher sind Ihnen auch die entsprechenden Bilder bekannt von er- schreckenden Dokumentarfilmen oder Zeitungsberich- ten, die die Situation auf den Abwrackwerften schildern. Dass sich die Problematik des Abwrackens von Schif- fen jetzt noch verschärft, machen folgende zwei Zahlen deutlich: Hatten die Schiffe, die in Indien, Pakistan oder Bangladesch abgewrackt wurden, vor wenigen Jahren noch ein Durchschnittsalter von 30 Jahren, so ist das bin- nen kurzer Zeit auf 24 Jahre zurückgegangen. Die Schiffe fahren also ihre mögliche Lebensdauer bei weitem nicht mehr aus und landen auf dem Schiffsfriedhof. In den vergangenen 30 Jahren hat sich die Anzahl der Schiffe in der Welthandelsflotte dramatisch erhöht, und zwar um knapp über 100 Prozent. Zu dieser Entwicklung hat Deutschland zu einem großen Teil mit beigetragen. Viele dieser Schiffe sind über Bedarf gebaut worden und inzwischen ohne Chartervertrag oder ohne ausreichende Einnahmen und werden heute ein Fall für das verniedli- chend so bezeichnete Schiffsrecycling. Wir müssen endlich auch in Europa bzw. weltweit den gesamten Zyklus eines Schiffes vom Bau über den Be- trieb bis zum Recycling in die Schiffslebenszeit einkal- kulieren. Die Entsorgungsfrage muss dringend geklärt werden. Dafür brauchen wir die Umsetzung des bereits unterzeichneten, aber noch nicht ratifizierten Hongkong- Abkommen zum Recycling von Schiffen. Wenn das nicht zügig umgesetzt wird, muss hier Eu- ropa mit eigenen Vorschlägen vorangehen. Wir können das Problem nicht länger verdrängen. Daher erwarte ich hier auch von der Bundesregierung rasch umsetzbare Lösungen. Anlage 14 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Konsequent voran- gehen für eine atomwaffenfreie Welt (Zusatz- tagesordnungspunkt 6 Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU): Wir debattieren heute über den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grü- nen, der sich – es verwundert hier niemanden – auf die historische Rede des US-Präsidenten Barack Obama in Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 27741 (A) (C) (D)(B) Prag stützt. Zweifelsohne hat Obama in dieser Rede am 5. April 2009 deutliche Zeichen gesetzt und auch den Beweis erbracht, dass er ein Pragmatiker ist. Rückwir- kend muss man jedoch betrachten, dass die Skepsis vie- ler politischer Beobachter teilweise auch berechtigt ge- wesen ist; denn aktuell spekulieren wir darüber, wann der Iran nach der Bombe greift und den Nahen Osten in eine Krise stürzt. Unerwähnt darf auch der Nuklearwaffentest Nord- koreas in der letzten Woche nicht bleiben. Sie glauben doch nicht allen Ernstes, dass diese Meldungen der letz- ten zwei Wochen den Weg zu einer nuklearwaffenfreien Welt ebnen! Ich bin vor dem Hintergrund solcher Mel- dungen jedenfalls fest der Meinung, dass uns diese Vor- bedingungen gewisse Grenzen und Hürden bei unseren Abrüstungsbemühungen setzen. Niemand in diesem Hohen Hause wird die Nuklear- waffenabrüstung per se ablehnen, und auch die Bundes- regierung hat die Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung als einen Pfeiler der Außen- und Si- cherheitspolitik ihres Handelns beschrieben. Wir dürfen jedoch nicht Gefahr laufen, Obamas Vision einer nukle- arwaffenfreien Welt als seine konkrete Politik für die nächsten Jahre zu deuten. Solange wir keine verlässliche Verifikation haben, dass Staaten wie der Iran und Nord- korea ebenfalls auf Kernwaffen verzichten, können und dürfen wir nicht übereifrig handeln. Nukleare Bedrohung ist für zahlreiche Staaten mehr denn je in den Fokus gerückt; deswegen liefert Ihr An- trag gegenwärtig keinen Beitrag zu einer globalen Ab- rüstung. Eine unilaterale deutsche Erklärung solcher Art wäre schlicht und einfach vermessen und naiv. Diese Tatsache müssen Sie zur Kenntnis nehmen. Es gibt seit der Rede Barack Obamas vor nunmehr fast vier Jahren nicht wirklich eine Positivbilanz, die hier präsentiert oder gar gefeiert werden kann. Dessen bin ich mir ganz bewusst. Aber – und Sie werden mir zustim- men müssen – auch eine Negativbilanz kann weder der US-Administration noch der Bundesregierung ausge- stellt werden. Im März 2010 hat die CDU/CSU-Fraktion des Deut- schen Bundestages gemeinsam mit der Fraktion der Frei- demokraten und mit Ihrer sowie der Fraktion der Sozial- demokraten einen Antrag verabschiedet, der auch Erfolge hat hervorbringen lassen. In die Frage der Nuklearabrüs- tung ist Bewegung gekommen; die USA haben fünf Län- dern geholfen, ihre Vorräte an hochangereichertem Uran komplett abzubauen. An dieser Stelle sei die Türkei er- wähnt. Auch in der Ukraine werden die Bestände abge- baut. Mit Russland gibt es auch etliche Erfolge: 2010 haben die US-Amerikaner den neuen START-Vertrag mit Russ- land ausgehandelt. Die beiden Atomsupermächte rüsten ab! Eine Halbierung der Trägersysteme auf 800 Einhei- ten pro Staat ist ein herausragender Fortschritt, den Sie hier nicht kleinreden dürfen! Barack Obama bekannte sich auch erst jüngst zu ei- nem weiteren Abbau der Nuklearwaffen. Sie merken, ich zähle hier nicht die Bilanz der letzten Jahrzehnte auf. Nein, es sind Erfolge der letzten zwei, drei Jahre. Angesichts der Starre, die wir nun alle aus dem Kalten Krieg kennen, ist es eine nahezu atemberau- bende und dynamische Entwicklung. Der Weg zur nuklearen Abrüstung ist von vielen klei- nen Schritten gekennzeichnet. Wir alle täten gut daran, die Vision Obamas von den notwendigen Schritten, die erst zum Erreichen dieser Vision führen, zu unterschei- den. Ihr Antrag ist in keiner Weise ein Fortschritt zum be- reits von diesem Hohen Hause angenommenen Antrag vom 26. März 2010, den im Übrigen auch Ihre Fraktion eingebracht und bejaht hat. Nein, Ihr Antrag, den wir hier heute beraten, ist ein erneuter Rückschlag für trans- atlantische Beziehungen. Sie vernachlässigen sträflich die sicherheitspolitischen Interessen der Bundesrepublik Deutschland und höhlen das europäische Grundwerte- fundament aus. Es ist ein weiterer Versuch Ihrer Frak- tion, aus der Beständigkeit der deutschen Außenpolitik auszubrechen, um unseren Staat international zu isolie- ren und der Lächerlichkeit preiszugeben. Ihr Antrag ent- puppt sich als besondere Form von politischem Eskapis- mus. Diese Bundesregierung hat die notwendigen Prozesse eingeleitet. Diese Schritte werden nun gegangen. Sie müssen doch einmal lernen, dass Abrüstungspolitik ein langfristiger, über Generationen andauernder Prozess ist. Ihr Antrag nützt niemandem und bringt die Abrüstungs- politik auch nicht weiter. Unser Sicherheitskonzept beinhaltet und reflektiert deutsche Sicherheitsinteressen. Aber – und dies ist eben der bezeichnende Unterschied zwischen unseren Frak- tionen – unser Sicherheitskonzept integriert eben auch die Sicherheitsinteressen anderer Staaten. Wir handeln nicht egoistisch und belehrend, wie es Ihre andauernde Manier ist. Wir sind uns unserer internationalen Ver- pflichtung bewusst und stehen in vollem Umfang zu un- seren Bündnis- und Kooperationspartnern. Die Bundes- regierung hat unsere volle Unterstützung bei ihrem Einsatz für das Ziel einer nuklearwaffenfreien Welt. Ihr Antrag ist heute fehl am Platze. Er ist fehl am Platze, weil er die Abrüstungsbemühungen zurückwirft und die Bundesrepublik von den globalen Entwicklungs- prozessen in der bilateralen Abrüstungspolitik abkop- peln würde. Unsere Fraktion setzt auf bilaterale Abkom- men, wir setzen auf Kontinuität, und wir werden unsere Glaubwürdigkeit mit einem solchen Showantrag, den Sie hier vor jeder Bundestagswahl vorlegen, nicht aufs Spiel setzten. Roderich Kiesewetter (CDU/CSU): Die Nuklear- waffen, die innerhalb der deutschen Staatsgrenzen gela- gert werden, sind Eigentum der Vereinigten Staaten von Amerika. Deshalb sind die USA für die Instandhaltung dieser Waffen verantwortlich. Die Nuklearwaffen der NATO dienen einzig und allein defensiven Zwecken und sorgen für einen glaubhaften Schutz unserer Bündnis- partner. 27742 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 (A) (C) (D)(B) Auf russischer Seite werden die Nuklearwaffenbe- stände nach einem entsprechenden Auftrag des russi- schen Staatspräsidenten Wladimir Putin mit erheblichen finanziellen Mitteln modernisiert. Nach Berechnungen des Stockholm International Peace Research Institute, SIPRI, besaßen die USA im ver- gangenen Jahr noch rund 2 150 einsatzfähige Nuklear- sprengköpfe, Russland etwa 1 800. Unsere NATO-Partner Estland, Lettland, Litauen und Polen fühlen sich durch die Entwicklung auf russischer Seite bedroht. Die Modernisierung der nuklearen Vertei- digungskapazitäten der NATO gewährleistet in diesem Zusammenhang weiterhin eine glaubhafte Aufrechter- haltung des Schutzes. Durch die nukleare Teilhabe nimmt Deutschland sein Mitspracherecht bei der Handhabe von Nuklearwaffen wahr. Als NATO-Partner erfüllt Deutschland mit dem Jagdbombergeschwader in Büchel einen Teil seiner NATO-Verpflichtungen und trägt somit Verantwortung für den Schutz unserer Verbündeten. Damit nimmt unser Land Einfluss auf die Nuklearstrategie der NATO. Die- ses Mitspracherecht würde verwirkt werden, sollten die Nuklearwaffen aus Deutschland abgezogen werden. Generell sind wir uns parteiübergreifend einig, dass sich Deutschland für eine weltweite Abrüstung einsetzen muss. CDU und CSU haben 2010 auch für den Abzug der taktischen Nuklearwaffen in Absprache mit unseren Bündnispartnern gestimmt. Darüber hinaus hat sich un- sere Bundesregierung im Bündnis für Abrüstungsinitiati- ven eingesetzt. Viele Äußerungen von US-Präsident Obama machen Hoffnung, dass unsere Bemühungen Wirkung zeigen. Noch nie hatte ein US-Präsident die nukleare Abrüstung mit so deutlichen Worten gefordert wie Barack Obama in seiner Prager Rede im Frühjahr 2009. „Ich erkläre klar und mit Überzeugung Amerikas Einsatz für Frieden und Sicherheit in einer Welt ohne Atomwaffen“, so der US- Präsident. In seiner Rede zur Lage der Nation forderte Obama erneut die nukleare Abrüstung. Die USA würden versuchen, Russland zu überzeugen, gemeinsam weiter abzurüsten. Allerdings gelten für dieses hehre Ziel weiterhin zwei zentrale Voraussetzungen: Erstens muss im Bündnis gemeinsam dafür gestimmt werden. Es gibt aber Länder wie beispielsweise Polen, die wollen, dass diese Waffen in Europa bleiben. Zweitens. Russland muss mehr Transparenz bei den eigenen taktischen Nuklearwaffen schaffen und Ver- handlungsbereitschaft signalisieren. Solange das nicht der Fall ist, müssen die Nuklearwaf- fen einsatzfähig bleiben. Auch politische Waffen, deren Einsatz militärisch nicht sinnvoll ist, müssen moderni- siert werden, sonst werden sie obsolet. Außerdem haben wir damit ein Verhandlungspfand gegenüber Russland in der Hand. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass neben den offi- ziellen Nuklearmächten USA, Russland, Großbritan- nien, Frankreich und China weitere Staaten, zum Bei- spiel Indien sowie das politisch instabile Pakistan und Nordkorea, über die Bombe verfügen. Es ist also noch ein langer Verhandlungsweg, und der vorschnelle Antrag der Grünen ist deshalb aus unserer Sicht verfehlt. Uta Zapf (SPD): Es ist mir schleierhaft, warum wir zu nachtschlafender Zeit einen solchen Antrag behan- deln sollen. Inhaltlich bringt der Antrag eigentlich nichts Neues. Schon 2010 hat dieser Bundestag überfraktionell weitreichende Beschlüsse gefasst. Und fast alle Forde- rungen, die die Grünen hier erheben, standen in diesem gemeinsamen Antrag von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen. Was haben wir damals gemeinsam beschlossen? Die Bundesregierung solle sich für den Abzug der US-Nu- klearwaffen von deutschem Boden einsetzen, ebenso für weltweite Abrüstung! Wir haben gefordert, die Rolle der Nuklearwaffen im Strategischen Konzept der NATO zu- rückzuführen. Da dieser Antrag vor dem Abschluss der Überprüfungskonferenz zum Nichtverbreitungsvertrag formuliert wurde, gab es eine Reihe von Forderungen, die auf den Erfolg dieser Konferenz zielten. In vielen dieser Forderungen haben wir durchaus Konsens mit der Bundesregierung, und einiges ist auch durch das neue Strategische Konzept der NATO erreicht. Es wurde ein Abrüstungsausschuss etabliert, aber es bleibt abzuwarten, was für Ergebnisse er erreichen wird. Vieles ist aber nicht erreicht. Die Rolle der Nuklear- waffen in der NATO wurde nicht minimiert. Das neue Strategische Konzept bestätigt den alten Mix aus kon- ventionellen und Nuklearwaffen – als angemessene Struktur des Waffendispositivs. Die NATO bekräftigt ausdrücklich, dass sie eine nukleare Allianz bleibe, so- lange es Nuklearwaffen gibt. Mit ihrer Unterschrift unter das neue Strategische Konzept und durch die Akzeptanz der Abschreckungs- und Verteidigungsdoktrin akzeptiert die Bundesregie- rung die Modernisierung der in Europa und Deutschland stationierten US-Nuklearwaffen. Es ist damit fortge- schrieben, dass die Verbündeten, auf deren Territorium die US-Nuklearwaffen stationiert sind, die Verantwor- tung für die volle Funktionsfähigkeit der Trägersysteme tragen. Die geplante Modernisierung würde eine höchst kost- spielige Modernisierung des Trägersystems Tornado er- fordern. Wir haben das Thema bereits im November dis- kutiert. Vielleicht hat der Wunsch der Grünen, den Antrag heute aufzusetzen, etwas mit der Tatsache zu tun, dass heute eine Konferenz begonnen hat, die sich mit dem Weg zur völligen nuklearen Abrüstung beschäftigt. Heute haben wir den ganzen Tag im Auswärtigen Amt diskutiert, wie die Rahmenbedingungen für eine Welt ohne Nuklearwaffen geschaffen werden könnten. Und sicher spielt der Frust eine Rolle, warum es trotz dekla- rierten guten Willens aller beteiligter Regierungen keine wirklichen Fortschritte gibt – weder beim NATO-Kon- zept noch bei der Umsetzung der Ergebnisse der erfolg- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 27743 (A) (C) (D)(B) reichen Überprüfungskonferenz zum Nichtverbreitungs- vertrag. Natürlich gibt es einen Hoffnungsschimmer: Präsi- dent Obama hat in seiner Rede an die Nation weitere Ini- tiativen zu nuklearen Abrüstungsangeboten an Russland angekündigt. Dabei sollen alle Nuklearwaffenkategorien umfasst sein, also auch taktische Nuklearwaffen, Träger- systeme – ob disloziert oder in Lagern verstaut. Und Russland hat Interesse signalisiert. Hier bietet sich eine Chance für die Entfernung dieser US-Nuklearwaffen von deutschem Boden. Die NATO muss von der nuklearen Teilhabe abrücken. Alle Bedro- hungen und Risiken, die die NATO selber analysiert, kön- nen nicht mit Abschreckung durch Nuklearwaffen beant- wortet werden. Weder Terroristen noch Cyberattacken, weder Migrationsströme noch organisierte Kriminalität können militärisch bekämpft werden. Der geringen kon- ventionellen Restbedrohung, die die NATO konstatiert, wird besser durch gemeinsame Sicherheit, konventio- nelle Abrüstung, Vertrauensbildung und Transparenz begegnet denn durch nukleare Abschreckung. Es gilt vielmehr, den zerstörten Vertrag über konventionelle Ab- rüstung in Europa wieder aufzugreifen und neu zu be- gründen; es gilt, sich bei der Raketenabwehr mit Russ- land zu einigen. Wer gemeinsame Sicherheit will, muss die Sicherheitsbedürfnisse und -interessen des Partners respektieren. Im Kalten Krieg argumentierte der Westen, er brauche wegen der konventionellen Überlegenheit der Sowjet- union die nukleare Abschreckung. Heute gebraucht Russland dieses Argument: Die konventionelle Überle- genheit des USA und der Aufbau konventioneller strate- gischer Fähigkeiten, Global Strike, bedingten das Fest- halten an Nuklearwaffen. Die SPD teilt das Anliegen dieses Antrages der Grü- nen; wir haben mit der Bundestagsdrucksache 17/11323 einen eigenen Antrag im November 2012 eingebracht. Allerdings ist die hier vorgeschlagene Hauruckmethode zur Abschaffung der US-Nuklearwaffen unrealistisch. Was wir von der Bundesregierung verlangen, ist mehr Engagement, um sich gegenüber den Allianzpartnern tatsächlich durchzusetzen. Ihr Engagement ist gefragt, wenn es darum geht, sich gegen die Modernisierung der US-Nuklearwaffen in Europa zu wenden, sich bei den osteuropäischen Partnern für ein Umdenken einzusetzen, das ja in Wahrheit längst begonnen hat. Die Modernisierung dieser Waffen ist auch keine na- tionale Entscheidung der USA, deren Folgen wir passiv hinzunehmen haben. Die Bundesregierung argumentiert mit den Mitspra- cherechten in der Nuklearen Planungsgruppe, die von der nuklearen Teilhabe abhingen. Auch Nichtstationie- rungsländer schlüpfen unter den Nuklearschirm und ha- ben Mitsprache. Wir sollten uns von der nuklearen Abschreckung völ- lig trennen und für gemeinsame Sicherheit kämpfen. Christoph Schnurr (FDP): Wir haben es hier mit einem großen Rundumschlag zur nuklearen Abrüstung zu tun. Der Titel des Antrags zeigt, wie die Grünen gerne gesehen werden wollen: als konsequent und kompro- misslos, als mutige Avantgarde, als Kämpfer gegen Atomwaffen. Zur Profilierung taugen aber Antrag und Thema aus zwei Gründen nicht: Erstens gibt es hier im Haus seit langem einen Kon- sens. Wir alle wollen eine Welt ohne Atomwaffen. Zweitens ist es schlicht unglaubwürdig, wenn die Grünen hier Dinge fordern, die sie während ihrer Zeit in Regierungsverantwortung selbst nie getan haben und auch künftig nicht tun werden. Auch deshalb ist es erstaunlich, dass Sie die Glaub- würdigkeit der Bundesregierung infrage stellen. Im An- trag wird behauptet, die Bundesrepublik könne nicht überzeugend für Abrüstung werben, weil hierzulande noch amerikanische Waffen stationiert sind. Das ist, um es vorsichtig zu formulieren, eine sehr selektive Wahr- nehmung. Tatsächlich ist das Engagement der schwarz- gelben Bundesregierung um Abrüstung, Rüstungskon- trolle und Nichtverbreitung international sehr anerkannt. Außenminister Westerwelle hat dazu Wesentliches beigetragen, zum Beispiel mit der Gründung und den Aktivitäten der Non-Proliferation and Disarmament Ini- tiative. Auch im Rahmen der NATO hat sich die Bundes- regierung für Abrüstung eingesetzt und erreicht, dass sich das Bündnis zum Ziel einer nuklearwaffenfreien Welt bekennt, dass sie negative Sicherheitsgarantien aus- spricht und dass es jetzt einen Abrüstungsausschuss gibt. Das alles ist keineswegs selbstverständlich. Es ist des- halb auch sicher nicht richtig, wenn es im Antrag der Grünen heißt, es hätte in Chicago keine sichtbaren Fort- schritte gegeben. Natürlich haben wir uns alle noch weit- reichendere Ergebnisse gewünscht. Trotzdem gab es größere Fortschritte als in den elf Jahren davor. Wenn sie jetzt also mit dem Finger auf die Bundesregierung zei- gen und behaupten, ihr Vorgehen in der nuklearen Ab- rüstungspolitik sei unentschlossen, dann zeigen drei Fin- ger auf Sie zurück. Sie hatten sieben Jahre lang Zeit, um die nukleare Teilhabe zu beenden. Sie hätten keine Bundeswehrpilo- ten und Trägersystemen bereitstellen müssen. Sie haben es aber getan. Ich weiß nicht, warum, aber es war ver- nünftig, so wie es heute vernünftig ist, die Teilhabe nicht einseitig aufzukündigen. Es geht hier um kooperative Si- cherheitspolitik und Solidarität mit unseren Verbünde- ten. An anderer Stelle, wenn es nämlich um militärische Einsätze geht, fordern Sie genau diese Solidarität in letz- ter Zeit sehr lautstark ein, und hier wollen Sie das Ge- genteil. Das ist nicht konsequent und nicht glaubwürdig. Sollten Sie irgendwann wieder einmal an einer Bundes- regierung beteiligt sein und sollte sich dieses Problem dann noch stellen, werden wir Sie gerne an Ihre Forde- rung erinnern. 27744 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 (A) (C) (D)(B) Trotzdem ist es mir wichtig, zu betonen, dass es im vorliegenden Antrag viele Dinge gibt, die wir teilen. Auch wir wollen beispielsweise eine Stärkung des Nichtverbreitungsvertrags, wir wollen die Konflikte mit dem Iran und mit Nordkorea auf dem Verhandlungsweg lösen, und wir unterstützen Verhandlungen zwischen den USA und Russland über alle Atomwaffen. Ich würde es deshalb begrüßen, wenn die Opposi- tionsfraktionen die nukleare Abrüstung nicht zur Profi- lierung nutzten und nicht Dissens suchten, wo Konsens herrscht. Inge Höger (DIE LINKE): Am Wochenende erhielt ein ehemaliger Offizier der Sowjetarmee den Dresdner Friedenspreis, weil er 1983 nicht auf den Roten Knopf drückte. Stanislaw Petrow wurde auf seinem Monitor ein Raketenangriff der USA angezeigt. Er meldete dies nicht weiter, sondern überprüfte erst einmal die Möglichkeit eines Fehlers. Heute wissen wir, dass es keinen Atom- angriff aus den USA gab. Wir wissen aber auch, dass die Welt eine vollständig andere wäre, wenn Petrow die Kettenreaktion von Angriff und Gegenangriff ins Rollen gebracht hätte. Wir können auch heute nicht ausschließen, dass tech- nische Fehler eine vergleichbare Situation herbeiführen. Eine politische Situation, wie zu Zeiten der Kuba-Krise, könnte leicht eine militärische Eskalation nach sich zie- hen. Es gibt zwar gegenwärtig weniger Atomwaffen als in den 1980er-Jahren, aber die verbleibenden knapp 20 000 Sprengköpfe haben immer noch das Potenzial, die Welt, in der wir leben, mehrfach zu zerstören. Allein die technischen und politischen Risiken sprechen für eine Welt ohne Atomwaffen. Leider konzentriert sich die Abrüstungsdebatte nach wie vor auf die Abrüstung der anderen, besonders Nord- koreas oder des Iran. Abrüstung muss im eigenen Land anfangen. Die Bundesregierung muss ihren Partnern in Washington endlich unmissverständlich klarmachen, dass die US-Atomwaffen aus Büchel umgehend abgezo- gen werden müssen. Es ist pervers, dass nach wie vor deutsche Piloten das Abwerfen von Atombomben üben. Völlig unverständlich ist, dass die Bundesregierung bei der NATO-Konferenz in Chicago Zusagen gemacht hat, die Kampfflugzeuge der deutschen Luftwaffe so zu mo- dernisieren, dass sie weiterhin in der Lage sein werden, einen Atomkrieg zu führen. Das steht im Widerspruch zum eigenen Koalitionsvertrag. Die Ankündigung von US-Präsident Obama, er wolle auf bis zu ein Drittel der US-Atomwaffen verzichten, ist begrüßenswert. Aber dies eine Drittel reicht immer noch zur mehrfachen Vernichtung der Welt aus. Und gleich- zeitig wird der US-Raketenschirm ausgebaut. Dies trägt wenig zur weltweiten Stabilität bei, sondern befördert eine neue Aufrüstungsspirale. Eine Bedrohung für die Aussicht auf Frieden sehe ich in der Absage der Regierungskonferenz für einen atom- waffenfreien Nahen und Mittleren Osten, die für Dezem- ber 2012 in Helsinki geplant gewesen ist. Die Überprü- fungskonferenz des Atomwaffensperrvertrages 2010 hatte den UN-Generalsekretär aufgefordert, diese Regie- rungskonferenz unter Beteiligung aller Staaten der Region durchzuführen. Selbst der Iran hatte zugesagt. Doch nachdem die israelische Regierung ihre Teilnahme zurückgezogen hatte, wurde besonders auf Druck der USA die gesamte Konferenz abgesagt – ohne einen Er- satztermin festzulegen. So können Apelle zur Abrüstung schnell als Farce erscheinen. Trotz Absage der Regierungskonferenz haben sich in Helsinki Friedensaktivistinnen und -aktivisten getroffen und beraten, wie atomare Abrüstung im Nahen Osten er- reicht werden kann. Ich habe mich an dieser Konferenz beteiligt und kann mich den Forderungen der Teilneh- menden nur anschließen: Wir brauchen einen baldigen und konkreten Termin für eine neue Regierungskonfe- renz. Wir brauchen Schritte zu atomwaffenfreien Zonen nicht nur im Nahen Osten. Abrüstung funktioniert am besten durch mutige Schritte. Sie funktioniert schlecht in einem Klima von Kriegsdrohungen. Es gibt keine guten oder legalen Atomwaffen. Der Atomwaffensperrvertrag verpflichtet alle Staaten zur vollständigen Abrüstung. Es wird höchste Zeit, diese Verpflichtung umzusetzen. Agnes Brugger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Zwei Ereignisse machten in der letzten Woche deutlich, wo wir auf dem Weg in eine atomwaffenfreie Welt ste- hen: Zum dritten Mal testete Nordkorea eine Atombombe und verstieß damit abermals gegen Resolutionen des Si- cherheitsrates der Vereinten Nationen. Der nordkoreani- sche Atomwaffentest ist eine Provokation gegen die Weltgemeinschaft und gefährdet die Stabilität in der Re- gion. Mit seinen militärischen Aggressionen gegen Süd- korea und dem Test einer Langstreckenrakete im letzten Jahr hat das Regime in Pjöngjang gezeigt, dass es unbe- rechenbar ist und eine große Gefahr für den Weltfrieden darstellt. Dem Atomwaffentest von Nordkorea steht ein ande- res Ereignis gegenüber: die Rede des amerikanischen Präsidenten Obama zur Lage der Nation und die Ankün- digung, weitere ambitionierte Abrüstungsschritte in An- griff zu nehmen. Gespräche mit Russland sollen bald aufgenommen werden, eine Blockade im Kongress soll vermieden werden. Die Rede ist von einer zusätzlichen Reduzierung um ein Drittel des amerikanischen Atom- waffenarsenals. Diese beiden Ereignisse lassen erkennen: Wir stehen an einer Weggabelung auf dem Weg zu einer atomwaffen- freien Welt. Der eine Pfad führt zur weiteren Verbreitung von Atomwaffen, zu nuklearer Aufrüstung, möglicher- weise gar zum Zusammenbruch des Nichtverbreitungsre- gimes. Der andere Pfad weist in die Richtung einer atom- waffenfreien Welt und erfordert konsequente nukleare Abrüstung. Wir müssen den richtigen Weg einschlagen und hier- für die Weichen stellen. Deutschland muss sich entschei- den, ob es sich mit der Zuschauerrolle zufriedengibt oder aktiv mit vorangeht. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 27745 (A) (C) (D)(B) Die Bundesregierung ist in dieser Frage bisher zer- stritten. Das Ergebnis der schwarz-gelben Uneinigkeit ist wie immer ernüchternd. Sie haben versagt, Deutschland zum Vorreiter bei der nuklearen Abrüstung zu machen und dafür zu sorgen, dass die hier stationierten Atom- waffen endlich verschwinden. Um Ihnen von der Koalition noch mal die richtige Richtung zu weisen, legen wir heute einen Antrag vor, der klar macht, was für Deutschland die nächsten Schritte sein müssen, um die nukleare Abrüstung voranzubringen: Zu einer glaubwürdigen Abrüstungspolitik gehört zwin- gend der Abzug der amerikanischen Atomwaffen aus Deutschland. Die Bundesregierung muss die Bereitstel- lung von Bundeswehrpiloten und Trägersystemen zum Atomwaffeneinsatz einstellen. Eine Modernisierung der in Deutschland stationierten Waffen und ihrer Trägersys- teme darf gar nicht infrage kommen. Die Bundesrepublik muss die Verhandlungen zwischen Russland und den USA über weitere Abrüstungsschritte voll unterstützen und sich dafür einsetzen, dass auch substrategische Atomwaffen einbezogen werden. Deutschland muss sich außerdem dafür stark machen, dass wir dem Ziel einer Nuklearwaffenkonvention, die Atomwaffen für immer verbietet, näher kommen. Es gibt keinen rationalen Grund, weshalb ausgerech- net Atomwaffen nicht völkerrechtlich geächtet werden sollen. Die Herstellung, der Besitz und der Einsatz von Chemie- und Biowaffen sind aus guten Gründen verbo- ten. Das Gleiche sollte auch für Atomwaffen gelten. Die humanitären und ökologischen Folgen eines Atomwaf- feneinsatzes sind katastrophal und nie wieder gutzuma- chen. Am 4. und 5. März findet in Oslo eine Konferenz zu den humanitären Folgen von Atomwaffen statt. Für die Durchführung dieser Konferenz haben sich namhafte NGOs mit großem Engagement eingesetzt. Ihnen gilt unser aller Dank. Deutschland muss diese Impulse aufnehmen. Auch wenn es noch ein weiter und steiniger Weg ist, bis die Welt frei von Atomwaffen ist: Damit es gelingt, braucht es dringend Staaten, die mit vorangehen. Die beiden Ereignisse in der letzten Woche haben deutlich gemacht: Wir können es uns nicht leisten, ein- fach stehen zu bleiben und abzuwarten. Anlage 15 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Originäre Kinder- filme aus Deutschland stärker fördern (Zusatz- tagesordnungspunkt 7) Johannes Selle (CDU/CSU): Kinder sind unser größter Schatz und unsere Zukunft. Das ist nicht nur meine Überzeugung, sondern so heißt es in vielen Reden landauf und landab. In den Medienproduktionen Deutschlands lässt sich diese Bedeutung der Kinder für unsere Gesellschaft nicht ablesen. Dabei fehlt es nicht an der Quantität oder an der Vielfalt. Es fehlen jedoch die Angebote, die Kinder in ihrer alltäglichen Welt ernst nehmen, aus ihrem Blickwinkel Fragen des Lebens auf- greifen und Rollenmodelle und zeitgemäße Helden ent- halten. Vor über zehn Jahren hat sich der Freistaat Thüringen diesem Defizit gewidmet und den sich entwickelnden Medienstandort auf dieses Thema konzentriert. In Thü- ringen gibt es jetzt eine Kindermedienakademie, die Drehbuchentwicklungen für originäre Kinderfilmstoffe fördert, und es gibt den Studiopark Kindermedienzen- trum. Mit Bedauern muss man zur Kenntnis nehmen, dass in den Jahren 2009 und 2010 kein einziger Kinderfilm gedreht wurde, der auf einem originären Stoff beruht. Im Jahre 2012 waren es ganze zwei, einer davon ist der Film Wintertochter, ein Stoff, der seinen Ursprung in der Aka- demie für Kindermedien in Thüringen ebenso hatte wie der Film Kopfüber, dessen erfolgreiche Premiere auf der gerade zu Ende gegangenen Berlinale stattfand. Der Film Wintertochter konnte 2012 mit dem Deutschen Filmpreis in der Kategorie „Kinderfilm“ ausgezeichnet werden. „Die Sehnsucht nach guten Stoffen ist ungebrochen, eine Herausforderung, der wir uns gerne stellen“, sagt die Chefin der Kindermedienakademie Margret Albers. Eine lobenswerte Einrichtung allein ist aber nicht im- stande, einem bundesweiten Defizit abzuhelfen. Hier sind Veränderungen notwendig, die über die Bereitstel- lung von Inhalt hinausgehen. Eine breite gesellschaftli- che Diskussion wird angeregt zum Beispiel durch den Förderverein Deutscher Kinderfilm, den Bundesver- band Jugend und Film e. V., die Allianz Deutscher Pro- duzenten – Film & Fernsehen e. V. und weiterer und es bedarf eines erhöhten Engagements von Produzenten, Vertriebsorganisationen und Sendern, insbesondere den öffentlich-rechtlichen. Inzwischen reichen die Bemü- hungen für den Kinderfilm über Deutschland hinaus. Ebenfalls, übrigens auch in Erfurt, hat es den ersten europäischen Kongress von KIDS Regio gegeben, an dem Teilnehmer aus verschiedenen europäischen Län- dern teilnahmen, die sich für den Kinderfilm einsetzen. KIDS Regio ist ein Interessenverband, der europaweit für den Kinderfilm hoher Qualität wirbt und in einer De- klaration die unmittelbaren Erfordernisse verabschiedet hat. Es geht in der Deklaration darum, eine größere Viel- falt an Geschichten, Genres und Stilen zu unterstützen, und nicht zuletzt auch darum, den Kinderfilm als selbst- verständlichen Bestandteil Europäischer Filmkultur und -industrie zu verankern. Im Jahre 2012 wurde der erste Europäische Filmpreis für den Kinderfilm in Erfurt verliehen. Er wurde von der Europäischen Filmakademie vergeben. Die Arbeit von KIDS Regio wird übrigens im nächsten Monat beim BUFF – International Children and Youth Film Festival in Malmö fortgesetzt. Mit dem vorliegenden Antrag „Originäre Kinderfilme aus Deutschland stärker fördern“ kommen wir als Parla- ment zur richtigen Zeit in Bezug auf die breit aufge- 27746 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 (A) (C) (D)(B) stellte gesellschaftliche Initiative. Die Punkte in unserem Antrag, die darauf abzielen, bei den Medienpartnern die Verantwortung zu schärfen und für eine größeres Enga- gement zu motivieren, sind dabei sehr wichtig. Nicht al- les kann von der Bundesregierung oder vom Bundestag geleistet werden, aber die ernsthaften Anregungen eines wichtigen Partners verfehlen ihre Wirkung nicht. Unsere Kinder begegnen der Gesellschaft am inten- sivsten: Armut und Reichtum, Migration und ge- schlechtliche Identität, Arbeitslosigkeit und Drogen. Sie sind vielen Spannungen in der eigenen Familie, in der Schule, im Freundeskreis und in der Freizeit ausgesetzt. Sie brauchen Selbstvertrauen, das Bekenntnis zu Werten, sie benötigen Anerkennung bei der Verarbeitung der Realität. Wenn wir das wissen und ernst nehmen, dann dürfen auch medial und unterhaltsam in der Form von Filmen diese Themen nicht ausgespart werden. Das sind wir den Kindern ebenso schuldig wie den Erwachsenen, die sich gut bedient sehen. Kulturelle Bildung geschieht ganz wesentlich über Bewegtbilder. Kinder im Alter von 3 bis 13 Jahren konsumieren nach einer Studie des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend aus dem Jahr 2011 – Titel: „Geflimmer im Zimmer“ – täglich 90 Minuten audiovi- suelle Medien. Filme mit Problemen aus dem wirklichen Leben sind zu wenige darunter, und ein nicht unwesent- licher Grund liegt in den vergleichsweise hohen Produk- tionskosten und den vergleichsweise geringen Erlös- erwartungen bei Filmen für diese Zielgruppe. Erst später kommt als wesentlicher Einflussfaktor das Internet zu Fernsehen und Kino hinzu. Die Arbeitsgruppe der CDU/CSU-Fraktion im Bun- destag hat am 27. September 2012 ein Fachgespräch zum Thema Kinderfilm durchgeführt: „Der Kinderfilm in Deutschland – ein Mercedes ohne Stern?“ Der Einla- dung sind viele Experten aus dem Bereich Kinderfilm gefolgt. Deren Erfahrungen aus der Praxis sind in unse- ren Antrag mit eingeflossen. Ich bin der Intendantin des Mitteldeutschen Rund- funks, Frau Professor Dr. Karola Wille, sehr dankbar, dass sie die Initiative „Der besondere Kinderfilm“ ergrif- fen hat. Ihr ist es gelungen, eine Allianz zu bilden, um in diesem Jahr schon die Produktion von zwei Kinderfil- men vorzubereiten, die dem Anliegen unseres Antrages entsprechen. Im Regierungsentwurf der Siebenten Novelle des Filmförderungsgesetzes hat die Bundesregierung den Kinderfilm ausdrücklich erwähnt: In § 32 des FFG wird vorgeschlagen, dass auch Kinderfilmprojekte, die auf Originalstoffen beruhen, angemessen im Rahmen der Projektfilmförderung berücksichtigt werden sollen. Mit unserem Antrag wollen wir den deutschen Kin- derfilm stärken, wollen wir erreichen, dass bei allen Be- teiligten und Verantwortlichen die Sensibilität für die Bedeutung des Kinderfilms gestärkt wird. Wie Sie sehen, befindet sich der Bundestag mit die- sem Antrag mitten in einer Bewegung der Gesellschaft, die das gleiche Ziel hat. Wer kann unseren Antrag ei- gentlich nicht unterstützen? Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Die über 10 Millionen Kinder in unserem Land, die Heran- wachsenden unter 14 Jahren, sind nicht nur das Filmpu- blikum von heute, sondern auch von morgen. Für sie sind bewegte Bilder das Einstiegsmedium für die eigene Lebensorientierung. Der Kinderfilm mit dem provozierenden Titel Wer küsst schon einen Leguan? wurde 2004 ein toller Erfolg. Er setzte auf eine kindgerechte Geschichte, auf Origina- lität. Die ARD verbuchte bei der Premiere 4,4 Millionen Zuschauer, und 25 weitere Ausstrahlungen erfolgten. Doch dieser Triumph ist jetzt sieben Jahre her. Damals bildeten von zwölf Kinderfilmproduktionen eines Jahres noch vier – also ein Viertel – den Kinderalltag ab. Heute gibt es davon gar keine mehr. Der „Independent“-Film steht in Deutschland auf der „Roten Liste“. Märchen- filme oder die Adaption bekannter Kinderbücher dage- gen werden zahlreich vertrieben und gesendet und fin- den dann auch ein breites Publikumsinteresse. Der Kinderfilm in Deutschland ist ein Mercedes ohne Stern. Ambitioniertere Filme mit Originalstoffen sind aus der Produktionslandschaft fast vollständig ver- schwunden. Ist der Kinderfilm in Deutschland zum rei- nen Wirtschaftsgut geworden? Werden lediglich Bestsel- lerlisten abgearbeitet? Beachtet das Feuilleton den Kinderfilm zu wenig? Fest steht: Kinderfilme sind in der Produktion teurer als andere, auch deshalb, weil die Ar- beitsbedingungen mit Kindern aufwendiger sind. Auch sind die kinderfilmspezifischen Förderbudgets geringer. Ganz anders in Skandinavien. Dort ist der Kinderfilm eine eigene Marke, die ganz besonders vorbildlich in meinem Nachbarland, dem Königreich Dänemark, ist. Das gilt auch für die Niederlande. In meinen zahlreichen Gesprächen mit Filmschaffen- den und Vertretern der Filmbranche, im Präsidium der Filmförderungsanstalt und anderswo bin ich immer wie- der auf Missstände beim lebensnahen deutschen Kinder- film aufmerksam gemacht worden. Auch eine Petition von 2012 an den Deutschen Bundestag macht auf dieses Defizit aufmerksam. Um dem nachzugehen, hat meine Fraktion im letzten Jahr Experten und Akteure der Kin- derfilmbranche zu einem öffentlichen Fachgespräch in den Deutschen Bundestag eingeladen. Der Kinderfilm feierte damit seine Premiere als Debattengegenstand im Deutschen Bundestag. Nun debattieren wir auch erst- mals im Hohen Haus über seine gegenwärtige Lage. Wir benötigen Filme, die Kinder ansprechen, ihnen Mut machen und Selbstbewusstsein vermitteln. Kinder müssen sich in der Gesellschaft erst noch orientieren ler- nen. Ihre Filme sollen die Geschichten aus Kindersicht erzählen; nur Unterhaltung ist zu wenig. Der Stoff sollte auch für ein junges Publikum realitätsnah sein. Kinder, so sagt es die Drehbuchautorin Katharina Reschke, „haben ein Recht auf die gleiche Vielfalt und Diversität wie wir Erwachsenen“. Deshalb, so Bernd Merz, „muss hier Qualität eine viel, viel größere Rolle spielen als die (Einschalt-)Quote“. Ich teile diese Auf- fassung: Vielfältig sollte die Filmkultur für die Kinder sein. Derzeit fehlt es an Wahlmöglichkeiten für sie. Weltaneignung darf im Kanon der Kinoangebote für die Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 27747 (A) (C) (D)(B) Kids nicht ausgegrenzt werden. Eine solche Breite wäre sowohl pädagogisch sinnvoll als auch gesellschaftspoli- tisch wünschenswert. Vom Förderverein Deutscher Kinderfilm über die FFA in Berlin bis hin zu den TV-Verantwortlichen für den Kinderkanal, KIKA, gibt es forsche wie fachkompe- tente Filmschaffende und Filmverantwortliche, denen die Medien, die Produzenten, Verleiher und die Politik mehr Raum, mehr Förderung und mehr Wagnismöglich- keiten bieten sollten, um den Kinderfilm zu einer eige- nen Marke in unserem Land zu machen. Aber derzeit fehlt dem jungen Publikum offensichtlich eine Lobby. Die Politik tritt in Vorleistung: Der Kinderfilm, der auf originären Stoffen beruht, erhält im Regierungsent- wurf zum neuen Filmförderungsgesetz ab 2014 eine entschieden deutlichere Würdigung. In der Projektfilm- förderung, § 32, wird klargestellt, dass auch Kinderfilm- projekte, die auf Originalstoffen beruhen, angemessen im Rahmen der Projektfilmförderung berücksichtigt werden sollen. In unserem Antrag machen wir einige Vorschläge für weitere Ergänzungen im FFG, und auch die Produzen- tenallianz beabsichtigt, dem Kinderfilm einen höheren Stellenwert zu geben. Doch alles entscheidend für diese Art von Kinoproduktion ist das Fernsehen. Da es seine Bereitschaft zur Produktion von „Independent“-Filmen fast aufgegeben hatte, gab es ein Leerfeld, das nicht zu verantworten ist. Auch deshalb hatte meine Fraktion sich des Projektes Kinderfilm in einem Fachgespräch angenommen. Im Herbst letzten Jahres hat daraufhin auf Einladung von MDR-Intendantin Professor Karola Wille in Erfurt ein Runder Tisch stattgefunden, in dessen Folge eine Ar- beitsgruppe „Initiative Kinderfilm“ gegründet worden ist. Diese hat sich darauf verständigt, das sogenannte holländische Modell zugrunde zu legen und künftig die Produktion und Vermarktung von zwei Kinderfilmen pro Jahr zu unterstützen. Wir gehen davon aus, dass ARD und ZDF für die Förderung der Initiative Kinderfilm die entsprechenden Mittel zur Verfügung stellen werden. Der öffentlich- rechtliche Rundfunk in Deutschland ist mit seinen rund 8 Milliarden Euro Gebührengeldern jährlich einer der mit am besten ausgestatteten der Welt. Die Erfüllung des öffentlich-rechtlichen Auftrags müssen wir bei ARD und ZDF und ihren Sendertöchtern auch auf anderen Feldern immer wieder anmahnen. Dazu gehört auch, dass innerhalb der Häuser die Bud- gets für Kinder- und Jugendfilme deutlich aufgestockt werden. Doch an dieser Stelle sollte und muss anerkannt werden, mit welchem unübersehbaren finanziellen En- gagement beide die Filmförderung in unserem Land po- sitiv stärken. Durch die Zusammenarbeit mit der Filmförderungs- anstalt und den Länderfördereinrichtungen hoffen wir, mittelfristig auf eine Fördersumme von insgesamt 4 Mil- lionen Euro für den Kinderfilm zu kommen. Die Initia- tive ist ein sehr begrüßenswerter Schritt in die richtige Richtung, doch bei weitem noch nicht ausreichend. Wir benötigen ein breites Aktionsbündnis für den Kinderfilm – so die Forderung von Peter Dinges, dem Vorstand der FFA. Ihm und dem Präsidium der FFA un- ter dem Vorsitz des Präsidenten Eberhard Junkersdorf gilt unser Dank. Doch guter Wille an sich ist nicht ge- nug, wenn die großen Produzenten sich verweigern und die mittelständischen Filmunternehmen das finanzielle Wagnis nicht eingehen wollen. Bleibt dann nur noch die Quote? Von vielen Experten vorgeschlagen sind eine Sende- quote für die öffentlich-rechtlichen Anstalten, die einen Bildungs- wie Kulturauftrag zu erfüllen haben, und eine Förderquote bei den öffentlichen Filmfördereinrichtun- gen. Unser Nachbar Frankreich und fast alle anderen Filmländer praktizieren ein solches System mit Erfolg. An kreativer Qualität für das Kinderkino mangelt es nicht in unserem Land. Kinder- und Jugendfilme auf literarischer Grundlage beweisen, dass es möglich ist, er- folgreich die junge Generation für den Film zu begeis- tern. Diese vorliegenden Kompetenzen sollten allen Ver- antwortlichen Mut machen, sich jetzt dem originären Kinderfilm zuzuwenden. Angelika Krüger-Leißner (SPD): Vor wenigen Tagen ist der weltbekannte deutsche Kinderbuchautor Otfried Preußler gestorben. Generationen von Kindern in aller Welt hat er mit seinen Kinderbuch-Klassikern verzaubert. Viele seiner Bücher wie Die kleine Hexe, Räuber Hot- zenplotz oder Krabat wurden verfilmt und haben, nicht nur, die jungen Zuschauer auch im Kino begeistert. „Kinder wollen keine Lehrstücke“, sagte Otfried Preußler einmal, „sondern Geschichten, die der Phanta- sie Nahrung geben und ihnen auf dem Weg der Poesie helfen, mit mancherlei Ängsten besser fertig zu werden.“ Damit ist ein ganz wesentlicher Punkt angesprochen, der auf die große Bedeutung von Kinderbüchern und -filmen hinweist: Kinder brauchen für ihre Entwicklung Nah- rung. Und in diesem Sinne sind gute Kinderfilme für mich ein Grundnahrungsmittel. Kinderfilme nach Literaturvorlagen, wie zum Bei- spiel Otfried Preußlers Geschichten, gehören in den Jah- resbilanzen regelmäßig zu den erfolgreichsten deutschen Kinofilmproduktionen, zum Beispiel wie zuletzt Fünf Freunde, Hanni und Nanni, Wicki auf großer Fahrt oder Vorstadtkrokodile. Das ist sehr erfreulich, aber wir müs- sen auch im Auge behalten, dass damit nicht das ganze Spektrum abgedeckt werden kann. So macht es mir Sorgen, dass es bei uns einen großen Mangel an solchen Filmen gibt, die ganz direkt mit der Lebenswirklichkeit der Kinder zu tun haben; denn auch dieses Angebot brauchen die Kinder für Ihre Entwick- lung. Sie brauchen Geschichten aus ihrer eigenen Le- benswelt, in denen sie sich wiederfinden können, mit de- ren Protagonisten sie sich direkt identifizieren können, Filme, die ihnen einen geschützten Bereich bieten, in dem sie sich spielerisch auch auf die Härten des Lebens vorbereiten können, Filme, in denen sie zum Beispiel von Konflikten erfahren und lernen können, wie man da- 27748 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 (A) (C) (D)(B) mit konstruktiv umgehen kann. Die Bedeutung von Kin- derfilmen hat inzwischen aber auch eine große medien- pädagogische Bedeutung. Für mich ist damit die Grundsatzfrage verbunden, wie wir mit unseren Kindern umgehen. Liefern wir sie den übermächtigen Marktkräften im audiovisuellen Bereich aus? Überlassen wir sie Facebook, Youtube und Co. und hoffen, dass sie schon die richtigen Inhalte suchen? Oder erkennen wir darin eine gemeinsame, gesamtgesell- schaftliche Aufgabe, den Kindern mit den Mitteln des Films Orientierung zu geben und sich über die Welt klar zu werden? Denn genau das können gute Kinderfilme leisten, die auf Originaldrehbüchern beruhen. Doch leider gibt es viel zu wenige davon. So hat die Filmförderungsanstalt, FAA, in den letzten drei Jahren 32 Kinderfilme gefördert, aber nur vier davon basierten auf Originaldrehbüchern. Vor diesem Hintergrund kann meine Fraktion die Vorlage der Koalitionsfraktionen nur begrüßen. Wir sollten uns nur im Klaren darüber sein, dass die direkten Möglichkeiten der Politik hier begrenzt sind. Für einen guten und erfolgreichen originären Kinderfilm steht am Anfang der Autor mit einer guten Idee. Aber schon da zeigen sich die Hürden. Nach Einschätzung al- ler Experten herrscht ein großer Mangel an guten Stof- fen. Alle Erfahrung zeigt, dass sich eine wirklich gute Idee in den Fördergremien auch durchsetzt und Unter- stützung erhält. Ein Grundproblem scheint darin zu liegen, dass zu wenige Autoren den Mut zur Entwicklung eigener Stoffe haben, ganz einfach, weil die Aussicht zu ungewiss ist, ob sich ein Produzent und ein Sender finden, die das Drehbuch realisieren. Deshalb geht man lieber auf Num- mer sicher und arbeitet mit Literaturvorlagen oder TV- Marken. Wir müssen also Wege finden, dass Sender, Produ- zenten und Autoren von Anfang an gemeinsam an Stof- fen arbeiten. Und dafür haben wir ja auch gute Ansätze. Wir haben den „Kindertiger“. Das ist der Preis für das beste verfilmte Drehbuch für einen Kinderfilm, der ge- meinsam von Vision Kino und der FFA vergeben wird. Damit belohnen wir den Erfolg und geben dem Autor die finanzielle Freiheit, sein nächstes Projekt zu entwickeln. Besonders glücklich bin ich über die jüngste Initia- tive: „Der besondere Kinderfilm“. Hier arbeiten Film- branche, Kindermedienstiftung, Filmfördereinrichtungen und öffentlich-rechtliche Sender eng zusammen, um dem originären Kinderfilm zu mehr Präsenz zu verhel- fen. Dabei setzt die Förderung genau da an, wo es nötig ist, bei der Entwicklung der Stoffe, und begleitet sie bis zu Kinostart oder Ausstrahlung im Fernsehen. Das ist ein guter Ansatz. Ich bin überzeugt, es gibt keinen Königsweg, auf dem wir den qualitätsvollen Kinderfilm nachhaltig stärken können. Wir brauchen viele Bausteine in allen Berei- chen: in der Medienerziehung – hier leistet Vision Kino mit den Schulkinowochen hervorragende Arbeit –, bei der Ausbildung der Autoren an den Filmhochschulen, bei der Weiterbildung, beim Prozess der Stoffentwick- lung, hinsichtlich der Bereitschaft der Produzenten, sich auf Originalstoffe einzulassen, und vor allem hinsicht- lich der Bereitschaft der öffentlich-rechtlichen Sender mit ihrem Bildungsauftrag zu mehr Engagement. Unverzichtbare Arbeit leisten hier auch die zahlrei- chen privaten Initiativen und Vereine für den Kinder- film. Auch die Festivals, wie kürzlich die Berlinale mit ihrer Reihe „Generation“, gehören zu den wichtigsten Förderern des originären Kinderfilms. Die Politik hat vor allem die Möglichkeit, bei der För- derung zu steuern. Das ist nach Lage der Dinge aber nicht nur eine Frage des Geldes, sondern auch der besse- ren Justierung bestehender Förderinstrumente. So soll bei der Projektförderung im Filmförderungsgesetz, FFG, klargestellt werden, dass Kinderfilmprojekte, die auf Originalstoffen beruhen, angemessen berücksichtigt werden sollen. Ich kann bestätigen, dass das in der Ver- gabekommission der FFA bisher bereits die Praxis war, aber das im Gesetz ausdrücklich zu betonen, kann nur helfen. Wichtig wäre es auch, die Förderung talentierter Au- toren weiter zu stärken, damit sie genügend Zeit für die Stoffentwicklung haben. Skeptisch bin ich gegenüber ei- ner festen Förderquote für originäre Kinderfilme. Das kann nach hinten losgehen, wenn wir am Ende schwache Stoffe fördern, die keiner sehen will. Damit würden wir dem guten Kinderfilm einen Bärendienst erweisen. Wir brauchen mehr Mut zu originären Stoffen – zu- nächst bei den Autoren selbst, dann bei den Produzenten und auch den Sendern. Und wenn auf diesem Wege gute Projekte gemeinsam auf den Weg gebracht werden, dann müssen wir dafür sorgen, dass sie von allen Seiten be- sondere Unterstützung erfahren: von der Stoffentwick- lung über die Produktionsförderung bis hin zur Absatz- förderung. Verleih- und Absatzförderung sind ganz wichtig, da- mit die Originalstoffe am Ende nicht nur auf den Festi- vals gezeigt werden, sondern auch im Kino, wo sie sich gegen die erdrückende Präsenz des 3D-Family-Enter- tainments behaupten müssen. Der vorliegende Antrag geht in die richtige Richtung. Wir werden uns die Vorschläge genau anschauen und die eine oder andere Ergänzung einbringen und im Aus- schuss beraten. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass wir hier zu einem gemeinsamen Antrag kommen. Dr. Claudia Winterstein (FDP): Der Film Winter- tochter von Johannes Schmid erzählt die Geschichte ei- nes zwölfjährigen Mädchens, welches sich auf die Suche nach ihrem leiblichen Vater begibt. Ausgerecht an Weih- nachten erfährt sie, dass der Mann, den sie bisher Papa nannte, nicht ihr leiblicher Vater ist. In der Begleitung ihres besten Freundes und der Nachbarin begibt sich die kleine Katharina auf eine Reise, um ihren leiblichen Va- ter zu finden. Der Film ist nicht nur ein toller Familien- film, sondern greift Empfindungen junger Menschen auf und erzählt sie aus einer kindlichen Perspektive heraus. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 27749 (A) (C) (D)(B) Der Film Wintertochter wurde mit zahlreichen Aus- zeichnungen bedacht. 2012 gewann er den Deutschen Filmpreis als bester Kinderfilm. Die Deutsche Film- und Medienbewertung, FBW, verlieh dem Film die Aus- zeichnung „Prädikat besonders wertvoll“. Auch die Filmkritiker übertrafen sich gegenseitig mit positiven Bewertungen. Die Kritiker der Branche sind sich einig: Wintertochter ist ein wahrer Lichtblick im Genre des Kinderfilms. Leider ist Wintertochter im Genre „Originärer Kin- derfilm“ ein einzelner Lichtblick; denn Adaptionen von Kinder- und Jugendbüchern oder die Verfilmung bzw. Animationen von bekannten Kunst- und Märchenfiguren dominieren den Kinderfilmbereich. Dagegen sind Pro- duktionen, die originäre Stoffe für Kinder umsetzen, kaum auf Kinoleinwänden oder Fernsehbildschirmen zu finden. Der Kinderfilm leidet unter dem Verlust der Viel- fältigkeit. In den Jahren 2009 und 2010 wurde in Deutschland kein Film nach originären Stoffen produziert, 2011 wa- ren es gerade einmal zwei. Die Filmförderungsanstalt, FFA, beispielsweise hat in den letzten drei Jahren 31 Kinderfilme gefördert, von denen jedoch nur vier auf einem Originalstoff beruhten. Originäre Kinderfilme aus Deutschland stehen in ei- nem ungleichen Wettbewerb mit den Produktionen aus den großen amerikanischen Studios. Mit einem Marke- tingbudget, das mit dem der Blockbuster-Marken in kei- ner Weise vergleichbar ist, müssen originäre Kinderfilm- produktionen um die Gunst der Zuschauer werben. Im Gegensatz zu den Verfilmungen von Literatur- und Mär- chenvorlagen oder etablierten Marken treffen originäre Kinderfilme auf keinen vorbereiteten Markt, sondern müssen sich erst einen Bekanntheitsgrad erarbeiten. Be- reits an diesem Punkt ist erkennbar, dass bei der Kinder- filmproduktion ein hohes wirtschaftliches Risiko be- steht. Originäre Filme sind kaum mehr zu finanzieren und werden so gut wie nicht mehr produziert. Wir benötigen in Deutschland ein Umdenken. Kin- derfilme sollten zuerst als Kultur- und erst dann als Wirt- schaftsgut betrachtet werden. Ein vielfältiges und inno- vatives Kinderfilmangebot ist wünschenswert. Hierbei sollten insbesondere die skandinavischen Länder als Vorbild herangezogen werden. Diese Länder produzie- ren jährlich eine Vielzahl von qualitativ hochwertigen Kinderfilmen, die nicht nur eine Reihe von Filmpreisen gewinnen, sondern gleichzeitig an der Kinokasse erfolg- reich sind. In Deutschland leben über 10 Millionen Kinder unter 14 Jahren. Für Kinder ist das Fernsehen weiter das wich- tigste Medium. Erst ab 14 Jahren verdrängt das Internet das Fernsehen als meistgenutztes Medium. Bewegte Bil- der üben einen kaum zu überschätzenden Einfluss auf unsere Kinder und Jugendlichen aus. Filme haben einen großen Einfluss auf die kulturelle Prägung von Heranwachsenden. Filme, die Geschichten aus der Lebenswirklichkeit der Kinder erzählen, sind hierbei von großer Bedeutung; denn sie setzen sich mit den Bedürfnissen und Erlebnissen der Kinder auseinan- der und erzählen Geschichten aus der einzigartigen Per- spektive eines Kindes heraus. Kinder wollen ernst ge- nommen werden, sie wollen Geschichten erleben, die nicht nur auf Entertainment und Unterhaltung ausgerich- tet sind, sondern auch das berücksichtigen, was Kinder und Jugendliche realitätsnah bewegt. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang eine Initiative des Beauftragten der Bundesregierung für Kul- tur und Medien, der Filmförderungsanstalt, der Stiftung Deutsche Kinemathek und der „Kino macht Schule“ GbR, nämlich die Vision Kino gGmbH. Ziel und Auf- gabe von Vision Kino ist es, die Filmkompetenz von Kindern und Jugendlichen zu stärken. Das bedeutendste Projekt der Vision Kino gGmbH sind die SchulKinoWo- chen, die mit Unterstützung aller Bundesländer durchge- führt werden und sich in besonderer Weise um den Kin- der- und Jugendfilm bemühen. Vision Kino ist mit dieser Arbeit eine beispielgebende Institution, die alle Unter- stützung verdient. Die Politik ist sich ihrer Verantwortung bewusst. Des- halb ist beabsichtigt, Kinderfilme mit lebenswirklichem Inhalt stärker zu fördern. Im Regierungsentwurf zur Siebten Novelle des Filmförderungsgesetzes, FFG, ist nun klargestellt, dass originäre Kinderfilme bei der Pro- jektfilmförderung angemessen berücksichtigt werden sollen. Mit dem vorliegenden Antrag setzt sich die christlich- liberale Koalition für die Stärkung des deutschen origi- nären Kinderfilms ein, um den deutschen Kinderfilm zu einer eigenen Marke aufzubauen. Kinder und Jugendli- che haben ein Anrecht auf ein vielfältiges Filmangebot. Sie sind nicht nur die Zuschauer von heute, sondern auch die Konsumenten von morgen. Deshalb soll mit dem vorliegenden Antrag bei allen Akteuren der Filmbranche das bereits vorhandene Problembewusstsein noch weiter gesteigert werden. Wir wollen die Stärkung des originären deutschen Kinderfilms zu einer Schwerpunktaufgabe machen. Wir freuen uns auf die gemeinsame Beratung im Ausschuss. Kathrin Senger-Schäfer (DIE LINKE): Der hier vorliegende Koalitionsantrag ist für mich und meine Fraktion in mehrfacher Hinsicht überraschend: Er ist es zunächst wegen des Zeitpunktes. Nahezu ohne Anlass oder inhaltlichen Vorlauf stellt die Regie- rung diesen Antrag und tut damit so, als sei sie eine nachhaltige Verfechterin der Belange des Kinderfilms. In allen meinen Fachgesprächen mit den Verbänden, Freunden und Organisatoren zur Förderung des Kinder- films, die ich seit drei Jahren kontinuierlich führe, habe ich nichts darüber gehört, dass sich CDU/CSU und FDP besonders für den Kinderfilm engagieren oder gar Maß- nahmen ergriffen haben, dessen sehr schwierige Lage zu verbessern. Diese Fraktionen sind doch in der Regie- rungsverantwortung! Da müssen Sie sich fragen lassen, was Sie bisher geleistet haben – und das frage nicht nur ich, sondern mit Sicherheit auch die von der Koalition so hoch gelobte „sehr engagierte Szene“ des Kinderfilms in Deutschland. 27750 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 (A) (C) (D)(B) Überraschend ist für mich zweitens, dass die Regie- rung nunmehr offenbar die von ihren eigenen Fachkräf- ten erarbeitete Neufassung der Förderinstrumentarien für den deutschen Film im Bereich des Kinderfilms selber als unzureichend klassifiziert. Anders ist nicht zu erklä- ren, warum sie – mehr oder weniger an sich selbst appel- lierend – dazu aufruft, die Ausgestaltung der §§ 15, 23 und 53 des Filmförderungsgesetzes, FFG, für den Kin- derfilm stärker zu optimieren. Überraschend ist schließlich auch, dass die Regie- rungskoalition die öffentlich-rechtlichen Rundfunkan- stalten in die Pflicht nehmen möchte, „ausreichende Sendeplätze für originäre Kinderfilme“ zur Verfügung zu stellen bzw. selbst produzieren zu lassen. Immerhin ist dabei mindestens die FDP dafür der denkbar ungüns- tigste Absender; denn ihr Interesse gilt ja, folgt man ih- ren medienpolitischen Äußerungen der letzten Monate, weniger der Stärkung des öffentlich-rechtlichen Rund- funksystems, sondern eher der Reduzierung und Be- schneidung öffentlich-rechtlicher Kernkompetenzen in der Berichterstattung und der Mittelverteilung. Es ist nicht so, dass die Fraktion Die Linke nicht auch gehörige Kritik am Zustand der öffentlich-rechtlichen Senderpolitik übt und üben muss. Aber uns geht es hier um die Rückbesinnung auf den Verfassungsauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, während die FDP mit ihrem Marktradikalismus auch noch die letzten Ressour- cen öffentlich-rechtlicher Information und Unterhaltung lieber heute als morgen den Privatanbietern übereignen möchte. Wo bei dieser Doppelzüngigkeit der Kinderfilm im öffentlich-rechtlichen Fernsehen seinen angemesse- nen Platz bekommen soll, ist mehr als fragwürdig. Die inhaltliche Ausrichtung des Antrags ist mit einem Rundumschlag des guten Willens gleichzusetzen. Frei- lich werden richtige Dinge angesprochen, Missstände benannt und die sporadischen Ansätze gewürdigt, die dafür sorgen, dass es in Deutschland überhaupt noch Kinderfilme gibt. Aber dann passiert der gleiche Fehler, der schon die Debatte um die Sicherung und Bewahrung des nationalen Filmerbes zur Farce verkommen ließ: Wieder werden Forderungen aufgestellt – in diesem Falle zwölf –, die erneut „im Rahmen der vorhandenen Haushaltsmittel“ realisiert werden sollen. Wieder muss die Fraktion Die Linke dem entgegenhalten: Das wird bei weitem nicht reichen! Es wird nicht nur nicht rei- chen, sondern es wird auch auf diesem bedeutenden Feld der Filmpolitik eher dazu führen, ein wichtiges Thema zu zerreden und durch folgenlose Prüfaufträge schlicht zu neutralisieren. So etwas hilft weder denjenigen, die Kinderfilme pro- duzieren und zeigen möchten, noch denen, die Kinder- filme als einen unverzichtbaren kulturellen Bestandteil in unserem Land ansehen, und eine solche Scheindiskus- sion hilft natürlich erst recht nicht den Kindern und Ju- gendlichen selbst. Sie werden aufgrund dieses Antrags nicht mehr Filme bekommen, auch keine besseren und vermutlich auch keine originären Kinderfilme, die, dem Antrag zufolge, „nach zeitgenössischen Stoffen gedreht“ sind und „aus der unmittelbaren Lebenswirklichkeit der Kinder stammen“. Wenn es übrigens wirklich ein Anliegen wäre, „an- sprechende, Mut machende und Selbstbewusstsein ver- mittelnde Kinder- und Jugendfilme“ zu fördern, dann müssten diese Filme ein hohes Potenzial an Herrschafts- kritik beinhalten und sich damit deutlich gegen die Poli- tik der jetzigen Regierung wenden; denn Anspruch, Mut und Selbstbewusstsein werden nur in der ästhetischen Erziehung zur Mündigkeit erzeugt. Dagegen stehen die systematische soziale Ungerechtigkeit und der Aus- schluss vom öffentlichen Leben in diesem Land. Bei Millionen von Kindern und ihren Eltern ist eben das die traurige Lebenswirklichkeit. Vernünftige Kinderfilme, die diesen Zustand thematisieren, werden aus ökonomi- schen und politischen Gründen nicht verlangt. Die Re- gierung will das eigentlich nicht ändern. Daher schwadroniert der Antrag auch nebulös über Filme, „die auf den Werten unserer Gesellschaft auf- bauen“ und die Erfahrungen mit „Migrationserscheinun- gen“ verarbeiten sollen, ohne in irgendeiner Form zu re- flektieren, dass solche Zuschreibungen gerade nicht dafür geeignet sind, ein gesellschaftlich verträgliches Selbstbe- wusstsein zu erzeugen. Für die öffentlichen Filmförder- einrichtungen soll sogar das untaugliche Mittel der För- derquote angewendet werden. Die Linke wird so etwas nicht unterstützen. Die Art der Problembewältigung und ihre Pseudoab- hilfen sind falsch. Man muss sich eher früher als später von dem Fetisch des Rahmens der vorhandenen Haus- haltsmittel verabschieden, wenn eine sinnvolle und ziel- sichere Aktivität entfaltet werden soll. Ein praktischer Vorschlag ist zum Beispiel die Auflage eines Sonder- fonds für Kinderfilme zur Anschubfinanzierung, der aus Mitteln des Staatsministeriums für Kultur und Medien und des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gebildet werden kann. Zur Gegenfi- nanzierung sind natürlich verschiedene Prestigeobjekte des Bundes zu streichen – im Sinne und im Interesse des Kinderfilms in Deutschland. Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Film: Das ist ja Lichtspielkunst. Aber die Film- förderpolitik der Bundesregierung ist viel zu oft nur Schattenspiel. Wir erkennen an, dass sich die Regierung bei den För- dermitteln engagiert. Doch Geld ist nur eine Seite. Nötig sind auch Konzepte und Ideen, damit die Mittel sinnvoll ausgegeben werden. Hier gibt es eine deutliche Kritik, auch in den Medien, zum Beispiel hinsichtlich der Qua- lität und Erkennbarkeit des deutschen Films, und leider sind auch sinkende Marktanteile zu verzeichnen: auf wieder unter 20 Prozent. Wenn Kulturstaatsminister Bernd Neumann diesen Rückgang analog zum Weinbau erklären will – wo es auch gute und schlechte Jahrgänge gebe –, dann greift er zu kurz. Doch lassen Sie uns bei diesem Bild bleiben; denn wir Grüne haben beim Weinbau ja einige Kompe- tenz, zum Beispiel mit der tollen Arbeit unserer Wein- bauministerin im Kernland des Weinbaus, in Rheinland- Pfalz. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 27751 (A) (C) (D)(B) Wer deutsche Spitzenpositionen verteidigen will, darf sich nicht blind anpassen. Er muss wissen, wo die eige- nen Stärken liegen, zum Beispiel bei einem Top-Riesling aus dem Rheingau im Vergleich zu massenindustriell ge- fertigten Weinen – sagen wir einmal, aus Kalifornien. Und das gilt auch für die Filmkultur. Und weil das so ist, würde ich mich auch über eine Überschrift „Hollywood in Potsdam – Traumfabrik, Außenstelle Babelsberg“ nicht so freuen, wie Staatsminister Neumann es in einer Rede Anfang Februar getan hat. Es gilt doch, unsere eigenen Stärken zu erkennen und zu entwickeln. Wir dürfen uns nicht verzetteln, indem wir von Traumfabriken träumen und am Ende dann nur schlechte Kopie sind und nicht das Original. Wir dürfen uns auch nicht damit zufriedengeben, sogar im deutsch- sprachigen Raum oft nur hinterherzuhinken, zum Bei- spiel gegenüber einem österreichischen Kino, das wirk- lich fulminante Filme abliefert. Es reicht auch nicht aus, nur im Beiboot zu sitzen, mit Co-Produktionen und För- dermitteln für gute Filme, deren kreative Basis anderswo liegt. „Weniger Hollywood, mehr eigene Ideen“: Diese For- derung haben wir Grüne wiederholt an die Filmförderpo- litik der Bundesregierung gerichtet, und sie ist nach wie vor das Gebot der Stunde. Wir brauchen eine Neuaus- richtung, die sich stärker an Qualitätskriterien orientiert und gerade nicht die Bedeutung der Referenzfilmförde- rung herunterfährt, wie die FFG-Novelle das vorsieht. Die Novelle darf keine Lex „Weißes Band“ werden, die Qualitätsfilme bestraft, und sie muss auch einen Un- terschied darin machen, ob Filme eine Förderung kom- merziell überhaupt nötig haben oder nicht. Über die Qualität zum wirtschaftlichen Erfolg kommen: Das ist die nachhaltige Strategie, nicht nur in der Agri-, sondern auch in der Filmkultur. Offensichtlich wächst auf Regierungsseite die Ein- sicht, dass diese grüne Position so falsch nicht sein kann. Aber sie wächst zu langsam, und es fehlt der Mut, eine wirkliche Kurskorrektur vorzunehmen. Es reicht letzt- lich nur für Problembeschreibungen und nicht für konse- quente politische Lösungen. Eine solche Problembeschreibung ohne zureichende Konsequenz ist auch der vorliegende Antrag zum Kin- derfilm der Koalition. Er kritisiert zu Recht, dass origi- näre Kinderfilme aus Deutschland fast keine Rolle spie- len. Originär: Das meint Stoffe, die sich auf unsere Lebenswirklichkeit beziehen und dabei nicht nur Kino- adaptionen von bekannten Kinderbüchern oder Mär- chenstoffen sind. Solche originären Produktionen kann man bei uns wirklich an den Fingern einer Hand abzäh- len. Von den über 30 FFA-geförderten Kinderfilmen in den letzten drei Jahren waren es bloß vier. Angesichts des unentwegten filmpolitischen Schie- lens der Bundesfilmpolitik nach Hollywood ist es durch- aus bemerkenswert, wenn die Regierungsfraktionen beim Kinderfilm nun den – Zitat – „fast aussichtslosen Wettbewerb mit Blockbuster-Marken und seriellen Pro- duktionen aus den großen amerikanischen Studios“ klar benennen. Diese Klarheit wünschte man sich für die Filmförderpolitik der Bundesregierung insgesamt. Das Thema Kinderfilm ist sehr wichtig für unsere Filmkultur; denn Kinder sind ja nicht nur Zuschauer von heute, sondern auch von morgen. Gute Kinderfilme und eine anspruchsvolle Filmbildung sind im besten Sinne Basisarbeit für die Zukunft der Filmkultur. Wir begrüßen die Initiative „Der besondere Kinder- film“, an der unter anderem öffentlich-rechtliche Sender, Filmproduzenten und Medienstiftungen beteiligt sind und zu der auch die FFA einen Beitrag leistet, um zwei originäre Kinderfilme im Jahr zu produzieren. Das wäre zumindest ein kleiner Fortschritt. Auch Anpassungen im Filmfördergesetz sind sinnvoll und nötig, zum Beispiel die Streckung des Zeitraums zum Erwerb von Referenzförderpunkten für Kinderfilme in § 23 FFG – ein Vorschlag, den der Kinderfilmantrag der Koalition etwas schüchtern zur Sprache bringt, näm- lich im Sinne eines Prüfauftrags und nicht als klare For- derung. Das ist wirklich ziemlich defensiv. Nicht erwähnt wird, dass eine solche Verbesserung für Kinderfilme in einem direkten Widerspruch zu der von der Regierung in § 23 real beabsichtigten Verschlechte- rung bei den Aufstockungsmöglichkeiten für Referenz- punkte stünde. Die Aufstockungsmöglichkeit soll näm- lich von 150 000 Punkten auf 100 000 abgesenkt werden. Das dürfte sich gerade für originäre Kinderfilme negativ auswirken. Kritik an diesem Vorhaben der Bundesregie- rung findet man im Kinderfilmantrag der Koalition aber nicht. Was der Antrag beim § 23 unter dem Strich zu bieten hat, ist bestenfalls ein Nullsummenspiel. Man erhöht den Zeitraum des Referenzpunkteerwerbs im Verhältnis zwei zu drei und akzeptiert gleichzeitig die Absenkung der Aufstockungsmöglichkeiten im Verhältnis von drei zu zwei. Das ist Status quo, aber kein positives Ergebnis für den Kinderfilm. Etwas hohl klingt dann auch der Hymnus, den der Antrag auf die Arbeit einer Bundesregierung singt, die ihrer Verantwortung in der FFG-Novelle angeblich gerecht würde, wenn sie in § 32 klarstellt, „dass auch Kinderfilmprojekte, die auf Originalstoffen beruhen, an- gemessen im Rahmen der Projektfilmförderung berück- sichtigt werden sollen.“ Selten wurde ein unbestimmter Rechtsbegriff heftiger abgefeiert! Wer wissen will, wie ernst die Bundesregierung selbst diese Formulierung in § 32 nimmt, der muss nur in den Begründungsteil zur FFG-Novelle schauen, wo die Än- derung damit relativiert wird, dass man ihr nur einen „klarstellenden Charakter“ beilegt und keine Verpflich- tung aus ihr ableiten will. Augenscheinlich hat die Filmpolitik der Koalition viel vom Kulissenbau gelernt. Der ist ja beim Film sehr wichtig. Aber die Kunst des schönen Scheins nach dem Prinzip Potemkin reicht nicht aus. Den Kinderfilm privi- legiert man nicht mit falschen Lobgesängen und unbe- stimmten Rechtsbegriffen, sondern nur mit konkreten Fördermaßnahmen und der Festlegung entsprechender Fördervoraussetzungen. 27752 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2013 (A) (C) (D)(B) Der Antrag der Koalition weiß, wo zuallererst anzu- setzen wäre, nämlich beim § 15 FFG, bei den Allgemei- nen Förderungsvoraussetzungen. Aber auch hier traut man sich wieder nur, einen Prüfauftrag zu vergeben, statt eine bessere Förderung des Kinderfilms einzufordern. In der FFG-Novelle der Regierung taucht in § 15 jedenfalls keine Verbesserung für den Kinderfilm auf. Problematisch ist schließlich der Wegfall der Dreh- buchfortentwicklungsförderung in § 32 Abs. 3 der FFG- Novelle; denn gerade beim Kinderfilm kommt es in be- sonderer Weise auf die Entwicklung von Stoffen, auf gute und originäre Drehbücher an. Deshalb sollte man an dieser Stelle nicht streichen, sondern besser und geziel- ter fördern, damit ein besonderer Anreiz zur Verbesse- rung von Kinderfilmdrehbüchern entsteht. Das kann geschehen, indem die Kreativen, die die Stoffe entwickeln, die Möglichkeit erhalten, ihre Pro- jekte selbstständig bei der FFA einzureichen. Auch in- terne Veränderungen in der FFA wären sinnvoll. So sollte die Unterkommission Drehbuch, wo ja viel Sach- verstand für die Stoffentwicklung sitzt, auch bei der Drehbuchfortentwicklung mehr Kompetenzen erhalten. Schließlich die Förderungshilfen für Drehbücher un- ter § 47: Da sollte es in der Novelle doch sinnvollere und zielführende Änderungen geben als die, wonach Dreh- bücher zukünftig von vornherein auf Deutsch verfasst sein müssen. Ich sehe im Kinderfilmantrag der Koalition richtige Problembeschreibungen, aber noch keine zureichenden Problemlösungen. Lassen Sie uns deshalb im parlamen- tarischen Verfahren konstruktiv diskutieren, und lassen Sie uns die Punkte, die eine Verbesserung beim Kinder- film bringen würden, auch in die anstehende FFG-No- velle hineinschreiben; denn hier spielt die Musik in der Bundesfilmförderung! 222. Sitzung Inhaltsverzeichnis TOP 4 Eidesleistung der Bundesministerin für Bildung und Forschung TOP 5 Regierungserklärung zum Europäischen Rat TOP 6 Armuts- und Reichtumsberichterstattung TOP 38, ZP 3 Überweisungen im vereinfachten Verfahren TOP 39, ZP 4 Abschließende Beratungen ohne Aussprache ZP 5 Aktuelle Stunde zu rot-grüner Landespolitik TOP 7 Verwaltung alternativer Investmentfonds TOP 8 Missbrauch von Werkverträgen TOP 9 Wahlrecht TOP 10 Öffentlich geförderte Beschäftigung TOP 11 Qualität bei der Vergabe von Dienstleistungen TOP 12 Ländliche Entwicklung in Entwicklungsländern TOP 13 Innovationspolitik TOP 21 Lehrkräfte in Integrationskursen TOP 15 Aus- und Weiterbildung in der Altenpflege TOP 16 Zusammenarbeit von Schule und Jugendhilfe TOP 17 Umsetzung des Seearbeitsübereinkommens 2006 ZP 6 Atomwaffenfreie Welt TOP 19 Honorarberatung über Finanzinstrumente TOP 20 Bevölkerungsstatistik TOP 23 Strafrecht - Bekämpfung der Genitalverstümmelung TOP 22 SGB II (Bildungs- und Teilhabepaket) TOP 27 Wahlrecht von Menschen mit Behinderung TOP 24 Videokonferenztechnik in gerichtlichen Verfahren TOP 25 Billigkeitsrichtlinie – Umwidmung von Frequenzen TOP 26 Holzhandels-Sicherungs-Gesetz TOP 28 Änderung des Entflechtungsgesetzes TOP 29 Neuorganisation der Unfallkassen TOP 30 Amtshilferichtlinie und steuerliche Vorschriften TOP 31 Förderung der elektronischen Verwaltung TOP 32 Wrackbeseitigungsübereinkommen ZP 7 Förderung von Kinderfilmen aus Deutschland Anlagen
Gesamtes Protokol
Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1722200000

Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie herzlich zu unserer 222. Sitzung.

Bevor wir in die heutige Tagesordnung eintreten,
möchte ich zunächst zwei Kollegen zu ihren Geburtsta-
gen gratulieren, die sie in den zurückliegenden Tagen
gefeiert haben, und zwar dem Kollegen Ernst Hinsken
zu seinem 70. Geburtstag und dem Kollegen Dr. Peter
Röhlinger zu seinem 74. Geburtstag.


(Beifall)


Alle guten Wünsche im Namen des gesamten Hauses!

Dann haben wir noch eine Wahl durchzuführen. Für
die neue Amtszeit des Beirats beim Bundesbeauftrag-
ten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes
der ehemaligen DDR gemäß § 39 Abs. 1 des Stasi-Un-
terlagen-Gesetzes schlägt die Fraktion der CDU/CSU
vor, erneut die Kollegin Beatrix Philipp sowie Herrn
Professor Dr. Horst Möller als Mitglieder zu wählen.
Sind Sie mit diesem Vorschlag einverstanden? – Das ist
offensichtlich der Fall. Damit sind die Kollegin Beatrix
Philipp und Herr Professor Möller für die neue Amtszeit
als Mitglieder des Beirats gewählt.

Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung um die in der Zusatzpunkteliste aufge-
führten Punkte zu erweitern:

ZP 1 Aktuelle Stunde 
auf Verlangen der Fraktion der SPD:

Haltung der Bundesregierung zum Miss-
brauch von Leiharbeit im Lichte der Berichte
über Vorfälle bei Amazon

(siehe 221. Sitzung)


ZP 2 a) Beratung des Antrags der Bundesregierung

Entsendung bewaffneter deutscher Streit-
kräfte zur Beteiligung an der EU-geführten
militärischen Ausbildungsmission EUTM Mali
auf Grundlage des Ersuchens der Regierung
von Mali sowie der Beschlüsse 2013/34/GASP
des Rates der Europäischen Union (EU) vom

17. Januar 2013 und vom 18. Februar 2013 in
Verbindung mit den Resolutionen 2071 (2012)

und 2085 (2012) des Sicherheitsrates der Ver-
einten Nationen
– Drucksache 17/12367 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)
Rechtsausschuss 
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung 
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO

b) Beratung des Antrags der Bundesregierung

Entsendung bewaffneter deutscher Streit-
kräfte zur Unterstützung der Internationalen
Unterstützungsmission in Mali unter afrikani-
scher Führung (AFISMA) auf Grundlage der
Resolution 2085 (2012) des Sicherheitsrates
der Vereinten Nationen

– Drucksache 17/12368 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)
Rechtsausschuss 
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung 
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO


(siehe 221. Sitzung)


ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-
fahren

Ergänzung zu TOP 38

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heinz
Paula, Dr. Matthias Miersch, Dirk Becker,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD

Wildtierhandel und -haltung in Deutsch-
land einschränken und so den Tier- und Ar-
tenschutz stärken

– Drucksache 17/12386 –





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)


Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung 
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Wilhelm Priesmeier, Willi Brase, Petra
Crone, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der SPD

Ein effizientes Tierarzneimittelgesetz schaf-
fen und die Antibiotikagaben in der Nutz-
tierhaltung wirkungsvoll reduzieren

– Drucksache 17/12385 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f)
Ausschuss für Gesundheit

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Bettina Herlitzius, Dr. Valerie Wilms,
Dr. Anton Hofreiter, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN

Hinterlandanbindung der ZARA-Häfen
verbessern

– Drucksache 17/12194 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)
Haushaltsausschuss
Innenausschuss

d) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Fünfzehnten
Gesetzes zur Änderung des Soldatengeset-
zes

– Drucksache 17/12353 –
Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss (f)
Innenausschuss 
Rechtsausschuss

ZP 4 Weitere abschließende Beratungen ohne Aus-
sprache

Ergänzung zu TOP 39

a) Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau
und Stadtentwicklung (15. Ausschuss) zu dem
Antrag der Abgeordneten Bettina Herlitzius,
Dr. Harald Terpe, Britta Haßelmann, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Angebot von Spielhallen mit dem Bauge-
setzbuch begrenzen

– Drucksachen 17/4201, 17/5698 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Peter Götz

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau
und Stadtentwicklung (15. Ausschuss) zu dem
Antrag der Abgeordneten Dr. Anton Hofreiter,
Nicole Maisch, Markus Tressel, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Stärkung der Fahrgastrechte im Fernbus-
verkehr

– Drucksachen 17/5057, 17/7822 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Volkmar Vogel (Kleinsaara)


c) Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau
und Stadtentwicklung (15. Ausschuss) zu dem
Antrag der Abgeordneten Dr. Anton Hofreiter,
Stephan Kühn, Dr. Valerie Wilms, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Für ein einheitliches Lkw-Tempolimit von
80 km/h auf Autobahnen in Europa

– Drucksachen 17/6480, 17/7887 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Oliver Luksic

d) Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau
und Stadtentwicklung (15. Ausschuss) zu dem
Antrag der Abgeordneten Dr. Valerie Wilms,
Sven-Christian Kindler, Bettina Herlitzius,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Anbindung deutscher Seehäfen verbessern –
Alternativen zur Y-Trasse vorantreiben

– Drucksachen 17/11352, 17/12366 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Werner Simmling

e) Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau
und Stadtentwicklung (15. Ausschuss) zu dem
Antrag der Abgeordneten Stephan Kühn,
Dr. Anton Hofreiter, Dr. Valerie Wilms, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Verbesserung des Schienenverkehrs zwi-
schen Deutschland und Polen

– Drucksachen 17/9947, 17/12369 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Veronika Bellmann

ZP 5 Aktuelle Stunde 
auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und
FDP:

Umstrittene Weichenstellungen – rot-grüne
Politik in den Bundesländern





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)


ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Agnes
Brugger, Volker Beck (Köln), Marieluise Beck

(Bremen), weiterer Abgeordneter und der Frak-

tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Konsequent vorangehen für eine atomwaffen-
freie Welt

– Drucksache 17/9983 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Marco
Wanderwitz, Johannes Selle, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der
Abgeordneten Dr. Claudia Winterstein,
Burkhardt Müller-Sönksen, Reiner Deutschmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Originäre Kinderfilme aus Deutschland stär-
ker fördern

– Drucksache 17/12381 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss

ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dagmar G. Wöhrl, Wolfgang Börnsen (Bönstrup),
Dorothee Bär, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Reiner Deutschmann, Burkhardt Müller-Sönksen,
Sebastian Blumenthal, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP

Wettbewerbsfähigkeit der Kultur- und Krea-
tivwirtschaft weiter erhöhen – Initiative der
Bundesregierung verstetigen und ausbauen

– Drucksache 17/12383 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales 
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss

ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Oliver
Kaczmarek, Dr. Ernst Dieter Rossmann,
Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD

Die Herausforderungen der Bildungsrepublik
mit den Erkenntnissen aus dem Nationalen
Bildungsbericht angehen

– Drucksache 17/12384 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)
Innenausschuss 
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales 

Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 
Ausschuss für Kultur und Medien 
Haushaltsausschuss

ZP 10 Aktuelle Stunde 
auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE:

Erneute Zusagen für Rüstungsgeschäfte mit
Saudi-Arabien – Genehmigung für Lieferung
von Patrouillenbooten

Außerdem werden die Tagesordnungspunkte 14 und
18 abgesetzt.

Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-
weit erforderlich, abgewichen werden.

Darüber hinaus kommt es zu den in der Zusatzpunkte-
liste dargestellten weiteren Änderungen des Ablaufs.

Darf ich auch hier Einvernehmen feststellen? – Das
ist offensichtlich der Fall. Dann haben wir das so be-
schlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:

Eidesleistung der Bundesministerin für Bil-
dung und Forschung

Der Herr Bundespräsident hat mir mitgeteilt, dass er
am 14. Februar 2013 gemäß Art. 64 Abs. 1 des Grundge-
setzes für die Bundesrepublik Deutschland auf Vor-
schlag der Frau Bundeskanzlerin die Bundesministerin
für Bildung und Forschung, Frau Professor Dr. Annette
Schavan, aus ihrem Amt als Bundesministerin entlassen
und Frau Professor Dr. Johanna Wanka zur Bundes-
ministerin für Bildung und Forschung ernannt hat.

Nach Art. 64 Abs. 2 des Grundgesetzes leistet ein
Bundesminister bei der Amtsübernahme den in Art. 56
vorgesehenen Eid.

Frau Dr. Wanka, ich darf Sie bitten, zur Eidesleistung
zu mir zu kommen.


(Die Anwesenden erheben sich)


Frau Bundesministerin, ich möchte Sie bitten, den im
Grundgesetz vorgesehenen Eid zu leisten.

Dr. Johanna Wanka, Bundesministerin für Bildung
und Forschung:

Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des
deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Scha-
den von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze
des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten ge-
wissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann
üben werde. So wahr mir Gott helfe.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1722200100

Sie haben den im Grundgesetz vorgesehenen Eid ge-

leistet. Ich möchte Ihnen im Namen des ganzen Hauses
für die übernommenen Aufgaben alles Gute, Erfolg und
Gottes Segen wünschen.

Dr. Johanna Wanka, Bundesministerin für Bildung
und Forschung:

Vielen Dank.





Bundesministerin Dr. Johanna Wanka


(A) (C)



(D)(B)



(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Abg. Volker Kauder [CDU/CSU] und Abg. Dagmar Ziegler [SPD] überreichen Bundesministerin Dr. Johanna Wanka Blumen – Abgeordnete aller Fraktionen gratulieren Bundesministerin Dr. Johanna Wanka)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1722200200

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will die Gele-

genheit nutzen, Annette Schavan herzlich für die in die-
sem Amt geleistete Arbeit zu danken.


(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Annette Schavan hat über eine außergewöhnlich lange
Zeit die Bildungs- und Wissenschaftspolitik zunächst
auf Landesebene, dann im Bund begleitet und geprägt
und hat sich durch ihre Amtsführung in Politik wie in
Wissenschaft Respekt und große Anerkennung erwor-
ben. Wir freuen uns auf die weitere parlamentarische Zu-
sammenarbeit mit einer geschätzten Kollegin.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:

Abgabe einer Regierungserklärung durch die
Bundeskanzlerin

zu den Ergebnissen des Europäischen Rates
am 7./8. Februar 2013 in Brüssel

Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der SPD-Frak-
tion vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä-
rung 90 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazu keinen Wi-
derspruch. Dann ist das so beschlossen.

Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
die Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Angela Merkel (CDU):
Rede ID: ID1722200300

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Auf dem letzten Europäischen Rat der Staats-
und Regierungschefs haben wir uns im Kreis aller
27 Mitgliedstaaten auf den Finanzrahmen der Europäi-
schen Union für die Jahre 2014 bis 2020 geeinigt. Ich
glaube, das ist ein in seiner Bedeutung gar nicht hoch ge-
nug einzuschätzendes Ergebnis, und ehrlich gesagt ha-
ben nur wenige dieses Ergebnis für möglich gehalten,
weil vor dem Rat die Positionen noch sehr weit aus-
einanderlagen.

Es hat sich gezeigt: Ja, es war richtig, dass wir im No-
vember nicht schon eine Notlösung gewählt haben – mit
einer nicht vollständigen Mehrheit, bei der dann zum

Beispiel Großbritannien nicht dabei gewesen wäre. Ich
kann auch sagen: Ja, es war ein hartes Stück Arbeit,
diese Einigung aller 27 jetzt zu erzielen. Aber diese An-
strengung hat sich gelohnt.

Heute haben wir ein Ergebnis vor uns, das sich sehen
lassen kann. Wir haben eine Einigung im Kreis aller 27
gefunden, weil der Präsident des Europäischen Rates,
Herman Van Rompuy, die Verhandlungen sehr klug ge-
führt und die Kommission uns mit ihrem Entwurf auch
die richtigen Leitprinzipien vorgegeben hatte. Wir haben
eine Einigung im Kreis aller 27 gefunden, weil sich alle
27 Staats- und Regierungschefs auf eine Tugend beson-
nen haben, ohne die Europa nicht Europa wäre, nämlich
auf die Bereitschaft aller zum Kompromiss im Interesse
aller.

Ich glaube, das ist das Wesen der europäischen Eini-
gung schon seit Verabschiedung der Römischen Verträge
vor einem halben Jahrhundert. Das genau ist seither auch
die einzigartige Erfolgsgeschichte dieser europäischen
Idee.

Im November des vergangenen Jahres wurde ich noch
von vielen gefragt, warum wir bereits Anfang 2013 für
einen Haushalt, der erst 2014 in Kraft treten soll, eine
Einigung anstreben. Ich glaube, der Grund liegt auf der
Hand. Denn mit der Einigung können wir die Entwick-
lung für mehr Wettbewerbsfähigkeit verstärken. Wir ver-
stärken damit auch die Entwicklung für eine nachhaltige
Stabilisierung des Euro, und wir setzen damit ein klares
Signal, dass wir auch wieder zu mehr Wachstum und
mehr Beschäftigung kommen. Jeder versteht, dass das in
der augenblicklichen Zeit von überragender Bedeutung
ist.

Was ist das Wichtige? Das Wichtige ist, dass der Ab-
schluss der Finanzverhandlungen jetzt Planbarkeit und
Planungssicherheit schafft, und zwar für alle. Denn die
europäischen Mittel sind ja gerade für die Mitgliedstaa-
ten so dringend notwendig, die im Augenblick harte Ein-
sparungen vornehmen, die Strukturreformen durchfüh-
ren müssen, und sie sind für die Mitgliedstaaten so
wichtig, die Aufholprozesse zu leisten haben.

Meine Damen und Herren, die christlich-liberale
Bundesregierung hat in den Verhandlungen für den künf-
tigen Finanzrahmen auf ein Ergebnis hingearbeitet, das
den Realitäten von heute Rechnung trägt und den Anfor-
derungen von morgen gerecht wird. Ich möchte allen
danken, die daran mitgearbeitet haben. Das waren alle
Ressorts, aber ganz besonders natürlich das Auswärtige
Amt.

Wir hatten vier zentrale Verhandlungsziele, die uns
geleitet haben. Ich bin dankbar, dass diese vier Ziele
auch von so vielen Abgeordneten des Deutschen Bun-
destages geteilt wurden. Ich darf heute sagen, dass wir
alle vier Verhandlungsziele erreicht haben.

Erstens. Die Obergrenze des neuen Finanzrahmens
liegt mit rund 960 Milliarden Euro auf einer aus meiner
Sicht vernünftigen Begrenzung von 1 Prozent der EU-
Wirtschaftsleistung. Damit wird der EU-Finanzrahmen
der erste Rahmen sein, der keinen Aufwuchs gegenüber
der letzten Finanzperiode verzeichnet, wenn wir von in-





Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


(A) (C)



(D)(B)


flationsbereinigten Zahlen sprechen. Man muss wissen,
dass in der europäischen Realität die Haushalte jährlich
um 2 Prozent als eine angenommene mittlere Inflations-
rate erhöht werden. Aber inflationsbereinigt gibt es kei-
nen Aufwuchs.

Ich glaube, damit trägt der Haushalt den heutigen
Realitäten Rechnung; denn er bildet genau das ab, was
wir in den Mitgliedstaaten angesichts massiver Konsoli-
dierungszwänge leisten können. Schließlich befinden
sich von den 27 Staaten im Augenblick 20 Mitgliedstaa-
ten in einem Defizitverfahren.

Ich sage es ganz unmissverständlich: Es wäre nie-
mandem in Europa – weder in den von der Krise betrof-
fenen Staaten noch in den Staaten, die die Hauptlast der
Solidarität zu tragen haben – vermittelbar gewesen,
wenn alle in Europa sparen müssten, nur Europa selbst
nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Kein Bürger brächte dafür auch nur einen Funken Ver-
ständnis auf, und zwar zu Recht. Denn die Obergrenze
des Haushalts jetzt ist auch eine Frage der Gerechtigkeit.

Ich weiß, dass wir jetzt noch das Europäische Parla-
ment davon überzeugen müssen. Dazu machen wir dem
Europäischen Parlament zwei weitgehende Angebote.

Zum einen haben wir uns darauf verständigt, gemein-
sam mit dem Parlament nach neuen Wegen der Flexibili-
tät zwischen den Haushaltsjahren und zwischen den Ru-
briken zu suchen; denn natürlich muss die Europäische
Union ihre eingegangenen Zahlungsverpflichtungen
auch wirklich einhalten können. Ich mache keinen Hehl
daraus, dass mir und auch anderen dieser Schritt nicht
leichtgefallen ist; denn er bedeutet im Klartext, dass wir
genauso wie die anderen Mitgliedstaaten nicht mehr mit
Rückflüssen aus den nicht ausgegebenen EU-Mitteln
rechnen können, zumindest nicht mehr in dem Ausmaß,
wie das in den vergangenen Jahren immer der Fall war.
Aber ich halte diesen Schritt für richtig und für geboten.

Zum anderen haben wir eine Überprüfungsklausel
vereinbart, die während der Finanzperiode eine Anpas-
sung des Finanzrahmens erlauben könnte. Das halte ich
schon deshalb für richtig, weil wir im Augenblick in ei-
ner Zeit sehr großer Ungewissheiten sind und daher ein
siebenjähriger Haushalt eine lange Wegstrecke darstellt.
Deshalb können wir uns nach der Europawahl durchaus
eine solche Überprüfung vorstellen.

Die Kürzungen, die notwendig sind, werden mit Au-
genmaß vorgenommen. Dadurch werden Spielräume für
die Modernisierung und die Zukunftsausrichtung des Fi-
nanzrahmens geschaffen. Ich weiß, dass es noch harte
Diskussionen mit dem Europäischen Parlament geben
wird. Das liegt in der Natur der Sache. Ich will nur auf
eines hinweisen: Ohne Einigung des Europäischen Rates
gäbe es im Parlament überhaupt keine Entscheidungs-
grundlage. Insofern sind wir alle gemeinsam gut beraten,
auch hier nicht vorrangig das Trennende zu sehen, son-
dern uns auf das Verbindende zwischen Rat und Parla-
ment zu konzentrieren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Meine Damen und Herren, Deutschland hat auch sein
zweites zentrales Verhandlungsziel erreicht; denn der
neue Finanzrahmen ist stärker als der alte Finanzrahmen
auf Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung
ausgerichtet.


(Zuruf von der SPD: Wo denn?)


Gemeinsam haben wir erreicht, dass die Ausgaben für
die Wettbewerbsfähigkeit und die Forschung insgesamt
gegenüber der aktuellen Periode von heute 91,5 Milliar-
den Euro auf rund 125,6 Milliarden Euro, das heißt um
37,3 Prozent, ansteigen.

Gemeinsam haben wir erreicht, dass die Ausgaben für
das Forschungsprogramm „Horizont 2020“ und für das
wichtige Austausch- und Bildungsprogramm ERASMUS
für alle gegenüber dem Niveau von 2013 real zunehmen
werden, und zwar um mindestens 20 Prozent. Das sind
gute Nachrichten für die Studierenden, es sind gute
Nachrichten für den Forschungsstandort Europa und da-
mit auch gute Nachrichten für die Zukunft Europas,
meine Damen und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Gemeinsam haben wir erreicht, dass auch die soge-
nannte Connecting Europe Facility, also die für die
Transport- und Energienetze, in die investiert werden
muss, besser ausgestattet wird. Das sind Instrumente, die
genau dafür geschaffen wurden, neue Verbindungen im
Bereich der Energie und der Transporte herzustellen.
Hierfür gibt es 29,3 Milliarden Euro. Das ist ein Auf-
wuchs um mehr als 50 Prozent gegenüber der laufenden
Finanzperiode. Das ist eine absolut richtige, notwendige,
aber auch gute Investition in die Zukunft.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Für diese Schwerpunktsetzung waren Umschichtun-
gen im Finanzrahmen unumgänglich. Deshalb wird der
Anteil der Agrarpolitik am Gesamtfinanzrahmen weiter-
hin nur zurückhaltend, aber dennoch kontinuierlich ab-
nehmen. Es war uns dabei sehr wichtig, sowohl bei den
Direktzahlungen als auch in der ländlichen Entwicklung
Brüche zu vermeiden. Zudem wird die Ausgabenpolitik
im Agrarbereich modernisiert, umweltfreundlicher ge-
staltet und zwischen den Mitgliedstaaten ausgeglichen.
Das heißt, dass die mittel- und osteuropäischen Länder
jetzt stärker berücksichtigt werden, als das in der letzten
Finanzperiode der Fall war.

Insgesamt werden auch die Mittel für die Struktur-
fonds zurückgehen. Das ist der Sache nach konsequent,
da auch die Zahl der bedürftigen Regionen EU-weit er-
freulicherweise zurückgegangen ist. Wir haben schließ-
lich durch die Investitionen in der Vergangenheit vieles
erreicht.

Die neuen Bundesländer sind aufgrund ihrer erfolg-
reichen Entwicklung aus der Höchstförderung herausge-
fallen. Aber wir konnten erreichen, dass für sie ein Si-
cherheitsnetz von 64 Prozent geschaffen wird. Damit
steht weiterhin ein sehr guter Rahmen für Investitionen,
Arbeitsplätze, Forschung und Qualifikation bereit. Das
wird von den neuen Ländern genauso gesehen,


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


im Übrigen auch parteiübergreifend so gesehen.





Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


(A) (C)



(D)(B)


Zudem kommt allen Ländern zugute, dass nicht er-
stattungsfähige Mehrwertsteuerausgaben bei der Förde-
rung berücksichtigt werden. Dies war eine ganz wichtige
Forderung der Kommunen, weil damit mehr Investi-
tionsmittel zur Verfügung stehen.

Schließlich haben wir erreicht, dass darauf hingewie-
sen wird, dass es notwendig ist, insbesondere für die ost-
bayerischen Landkreise entlang der tschechischen Grenze
Beihilferegelungen anzustreben, die die Brüche zwischen
der Tschechischen Republik und Bayern nicht zu groß
werden lassen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


– Die Gegebenheiten sind unterschiedlich, und man
muss an alles denken.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


– Meine Damen und Herren, was ich jetzt sage, ist wich-
tig; deshalb bitte ich trotz der Freude über die Zukunft
der ostbayerischen Landkreise noch einmal um ein klein
wenig Konzentration.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Trotz genereller Kürzungen bei den Strukturfonds
werden wir mit Sonderzahlungen die Strukturförderung
auch in einzelnen Mitgliedstaaten unterstützen; das ist
ein ganz wichtiger Punkt. Wir haben die Strukturfonds
also nicht nur nach allgemeiner Aufschlüsselung verteilt,
sondern wir haben gesagt: Für diejenigen Länder, die be-
sonders von der Krise betroffen sind, brauchen wir zu-
sätzliche Strukturfondsmittel. Hiervon werden Spanien,
Griechenland, Italien und Portugal profitieren.

Die Programmländer – auch das ist ganz wichtig – er-
halten allesamt bessere Kofinanzierungsmöglichkeiten.
Das heißt, der Kofinanzierungsanteil wird geringer sein,
damit sie die europäischen Mittel auch wirklich in An-
spruch nehmen können. Ich denke, auch das ist ein ganz
wichtiger Schritt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Meine Damen und Herren, wichtig ist nun das dritte
Verhandlungsziel, das wir auch umgesetzt haben, näm-
lich die Ausgabenpolitik insgesamt effizienter zu gestal-
ten; denn gerade in Zeiten knapper Kassen kommt es da-
rauf an, jeden Euro gezielt auszugeben, sodass er einen
Mehrwert hat. Wenn wir kritisch auf die vergangenen Fi-
nanzperioden zurückblicken, dann müssen wir sagen:
Nicht in jedem Falle war das so. Deshalb hat Deutsch-
land zusammen mit anderen EU-Partnern die Initiative
„Better Spending“, also eine bessere Ausgabenqualität,
verankert. Ich danke dem Deutschen Bundestag, dass die
Mehrheit hier in diesem Hause sich ganz bewusst dafür
eingesetzt hat. Das konnten wir so auch durchsetzen.

Wir haben jetzt einen Zusammenhang hergestellt zwi-
schen dem Zugang zu Finanzmitteln aus europäischen
Fördermöglichkeiten und der Erfüllung der makroökono-
mischen Auflagen aus dem Stabilitätspakt. Das heißt, eu-
ropäische Mittel werden die Mitgliedstaaten in Zukunft

stärker dabei unterstützen, die notwendigen Reformaufla-
gen wirklich durchzuführen. Oder, um es andersherum zu
sagen: Wer die notwendigen makroökonomischen Re-
formauflagen aus dem neu geschaffenen Stabilitätspakt
nicht erfüllt, dessen Mittel können leichter ausgesetzt
werden. Damit gibt es einen Hebel, die notwendigen Re-
formen auch tatsächlich durchzuführen.

Wir werden bei der Strukturpolitik im Übrigen in Zu-
kunft den Sachverstand der Europäischen Investitions-
bank stärker nutzen – auch das ist wichtig –; denn diese
Bank hat eine erhebliche Expertise. Ich erinnere daran,
dass die Bedeutung der Europäischen Investitionsbank
auch durch unsere gemeinsame Verabredung zur Stär-
kung des Kapitals der Investitionsbank gestärkt wurde.
Deshalb ist diese Verbindung außerordentlich wichtig,
zumal die Kofinanzierung in vielen Ländern mit einer
schwierigen Finanzsituation zum Teil auch noch über die
EIB abgewickelt wird. Deshalb haben wir hier einen Zu-
sammenhang hergestellt.

Die europäischen Mitgliedstaaten werden jetzt alle
zwei Jahre politisch überprüfen, ob die Mittelverwen-
dung auch wirklich auf Ziele der EU-Wachstumsstrate-
gie ausgerichtet ist oder ob Korrekturen notwendig sind.
Es geht also nicht sieben Jahre einfach so weiter, wie
man es begonnen hat, sondern es gibt einen Check, ob
das Ganze auf dem richtigen Weg ist. Das heißt, wir kön-
nen genau auf diesem Wege erreichen, dass Mittel ge-
zielter für Wachstum, Beschäftigung und Wettbewerbs-
fähigkeit verwendet werden.

Das ist ja auch unverzichtbar, wenn wir uns einmal
die Probleme vor Augen führen, vor denen wir stehen.
Deshalb haben wir auch ein besonders drängendes Pro-
blem, nämlich die hohe Jugendarbeitslosigkeit in viel zu
vielen Ländern der Europäischen Union, angepackt und
in dem Wissen etwas getan, dass Jugendarbeitslosigkeit
den jungen Menschen eine gute Zukunft buchstäblich
versperrt. Wir dürfen uns damit niemals abfinden.

Deshalb haben wir zusätzlich zu dem, was wir schon
im vergangenen Jahr geleistet haben, gesagt: Wir bleiben
dabei nicht stehen, sondern wir werden unsere europäi-
schen Anstrengungen verstärken und haben einen neuen
Fonds in Höhe von 6 Milliarden Euro vereinbart, der den
Regionen zur Verfügung steht, in denen die Jugendar-
beitslosigkeit über 25 Prozent liegt. Das heißt, die Mittel
kommen unter anderem Spanien, Italien, Griechenland
und Portugal zugute. Sie haben in den letzten Tagen se-
hen können, dass Spanien daraus bereits ein Programm
gegen die Jugendarbeitslosigkeit konstruiert hat, und so
werden weitere folgen.

Jetzt wird es darauf ankommen, dass zusammen mit
der Kommission und den Arbeitsministern sehr schnell
festgelegt wird, wie dieses Geld ausgegeben werden
kann. Ich denke, wir Deutschen haben hier sehr gute Er-
fahrungen auch aus der Arbeit in den neuen Bundeslän-
dern. Das heißt, wir müssen schauen, dass wir Jugendar-
beitslosigkeitsprogramme auflegen, die mit einer hohen
Wahrscheinlichkeit auch wirklich in dauerhafte Arbeits-
plätze münden. Auch müssen wir sehen – die Vorausset-
zungen dafür sind geschaffen –, dass dieses Geld nicht in
sieben Jahresscheiben abfließt, sondern dass wir viel





Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


(A) (C)



(D)(B)


Geld am Anfang investieren, um die Jugendarbeitslosig-
keit schnell zu bekämpfen. Ich glaube, das ist eine sehr
gute Sache, und mit 6 Milliarden Euro kann man an die-
ser Stelle auch wirklich etwas bewegen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Gleichzeitig haben wir vereinbart, dass wir im Bereich
der sogenannten grenzüberschreitenden Mobilität – zu
Deutsch: wenn jemand aus einem anderen Mitgliedstaat
zum Beispiel in Deutschland oder in einem anderen Land,
das Arbeitskräfte sucht, eine Arbeit aufnehmen will oder
eine Ausbildung erhalten möchte – die notwendigen Vo-
raussetzungen dafür schaffen. Deutschland bietet, wo im-
mer es gewünscht wird – das ist jetzt in vielen europäi-
schen Ländern so –, Hilfestellungen bei der dualen
Berufsausbildung an; denn die duale Berufsausbildung
– das hat sich inzwischen in Europa herumgesprochen –
ist der Schlüssel für eine dauerhafte Beschäftigung junger
Leute. Hier werden wir alles, was in unserer Macht steht,
tun, um hilfreich zu sein, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir haben mit der Einigung von Brüssel ein viertes
zentrales Verhandlungsziel erreicht, nämlich dass die
Starken in die Pflicht genommen werden und gleichzei-
tig Fairness zwischen den verschiedenen Nettozahler-
staaten hergestellt wird. Aufgrund der wirtschaftlichen
Kraft Deutschlands wird Deutschland auch weiterhin der
größte Nettozahler bleiben. Unsere Nettolast wird in Zu-
kunft, relativ gesehen, sogar höher sein als in der Ver-
gangenheit. Dabei ist es uns jedoch gelungen, eine faire
Lastenverteilung zwischen den Nettozahlern zu errei-
chen.

Den Gedanken, dass wir die Starken in die Pflicht
nehmen und Fairness herstellen, lebt Deutschland ja
nicht erst seit der Krise; aber in der Krise wird die Be-
deutung dieses Gedankens noch einmal ganz offensicht-
lich. Dieser Gedanke leitet uns, wenn wir mit unserer
ganzen Kraft als größte und stärkste Volkswirtschaft Eu-
ropas für die Bewältigung der Krise im Euro-Raum
kämpfen. Wir wollen, dass diese Krise nicht einfach von
Europa nur überstanden wird, sondern wir wollen, dass
Europa stärker aus dieser Krise herauskommt, als es in
diese Krise hineingekommen ist. Da wir das in Deutsch-
land geschafft haben, sind wir fest davon überzeugt, dass
wir genau das auch in Europa schaffen können, meine
Damen und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir tun das in dem Bewusstsein, dass Deutschland
eine besondere Verantwortung für eine gute Zukunft der
Europäischen Union hat. Wir tun dies, weil wir wissen,
dass unsere gute Zukunft mit der Zukunft der Europäi-
schen Union insgesamt eng verknüpft ist, und wir tun
dies in der Überzeugung, dass Europa nur so in der glo-
balen Welt auch in Zukunft seine Werte und seine Inte-
ressen behaupten kann.

Meine Damen und Herren, es war deshalb auch un-
verzichtbar, dass wir auf dem Europäischen Rat nicht
nur über die mittelfristige finanzielle Vorausschau ge-
sprochen haben, sondern auch über die Handelspolitik

der Europäischen Union. Dabei ist unser mit Abstand
wichtigstes Zukunftsprojekt ein Freihandelsabkommen
mit den USA. Die Verhandlungen dazu sollen im ersten
Halbjahr dieses Jahres aufgenommen werden, und die
Bundesregierung wird diesen Prozess nachhaltig unter-
stützen.

Das Ganze knüpft an an viele Initiativen, die immer
wieder unternommen wurden, aber ganz besonders an
eine aus unserer Präsidentschaft im Jahre 2007, als mit
dem Transatlantischen Wirtschaftsrat bereits ein ganz
wichtiger Schritt zur Vertiefung der Handelsbeziehungen
zwischen den USA und Europa gemacht wurde.

Ich bin zutiefst davon überzeugt: Ein gemeinsamer
transatlantischer Markt liegt im europäischen, aber auch
ganz besonders im deutschen Interesse,


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


und zwar nicht nur, weil wir damit Handelshemmnisse
und Zölle abbauen können – das ist notwendig insbeson-
dere angesichts der Tatsache, dass die multilateralen
Verhandlungen im Rahmen der WTO nicht so vorange-
hen, wie wir es uns gewünscht hätten –, sondern auch,
weil wir dabei gemeinsame Standards entwickeln kön-
nen. Wir alle wissen: Gerade bei den Zukunftstechnolo-
gien wird es entscheidend für den wirtschaftlichen Er-
folg sein, ob wir die maßgebenden Normen und
Standards wirklich setzen können – wir: die Europäische
Union zusammen mit den Vereinigten Staaten von Ame-
rika –; denn wenn wir das nicht tun, dann werden es an-
dere auf der Welt tun, und zwar zu ihren Arbeits- und
Produktionsbedingungen, die zum Teil weit entfernt von
unseren Wertvorstellungen sind. Deshalb ist das ein ganz
wichtiges Projekt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Es ist also nicht nur einfach ein Abkommen, sondern
es ist ein wirkliches Wachstumsprojekt. Jeder, der sich
mit diesen Dingen beschäftigt, weiß, dass auf beiden
Seiten die Wachstumsraten steigen könnten. Es erspart
dazu noch viel Doppelarbeit, viel Zeit und viel Geld.

Meine Damen und Herren, wir können heute ein posi-
tives Fazit ziehen: Deutschland hat seine vier zentralen
Verhandlungsziele erreicht. Die Beschlüsse der EU-
Staats- und Regierungschefs für einen neuen EU-Finanz-
rahmen sind weitreichend. Sie werden die Europäische
Union auf ihrem Weg zu mehr Wachstum, Beschäfti-
gung und Wettbewerbsfähigkeit stärken. Sie werden die
Verteilung der Finanzmittel hin zu mehr Wachstum,
mehr Wettbewerbsfähigkeit und mehr Beschäftigung
ausrichten. Und sie sind im Interesse aller 27 Mitglied-
staaten der Europäischen Union. Vor allem: Sie werden
den Menschen in Europa dienen.

So sind sie eine hervorragende Grundlage für die nun
folgenden Verhandlungen mit dem Europäischen Parla-
ment. Uns alle – Europäischen Rat wie Europäisches
Parlament wie Deutschen Bundestag – eint dabei das ge-
meinsame Ziel, ein starkes und wettbewerbsfähiges Eu-
ropa zu gestalten und vor allen Dingen ein Europa zu ge-





Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


(A) (C)



(D)(B)


stalten zum Wohle der 500 Millionen Europäerinnen und
Europäer. Das ist jede Mühe und jede Anstrengung wert.

Ich danke Ihnen.


(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1722200400

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem

Kollegen Peer Steinbrück für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Peer Steinbrück (SPD):
Rede ID: ID1722200500

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Europa ist leider
nach wie vor in keiner guten Verfassung. Die Lissabon-
Strategie für das erste Jahrzehnt, Frau Bundeskanzlerin,
Europa zu der wettbewerbsfähigsten und wissensbasier-
testen Region global zu machen, ist gescheitert. Oder
vorsichtiger ausgedrückt: Sie hat nicht die Ergebnisse
gebracht, die wir uns versprochen haben. Warum ist sie
weitestgehend gescheitert? Weil Europa und die europäi-
schen Mitgliedstaaten nicht in der Lage gewesen sind,
die finanziellen Ressourcen bereitzustellen, die notwen-
dig gewesen wären, um Europa zur wettbewerbsfähigs-
ten und wissensbasiertesten Region der Welt zu machen.
Ich sage Ihnen voraus: Mit diesem mittelfristigen Fi-
nanzrahmen für 2014 bis 2020 wird auch für das zweite
Jahrzehnt diese Strategie, die sich jetzt „Europa 2020“
nennt, scheitern, weil die Finanzmittel der Höhe nach
und der Struktur nach nicht mit diesen Zielen korrespon-
dieren, die für Europa von erheblicher Bedeutung sind.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Europas Wirtschaft dümpelt weiter am Tiefpunkt.
2012 ist die europäische Wirtschaft geschrumpft. Die
Arbeitslosigkeit ist gestiegen. Wir alle kennen die alar-
mierenden und skandalös hohen Arbeitslosenraten für
Jugendliche. In sieben Ländern liegt die Jugendarbeits-
losigkeit bei über 25 Prozent. In vier Ländern liegt die
Jugendarbeitslosigkeit bei über 30 Prozent. In zwei Län-
dern liegt sie bei – sage und schreibe – über 50 Prozent.
Das heißt, in diesen Ländern findet mehr als die Hälfte
der jungen Frauen und Männer keine Arbeit mehr. Was
denken sie über Demokratie? Was denken sie über Eu-
ropa? Was denken sie über uns Politiker, die dafür eine
Mitverantwortung tragen?

Die Krise, die im Finanz- und Bankensektor ihren
Ausgang nahm, hat den Bürgerinnen und Bürgern in Eu-
ropa sehr viele Opfer abverlangt. Manchmal habe ich
den Eindruck, dass wir Deutsche es nicht richtig zu wür-
digen wissen, mit welchen Verelendungserscheinungen
dies in einigen europäischen Nachbarstaaten teilweise
bereits verbunden ist.

Reformen und Konsolidierung der Staatshaushalte
sind notwendig, doch sie laufen ins Leere, wenn aus
Sparen ein Kaputtsparen wird, wenn neben der notwen-
digen Konsolidierung keine Wachstumsperspektiven für
diese Länder entstehen, wenn aus einer Rezession eine

Depression, eine Verelendung in Teilen der europäischen
Nachbarstaaten wird. Ich habe solche Verelendungser-
scheinungen bei meinem jüngsten Besuch in Athen sel-
ber erlebt. Gerade die jungen Menschen sagen dort: Wir
haben keine Perspektive mehr. – Es ist bedrückend, mit
anzusehen, dass sie dieses wunderbare Zivilisationsmo-
dell Europa nicht mehr als etwas wahrnehmen, das ihnen
Zukunft verspricht und das es zu behaupten gilt.

Die ökonomische Krise, Frau Bundeskanzlerin, stei-
gert sich in manchen Staaten zu einer Gefahr für die Sta-
bilität der politischen und gesellschaftlichen Ordnung.
Wir reden nicht mehr allein über eine ökonomische
Krise, sondern wir reden über die Stabilität dieser unmit-
telbaren Nachbarstaaten in Europa.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Staats- und Regierungschefs müssen diesem Spar-
diktat endlich ein Wachstumsprojekt folgen lassen. Es ist
Zeit für mehr Investitionen in Infrastruktur, in eine in-
dustrielle Erneuerung, in Bildung, Forschung und Ent-
wicklung, in die wesentlichen Größen und wichtigen
Ansatzpunkte, um Europa wieder nach vorne zu bringen:
mit einer größeren Wettbewerbsfähigkeit, mit einer wei-
ter ausgebauten Industrie, mit vielen Arbeitsplätzen und
vor allen Dingen mit konkreten Berufsperspektiven für
die jungen Leute. Davon wird viel geredet; ich kann
mich erinnern, dass davon auch schon beim Europäischen
Rat Ende Juni 2012 geredet worden ist. Passiert und
konkret angekommen ist in diesem halben Jahr rein gar
nichts, insbesondere nicht bei den arbeitslosen Jugend-
lichen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Präsident Obama hat in seiner Rede zur Lage der Na-
tion letzte Woche gesagt – ich zitiere ihn –: „Defizitab-
bau allein ist kein Wirtschaftsplan“. Das ging, wie ich
glaube, nicht nur an die Adresse der Republikaner im
Repräsentantenhaus und im Senat, sondern bezog sich
auch auf die Europapolitik, also auf die Europapolitik
dieser Bundesregierung, die die treibende Kraft bei ei-
nem Sparkurs in Europa ist, der andere Länder zuneh-
mend in eine Depression und Verelendung hineinzieht.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Sie stimmen doch immer zu!)


Der neue Finanzrahmen 2014 bis 2020 zeigt, dass die
Chefs der Regierungen und der Staaten, die beim Euro-
päischen Rat aufgetreten sind, wenig gelernt haben. An-
statt das Angebot des Präsidenten des Europäischen Par-
lamentes, Herrn Martin Schulz, anzunehmen, „sich zu
unserer gemeinsamen Zukunft zu bekennen“, anstatt in
die Zukunft Europas zu investieren, und zwar auch über
nationale Egoismen hinaus, ging es den europäischen
Staats- und Regierungschefs am 7. und 8. Februar im
Wesentlichen darum, verletzungsfrei zu ihrem heimi-
schen Publikum zurückzukehren. Im Ergebnis entstand
ein Vorschlag für einen europäischen Finanzrahmen, der
im Europäischen Parlament sogar die Parlamentarier aus





Peer Steinbrück


(A) (C)



(D)(B)


Ihren eigenen Reihen zur Ablehnung veranlassen
könnte. Perspektivlos haben Sie sich in einer unheiligen
Kürzungsallianz ausgerechnet mit dem Regierungschef
verbunden, nämlich mit dem britischen Regierungschef
David Cameron, der gegebenenfalls sogar aus der Euro-
päischen Union austreten will. Das ist eine ganz merk-
würdige Allianz, um die Zukunft Europas in diesem
Jahrzehnt zu sichern.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Sehr wahr!)


Frau Merkel, wer in Zukunft mehr Europa will, der
braucht Partner, die ihre Zukunft auch in Europa sehen;
dann schlägt man sich nicht auf die Seite des Regie-
rungschefs, der möglicherweise dieses Europa verlassen
will.

Mit Blick in die Zukunft geht es bei diesem Finanz-
rahmen gar nicht nur um die Höhe der Mittel, sondern
vor allen Dingen auch um die Struktur. Nach wie vor
fließen ungefähr 38 Prozent der Haushaltsmittel in den
Agrarsektor, ein Großteil davon zu großen Agrarunter-
nehmen und Lebensmittelkonzernen. Aber nur ein klei-
nerer Teil geht in die wichtigen Felder, die für Wachstum
und Beschäftigung sorgen. Ausgaben für Wachstum und
Beschäftigung werden in der Tat um 23,5 Prozent ge-
kürzt, nicht gegenüber dem früheren Finanzrahmen, aber
gegenüber dem Kommissionsvorschlag.

Sie haben auf das Programm „Connecting Europe Fa-
cility“, also auf die Verbesserung der Verbindungen über
Transport- und Energienetze, hingewiesen und sagten, es
handele sich hier um eine Steigerung der Mittel um
50 Prozent. Die Zahl ist für sich genommen richtig; aber
dieses Programm gab es vorher gar nicht. Gemessen an
dem Vorschlag der Kommission liegt dem eine Kürzung
und kein Aufwuchs zugrunde.

Nun schien es, dass es ein gutes Ergebnis gibt – das
Sie ja auch zitiert haben –, nämlich dass 6 Milliarden
Euro zusätzlich dafür aufgewendet werden, die Jugend-
arbeitslosigkeit in den Mitgliedstaaten zu verringern,
jungen Menschen die Möglichkeit zu geben, einen Job
zu finden. Wenn man allerdings genauer hinschaut, dann
stellt man fest, dass das ein makabrer Etikettenschwindel
ist;


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


denn von den 6 Milliarden Euro für die Bekämpfung der
Jugendarbeitslosigkeit kommen 3 Milliarden aus den
Einsparungen in den Sozialfonds. Das ist das Prinzip
„linke Tasche, rechte Tasche“, will sagen, ein neues Pro-
gramm mit altem Geld, das Sie hier gerade wider alle
Tatsachen als großen Erfolg verkauft haben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die 3 Milliarden, mit denen die 6 Milliarden aufge-
füllt wurden, fehlen bei der Verbesserung der europäi-
schen Infrastruktur, zum Beispiel beim Aufbau eines flä-
chendeckenden Internetzuganges, den gerade junge
Menschen brauchen, um an Information, an Ideen und

letztlich an Arbeit zu kommen. Das ist das, was Sie hier
gerade als großen Erfolg gefeiert haben.

Die Staats- und Regierungschefs in Europa tricksen.
Sie tricksen mit dem Unterschied zwischen Zahlungs-
und Verpflichtungsermächtigungen, das heißt, sie stellen
mit diesem Finanzrahmen zu wenig Geld zur Verfügung,
um die eingegangenen Verpflichtungen wirklich zu er-
füllen. Das wird der entscheidende Punkt sein, warum
Sie mit diesem mittelfristigen Finanzrahmen auf erheb-
liche Widerstände im Europäischen Parlament und, wie
ich ziemlich sicher zu glauben weiß, auch in Ihren eige-
nen Reihen treffen werden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Viele Länder sind in der Tat aufgefordert, Strukturre-
formen, ihre Governance und ihre Wettbewerbsfähig-
keit zu verbessern. Was mir in Ihren europapolitischen
Beiträgen fehlt, ist der Hinweis auf die Strukturprobleme
im europäischen Raum, die wir als Bundesrepublik
Deutschland mit zu verantworten haben: Das sind die
massiven Exportüberschüsse der Deutschen, die sich in
entsprechenden Leistungsbilanzüberschüssen bei uns
und in den entsprechenden Leistungsbilanzdefiziten in
den anderen Ländern widerspiegeln.

Deutschland hat inzwischen einen Leistungsbilanz-
überschuss von 5 Prozent seiner jährlichen Wirtschafts-
leistung. Seit der Wiedervereinigung hat Deutschland
Güter und Dienstleistungen im Wert von über 1,5 Billio-
nen Euro mehr verkauft als eingekauft. Dies spiegelt
sich zunehmend in erheblichen Ungleichgewichten in
den Austauschbeziehungen zwischen den Mitgliedstaa-
ten, die zur Europäischen Wirtschafts- und Währungs-
union gehören, wider.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Das sagen Sie schon fünf Jahre!)


Das geht in einer Währungsunion aber nicht. Auf Dauer
ist dies in einer Währungsunion unmöglich, wenn kein
Ausgleich über entsprechende Wechselkursanpassungen
stattfinden kann. Das heißt, wir müssen uns politisch mit
der naheliegenden Frage beschäftigen – hier hätte ich
gerne mehr Auskunft von Ihnen –, wie wir in Deutsch-
land die Kaufkraft verbessern, damit es zu einem besseren
Ausgleich dieser Ungleichgewichte in den Austausch-
beziehungen kommt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das heißt auch, dass wir in Deutschland eine Politik zur
Stärkung der Binnennachfrage, eine Politik zur Stärkung
der Kaufkraft brauchen.

Nun kommen wir sehr konkret zu einigen Themen,
die uns beschäftigen werden, nicht nur mit Blick auf den
22. September: Wir brauchen faire Lohnabschlüsse,


(Zuruf von der LINKEN)


die die Inflation kompensieren und den Produktivitäts-
fortschritt in der Einkommensentwicklung der abhängig
Beschäftigten widerspiegeln. Wir brauchen eine Wirt-
schaftspolitik, die die privaten und öffentlichen Investi-





Peer Steinbrück


(A) (C)



(D)(B)


tionsquoten steigert. Wir brauchen eine Energiewende,
aber keine, die, wie im Augenblick, das größte Investi-
tionsverhinderungsprogramm ist, das diese Republik je
gesehen hat.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir brauchen echte Mindestlöhne. Wir brauchen eine
Eindämmung der atypischen Beschäftigung. Wir brau-
chen eine Stärkung der Kaufkraft, indem die Menschen
bei Vollzeit so anständig und so gut bezahlt werden, dass
sie ihr Leben eigenständig und in Würde führen können.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: 10 Euro!)


Wenn wir über den mittelfristigen Finanzrahmen re-
den, über die Notwendigkeit einer weiteren Strukturför-
derung und von weiteren Wachstumsimpulsen, dann
wissen wir ziemlich genau, woher das Geld dafür kom-
men könnte, um in Infrastruktur, um in eine Reindustria-
lisierung in manchen Ländern zu investieren. Nach jah-
relangem Druck, insbesondere von unserer Seite, haben
wir am 21. Juni hier im Deutschen Bundestag die Ein-
führung einer Finanzmarkttransaktionsteuer beschlossen.
Und jetzt? Die Europäische Kommission hat im Rahmen
der verstärkten Zusammenarbeit mit der Europäischen
Union solide, sehr konkrete Vorschläge gemacht, und
prompt beginnt die FDP ein Rückzugsmanöver mit Blick
auf die Einführung der Finanzmarkttransaktionsteuer.


(Zurufe von der SPD: Pfui!)


Dabei brauchen wir diese Steuer dringend. Sie liefert
Einnahmen für neues Wachstum in Europa, und sie
nimmt dieses Geld von dort, wo diese Krise entstanden
ist, nämlich vom Banken- und Finanzsektor, der uns
maßgeblich in diese Krise hineingestoßen hat.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die EU-Kommission berechnet ein Aufkommen von
30 bis 35 Milliarden Euro. Im Vergleich zu den 1,6 Bil-
lionen Euro, die die europäischen Regierungen, die euro-
päischen Staaten allein zwischen 2008 und 2010 für die
Stabilisierung der Banken und für Wachstumsimpulse
zur Verhinderung eines Absturzes der Konjunktur und
des Wachstums eingezahlt haben, ist das wahrlich ein
nicht zu hoch gegriffener Betrag. 30 bis 35 Milliarden
Euro sind umgekehrt aber auch das Fünf- bis Sechsfache
dessen, was im Augenblick zur Bekämpfung der Jugend-
arbeitslosigkeit vorgesehen ist. Diese Steuer ist nicht nur
gerecht, sie ermöglicht auch einen entscheidenden
Wachstumsimpuls für Europa, und deshalb brauchen wir
sie so schnell wie möglich.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich erwarte von Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, dass
Sie Wort halten.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wäre ja neu, Herr Steinbrück!)


Der seinerzeitige Beschluss im Deutschen Bundestag
war wichtig, um die Unterstützung zu weiter reichenden
Maßnahmen zu gewinnen, auch vonseiten der Opposi-
tion – Stichwort „Fiskalpakt“. Das heißt, wenn es jetzt
ein Abrücken gäbe von dem ehrgeizigen Bemühen, eine
Finanzmarkttransaktionsteuer einzuführen, hätten Sie
die Vertrauensbasis, gegebenenfalls auch für weitere
Entwicklungen mit Blick auf Europa, bei denen Sie die
Opposition an Ihrer Seite wünschen, verspielt. Unser
Gedächtnis ist nicht so schlecht ausgestattet, als dass
dies plötzlich aus unserer Wahrnehmung verschwinden
würde.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich sage voraus, Frau Bundeskanzlerin, dass meine Frak-
tion das bloße Ankündigen, das Lavieren, das Aufwei-
chen und das Umdrehen dessen, was wir mit dieser Fi-
nanzmarkttransaktionsteuer verbinden, nicht durchgehen
lässt.


(Beifall bei der SPD)


Genauso ist es bei einem anderen Stichwort – einem
Trennbankensystem. Ich kann mich erinnern, dass ich
für meine Fraktion, für meine Partei Mitte September ein
Papier zur weiter gehenden Finanzmarktregulierung und
Finanzmarktaufsicht vorgestellt habe.


(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Das war damals schon ein alter Hut!)


Ich kann mich auch erinnern, wie das Echo aus Ihren
Reihen darauf war, insbesondere zu dem Vorschlag, ein
Trennbankensystem in Deutschland einzuführen. Ver-
ehrter Herr Schäuble, Sie hatten nun mehrere Monate
Zeit und ein ganzes Ministerium zur Verfügung – ich
hatte damals einen einzigen Mitarbeiter –,


(Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)


um etwas Vernünftiges vorzulegen. – Ja, das ist der Un-
terschied zwischen den Ressourcen, die die Regierung
hat, und den Ressourcen, die die Opposition hat. – Wo-
rauf ich hinaus will, ist Folgendes: Herr Schäuble hatte
sechs Monate Zeit, um zum Thema Trennbankensysteme
etwas Vernünftiges auf den Weg zu bringen. Herausge-
kommen ist eine Lösung „Trennbanken light“, die von
Ausnahmen und Auslassungen nur so wimmelt. Von ei-
nigen wenigen Banken werden einige wenige Geschäfte
ein wenig abgetrennt, so, dass wir niemandem richtig
wehtun, nach dem Motto: Der Berg kreißte und gebar
eine Maus. Das ist das, was Sie mit Ihrem Vorschlag zu
Trennbanken jetzt auf den Weg gebracht haben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie haben die Druckmaschinen angeworfen und das
als riesigen Erfolg verkauft. Sie haben hübsche Etiketten
auf leere Flaschen geklebt. Aber was bleibt übrig? Ein
Etikettenschwindel. Aus Ihren eigenen Reihen ertönt be-
reits vorauseilender Widerstand, zum Beispiel von Herr
Flosbach – „Holzhammervorschläge“ – oder von Herrn
Wissing – „Scheinlösung“. Wir werden sehen, welche





Peer Steinbrück


(A) (C)



(D)(B)


Halbwertszeit dieser Vorschlag für ein Trennbankensys-
tem in Ihren Reihen hat.

Das nächste Stichwort ist die Bankenunion. Beenden
Sie bitte Ihren Schleiertanz mit Blick auf die Fragestel-
lung, wie eine Bankenunion in Europa aussehen soll. Wo
wollen Sie hin? Wir haben in einem gemeinsamen Pa-
pier im Sommer 2012 mit Ihnen beschlossen:

Ein wesentliches Element der Wachstums- und
Konsolidierungsstrategie ist die angemessene Be-
teiligung des Finanzsektors.

Ja. Wir debattieren in diesem Haus seit zwei Jahren über
die Notwendigkeit, ein europäisches Abwicklungsre-
gime einzuführen. Dabei geht es um eine europäische
Abwicklungsbehörde und einen europäischen Restruktu-
rierungsfonds, der nicht von den Steuerzahlern, sondern
von den Banken selbst finanziert wird, weil sie diejeni-
gen sind, die zur Finanzierung der Folgekosten herange-
zogen werden müssen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich glaube, dass es zwingend erforderlich ist, den
ESM vornehmlich auf die Rekapitalisierung von Staaten
zu konzentrieren, die es nötig haben. Das ist sinnvoller,
als aus dem ESM eine Direktkapitalisierung von Banken
vorzunehmen. Wenn das Ihre Meinung ist – mein Ein-
druck ist, dass das in Ihren Reihen ähnlich debattiert
wird –, dann sollten Sie auf europäischer Ebene und uns
auf nationaler Ebene zu Gesprächen über die Konstruk-
tion eines solchen Restrukturierungsfonds, der von Ban-
ken finanziert wird, einladen.

Sie, Frau Bundeskanzlerin, sind eine Last-Minute-
Kanzlerin.


(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie haben eine Neigung zum Nicht-Handeln, Noch-
nicht-Handeln, Später-Handeln. Das merkt man Ihnen
sehr genau an. So haben Sie laviert bei der Regulierung
der Finanzmärkte. So haben Sie laviert mit Blick auf den
jetzigen Vorstoß zum Trennbankensystem. So lavieren
Sie im Augenblick mit Blick auf den Mindestlohn, den
Sie nur unter einem anderen Begriff laufen lassen.


(Zuruf von der LINKEN)


Es gibt mehrere Punkte, bei denen man den Eindruck
hat, dass Sie eher die Präsidentin eines Kabinetts sind.

Sie sind jedoch die Regierungschefin, die sich in die
Niederungen dieser Politik begeben muss.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das gilt bei der Lebensleistungsrente, die ein Zynismus
ist. Das gilt bei Mietrechtsänderungen, die eine Schwä-
chung der Mieterrechte bedeuten. Das gilt bei einem Ar-
beitnehmerdatenschutzgesetz, das in Wirklichkeit ein
Striptease des Arbeitnehmerdatenschutzes ist und bei
dem Sie anschließend dem DGB sagen, Sie seien sensi-
bilisiert. Das gilt bei der Scheinlösung einer Lohnunter-
grenze. Das gilt bei der Energiewende, die in Deutsch-
land nicht klappt.


(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Elf Jahre SPDRegierung!)


Das gilt beim Betreuungsgeld. Das gilt bei der Finanz-
markttransaktionsteuer. Das gilt auch bei der Frage nach
einem zukunftsweisenden Budget für die Europäische
Union.

Da Sie sich bei all diesen Themen sehr unbestimmt
verhalten, da Sie gern lavieren oder in Deckung bleiben,
bleibt nur eine einzige Möglichkeit, nämlich dass andere
diese Regierungsverantwortung übernehmen. Dazu ist
die SPD mit mir bereit.

Vielen Dank.


(Anhaltender Beifall bei der SPD – Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zurufe von der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1722200600

Rainer Brüderle ist der nächste Redner für die FDP-

Fraktion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Michael Roth [Heringen] [SPD]: Tärä! Tärä! – Weitere Zurufe von der SPD)



Rainer Brüderle (FDP):
Rede ID: ID1722200700

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die

Staats- und Regierungschefs haben zum ersten Mal in
der Geschichte der EU einen Budgetrahmen beschlos-
sen, der kleiner wird. Bislang ist der EU-Haushalt immer
gewachsen. Jetzt haben die Staats- und Regierungschefs
auf die Ausgabenbremse gedrückt. Das ist gut so. Das ist
richtig so. Das unterstützen wir.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


In Zeiten, in denen fast alle nationalen Parlamente
und Regierungen den Gürtel enger schnallen, wäre ein
Draufsatteln nicht vermittelbar.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo sind die Untertitel wie bei der heuteshow?)


Das wäre ökonomisch falsch. Das wäre politisch falsch.

Übrigens übernimmt Deutschland sogar etwas mehr
Finanzverantwortung. In schweren Zeiten zeigt Deutsch-
land besondere Solidarität. Dafür hätte, Herr Steinbrück,
die Opposition Respekt zollen können, aber Sie mäkeln
nur herum.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir mäkeln!)


Der Kanzlerkandidat der SPD weiß alles besser. Sie ma-
chen Wünsch Dir was. Mit Realpolitik hat das nichts zu
tun.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Natürlich hätte man sich weitere Agrarreformen wie
angesprochen wünschen können. Aber ich frage Sie,
Herr Kollege Steinbrück: Wo war Ihre öffentliche Auf-
forderung an den sozialistischen Präsidenten Frank-





Rainer Brüderle


(A) (C)



(D)(B)


reichs, bei der Agrarbeihilfe nachzugeben? Nichts hat
man von Ihnen gehört. Nichts, kein Wort!


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zuruf des Abg. Peer Steinbrück [SPD])


Es bedarf hoher Staatskunst, damit Briten und Fran-
zosen gleichermaßen zufrieden nach dem Gipfel nach
Hause gehen.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und Europa bleibt auf der Strecke!)


Es bedarf hoher Staatskunst, damit die aufstrebenden
Nationen Osteuropas und die gebeutelten Nationen aus
dem Süden ein solches Budget mittragen. Es bedarf ho-
her Staatskunst, damit die Nettozahlernationen aus dem
Norden bei der Stange bleiben.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Die Jugendarbeitslosigkeit hat sich erhöht!)


Ich bin froh, dass unsere Bundeskanzlerin Angela
Merkel dort verhandelt hat – und nicht Peer Steinbrück,
der gelegentlich als „diplomatische Neutronenbombe“
bezeichnet wurde.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Heiterkeit des Abg. Peer Steinbrück [SPD] – Zuruf der Abg. Heike Hänsel [DIE LINKE])


Aber es ist nicht nur Ihr Mangel an Diplomatie; Sie ti-
cken auch volkswirtschaftlich falsch. Besser gesagt:
Herr Gabriel hat Sie umprogrammiert. Sie werden jetzt
vom Willy-Brandt-Haus an kurzer Leine geführt.


(Widerspruch bei der SPD)


Sie gehen vor dem sozialistischen Modell von François
Hollande in die Knie. In Frankreich kann man die fatalen
Auswirkungen einer sozialistischen Staatswirtschaft be-
sichtigen: mehr Arbeitslose, höhere Steuern, mehr Schul-
den, Herabstufung der Kreditwürdigkeit und schrump-
fende Wettbewerbsfähigkeit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Das ist CSUNiveau der 70er-Jahre!)


Doch alle fatalen Signale reichen für ein Umsteuern
offensichtlich nicht aus. Immer wieder versucht Frank-
reich, nach unrealistischen außenwirtschaftlichen Venti-
len zu suchen. Zuerst waren es die deutschen Export-
überschüsse; dies wurde auch von Ihnen aufgegriffen.

Herr Steinbrück, erklären Sie doch einmal den Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmern von Volkswagen, dass
sie weniger Autos herstellen sollen.


(Peer Steinbrück [SPD]: Das habe ich nicht gesagt!)


Sagen Sie den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern
der BASF, dass sie weniger herstellen sollen. Sagen Sie
den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern im Maschi-
nenbau, dass sie weniger herstellen sollen. Erklären Sie
einmal Ihren Gewerkschaften, IG Metall, IG BCE, dass
weniger produziert werden soll. Das ist doch irreal, was
Sie erzählen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Höhere Löhne! Erklären Sie, warum sie niedrigere Löhne bekommen sollen! – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Sie haben gar keine Ahnung!)


Sie wollen die Binnennachfrage mit Steuererhöhungen
ankurbeln, aber so können Sie die Binnennachfrage
nicht ankurbeln. Das ist diametral falsch.


(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Aber mit hohen Löhnen!)


Nun zur Finanzmarkttransaktionsteuer. Sie wissen,
wir haben uns geeinigt, weil wir uns einigen mussten,
um die Verfassung zu ändern. Sonst hätte es in Deutsch-
land und Europa keinen Fiskalpakt gegeben. Wir haben
uns aber auch darauf geeinigt, dass diese Transaktion-
steuer nicht zulasten der Kleinsparer, nicht zulasten der
Riester-Sparer, nicht zulasten des Mittelstands und nicht
zulasten des Finanzplatzes Deutschland gehen soll. Dem
haben auch Sie zugestimmt. Da müssen Sie liefern. Es
geht nicht nur darum, Steuern zu erhöhen, sondern auch
darum, die korrekte Umsetzung wie vereinbart auf den
Weg zu bringen. Wer A sagt, muss auch B sagen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Genau!)


Es wäre ein Fehler, dort anzusetzen. Sie wissen ge-
nau: Die Hälfte unserer Exportumsätze machen wir
durch Aufträge unserer europäischen Partner;


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: 60 Prozent!)


an diese liefern wir. Wenn Deutschland weniger erfolg-
reich wäre, hätte ganz Europa weniger Wirtschaftsmög-
lichkeiten. Das hängt zusammen.


(Zuruf des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE LINKE])


Die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands zu mindern,
wäre verkehrt. Die Wettbewerbsfähigkeit der anderen in
Europa zu steigern, das ist der richtige Weg. Diesen
müssen wir gehen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Jetzt setzt der französische Präsident offenbar auf eine
Abwertung des Euro. Dadurch würden übrigens die Ex-
portüberschüsse Deutschlands steigen und nicht abneh-
men; so viel zu den ökonomischen Zusammenhängen.
Die Politik des schwachen Euro wäre genau der falsche
Weg. Wir wollen einen starken Euro. Ein schwacher Au-
ßenwert erhöht die Gefahr der importierten Inflation.
Das kann niemand wollen. Medien sind schnell bei Be-
grifflichkeiten wie Währungskrieg. Das ist sicher über-
trieben, zumal protektionistische Tendenzen in der
Breite nicht erkennbar sind. Im Gegenteil: Die Signale
des amerikanischen Präsidenten, was die transatlantische
Freihandelszone betrifft, sind ermutigend. Auch die Er-
klärungen der Finanzminister vom G-20-Gipfel weisen
nicht in Richtung Abwertungswettlauf. Sie haben einer
Beggar-my-Neighbour-Policy eine klare Absage erteilt.
Aber wir müssen und sollten die Politik des billigen Gel-
des aufmerksam verfolgen.





Rainer Brüderle


(A) (C)



(D)(B)


Alle großen Zentralbanken haben ihre Geldbasis ex-
trem erhöht. Das ist der fatale Nährboden für eine Asset-
Price-Inflation, für neue Blasen an Aktien- und Immobi-
lienmärkten. Die amerikanische Fed hat es offenbar er-
kannt und jetzt verkündet, dass sie die Luft herauslassen
und schneller aus dem Ankauf von Staatsanleihen he-
rausgehen will als bisher erwartet. Ich hoffe, dass die
Börsen das Signal erkennen.

Aber natürlich ist in Japan und Amerika die Versu-
chung immer noch groß, ihre hohen Schuldenstände
durch Abwertung und Inflation zu senken. Umso wichti-
ger ist, dass Deutschland und Europa den Stabilitätsweg
gehen. Eine künstliche Abwertung und das Zulassen von
Inflation führen nur zu Muskeln an der falschen Stelle.
Dauerhaft hilft nur eine Steigerung der Wettbewerbsfä-
higkeit. Deshalb müssen die Staatsanleihenankäufe der
EZB eine Ausnahme bleiben und dürfen nicht zur Regel
werden. Geldwertstabilität muss wieder stärker in den
Mittelpunkt der Wirtschaftspolitik rücken. Wir sind für
eine Aufnahme der Geldwertstabilität ins Grundgesetz,


(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Oje, oje!)


für eine Stärkung der Bundesbank. Sie hat in den EZB-
Gremien genauso nur eine Stimme wie Malta. Das kann
nicht richtig sein.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Wir wollen im nächsten Bundeshaushalt eine schwarze
Null haben. Diese Koalition nimmt die Verpflichtung aus
der Schuldenbremse ernst. Diese Koalition nimmt den
europäischen Fiskalpakt ernst. Die Ankündigung der so-
zialistischen Regierung in Frankreich, mehr Schulden als
erlaubt zu machen, darf nicht zu einem Bruch des Fiskal-
pakts führen.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Wir jedenfalls werden Frankreich die Hand dafür nicht
reichen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Rot-Grün hat unter Schröder in sieben Jahren fünfmal
die Maastricht-Kriterien gerissen, Sie haben den Stabili-
tätspakt kaputtgemacht, Sie haben Griechenland in die
Währungsunion aufgenommen. Die Misere, zu der
dieser Bruch führte, können wir seit zweieinhalb Jahren
besichtigen. Damals haben Sie die Grube gegraben, in
die die Länder der südlichen Peripherie der Europäi-
schen Union jetzt gefallen sind.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Gerade erklärte Herr Steinbrück in Brüssel zum fran-
zösischen Staatsdefizit:

Vielleicht wird es 3,2, 3,3 oder 3,4 Prozent.


(Peer Steinbrück [SPD]: Ja!)


Aus meiner Sicht sollte Frankreich diese Flexibili-
tät haben.


(Peer Steinbrück [SPD]: Ja!)


Herr Steinbrück, mit solchen Aussagen sind Sie ein
Fiskalpaktbrecher. Sie sollten sich einmal überlegen,
was Sie sagen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Und Sie sind ein unfähiger Dogmatiker!)


Sie sagen auch, wer das bezahlen soll. Ihre Euro-
Bonds heißen jetzt Altschuldentilgungsfonds. Nach Ihrer
Idee soll Deutschland dauerhaft für die alten Schulden
Europas haften. Da kann ich Ihnen nur mit Karl Schiller
zurufen: Genossen, lasst die Tassen im Schrank!


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In Ihrem Schrank steht keine einzige Tasse mehr! – Michael Roth [Heringen] [SPD]: Ui, ui, ui!)


Die christlich-liberale Koalition wird den Fiskalpakt
hart auslegen; alles andere würde den Euro dauerhaft
beschädigen. Wir werden uns um eine Währungsstrate-
gie kümmern.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Löhne weiter senken?)


Der Dollar ist Leitwährung; das ist ein exorbitantes
Privileg, wie Giscard d'Estaing es nannte.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Löhne weiter senken?)


China greift diesen Status an, durch seine hohen Devi-
senbestände und Währungsabkommen mit den BRIC-
Staaten, aber auch durch das Etablieren einer eigenen
Ratingagentur. In Europa zerbricht sich keiner den Kopf
darüber, wo wir mit der Gemeinschaftswährung hinwol-
len. Wollen wir, dass der Euro selbst Leitwährung wird?
Wollen wir, dass er nur zweite Leitwährung hinter dem
Dollar wird? Wie gehen wir mit Chinas Ambitionen
währungspolitischer Art um? Währungsfragen sind auch
Machtfragen. Meine Damen und Herren, diesen Zusam-
menhängen muss mehr Aufmerksamkeit gewidmet wer-
den. Die Blaupause für Rot-Grün ist das sozialistische
Frankreich: Die Wirtschaft soll reguliert, zementiert und
stranguliert werden. Das will die Gabriel/Steinbrück-
SPD jetzt auch für Deutschland.

Am Wochenende wurde bekannt: Die Vermögensteu-
erpläne von Peer Steinbrück würden 160 000 Unterneh-
men in Deutschland treffen.


(Peer Steinbrück [SPD]: Was? Wo haben Sie das denn her?)


Ihre Berater haben ein „nur“ davorgesetzt. Das ist beson-
ders dreist. Sie treffen exakt 160 000 Unternehmen zu
viel. Unternehmen müssen Substanz aufbauen, sie müs-
sen Gewinn machen, sie müssen investieren können.
Investitionen sind der Schlüssel für Arbeitsplätze. Diese
Steuerpläne vernichten Arbeitsplätze. Wenn wir vom
Verlust nur eines Arbeitsplatzes pro Unternehmen ausge-
hen, dann wären davon so viele Menschen betroffen wie
Heidelberg oder Potsdam Einwohner hat.





Rainer Brüderle


(A) (C)



(D)(B)


Sie wollen die Einkommensteuer erhöhen. Für viele
Mittelständler ist das die Unternehmensteuer; das trifft
sie ins Mark. Sie wollen den Rentenversicherungsbei-
tragssatz um 3 Prozentpunkte erhöhen. Dadurch werden
die Lohnzusatzkosten erhöht. Eine Erhöhung um 1 Pro-
zentpunkt kostet etwa 100 000 Arbeitsplätze. Von diesen
Maßnahmen sind locker etwa eine halbe Million Ar-
beitsplätze betroffen. Da sind die verrückten Vorstellun-
gen Ihres Möchtegern-Finanzministers Trittin noch gar
nicht dabei, der eine Vermögensabgabe mit einem Volu-
men von 100 Milliarden Euro einführen will.

Kollege Trittin tanzt dem Kanzlerkandidaten der SPD
ohnehin auf der Nase herum. Kürzlich hat er großzügig
erklärt: „Bei Steinbrück ist ein Bemühen erkennbar.“


(Heiterkeit bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Das ist ein wörtliches Zitat. Das klingt wie: Peer, Note
fünf bis sechs, setzen! Oberlehrer Trittin hat gesprochen.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Herr Steinbrück bekommt von Trittin und Gabriel
einen wirtschaftsfeindlichen Wahlkampf aufgedrückt.
Als Rot-Grün 2005 aufgehört hat, zu regieren, gab es
5 Millionen Arbeitslose. Sie haben in den letzten sieben-
einhalb Jahren offensichtlich nichts dazugelernt.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Und Sie? – Dagmar Ziegler [SPD]: Was Sie da sagen, ist peinlich!)


Meine Damen und Herren, die Schuldenkrise in
Europa ist etwas abgeebbt. Die Signale aus Griechen-
land sind nicht mehr ganz so düster. Das haben sogar die
Ratingagenturen registriert. Aber für Zeichen der
Entwarnung ist es noch zu früh. Die Wahlen in Italien
werden zeigen, ob ein großes Mitgliedsland der Europäi-
schen Union seinen Reformkurs fortsetzt – Monti hat
sich viel Vertrauen erarbeitet –, oder ob er wieder aufs
Spiel gesetzt wird.

Die nächste Herausforderung ist Zypern. Hier gibt es
einen klaren Fahrplan: Zuerst muss die Präsidentschafts-
wahl abgewartet werden, dann muss Zypern eine
Restrukturierung seines Bankensektors vornehmen; er
ist völlig überdimensioniert. Außerdem muss das Pro-
blem der Geldwäsche ernsthaft angepackt werden, bevor
man über Finanzhilfen aus dem ESM reden kann. Hier
hat Deutschland eine Schlüsselrolle, hier hat dieses Par-
lament eine Schlüsselrolle: Es wird nur dann Geld aus
dem ESM geben, wenn im Gouverneursrat 80 Prozent
der Stimmen Ja sagen. 27 Prozent der Stimmen hat
Deutschland; deshalb trägt dieses Parlament eine ent-
scheidende Verantwortung dafür, ob dort entsprechende
Voraussetzungen geschaffen werden oder nicht.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, das, was bei der Haus-
haltsberatung auf europäischer Ebene beschlossen
wurde, ist beachtlich: Rund 1 Billion Euro, das ist die
Hälfte unserer Jahreswirtschaftsleistung. Mit so viel
Geld kann man viel bewegen. Ich glaube nicht, dass sich

unsere Kollegen im Europäischen Parlament einen Ge-
fallen damit tun, wenn sie das Ergebnis dieses Kraftaktes
ablehnen. In diesen nicht einfachen Zeiten muss Europa
Handlungsfähigkeit zeigen; das erwartet die Welt von
uns, und das erwarten die Mitbürger von uns. Herr
Steinbrück hat so getan, als würden jetzt magere Jahre
auf uns zukommen. Im Gegenteil, wenn wir es richtig
machen, werden es fette Jahre sein. Packen wir’s an!


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1722200800

Für die Fraktion Die Linke erhält nun die Kollegin

Sahra Wagenknecht das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Sahra Wagenknecht (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1722200900

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!

Frau Merkel hat uns gerade wieder eine wunderbare
Märchenstunde beschert: Europa ist auf einem guten
Weg, ein fantastischer Haushalt ist beschlossen, alles
wird gut.

Die Realität sieht leider etwas anders aus. Ich möchte
mich vor allem auf einige Entwicklungen beziehen, die
über die Finanzierungsspielräume der europäischen
Staaten in den nächsten Jahren mit Sicherheit wesentlich
mehr entscheiden werden als der Umstand, ob der euro-
päische Haushalt jetzt 10 oder 15 Milliarden Euro mehr
umfasst. Es geht dabei vor allem um die ökonomischen
Entwicklungen.

Peer Steinbrück hat auf die dramatische Arbeitslosig-
keit in der Europäischen Union hingewiesen, vor allem
auf die dramatische Situation der Jugendlichen. Dabei
frage ich mich allerdings schon, Herr Steinbrück, wie
Ihre zur Schau gestellte Betroffenheit in dieser Frage mit
Ihrem Abstimmungsverhalten hier im Bundestag zu ver-
einbaren ist.


(Beifall bei der LINKEN)


Sie haben diesen ganzen Kürzungspaketen immer wie-
der zugestimmt.

Zur Realität in Europa gehört auch, dass trotz der
inzwischen 4,5 Billionen Euro, die die europäischen
Steuerzahlerinnen und Steuerzahler dafür aufgebracht
haben, marode Banken zu retten, es für die Unternehmen
nach wie vor von Monat zu Monat schwieriger wird, bei
diesen Banken Kredite zu bekommen, um Investitionen
tätigen zu können.

Zur Realität gehört genauso, dass die Krise inzwi-
schen auf Deutschland zurückgeschlagen ist: Im letzten
Quartal 2012 ist die Leistung der deutschen Wirtschaft
deutlich eingebrochen, und es gibt überhaupt keinen
Grund für die Annahme, dass in diesem Jahr Südostasien
oder die krisengeschüttelten USA oder welche Region
der Welt auch immer das ausgleichen kann, was uns an
Nachfrage verloren geht aufgrund der tiefen Krise, die
wir hier in Europa haben.


(Beifall bei der LINKEN)






Sahra Wagenknecht


(A) (C)



(D)(B)


Es gibt eine aktuelle Studie von Ernst & Young, nach
der die Hälfte aller mittelständischen Unternehmen in
Deutschland mit sinkenden Umsätzen rechnet. Man
sollte vielleicht nicht immer nur auf die DAX-Konzerne
schauen. Die Unternehmen planen eher Entlassungen als
Neueinstellungen. Nach dieser Studie kämpft in
Deutschland jeder zehnte Mittelständler ums Überleben,
und das obwohl – oder vielleicht gerade weil – die
Löhne sich in Deutschland seit über zwölf Jahren hunds-
miserabel entwickelt haben. Sie müssten um 12 Prozent
höher liegen, wenn sie wenigstens im Gleichgang mit
der Produktivität gestiegen wären.


(Beifall bei der LINKEN)


Zur Wahrheit gehört natürlich auch – darauf hat die
OECD vor kurzem hingewiesen –, dass viele große
Unternehmen und Konzerne auch hier in Europa in-
zwischen Steuerquoten von etwa 5 Prozent haben. Zur
Realität gehört, dass sich in den Steueroasen weltweit
privates Vermögen im Volumen von über 32 Billionen
Dollar nahezu steuerfrei vermehrt. Dagegen tut die
Bundesregierung nichts; trotz allen Geredes über Konso-
lidierung und Schuldenbremsen ist das offenbar kein
Problem.

Das Problem ist allerdings, dass ganz Europa immer
wieder sogenannte Sparhaushalte und Kürzungen dik-
tiert werden unter dem Vorwand, dass man so die Staats-
schulden reduziert. Komischerweise sinken die Staats-
schulden in Europa aber nicht, in keinem einzigen Jahr.

Sie sind immer wieder gestiegen. Der Chefökonom
des Internationalen Währungsfonds, den Sie immerhin
selbst ins Boot geholt haben, hat im Oktober 2012 darauf
hingewiesen, dass in den Krisenländern die Wirtschafts-
leistung nicht zuletzt gerade wegen dieser Kürzungsdik-
tate immer weiter eingebrochen ist. Insoweit denke ich,
es wäre vielleicht nicht schlecht, wenn die Mitglieder
dieser Bundesregierung etwas weniger Zeit damit
verbringen würden, diverse Investmentbanker von der
Deutschen Bank und Goldman Sachs zu treffen und et-
was mehr Zeit damit, sich von Fachleuten bzw. Ökono-
men beraten zu lassen, die ein bisschen was von Makro-
ökonomie verstehen.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich bin wirklich gespannt, mit welchen Verrenkungen
Sie demnächst im Bundestag erklären werden, dass man
selbstverständlich auch die zypriotischen Banken mit
deutschem Steuergeld retten muss; und im Grunde ist
das natürlich auch nur konsequent. Wenn uns griechi-
sche Oligarchen Milliarden wert sind, warum dann nicht
auch russische Oligarchen,


(Michael Roth [Heringen] [SPD]: Da kennen Sie sich aus!)


zumal auf zypriotischen Konten – ähnlich wie auf iri-
schen natürlich – auch genug Geld aus Steuerflucht und
anderen kriminellen Geschäften lagert, und das muss
selbstverständlich unbedingt gesichert werden, sonst
bricht ja die Welt zusammen, zumindest die Welt dieser
Bundesregierung.


(Beifall bei der LINKEN)


Sie sind ja auch alle ganz stolz darauf,


(Michael Roth [Heringen] [SPD]: Das ist ziemlich vulgär!)


dass sich die Finanzmärkte in Europa seit einiger Zeit
beruhigt haben und sich nicht nur die Krisenstaaten, son-
dern sogar die größten Pleitebanken plötzlich wieder
refinanzieren können. Aber was der Grund dafür ist, das
sagen Sie den Menschen nicht. Der Grund dafür ist näm-
lich nicht, dass die Probleme kleiner geworden sind. Das
Volumen fauler Kredite in den Bankbilanzen wächst. Es
soll nach Prognosen in diesem Jahr bis zu 1 Billion Euro
faule Kredite in den Bankbilanzen europäischer Banken
geben. Wenn spanische Banken alle Verluste konsequent
abschreiben würden, dann hätten sie wahrscheinlich kei-
nen müden Euro Eigenkapital mehr, und dann würde es
auch für deutsche Banken eng, die nämlich in Spanien
50 Milliarden Euro im Feuer haben.

Warum also bekommen Pleitebanken plötzlich wieder
Geld? Warum wird auf einmal wieder ohne großes Miss-
trauen gezockt? Der Grund ist ganz einfach: weil ein rie-
siges Großbankensubventionsprogramm in Vorbereitung
ist. Die Finanzmärkte sind beruhigt, weil den Banken
und Hedgefonds zugesagt wurde, dass sie auch in Zu-
kunft keine Angst vor Verlusten haben müssten, sondern
dafür der Rettungsschirm ESM einspringen werde.

Das ist doch die Quintessenz des von der Europäi-
schen Kommission im letzten Herbst vorgelegten „Fahr-
plans“ für eine Bankenunion. Mindestens bis 2018 soll
die Haftung privater Gläubiger komplett ausgeschlossen
werden. Ja, und wenn die privaten Gläubiger nicht haf-
ten, wer dann? Dann soll es doch wieder der Steuerzah-
ler sein, an dem der ganze Finanzmüll hängenbleibt. Da-
bei geht es um Riesensummen, im Vergleich dazu ist die
ganze bisherige sogenannte Euro-Rettung nichts als eine
laue Aufwärmübung.

Aber gab es irgendeinen massiven Protest der Bun-
desregierung und ihrer angeblich eisernen Sparkanzle-
rin? Ich habe nichts gehört. Ja, Herr Schäuble hat kürz-
lich vorgeschlagen, das Haftungsvolumen des ESM für
die Banken auf 80 Milliarden Euro zu beschränken.
Aber dass die Banken und Märkte nach dieser Ankündi-
gung noch nicht einmal ein wenig nervös geworden sind,
zeigt eben auch nur, dass sich inzwischen bis zum letzten
Händler herumgesprochen hat, dass rote Linien für diese
Bundesregierung nur dazu da sind, überschritten zu wer-
den. Die Deutsche Bank wird wissen, warum sie es sich
leisten kann, allein für 2012 wieder 3,2 Milliarden Euro
an Boni auszuschütten. Warum auch Eigenkapital bil-
den, wenn man eine Bundesregierung hat, die eine wun-
derbare Vollkasko-Verlustversicherung anbietet?


(Beifall bei der LINKEN)


Wenn die Bundestagswahl erst einmal überstanden
ist, dann ist ohnehin alles egal – so kalkulieren Sie doch.
Deshalb gibt es auch die Giftlisten von der weiteren Er-
höhung der Mehrwertsteuer bis zu weiteren Angriffen
auf die Renten, die bekanntermaßen längst in Ihren
Schubladen lagern; und das Schlimme ist, dass man lei-
der damit rechnen muss, dass eine SPD unter Herrn
Steinbrück dies alles auch wieder genauso brav mittra-





Sahra Wagenknecht


(A) (C)



(D)(B)


gen wird wie die ganzen Bankenrettungspakete der letz-
ten Jahre.


(Beifall bei der LINKEN – Michael Roth [Heringen] [SPD]: Das ist lebensfern!)


Der Chef des Ifo-Institutes, Hans-Werner Sinn, hat Ih-
nen bekanntlich vorgeworfen, dass Sie mit Ihrer Politik
faktisch eine negative Vermögensteuer eingeführt haben;
und ich finde, er hat recht. Eine positive Vermögensteuer
ist bekanntlich, wenn Millionäre jährlich einen gewissen
Prozentsatz ihres Vermögens an die Allgemeinheit dafür
abgeben müssen, dass ordentliche Schulen, gute Kran-
kenhäuser und eine auskömmliche Rente finanziert wer-
den können.

Eine negative Vermögensteuer bedeutet natürlich das
Gegenteil: Die Allgemeinheit muss auf ordentliche
Schulen, gute Krankenhäuser und auskömmliche Renten
verzichten, weil ein großer Teil der Steuereinnahmen da-
für verschwendet wird, Millionäre vor Vermögensver-
lusten zu bewahren. Das ist die Politik, die Sie machen!

Sie sorgen für eine negative Vermögensteuer. Wir sa-
gen, wir wollen, dass endlich die Millionäre und Multi-
millionäre und diejenigen, die von den ganzen miserab-
len Geschäften in den letzten Jahren in Europa profitiert
haben, zahlen.


(Beifall bei der LINKEN)


Ihre Politik macht Europa kaputt. Ihre Politik macht
die Demokratie in Europa kaputt. Diese Politik wird
weiterhin auf unseren massiven Widerstand stoßen.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1722201000

Michael Meister von der CDU/CSU-Fraktion ist der

nächste Redner.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Michael Meister (CDU):
Rede ID: ID1722201100

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Herr Kollege Steinbrück hat ein bemerkenswer-
tes Zitat des amerikanischen Präsidenten Barack Obama
gebracht, nämlich, Schuldenabbau sei kein Plan. Wenn
das hier irgendein Kollege aus dem Deutschen Bundes-
tag gesagt hätte, dann hätte ich unterstellt: Er weiß nicht
ganz, was er sagt. Bei einem ehemaligen deutschen Fi-
nanzminister darf man das, glaube ich, aber schon an-
nehmen.

Barack Obama wird nach eigenen Planungen und
nach Aussage des Budget-Büros des amerikanischen
Kongresses in seiner Amtszeit voraussichtlich so viele
Schulden machen wie alle amerikanischen Präsidenten
innerhalb von 230 Jahren vor ihm. Wenn man vor die-
sem Hintergrund sagt, Schuldenabbau sei kein Plan,
dann, so muss ich sagen, leidet man unter einer massiven
Wahrnehmungsstörung. Wir erleben in den USA, in Ja-
pan, in Europa und weltweit nicht eine Diskussion über
die Frage, wie Schulden abgebaut werden, sondern wir
erleben in einem historisch noch nie dagewesenen Maße,

wie Schulden aufgebaut werden. Herr Steinbrück, das,
was Sie vertreten, ist wider besseres Wissen unverant-
wortlich für die Nachhaltigkeit und für künftige Genera-
tionen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Es geht ums Maßhalten und nicht darum, dass das Land
oder Europa in unmäßiger Weise kaputtgespart würden.


(Michael Roth [Heringen] [SPD]: So besucht Herr Obama uns nie!)


Ich will einen zweiten Präsidenten zitieren, weil Sie,
Herr Steinbrück, so sehr schön gesagt haben, für die
Wettbewerbsfähigkeit in Europa müssten die Volkswirt-
schaften mehr zusammenrücken. Ja, wenn wir unsere
Währung dauerhaft gemeinsam bewahren wollen, dann
müssen sich die Leistungskräfte der Volkswirtschaften
annähern. Abraham Lincoln hat aber gefragt: Kann ich
wirklich den Schwachen dadurch stark machen, dass ich
den Starken schwäche?


(Peer Steinbrück [SPD]: Sagt doch keiner!)


– Sie haben hier vorgeschlagen, die Leistungsfähigkeit
der deutschen Volkswirtschaft zu reduzieren, um das
Problem zu lösen.


(Peer Steinbrück [SPD]: Nein! Ich habe doch etwas ganz anderes gesagt!)


Nein, meine Antwort ist: Wir brauchen eine Lösung, mit
der wir alle Volkswirtschaften in Europa stärker machen,
damit sie auch global wettbewerbsfähig sind.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wenn wir unseren Wohlstand und unseren Sozialstaat
behalten wollen, dann werden wir das nur über die Wett-
bewerbsfähigkeit in der Weltwirtschaft schaffen. Des-
halb brauchen wir ein Programm zur Stärkung der Wett-
bewerbsfähigkeit.

Sie haben die Lissabon-Strategie angesprochen, die
vom Bundeskanzler der Sozialdemokraten, Gerhard
Schröder, ausgehandelt wurde. In diesem Papier hat man
sich tolle Ziele gesetzt. Anschließend hat man aber voll-
kommen darauf verzichtet, zu überprüfen, ob die Ziele
von den Einzelnen auch eingehalten werden.

Ich sage einmal: Hier haben wir etwas anderes. Die
amtierende Bundeskanzlerin hat sich zwar für etwas
Ähnliches eingesetzt, nämlich den Euro-Plus-Pakt, aber
darin werden nicht nur Ziele zur Stärkung der Wettbe-
werbsfähigkeit verabredet, sondern man hat auch ein en-
ges zeitliches Monitoringsystem festgelegt, durch das
genau geprüft wird, ob das, was man vereinbart hat, auch
gemacht wird. Das ist der Unterschied zwischen der
Politik von Sozialdemokraten und der Politik von Christ-
demokraten: Wir nehmen sie verantwortlich wahr, und
Sie betreiben eine Laisser-faire-Politik.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Damit sind wir am entscheidenden Punkt. Ihre Aus-
sage, Herr Steinbrück, war: Mehr Geld und mehr Um-





Dr. Michael Meister


(A) (C)



(D)(B)


verteilung in Europa lösen die Probleme in Europa.
Nein, nicht mehr Geld und mehr Umverteilung, sondern
die Beachtung der Prinzipien der sozialen Marktwirt-
schaft in Europa lösen unsere Probleme. Umverteilung
gehört eben nicht zu den Prinzipien der sozialen Markt-
wirtschaft. Wir nehmen Solidarität wahr. Deutschland
nimmt seine Solidarität in dem neuen Finanzrahmen
wahr. Deutschland nimmt seine Solidarität bei der Stabi-
lisierung des Euro wahr. Aber zur sozialen Marktwirt-
schaft, Herr Steinbrück, gehört auch Eigenverantwor-
tung. Da reicht es nicht, wenn man durch Europa reist
und allen verspricht: Wir werden Euro-Bonds einführen,
die Haftung vergemeinschaften und gemeinsam für die
Spareinlagen haften. Das hat nichts mit Eigenverantwor-
tung zu tun, das ist Verantwortungslosigkeit. Wir brau-
chen Eigenverantwortung der einzelnen Länder. Jeder
muss an der Stelle, wo er handelt, dafür auch die Verant-
wortung tragen, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Deshalb wird es mit uns keine gemeinsame Haftung für
Spareinlagen geben.


(Peer Steinbrück [SPD]: Gibt es doch längst!)


– Was den Restrukturierungsfonds angeht, lieber Herr
Steinbrück, sind wir nicht der Meinung, dass wir ihn ver-
gemeinschaften sollten. Wir kämpfen darum, dass er
kommt und dass zunächst einmal – das ist das Wich-
tigste – die Eigentümer von Finanzinstituten Verantwor-
tung tragen. Wir treten dafür ein, dass es im Rahmen des
Restrukturierungsfonds eine Umlage gibt und der jewei-
lige Sektor beteiligt wird. Das sollten wir aber national
machen. Wenn dann dieser Sektor überfordert ist, soll
der jeweilige Staat eintreten. Erst in der letzten Stufe soll
– wenn ein einzelner Staat überfordert ist – die Solidari-
tät greifen.

Sie fordern, dass all diese Verantwortungsstufen nicht
stattfinden und die Probleme grundsätzlich in Verant-
wortungslosigkeit von der Allgemeinheit gelöst bzw.
vergemeinschaftet werden. Diesen Weg wollen wir
nicht. Deshalb geht es nicht um die Frage, ob wir einen
Restrukturierungsfonds haben wollen oder nicht, son-
dern um die Frage, ob wir Verantwortung wahrnehmen
oder verantwortungslos handeln, meine Damen und Her-
ren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wenn man schon – das ist wunderbar – über Struktur-
reformen in Europa spricht – Sie haben die Lissabon-Stra-
tegie angesprochen –, darf man nicht nur anderen emp-
fehlen, Strukturreformen durchzuführen, sondern muss
bei sich selbst beginnen.

Die Sozialdemokraten feiern dieses Jahr ihren
150. Geburtstag.


(Michael Roth [Heringen] [SPD]: Zu Recht!)


Das wird überall groß thematisiert. Ich finde es jedoch
bemerkenswert, dass Sie den 10. Geburtstag der Agenda
2010 nicht feiern. Der steht nämlich in wenigen Tagen
an. Wenn wir in Europa über Strukturreformen reden,
könnten wir doch auch den 10. Geburtstag der Agenda

2010 groß feiern. Wer wäre besser als der Kanzlerkandi-
dat der Sozialdemokraten dazu berufen, solche Feier-
lichkeiten anzusetzen und groß durchzuführen? Denn
damit haben wir es geschafft, Deutschland wettbewerbs-
fähiger zu machen, Jugendarbeitslosigkeit zu beseitigen,
Langzeitarbeitslose in Beschäftigung zu bringen und
endlich wieder Wachstum in Deutschland auf die Beine
zu stellen. Meine Damen und Herren, wäre das nicht ein
Grund, gemeinsam zu feiern und zu sagen: Das war er-
folgreiche gemeinsame Politik?


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Sie haben von „lavieren“ gesprochen. Ich habe ein
wenig den Eindruck, dass der Kanzlerkandidat um fol-
gende Fragen herumlaviert: Soll er jetzt stolz sein? Soll
er sich eher kritisch zeigen? Soll er vielleicht sogar vor-
schlagen, den einen oder anderen Reformschritt, der ge-
macht worden ist, wieder zurückzugehen? Ich nenne in
dem Zusammenhang das Stichwort „Renteneintrittsal-
ter“.

Es wäre nicht nur besser, festzustellen, dass das die
richtige Richtung war, sondern auch richtig, klar und
deutlich zu sagen: In der Zukunft brauchen wir in
Deutschland mehr Strukturreformen. Wir werden sie an-
packen, und dann sollte ein Wettbewerb bzw. Wettlauf in
Bezug auf die Frage beginnen, was die richtigen Struk-
turreformen in unserem Lande sind.

Weil Sie vorhin dazwischengerufen haben, will ich
Sie darauf hinweisen, dass Sie in der letzten Woche ei-
nen Koalitionsvertrag in Niedersachsen abgeschlossen
haben. Dort haben Sie zu dem Thema Folgendes vorge-
schlagen: Erstens. Wir machen mehr Schulden. Zwei-
tens. Wir erhöhen die Steuern und Belastungen für die
Menschen. – Ich weiß nicht, ob das die Strukturreformen
sind, die wir brauchen, ob das in die richtige Richtung
weist.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Über Niedriglöhne!)


Meine Damen und Herren, wir müssen dieses Europa
auch wollen, und das heißt, dass wir integrieren müssen.
Bei dem Gipfel hat mir sehr gut gefallen, dass es eine
enge Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frank-
reich gab und dass es gelungen ist, trotz schwieriger Fra-
gen und unterschiedlicher Interessen die beiden großen
Länder zusammenzuhalten. Außerdem hat mir sehr gut
gefallen, dass Großbritannien ausdrücklich integriert
und nicht an den Rand gestellt worden ist. Wir werden,
wenn wir Europa erfolgreich gestalten wollen, Großbri-
tannien innerhalb der Europäischen Union mit benöti-
gen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Deshalb wundere ich mich sehr, mit welcher Rhetorik
man hier – zum Teil betrifft das auch Sozialdemokraten
im Europäischen Parlament – mit Großbritannien und
der britischen Regierung umgeht.

Natürlich kann man eine „Wünsch-dir-was“-Politik
betreiben. Wenn man beliebig viel Geld hat, kann man
sich wünschen, für alle Ziele beliebig viel auszugeben.
Es ist im Leben aber nicht so, dass wir unbegrenzte Res-





Dr. Michael Meister


(A) (C)



(D)(B)


sourcen haben und sagen können: Alle Wünsche dieser
Welt werden erfüllt. Vielmehr ist mein Verständnis von
Politik: Wir haben begrenzte Ressourcen. Wir haben be-
grenzte Mengen von Geld. Wir müssen Prioritäten set-
zen.

Da fängt es an. Herr Steinbrück, Sie haben eine Rede
in der Art gehalten: Wir müssen Prioritätensetzung ver-
meiden. Wir möchten lieber mehr Geld ausgeben. – Wir
sind der Meinung: Wir haben die Weichen von der Ver-
gangenheit auf die Zukunft gestellt. Wir bauen das um,
was bisher war, um in die Zukunft zu investieren. Wir
führen Europa zusammen, und zwar über die Verbindun-
gen von wichtigen Infrastrukturmaßnahmen: Das wird
gestärkt. Wir fördern Forschung und Technologie: Das
wird gestärkt. Wir fördern die Bildung in Europa: Das
wird gestärkt. Das heißt, dort, wo Strukturen für die Zu-
kunft aufgebaut werden, setzen wir Akzente, und es gibt
mehr Geld, ohne dass der Finanzrahmen insgesamt aus-
geweitet wird. Das ist die eigentliche Leistung, die an
dieser Stelle zu würdigen ist.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ich komme zu dem wichtigen Thema „junge Men-
schen in Europa“. Wie wollen wir Europa gestalten,
wenn wir die Jugend nicht mitnehmen? Beim Thema
„junge Menschen“ ist dem Kollegen Steinbrück einge-
fallen, darauf hinzuweisen, man bräuchte mehr Geld. Ja,
in diesem Finanzrahmen gibt es mehr Geld. Aber ist das
Problem wirklich mit mehr Geld gelöst? Ich glaube, wir
brauchen die richtigen Strukturen. Auch dafür haben wir
einen Vorschlag.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ich glaube, wir haben richtige Strukturen. Wir sollten
mit unseren Freunden in Europa darüber reden, ob wir
mit diesen richtigen Strukturen Europa voranbringen
und damit auch mehr jungen Menschen eine Perspektive
eröffnen können.

In diesem Sinne: Herzlichen Dank, Frau Bundeskanz-
lerin, für das Ergebnis. Ich hoffe, dass auch bei den Kol-
legen im Europäischen Parlament die Klugheit und Ein-
sicht vorhanden sind, die Flexibilität des Finanzrahmens
und die Frage der Evaluierung zu erkennen und dem zu-
zustimmen, sodass wir Europa auf sicherer Grundlage in
die Zukunft führen können.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1722201200

Das Wort hat nun der Kollege Jürgen Trittin, Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen.


Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722201300

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist ja

gute Übung hier im Haus, dass über die Ergebnisse des
Europäischen Rates berichtet wird. Es ist natürlich eine
völlig abwegige Vermutung, dass die sehr späte und
gleichzeitig hektische Ankündigung dieser Regierungs-

erklärung etwas damit zu tun haben könnte, dass morgen
der Bundespräsident eine europapolitische Grundsatz-
rede halten möchte.

Aber Sie werden sich an einer Sache messen lassen
müssen, Frau Merkel, nämlich an der Mahnung Joachim
Gaucks, dass die Kanzlerin die Erste ist, die Europa er-
klären muss. Ich kann Ihnen leider nach der heutigen
Rede nur sagen: Das ist Ihnen erneut nicht gelungen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Volker Kauder [CDU/ CSU]: Was? – Michael Grosse-Brömer [CDU/ CSU]: Das ist aber eine Einzelmeinung!)


Sie haben nicht einmal erklären können, warum Sie Eu-
ropa etwas anderes aufzwingen, als Sie selber praktizie-
ren.

Wie war das, als 2008 die Finanzkrise Deutschland
heimgesucht hat? Da haben Sie gegen die Krise inves-
tiert: in sinnvolle Dinge wie Kurzarbeitergeld, energeti-
sche Gebäudesanierung; in weniger sinnvolle Dinge wie
Abwrackprämie oder Commerzbank-Einlagen. Sie ha-
ben sich dafür zum Beispiel im Jahre 2008 vom Bundes-
tag eine Kreditermächtigung in Höhe von 80 Milliarden
Euro geben lassen. Zur Bekämpfung der Krise haben Sie
massiv auf kreditfinanzierte Investitionen gesetzt.

Lieber Herr Brüderle, von wegen Schuldenabbau.
Unter dieser Kanzlerin ist die Zahl der Staatsschulden in
Deutschland um 500 Milliarden Euro gewachsen und die
Schuldenquote von 63 auf 84 Prozent gestiegen.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Das stimmt nicht! Falsche Zahlen!)


Das ist Ihre Politik. Jetzt tun Sie nicht so, als seien Sie
das nicht gewesen. Sie waren das.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Aber die Frage ist doch: Was tun Sie in einer Situa-
tion, in der in Europa Banken zusammenkrachen, in der
in Spanien massenhaft Häuser geräumt und Menschen
um ihre Wohnung gebracht werden, in der die Hälfte der
jungen Menschen arbeitslos ist und wir eine Entwick-
lung erleben, die nicht nur dieses Gemeinwesen, sondern
die Idee eines gemeinsamen Europa wirklich in Gefahr
zu bringen beginnt?

Ich will zitieren, was Sie in dieser Situation machen.
Mit rund 960 Milliarden Euro – Zitat der Kanzlerin –:

wird der EU-Finanzrahmen der erste Rahmen sein,
der keinen Aufwuchs gegenüber der letzten Finanz-
periode verzeichnet …

Das ist ein Euphemismus, und Euphemismus ist ein
Fremdwort für eine politische Lüge. Dieser Finanz-
rahmen ist der erste, der gekürzt wird, und zwar um
3,7 Prozent.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das heißt, Sie kürzen in einer ökonomischen Krise den
EU-Haushalt. Das, liebe Frau Bundeskanzlerin, ist nicht





Jürgen Trittin


(A) (C)



(D)(B)


mehr Europa; das ist weniger Europa, und das ist unver-
antwortlich.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wer in der Krise nur konsolidiert und nicht investiert,
der verschärft, verlängert und verteuert die Krise. Sie
wissen, dass das nicht funktioniert. Das hat Ihnen der In-
ternationale Währungsfonds – es ist schon bizarr, dass
Grüne sich jetzt auf den Internationalen Währungsfonds
berufen müssen – dieser Tage ins Stammbuch geschrie-
ben. Für jeden öffentlich eingesparten Euro in den
Krisenländern schrumpft die Wirtschaft um mehr als ei-
nen Euro. Sie müssen sich diesen Konsequenzen doch
endlich einmal stellen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Nun könnte ich mich noch auf folgende Frage einlas-
sen. Sie haben einen schwierigen Job, und da ist auch
David Cameron mit seinen europafeindlichen Konserva-
tiven und einer übrigens verantwortungslosen Opposi-
tion in Großbritannien.


(Rainer Brüderle [FDP]: Wie heißt denn die?)


Sie haben sich doch genauso feige verhalten wie
Cameron. Statt für Europa und für mehr Gemeinsamkeit
zu streiten, haben Sie klein beigegeben. Was hätte es
denn gekostet, sich auf den Standpunkt zu stellen, zu
sagen: „Wir kürzen das Volumen nicht, und innerhalb
dieses Volumens regeln wir alles durch andere Prioritä-
ten“? Was wäre passiert, wenn Herr Cameron sich darauf
nicht eingelassen hätte? Gar nichts. Es wäre bei dem
alten Volumen geblieben. Das wäre übrigens Rechts-
sicherheit gewesen. Das, was Sie produziert haben, ist
ein Dauerkonflikt.

Aber was sind denn das für Prioritäten bei dem, was
Sie auf den Weg gebracht haben? Schlimmer als das
abgesenkte Volumen finde ich die Prioritäten, die Sie mit
diesem Haushalt setzen. Sie subventionieren, statt zu
investieren. Dieses Verhandlungsergebnis ist rückwärts-
gewandt; es ist unökologisch und unsozial. Sie bedienen
eine Klientel, und Sie beschneiden Zukunftsinvestitio-
nen.

Nehmen wir eine klassische Klientel der CDU. Die
CDU ist nicht nur in Niedersachsen der parlamentarische
Arm von Wiesenhof und Wesjohann.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Trikotsponsor Ihres Lieblingsvereins!)


Aber sie sind Ihnen echt was wert. Nicht nur beim Er-
neuerbare-Energien-Gesetz werden sie begünstigt; nein,
Sie geben für Direktzahlungen an die Agrarindustrie in
diesem mittelfristigen mehrjährigen Finanzrahmen
277 Milliarden Euro aus. Das ist mehr als doppelt so viel
wie für Wachstum und Beschäftigung. Dafür gibt es nur
125 Milliarden Euro – 49 Milliarden Euro weniger, als
die Kommission ursprünglich beantragt hat.

Damit das mit den Agrarsubventionen nicht so auf-
fällt, haben Sie einfach gesagt: Dann kürzen wir doch
bei der zweiten Säule der Gemeinsamen Agrarpolitik,

dem ökologischen Landbau, der integrierten ländlichen
Entwicklung und den Agrarumweltmaßnahmen. – In
Deutschland wird hier um 17 Prozent gekürzt.


(Ilse Aigner, Bundesministerin: Falsch!)


Mit anderen Worten: Sie wollen Dioxin im Hühnerei,
Sie wollen Pferd in der Lasagne, Sie wollen Antibiotika
im Hühnerfleisch subventionieren, und dafür kürzen Sie
bei der Agrarwende. Das ist Ihre Politik.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Oder nehmen wir eine andere Klientel. In Deutsch-
land müssen Sie ja jetzt gegen die Atomindustrie sein. In
Brasilien geben Sie dafür Bürgschaften. Und in Europa?
Da wird der Forschungsetat zugunsten eines Projekts
wie ITER mal eben um 2,7 Milliarden Euro geplündert.
Vor 50 Jahren hieß es: Die Kernfusion wird in 50 Jahren
Strom liefern. – Das wird es in 50 Jahren auch noch
heißen.

Man kann sich stundenlang über ITER streiten. Die
entscheidende Frage ist aber eine andere: Was passiert
eigentlich mit den heute produzierten Kilowattstunden?
Da gibt es einen interessanten CDU-Mann namens
Günther Oettinger. Er hat in den letzten Tagen auch
kluge Dinge zur Türkei-Politik der CDU gesagt.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auf den Knien!)


– Ich möchte aber nicht sehen, dass Sie auf Knien rut-
schen, Frau Bundeskanzlerin.

Er hat gesagt, es wäre doch viel besser, wenn die
Griechen mit der Photovoltaik Geld verdienen würden;
dann würden sie aus der Krise kommen. Der Mann hat
recht. Nur, wie kommt der Strom eigentlich aus Grie-
chenland hierher? Er hat dann 50 Milliarden Euro für ei-
nen europaweiten Netzausbau vorgeschlagen.

Was macht diese Kanzlerin? Sie kürzt die Aufwen-
dungen für den Netzausbau um 42 Prozent von 50 Mil-
liarden Euro auf 29 Milliarden Euro, und der größte Teil
geht in den Straßenbau. 5 Milliarden bleiben für den
Netzausbau, 5 Milliarden in sieben Jahren!


(Zuruf der Abg. Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Wissen Sie, was Sie mit 5 Milliarden beim Netzausbau
machen können? Damit können Sie gerade fünf
Offshorewindparks anschließen. Mehr ist das nicht. Ein
europäisches Stromnetz kriegen Sie so nicht hin. Mit
diesem Haushalt sabotieren Sie Ihre eigene Energie-
wende in Europa.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Dann das mit den 6 Milliarden Euro für die Bekämp-
fung der Jugendarbeitslosigkeit: Sie wissen genau, dass
Sie das aus anderen Stellen des Europäischen Sozial-
fonds herausgenommen haben, dass Sie Geld einfach
umgewidmet haben.





Jürgen Trittin


(A) (C)



(D)(B)


Aber: Sie haben uns bei den Verhandlungen zum
Fiskalpakt zugesagt, Sie wollten mit dem mehrjährigen
Finanzrahmen einen grundlegenden Wandel zugunsten
von Beschäftigung, Wachstum, Innovation und Techno-
logie, Ausbildung und Forschung erreichen. Das, was
Sie hier heute vorlegen, was Sie hier verteidigen, das ist
das glatte Gegenteil von dem, was Sie diesem Bundestag
bei der Ratifizierung des Fiskalpaktes zugesagt haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Hören Sie auf, uns über Solidität zu belehren! Wer
eine Neuverschuldung, eine Staatsverschuldung dieses
Ausmaßes zu verantworten hat, sollte in der Hinsicht
vorsichtiger sein.

Wenn Sie sich einmal in diesem Haushalt die Lücke
zwischen den Zahlungsermächtigungen und den Ver-
pflichtungsermächtigungen angucken, dann stellen Sie
fest: Die ist so groß wie nie zuvor. Anders gesagt: Sie
werden Zusagen machen, von denen Sie heute schon
wissen, dass Sie sie in den nächsten sieben Jahren nicht
bedienen können.


(Peer Steinbrück [SPD]: Richtig!)


Das ist die Umgehung des Kreditverbots für die Europäi-
sche Union. Das ist nicht solide, das ist unsolide; das
sind Taschenspielertricks.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich sage Ihnen eines: Finanzielle Solidität hat auch et-
was mit Einnahmen zu tun. Wie kommt es eigentlich,
dass wir bis heute nicht eine Chance haben, das Ver-
schwinden von Geld in Trusts, in Holdings in Zypern
und in Irland in den Griff zu bekommen? Wir sind – das
haben wir vielfach bewiesen – für europäische Solidari-
tät, aber wer diese Solidarität beansprucht, der muss sich
von unsolidarischen Geschäftsmodellen der Geldwäsche
und des Steuerdumpings – in Zypern wie in Irland – ver-
abschieden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Meine Damen und Herren, Ihr Haushalt ist die falsche
Antwort auf Europa. Sie werden in einen massiven
Konflikt mit dem Europäischen Parlament kommen. Ich
wünsche Elmar Brok, Markus Ferber und wie die ande-
ren Vertreter der Europäischen Volkspartei im Europäi-
schen Parlament heißen mehr Rückgrat, als Sie es ge-
genüber David Cameron bewiesen haben.


(Lachen bei der CDU/CSU)


Ich wünsche uns allen, dass damit aufgehört wird, bei
Verhandlungen in Europa dem nationalen Affen Zucker
zu geben. So erklären Sie Europa nicht, so machen Sie
Europa nicht stärker, und weil das so ist, freue ich mich
jetzt doch auf die Rede des Bundespräsidenten morgen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Heiterkeit des Abg. Peer Steinbrück [SPD])



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1722201400

Johannes Singhammer ist der nächste Redner für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1722201500

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Frau Bundeskanzlerin, Sie haben es erfolgreich
geschafft, das Geld der deutschen Steuerzahler zusam-
menzuhalten,


(Zuruf von der CDU/CSU: Richtig!)


Europa eine klare Perspektive zu geben und den Land-
wirten eine finanzielle Basis zu sichern. – Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das habe ich gerade gesagt!)


– Sie haben etwas anderes gesagt, Herr Trittin. Sie haben
ja eine Vorliebe für falsche Zahlen. Immer wieder brin-
gen Sie die Zahl von 63 Prozent Neuverschuldungs-
quote, die es bei der Regierungsübernahme der Kanzle-
rin gegeben hätte. Tatsächlich waren es 68 Prozent beim
Amtsantritt der Bundeskanzlerin. Das ist eine „Kleinig-
keit“ von 120 Milliarden Euro und macht aber auch nur
ein Drittel des Bundeshaushalts aus. Da muss man nicht
so kleinlich sein, Herr Trittin.


(Heiterkeit bei der FDP – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist weniger als 85! Da sind wir uns einig, nicht?)


Jahrzehntelang galt der Erfahrungssatz: Wenn es in
Europa nicht voranging, zahlt Deutschland immer mehr.
Die Bundeskanzlerin hat mit diesem für viele in Europa
bequemen Mechanismus gebrochen. Die EU-Kommis-
sion verlangte ursprünglich 1 200 Milliarden Euro für
den Siebenjahresplan. Tatsächlich ausgegeben werden
dürfen nunmehr 908 Milliarden Euro plus Inflationsaus-
gleich. Das ist eine segensreiche Verbesserung; denn
wenn alle Nationalstaaten sparen müssen – von Irland
bis Griechenland einschließlich Deutschland als Vorbild –,
dann kann auch die Europäische Union nicht in die Vol-
len gehen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Michael Roth [Heringen] [SPD]: Wo sparen wir denn? Wo sparen wir?)


In Europa sparen heißt – logisch zwingend –, dass
einige Rückflüsse nach Deutschland und in andere
Mitgliedstaaten geringer ausfallen. Trotzdem haben wir
insbesondere die deutsche Landwirtschaft abgesichert.


(Michael Roth [Heringen] [SPD]: Das habt ihr! Das stimmt! Bauernlobby!)


Uns ist es ein Anliegen – dazu stehen wir –, dass die
Bauern in Deutschland angesichts ihrer höheren Produk-
tionskosten nicht unter Wettbewerbsverzerrung leiden.
Deshalb brauchen wir weitere Beihilfen.


(Michael Roth [Heringen] [SPD]: Bravo!)






Johannes Singhammer


(A) (C)



(D)(B)


Wir wollen es nicht zu einem Bruch kommen lassen. Das
bedeutet, dass es für die Landwirte in Deutschland bis
zum Jahr 2020 durchschnittlich 294 Euro je Hektar ge-
ben wird. 2013 werden es durchschnittlich 318 Euro
sein. Das sind zwar 7 Prozent weniger, aber das ist ak-
zeptabel,


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auch weil die Preise am Markt so hoch sind! Wenn Sie sich mal die Getreidepreise ansehen würden! Aber das tun Sie ja nicht!)


weil es sich hier um eine berechenbare und sichere Basis
handelt und andere Kürzungswünsche, die ursprünglich
erörtert worden sind, damit allesamt beerdigt worden
sind.

Wir als Union sorgen uns um die Existenz der Bäue-
rinnen und Bauern. Ja, das tun wir. Deshalb sollen über
5 Milliarden Euro Direktzahlungen Jahr für Jahr und
weitere 1,2 Milliarden Euro jedes Jahr für die ländlichen
Räume garantiert werden. Wenn es nach Ihnen gegangen
wäre, Herr Steinbrück – hören Sie einmal zu! –, dann
hätte das anders ausgesehen. Noch im Mai 2012, also
vor neun Monaten – das ist noch nicht allzu lange her –,
hat der Kanzlerkandidat der Sozialdemokraten verlangt,
die Axt an den europäischen Agrarhaushalt zu legen.
Anstatt mehr als 40 Prozent des EU-Haushalts für
Agrarsubventionen auszugeben, solle man hier massiv
kürzen, so sein Rezept in dem offiziellen SPD-Papier
Der Weg aus der Krise – Wachstum und Beschäftigung
in Europa. Weiter wird Herr Steinbrück darin zitiert: Die
gegenwärtige Diskrepanz zwischen dem Agrarhaushalt
und den Zukunftsbereichen sei grotesk. Dann, am 8. Fe-
bruar dieses Jahres, also vor wenigen Tagen, wird es
Herrn Steinbrück mulmig. Top agrar online meldet unter
der Überschrift „Steinbrück entdeckt die Landwirt-
schaft“ – Zitat –:

Zu den aktuellen Beratungen über den EU-Finanz-
haushalt sagte Steinbrück ganz klar, dass er gegen
Einschnitte im Agrarhaushalt sei.

Es ist richtig, dass die Eierproduktion ein wichtiger
Bestandteil der Landwirtschaft ist. Aber Rumeiern hat
nichts mit guter Landwirtschaftspolitik zu tun.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Darauf einen Eierlikör!)


Wir setzen auf Verlässlichkeit.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Verlässlichkeit ist, wenn Sie Käfigeier als Konkurrenz in der Ukraine bezahlen! Sehr verlässlich für die deutschen Bauern! Herr Singhammer, Sie sind vom anderen Stern! Sie machen den Hiesigen das Geschäft kaputt!)


Das heißt, dass noch über einige Einzelheiten verhandelt
wird und auch verhandelt werden muss. Dabei ist es
wichtig, dass die nachweisbaren Vorleistungen, die die
deutsche Landwirtschaft erbracht hat, nicht durch eine
pauschale Verpflichtung zur Flächenstilllegung, das so-
genannte Greening, entwertet werden. Wir wollen Natur
und Landwirtschaft in Einklang halten. Wir sind froh

darüber, dass die ursprünglichen Pläne, 800 000 Hektar
Ackerfläche – das entspricht der Fläche von Baden-
Württemberg – stillzulegen, nicht mehr verfolgt werden.
Ich freue mich aus bayerischer Sicht auch darüber, Frau
Bundeskanzlerin, dass die Tür offengehalten worden ist
und dass nationale Beihilfen in den Grenzregionen
gerade in Ostbayern an der Grenze zu Tschechien wei-
terhin möglich sind. Das ist ganz besonders wichtig für
diejenigen, die einen großen Beitrag für das Zusammen-
wachsen Europas geleistet haben. Deshalb brauchen wir
hier – ganz wichtig – Übergangsmodalitäten.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, manche ha-
ben kritisiert, Deutschland möchte Europa angeblich ka-
puttsparen. Wer uns das vorwirft, der muss zunächst ein-
mal nachweisen, dass Gesundschulden ein erfolgreiches
Konzept ist. Hat sich Griechenland eigentlich gesundge-
schuldet?

Tatsache ist eines: Deutschland leistet einen riesigen
Solidaritätsbeitrag für Europa.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die Frankfurter Allgemeine Zeitung hat vor kurzem ein-
drucksvolle Zahlen präsentiert. Danach hat Deutschland
von 1991 bis 2011 170 Milliarden Euro mehr an den
Haushalt in Brüssel einbezahlt, als es zurückerhalten hat.
Ich sage Ihnen: Es ist nicht unbillig, sondern gerecht – das
erwarten die Menschen in Deutschland –, dass wir da-
rauf achten, dass mit dem Geld sorgfältig umgegangen
wird und dass alle Verpflichtungen auch punktgenau und
exakt eingehalten werden.

Dabei ist mir eine Verpflichtung wichtig, und dies ist
keine Kleinigkeit: Das ist der Gebrauch der deutschen
Sprache.


(Michael Roth [Heringen] [SPD]: Ach je!)


– Da brauchen Sie nicht zu stöhnen.

Sparen in der Brüsseler Bürokratie ist nötig, aber an
der richtigen Stelle. Wenn 22 Übersetzer für Deutsch
entlassen und gleichzeitig 14 neue Stellen für englische
Übersetzer geschaffen werden sollen, dann ist das nicht
richtig, weil wir alle zusammen hier in diesem Parlament
immer wieder beklagt haben, dass die amtlichen Über-
setzungen – hier geht es ja um komplexe Sachverhalte –
nicht rechtzeitig an uns übermittelt worden sind.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir haben gemeinsam im Deutschen Bundestag am
14. Juni vergangenen Jahres beschlossen, darauf hinzu-
wirken, dass die Übersetzungen rechtzeitig kommen.
Das ist nicht nur eine Frage der notwendigen Sicherheit
in der Beurteilung von hochkomplexen Sachverhalten,
sondern sollte auch dem Respekt gegenüber der größten
Sprachfamilie in Europa mit 100 Millionen Deutsch
sprechenden Menschen geschuldet sein. Keine andere
Sprache wird in Europa von mehr Menschen gesprochen
als die deutsche Sprache. Deshalb soll die EU-Kommis-
sion auch wissen: Ohne deutsche Übersetzungen gibt es
keine Entscheidungen des deutschen Parlaments.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)







(A) (C)



(D)(B)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1722201600

Michael Roth ist der nächste Redner für die SPD-

Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Michael Roth (SPD):
Rede ID: ID1722201700

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Frau Bundeskanzlerin, ich weiß nicht, auf welchem
Kontinent oder auf welchem Stern Sie Verhandlungen
geführt haben. Aber mit der derzeitigen dramatischen
Lage in Europa hat das, was Sie in der Haushaltsplanung
für die nächsten Jahre verabredet haben, rein gar nichts
zu tun.


(Beifall bei der SPD)


Es gibt von Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, kein schlüssi-
ges Konzept, wie Wachstum und Beschäftigung in Zei-
ten einer schwächelnden Konjunktur und einer massiv
steigenden Arbeitslosigkeit endlich wieder auf Touren
kommen sollen.

Für mich gibt es zwei zentrale Fragen, die uns in die-
sem Hause gemeinsam bewegen sollten: Erstens. Wie
können wir die dramatische soziale Spaltung in Europa
überwinden? Zweitens. Wie kann dieser Haushalt den
größten Verlierern der Krise, nämlich den jungen Leuten
– nicht nur in Griechenland und in Spanien –, neue Hoff-
nungen auf eine bessere Zukunft geben?

Auf diese beiden Fragen geben Ihre Verhandlungser-
gebnisse null Antworten. Es ging wie immer um die
nationalen Interessen, und Europa ist wieder einmal als
orientalischer Basar oder als Spielkasino gebrandmarkt
worden. Sie haben das Haushaltsgeschacher auf dem
Rücken der jungen Generation ausgetragen. Herr
Cameron genießt weiterhin großzügig seinen Briten-
rabatt, und Frau Merkel – das hat Kollege Singhammer
eben noch einmal mit stolzgeschwellter Brust zum Aus-
druck gebracht – vertritt in Wahlkampfzeiten die Interes-
sen der Großbauernlobby. Ja, da waren Sie erfolgreich.
Aber das hat mit der Zukunft der Europäischen Union
rein gar nichts zu tun, liebe Kolleginnen und Kollegen!


(Beifall bei der SPD)


Wo sind anstelle von Wahlkampfgeschenken ausrei-
chend Mittel für die Krisenstaaten, für die sozialen
Brennpunkte, für den Kampf gegen die Massenarbeitslo-
sigkeit? Die Zahlen kann man gar nicht dramatisch ge-
nug beschreiben: 5,7 Millionen Jugendliche in Europa
sind ohne Arbeit, mehr als die Zahl der Einwohnerinnen
und Einwohner von Dänemark. In 13 Mitgliedstaaten
beträgt die Jugendarbeitslosenquote über 25 Prozent, in
Griechenland und in Spanien sind es fast 60 Prozent.

Die Agentur Eurofound hat kürzlich deutlich ge-
macht, dass uns die Jugendarbeitslosigkeit 2 Milliarden
Euro kostet – in der Woche. Was setzen Sie dagegen?
6 Milliarden Euro, die Sie im sozialen Bereich an ande-
ren Stellen gekürzt haben. Diese 6 Milliarden Euro sind
Ihre Antwort – 6 Milliarden Euro für sieben Jahre. Das
sind 0,6 Prozent des Gesamthaushalts und für jeden ar-
beitslosen Jugendlichen gerade einmal 150 Euro im Jahr.
150 Euro, das ist eine Monatskarte für den ÖPNV. Damit

wollen Sie eine Antwort auf die dramatische Massen-
jugendarbeitslosigkeit geben? Sie sollten sich für dieses
Verhandlungsergebnis schämen, liebe Frau Bundeskanz-
lerin!


(Beifall bei der SPD)


Dieser Haushaltsplan ist aber auch ein Wortbruch ge-
genüber dem Deutschen Bundestag.


(Joachim Spatz [FDP]: Was?)


Sie haben als Bundesregierung auf Drängen von SPD
und Grünen mit dem Bundestag einen Pakt für nachhal-
tiges Wachstum und Beschäftigung verabredet.


(Joachim Spatz [FDP]: Das machen wir doch!)


Dieser Pakt stellt klar – hier haben Sie eine Zusage gege-
ben, meine Damen und Herren von der Bundesregierung –:
Keine Kürzungen bei den Struktur-, Kohäsions- und So-
zialfonds. Wie sieht die Realität aus? Minus 30 Milliar-
den Euro gegenüber der derzeitigen Haushaltsplanung.
Das ist ein Wortbruch, den wir Ihnen nicht vergessen
werden, Frau Bundeskanzlerin.


(Beifall bei der SPD)


Sie betreiben eine Politik gegen die Parlamente: eine
Politik gegen das Europäische Parlament und eine Poli-
tik gegen diesen Deutschen Bundestag. Insofern ist dies
auch eine Frage der persönlichen Glaubwürdigkeit.
Wenn Vereinbarungen mit der Opposition nicht länger
eingehalten werden, dann darf sich die Bundesregierung
nicht wundern, wenn meine Fraktion bei künftigen eu-
ropapolitischen Entscheidungen besonders kritisch ab-
wägen wird, ob sie den Zusagen der Bundesregierung
vertrauen kann. Derzeit besteht dazu keinerlei Anlass.
Deshalb ist dieser Kompromiss ein Zeichen Ihrer
Schwäche; er ist eine Beleidigung für den Bundestag;


(Bettina Kudla [CDU/CSU]: So ein Quatsch!)


er ist eine Beleidigung für die arbeitslosen Jugendlichen,
aber kein Zeichen für die Zukunftsfähigkeit Europas.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1722201800

Das Wort erhält jetzt die Kollegin Bettina Kudla für

die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Bettina Kudla (CDU):
Rede ID: ID1722201900

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen

und Herren! Die Verhandlungen zum mehrjährigen Fi-
nanzrahmen 2014 bis 2020, kurz MFR genannt, konnten
nach einem rund eineinhalbjährigen Beratungsvorlauf
zum Abschluss gebracht werden. Das ist ein großer Er-
folg für die Bundesregierung und ein wichtiger Beitrag
zur Weiterentwicklung der europäischen Einigung. Rund
960 Milliarden Euro können in den nächsten sieben Jah-
ren in den 27 EU-Staaten für viele gute und wichtige In-
vestitionsprojekte, aber auch für viele kulturelle und so-
ziale Projekte ausgegeben werden. Der Bundeskanzlerin





Bettina Kudla


(A) (C)



(D)(B)


ist es gelungen, durch Abschluss der komplexen Verhand-
lungen rechtzeitig vor Beginn der neuen Finanzperiode
Planungssicherheit für die europäischen Regionen zu
schaffen. Dies ist für die öffentlichen Projekte wichtig,
ganz besonders für die europäischen.

Die Ergebnisse des Europäischen Rates zeigen eine
klare Linie der Bundesregierung, die sich auch durch die
einzelnen Ressorts zieht. Diese Linie der Bundesregie-
rung ist: die richtige Balance zwischen der Bereitstel-
lung umfangreicher Investitionsmittel und zugleich einer
Begrenzung der Ausgaben des Gesamthaushaltes halten.


(Beifall bei der CDU/CSU – Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Jawohl!)


Dies wurde mit dem MFR erreicht.

Die Bundesregierung sorgt für Nachhaltigkeit.
„Nachhaltig“ bedeutet hier, dass die Regionen in Eu-
ropa, die bisher eine Förderung erhalten haben und nun
über die 75-Prozent-Schwelle des durchschnittlichen
BIP der EU gelangt sind – ab 75 Prozent ist man norma-
lerweise keine Förderregion mehr –, in ihrer Entwick-
lung nicht wieder zurückfallen. Das ist gerade für Re-
gionen mit schrumpfender Bevölkerung wichtig. In
Deutschland sind besonders die neuen Bundesländer be-
troffen. Die Bundesregierung stärkt die neuen Bundes-
länder. Die bisherigen Förderregionen werden weiterhin
64 Prozent ihrer Förderung erhalten. Aber auch struktur-
schwache Grenzregionen, wie zum Beispiel an der
Grenze von Bayern zu Tschechien, werden gefördert.
Der Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP
vom November 2011 – schließlich dauerten die Ver-
handlungen fast eineinhalb Jahre –


(Beifall des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE LINKE])


forderte ein sogenanntes Sicherheitsnetz für die neuen
Bundesländer. Diese Forderung konnte erfolgreich um-
gesetzt werden. Aber auch aus den anderen wichtigen
Forderungen dieses Antrages sind nun konkrete Ergeb-
nisse geworden.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE], an die CDU/CSU gewandt: Jetzt klatscht doch mal! – Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Eigenerzeugung von Lebensmitteln in ausrei-
chender Menge ist ein wichtiger Faktor der europäischen
Stabilität.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE], an die CDU/ CSU gewandt: Traurig!)


Die Landwirtschaft wird weiterhin Mittel in annähernd
gleicher Höhe erhalten.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE], an die CDU/ CSU gewandt: Das ist ja luschig!)


Stabilität und Kontinuität für die Bauern in Europa sind
gegeben.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE], an die CDU/CSU gewandt: Beifall! – Gegenruf der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Die schlafen alle!)


Auch die Kohäsionsregionen in Europa können sich
freuen. Niedrige Kofinanzierungssätze bestehen weiter-
hin. Die wirtschaftliche Angleichung in Europa kann
also weiter voranschreiten.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE], an die CDU/ CSU gewandt: Beifall!)


Und um Investitionen in sogenannten Programmländern
zu fördern – gemeint sind die Staaten, die sich unter dem
europäischen Rettungsschirm befinden –, werden diese
Länder besondere Kofinanzierungssätze erhalten.

Die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit ist ein
weiterer Schwerpunkt des MFR.

Der Anteil der Ausgaben für Forschung und Entwick-
lung steigt von 9 auf immerhin 13 Prozent am Gesamt-
haushalt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Beifall des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE LINKE])


Zusammengefasst: Der MFR für die Jahre 2014 bis
2020 steht. Der MFR ist ausgewogen und zukunftswei-
send.


(Beifall des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE LINKE])


Der Ball liegt nun beim Europäischen Parlament. Das
Europäische Parlament muss dem MFR zustimmen, da-
mit dieser in Kraft treten kann. Das Europäische Parla-
ment hat Bedenken geäußert.


(Beifall des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE LINKE])


Diese Bedenken sind meines Erachtens nicht nachvoll-
ziehbar. Die Kritik des Präsidenten des Europäischen
Parlaments und auch die Kritik gerade eben von Jürgen
Trittin betreffen die Verpflichtungsermächtigen. Die Kritik
lautet, dass die geplanten Ausgaben von 960 Milliarden
Euro nicht durch entsprechende Einnahmen vollständig
gedeckt sind. Es klafft eine Lücke von 52 Milliarden
Euro.


(Beifall des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE LINKE])


Aber: Was bedeuten Verpflichtungsermächtigungen?
Verpflichtungsermächtigungen sind in öffentlichen Haus-
halten üblich und notwendig. Sie dienen dazu, dass die
öffentliche Hand kontinuierlich investieren kann. Die
Lücke bei den Verpflichtungsermächtigungen beträgt,
bezogen auf das Volumen, unter 1 Prozent jährlich. Dies
ist durchaus vertretbar und sichert eine kontinuierliche
Investitionstätigkeit. Mit dieser Kritik wird demnach ein
Popanz aufgebaut.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE LINKE])


Wir lehnen weiterhin die Einführung eines neuen Ei-
genmittelsystems ab. Keine neuen Belastungen für die
Bürger Europas durch neue Steuern!

Ich kann nur an das EP appellieren, die Beschlussfas-
sung zum MFR nicht länger hinauszuzögern. Dies verur-
sacht Verunsicherung und weitere Kosten, und das kann
sich die EU nicht leisten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)







(A) (C)



(D)(B)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1722202000

Frau Kollegin, Sie denken an die Zeit?


Bettina Kudla (CDU):
Rede ID: ID1722202100

Frau Bundeskanzlerin, vielen Dank für das gute Er-

gebnis der Verhandlungen beim Europäischen Rat. Dem
Außenminister und seiner Mannschaft, insbesondere
Staatsminister Link, gilt ebenfalls mein herzlicher Dank


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


für die intensive und erfolgreiche Tätigkeit im Zusam-
menhang mit der Aufstellung des mittelfristigen Finanz-
rahmens der EU.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1722202200

Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.


Bettina Kudla (CDU):
Rede ID: ID1722202300

Schließlich haben wir auch im Europaausschuss un-

zählige Gesprächsrunden zu diesem Thema absolviert.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1722202400

Herr Kollege Dehm, ich vermute, dass Ihre Selbstbe-

werbung als zeitweiliger Parlamentarischer Geschäfts-
führer der Unionsfraktion registriert worden ist.


(Heiterkeit)


Ich würde ihr trotzdem nur begrenzte Erfolgsaussichten
einräumen.

Jetzt hat jedenfalls der Kollege Alexander Ulrich für
die Fraktion Die Linke das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Alexander Ulrich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1722202500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In

der Europäischen Union herrscht Rekordarbeitslosigkeit,
die Armut wächst, wir haben kaum Wirtschaftswachs-
tum, und die Kanzlerin fährt nach Europa, diktiert einen
Sparhaushalt und will sich dafür auch noch im Bundes-
tag feiern lassen. Es ist gemessen an dem, was in Europa
passiert, eigentlich eine Katastrophe, dass der EU-Haus-
halt erstmals in der Geschichte reduziert wird.


(Beifall bei der LINKEN)


Man kann nur hoffen, dass das Europaparlament den
Haushalt ablehnt; die Linke im Europaparlament wird
das auf jeden Fall tun.


(Beifall bei der LINKEN)


Man kann sich nicht aus einer Krise heraussparen.
Das haben wir in Deutschland selbst vorgemacht, als wir
viele Milliarden Euro in die Hand genommen haben, um
gegen die Krise anzukämpfen. Wir sehen an den Nega-
tivbeispielen europäischer Länder wie Griechenland
oder Portugal, dass man über Sparhaushalte nicht mehr
Wachstum, weniger Arbeitslosigkeit und weniger Schul-
den erreicht hat, sondern das Gegenteil. Die Situation in
Griechenland hat sich deutlich verschärft. Das Signal,

das von diesem mehrjährigen Finanzrahmen ausgeht, ist:
Wir wollen das griechische Modell jetzt überall umset-
zen. – Das heißt, Europa wird noch stärker in die Krise
gewirtschaftet.

Die EU hat den Friedensnobelpreis bekommen; aber
der soziale Frieden steht auf der Kippe. Wenn die Bun-
desregierung und die Bundeskanzlerin hier nicht ge-
stoppt werden, dann wird die europäische Idee scheitern.


(Beifall bei der LINKEN)


Dramatisch ist, dass in dieser Situation auch noch bei
den Struktur- und Kohäsionsfonds gekürzt wird; denn
gerade darüber könnte man den betroffenen Regionen
helfen, gerade darüber könnte man in den strukturschwa-
chen Ländern tatsächlich Wachstum organisieren. Frau
Bundeskanzlerin, warum stellen Sie sich nicht hierhin
und sagen: „Jawohl, ich habe in Brüssel etwas entschie-
den, das auch auf Kosten der ostdeutschen Länder
geht“? Die Mittel für die ostdeutschen Länder werden
massiv, um mehrere Milliarden, zusammengestrichen.
Sie haben Ostdeutschland in Brüssel verraten.


(Beifall bei der LINKEN)


Deutschland ist nicht Lösung, sondern Mitverursa-
cher des Problems. Die riesigen Außenhandelsüber-
schüsse und das deutsche Lohndumping sind Mitverur-
sacher der Euro-Krise. Herr Brüderle, Sie haben sich
hier vielleicht für die heute-show morgen Abend bewor-
ben.


(Holger Krestel [FDP]: Sie werden ja nicht mal wahrgenommen!)


Aber bei dem, was Sie hier erzählen, nämlich man könne
Außenhandelsüberschüsse abbauen, indem man VW
oder BMW verbietet, Autos zu verkaufen, schaut jeder
Volkswirt beschämt auf den Boden. Solch einen Unsinn
kann man wirklich nur von der FDP erwarten.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Das war jetzt eher Aktuelle Kamera, oder? – Holger Krestel [FDP]: Den Satz hätte nicht einmal Karl-Eduard von Schnitzler gebracht!)


Man kann auch Außenhandelsüberschüsse abbauen, in-
dem man in Deutschland endlich für vernünftige Löhne,
einen Mindestlohn von 10 Euro, einen Hartz-IV-Regel-
satz von 500 Euro und kräftige Lohnerhöhungen in den
Tarifverträgen sorgt. Das wäre in Deutschland dringend
notwendig.


(Beifall bei der LINKEN)


Herr Steinbrück – er ist leider nicht mehr da; viel-
leicht hält er wieder irgendwo einen Vortrag –


(Sigmar Gabriel [SPD]: Ich sage es ihm nachher!)


hat sich hier ebenfalls für eine bessere Lohnpolitik aus-
gesprochen. Herr Gabriel, vielleicht können Sie das
Herrn Bullerjahn sagen, der Verhandlungsführer für die
Länder in den Tarifverhandlungen des öffentlichen
Dienstes ist: Wenn die SPD glaubwürdig für bessere
Löhne eintreten will, dann muss Herr Bullerjahn aufhö-





Alexander Ulrich


(A) (C)



(D)(B)


ren, im öffentlichen Dienst die Flanken anzugreifen. Wer
Tariferhöhungen unterhalb der Inflationsrate will, der tut
nichts für eine bessere Lohnentwicklung. Die SPD sollte
deshalb auch in den Ländern Flagge zeigen für eine bes-
sere Lohnpolitik und hier keine Sonntagsreden halten.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich komme zum Schluss mit einem Aufregerthema.
Die Menschen sind beunruhigt, weil die Europäische
Kommission den Wassermarkt privatisieren will. Über
1 Million Menschen haben jetzt das Bürgerbegehren
„Wasser ist Menschenrecht!“ unterschrieben. Das ist
eine tolle Idee. Wenn wir die Menschen wieder von Eu-
ropa begeistern wollen, muss die Privatisierung gestoppt
werden. Wir erwarten von der Bundesregierung, dass sie
die EU-Kommission stoppt. Wasser darf nicht privati-
siert werden, Wasser muss in kommunaler, öffentlicher
Hand bleiben.


(Beifall bei der LINKEN)


Das ist ein Menschenrecht. Die Linke unterstützt dieses
Bürgerbegehren.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1722202600

Vielen Dank, Kollege Alexander Ulrich. – Nächster

Redner für die Fraktion der CDU/CSU unsere Kollegin
Frau Veronika Bellmann. Bitte schön, Frau Kollegin
Bellmann.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Veronika Bellmann (CDU):
Rede ID: ID1722202700

Sehr geehrter Herr Präsident! Frau Bundeskanzlerin!

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir bespre-
chen heute die Ergebnisse des EU-Gipfels zum mittel-
fristigen Finanzrahmen der Europäischen Union. Fragt
man die Bürger nach Europa, nach Gipfeln, dann ant-
worten sie: Lasst uns in Frieden! Sie winken ab: Krise,
Rettungsschirme, Verschwendung, Streit. – All das
konnten wir mit diesem Gipfel widerlegen. Es gibt nicht
nur ein europäisches Satellitennavigationsprogramm mit
dem Namen Galileo. Es gibt auch einen Spruch von Ga-
lileo Galilei, der sagte: „Und sie bewegt sich doch!“ –
Man könnte hier sagen: Und sie bewegen sich doch;
denn der europäische Gipfel hat gezeigt, dass sich die
Staats- und Regierungschefs bewegt haben, bewegen
mussten, um Einigkeit zu erreichen. Das ist bei 27 euro-
päischen Mitgliedstaaten schon ein europäischer Mehr-
wert an sich.

Offenbar schärfen Krisenzeiten den Blick für politi-
sche Realitäten, für den Dreiklang aus Notwendigkeit,
Machbarkeit und Wünschenswertem. Ein weiterer Drei-
klang findet sich im mehrjährigen Finanzrahmen wieder.
Er ist, wie Ratspräsident Van Rompuy sagte, ein Haus-
halt der Zukunft, der Mäßigung und der Solidarität.

Lassen Sie mich den Bereich Zukunft ein wenig näher
beschreiben. Nicht umsonst ist er direkt der Teilrubrik 1 a
zugeordnet. Diese Teilrubrik beschreibt als oberste Prio-

rität die Ausgaben für Bildung, Forschung und Innova-
tion. Sie sollen deutlich angehoben werden; denn sie sind
wichtige Wachstumstreiber für Wettbewerbsfähigkeit
und Beschäftigung. In der gleichen Teilrubrik finden sich
nicht ohne Grund die Bereiche Verkehr, Energie und
Kommunikation; denn gezielte Investitionen in diese In-
frastrukturen führen zu dem, was Europa jetzt besonders
nötig hat, nämlich Wettbewerbsfähigkeit, Arbeitsplätze,
soziale Sicherheit, kurzum: Vertrauen in die Zukunft.


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Jawohl!)


Das brauchen die 500 Millionen Menschen, vor allen
Dingen die jugendlichen Europäer, damit sie auf dem
schönen alten Kontinent ein menschenwürdiges Leben
führen können.


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Genau!)


Das ist das A und O für ein wirtschaftlich erfolgreiches
Europa und die Teilhabe der Bürger an der Informations-
und Wissensgesellschaft.

Dafür wurde im mehrjährigen Finanzrahmen erstma-
lig die Einführung eines europäischen Finanzierungsins-
truments, Connecting Europe Facility genannt, verein-
bart. Die Europäische Kommission und der Rat legen
damit erstmals einen konkreten Plan vor, der Investitio-
nen von fast 30 Milliarden Euro vorsieht. Das sind – an
die Adresse von Herrn Steinbrück gerichtet – eben nicht
nur neue Mittel, sondern 50 Prozent mehr Ausgaben in
genau diesen Bereichen. Davon sollen Projekte finan-
ziert werden, mit denen die Lücken bei den europäischen
Verkehrs- und Energietrassen sowie den digitalen Net-
zen geschlossen werden können.

Ich zitiere selten den Präsidenten der Europäischen
Kommission Barroso, aber hier brachte er es auf den
Punkt:

Connecting Europe und die Projektanleiheninitia-
tive machen deutlich, welchen Mehrwert Europa
bewirken kann … Wir beseitigen Lücken in Euro-
pas Infrastrukturnetzen … Mit diesen Investitionen
schaffen wir Wachstum und Arbeitsplätze und ver-
einfachen gleichzeitig die Arbeits- und Reisebedin-
gungen für Millionen europäischer Bürger…


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Die Summe von 30 Milliarden Euro soll nach oben
offen sein. Was heißt das? Das Ziel dieser Fazilität ist es,
Projekte finanziell zu unterstützen, vor allem aber auch,
andere private und öffentliche Investitionen anzureizen,
zu mobilisieren; denn wir wissen, dass in diesen Berei-
chen ein Vielfaches der Gelder gebraucht wird, die jetzt
zur Verfügung stehen. Insofern ist die Finanzierungsfazi-
lität eine Art Investitionsanreizprogramm.

Klar ist, dass damit die Mitgliedstaaten weder ihrer
Planungs- noch ihrer Finanzierungshoheit enthoben wor-
den sind. Klar sollte aber auch sein, dass das Management
dieser Fördermittel und Anleihen durch das vorhandene
Personal der bereits bestehenden Exekutivagenturen und
der Europäischen Investitionsbank bewältigt werden
muss. Schließlich sollen die Mittel den Investitionspro-





Veronika Bellmann


(A) (C)



(D)(B)


grammen zugute kommen und nicht als Verwaltungskos-
ten verbucht werden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Der Ratsbeschluss zum mehrjährigen Finanzrahmen gibt
den europäischen Parlamenten insofern genügend Spiel-
raum, zum Beispiel für Ausgabenbegrenzungen.

Ich hoffe sehr, dass das Europäische Parlament weg-
kommt vom trotzigen Ablehnen dieses Vorschlags. Ein
gutes Programm zeichnet sich nicht durch Fortschrei-
bung des Status quo oder bloßes Draufsatteln aus, son-
dern durch eine intelligente Aus- und Aufgabenstruktur.
Das Europäische Parlament sollte sich genauso kompro-
missfähig zeigen wie der Europäische Rat und die Euro-
päische Kommission. Es sollte sich vernünftig auf den
Dreiklang verständigen: Zukunft, Mäßigung und Solida-
rität. Dann könnte man wieder mit Galileo Galilei sagen:
Und sie bewegen sich doch.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1722202800

Vielen Dank, Frau Kollegin Bellmann. – Nächster

Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist unser Kollege
Roderich Kiesewetter. Bitte schön, Kollege Roderich
Kiesewetter.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Roderich Kiesewetter (CDU):
Rede ID: ID1722202900

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir wollen
ein Europa des Zusammenhalts und ein Europa der wirt-
schaftlichen Wettbewerbsfähigkeit. Deshalb an dieser
Stelle noch einmal ein ganz herzlicher Dank an die Bun-
desregierung unter Führung unserer Kanzlerin.


(Zurufe von der SPD: Oh!)


Was sie in den harten Verhandlungen Anfang Februar er-
reicht hat, ist beispielhaft für das, was man tun muss, um
Zusammenhalt und Wettbewerbsfähigkeit zu erreichen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wir stehen in Europa vor erheblichen Herausforde-
rungen. Ich möchte drei nennen. Die erste Herausforde-
rung ist: Wie erhalten wir wirtschaftlichen Wohlstand?
Die zweite Herausforderung ist: Wie schaffen wir eine
gesicherte Energieversorgung innerhalb Europas? Drit-
tens: Wie treten wir als Europäer im Rahmen unseres
Programms „Europa in der Welt – Gemeinsame Außen-
und Sicherheitspolitik und Entwicklungszusammenar-
beit“ weltweit glaubwürdig auf? Darauf möchte ich mich
in den nächsten Minuten konzentrieren.

Es geht hier um einen sehr kleinen Ansatz innerhalb
des fast 1 Billion Euro umfassenden Haushalts. Es geht
um nicht einmal 60 Milliarden Euro, um knapp 6 Pro-
zent. Wenn wir die Gemeinsame Außen- und Sicher-

heitspolitik im Besonderen betrachten, dann sprechen
wir über gerade einmal 0,2 Prozent des EU-Haushalts.
Gestern haben wir hier im Bundestag – im Rahmen der
ersten Lesung über Anträge zu entsprechenden Bundes-
wehreinsätzen – über Mali gesprochen. Am Beispiel
Mali möchte ich deutlich machen, was europäische Au-
ßen- und Sicherheitspolitik bedeutet. Nie in der Ge-
schichte der EU war es so schnell möglich, eine Ausbil-
dungsmission im Rahmen der sicherheitspolitischen
Zusammenarbeit zu entwickeln. Deutschland beteiligt
sich daran auf Grundlage des einen Mandates mit insge-
samt bis zu 180 Soldaten. Zusammen mit dem Mandat
für den Einsatz unter afrikanischer Führung beteiligt sich
Deutschland mit insgesamt etwa 410 Soldaten. Darum
geht es mir aber nicht. Es geht mir darum, dass wir im
Rahmen der Europäischen Nachbarschaftspolitik im Sü-
den der Europäischen Union vor großen Herausforde-
rungen stehen.

Ich hatte unlängst Gelegenheit, wieder einmal in Li-
byen zu sein. Ich hatte auch Gelegenheit, mit dem Kolle-
gen Gloser von der SPD und unserem Bundestagspräsi-
denten in Marokko und Algerien zu sein. Hier stellen
sich Herausforderungen, wie wir mit diesen Regionen
umgehen, wie wir durch gute Nachbarschaftspolitik Zu-
sammenhalt erreichen, wie wir die verschiedenen Par-
teien an einen Tisch bekommen.

Zur Sicherheitspolitik gehört auch, dass wir innerhalb
der Europäischen Union Lehren aus bisherigen Einsät-
zen ziehen, zum Beispiel aus dem Einsatz in Afghani-
stan. Die Konfliktparteien müssen sehr früh an einem
Tisch zusammenkommen. Es geht darum, dass wir sehr
früh den regionalen Kontext betrachten. Gerade mit
Blick auf Algerien und Marokko muss man sehen: Mali
liegt nur eine Staatsgrenze weiter südlich von der Euro-
päischen Union.

In diesem Jahr wird die europäische Sicherheitsstrate-
gie zehn Jahre alt. Sie wurde zwar im Jahr 2007 überar-
beitet; allerdings fehlen Herausforderungen wie der
arabische Wandel, Cyberkriminalität und einige andere
Fragen. Es geht schlichtweg um vier Punkte, die wir
auch für Deutschland beantworten müssen:

Erstens. Was sind unsere Interessen, und wo nehmen
wir unsere Interessen wahr? Sicherlich ist es in unserem
Interesse, Frankreich zu unterstützen. Aber es ist auch in
unserem Interesse, uns im südlicher gelegenen Afrika
um die Herausforderungen zu kümmern und durch nicht-
militärische Mittel zu versuchen, bereits im Vorfeld der
Konflikte aktiv zu werden.

Zweitens. Nach den Interessen geht es um die Aufga-
ben. Welche Aufgaben wollen wir wahrnehmen, insbe-
sondere beim Zusammenbringen der verschiedenen
Konfliktparteien oder beim Aussöhnungsprozess? Das
ist ein ganz wichtiger Lehrpunkt aus Afghanistan.

Drittens. Mit welchen Instrumenten machen wir das?
Wir haben die Entwicklungszusammenarbeit. Wir haben
Krisenprävention. Wir haben auch eine ganze Reihe von
Unterausschüssen, die sich im Parlament damit beschäf-
tigen. Wir haben Streitkräfte, die reformiert werden. In-
zwischen gibt es in Deutschland mehr Polizisten als Sol-





Roderich Kiesewetter


(A) (C)



(D)(B)


daten. Aber unsere Soldaten müssen auch auf diese
Missionen hervorragend vorbereitet werden. Sie zählen
auch zu den sicherheitspolitischen Instrumenten unseres
Landes.

Viertens. Wir müssen uns natürlich auch um die Frage
kümmern, in welchen Regionen wir vertreten sind. Mit
welchen Partnern arbeiten wir? Sind wir Anlehnungs-
partner? Unterstützen wir innerhalb der Europäischen
Union die Kultur der Zurückhaltung militärischen Ein-
greifens, oder sind wir auch bereit, militärisch Flagge zu
zeigen und unsere Partner innerhalb der Europäischen
Union zu unterstützen?

Darüber müssen wir uns in Deutschland Gedanken
machen. Das wäre aber auch ein wesentlicher Beitrag
zur Fortentwicklung der europäischen Sicherheitsstrate-
gie. Wie gesagt: Es sind nur 6 Prozent des Haushalts;
aber es geht um die Glaubwürdigkeit Europas in der
Welt.

Lassen Sie uns gemeinsam am Zusammenhalt inner-
halb der Europäischen Union arbeiten und an einer
glaubwürdigen, wettbewerbsfähigen und auch einsatz-
bereiten Europäischen Union.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1722203000

Vielen Dank, Kollege Kiesewetter. – Liebe Kollegin-

nen und Kollegen, ich schließe die Aussprache.

Bevor wir zum nächsten Tagesordnungspunkt
kommen, kommen wir zur Abstimmung über den
Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Druck-
sache 17/12387. Wer stimmt für diesen Entschließungs-
antrag der Fraktion der SPD? – Das ist die Fraktion der
Sozialdemokraten. Gegenprobe! – Das sind die Koali-
tionsfraktionen und die Linksfraktion. Enthaltungen? –
Das ist die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Der Ent-
schließungsantrag ist somit abgelehnt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe die Tages-
ordnungspunkte 6 a bis 6 c auf:

a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Markus Kurth, Katrin Göring-Eckardt, Volker
Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Der 4. Armuts- und Reichtumsbericht

– Drucksache 17/11900 –

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus
Kurth, Katrin Göring-Eckardt, Kerstin Andreae,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Für eine sozio-kulturelle Existenzsicherung
ohne Lücken

– Drucksache 17/12389 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales

(11. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Hilde
Mattheis, Gabriele Hiller-Ohm, Anette
Kramme, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der SPD

Vorbereitung des 4. Armuts- und Reich-
tumsberichts der Bundesregierung in der
17. Wahlperiode – Armuts- und Reichtums-
berichterstattung weiterentwickeln

– zu dem Antrag der Abgeordneten Katja
Kipping, Diana Golze, Dr. Barbara Höll, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Armuts- und Reichtumsbericht zum Aus-
gangspunkt für Politikwechsel zur Herstel-
lung sozialer Gerechtigkeit machen

– Drucksachen 17/4552, 17/6389, 17/8508 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Ottmar Schreiner

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. – Sie
sind damit einverstanden. Dann haben wir das gemein-
sam so beschlossen.

Ich eröffne nun die Aussprache. Erste Rednerin in
unserer Aussprache ist für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen unsere Kollegin Katrin Göring-Eckardt. Bitte
schön, Frau Kollegin Göring-Eckardt, Sie haben das
Wort.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
haben diese Debatte auf die Tagesordnung gesetzt, weil
Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, die
Augen vor der Realität in diesem Land weiterhin
verschließen wollen und weil wir Ihr Verzögern und
Verschieben leid sind. Wir sind es leid, eine Spaltung der
Gesellschaft zu haben, die sich immer weiter vertieft,
während Sie noch nicht einmal bereit sind, sich mit dem
Armuts- und Reichtumsbericht zu beschäftigen. Seit
letztem Sommer verschieben Sie wieder und wieder die
Verabschiedung des Berichts – Diskussion gleich null.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo sind denn die Minister eigentlich?)


Es ist zugleich gravierend, dass Sie nicht einmal die
Kritik aus der Zivilgesellschaft, die Ihnen deutlich ge-
macht hat, worum es geht und was alles in diesem Be-
richt fehlt, auch nur im Mindesten zur Kenntnis oder
auch ernst nehmen. Egal ob es die Initiative für Woh-
nungslose ist, ob es die Caritas oder die Diakonie ist, alle
haben Ihnen ins Stammbuch geschrieben, dass Sie sich
endlich mit der Realität der Armut in diesem Land aus-
einandersetzen müssen. Sie tun nichts. Sie verschieben
und verzögern es. Es ist Ihnen noch nicht einmal eine





Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)


Kabinettsberatung wert, dass diese Gesellschaft gespal-
ten ist. Das werden wir nicht akzeptieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und hier wird geschwänzt! Unentschuldigt!)


Man kann es ganz einfach ausdrücken: Die Aussagen
des Berichts passen einfach nicht in Ihre Schönwetter-
strategie. Sie passen nicht in das neoliberale Weltbild der
FDP. Ich sage einmal, welche Sätze Sie streichen wollen
oder gestrichen haben: „Die Privatvermögen in Deutsch-
land sind sehr ungleich verteilt.“ Gestrichen. „Einkom-
mensspreizung … verletzt das Gerechtigkeitsempfinden
der Bevölkerung und kann den gesellschaftlichen Zu-
sammenhalt gefährden.“ Gestrichen.


(Holger Krestel [FDP]: Im Sozialismus haben alle nichts!)


Alleinstehenden mit Vollzeitjob reiche der Stundenlohn
nicht für eine Sicherung des Lebensunterhalts. – Gestri-
chen. Sie versuchen, die soziale Realität in diesem Land
durch Zensur zu verschleiern. Ich sage Ihnen klar: Wir
brauchen eine andere, eine soziale Politik.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Was ist denn die Realität? Ich fange einmal bei den
Niedriglöhnen an. Fast 8 Millionen Menschen in unse-
rem Land leben von Niedriglöhnen. Das sind übrigens
mehr Menschen, als in den vier größten deutschen Städ-
ten – Berlin, Hamburg, München und Köln – zusammen
wohnen. Die schieren Zahlen sind schon erschreckend.
Die Mehrheit der Bevölkerung, die Gewerkschaften, zu-
nehmend auch die Arbeitgeber und, ja, auch eine Mehr-
heit der Abgeordneten des Deutschen Bundestages sagen
klar und deutlich: Wir brauchen einen flächendeckenden
Mindestlohn.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Was machen Sie? Sie kündigen jetzt an, dass Sie viel-
leicht ein Gesetz machen wollen, in dem eine allgemeine
Lohnuntergrenze festgelegt wird.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Tariflicher Mindestlohn!)


Sogar die FDP erkennt jetzt plötzlich und unerwartet,
dass 3 oder 4 Euro vielleicht nichts mehr mit sozialer
Marktwirtschaft zu tun haben.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 4,50 Euro wahrscheinlich! – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das haben wir schon vor Ewigkeiten beschlossen!)


Ich sage Ihnen klar und deutlich: Ihr Versuch, den Druck
aus dem Kessel zu nehmen, wird scheitern; denn das,
was Sie hier bieten, hat nichts mit einem gesetzlichen
Mindestlohn zu tun. Es hat nichts mit einer wirklichen
Verbesserung der Situation zu tun. Es ist wieder das
Gegenteil; denn es hilft nicht. Es hilft nicht der Friseurin
in Sachsen-Anhalt, es hilft nicht der Floristin in Thürin-
gen und auch nicht der Bäckereiverkäuferin in Branden-

burg. Sie werden weiter zu Niedrigstlöhnen arbeiten. Ich
fordere Sie auf: Bekennen Sie endlich Farbe für den ge-
setzlichen Mindestlohn! Wir brauchen ihn dringend.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Ihr habt doch nur Angst, dass euch das letzte Thema auch noch ausgeht!)


Ich sage Ihnen: Wir werden im Bundesrat dafür sor-
gen, dass es einen entsprechenden Gesetzentwurf gibt.
8,50 Euro sind – das wissen wir alle – nur ein erster
Schritt,


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Die reichen nicht, um Armut zu verhindern!)


wenn es um menschenwürdige Löhne geht. Es freut uns
sehr, dass es Kolleginnen – mit kleinem i – in der Union
gibt, die deutlich machen, dass sie dem zustimmen. Ich
kann Sie nur warnen: Blockieren Sie hinterher mit Ihrer
Mehrheit im Bundestag nicht die Einführung eines ge-
setzlichen Mindestlohns! Er wird für die Gerechtigkeit
und den Zusammenhalt in unserem Land gebraucht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Holger Krestel [FDP]: Auf zum letzten Gefecht! – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Sie haben nur Angst, dass Ihnen Ihr letztes Thema auch noch abhanden kommt!)


– Es geht nicht um unser letztes Thema, Herr Kollege,


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Doch! – Gegenruf der Abg. Elke Ferner [SPD]: Es geht um Ihre letzte Wahlperiode!)


sondern um die Lebenssituation, die Realität von Millio-
nen von Beschäftigten in diesem Land. Diese Realität
ignorieren Sie weiterhin nach dem Motto: Uns geht das
nichts an. – Wir sagen: Das gehört auf die Tagesordnung,
und zwar ganz oben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Zur Realität „prekäre Beschäftigung“. Ich rede von
denen, die befristet arbeiten, in Teilzeit, in Leiharbeit,
die sich mit Honorarverträgen über Wasser halten.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Aber die Arbeit haben, und bei Ihnen waren sie arbeitslos!)


Das betrifft inzwischen ein Viertel aller Beschäftigten.
Hier geht es eben nicht mehr um den Einstieg in den Ar-
beitsmarkt – das war einst ganz vernünftig gedacht –,
sondern darum, dass inzwischen durch Minijobs immer
mehr reguläre Arbeitsplätze wegfallen. Hier geht es
darum, dass diese Leute bei den Karrierechancen hintan-
stehen, dass sie bei Weiterbildung, ja selbst beim Urlaub
und bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmer zweiter Klasse sind.
Das können wir nicht wollen. Deswegen müssen wir das
ändern.





Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir müssen endlich dafür sorgen – das hat nicht nur
der Fall Amazon gezeigt –, dass wir eine klare gesetz-
liche Regelung für einen flächendeckend gleichen Lohn
bekommen, der auch für Leiharbeiterinnen und Leihar-
beiter gilt.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Wir haben sie doch geschaffen!)


Sie können sich dem nicht weiter verweigern. Sie kön-
nen sich nicht hinstellen und sagen: Es ist uns egal, ob
die einen für gerechten Lohn arbeiten, während die an-
deren auch noch befürchten müssen, schon übermorgen
möglicherweise keinen Job mehr zu haben, weil ihr
Leiharbeitsverhältnis endet. – Sie können nicht wollen,
dass Lkw-Fahrer in Deutschland überhaupt nicht mehr
planen können, weil ganz schnell jemand in Leiharbeit
für sie einspringt, der ein Drittel weniger verdient und
ihnen den Job wegnimmt. Sie können nicht wollen, dass
wir mit Mobilität und Flexibilisierung auf dem Arbeits-
markt immer nur die Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
mer meinen, aber nicht die Arbeitgeber, die für bessere
Arbeitsbedingungen sorgen müssen. Hier muss der Staat
einspringen. Deswegen sagen wir ganz klar: Die Rege-
lungen zur Leiharbeit, die wir in Deutschland haben,
brauchen eine Veränderung, nämlich gleichen Lohn für
alle.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Zur Realität gehört natürlich auch die Ungleichheit.
Es ist immer noch so, dass Frauen fast ein Viertel weni-
ger verdienen als Männer. Sie bekommen 58 Prozent
weniger Rente. Aber Sie reden von Leistungsgerechtig-
keit.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ja! Unglaublich!)


Ich sage Ihnen ganz klar und deutlich: Lassen Sie den
Quatsch mit dem Betreuungsgeld! Es mag zwar Herrn
Seehofer helfen, Kitaplätze entstehen so aber nicht, und
Wahlfreiheit bleibt ein Fremdwort.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Wir sorgen doch gerade für Wahlfreiheit! Können Familien ihre Kinder denn nicht auch selbst erziehen?)


Deutschland ist hier in Europa so weit hinten, dass es
schon peinlich ist und man sich für diese Koalition
fremdschämen muss.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE] – Lachen bei der CDU/CSU und der FDP)


– Ja, so ist es. Lesen Sie nur einmal, was der Economist
gerade erst über die „Supermodels“ Schweden und
Norwegen geschrieben hat!


(Holger Krestel [FDP]: Ach, davon verstehen Sie doch nichts!)


Lesen Sie, was dort zum gesellschaftlichen Zusammen-
halt und zu Fortschrittsmöglichkeiten geschrieben steht!


(Holger Krestel [FDP]: Sind Sie sicher, dass das nicht die Bunte war?)


Lesen Sie, wie man dafür sorgen kann, dass Leistung in
einer Gesellschaft gerecht entlohnt wird, dass es Auf-
stiegschancen gibt und dass nicht diejenigen draußen
bleiben, die immer schon draußen gewesen sind!

Das ist übrigens auch ökonomisch total sinnlos. Mehr
Mädchen als Jungen machen Abitur, und mehr Frauen
als Männer erwerben einen Studienabschluss. Dennoch
sagen wir den Frauen: In einem Job brauchen wir euch
nicht.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Das sagt doch kein Mensch!)


So ist der Fachkräftemangel vorprogrammiert. Das hat
mit Ihrer Politik zu tun. Daher muss sie geändert werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Dr. Petra Sitte [DIE LINKE])


Da ich gerade beim Thema Bildung bin, möchte ich
klar sagen: Es ist und bleibt ein Skandal, dass die soziale
Herkunft, der Migrationshintergrund, der Bildungsstand
der Eltern und der Umstand, ob man alleinerziehend ist
oder behindert, über die Chancen im Leben entscheiden.
Wir leben quasi in einer blockierten Gesellschaft.
Schwarz auf weiß hat das Statistische Bundesamt dies in
dieser Woche bestätigt. Nur einer von zehn Gymnasias-
ten hat Eltern, die einen Hauptschulabschluss oder
keinen Schulabschluss haben. An den Hauptschulen ist
die Situation genau umgekehrt: Weit mehr als die Hälfte
der Schülerinnen und Schüler einer Hauptschule haben
Eltern, die einen Hauptschulabschluss oder gar keinen
Schulabschluss haben, während nur 12 Prozent von ih-
nen bei Eltern mit Abitur aufwachsen. Das zeigt doch
ganz klar: Das ursprüngliche Versprechen der sozialen
Marktwirtschaft: „Wenn du lernst und dich anstrengst,
dann schaffst du es auch“, gilt für 2,5 Millionen Kinder,
die in Armut leben, nicht mehr. Dass die Tochter einer
Anwältin studiert, ist normal, bei der Tochter einer Putz-
frau ist das eine Sensation. Arm bleibt arm, und ungebil-
det bleibt ungebildet – das ist die beschämende Realität.
Wir sagen: Das wollen wir ändern, und das können wir
auch ändern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Sie leisten sich stattdessen eine billige Debatte über
das Sitzenbleiben. Nein, es sind nicht nur ein paar
Promis, die jetzt dafür herhalten müssen, dass das nicht
schadet. Es sind diejenigen, die sich eh abgehängt füh-
len, denen wir sagen: Bleibt, wo ihr seid! Bleibt hocken,
wir brauchen euch nicht! – Das hat nichts mit Leistungs-
feindlichkeit zu tun. Das hat mit der Frage zu tun, ob wir
eigentlich die Talente aller Menschen erkennen oder nur
denen eine Chance geben wollen, die es sowieso schon
besser haben. Wir brauchen eine andere Bildungspolitik,
eine Bildungspolitik, die allen mit ihrem jeweiligen





Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)


Talent einen Aufstieg garantiert und bei der nicht die
Herkunft entscheidet, meine Damen und Herren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Zum Schluss will ich klar und deutlich sagen: Wenn
der Staat handlungsfähig werden soll, wenn es Chancen-
gleichheit wirklich geben soll, dann bedeutet das auch,
das Geld dafür bereitzustellen. Deswegen brauchen wir
den Dreiklang aus Haushaltskonsolidierung, Subven-
tionsabbau und, ja, auch Steuererhöhungen.

Der Armuts- und Reichtumsbericht macht deutlich:
Die starken Schultern können mehr tragen. Das werden
wir nach der Bundestagswahl berücksichtigen. Wir kön-
nen etwas ändern, und wir werden etwas ändern. Dafür
gibt es große Zustimmung in der Bevölkerung, die klar
und deutlich sagt: Diese Regierung hat bei der sozialen
Gerechtigkeit versagt, diese Regierung hat dabei versagt,
den Staat bei maroden Schulen handlungsfähig zu ma-
chen, diese Regierung hat dabei versagt, den Staat hand-
lungsfähig zu machen, wenn es darum geht, eine Infra-
struktur aufzubauen, die tatsächlich allen hilft.

Ich sagen Ihnen klar und deutlich: Ihre Politik nach
dem Motto „Wir verschließen die Augen vor der Reali-
tät“ führt dazu, dass Sie schön weiter träumen können.
Die Gesellschaft ist längst aufgewacht. Die Gesellschaft
ist längst auf einer anderen Schiene. Die Gesellschaft
sagt längst: Wir brauchen mehr Gerechtigkeit. Wir wol-
len mit den Schwächsten zusammenarbeiten, wir wollen
mit ihnen auf Augenhöhe lernen, wie sie die vielen Pro-
bleme, die sie jeden Tag haben, auch tatsächlich bewälti-
gen. Wir wollen gesellschaftlichen Zusammenhalt. Wir
wollen die Realität anschauen.

Träumen Sie weiter! Wir machen eine andere Politik,
ab 22. September.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1722203100

Vielen Dank, Frau Kollegin.

Zur Geschäftsordnung hat sich Kollege Volker Beck
gemeldet.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722203200

Ist es Wahnsinn, so hat es wenigstens Methode, wie

die Bundesregierung mit dem Armuts- und Reichtums-
bericht umgeht: Erst wird er getürkt,


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: „Getürkt“ ist unparlamentarisch!)


dann kommt Ihre Ministerin nicht. Wir meinen, dass die
beiden Minister, die meinen, Armut dadurch bekämpfen
zu können, dass sie diesen Bericht frisieren, sich wenigs-
tens diese Debatte antun müssen. Deshalb zitiere ich


(Holger Krestel [FDP]: Sie? Das können Sie gar nicht allein!)


die Bundesministerin für Arbeit und Soziales und den
Bundeswirtschaftsminister herbei.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1722203300

Für die Fraktion der CDU/CSU Kollege Michael

Grosse-Brömer.


Michael Grosse-Brömer (CDU):
Rede ID: ID1722203400

Sehr geehrter Herr Präsident! Es ist schon interessant,

dass der Kollege Beck jetzt schon persönlich Minister
herbeizitieren will.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Ich schlage vor, dass wir darüber nachdenken, ob es klug
ist, die Ministerin, die sich selbstverständlich in diesem
Gebäude befindet und gerade eine Besprechung hat
– wie es allen von uns schon häufiger gegangen ist in
wichtigen Debatten –, herbeizuzitieren. Wir können ihr
nebenan gerne Bescheid sagen, sie möge doch jetzt auf
der Regierungsbank Platz nehmen. Das wäre, wenn es
für Sie nachvollziehbar und verständlich ist, ein wesent-
lich eleganterer Weg.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was denn nun? Sollen sie hier sein oder nicht?)


Dann müssten Sie persönlich jetzt niemanden herbeizi-
tieren. – Die Ministerin hat soeben mit der Bundeskanz-
lerin – mehr Beachtung für dieses Thema geht gar
nicht – den Plenarsaal betreten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Caren Marks [SPD]: So lange reden, bis der Rösler kommt!)


Infolgedessen bin ich sehr froh, feststellen zu können,
dass die Aufgeregtheit des Kollegen Beck, die nicht völ-
lig neu ist, in diesem Fall völlig überflüssig und unnötig
ist.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1722203500

Vielen Dank. – Ich gehe davon aus, dass sich der An-

trag damit erledigt hat.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, nein! – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Bundeswirtschaftsminister fehlt noch! – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Rösler!)


Dazu noch einmal der Parlamentarische Geschäfts-
führer der CDU/CSU-Fraktion.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Reden Sie doch eine Viertelstunde; dann kommt er! – Caren Marks [SPD]: Vielleicht kann er auch den Rösler herbeireden!)







(A) (C)



(D)(B)



Michael Grosse-Brömer (CDU):
Rede ID: ID1722203600

Zum Bundeswirtschaftsminister ist festzustellen, dass

er vorhin noch hier gesessen hat.


(Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Auch bei ihm ist nicht auszuschließen, dass er zurzeit
Gespräche führt, die ihn davon abhalten, anwesend zu
sein. Infolgedessen halte ich es nicht für erforderlich,
den Bundeswirtschaftsminister herbeizuzitieren. Wenn
die bei diesem Thema federführende Ministerin – im
Übrigen: mit Staatssekretär – anwesend ist, bitte ich, ein-
mal darüber nachzudenken, was berechtigte Interessen
zum Punkt Anwesenheit sind und wann Schikane be-
ginnt.


(Beifall des Abg. Holger Krestel [FDP] – Holger Krestel [FDP]: Kasperletheater!)


Sie können notfalls auch noch die Bundesjustizministe-
rin herbeizitieren,


(Caren Marks [SPD]: Gute Idee! – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Oder den Erzbischof von Berlin!)


wenn Sie in diesem Reichtumsbericht eine entspre-
chende Passage finden. Ich glaube aber, wir tun gut da-
ran, hier einmal sachlich und nüchtern festzustellen: Die
fachlich zuständige Ministerin, die Ministerin, die feder-
führend ist, ist anwesend.


(Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Und die Bundeskanzlerin!)


Ich glaube, das muss reichen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Max Straubinger [CDU/CSU]: Die Bundeskanzlerin ist auch da!)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1722203700

Ich gehe davon aus, dass damit Einverständnis be-

steht.


(Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722203800

Ich gehe davon aus, dass ein Antrag, wenn er nicht

zurückgezogen ist, dann auch zur Abstimmung gestellt
wird. Der Antrag lautete, beide Minister herbeizuzitie-
ren. Bei Frau Ministerin von der Leyen hat sich dies
durch Anwesenheit erledigt. Das begrüße ich ausdrück-
lich. Ich begrüße Sie hier im Plenum des Deutschen
Bundestages, Frau Kollegin! Aber der Bundeswirt-
schaftsminister hat auf diesen Bericht durch Streichung
ganzer Passagen maßgeblich Einfluss genommen. Des-
halb bitte ich, einen Beschluss darüber zu fassen, ihn
herbeizuzitieren.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1722203900

Das Wort hat dazu für die Fraktion der FDP Kollege

Martin Lindner.


Dr. Martin Lindner (FDP):
Rede ID: ID1722204000

Ich bitte zu überlegen, ob wir jetzt hier Kasperlethea-

ter machen oder uns ernsthaft dieser Debatte widmen
wollen. Dass Sie Kasperletheater machen wollen, er-
kennt man daran, dass auf der Bundesratsbank kein ein-
ziger Ihrer Sozialminister sitzt. Sie verlangen hier die
komplette Anwesenheit der Bundesregierung, aber Ihre
eigenen Leute zeigen, dass Sie hier nichts als Kasperle-
theater aufführen wollen und es Ihnen nicht um die De-
batte geht, Sie sich bereits im Wahlkampf befinden und
nichts anderes im Sinne haben, als uns allen die Zeit zu
stehlen. Wir lehnen das ab.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Max Straubinger [CDU/CSU]: Steinbrück, Steinbrück! – Gegenruf der Abg. Elke Ferner [SPD]: Das können Sie ab Oktober machen!)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1722204100

Zur Geschäftsordnung spricht noch Kollege Sigmar

Gabriel.


Sigmar Gabriel (SPD):
Rede ID: ID1722204200

Herr Kollege, falls es Ihnen noch nicht aufgefallen ist:

Die Mitglieder der Landesregierungen gehören nicht der
Bundesregierung an, sie haben keinen Bericht gefälscht
und auch keine Aufträge zur Streichung gegeben. Des-
halb müssen sie nicht hier sein.

Hier geht es um die Ministerin, die aus unserer Sicht
einen durchaus akzeptablen Bericht vorgelegt hat, und
um die Einflüsse des Restes des Kabinetts, an der Spitze
der Wirtschaftsminister, der offensichtlich versucht hat,
diesen Bericht zu fälschen und Zensur auszuüben. Diese
Minister gehören in das Plenum des Deutschen Bundes-
tages, wenn der Bundestag Rechenschaft darüber haben
will, warum Berichte der Bundesregierung zensiert und
gefälscht werden sollen. Darum geht es.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1722204300

Wir kommen nun zu dem Antrag des Kollegen Volker

Beck für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Es geht
um die Abstimmung über den Antrag auf Herbeizitie-
rung des Wirtschaftsministers. Wer dafür ist, den bitte
ich um das Handzeichen. – Gegenprobe! –


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zweidrittelmehrheit!)


Man ist sich hier heroben nicht einig.


(Lachen bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Sigmar Gabriel [SPD]: Fragen Sie einmal die Kameraleute!)


Wir kommen daher zur Abstimmung über den Her-
beizitierungsantrag der Fraktion der Grünen durch Zäh-
lung der Stimmen.


(Sigmar Gabriel [SPD]: Ich wäre dafür, die Zuschauer zu fragen!)


Ich bitte Sie, den Saal zu verlassen. –





Vizepräsident Eduard Oswald


(A) (C)



(D)(B)



(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Präsident, wir würden gern abstimmen! – Zuruf von der FDP: Ihr wollt Kasperletheater, ihr bekommt Kasperletheater!)


Ich darf Sie noch einmal herzlich bitten, den Saal zu
verlassen. Das gilt bitte auch für die Regierungsbank.

Sind die Türen mit Schriftführern besetzt? – Noch
nicht. Wenn die Schriftführer an den Türen stehen, bitte
ich Sie, mir das zu signalisieren. – Nachdem jetzt alle
Schriftführer an den Türen stehen, ist die Abstimmung
eröffnet.

Kann ich einmal ein Signal erhalten, wie weit man an
den Türen ist? Dann müsste jemand nach vorne kommen
und uns sagen, wie der Stand ist.

Die Abstimmung ist geschlossen. Ich bitte die Schrift-
führerinnen und Schriftführer, uns das Ergebnis bekannt
zu geben. Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, wie-
der Platz zu nehmen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich gebe das von
den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Er-
gebnis der Abstimmung bekannt: Mit Ja haben gestimmt
166 Abgeordnete, mit Nein haben gestimmt 239 Abge-
ordnete,


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Enthaltungen keine. Der Antrag ist somit abgelehnt.

Trotzdem begrüße ich den Herrn Bundeswirtschafts-
minister herzlich unter uns!


(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo ist Frau von der Leyen?)


– Sie war vorhin schon da.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber jetzt?)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich würde jetzt
trotzdem herzlich bitten, dass Sie Platz nehmen, damit
wir in der Reihenfolge unserer Rednerinnen und Redner
weitermachen können. Das Thema ist so interessant,
wichtig und spannend, dass alle dableiben dürfen.


(Markus Grübel [CDU/CSU]: Wir zitieren den Abgeordneten Beck!)


Nächster Redner in unserer Debatte – ich bitte um
Aufmerksamkeit – ist für die Fraktion der CDU/CSU un-
ser Kollege Dr. Matthias Zimmer. Bitte schön, Kollege
Dr. Zimmer.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Matthias Zimmer (CDU):
Rede ID: ID1722204400

Danke schön, Herr Präsident. – Meine Damen und

Herren, nach diesem Intermezzo körperlicher Ertüchti-
gung, das wir dem Kollegen Beck verdanken –


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Er ist schon wieder weg! – Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Der Beck ist gerade weggelaufen!)


wir kommen relativ wenig dazu, uns körperlich zu bewe-
gen; insofern bin ich dafür dankbar –


(Unruhe)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1722204500

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich darf noch ein-

mal bitten, dem Redner Respekt entgegenzubringen und
zuzuhören. – Bitte schön, Dr. Zimmer. Sie haben das
Wort.


Dr. Matthias Zimmer (CDU):
Rede ID: ID1722204600

– danke schön, Herr Präsident –, wäre es mir ein An-

liegen gewesen, mich bei dem Kollegen Beck zu bedan-
ken, aber ich sehe, er hat die Debatte verlassen. Das
finde ich ausgesprochen schade.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Zuruf von der CDU/CSU: Ungeheuerlich!)


Zumindest eines darf man aber nicht unwiderspro-
chen stehen lassen: Lieber Herr Gabriel, Sie haben eben,
bevor der Hammelsprung angesetzt wurde, behauptet,
die Bundesregierung habe einen Bericht zensiert.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Die FDP war es! Richtig! – Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Das ist auch so!)


Das ist natürlich Unfug. Sie hat einen Bericht in die Res-
sortabstimmung gegeben.


(Lachen bei der SPD)


Sie wissen ganz genau, wie so etwas funktioniert:


(Zuruf von der SPD: Nein, hat es bei uns nie gegeben! – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Das war bei denen anders!)


Erst nach der Ressortabstimmung kann überhaupt ein
Bericht der Bundesregierung vorliegen. Aber es ist na-
türlich einfacher, die Menschen hinter die Fichte zu füh-
ren, wie Sie das getan haben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Nee, nee, nee!)


Meine Damen und Herren, ich freue mich darauf,
wenn der Bericht endlich der Öffentlichkeit vorgelegt
werden wird; denn er wird zeigen, dass es den Menschen
in der Bundesrepublik gut geht, dass sie nicht massen-
weise von Verelendung betroffen sind,


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Ja!)


wie es die Opposition behauptet. Diese Verelendung
wollen Sie herbeireden. Es ist Wahlkampf. Richtig aber
ist: Die sozialen Spannungen in Deutschland sind unter
Rot-Grün gestiegen, unter der Regierung Merkel wurden
sie deutlich abgebaut.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: So ist das!)






Dr. Matthias Zimmer


(A) (C)



(D)(B)


Lassen Sie uns einen Blick in die Zahlen werfen! Das
Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat berechnet:
Die Armutsgefahr hat in Deutschland zwischen 1999 und
2004 deutlich zugenommen, seither nicht mehr. Im Ge-
genteil, die Einkommensschere hat sich wieder geschlos-
sen.


(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)


Das zeigt: Wo Rot-Grün regiert, geht es den Menschen
schlecht.


(Widerspruch bei der SPD)


Unter der Kanzlerschaft von Angela Merkel geht es den
Menschen besser.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Elke Ferner [SPD]: Den Redenschreiber sollten Sie entlassen!)


Ich bin mir sicher: Der Armuts- und Reichtumsbericht
wird genau das auch bestätigen, und deswegen ist es an
der Zeit, ihn zu veröffentlichen.

Nun höre ich häufig, die Armutsgefährdung in
Deutschland steige. Fast 16 Prozent der Haushalte seien
davon betroffen. Armutsgefährdet ist, wer über weniger
als 60 Prozent des gewichteten Nettoeinkommens ver-
fügt. Das ist eine häufig vorgenommene Definition der
EU.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist europaweit anerkannt, Herr Kollege!)


Das ist aber lediglich eine statistische Größe, lieber Herr
Birkwald, und sagt über die Lebenslage der Menschen
nichts aus. Sie ist zudem unsinnig.


(Anette Kramme [SPD]: Trau keiner Statistik, die du nicht selber gefälscht hast!)


Wenn in einer Gesellschaft wie Nordkorea alle Men-
schen hungern, ist gleichzeitig statistisch betrachtet kei-
ner armutsgefährdet. Es hungern ja alle gleich, und we-
niger als 60 Prozent des gewichteten Nettoeinkommens
hat keiner.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Widerspruch bei der LINKEN)


Oder nehmen wir ein anderes Beispiel: Wenn ein
Land wie Irland durch die Bankenkrise in eine gefährli-
che gesamtwirtschaftliche Schieflage kommt, kann das
am Ende bedeuten, dass in der Krise weniger Menschen
arm oder armutsgefährdet sind als in den Boomjahren.
Das Medianeinkommen ist ja schließlich deutlich gesun-
ken. Das zeigt, diese Begrifflichkeit taugt allenfalls zu
politischer Propaganda, als Messinstrument sinnvoll ist
sie nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Komplett falsch!)


Das gilt im Übrigen auch für den Begriff des Reich-
tums. Statistisch gesehen ist derjenige reich, der über
200 Prozent des gewichteten Medianeinkommens ver-
fügt. Demnach wäre jemand mit 952 Euro und weniger
im Monat armutsgefährdet, und reich wäre jemand ab ei-

nem Nettoeinkommen von 3 250 Euro. Also, zwischen
armutsgefährdet und reich liegen – statistisch gesehen –
gerade einmal 2 200 Euro an Nettoeinkommen. Das ist
aus meiner Sicht ziemlich absurd. Es ist von der Begriff-
lichkeit her kontraintuitiv,


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: „Kontraintuitiv“! Ein schönes Wort!)


weil es die landläufigen Meinungen darüber, was arm
und reich ist, vollkommen infrage stellt.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Was ist denn Ihre Meinung?)


Um es auf die Spitze zu bringen: Ein Student vor dem
Abschluss des Studiums gilt in der Regel als armutsge-
fährdet oder arm. Mit seinem ersten Job kann er dann
von einem Tag auf den anderen plötzlich reich werden.
So schnell ändern sich die Lebenslagen, und das ist
schon abenteuerlich: Arbeit kann zur Reichtumsgefähr-
dung führen. – Bei Ihnen natürlich nicht, bei Ihnen wird
ja der Reichtum sofort wieder besteuert.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Sigmar Gabriel [SPD]: Ihre Rede ist aber auch kontraintuitiv! – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Aber nicht bei dem Nettoeinkommen! Da muss man schon mehr als 6 500 Euro haben!)


– Lieber Kollege Birkwald, wenn Sie an der Macht wä-
ren, dann brauchten wir nur einen Armutsbericht, keinen
Reichtumsbericht.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ha, ha! Da träumen Sie nachts von!)


Meine Damen und Herren, vielleicht ist es aber sinn-
voll, sich andere Zahlen anzuschauen. Damit meine ich
den sogenannten Gini-Koeffizienten, der das Maß an
Ungleichverteilung in einer Gesellschaft untersucht. Die
Werte reichen von 0 bis 1, wobei 0 die Gleichverteilung
bedeutet und 1 die größtmögliche Ungleichverteilung,
also eine Person das komplette Vermögen oder Einkom-
men erhält.

Nun geistert seit dem Buch von Richard Wilkinson
und Kate Pickett mit dem deutschen Titel Gleichheit ist
Glück die einigermaßen eigentümliche Vorstellung
durch die Medien und durch die politische Debatte, dass
eine Gesellschaft dann gerechter sei, wenn sie möglichst
alles gleichmacht.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Gutes Buch!)


Ich stehe auf dem etwas altmodischen Standpunkt,


(Katja Kipping [DIE LINKE]: Dass die Reichen immer reicher werden sollen!)


dass neben der Verteilungsgerechtigkeit auch die Leis-
tungsgerechtigkeit berücksichtigt werden muss, aber las-
sen wir das einmal für einen Augenblick beiseite.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)






Dr. Matthias Zimmer


(A) (C)



(D)(B)


Für Deutschland zeigt sich zunächst einmal, dass die
Ungleichheit, gemessen am Gini-Koeffizienten, seit 2007
rückläufig ist, während sie von 2000 bis 2005 zugenom-
men hat. Das betrifft die Nettoäquivalenzeinkommen auf
Haushaltsebene, also alle Einkommensarten. Etwas an-
ders sieht es bei der Vermögensverteilung aus. Hier sind
nach den letzten Zahlen von 2008 die Privatvermögen
im Zeitraum von 1998 bis 2008 im obersten Dezil ge-
stiegen. Allerdings sind in den Renten- und Pensionskas-
sen angehäufte Ansprüche – anders als die Kapitalle-
bensversicherungen – nicht berücksichtigt. Bezieht man
diese sogenannten Sozialvermögen in Höhe von etwa
5 Billionen Euro in die Vermögensrechnung ein, entsteht
auch hier ein erheblich gleichmäßigeres Bild hinsichtlich
der Vermögensverteilung.

Meine Damen und Herren, ich habe den Eindruck:
Die ganze Debatte wird ohnehin zu sehr mit Blick auf le-
diglich materielle Faktoren geführt. Menschen können
sich durchaus bei genügender materieller Grundausstat-
tung als arm empfinden, wenn sie sozial vereinsamt sind,
wenige oder keine personalen Netzwerke haben, wenn
sie von Krankheiten geplagt sind oder sich in trostlosen
Lebenslagen befinden. Umgekehrt können Menschen
sich auch trotz geringer materieller Mittel ihr Leben als
reich und glücklich vorstellen. Wohlstand und Lebens-
qualität sind keine ausschließlichen Funktionen des Ein-
kommens. Dahinter steht auch die Frage nach einem gu-
ten Leben, einem gelingenden Leben. Dafür ist die
materielle Ausstattung ein Faktor, aber für viele Men-
schen sicherlich nicht der wichtigste. Darüber führen wir
gerade eine spannende Debatte in der Enquete-Kommis-
sion „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“.

Das ist vielleicht auch der Grund, warum wir es unter-
lassen sollten, uns künstlich arm zu reden, Frau Göring-
Eckardt, wie Sie das heute getan haben.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das hat sie nicht getan!)


Armut ist ein relativer Begriff, zum einen relativ zu dem
Einkommen oder Vermögen anderer, aber auch relativ zu
anderen uns wichtigen Lebenschancen. Vieles davon
können wir messen, vieles nicht. Den Menschen und
seine Lebenschancen lediglich auf die materiellen Mög-
lichkeiten zu reduzieren, erscheint mir falsch. Unsere
Gesellschaft als eine zu denunzieren, in der Armut zu-
nimmt, ist schief und falsch.


(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Alles ist toll!)


Es ist etwas, was Jonathan Swift einmal als eine politi-
sche Lüge bezeichnet hat. Sie müsse, so Swift,

nur eine Stunde lang geglaubt werden …, um ihr
Werk zu tun; sie hat dann keinen Sinn mehr. Die
Falschheit fliegt, und die Wahrheit kommt hinter-
hergehinkt.

So ist es auch mit der Falschheit der Behauptung, in
Deutschland nehme die Armut zu. Zunehmen tut ledig-
lich der Druck der Oppositionsparteien, ein Thema zu
finden.

Ich bin zuversichtlich. Sobald der Armuts- und Reich-
tumsbericht veröffentlicht ist,


(Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wann denn?)


können sich die Menschen selbst ein Bild machen und
feststellen: Deutschland geht es gut, den Menschen hier
geht es gut, und das hat viel mit der von der Union ge-
führten Bundesregierung zu tun.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Ha, ha!)


Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Nur der Opposition geht es schlecht!)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1722204700

Vielen Dank, Kollege Dr. Zimmer. – Nächster Redner

für die Fraktion der Sozialdemokraten ist unser Kollege
Sigmar Gabriel. Bitte schön, Kollege Sigmar Gabriel.


(Beifall bei der SPD)



Sigmar Gabriel (SPD):
Rede ID: ID1722204800

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr

Zimmer, die Opposition musste ja gar kein Thema su-
chen. Ihre Ministerin Frau von der Leyen hat einen Ent-
wurf zum Armuts- und Reichtumsbericht vorgelegt. In
ihm steht alles, worüber Frau Göring-Eckardt und ich
sowie andere Abgeordnete reden wollen. Aber Sie haben
diesen dann kassiert und Streichungen vorgenommen.


(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Ich habe gar nichts kassiert!)


– Jedenfalls Ihre Regierung hat das getan. Noch habe ich
den Eindruck, dass Sie sich mit Ihrer Regierung identifi-
zieren.


(Beifall bei der SPD)


Wenn ich Ihnen schon zu nahe trete, wenn ich Sie mit Ih-
rer Regierung identifiziere, könnte ich das verstehen.
Aber so weit sind Sie, glaube ich, noch nicht.

Wir reden also nicht über etwas, das wir erfunden ha-
ben, sondern über etwas, das Ihre Ministerin der Öffent-
lichkeit geben wollte. Aber dann hat sich der Rest Ihrer
Regierung verschworen, das nicht zu tun.

Jetzt reden wir einmal nicht über Statistiken, sondern
über ein paar Lebenssachverhalte; denn das, was die
meisten Menschen an der Politik nervt, ist ihr Eindruck,
wir hätten überhaupt keine Ahnung mehr davon, wie es
im Alltag der Menschen aussieht. Deswegen, meine ich,
sollten wir einmal darüber reden.

Herr Kollege, 6 Millionen Menschen gehen in Deutsch-
land für weniger als 8 Euro in der Stunde arbeiten. Die
Übersetzung lautet: Wer Vollzeit arbeitet, hat am Ende
des Monats nicht einmal das, was jemand bekommt, der
gar nicht arbeiten geht. Wissen Sie, wenn Sie über Lohn-
untergrenzen reden und das verhandeln wollen – die CDU
schlägt jetzt so etwas vor, die FDP will nicht einmal das –,
dann verstehen Sie nicht, worum es bei diesem Thema
geht. Es geht – darin haben Sie recht – nicht nur um die
Höhe des Lohns, sondern auch um den Wert und die
Würde von Arbeit.





Sigmar Gabriel


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es kann nicht wahr sein, dass Menschen hart arbeiten
und am Ende des Monats so wenig haben, dass sie beim
Sozialamt betteln gehen müssen.


(Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Unglaublich! Das ist doch gesetzlicher Anspruch!)


Das wollen wir nicht mehr in Deutschland. Darum geht
es bei dieser Debatte.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Aber das machen Sie doch nicht, Herr Kollege. Sie
schlagen Lohnuntergrenzen vor, die Sie irgendwie ver-
handeln wollen. Da gibt es nichts zu verhandeln. Dieser
Mindestlohn liegt heute bei 8,50 Euro, und er wird in
den nächsten Jahren steigen müssen. Mit jedem Cent,
den Sie diesen unterbieten, schicken Sie die Leute trotz
Vollzeitarbeit zum Betteln beim Sozialamt. Das wollen
Sie. Wir wollen das nicht. Ich finde, wir müssen in die-
sem Haus einmal festhalten, dass es da Unterschiede
zwischen uns gibt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Matthias Zimmer [CDU/ CSU]: Sozial ist, was Arbeit schafft!)


– Nein, Herr Kollege, sozial ist nicht, was Arbeit schafft.
Sozial ist vielmehr das, was Arbeit schafft, von der man
leben kann. Darum soll es in Deutschland wieder gehen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Sozial ist, was Würde schafft!)


25 Prozent der Beschäftigten in Deutschland arbeiten
in sogenannten prekären Beschäftigungsverhältnissen:
Leiharbeit, Zeitarbeit, Werkverträge, Praktika. Jeder
zweite neu zu besetzende Arbeitsplatz ist befristet. – Ich
kann die Sonntagsreden, warum wir in Deutschland zu
wenig Kinder haben, nicht mehr hören. Wir können das
Kindergeld noch x-fach erhöhen; aber wenn junge Leute
nach Fleiß in Ausbildung und Studium nicht einmal ei-
nen festen Arbeitsplatz kriegen, dann werden wir nicht
mehr Kinder in Deutschland haben. Deswegen müssen
wir wieder dazu kommen, dass es feste Arbeitsverhält-
nisse für gut Ausgebildete in Deutschland gibt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Frauen – darauf hat Frau Göring-Eckardt schon hin-
gewiesen – erhalten bei gleicher Arbeit fast ein Viertel
weniger als Männer.

Arm trotz Arbeit, Herr Kollege, das ist ein zentrales
Problem für unser Land; denn die Bundesrepublik
Deutschland ist nicht wirtschaftlich stark und sozial si-
cher geworden, weil die soziale Kluft sich vergrößert
hat, sondern weil sich Arbeit und Anstrengung für die
Menschen – jedenfalls früher, in der Vergangenheit – ge-
lohnt haben. Dies gilt heute nicht mehr. Deswegen haben

wir in Ihrem Bericht und in vielen anderen erschre-
ckende Zahlen gefunden:

12 Millionen Menschen in Deutschland leben an oder
unter der Armutsgrenze.

Mitten in Deutschland stehen täglich 1,5 Millionen
Menschen für altes Brot Schlange, weil sie sich frisches
nicht einmal mehr in den Discountläden leisten können.

2,4 Millionen Kinder sind armutsgefährdet, weil ihre
Eltern, obwohl sie arbeiten, kein anständiges Einkom-
men haben.

Wir reden in Deutschland nicht nur über Altersarmut.
Wir reden auch über Jugendarmut, Familienarmut, die
Armut der Alleinerziehenden, die Armut der Menschen,
die fleißig arbeiten und trotzdem keinen anständigen
Lohn bekommen. Das alles, Herr Kollege Zimmer, wol-
len Sie der Öffentlichkeit verschweigen. Das ist kein
Wunder; denn einen solch dramatischen Befund gab es
in der Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik noch
nicht.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist Quatsch!)


Früher galt in unserem Land: Fleiß und Anstrengung
lohnen sich. Heute führt nicht Leistung zum Aufstieg,
sondern Beziehungen, Herkunft, Vermögen, im Zweifel
Erbschaften. Deutschlands Nachkriegsgeschichte war
gekennzeichnet von dem Versuch, die sozialen Differen-
zen abzubauen. „Wohlstand für alle“ war das Credo der
sozialen Marktwirtschaft. Heute ist nach den Befunden
des von Frau von der Leyen vorgelegten Entwurfs eher
„Reichtum für wenige“ das Credo unserer Wirtschaft.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Das ist doch eine Verzerrung!)


Herr Kollege Zimmer, nicht wir Sozialdemokraten,
nicht die Grünen, nicht die Linken reden über Ungleich-
verteilung im Land, sondern der Bericht Ihrer Ministerin
tut das. Ich zitiere einmal:

Die Privatvermögen in Deutschland sind sehr un-
gleich verteilt.

Etwas später heißt es: Das „verletzt das Gerechtigkeits-
empfinden der Bevölkerung“.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Das ist doch nicht Propaganda der Linkspartei; vielmehr
ist das ein wörtliches Zitat von Frau von der Leyen, das
Sie aus dem Bericht streichen wollen. Darum geht es
hier in Deutschland.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir müssen die großen Vermögen stärker einbezie-
hen und für mehr Gerechtigkeit in Deutschland
sorgen.

Nun raten Sie einmal, woher das stammt! – Aus
„Lebenslagen in Deutschland“, dem von Ihrer Ministerin
vorgelegten Entwurf des 4. Armuts- und Reichtums-
berichts. Tun Sie doch nicht so, als hätten wir uns das





Sigmar Gabriel


(A) (C)



(D)(B)


ausgedacht. Vielmehr hatten Sie ausnahmsweise eine
mutige Frau in Ihrer Regierung, die Sie mundtot
gemacht haben. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik in
Deutschland.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Als wären die Zustände selbst nicht schlimm genug,
verstehen Sie, Herr Kollege Zimmer, offensichtlich
nicht, warum das, was Sie da in der Regierung gemacht
haben, die Öffentlichkeit so sehr ärgert. Da erklärt Ihr
Vizekanzler von der FDP, er halte diesen ganzen Bericht
von Frau von der Leyen für Unsinn und wolle ihn erst
einmal – wie haben Sie das so schön gesagt? – „in die
Ressortabstimmung geben“.


(Lachen bei der SPD)


Die Kanzlerin assistiert ihm brav – ich zitiere –:

Jetzt wird dieser Bericht … abgestimmt in der
Bundesregierung – da ist noch nicht einmal die
erste Runde gelaufen. Und dann werden wir das im
November

– das ist auch schon vorbei –


(Elke Ferner [SPD]: Was haben wir jetzt?)


im Kabinett beraten. Und ich bin ganz optimistisch,
dass wir dann einen gemeinsamen Standpunkt
haben.

Sie verstehen gar nicht, worum es bei diesem Bericht
geht. Der Bericht fordert nicht einen gemeinsamen
Standpunkt von Ihnen, und die Wirklichkeit kann man
nicht „ressortabstimmen“. Der Bericht soll vielmehr
sagen, was in Deutschland los ist.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Es geht um die Wirklichkeit; die wollte Frau von der
Leyen schildern, und die haben Sie jetzt versucht zu
fälschen. Genau dieser Fälschungsversuch wird Ihnen
öffentlich vorgehalten, aber doch nicht von uns: Der
renommierteste Sozialhistoriker unseres Landes, Hans-
Ulrich Wehler, wirft Ihnen eine klare Täuschungsabsicht
vor. Herr Kollege Zimmer, ich habe vorhin zitiert, und
ich zitiere jetzt Professor Wehler. Er spricht wörtlich von
einem „Bubenstück“ und von einer „Verstümmelung“
des neuen Armuts- und Reichtumsberichts. Er wirft der
Bundesregierung – übrigens bis heute unwidersprochen;
die wehren sich noch nicht einmal gegen das, was ihnen
öffentlich vorgeworfen wird – vor:

Getäuscht wird am Ende der mündige Staatsbürger,
dem man eine ehrliche Debatte offenbar nicht zu-
muten möchte.

Die Süddeutsche Zeitung stellt zu Ihrem Vorgehen fest:
„Verwässert und verschleiert: Die Bundesregierung hat
… bewusst geschönt.“ Und der Herausgeber der FAZ,
Herr Schirrmacher, wie ich vermute, kein Sozialdemo-
krat, wirft Ihnen in seinem aktuellen Buch vor, Sie
betrieben „Umetikettierung“.

Sie in der Bundesregierung scheinen gar nicht zu
merken, dass es nicht nur um Ihre Blindheit gegenüber
der sozialen Lage geht. Um die geht es auch; das wäre
für sich genommen schlimm, aber für die meisten auf
unserer Seite des Hauses keine Überraschung. Vielmehr
geht es hier vor allem auch darum, dass Sie, die Sie sich
selbst eine bürgerlich-liberale Koalition nennen, einen
der wichtigsten Werte einer bürgerlichen Demokratie
mit Füßen treten, und zwar den Wert der Wahrhaftigkeit.
Dass Sie diesen Wert mit Füßen treten, macht man Ihnen
öffentlich zum Vorwurf.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wissen Sie, wenn Sie in der CDU/CSU und in der
FDP der Meinung sind, es gäbe in Deutschland keine so-
zialen Probleme, dann ist dies zwar falsch, aber Ihr gutes
Recht. Was aber nicht geht, ist, dass Sie die Ihnen zu-
gänglichen Informationen über die soziale Lage in
Deutschland vor der Öffentlichkeit geheim halten. Ich
zitiere noch einmal Herrn Wehler, der zu Recht sagt,
dass die Bundesregierung „dem Staatsbürger fundamen-
tal wichtige Informationen kaltblütig vorenthält“.

Vieles dürfen eine Bundesregierung und eine parla-
mentarische Mehrheit im Deutschen Bundestag tun; aber
sie dürfen nicht, meine Damen und Herren, die Staats-
bürgerinnen und Staatsbürger dieses Landes entmündi-
gen. Genau dies versuchen Sie aber gerade.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Bislang war es übrigens eher in totalitären Staaten
üblich, dass die Wirklichkeit gefälscht wurde,


(Zuruf von der SPD: Damit kennt Frau Merkel sich ja aus!)


Statistiken verändert wurden, retuschiert wurde und
Zensur ausgeübt wurde.


(Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Oh!)


– Ja, das ist so: Totalitäre Staaten bauen gerne Potem-
kin`sche Dörfer auf.


(Pascal Kober [FDP]: Es wird immer doller!)


Das Bemerkenswerte an Ihnen ist, dass Sie nun auch
versuchen, das Schicksal und den Lebensalltag, die
Alltagswirklichkeit und die Lebensleistungen von
Millionen von Menschen zu tilgen, zu kürzen oder
auszublenden.


(Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Unterste Schublade!)


Wer zu solchen Mitteln der kosmetischen Berichtschi-
rurgie greift, verhöhnt nicht nur die Betroffenen. Er
schadet auch der demokratischen Öffentlichkeit, und er
schadet der Demokratie in unserem Land, meine Damen
und Herren.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)






Sigmar Gabriel


(A) (C)



(D)(B)


Wissen Sie, jeder Beobachter, der Ihre Debatte über
den Armuts- und Reichtumsbericht verfolgt, muss doch
den Eindruck haben, dass er gerade live dabei ist und in
das Innere einer politischen Fälscherwerkstatt gucken
darf. Man weiß nicht so ganz genau, in welchem Teil der
Regierung die Fälscherwerkstatt steht; aber man hat
doch wirklich den Eindruck, dass dort politische
Fälscher am Werke sind, und offensichtlich schämen Sie
sich noch nicht einmal dafür. Übrigens finden Sie alle
nötigen Kronzeugen dafür im Entwurf des 4. Armuts-
und Reichtumsberichts, den Frau von der Leyen abgege-
ben hat. Sie hat dort geschrieben:

Die Bundesregierung prüft, ob und wie über die
Progression über die Einkommensteuer hinaus
privater Reichtum für die nachhaltige Finanzierung
öffentlicher Aufgaben herangezogen werden kann.

Das ist eine mutige Aussage. Wir sind gespannt, wie sie
diese Ankündigung, die Ungleichverteilung der Lasten
für das Gemeinwohl auszugleichen, umsetzen will.

80 Prozent der Gemeinwohllasten werden von den
ganz normalen Menschen, die Lohnsteuer, Mehrwert-
steuer oder Umsatzsteuer zahlen, getragen. Nur 12 Pro-
zent der Gemeinwohllasten tragen die Einkommensbe-
sitzer von Kapital und Vermögen. Daran wollte Frau von
der Leyen offensichtlich etwas ändern. Sie offensichtlich
nicht. Wir haben doch eine neue soziale Frage in unse-
rem Land: Wie verteilen wir die Lasten für das Gemein-
wohl wieder fair und gerecht? Wie kommen wir wieder
zu einem neuen sozialen Ausgleich in unserem Land?
Übrigens hat sich Frau von der Leyen in ihrem Bericht
nicht auf uns berufen, sondern auf die Mittelstandsstudie
der Konrad-Adenauer-Stiftung. Dort geht es genau um
diese Fragestellungen. Und Sie sind nicht bereit, das öf-
fentlich zu diskutieren. Sie demontieren Ihre eigenen
Wissenschaftler, selbst die, die Ihrer Partei angehören.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, Mindestlohn, Leih- und
Zeitarbeit, gleicher Lohn für gleiche Arbeit und übrigens
auch wieder Geld, um in Bildung zu investieren – das ist
nötig. Denn wir sind doch längst auf dem Weg in eine
Zweiklassengesellschaft. Ich wiederhole: Nicht Anstren-
gung und Leistung bringen den Aufstieg in unserer
Gesellschaft,


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Natürlich!)


sondern Herkunft, Beziehungen, hohe Vermögen, Erb-
schaften.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Das ist doch nicht wahr!)


Dass Sie von der FDP bzw. der CSU das dufte finden,
kann ich mir gut vorstellen. Das ist ein Milieu, in dem
Sie sich gut auskennen. Das wissen wir, meine Damen
und Herren.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: Bei der SPD geht es nach Parteibuch!)


Aber wir wollen, dass die Tochter des iranischen
Einwanderers in Neukölln wieder die gleichen Chancen
hat wie der begüterte Unternehmersohn aus Schwaben.
Dazu werden wir auch mehr in Bildung investieren
müssen.

Wir wollen Ihre Lebenslüge nicht mitmachen, die vor
Wahlen immer lautet: Keine Sorge, wir senken Schul-
den. Keine Sorge, wir geben mehr für Bildung aus und
natürlich werden wir auch noch die Steuern senken. –
Nein, wir werden für einige, nicht für alle, in Deutsch-
land die Steuern anheben müssen, damit alle wieder
mehr davon haben. Wir werden den Spitzensteuersatz er-
höhen. Wir werden Kapital- und Vermögenseinkommen
stärker besteuern. Wir brauchen die Finanztransaktion-
steuer, damit die ganz normalen Menschen nicht mehr so
viel dafür bezahlen müssen, wenn wir wieder in Bildung,
in Infrastruktur und in die Sicherheit unserer Städte und
Gemeinden investieren. Darum geht es.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie wollen daraus eine Neiddebatte machen.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Sie machen das!)


Es ist ganz interessant, wenn man sich das, was Sie nor-
malerweise bürgerliche Presse nennen, durchliest. Dort
schreiben nämlich diejenigen, die etwas von bürgerli-
chen Werten, von Anstand, von Wahrhaftigkeit und von
Fairness verstehen. Letzten Samstag schrieb Eckhard
Fuhr in der Welt – das ist auch nicht gerade das Zentral-
organ der deutschen Linken –:

Die Soziale Ungleichheit in Deutschland ist eben
nicht das Resultat einer freien Gesellschaft, sondern
sie ruht auf Vermachtung, Verkrustung und
Abschottung.

Er fügt hinzu:

Wer hier aber wieder nur eine neue „Neiddebatte“
heraufziehen sieht, versteht nicht, was die Stunde
geschlagen hat.

Genau das passiert bei Ihnen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Für uns steht fest: Der Sozialstaat ist die größte zivili-
satorische Errungenschaft des 20. Jahrhunderts gemein-
sam mit einer demokratischen Verfassung. Dieser
Sozialstaat muss alles dafür tun, damit ererbter Status
nicht zum Schicksal wird. Wir wollen nicht, dass die
Frage der Herkunft das Schicksal der Menschen
bestimmt. Dafür müssen wir allerdings die Verteilungs-
fragen wieder auf unsere Tagesordnung setzen. Wir
brauchen eine neue Verteilung der Gemeinwohllasten
und eine neue Verteilung von Chancen in unserem Land.
Dafür allerdings braucht unser Land vor allem eines:
eine neue Regierung, meine Damen und Herren.


(Anhaltender Beifall bei der SPD – Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(D)(B)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1722204900

Vielen Dank, Kollege Sigmar Gabriel. – Nächster

Redner für die Fraktion der FDP unser Kollege Pascal
Kober. Bitte schön, Kollege Pascal Kober.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Pascal Kober (FDP):
Rede ID: ID1722205000

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Liebe Schwester im Glauben Katrin Göring-Eckardt,


(Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Oh!)


vielleicht wissen Sie von der Armutsdenkschrift unserer
gemeinsamen Kirche: Gerechte Teilhabe – Befähigung
zu Eigenverantwortung und Solidarität. Da werden wir
Christinnen und Christen aufgefordert, populistischen
Dramatisierungen entgegenzuwirken.


(Zuruf des Abg. René Röspel [SPD])


Liebe Katrin Göring-Eckardt, ich fordere Sie auf:
Wirken Sie Sigmar Gabriel entgegen!


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot und Grün,
der Armuts- und Reichtumsbericht beschreibt Erfolge,
die auch durch noch so populistische Reden nicht
wegzudefinieren sind. Er beschreibt sicherlich auch Auf-
gaben.

Wer aber wie Sie von Rot und Grün die steuerliche
Entlastung der kleinen Einkommen verhindert, wer wie
Sie von Rot und Grün sich an den kleinen Einkommens-
erhöhungen bereichern will, die kleinen Einkommen
belasten will und den Abbau der kalten Progression im
Bundesrat verhindert, der sollte – das ist meine Auffas-
sung – beim Thema soziale Gerechtigkeit wesentlich
bescheidener auftreten, als Sie es heute tun.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Wer wie Sie von Rot-Grün zum Beispiel in Nord-
rhein-Westfalen oder wie Sie von Grün-Rot in Baden-
Württemberg durch Verschuldung die Zukunftschancen
künftiger Generationen gefährdet, der sollte beim Thema
soziale Gerechtigkeit wesentlich bescheidener auftreten,
als Sie es heute hier tun.

Wer wie Sie in Ihren Wahlprogrammen Steuererhö-
hungen in Milliardenhöhe für den Mittelstand fordert
und damit den Abbau von Tausenden von Arbeitsplätzen
in unserem Land billigend in Kauf nimmt, auch der
sollte zum Thema soziale Gerechtigkeit schweigen.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn es Ihnen
wirklich um die Menschen ginge, würden Sie eine an-
dere Politik machen. Aber, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen von Grün und Rot, ich nehme es Ihnen nicht ab, dass
es Ihnen um die Menschen geht. Ihnen geht es um die
Macht, und da ist Ihnen jede populistische Dramatisie-
rung recht. Was herauskommt, wenn Sie regieren, das
haben wir in sieben Jahren rot-grüner Bundesregierung

erlebt und erleben es in verschiedenen Ländern auch
heute noch.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie müssen doch
anerkennen: Noch nie in der Geschichte der Bundes-
republik hatten so viele Menschen eine Arbeit wie heute.
Ja, nicht jeder Arbeitsplatz ist perfekt; aber jeder
Arbeitsplatz bietet eine Chance und ist besser als keiner.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Nee! Das kann man so wirklich nicht sagen!)


Noch nie seit Beginn der statistischen Aufzeichnungen
gab es in Deutschland so wenige Transferempfänger wie
heute. Das Risiko für Kinder, in Armut aufzuwachsen,
ist heute eindeutig rückläufig, und zwar erstmals seit
langer Zeit.


(Widerspruch bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot und Grün,
wenn Sie das nicht anerkennen, wenn Sie darüber hin-
wegsehen, dann frage ich mich, ob Sie überhaupt ein
Herz oder ein Empfinden für die Sorgen der Menschen
haben. Denn hinter all diesen Zahlen, hinter all diesen
Statistiken stehen Hunderttausende Menschen, die
nachts wieder schlafen können und tagsüber wieder eine
Perspektive für sich und ihre Familien sehen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot und Grün,
hören Sie auf, die Sachen so zu dramatisieren! Arbeiten
Sie lieber an vernünftigen Konzepten und unterstützen
Sie diese Regierungskoalition bei ihren Erfolgen für die
Menschen!


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Elke Ferner [SPD]: Da können Sie warten, bis Sie schwarz werden!)


Wir versprechen den Menschen kein Schlaraffenland –
das kann Politik nie. Aber die Menschen in unserem
Land wissen, dass sie sich auf uns verlassen können,


(Elke Ferner [SPD]: Auf Ihre Klientelpolitik können sie sich tatsächlich verlassen!)


dass sie sich darauf verlassen können, dass diese Regie-
rungskoalition hart daran arbeiten wird, dass jeder in
diesem Land seine Chance erhält, wieder einzusteigen
und aufzusteigen. Deshalb investiert ja diese Regie-
rungskoalition so wie keine zuvor in Bildung. Deshalb
investiert diese Regierungskoalition so wie keine zuvor
in eine bessere Kinderbetreuung.


(Elke Ferner [SPD]: Deshalb machen Sie das Betreuungsgeld! Grandiose Leistung!)


Deshalb hat diese Regierungskoalition zu Beginn der
Legislaturperiode gerade die Familien um insgesamt
8,5 Milliarden Euro entlastet. Deshalb haben wir in die-
ser Legislaturperiode die Arbeitsvermittlung in Deutsch-
land so stark und effizient aufgestellt wie noch nie in der
Geschichte. Deshalb strengen wir uns bei der Konsoli-
dierung der Haushalte an wie noch keine Regierungs-
koalition zuvor,





Pascal Kober


(A) (C)



(D)(B)



(Elke Ferner [SPD]: Die Nettokreditaufnahme ist gestiegen und nicht gesunken! Sie wissen gar nicht, was Sie reden!)


damit auch künftige Generationen eine Chance haben.
Deshalb wollen wir, dass die kleineren Einkommen in
einem weiteren Schritt jetzt endlich einmal entlastet wer-
den.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sind doch in einer Parallelwelt! Sie wissen doch gar nicht, was kleine Einkommen sind!)


Hören Sie auf, den Abbau der kalten Progression im
Bundesrat zu verhindern! Das ist Ihre Aufgabe. Es liegt
in Ihrer Verantwortung, in diesem Bereich etwas zu tun.

Diese Regierung hat mit dem Armuts- und Reich-
tumsbericht und vor allen Dingen mit den aktuellen Zah-
len der letzten Monate, die im Armuts- und Reichtums-
bericht gar nicht erfasst sind, gezeigt, dass sie an der
Seite der Menschen steht. Mit unserem Powerpaar aus
Niedersachsen, Ursula von der Leyen und Philipp
Rösler,


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU – Lachen bei Abgeordneten der SPD)


arbeiten wir erfolgreich für die Menschen und helfen
wirklich da, wo Hilfe nötig ist.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1722205100

Vielen Dank, Kollege Pascal Kober. – Nächste Red-

nerin für die Fraktion Die Linke ist unsere Kollegin Frau
Katja Kipping. Bitte schön, Frau Kollegin Katja
Kipping.


(Beifall bei der LINKEN)



Katja Kipping (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1722205200

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Uns liegt

nun der zweite Entwurf – wohlgemerkt: Entwurf – des
4. Armuts- und Reichtumsberichts vor. Ob es Schwarz-
Gelb schafft, sich im März endlich auf eine endgültige
Version zu einigen, ist noch ungewiss. Das Ganze dauert
deswegen so lange, weil FDP und CDU/CSU jede kriti-
sche Aussage darin fälschen.

Leider ist meine Redezeit begrenzt; deswegen kann
ich nur ein Beispiel von mehreren nennen. Noch im ers-
ten Entwurf stand die Tatsache, dass in den vergangenen
zehn Jahren die Einkommen der unteren Gruppen
– preisbereinigt – gesunken sind. Dazu hieß es – ich zi-
tiere aus dem ersten Entwurf –:

Eine solche Einkommensentwicklung verletzt das
Gerechtigkeitsempfinden der Bevölkerung und
kann den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefähr-
den.

Das ist ein schlichter Fakt.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Das ist kein Fakt, sondern eine Bewertung!)


Dass viele Menschen in diesem Land von ihrer Arbeit
nicht leben können, das ist traurige Realität. Aber selbst
hier versucht Schwarz-Gelb sich im Schönfärben.

Wir halten also fest: Schwarz-Gelb lässt uner-
wünschte Abschnitte streichen. Sie versuchen diesen
politisch wichtigen Bericht zu sterilisieren, und das
Ganze läuft nach dem Motto „Ich mache mir den Be-
richt, widde widde wie er mir gefällt“. Was bei einer
Kinderbuchheldin wie Pippi Langstrumpf vielleicht
noch ganz nett ist, ist für eine Bundesregierung bloß
noch peinlich.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Anstatt Berichte zu schönen, sollten Sie lieber die
Wirklichkeit verbessern. Ich finde, einer Regierung, die
beim Armuts- und Reichtumsbericht Verschleierung be-
treibt, der muss man die Verantwortung entziehen. Des-
wegen setzen wir uns dafür ein, dass in Zukunft eine un-
abhängige Kommission die Erstellung des Armuts- und
Reichtumsberichts übernimmt,


(Beifall bei der LINKEN)


in der Fachleute, Betroffene, Sozialverbände und Ge-
werkschaften mitwirken.

Nun konnte auch Schwarz-Gelb nicht alle Fakten aus
dem Bericht streichen. Insofern finden wir auch bemer-
kenswerte Angaben, zum Beispiel zur Vermögensvertei-
lung. So heißt es: Die ärmsten 50 Prozent der Haushalte
verfügen lediglich über 1 Prozent des gesamten Netto-
vermögens, während die reichsten 10 Prozent über die
Hälfte des Nettovermögens verfügen. – Das muss man
sich vergegenwärtigen: Die ärmste Hälfte der Bevölke-
rung verfügt über 1 Prozent des Nettovermögens, und
die reichsten 10 Prozent der Bevölkerung verfügen über
die Hälfte der Vermögen.


(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Was ist der Erhebungszeitraum? Für welches Jahr gilt das?)


Hier zeigt sich eine einfache Tatsache: Die Armut der
vielen geht einher mit dem Reichtum von wenigen.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Das ist doch nicht wahr!)


Das ist das Problem. Wer etwas gegen Armut unterneh-
men will, der darf zum Reichtum nicht schweigen.


(Beifall bei der LINKEN)


Deswegen wollen wir als Linke Millionäre, Spekulanten
und Konzerne zur Kasse bitten.


(Beifall bei der LINKEN)


Im Gegensatz zu anderen haben wir den Biss nach
oben, und dafür haben wir gute Gründe:

Erstens. Die öffentliche Hand braucht Gelder, um Ar-
mut zu verhindern, um Teilhabe zu garantieren, um das
Öffentliche für alle zugänglich zu machen. Dass alle mit





Katja Kipping


(A) (C)



(D)(B)


Bus und Bahn mobil sein können, und zwar barrierefrei,
dass alle einen Kitaplatz bekommen, dass es ein warmes,
gesundes Mittagessen für jedes Kind gibt, das ist doch
nicht zu viel verlangt!


(Beifall bei der LINKEN)


Um dies zu finanzieren, müssen wir die Millionäre stär-
ker besteuern.

Der zweite Grund, warum wir Reichtum stärker be-
steuern wollen, ist der, dass inzwischen die Einkommen
in diesem Land so weit auseinanderklaffen, dass man
das wahrlich nicht mehr mit Leistungsunterschieden be-
gründen kann.


(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Das stimmt doch gar nicht! Die Einkommensschere schließt sich doch permanent! – Gegenruf des Abg. Markus Kurth [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Natürlich stimmt das! – Gegenruf des Abg. Dr. Matthias Zimmer [CDU/ CSU]: Ach Quatsch!)


Lassen Sie mich dafür zwei Beispiele nennen. Ein
Zugbegleiter im Nachtverkehr erhielt im Jahr 2011 rund
28 600 Euro brutto im Jahr. Der Bahnchef Grube ist be-
stimmt ein fleißiger und guter Mann, aber mit seinen gut
2,5 Millionen verdient er das 86-Fache davon. Wie, bitte
schön, will man das 86-Fache eines Zugbegleiters im
Nachtverkehr leisten?

Anderes Beispiel. Eine Reinigungskraft, die zum Bei-
spiel in einer Bank in den neuen Bundesländern sauber-
macht, verdient, wenn es gut läuft, im Jahr brutto
21 000 Euro. Der Chef der Deutschen Bank,
Ackermann, erhielt das 447-Fache. Glauben Sie wirk-
lich, der leistet das 447-Fache einer Reinigungskraft?


(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Das ist billiger Populismus!)


Das zeigt doch deutlich, dass die Managergehälter und
die Vorstandsvergütung in diesem Land völlig außer
Rand und Band sind.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir meinen: Eine solche Spreizung führt zu einer Zer-
reißprobe für die Demokratie. Deswegen heißt die
Agenda der Linken: Armut verhindern, Reichtum um-
verteilen, Managergehälter begrenzen!


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: „Armut für alle“ heißt Ihr Programm! – Gegenruf des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Nein, „Wohlstand für alle“!)


– Herr Zimmer, Ihre Unterstellung, dass man bei uns
keinen Reichtumsbericht braucht, muss ich ergänzen:
Bei uns brauchte man nur einen Wohlstandsvertiefungs-
bericht.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Nein, einen Armutsbericht! Sonst nichts!)


In den Debatten über den Armuts- und Reichtumsbe-
richt haben wir auch so einiges über das Demokratiever-
ständnis der FDP erfahren. Wir sprachen schon darüber,
welche Stellen die FDP alle streichen ließ, weil sie nicht
in ihre Ideologie passten. Besonders bezeichnend fand
ich aber das Agieren eines FDP-Vertreters bei einer De-
batte über den Armutsbericht am Montag: Ein Bündnis
aus Sozialverbänden und Betroffeneninitiativen hat Ab-
geordnete aller Fraktionen eingeladen. Als nun der FDP-
Abgeordnete ausführte, warum er den Hartz-IV-Regel-
satz ausreichend findet, gab es kritische Zwischenrufe.
Ja, es gab Unmutsbekundungen. Aber, unter uns: Wir ge-
hen hier manchmal ruppiger miteinander um, als die Be-
troffenen dort mit Ihnen umgegangen sind.


(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Das glaube ich, dass Sie mit Ihresgleichen ruppiger umgehen!)


Daraufhin meinte der FDP-Abgeordnete: Wenn Sie so
mit uns umgehen, erreichen Sie nur, dass wir nicht wie-
der zu Ihren Diskussionen kommen. – Da formulieren
Betroffene ihren Unmut, und schon wird der Dialog ab-
gebrochen?


(Pascal Kober [FDP]: Nein! Das waren Vertreter von Betroffenen!)


Ist das das Demokratieverständnis der FDP? Suchen Sie
nur noch mit denen den Dialog, die Sie beklatschen oder
hohe Spenden überweisen? Ist das Ihr Demokratiever-
ständnis? Erwerbslose dürfen nur klatschen, aber nicht
kritisieren?


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Anton Schaaf [SPD])


Wenn ja, ist das ein wahres Armutszeugnis.

Wenn man sich einmal vergegenwärtigt – damit
komme ich zum Schluss –, wie schwer es ist, mit dem
Regelsatz über die Runden zu kommen, wie schwer es
ist, sich vom Regelsatz die Kosten für eine Brille abzu-
sparen, dann muss man einsehen, dass kritische Nach-
frage das Mindeste ist, womit man als gut bezahlter Ab-
geordneter klarkommen muss.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich und die Linke meinen: Es ist Ausdruck einer le-
bendigen Demokratie, wenn sich Erwerbslose wie Be-
schäftigte, Behinderte wie Studierende kritisch zu Wort
melden. Deswegen unterstützen wir natürlich Bündnisse
wie das Bündnis für ein menschenwürdiges Existenzmi-
nimum.


(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Sie versprechen hier nur das Blaue vom Himmel herunter!)


Deswegen unterstützen wir auch die Aktionen zum
„Umfairteilen“-Aktionstag am 13. April. Um Armut in
diesem Land zu verhindern, braucht es bessere Berichte,
aber vor allen Dingen andere Kräfteverhältnisse.

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN)







(A) (C)



(D)(B)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1722205300

Vielen Dank, Frau Kollegin Katja Kipping. – Nächs-

ter Redner in unserer Aussprache für die Fraktion CDU/
CSU unser Kollege Max Straubinger. Bitte schön, Kol-
lege Max Straubinger.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Max Straubinger (CSU):
Rede ID: ID1722205400

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Es

ist schon bemerkenswert: Wir führen heute eine Debatte,
die auch von Grünen und SPD nicht ernsthaft geführt
wird, sondern als Wahlkampfveranstaltung betrachtet
wird.


(Widerspruch bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


– Ja, natürlich. Sie alle wissen, dass wir hier über einen
Bericht debattieren, den es noch gar nicht gibt. Am
6. März 2013 wird er dem Bundeskabinett vorgelegt und
dann dem Parlament zugeleitet.


(Elke Ferner [SPD]: Da sind wir aber mal gespannt, ob der dann verabschiedet wird!)


Sie wollen nicht auf der Grundlage von Daten und Fak-
ten debattieren, sondern Sie wollen billige Polemik ma-
chen. Das hilft in keiner Weise den betroffenen Men-
schen in unserem Lande. Letztendlich führt das zu
Frustration bei den Menschen draußen. Wenn Sie die
ganze Zeit von Fälschung, Betrug und Ähnlichem reden,


(Elke Ferner [SPD]: Damit kennt sich diese Bundesregierung ja aus!)


Herr Vorsitzender der SPD, dann ist das niederste politi-
sche Kultur in diesem Hause.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: So ist er! – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Er kann halt nicht anders!)


Wir erleben, wie ernst Sie es meinen. Die SPD ist ja
angeblich die Partei der sozialen Gerechtigkeit.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Ach was!)


Ihr Kanzlerkandidat Steinbrück hat sich diesem Thema
inzwischen angeblich auch verschrieben. Er hat sich
aber schon wieder verdrückt. Er kam schnell zur Ab-
stimmung, zum Hammelsprung. Er ist aber nicht bereit,
an der Debatte teilzunehmen. Darüber hinaus geht er
wahrscheinlich schon wieder seiner persönlichen Reich-
tumsmehrung nach.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Widerspruch bei der SPD)


Anders kann ich das nicht werten. Das zeigt sehr deut-
lich: SPD und Grüne haben überhaupt kein Interesse an
einer ernsthaften Debatte.


(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Fangen Sie doch mal an mit einer ernsthaften Debatte!)


Dies hat auch der Beitrag des Kollegen Gabriel hier
bewiesen. Der Kollege Gabriel war auch einmal Kabi-

nettsmitglied. Er müsste wissen, dass innerhalb eines
Kabinetts grundsätzlich über Berichte, die die Bundesre-
gierung vorzulegen hat, abgestimmt wird. Ich nehme an,
auch der Kollege Gabriel musste in seiner Funktion als
Umweltminister über so manchen Bericht im Kabinett
mit dem Bundeswirtschaftsminister und den Vertretern
der anderen Ressorts abstimmen.


(Elke Ferner [SPD]: Wir werden über die Schlussfolgerungen abstimmen, aber doch nicht die Tatsachen!)


Ich verstehe nicht, Herr Kollege Gabriel, wie Sie ein sol-
ches Vorgehen hier monieren können. Das zeigt sehr
deutlich: Ihnen geht es nur um Polemik und um sonst gar
nichts.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Sigmar Gabriel [SPD]: Mit Michael Glos musste man nie etwas fälschen! Ich finde es unerhört, was Sie dem Kollegen Glos vorwerfen!)


Es ist auch bemerkenswert, welches Bild hier von den
Zuständen in unserem Land gezeichnet wird, um die wir
insgesamt von allen Menschen in Europa und weit da-
rüber hinaus beneidet werden. Sehr viele Menschen wür-
den die angebliche Armut in Deutschland liebend gerne
ertragen – insbesondere auch unter dem Gesichtspunkt,
dass man hier nicht um Sozialleistungen betteln muss,
Herr Gabriel, sondern Rechtsansprüche hat. Darauf sind
wir stolz.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das zeigt sehr deutlich, dass Sie letztlich keine parla-
mentarische, gute und fachlich fundierte Auseinander-
setzung wollen; Sie wollen hier nur Polemik betreiben
und sonst gar nichts.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dann klagen Sie an, dass es angeblich eine unge-
rechte Verteilung gibt. Natürlich gibt es reiche Men-
schen in Deutschland, und natürlich gibt es auch arme
Menschen in Deutschland.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Von den Armen gibt es viel zu viele!)


Aber reiche Menschen tragen auch einen Großteil dazu
bei, dass viele Menschen bei uns in Arbeit und Brot sind.
Das ist etwas Wichtiges. Sie zahlen vor allen Dingen
auch Steuern. 8 Prozent der Bürger zahlen 50 Prozent
der Einkommensteuer. Das ist ein großer Beitrag für so-
ziale Gerechtigkeit in Deutschland.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Elke Ferner [SPD]: Es gibt auch andere Steuern, die gezahlt werden!)


50 Prozent der Steuerzahler zahlen nur 10 Prozent der
Einkommensteuer. Das zeigt sehr deutlich: Die starken
Schultern tragen auch mehr in unserer Gesellschaft. Dies
ist hier mit zu verdeutlichen.

Werte Kolleginnen und Kollegen, ich möchte schon
daran erinnern: Wir in Niederbayern sind mit BMW der-
zeit großartig gesegnet. Wir sind auch der Familie





Max Straubinger


(A) (C)



(D)(B)


Quandt dankbar, dass sie in einer schwierigen Zeit bereit
war, sich bei BMW und bei den Glas-Werken in Dingol-
fing zu engagieren. Wir sind stolz darauf, dass es in
Deutschland Aktionärinnen und Aktionäre gibt, die zum
Wirtschaftsstandort Deutschland stehen und damit die
Arbeitsplätze sichern.

Das war gerade auch im Wahlkreis von Stefan Müller
mit der Firma Schaeffler der Fall. Vor vier Jahren, als es
der Firma schlecht ging, sind 8 000 Menschen auf die
Straße gegangen und haben für den Erhalt der Arbeits-
plätze demonstriert.


(Zuruf der Abg. Elke Ferner [SPD])


Dafür hat die Familie Schaeffler gesorgt. Das muss auch
einmal gesagt werden, statt dass ständig gegen reiche
Leute in Deutschland polemisiert wird.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Sie sollten gegen Ihre eigenen Genossen polemisie-
ren. Herr Zumwinkel hat sein Geld ins Ausland gebracht
und es nicht einmal versteuert. Er gehört der SPD an,
werte Damen und Herren.


(Zuruf von der CDU/CSU: Unglaublich! – Elke Ferner [SPD]: Wie war das mit Herrn Strauß?)


Herr Kollege Gabriel hat von Bildungschancen ge-
sprochen und gesagt, dass sie sich nicht nach der Her-
kunft richten sollten. Das ist richtig.


(Zuruf von der SPD: Aha!)


Wir stehen für die größten Bildungschancen in unserem
Land. Die werden am besten in Bayern eröffnet, weil wir
die fundierteste Bildungspolitik haben. Bei uns gibt es
ein gutes Bildungssystem: Man macht einen Abschluss
und kann danach darauf aufbauen. Man kann auch mit
einem Hauptschulabschluss zum Schluss einen Hoch-
schulabschluss bekommen. Dabei geht es nicht nach der
Herkunft, Herr Kollege Gabriel. Besonders gut sind bei
uns Migrantinnen und Migranten integriert.

Das Bildungssystem in Niedersachsen hat der dama-
lige Bundeskanzler Schröder einmal skizziert: Ein baye-
rischer Schüler müsse, wenn er nach Niedersachsen um-
zieht, zwei Jahre in der Hängematte liegen, um auf
dasselbe Niveau zu kommen.


(Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist so billig!)


Das war das damalige Bildungssystem unter einer so-
zialdemokratischen Landesregierung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das zeigt sehr deutlich, was möglich ist, wenn wir mit-
zuentscheiden haben.

Dasselbe gilt letztlich auch für die Familienunterstüt-
zung. Sie wollen das Ehegattensplitting abschaffen. Sie
wollen das Kindergeld, wenn es geht, sogar noch redu-
zieren,


(Elke Ferner [SPD]: Das wollen wir nicht! Jetzt lügen Sie nicht vor sich hin! Sie lügen, ohne rot zu werden! Sie wollen das Betreuungsgeld!)


weil Sie der Meinung sind, dass Kitaplätze besser als das
Geld für die Eltern sind; denn Sie unterstellen den El-
tern, dass sie das Geld zweckentfremden und nicht für
die Kinder ausgeben würden. So ist doch die Lage in un-
serem Land.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Sie wollen das Betreuungsgeld abschaffen,


(Elke Ferner [SPD]: Ja, das wollen wir!)


mit dem junge Familien unterstützt werden, die sich mo-
mentan der Kindererziehung hingeben wollen.


(Elke Ferner [SPD]: Stimmt doch gar nicht!)


Wir wollen niemandem vorschreiben, wie er sich zu
verhalten hat. Bei Ihnen ist es so:


(Elke Ferner [SPD]: Das ist ein Zuschuss für die Kinderfrau der Besserverdienenden!)


Kaum ist das Kind auf die Welt gekommen, soll es in die
Krippe gegeben werden, und die Mama muss sofort wie-
der am Arbeitsplatz erscheinen. Was ist das für ein Men-
schenbild, das Sie hier zeichnen?


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Letztendlich geht es Ihnen darum, dass Sie über alles
bestimmen wollen. Der damalige Abgeordnete Scholz
hat einmal gesagt, dass er wieder die Lufthoheit über die
Kinderbetten haben möchte. Das ist der Anspruch der
Sozialdemokratie in unserem Land.

Noch einmal zur Herkunft: Herr Kollege Gabriel, ich
muss Ihnen vorhalten, was in Nordrhein-Westfalen bei
den Vorträgen in Bochum geschehen ist. Herr Steinbrück
hat das Geld dort natürlich genommen.


(Elke Ferner [SPD]: Das ist unterstes Bierzeltniveau!)


Aber Uli Hoeneß, der mehr der CSU zugerechnet wird,
hat darauf verzichtet. Das hat nicht nur mit Parteibuch
und Herkunft, sondern auch mit Anstand zu tun.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat Uli Hoeneß nicht verdient!)


Deshalb sollten Sie vor Ihrer eigenen Haustür kehren
und eine vorzügliche Arbeit für die Menschen machen.
Das wünsche ich Ihnen, aber ich habe den Eindruck,
dass Sie dazu nicht fähig sind. Deshalb werden wir wei-
terhin die Bundesregierung stellen.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Elke Ferner [SPD]: Das glauben nur Sie!)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1722205500

Vielen Dank, Kollege Max Straubinger. – Nächste

Rednerin in unserer Aussprache ist für die Fraktion der





Vizepräsident Eduard Oswald


(A) (C)



(D)(B)


Sozialdemokraten unsere Kollegin Frau Hilde Mattheis.
Bitte schön, Frau Kollegin.


(Beifall bei der SPD)



Hilde Mattheis (SPD):
Rede ID: ID1722205600

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der

Kollege Straubinger musste hier ja schon sehr herum-
schreien, um die Zahlen, die die eigene Bundesregierung
vorgelegt hat, überhaupt nicht nennen zu müssen.


(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Die Bundesregierung hat doch überhaupt nichts vorgelegt!)


Wenn Sie sich Ihre Rede in stiller Stunde einmal an-
schauen, Herr Straubinger,


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Die ist mindestens so gut wie die von Gabriel!)


dann gelingt es Ihnen vielleicht, sich ein bisschen zu
schämen; denn – das sage ich Ihnen an dieser Stelle – Sie
haben als Regierungskoalition selbstverständlich eine
Mitverantwortung. Es geht hier nämlich nicht um popu-
listischen Wahlkampf,


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Natürlich! – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Das ist dem Herrn Gabriel ganz fremd!)


sondern es geht um Lebensqualität und Lebensperspek-
tive für die Bevölkerung. Das ist Ihre Verantwortung.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich glaube, Sie sollten sich ein paar Zahlen ansehen.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Ja, ja!)


Im Entwurf des Berichts sehen Sie zum Beispiel die Ein-
kommensspreizung. Beim ersten Dezil der Bevölkerung,
dem untersten Zehntel der Einkommensbezieher, gab es
einen Einkommensverlust von 8,9 Prozent. Beim obers-
ten Zehntel gab es einen Einkommenszuwachs von fast
6 Prozent. Dies wirkt sich auf die Vermögensverteilung
aus. In den letzten Jahren konnten wir Vermögenszu-
wächse, vor allem bei den besonders Reichen, verzeich-
nen. Die Vermögen der privaten Haushalte sind insge-
samt – das sind Ihre Zahlen – von 4,6 auf 10 Billionen
Euro angestiegen. Angesichts dieser Zahlen kann ich mir
vorstellen, dass es nicht in Ihrem Interesse ist, diesen Be-
richt zeitnah, wie es sich gehört hätte, dem Parlament
vorzulegen.

Dieses Interesse wurde, Gott sei Dank, im Sommer
durch einen Pressebericht unterlaufen. Man kann sagen:
Fluch und Segen liegen eng beieinander. Dadurch haben
wir erfahren, dass der erste Entwurf an der einen oder
anderen Stelle, nicht nur bei der Analyse, sondern auch
bei den Schlussfolgerungen, doch kritische Inhalte auf-
gezeigt hat. Diese kritischen Inhalte sind hier in der ei-
nen oder anderen Rede schon zitiert worden. Dabei geht
es um die Verantwortung, zu prüfen, ob diejenigen mit
den hohen Vermögen genug zum Gemeinwohl beitragen.
Dies wurde geändert in: Sie könnten ja bitte spenden. –

Das haben Sie gerade noch einmal sehr deutlich hervor-
gehoben. Wir sagen „Nein“. Starke Schultern müssen
mehr tragen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Der eigentliche Auftrag, den Rot-Grün dem Parla-
ment und der jeweiligen Regierung gegeben hat, war, die
aktuelle Datenlage zusammenzuführen, um ein offenes,
transparentes und alle Facetten abklopfendes Lagebild
der gesellschaftlichen Zustände zu bieten. Dies hätten
Sie während der Jahre 2009, 2010 und 2011 tun sollen.
Sie haben hier aber nicht einmal ansatzweise die Daten
ausgewertet, die nicht nur das DIW, sondern jetzt auch
andere Forschungsinstitute vorgelegt haben. Da muss
ich gar nicht die Hans-Böckler-Stiftung nennen; da kann
ich auch christliche Institute und die Kirchen nennen.
Die Spaltung der Gesellschaft hat sich vertieft. Die
Schere ist auseinandergegangen.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Das ist ja nicht wahr, Frau Mattheis! – Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Das stimmt doch gar nicht!)


– Schauen Sie sich Ihre eigenen Zahlen an! Wenn Sie
Ihre Zahlen lesen, dann wissen Sie es.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Die Zahlen sagen etwas anderes!)


Versuchen Sie aber nicht, eine Falschinterpretation vor-
zunehmen. Ich sage Ihnen: Das Allensbach-Institut hat
im Auftrag der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft
eine Umfrage gemacht – die Ergebnisse wurden erst vor
wenigen Tagen veröffentlicht – und kam schlicht und er-
greifend zu dem Ergebnis: Fast zwei Drittel der Bevöl-
kerung, 64 Prozent, sind der Meinung, dass sich die Un-
gerechtigkeiten vertieft haben.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Das ist aber eine Umfrage und keine statistische Zahl!)


– Das habe ich nicht gesagt. Ich habe von einer Umfrage
gesprochen.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Das ist aber keine statistische Zahl, Frau Mattheis!)


Umfragen


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Können lügen!)


sind auch Erhebungen darüber, wie die Befindlichkeit
und die Wahrnehmung in der Bevölkerung sind.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Gilt das auch für Meinungsumfragen? – Max Straubinger [CDU/CSU]: Kennen Sie eigentlich die Meinungsumfrage zur SPD in Bayern? – Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Wie kann man Umfrageergebnisse nur zur Wirklichkeit erklären?)


Lesen Sie einmal einer Alleinerziehenden vor, was
Sie geschrieben haben. Sie haben nämlich – übersetzt –





Hilde Mattheis


(A) (C)



(D)(B)


geschrieben: Sie müssen leider länger Leistungen nach
dem SGB II beziehen, weil es an Betreuungsangeboten
fehlt. – Sie haben aber nichts dazu geschrieben, was
Sie dagegen unternehmen wollen. Handlungsoptionen
fehlen komplett. Stattdessen haben Sie das Betreuungs-
geld eingeführt, die Verdienstgrenze bei Minijobs von
400 Euro auf 450 Euro im Monat erhöht,


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Die Rentenversicherungspflicht nicht vergessen, Frau Mattheis!)


einen Mindestlohn eingeführt, der seinen Namen nicht
verdient und den Sie jetzt uns unterschieben wollen, und,
und, und. All das sind falsche Antworten auf die soziale
Spaltung.

Aber das Schlimmste ist etwas anderes. In verschie-
denen Reden wurde von Ihnen behauptet, Geld sei nicht
alles. Aber die Zukunftsperspektiven der Kinder be-
schneiden Sie total. Es gibt nicht nur die gläserne Decke
für Frauen. Es gibt auch eine gläserne Decke für Kinder,
die aus schwierigen sozialen Verhältnissen kommen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Pascal Kober [FDP]: Warum verschulden Sie sich denn dann in Baden-Württemberg so sehr? Sie kommen doch aus Baden-Württemberg! Warum verschulden Sie das Land?)


Das ist unverzeihlich. Sie reden von der Zukunft des
Landes; aber Sie tun nichts dafür.


(Beifall des Abg. Dr. Axel Troost [DIE LINKE])


Die Bundesregierung hat den Auftrag, den ihr das
Parlament 2011 erteilt hat, nicht erfüllt. Sie verschärfen
die soziale Ungleichheit und sorgen dafür, dass der so-
ziale Frieden in diesem Land womöglich nicht weiter be-
stehen bleibt. Sie setzen ihn aufs Spiel. Das weiß die
Mehrheit der Bevölkerung.

Danke.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Iris Gleicke [SPD]: Leider wahr!)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1722205700

Vielen Dank, Frau Kollegin Hilde Mattheis. – Nächs-

ter Redner in unserer Aussprache für die Fraktion der
FDP unser Kollege Johannes Vogel. Bitte schön, Kollege
Johannes Vogel.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Johannes Vogel (FDP):
Rede ID: ID1722205800

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Was wir hier erleben, ist, dass die Opposition mit ihrem
wirklich lächerlichen Zensurvorwurf


(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: „Lächerlich“? Wieso das denn? Das ist doch ein Fakt, Herr Vogel! Sagen Sie doch mal was zu dem Beispiel!)


– es findet ein ganz normaler Prozess statt, nämlich eine
Ressortabstimmung – versucht, von den Dingen abzu-
lenken, die in allen bisherigen Entwurfsfassungen des
Armuts- und Reichtumsberichts standen und die von nie-
mandem bestritten werden.

Ich nenne nur ein paar Fakten. Wir haben weniger Ar-
beitslose, weniger Langzeitarbeitslose und die niedrigste
Jugendarbeitslosigkeit in ganz Europa zu verzeichnen,


(Max Straubinger [CDU/CSU]: So ist es!)


und es leben weniger Kinder in Hartz-IV-Familien. Sie
sagen dann immer: Aber das sind alles schlechte Jobs. –
Sehen wir uns das einmal an. Der Anteil der sozialver-
sicherungspflichtigen Beschäftigung ist stabil; da wird
nichts ersetzt, Frau Kollegin Göring-Eckardt. Der Niedrig-
lohnsektor ist zuletzt geschrumpft. Die Einkommens-
ungleichheit hat seit 2006 nicht weiter zugenommen.
Die Zahl der Transferleistungsempfänger sinkt seit 2006,
übrigens auch die Zahl der Vollzeitaufstocker.


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben 8 Millionen Transferleistungsempfänger!)


Bei aller Liebe, Kolleginnen und Kollegen: Von einer
Geschichte des sozialen Verfalls kann mit Blick auf
diese Regierung ganz sicher nicht die Rede sein.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es geht auch nicht um eine Verfallsgeschichte! Es geht um die Dynamik der Entwicklung!)


Lieber Herr Kollege Gabriel, Sie haben eben die Süd-
deutsche Zeitung zitiert. Ich möchte die Zeit zitieren,
eine Zeitung, die, wie ich glaube, bei uns allen sehr an-
gesehen ist, die aber niemand als Verkündigungsorgan
der schwarz-gelben Regierung bezeichnen würde; sie
wird ja immerhin von einem ehemaligen SPD-Kanzler
herausgegeben. Lieber Herr Gabriel, ich zitiere aus ei-
nem Artikel aus der Zeit, in dem es genau um dieses
Thema geht, nämlich die Lage in Deutschland, was Ar-
mut und Reichtum betrifft:

Und SPD-Parteichef Sigmar Gabriel erklärte auf
dem Parteitag …: „… Die Armut wächst.“ Das sei
„die katastrophale Bilanz Angela Merkels“.

Die Zeit stellt danach weiter fest:

Und doch ist dieses Narrativ nicht richtig. Denn es
ist keineswegs so, dass sich die Armut in Deutsch-
land immer weiter ausbreitet. Eher ist das Gegenteil
der Fall. Und wenn man aus diversen Untersuchun-
gen überhaupt eine „katastrophale Bilanz“ heraus-
lesen kann, dann beträfe sie die Regierungsjahre
von Gerhard Schröder.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/ CSU)


Das sagen nicht wir, das sagt die Zeit, lieber Herr Kol-
lege Gabriel.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Da hat sie recht!)






Johannes Vogel (Lüdenscheid)



(A) (C)



(D)(B)


Aber ich will einmal auf die Grundlagen der Debatte
eingehen; denn es ist ja interessant, dass Sie immer wie-
der auf die Frage der Vermögensverteilung eingegangen
sind. Ich verstehe das, liebe Katja, aus der Perspektive
der Kolleginnen und Kollegen von den Linken. In ihrem
Weltbild ist das ein Problem; denn sie übersetzen Ge-
rechtigkeit vor allem mit Gleichheit. Aber dass Sie, liebe
Kolleginnen und Kollegen von SPD und Grünen, das
auch tun, das finde ich schon bemerkenswert.


(Sigmar Gabriel [SPD]: Ihre Ministerin hat das gesagt, nicht wir! Wir haben nur Ihre Ministerin gelobt!)


– Herr Gabriel, hören Sie gut zu, bis zum Ende!

Was ist die zentrale Kategorie von Gerechtigkeit?
Dass sich die Frage, ob eine Gesellschaft fair ist, viel
weniger an Gleichheit und viel mehr an der Frage „Ha-
ben alle gleiche Chancen?“ entscheidet, kann man zum
Beispiel in Europa sehen. Wenn man den Gleichheitsbe-
griff anwendet, der hinter dem Begriff der relativen Ar-
mut steht, kommen ganz bemerkenswerte Ergebnisse he-
raus: In Griechenland ist die Armut in den Zeiten der
Krise nur um 1 Prozent gestiegen,


(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: So ist es!)


in Irland ist sie niedriger als zu Boomzeiten, in Portugal
ist sie so niedrig wie noch nie in der Geschichte dieses
Landes. – Das kann doch nicht ernst gemeint sein!


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Dann sagen Sie doch mal, was Armut ist! Das sagen Sie ja alle nie! Was ist denn für Sie Armut?)


Wenn diese Statistik ergibt, dass, wenn es Ländern
schlecht geht, wenn es Gesellschaften schlecht geht, die
Armut sinkt, weil die Gleichheit zunimmt, dann hat das
mit der Lebenswirklichkeit der Menschen nichts zu tun.


(Hilde Mattheis [SPD]: Das ist deprimierend!)


Das kann doch kein Konzept sein, das wir hier im Deut-
schen Bundestag allen Ernstes vertreten wollen, liebe
Kolleginnen und Kollegen!


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Wenn wir über die faire Gesellschaft reden, dann
muss es um Chancen gehen.


(Hilde Mattheis [SPD]: Um die geht es nicht bei Ihnen!)


Dann ist es eben nicht so einfach, wie Sie es sich ma-
chen. Es geht zum Beispiel um Einstieg und Aufstieg auf
dem Arbeitsmarkt. Deshalb ist es richtig, Missbrauch zu
verhindern; so hat diese Koalition zum Beispiel die Zeit-
arbeit reguliert, ohne sie zu zerschlagen. Deshalb ist es
richtig, den Arbeitsmarkt offen zu halten und mehr in
Qualifikation zu investieren – was wir tun –,


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein! Sie kürzen den Eingliederungstitel Jahr um Jahr!)


weil das Aufstiegschancen schafft.

Dann geht es natürlich auch – das ist mein letzter
Punkt – um Bildung, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Lieber Herr Gabriel, liebe Frau Kollegin Göring-
Eckardt, Sie haben beide das Thema Bildung angespro-
chen. Bei der Bildung kommen wir zu den Bundeslän-
dern; denn sie sind ja für die schulische Bildung zustän-
dig. Dass Sie das Thema Bildung allen Ernstes als Beleg
für die Richtigkeit Ihrer Politik anführen und vor allem
für die angebliche Notwendigkeit, den Bürgern die Steu-
ern zu erhöhen, das finde ich schon bemerkenswert.

Schauen wir uns die Bundesländer einmal an: In
Sachsen und Bayern regieren schwarz-gelbe Koalitionen.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Das ist gut so! – Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: In Hessen auch!)


Diese Länder kommen mit ihrem Geld aus, sie tilgen
Schulden und liegen, wenn es um Bildung geht, wenn es
um Chancen geht, seit Jahren in allen Pisa-Evaluationen
vorn.


(Dr. Michael Meister [CDU/CSU]: NRW!)


Bremen zum Beispiel – seit Menschengedenken SPD-
oder rot-grün regiert – ist hoffnungslos verschuldet und
liegt in allen Bildungsevalutionen hinten.


(Pascal Kober [FDP]: Hört! Hört!)


Diesen Weg wollen Sie jetzt auch noch in Nordrhein-
Westfalen, Baden-Württemberg und Niedersachsen ge-
hen. Das können Sie machen. Nur, mit Fairness, mit
Chancen, mit Gerechtigkeit hat das nichts zu tun. Wenn
man sich die Länder anschaut, sieht man, welche Koali-
tion wirklich für mehr Chancen sorgt: Das ist Schwarz-
Gelb, das sind ganz sicher nicht Sie, liebe Kolleginnen
und Kollegen von Rot und Grün.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1722205900

Vielen Dank, Kollege Johannes Vogel. – Nächster

Redner für die Fraktion Die Linke ist unser Kollege
Matthias W. Birkwald. Bitte schön, Kollege Matthias W.
Birkwald.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)



Matthias W. Birkwald (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1722206000

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Zimmer! Mit
der Lohnentwicklung stimmt etwas nicht. In den Jahren
von 1998 bis 2008 – in dieser Zeit waren von den Par-
teien hier außer der Linken alle an der Regierung betei-
ligt – haben vor allem die untersten 40 Prozent der Voll-
zeitbeschäftigten reale Lohnverluste erleiden müssen.
Das stand im ersten Entwurf des Armuts- und Reich-
tumsberichts. Wörtlich hieß es da:

Eine solche Einkommensentwicklung verletzt das
Gerechtigkeitsempfinden der Bevölkerung und
kann den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefähr-
den.





Matthias W. Birkwald


(A) (C)



(D)(B)


Das stimmt voll und ganz; doch die FDP, der Wirt-
schaftsminister, hat diese richtige Einsicht ganz schnöde
wegzensiert. Das ist unseriös, und das ist feige.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Was ist seit 2008 passiert?)


Meine Damen und Herren, lieber Kollege Vogel, die
Wahrheit ist: Inzwischen arbeiten 4,7 Millionen Vollzeit-
beschäftigte im Niedriglohnbereich. Das ist mehr als ein
Fünftel aller Vollzeitbeschäftigten. Wir können lesen,
dass in der Leiharbeit selbst Ingenieure beim Lohn zu-
rückliegen. Insgesamt arbeiten rund 8 Millionen Men-
schen für einen Niedriglohn, also für weniger als 9 bis
10 Euro brutto die Stunde. 1,4 Millionen arbeiten sogar
für weniger als 5 Euro in der Stunde. Das alles schreit
doch förmlich nach einem flächendeckenden gesetzlichen
Mindestlohn in Höhe von mindestens 10 Euro – übrigens
in Ost und West –; denn Arbeit darf nicht arm machen,
von Arbeit muss man leben können.


(Beifall bei der LINKEN)


Nun ist es ja so, dass inzwischen auch die Union und
sogar die FDP über so etwas wie Lohnuntergrenzen
nachdenken. Doch wie so oft steckt der Teufel im Detail.
Damit meine ich nicht die FDP, die bisher noch jedes
von CDU und CSU angekündigte Minireförmchen aus-
gebremst hat – ich sage nur: Rentenreform –, nein, ich
meine den Vorschlag der Union selbst; denn sie schlägt
vor, allgemeinverbindliche Lohnuntergrenzen für Bran-
chen ohne Tarifverträge einzuführen. Das hört sich toll
an, geht aber leider an der traurigen Tatsache vorbei,
dass wir reihenweise Tarifverträge mit Dumpinglöhnen
haben. Denken Sie nur an die Friseurinnen in Sachsen:
3,82 Euro brutto! Das ist die Wirklichkeit. Da müssen
wir ran, deshalb hilft hier wirklich nur ein flächende-
ckender gesetzlicher Mindestlohn.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Manfred Grund [CDU/CSU]: Da müssen wir das Grundgesetz ändern!)


Meine Damen und Herren, viele Aussagen des Ar-
mutsberichts sind der unsäglichen FDP-Zensur zum Op-
fer gefallen. Aber auch das, was der Bericht beispiels-
weise zur Altersarmut enthält, hat oft mit der
Wirklichkeit rein gar nichts zu tun. Im Bericht selbst er-
klärt die Bundesregierung, Kollege Zimmer, dass je nach
Statistik das Armutsrisiko bei 848 Euro, bei 952 Euro
oder gar bei 1 063 Euro beginne, und dennoch behaup-
ten CDU/CSU und FDP in demselben Bericht allen
Ernstes, dass die sogenannte Grundsicherung im Alter
Altersarmut verhindere. Das Grundsicherungsniveau be-
trägt derzeit allerdings durchschnittlich nur 707 Euro,
also deutlich weniger als 1 063 oder 952 Euro und auch
weniger, Herr Straubinger, als 848 Euro.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Das schwankt von 800 bis zu 700 Euro!)


Armut verhindert die sogenannte Grundsicherung also
nicht. Sie, meine Damen und Herren von der Union und
der FDP, verharmlosen und verschleiern die Wirklich-
keit. Und was das Schlimmste ist: Sie verhöhnen die
Menschen, die von der Grundsicherung im Alter leben
müssen. Das ist schäbig, das muss aufhören, und darum
fordern wir Linken eine solidarische Mindestrente.
1 050 Euro sind das Ziel.


(Beifall bei der LINKEN)


Es ist erst wenige Monate her, dass Sie, Frau von der
Leyen, als zuständige Bundesministerin für Arbeit und
Soziales das Land mit einer rentenpolitischen Schockta-
belle aufgerüttelt haben, und dafür bin ich Ihnen immer
noch dankbar. Doch Ihre Schocktabelle hat in der Bun-
desregierung ganz offensichtlich nur eine intellektuelle
und politische Schockstarre ausgelöst.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Denn einerseits kündigen Union und FDP seit Monaten
nahezu wöchentlich, ja zuweilen sogar täglich an, end-
lich etwas gegen Altersarmut tun zu wollen. Aber in Ih-
rem ärmlichen Armutsbericht behaupten Sie dann ande-
rerseits, dass die Rente sicher sei. Ich zitiere:

Millionen Rentnerinnen und Rentner und Millionen
Beschäftigte können darauf vertrauen, dass das
Rentensystem stabil ist.

Mit ihrer Rentenschocktabelle hat Frau von der Leyen
aber doch uns allen etwas völlig anderes gezeigt: 86 Pro-
zent der Menschen, die uns die Haare frisieren, 81 Pro-
zent derer, die Gebäude putzen, 77 Prozent der Men-
schen, die uns im Restaurant, in Imbissbuden oder
Eisdielen bedienen, 67 Prozent der Leiharbeiterinnen
und Leiharbeiter – dies muss immer wieder und ange-
sichts des Amazon-Skandals besonders laut gesagt wer-
den –, sämtliche Floristinnen und Floristen, Bäckerinnen
und Bäcker sowie Hotelkauffrauen und -männer, sie alle
werden in die Altersarmut fallen, wenn wir nichts än-
dern. Denn sie alle haben deutlich weniger als
2 500 Euro brutto im Monat, und das ist das Einkom-
men, das nach den Berechnungen von Frau von der
Leyen direkt in die Altersarmut führen wird. Ja, auch für
diese Menschen ist die Rente sicher, und zwar sicher zu
niedrig, und genau das will die Linke ändern: mit guten
Löhnen, mit guter Arbeit und mit einer guten Rente.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der LINKEN – Max Straubinger [CDU/CSU]: Da habt ihr Erfahrungen gemacht in der DDR!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1722206100

Das Wort hat jetzt der Kollege Peter Weiß von der

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1722206200

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Man muss sich in dieser Debatte schon die Frage stellen:





Peter Weiß (Emmendingen)



(A) (C)



(D)(B)


Geht es jetzt um politischen Klamauk im Hinblick auf
den Wahlkampf, oder geht es uns um die Menschen in
unserem Land, die armutsgefährdet sind?


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Um Letzteres, Herr Kollege!)


Nun kann man natürlich eine Debatte führen, wie es
die Oppositionsfraktionen getan haben, in der man sich
darüber auslässt: Welchen kommentierenden Text
schreibt wohl die Bundesregierung zu diesem Bericht?
Aber seien Sie doch einmal ehrlich: Egal was die Bun-
desregierung im Armuts- und Reichtumsbericht schrei-
ben würde, Herr Gabriel, Frau Göring-Eckardt und alle
anderen Redner der Oppositionsfraktionen würden die-
sen Text in der Debatte anschließend kritisieren. Von da-
her ist es aus der Sicht der Oppositionsfraktionen doch
egal, was die Bundesregierung schreibt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Dann lasst das Regieren doch gleich sein!)


Das Entscheidende am Armuts- und Reichtumsbe-
richt ist aber – deswegen wird er in jeder Legislaturpe-
riode vorgelegt –, dass uns eine große Zahl renommier-
ter, unabhängiger Wissenschaftler Zahlen, Daten, Fakten
und Entwicklungslinien aufzeigt. Diese liegen vor, und
diese kann man auch interpretieren, ohne einen Kom-
mentar der Bundesregierung dazu gelesen zu haben. Ich
verstehe nicht, warum sich die Rednerinnen und Redner
der Oppositionsfraktionen diesem objektiven Teil des
Berichts nicht zugewandt haben.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Wollen sie ja nicht!)


Die Kernaussage ist: Das Hauptarmutsrisiko in
Deutschland sind lange Phasen der Arbeitslosigkeit. In
der Tat: In den Jahren der Massenarbeitslosigkeit bei uns
in Deutschland ist die Armutsgefährdung für viele Men-
schen deutlich angestiegen. Seit dem Jahr 2007 ist die
Zahl der Langzeitarbeitslosen aber Gott sei Dank um
rund 40 Prozent gesunken. Der Jahresdurchschnitt lag
2007 bei 1,73 Millionen und im Jahr 2011 bei 1,06 Mil-
lionen. Die wichtigste Aussage des Berichts ist des-
wegen: Ja, wir sind auf dem richtigen Weg, wenn wir al-
les unternehmen, um die Langzeitarbeitslosigkeit in
Deutschland weiter abzubauen und den Menschen Chan-
cen auf Arbeit zu geben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Das betrifft vor allen Dingen die jungen Leute. Was
die Jugendarbeitslosigkeit anbelangt, stehen wir europa-
weit am besten da. Weil gerade auch diejenigen jungen
Leute – sie kommen zumeist aus schwierigen Verhältnis-
sen –, die noch keine Chance hatten, eine Chance be-
kommen sollen, haben wir mit Frau Bundesministerin
von der Leyen und der Bundesagentur für Arbeit ein
neues Programm gestartet, um denjenigen, die bislang
noch keine Chance hatten, eine solche zu eröffnen. Wir
wollen, dass jeder junge Mensch in Deutschland eine
Chance auf gut bezahlte Arbeit bekommt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Richtig ist: In Deutschland ist der Niedriglohnsektor
über die Jahre gewachsen.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ja!)


Richtig ist: In Deutschland hat die Einkommenssprei-
zung gegenüber früher zugenommen.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ja, Herr Kollege Zimmer! – Gegenruf des Abg. Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Früher! Jetzt hat sie sich wieder geschlossen!)


Jetzt schauen Sie sich aber einmal die Statistik im Ar-
muts- und Reichtumsbericht an: Der Anteil des Niedrig-
lohnsektors in Deutschland ist, bezogen auf alle Be-
schäftigte, in den Jahren zwischen 2001 und 2007
deutlich ausgebaut worden, und zwar von 18,8 Prozent
in 2001 auf 24,2 Prozent in 2007. Seither sinkt er wieder
leicht.

Schauen Sie sich die Einkommensverteilung an: Aus-
gerechnet in den Regierungsjahren von Rot-Grün ist,
wie im Bericht dargestellt, die Einkommensschere in
Deutschland deutlich auseinandergegangen. Danach ist
sie Gott sei Dank nicht noch weiter auseinandergegan-
gen. In den letzten zwei Jahren war die Spreizung sogar
wieder leicht rückläufig.


(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Aha!)


Das heißt, das Problem „Wachsende Einkommensdif-
ferenzierung, Einkommensschere, Niedriglohnsektor“
ist vor allem in rot-grüner Regierungszeit geschaffen
worden. Dazu hätte ich von Rot und Grün in diesem Par-
lament doch gerne einmal ein Wort gehört.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Wer hat es erfunden? Die haben es erfunden!)


Angesichts der Daten und Fakten im Armuts- und
Reichtumsbericht kann man meinetwegen mit dem Fin-
ger auf die CDU/CSU und die FDP zeigen. Aber wenn
Sie das tun, dann zeigt gleichzeitig eine ganze Hand auf
Sie und Ihre politische Verantwortung zurück, die Sie für
den Niedriglohnsektor und die Einkommensdifferenzie-
rung in Deutschland tragen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wir dürfen das!)


Was soll man denn von Wahlkämpfern halten, die an-
geblich nach diesem September in Deutschland regieren
wollen, aber hier im Deutschen Bundestag kein einziges
kritisches Wort zu dieser ihrer Regierungsverantwortung
von damals sagen, sondern so tun, als hätten sie mit dem
Problem überhaupt nichts zu tun? Hier sitzen die Pro-
blemverursacher! Sie hätten sich heute zu Ihrer Verant-
wortung bekennen können.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Richtig ist: Wenn wir dafür sorgen wollen, dass das
Prinzip der sozialen Marktwirtschaft auch in Zukunft





Peter Weiß (Emmendingen)



(A) (C)



(D)(B)


gilt, dass nämlich eine Konkurrenz um die beste Leis-
tung, um die besten Innovationen und um die besten
Ideen, aber nicht um die schlechtesten Löhne stattfindet,
dann brauchen wir in Deutschland in den Bereichen, in
denen Tarifverträge nicht mehr funktionieren, einen ta-
riflichen Mindestlohn. Dafür setzen wir uns als Union
ein.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Tariflich reicht nicht! – Sigmar Gabriel [SPD]: Können Sie das mal erklären? Wenn Tarifverträge nicht funktionieren, dann ein tariflicher Mindestlohn?)


Herr Gabriel hat die Unterschiede angesprochen. Die-
sen tariflichen Mindestlohn wollen wir so finden, dass
Arbeitgeber und Gewerkschaften ihn miteinander aus-
handeln und der Staat ihn per Rechtsverordnung für ver-
bindlich erklärt. Wir wollen nämlich weiterhin starke
Gewerkschaften und starke Arbeitgeberverbände in den
Tarifverhandlungen. Das war das Erfolgsmodell der Ta-
rifautonomie in Deutschland. Wir wollen das für die Zu-
kunft wieder stärken.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das nutzt den Friseurinnen in Sachsen gar nichts!)


Meine sehr geehrten Damen und Herren, das Bemer-
kenswerte an dem neuen Armuts- und Reichtumsbericht
ist aber,


(Hilde Mattheis [SPD]: Dass er dünner ist!)


dass er sich nicht einfach mit Zahlen, Daten und Fakten
beschäftigt, sondern erstmals ausführliche Untersuchun-
gen zur Lebenslage armutsgefährdeter Menschen be-
inhaltet. Das Armutsrisiko wird eben nicht nur als statis-
tische Größe betrachtet, sondern es werden auch
Rahmenbedingungen für soziale Mobilität geprüft.


(Hilde Mattheis [SPD]: Eben nicht!)


Dabei geht es um die Frage, wie man aus Armut ausstei-
gen kann. Der neue Armuts- und Reichtumsbericht
orientiert sich an den wesentlichen Stationen des Le-
bensverlaufes, und er analysiert entscheidende Über-
gänge für erfolgreiche Teilhabe in der jeweiligen
Lebensphase. Weiter benennt er Risiko- und Erfolgsfak-
toren für soziale Mobilität und wirkungsorientierte Maß-
nahmen.

Wir müssen in allen Lebenslagen Möglichkeiten
schaffen, sodass jeder die Chance hat, sich seinen Le-
bensunterhalt selbst zu erarbeiten und auch eigenes Ver-
mögen aufzubauen. Auch Menschen mit kleinem Ein-
kommen müssen die Chance haben, aufzusteigen und
sich selber Besitz zu erarbeiten. Aufstiegsmobilität, das
ist unser Motto.

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die entschei-
dende Frage ist nicht: Wie kann die Armutsgefährdung
in Deutschland analysiert werden? Vielmehr müssen
Wege aufgezeigt werden, um aus der Armutsgefährdung
herauszukommen. Das heißt zuallererst, dass es Chancen
geben muss, in den Arbeitsmarkt zu kommen. Zweitens
muss Aufstieg durch Bildung und Weiterbildung mög-

lich sein. Drittens muss es Chancen geben, damit Migra-
tionshintergrund kein Hemmnis mehr ist, um in
Deutschland aufzusteigen. Wir als Union, wir als Koali-
tion von CDU, CSU und FDP wollen eine Aufsteigerge-
sellschaft. Das ist unser Motto.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dazu sprechen die Daten und Fakten des aktuellen
Armuts- und Reichtumsberichts, wie ich finde, eine
klare Sprache. Wir haben in der Tat schwierige Jahre zu-
nehmender Armutsgefährdung in Deutschland hinter
uns. Das ist für viele Menschen nach wie vor eine be-
drohliche Perspektive. Der Bericht zeigt aber auf, dass es
in der Regierungszeit von Angela Merkel gelungen ist,
diesen Negativtrend nicht nur zu stoppen, sondern auch
eine Trendwende herbeizuführen.

Verehrter Herr Kollege Gabriel, um zu Ihrer Rede zu-
rückzukommen: Die Menschen in Deutschland hoffen
deswegen nicht auf eine neue Regierung, sondern sie
vertrauen zu Recht Angela Merkel,


(Hilde Mattheis [SPD]: Ist das eine Bewerbungsrede?)


dass sie diesen Trend zum Positiven auch nach der Bun-
destagswahl 2013 fortsetzen kann. Dafür arbeiten wir als
Union.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das müsst ihr jetzt alle am Ende jeder Rede sagen! Koalitionsbeschluss!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1722206300

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Heinrich Kolb von

der FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1722206400

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich

möchte eine kurze Bilanz ziehen und einige Bemerkun-
gen zur Debatte machen. Erstens finde ich bemerkens-
wert: Kollege Volker Beck stellt zu Beginn dieser De-
batte lautstark einen Antrag und verschwindet nach
Bekanntgabe des Ergebnisses des Geschäftsordnungsan-
trags tonlos, ohne jede Erklärung, aus diesem Saal. Ich
habe zunächst gedacht: Der muss hinausgehen, um ein
kurzes Interview zu geben. Dass er aber die gesamte De-
batte versäumt, nachdem alle, die er aufgefordert hat, zu
erscheinen, auch tatsächlich hier erschienen sind, ist
skandalös und unkollegial bis zum Gehtnichtmehr.


(Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] betritt den Plenarsaal und begibt sich auf seinen Platz)


– Aha, jetzt kommt er wieder zurück, um sich seine
Schelte abzuholen. Sie haben hier alles verpasst, Herr
Kollege Beck. Das zeigt, welches Interesse Sie am
Thema Armut wirklich haben. Dieses Thema ist Ihnen
nämlich schietegal. Ihnen ging es nur darum, in dieser





Dr. Heinrich L. Kolb


(A) (C)



(D)(B)


Debatte Klamauk zu machen. Das haben Sie auch ein
Stück weit erreicht.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Zum Thema Nachhaltigkeit – die Opposition ist ja
immer sehr für Nachhaltigkeit –: Insgesamt kann ich hier
kein sehr nachhaltiges Interesse bei der Opposition fest-
stellen. Nachdem Sie am Anfang der Debatte so zahl-
reich erschienen waren, ist es jetzt mehr als dürftig, wie
viele von Ihnen noch hier im Plenum vertreten sind.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Iris Gleicke [SPD]: Bei Ihnen sind die Leute auch erst wiedergekommen!)


Die zweite Bemerkung, die ich machen möchte, rich-
tet sich an den Kollegen Gabriel. Das muss man sich ein-
mal vorstellen: Da tritt der Führer der Opposition im
Deutschen Bundestag auf, wirft sein ganzes Gewicht in
diese Debatte, hält einen 15-minütigen Wortbeitrag, und
am Ende bleibt nicht mehr als das Gefühl: Der Berg
kreißte und gebar ein Redemäuschen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Einen Punkt Ihrer Rede, Herr Kollege Gabriel, muss
ich hervorheben.


(Abg. Sigmar Gabriel [SPD] telefoniert)


– Herr Gabriel, es wäre nett, wenn Sie mir zuhören wür-
den. Das ist in Debatten nicht ganz unüblich.


(Zurufe von der CDU/CSU: Hallo! Zuhören!)


Herr Präsident, ich glaube, das ist doch sehr unkollegial,
was der Kollege Gabriel macht. Ich weiß nicht, ob am
anderen Ende der Leitung wirklich jemand ist. – Herr
Gabriel, Folgendes will ich Ihnen sagen: Ich finde es un-
glaublich und unerträglich, dass der Vorsitzende der äl-
testen Partei in Deutschland einer demokratisch gewähl-
ten Bundesregierung vorwirft, sie übe Zensur aus. Herr
Kollege Gabriel, das sollten Sie nicht nur zurückneh-
men, sondern diese Aussage müssen Sie zurücknehmen.
Es geht einfach nicht, dass man in diesem Haus so mitei-
nander umgeht.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Iris Gleicke [SPD]: Oh! Oh! – Weitere Zurufe von der SPD)


Ich weiß nicht, wie Berichte oder Beschlüsse in der
SPD zustande kommen. Aber ich empfinde es eher als
einen Ausdruck von Demokratie, dass man über einen
Bericht diskutieren darf.


(Sigmar Gabriel [SPD]: Aber wir fälschen nicht! Sie sind Fälscher!)


Nur in totalitären Regimen wird nicht über Berichte dis-
kutiert. Da gibt nämlich einer, der Diktator, vor, wie die
Sache zu laufen hat. Hier bei uns läuft das anders. Das
ist auch gut so, Herr Kollege Gabriel.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Sigmar Gabriel [SPD]: Aber wir fälschen nicht! Sie sind Fälscher!)


Mir bleibt noch eine dritte Bemerkung. Die einzige
Neuerung, die diese Debatte heute gebracht hat, war: Sie
sagen jetzt nicht mehr: „Arbeit ist der beste Schutz vor
Armut!“ – dem stimme ich vollkommen zu; das haben
bisher alle Bundesregierungen in allen Armuts- und
Reichtumsberichten so gesehen –, sondern Sie erweitern
diesen Satz um die Aussage: „von der man auch leben
kann“.

Herr Kollege Gabriel, ich fände es nett, wenn Sie zur
Kenntnis nehmen würden, dass von den vollzeitarbeiten-
den Alleinlebenden in Deutschland mehr als 99 Prozent
von dem leben können, was sie verdienen, und dass es
vor allen Dingen Verheiratete und Personen mit Kindern
sind, die zum Amt gehen und aufstocken müssen.


(Hilde Mattheis [SPD]: Sie sollten mal wieder Bus oder Straßenbahn fahren! – Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schlimm genug! Tun Sie doch etwas dagegen!)


Dass es diese Möglichkeit des Aufstockens gibt, haben
Sie und die Regierung, der Sie damals angehört haben,
vor etwa fünf bis acht Jahren in diesem Land erst einge-
führt. Die Show, die Sie heute hier aufgeführt haben,
läuft ein Stück weit nach dem Motto: Haltet den Dieb; er
hat mein Messer im Rücken!


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Nein, es bleibt dabei: An ihren Taten sollt ihr sie er-
kennen! Der Kollege Kober hat zu Recht gesagt: Dass
Sie die Abschaffung der kalten Progression im Bundes-
rat verhindern, ist ein Trauerspiel und der SPD absolut
unwürdig. Aber dass Sie hier beklagen, es gebe keine
Chancen für junge Menschen aus Hartz-IV-Haushalten,
und als SPD-Regierung vergessen haben, überhaupt et-
was für Bildung im Regelsatz von Hartz IV vorzusehen,
ist doch der eigentliche Skandal.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir haben 12 Milliarden Euro für Bildung und For-
schung und damit auch für Hochschulen auf den Weg
gebracht. Wir haben – ich komme aus Hessen – in die-
sem Bundesland 2 000 neue Lehrer eingestellt. Das sind
Bildungschancen.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: In BadenWürttemberg wollen sie da kürzen!)


Da, wo Sie regieren, in Nordrhein-Westfalen, in Baden-
Württemberg, werden Lehrerstellen eingespart. Das ist
das Gegenteil von Bildungschancen.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: So ist es!)


Wer so handelt, der sollte sich hier nicht so aufblasen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Auch nichts zum Armutsund Reichtumsbericht gesagt!)







(A) (C)



(D)(B)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1722206500

Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt

erteile ich jetzt das Wort dem Kollegen Frank Heinrich
von der CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Frank Heinrich (CDU):
Rede ID: ID1722206600

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Es bleibt mir als letztem Redner ein Stück
weit die Aufgabe, die Puzzleteile zusammenzusetzen
oder vielleicht auch die Scherben zusammenzufügen.

Gestern bin ich sehr spät abends mit einem Freund in
den Kinofilm Les Misérables gegangen, der als solches
wirklich zu empfehlen ist. Es war deswegen so spät, weil
dieser Film eigentlich erst heute startet. Warum bin ich
in diesen Film gegangen? Erstens gehe ich gerne ins
Kino. Zweitens dachte ich, dieser Film – in der Überset-
zung heißt er Die Elenden nach dem Roman von Victor
Hugo – könnte möglicherweise eine Anregung für meine
heutige Rede in der Debatte zum 4. Armuts- und Reich-
tumsbericht sein bzw. zur Armuts- und Reichtumsbe-
richterstattung, wie wir hier lesen; denn da geht es ja of-
fensichtlich noch weit über das hinaus, was wir hier
diskutieren. Tatsächlich hat mich dieser Film ins Nach-
denken gebracht und meine Vorbereitung durcheinander-
gebracht.

Ich spreche zu Ihnen aus zweierlei Perspektiven: Zum
einen spreche ich als Abgeordneter und Kollege, in dem
Fall einer Regierungsfraktion, zum anderen als – das war
mein vorheriger Beruf – Heilsarmeeoffizier, der sein Le-
ben lang mit Armut zu tun hatte und selber einen großen
Teil seines Lebens unter der sogenannten Armutsgrenze
oder – so haben Sie, Herr Gabriel, es genannt – der Ar-
mutsgefährdungsgrenze gelebt hat.

Aus der ersten Perspektive, aus der eines Abgeordne-
ten, will ich auf die Formalitäten eingehen. Das kam mir,
ehrlich gesagt, ein bisschen zu kurz, bis mein Kollege
Peter Weiß darauf eingegangen ist. Wir reden also zum
einen über einen Bericht, der noch nicht vorliegt, und
zum anderen über Anträge und eine Große Anfrage von
Ihnen, den Grünen.

Neben dem, dass wir sehr wohl ernst nehmen, was
Armut und die Reaktion darauf in Deutschland ist,
möchte ich zwei Thesen und eine Botschaft aus den Zah-
len und Inhalten ableiten.

Die erste These ist: Dieses Land ist nicht arm; es redet
sich arm. Deutschland – das hat auch Herr Kollege
Zimmer vorhin gesagt – ist teilweise dabei, sich in einen
Zustand hineinzureden. Wer einer sozialversicherungs-
pflichtigen Beschäftigung nachgeht, ist in den seltensten
Fällen tatsächlich bedürftig; wir haben das gerade von
meinem Vorredner gehört. Gut ausgebildete Personen
sind in der Regel dauerhaft vor einem sozialen Abstieg
geschützt.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: 1,3 Millionen Aufstockerinnen und Aufstocker! Das ist doch nicht selbstverständlich!)


Seit 2005 ist die Zahl der Hartz-IV-Empfänger deut-
lich gesunken. Das ist ein eindeutiges und objektives In-
diz dafür, dass die Gesellschaft auf einem guten Weg ist
– ich finde, das ist ein sehr deutliches Zeichen – und kei-
neswegs in ungleicher Verteilung zerfällt, wie manche
hier wieder sehr laut verkündet haben. Die Arbeits-
marktreformen der letzten Jahre sind europa- und welt-
weit sehr anerkannt – ich finde, zu Recht.

Zweite These: stabile Mittelschicht auf der einen Seite
– auch da wird immer wieder hineingeredet und davon
weggeredet – und auf der anderen Seite, aus den Statisti-
ken zusammengezählt, eine gleichbleibende, wenn man
so will, Unterschicht. Die unterschiedlichen Studien der
letzten Monate belegen: Deutschlands Mitte ist stabil; sie
schrumpft nicht. Ich nenne nur drei Studien – eine wurde
vorhin in Gegenrede zitiert –, die von der Konrad-
Adenauer-Stiftung, der Bertelsmann-Stiftung und vom
DIW: deutliche Signale. Es gibt keinen Anlass für Alar-
mismus in die Gesellschaft hinein, keine Erosion der Mit-
telschicht oder gar ein – ich zitiere aus dem, was Sie auf
Ihrem Parteitag gesagt haben, Herr Gabriel; ich hoffe,
dass es so wörtlich ist – Zerreiben dieser Schicht zwi-
schen der wachsenden Armut und dem steigenden Reich-
tum in Deutschland.

Zählt man alle Bürger zur Mittelschicht, die über
60 bis 200 Prozent, also ungefähr über das Doppelte, des
Durchschnittseinkommens verfügen, gehören vier Fünf-
tel, also 80 Prozent, der Bevölkerung zur Mittelschicht.
Bei einer engeren Definition von 70 bis 150 Prozent sind
es 60 Prozent der Bevölkerung.

Es zählen heute mehr Menschen zu dieser Mittel-
schicht als zu Beginn der 90er-Jahre, insbesondere in
den neuen Bundesländern, wo gerade die Arbeiter-
schicht, die uns dort stärker ausgemacht hat, zugunsten
der Mittelschicht geschrumpft ist. Und doch gilt: Wer
von unten kommt und unten ist, bleibt meist unten. Des-
halb müssen wir genau an dieser Stelle arbeiten. Aber
Achtung: Die Armutsdefinition – das wurde schon er-
wähnt – ist willkürlich und eben Definitionssache. Zitat
FAZ letzte Woche.

Bei den Maßstäben bin ich mir nicht sicher, ob wir
den immer wieder von allen drei Oppositionsfraktionen
in dieser Debatte vorgetragenen Punkt, der offensichtlich
nicht in die Studie hineingehören soll, zugrunde legen
wollen, nämlich das Gerechtigkeitsgefühl der Menschen
zum Maßstab machen zu wollen für den wirklichen Tat-
bestand von Armut. Das kommt mir seltsam vor.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Was ist denn Ihre Armutsdefinition? Sagen Sie uns das doch bitte!)


Fachleute unterscheiden drei Elemente: subjektive
Armut – das sind Betroffene, die sich arm fühlen, es aber
nicht unbedingt sind; Herr Zimmer hat vorhin ausge-
führt, in welchen Bereichen das so sein kann –, absolute
Armut, wenn es ums nackte Überleben geht, und relative
Armut; da ist das Leben gesichert, das soziokulturelle
Existenzminimum jedoch noch nicht.

In Entwicklungsländern – wir vergleichen uns nicht
mit ihnen; das ist mir sehr wohl bewusst – ist absolute





Frank Heinrich


(A) (C)



(D)(B)


Armut der Maßstab, mit weniger als 1,25 Dollar am Tag
zum Überleben. Bei uns ist es der Begriff der relativen
Armut.

Gleichwohl gibt es hier Menschen mit besonderem
Risiko, in soziale Not zu geraten. Gefährdung besteht,
wie gesagt, für drei Bereiche; drei Gruppen werden in
dem Bericht genannt: Langzeitarbeitslose, Alleinerzie-
hende und ihre Kinder sowie Migranten. Ihnen muss un-
sere besondere Aufmerksamkeit gelten, und es geht uns
letzten Endes hoffentlich um die Praxis und die Umset-
zung dessen, was wir als Theorie gehört und gelesen ha-
ben. Es gilt, das in den Fokus zu nehmen.

Das Dritte, was ich dazu sagen wollte: Die Botschaft
daraus ist: Bildung, Bildung, Bildung. Es geht darum,
gesellschaftliche Aufstiegschancen in den Fokus zu neh-
men. Da bin ich ganz bei Ihnen, Frau Göring-Eckardt,
bei der Rednerin ganz am Anfang dieser Debatte: Bil-
dung im Zentrum des möglichen Aufstiegs.

Was ist also zu tun? Hartz IV und Wohngeld erhöhen?
Grundeinkommen und Mindestrente einführen? Das
würde vermutlich den Anreiz zur Arbeit senken und un-
serem sozialstaatlichen Prinzip des Förderns und For-
derns widersprechen und nicht zuletzt Milliarden Euro
kosten, die uns einfach nicht jedes Jahr in dieser Höhe
zur Verfügung stehen.

Der Schlüssel im Kampf gegen Armut ist Bildung.
Die zentrale Botschaft dieses Armuts- und Reichtumsbe-
richts ist genau das. Wir müssen auch den Einfluss der
Bildungsherkunft neutralisieren. Dieser Herausforde-
rung müssen wir uns stellen.

Ich hatte am Anfang gesagt, ich möchte einige Mo-
mente auch aus einer anderen Perspektive reden, Ab-
stand nehmen von der Rolle als Abgeordneter, der sich
der einen oder der anderen Seite zuordnen lassen muss,
und einfach nur laut nachdenken. Bei dieser Auseinan-
dersetzung – die Debatte heute hat das einmal mehr ge-
zeigt – wird mir an der einen oder anderen Stelle übel.
Damit meine ich jetzt nicht die Debatte selbst, sondern
die dahinterstehenden Argumente. Das sage ich als je-
mand, der den Geruch von Armut kennt.

Wenn wir den wirklich Armen in diesem Land ge-
recht werden wollen, dann dürfen wir sie nicht alle ein-
fach über einen Kamm scheren – nach oben nicht und
nicht nach unten. Es grenzt – so fühle ich mit Menschen,
mit denen ich zu tun habe – an Denunziation, diejenigen,
die wirklich in Not sind, auf eine Stufe mit allen jenen zu
stellen, die armutsgefährdet sind oder ähnlichen Begrif-
fen zuzuordnen sind.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Sagen Sie doch einmal, wen Sie meinen! Was ist denn Ihr Armutsbegriff?)


Und das tun wir in unserem Land, das tun wir in diesem
Haus, das tun wir in den Medien, und das tun wir auch in
vielen sozialen Organisationen. Wir machen die Men-
schen glauben, die Spaltung unserer Gesellschaft hätte
dramatische Formen angenommen. Die Zahlen – auch in

diesem Bericht – sagen etwas vollkommen anderes.
Aber damit werden wir denen nicht gerecht, die diese
Hilfe tatsächlich brauchen; denn es geht uns ja am
Schluss um diese Menschen. Oder habe ich da etwas
falsch verstanden? Wir spielen mit den Begriffen, und
zwischen den Worten werden die zerquetscht, die uns
brauchen, weil sie ihre Krisen eben nicht allein gemeis-
tert bekommen.

Not müssen wir Not nennen. Arm? Da sind wir ge-
fragt. Aber einen großen Teil zusätzlich arm zu nennen,
das ist nicht nur eine Beleidigung für die, die unsere
politische Arbeit – jenseits der Parteilichkeit – brauchen,
sondern es könnte auch bedeuten, die Menschen, die Ju-
gend und die Gesellschaft – je länger, je mehr – zu Me-
ckerern und Beklagern und hin und wieder sogar zu Mi-
mosen zu erziehen. Damit werden wir beiden Gruppen
nicht gerecht.

Ich frage mich wirklich, ob wir uns nicht an unserer
Gesellschaft und unseren Nachkommen versündigen,
wenn wir nicht auch fordern. Ist nicht auch dieses
Kämpfen und Streben ein Teil dessen, was Leben und
Entwicklung ausmacht, was uns als Mensch ausmacht?
Herr Kober sprach mit Bezug auf eine Denkschrift der
EKD von der Befähigung zu Eigenverantwortung und
Solidarität.

Ein katholischer Philosoph, Romano Guardini, hat
mich sehr geprägt. Er redet unter anderem von den Le-
bensphasen und den Krisen, die es im Übergang immer
wieder gibt. Allerdings werden wir ohne die Bewälti-
gung dieser Hürden eben nicht weiterkommen, nicht
wirklich weiterkommen im Leben.

Dies auszuschließen, Menschen die Herausforderun-
gen, Krisen und Klippen zu nehmen, das hinterlässt bei
mir einige Sorgenfalten. Ich bin froh, in einem Land zu
leben, in dem es einen Armuts- und Reichtumsbericht
alle vier Jahre geben muss, und ich stehe voll dazu, dass
die Menschen, die es allein nicht schaffen, nicht auf der
Strecke bleiben dürfen. Allerdings halte ich es für
schwierig, die Forderungen und Leistungsanreize, die
dieses Leben mit sich bringt,


(Iris Gleicke [SPD]: Nun ist es aber gut! Sie haben schon zwei Minuten überzogen! Es wird nicht besser!)


an allen möglichen Stellen – prophylaktisch – aus dem
Weg zu räumen.

Ich komme zum Ende.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1722206700

Ja, bitte sofort. Nicht gleich, sondern sofort.


Frank Heinrich (CDU):
Rede ID: ID1722206800

Ich will nichts gutreden. Wichtig ist mir: Besser hin-

schauen, weniger verallgemeinern, den Menschen mehr
zutrauen, nicht alles abnehmen und im Not- und Zwei-
felsfall alle erdenkliche Hilfe beim Über-die-Hürden-
Kommen anbieten.





Frank Heinrich


(A) (C)



(D)(B)


Zum Schluss richte ich ein Plädoyer


(Iris Gleicke [SPD]: Nein, nicht noch einmal! Also ehrlich, die schöne Redezeit! Die hätten andere besser genutzt!)


für mehr Solidarität an diejenigen, die im Hinblick auf
Einkommen und Besitz am oberen Ende der Skala leben.
Da muss nicht erst der Staat sagen: Einkommen ver-
pflichtet. Diese Wahrheit –


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1722206900

Herr Kollege Heinrich.


Frank Heinrich (CDU):
Rede ID: ID1722207000

– ist auch ohne Steuergesetze richtig.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1722207100

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/12389 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales auf
Drucksache 17/8508. Der Ausschuss empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung
des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache
17/4552 mit dem Titel „Vorbereitung des 4. Armuts- und
Reichtumsberichts der Bundesregierung in der 17. Wahl-
periode – Armuts- und Reichtumsberichterstattung wei-
terentwickeln“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfrak-
tionen angenommen.

Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ableh-
nung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache
17/6389 mit dem Titel „Armuts- und Reichtumsbericht
zum Ausgangspunkt für Politikwechsel zur Herstellung
sozialer Gerechtigkeit machen“. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen und der Fraktion der Grünen gegen die
Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der SPD-
Fraktion angenommen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 38 a bis 38 j sowie
die Zusatzpunkte 3 a bis 3 d auf:

38 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Be-
schleunigung der Rückholung radioaktiver
Abfälle und der Stilllegung der Schachtanlage
Asse II

– Drucksache 17/12298 –

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)
Innenausschuss 
Rechtsausschuss 
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung

b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
Änderung des Lebensmittel- und Futtermittel-
gesetzbuches sowie anderer Vorschriften

– Drucksache 17/12299 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f)
Rechtsausschuss 
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit

c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ab-

(Branntweinmonopolabschaffungsgesetz)


– Drucksache 17/12301 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Finanzen (f)
Rechtsausschuss 
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO

d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
Änderung des Vorläufigen Tabakgesetzes

– Drucksache 17/12338 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f)
Ausschuss für Gesundheit

e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Zu-
satzprotokoll von Nagoya/Kuala Lumpur vom
15. Oktober 2010 über Haftung und Wieder-
gutmachung zum Protokoll von Cartagena
über die biologische Sicherheit

– Drucksache 17/12337 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f)
Rechtsausschuss 
Ausschuss für Gesundheit 
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

f) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-
kommen vom 3. Mai 2012 zwischen der Regie-
rung der Bundesrepublik Deutschland und
der Republik Korea über die Seeschifffahrt

– Drucksache 17/12336 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)
Auswärtiger Ausschuss 
Rechtsausschuss





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)


g) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung seeverkehrsrechtlicher und sonstiger
Vorschriften mit Bezug zum Seerecht
– Drucksache 17/12348 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)
Innenausschuss 
Rechtsausschuss 
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Behm, Friedrich Ostendorff, Harald Ebner, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Grünlanderhalt ist Klimaschutz
– Drucksache 17/11028 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f)
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

i) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kornelia
Möller, Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Sozial und regional – Tourismus in ländlichen
Räumen stärken
– Drucksache 17/11373 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 
Ausschuss für Gesundheit 
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit 
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung

j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Omid
Nouripour, Volker Beck (Köln), Marieluise Beck

(Bremen), weiterer Abgeordneter und der Frak-

tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Landbeschaffungsgesetz überprüfen
– Drucksache 17/12195 –
Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss (f)
Innenausschuss 
Rechtsausschuss 
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung 
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

ZP 3 a)Beratung des Antrags der Abgeordneten Heinz
Paula, Dr. Matthias Miersch, Dirk Becker, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Wildtierhandel und -haltung in Deutschland
einschränken und so den Tier- und Arten-
schutz stärken
– Drucksache 17/12386 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz

Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung 
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Wilhelm Priesmeier, Willi Brase, Petra Crone,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Ein effizientes Tierarzneimittelgesetz schaffen
und die Antibiotikagaben in der Nutztierhal-
tung wirkungsvoll reduzieren

– Drucksache 17/12385 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f)
Ausschuss für Gesundheit

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Bettina
Herlitzius, Dr. Valerie Wilms, Dr. Anton Hofreiter,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Hinterlandanbindung der ZARA-Häfen ver-
bessern

– Drucksache 17/12194 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)
Haushaltsausschuss
Innenausschuss

d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Fünfzehnten Geset-
zes zur Änderung des Soldatengesetzes

– Drucksache 17/12353 –
Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss (f)
Innenausschuss 
Rechtsausschuss 
Ausschuss für Arbeit und Soziales 
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 
Haushaltsausschuss

Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach-
ten Verfahren ohne Debatte.

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 39 a bis 39 q sowie
Zusatzpunkte 4 a bis 4 e auf. Es handelt sich um die Be-
schlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Ausspra-
che vorgesehen ist.

Tagesordnungspunkt 39 a:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Vertrag vom 12. Januar 2012 zwischen
der Bundesrepublik Deutschland und dem
Königreich der Niederlande über die Zusam-
menarbeit bei der Bekämpfung des grenz-
überschreitenden Missbrauchs bei Sozialver-
sicherungsleistungen und -beiträgen durch
Erwerbstätigkeit und bei Leistungen der
Grundsicherung für Arbeitsuchende sowie von
nicht angemeldeter Erwerbstätigkeit und ille-





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)



(DeutschNiederländischer Vertrag zur Bekämpfung grenzüberschreitender Schwarzarbeit)


– Drucksache 17/12015 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-
schusses (7. Ausschuss)


– Drucksache 17/12410 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Patricia Lips
Martin Gerster 
Holger Krestel

Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/12410, den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/12015 an-
zunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegenstim-
men? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in
zweiter Beratung einstimmig angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zu-
stimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? –
Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist einstimmig ange-
nommen.

Tagesordnungspunkt 39 b:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu der
Verordnung der Bundesregierung

Verordnung zur Umsetzung der Richtlinie
über Industrieemissionen, zur Änderung der
Verordnung zur Begrenzung der Emissionen
flüchtiger organischer Verbindungen beim
Umfüllen oder Lagern von Ottokraftstoffen,
Kraftstoffgemischen oder Rohbenzin sowie
zur Änderung der Verordnung zur Begren-
zung der Kohlenwasserstoffemissionen bei der
Betankung von Kraftfahrzeugen

– Drucksachen 17/12164, 17/12238 Nr. 2,
17/12411 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Michael Paul
Ute Vogt
Dr. Lutz Knopek
Ralph Lenkert
Dorothea Steiner

Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/12411, der Verordnung der Bun-
desregierung auf Drucksache 17/12164 zuzustimmen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen-
stimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegen-
stimmen der Linken und der Grünen und Enthaltung der
SPD-Fraktion angenommen.

Tagesordnungspunkte 39 c und 39 d:

c) Beratung der Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Wahlprüfung, Immunität und Ge-
schäftsordnung (1. Ausschuss)


Antrag auf Genehmigung zur Durchführung
eines Strafverfahrens

– Drucksache 17/12285 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Jörg van Essen

d) Beratung der Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Wahlprüfung, Immunität und Ge-
schäftsordnung (1. Ausschuss)


Antrag auf Genehmigung zur Durchführung
eines Strafverfahrens

– Drucksache 17/12286 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Jörg van Essen

Ich erteile nach § 31 der Geschäftsordnung des Bun-
destages als erstem Redner das Wort dem Abgeordneten
Roland Claus von der Linken. Bitte schön.


(Beifall bei der LINKEN)



Roland Claus (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1722207200

Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine Damen und

Herren! Der Deutsche Bundestag will soeben beschlie-
ßen, dass gegen zwei Mitglieder meiner Fraktion staats-
anwaltschaftlich ermittelt werden kann, weil sie vor
zwei Jahren friedlich und konsequent gegen Neonazis in
Dresden protestierten. Meine Fraktion stimmt gegen die-
sen Beschluss, weil wir meinen, dass couragierter Pro-
test gegen Nazis unterstützt und nicht strafverfolgt ge-
hört.


(Beifall bei der LINKEN)


Caren Lay und Michael Leutert haben im Februar
2011 an einer Sitzblockade gegen mehrere Tausend Neo-
faschisten in Dresden teilgenommen. Ein Anwalt aus der
Naziszene hat sie beschuldigt, hierdurch rechtswidrig
gehandelt zu haben, und die Staatsanwaltschaft Dresden
will nun wegen dieser Anzeigen gegen beide ermitteln.


(Katja Kipping [DIE LINKE]: Peinlich!)


Wir haben im Ausschuss dagegen gestimmt.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich will hier, weil es viele irreführende Veröffentli-
chungen dazu gibt, nur klarstellen: Wir reden hier nicht
über eine Aufhebung der Immunität von Abgeordneten.
Das haben wir für den Einzelfall von Ermittlungsersu-
chen bereits zu Beginn der Legislaturperiode getan. Wir
hätten aber die Möglichkeit, hier im besonderen Einzel-
fall durch die Immunität einen Rechtsschutz zu gewäh-
ren.

Die Linke hat im Ausschuss dagegen gestimmt, weil
sie der Mehrheitsargumentation, die hier noch vorgetra-
gen werden wird, nicht folgt, die da sagt: Man muss Er-





Roland Claus


(A) (C)



(D)(B)


mittlungen zulassen, weil wir Mitglieder des Bundestages
ja nichts Besseres sein wollen. Wo gegen 200 ermittelt
wird, kann nicht für zwei eine Ausnahme geschaffen wer-
den. – Das klingt ziemlich gut, ist aber unseres Erachtens
weltfremd. Das wäre exakt die Logik, die man an vielen
Stellen antrifft: gleiches Unrecht für alle. Wir wollen aber
gleiches Recht.


(Beifall bei der LINKEN)


Teilnehmerinnen und Teilnehmer von Demonstratio-
nen erwarten doch geradezu, dass Abgeordnete ihre Stel-
lung in der Gesellschaft beispielhaft einbringen, und wo
immer es nötig ist, Zivilcourage zeigen. Es würde den
200, die hier von Ermittlungsverfahren belastet sind, hel-
fen und nicht schaden, wenn wir hier anders beschließen
würden, als Sie es wollen, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der LINKEN)


Die heute in Rede stehende staatsanwaltschaftliche
Ermittlung der Vorgänge von 2011 ignoriert meines Er-
achtens auch den eigenen Erkenntnis- und Lernprozess
von Polizei und Staatsanwaltschaft im Umgang mit den
Dresdner Protesten. So ist doch gerade aus den Vorfällen
des Jahres 2011 eine Lehre gezogen worden, sodass es in
den Jahren 2012 und 2013 gelungen ist, ein weitgehend
kooperatives Zusammenwirken von Demonstrierenden
und Polizei zu organisieren. Das hat auch mit dem enga-
gierten und besonnenen Handeln von Abgeordneten
durchaus mehrerer Fraktionen zu tun, meine Damen und
Herren.


(Beifall bei der LINKEN)


In Dresden erfährt der Protest gegen Neonazis inzwi-
schen eine breite parlamentarische Unterstützung. Das
ist gut, könnte aber noch besser werden. Wo immer neue
Nazis alte Nazis rechtfertigen wollen, gehört der Wider-
stand auf die Straße und ins Parlament.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und vor den Immunitätsausschuss!)


Wo immer sich kahle Schädel drauf und drunter auf Stra-
ßen und Plätzen zur Rechtfertigung von Völkermord und
Rassismus aufmachen, gehört der ganze Deutsche Bun-
destag auf die Straße und nicht vor den Kadi.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1722207300

Um das noch einmal zu erklären: Es handelt sich hier

nicht um eine Aussprache, sondern um Erklärungen je-
weils eines Mitgliedes jeder Fraktion aus dem 1. Aus-
schuss. Bei Erklärungen kann es keine Zwischenfragen
und Kurzinterventionen geben. Deswegen sage ich das
noch einmal ausdrücklich.

Jetzt hat das Wort der Vorsitzende des 1. Ausschus-
ses, der Abgeordnete Thomas Strobl von der CDU/CSU-
Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Thomas Strobl (CDU):
Rede ID: ID1722207400

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Als

Vorsitzender des für die Immunitätsangelegenheiten zu-
ständigen 1. Ausschusses darf ich kurz daran erinnern,
worum es hier eigentlich geht: Es geht um zwei Anträge
auf Genehmigung zur Durchführung von Strafverfahren.

Herr Kollege Claus, das ist Ihr Denkfehler: Wir ent-
scheiden in diesem Moment nicht über Recht oder Un-
recht. Wir entscheiden auch nicht über Schuld oder Un-
schuld. Wir entscheiden auch nicht darüber, ob sich
Kollegen strafbar gemacht haben oder ob sie sich nicht
strafbar gemacht haben.


(Roland Claus [DIE LINKE]: Das habe ich auch nicht behauptet!)


Das ist aus guten Gründen Aufgabe der Gerichte und
nicht des Deutschen Bundestages. Sie haben die Gewal-
tenteilung nicht begriffen,


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


einen Verfassungsgrundsatz, der besagt, dass wir unter-
schiedliche Gewalten in diesem Staat haben. Dies ist
also die Aufgabe der Gerichte und nicht die Aufgabe des
Parlaments.


(Michael Leutert [DIE LINKE]: Wir könnten aber ein politisches Zeichen setzen!)


Deswegen, verehrte Kolleginnen und Kollegen, ap-
pelliere ich eindringlich an uns alle, dass aus dieser kur-
zen Debatte nicht ein falsches Signal nach draußen geht,
nämlich das Signal, dass die Abgeordneten des Deut-
schen Bundestages darüber entschieden, welche Gesetze
für sie selber gelten und welche nicht für sie gelten;


(Zurufe von der LINKEN)


denn wir leben in einem Rechtsstaat, in dem die Gesetze
für alle gelten. Gerade wir als Abgeordnete des Deut-
schen Bundestages, die wir ja die Gesetzgeber sind,
müssen uns auch an diese Gesetze halten, natürlich ins-
besondere an die Strafgesetze. Gerade wir können doch
den Menschen nicht das falsche Bild vermitteln, dass die
Abgeordneten selbst entschieden, ob und wann diese
Gesetze für sie gälten, ob und wann ihre eigenen Hand-
lungen strafbar seien und ob und wann unter dem
Schutze der Immunität Abgeordnete ungestraft auch ge-
gen Gesetze verstoßen dürften. Dies wäre doch ein völ-
lig falscher Eindruck.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie des Abg. Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


Das Immunitätsrecht, meine Damen und Herren, hat
allein den Zweck, die Funktionsfähigkeit des Parlaments
als Ganzes sicherzustellen. Es ist also nicht dafür da,
Herr Kollege Claus, einzelne Abgeordnete vor einem
Strafverfahren zu bewahren. Wir Abgeordnete sollen
durch das Immunitätsrecht ausdrücklich nicht besserge-
stellt werden als die Bürgerinnen und Bürger in unserem
Land.





Thomas Strobl (Heilbronn)



(A) (C)



(D)(B)


Deswegen prüft der Immunitätsausschuss, wenn eine
Staatsanwaltschaft wie in den beiden vorliegenden Fäl-
len den Antrag auf Genehmigung zur Durchführung ei-
nes Strafverfahrens gegen Abgeordnete stellt, ob dieser
Antrag nachvollziehbar begründet ist, nicht mehr und
nicht weniger. Das hat der Ausschuss, verehrte Kollegin-
nen und Kollegen, wie in jedem Fall auch in den beiden
vorliegenden Fällen mit der größtmöglichen Sorgfalt
und unter strikter Einhaltung der seit langem bewährten
Verfahrensregeln getan. Dies versichere ich Ihnen als
Ausschussvorsitzender, und das wird Ihnen jedes ein-
zelne Mitglied des Immunitätsausschusses bestätigen,
auch die Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Die
Linke werden Ihnen das bestätigen.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Wir haben dagegen gestimmt! – Weitere Zurufe von der LINKEN)


Im Übrigen sind dies Verfahrensregeln, denen alle
Fraktionen – ich betone: alle Fraktionen – des Deutschen
Bundestages zugestimmt haben. Wir achten sehr darauf,
dass das Vorgehen der Staatsanwaltschaft in jedem ein-
zelnen Fall von willkürlichen und sachfremden Erwä-
gungen frei ist. Darüber bestand am Ende der wiederhol-
ten intensiven und sorgfältigen Beratungen gerade in
diesen beiden Fällen Einigkeit bei den Fraktionen von
CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen.

Die Staatsanwaltschaft hat das Verhalten der betroffe-
nen Abgeordneten mit nachvollziehbarer Begründung
als Straftat bewertet und dargelegt, dass dies auch in
zahlreichen anderen vergleichbaren Verfahren, in denen
keine Abgeordneten betroffen waren, genauso gesche-
hen ist.


(Zuruf von der LINKEN)


Es liegt also ausdrücklich keine Willkür speziell gegen
Abgeordnete vor, sondern umgekehrt würden wir Abge-
ordnete gegenüber Bürgerinnen und Bürgern, die sich
solchen Strafverfahren ausgesetzt sehen, jetzt privilegie-
ren. Dafür aber gibt es keinen erkennbaren Grund.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Damit hat der Ausschuss mit einer ganz großen Mehr-
heit – Ausnahme waren nur die Kollegen der Fraktion
Die Linke – keine immunitätsrechtlichen Gründe für
eine Wiederherstellung der Immunität der Betroffenen
gesehen. Daher bitte ich um Zustimmung zu den beiden
Anträgen.

Besten Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1722207500

Das Wort hat jetzt die Kollegin Sonja Steffen von der

SPD Fraktion.


Sonja Steffen (SPD):
Rede ID: ID1722207600

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Als Sprecherin des Immunitätsausschusses für

die Fraktion der SPD ist es mir ein Bedürfnis, zu den
Fällen der Kollegen der Linksfraktion ein paar klärende
Worte zu sagen.

Am 19. Februar 2011 haben Tausende Menschen den
Nazis die Stirn geboten und versucht, einen Marsch der
Neonazis zu blockieren. Unter ihnen waren – das werden
viele von Ihnen wissen – Vertreter der Gewerkschaften,
der Sozialverbände, der Kirchen und auch viele Politike-
rinnen und Politiker aller demokratischen Parteien, unter
ihnen auch Landtags- und Bundestagsabgeordnete. Nun
haben die Polizei und die Staatsanwaltschaft gegen diese
Gegendemonstranten ermittelt, und es sind strafrechtli-
che Maßnahmen erfolgt. Die gingen von einer Einstel-
lung über die Einstellung unter Auflagen bis hin zu
Strafbefehlen und Urteilen. Das kam auf die jeweiligen
Einzelfälle an.

Nun fragt man sich wahrscheinlich, was an einer sol-
chen Blockade, solange sie friedlich vonstatten geht,
strafrechtlich relevant sein soll.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Wohl wahr!)


Strafrechtlich relevant ist nach § 21 Versammlungsge-
setz, wenn – ich zitiere aus einer Entscheidung des Bay-
erischen Obersten Landesgerichtes –:

eine Straße durch in mehreren Reihen zum Teil ein-
gehakt sitzende Demonstranten für Fußgänger blo-
ckiert und dadurch ein angemeldeter Demonstra-
tionszug … zum Halten gezwungen wird.

Dies, meine Damen und Herren, ist nicht nur in Bay-
ern so, sondern diese Definition wird – das werden viele
von Ihnen, die Jura studiert haben, schon im ersten Se-
mester erfahren haben – bis zum heutigen Tag von der
deutschen Rechtsprechung angewandt.


(Zuruf von der LINKEN)


Ich bin zwar überzeugt davon, dass viele Abgeordnete
– ich höre die Zurufe von den Linken – und auch viele
Bürgerinnen und Bürger in unserem Land an dieser
Stelle mit Unverständnis reagieren. Aber es ist tatsäch-
lich bis zum heutigen Tage so: Wer sich in allerbester
und vor allem friedlicher Absicht durch eine Blockade
gegen einen Aufzug von Neonazis stellt, kann nach heu-
tigem Recht strafrechtlich verurteilt werden.


(Caren Lay [DIE LINKE]: Dann müssen wir das Gesetz ändern! – Michael Leutert [DIE LINKE]: Was ist Ihre eigene Meinung dazu? – Weiterer Zuruf von der LINKEN: Eine Schande!)


Ihr Vorbringen ist daher sympathisch und verständlich,
aber unser deutsches Recht ist so.

Die Dresdner Sicherheitsbehörden übrigens stehen im
Zusammenhang mit den Ermittlungen zu den Antineona-
ziprotesten massiv in der Kritik. Später wurde beispiels-
weise bekannt, dass bei einer massenhaften Erfassung
die Handyverbindungsdaten Tausender Demonstranten
– ich habe gelesen, dass es sogar insgesamt 138 000 Da-
ten waren – gespeichert worden sind. Ein solches Vorge-
hen macht auch mir große Sorgen.


(Beifall bei der SPD – Iris Gleicke [SPD]: Das ist wohl wahr!)






Sonja Steffen


(A) (C)



(D)(B)


Anlässlich der Demonstration in der Fritz-Löffler-
Straße, um die es hier geht, an der die beiden Kollegen
der Linksfraktion teilgenommen haben, hat die Staatsan-
waltschaft Dresden – das hat der Vorsitzende des Immu-
nitätsausschusses schon gesagt – gegen eine Vielzahl
von Personen Ermittlungsverfahren wegen des Tatbe-
standes des § 21 Versammlungsgesetz durchgeführt. Un-
ter den mehr als 200 strafrechtlich verfolgten Personen
befanden sich insgesamt zwölf Abgeordnete aus Landta-
gen und Bundestag. Übrigens waren neben den beiden
Kollegen der Linksfraktion auch Abgeordnete von SPD
und den Grünen unter den bestraften Personen.

Vor dem Gesetz, meine Damen und Herren, sind alle
Menschen gleich. Aber es besteht für die Abgeordneten
des Bundestages eine Besonderheit. Für sie gilt nämlich
Art. 46 Grundgesetz. Jede strafrechtliche Verfolgung ei-
nes Abgeordneten ist grundsätzlich nur mit Genehmi-
gung des Bundestages möglich. Der Vorsitzende des Im-
munitätsausschusses hat es schon gesagt: Die Immunität
schützt nicht den Abgeordneten selbst vor Strafe, son-
dern sie soll die Arbeitsfähigkeit des Parlamentes sicher-
stellen. Diese historische Bestimmung hat ihren Ur-
sprung aus der Zeit der Weimarer Republik.

Daher darf der Immunitätsausschuss nicht über Sinn
und Unsinn der strafrechtlichen Verfolgung im Zusam-
menhang mit Blockaden gegen Aufzüge entscheiden.
Auch in eine Beweiswürdigung darf er nicht eintreten,
und er darf vor allem nicht politisch entscheiden nach
dem Motto: Wer für eine staatspolitisch sinnvolle und
wichtige Sache kämpft, darf nicht bestraft werden. Der
Immunitätsausschuss hat einzig danach zu entscheiden,
ob ein Akt staatlicher Willkür aus politischen Motiven
gegen einen Abgeordneten vorliegt. Hier haben wir uns
die Prüfung weiß Gott nicht leicht gemacht. Wir haben
mehrmals intensiv im Immunitätsausschuss über diese
Fälle beraten. Die erste Stellungnahme der Dresdner
Staatsanwaltschaft war übrigens so dünn, dass wir von
der Opposition sie als so unzureichend empfunden ha-
ben, dass wir uns zunächst für die Immunität der beiden
Abgeordneten eingesetzt haben. Aber eine weitere Stel-
lungnahme der Staatsanwaltschaft hat gezeigt, dass un-
sere Bedenken nicht berechtigt waren; denn, wie bereits
erwähnt, neben den beiden Kollegen der Linken wurden
nicht nur Abgeordnete und Mandatsträger, sondern eine
Vielzahl weiterer Personen wegen des gleichen Tatbe-
standes strafrechtlich behandelt.

Um es abschließend auf den Punkt zu bringen: Wir
sind als Immunitätsausschuss nicht berechtigt, uns an die
Stelle der Staatsanwaltschaft und der Gerichte zu setzen,
sondern haben eine willkürliche Strafverfolgung von
Abgeordneten zu verhindern.

Vielleicht bieten die Vorfälle in Dresden jedoch der
Dresdener Staatsanwaltschaft die Gelegenheit, zukünftig
ihr Vorgehen gerade im Zusammenhang mit politisch
motivierten Aufzügen noch gründlicher und sensibler zu
organisieren.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich habe vorhin vernommen, dass das 2012 schon we-
sentlich besser vonstatten gegangen ist. Darüber hinaus
bin ich der Meinung, dass es sehr zu begrüßen wäre,
wenn wir diese Fälle zum Anlass nähmen, im Parlament
über die strafrechtliche Relevanz von friedlichen Blo-
ckaden bei Demonstrationen zu debattieren.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1722207700

Jetzt hat der Kollege Jörg van Essen von der FDP-

Fraktion als Berichterstatter das Wort.


Jörg van Essen (FDP):
Rede ID: ID1722207800

Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Der Präsident hat es gerade schon gesagt:
Ich bin der Berichterstatter in dieser Angelegenheit. Ich
unterstütze den Antrag, den der Vorsitzende des Immu-
nitätsausschusses hier vorgetragen hat.

Was sind die Fakten? Ich glaube, es kommt ganz we-
sentlich auf die Fakten an. Zunächst einmal ist es richtig:
Es hat hier eine angemeldete und nicht verbotene De-
monstration von Kräften von rechts außen gegeben.


(Michael Leutert [DIE LINKE]: Nein, hat es nicht! Sie ist gar nicht zustande gekommen!)


Dagegen hat sich ein Bündnis gebildet. Ich glaube, dass
wir es hier – das muss man feststellen – in der ganzen
Breite des Hauses schätzen, dass es so etwas gibt, dass
sich die Menschen mit diesen Aufzügen von rechts nicht
zufriedengeben. Und trotzdem – ich finde, die Kollegin
Steffen hat das sehr gut herausgearbeitet – haben wir all
das im Immunitätsausschuss nicht zu bewerten.

Vielmehr haben wir das zu bewerten, was uns rechtlich
zusteht, und das sind folgende Fakten: Nach Mitteilung
der Staatsanwaltschaft – im Gegensatz zur Kollegin
Steffen habe ich keinen Anlass, in diesem Zusammen-
hang irgendwelche Vorwürfe gegen die Staatsanwalt-
schaft in Dresden zu erheben – hat es gegen 12.30 Uhr ein
Durchbrechen der Polizeiabsperrungen und die Blockade
einer Kreuzung gegeben. Es hat dann um 13.30 Uhr die
Anmeldung einer Gegendemonstration durch eine Kolle-
gin aus dem Bundestag gegeben. Bei den Verhandlungen
zwischen der Kollegin als Versammlungsleiterin und der
Polizei ist es zu der polizeilichen Auflage gekommen, die
Blockade um etwa 100 Meter zu verlegen. Die Kollegin
aus dem Bundestag hat offensichtlich mit den Demon-
stranten gesprochen


(Zuruf von der LINKEN: Ja!)


und danach der Polizei mitgeteilt, dass sie keinen Ein-
fluss auf die Demonstranten habe. Es war die Kollegin
aus dem Deutschen Bundestag, die dann um 14.05 Uhr
diese Gegendemonstration für aufgelöst erklärt hat. Das
heißt, wir hatten zu prüfen, ob hier möglicherweise De-
monstrationsrechte aus Art. 8 des Grundgesetzes zum
Tragen kommen, und wir müssen feststellen, dass es
eine Kollegin des Bundestages war, die die Versamm-
lung für aufgelöst erklärt hat. Die Polizei hat dann nicht





Jörg van Essen


(A) (C)



(D)(B)


sofort Maßnahmen ergriffen, sondern etwa eine halbe
Stunde abgewartet und zwischen 14.27 Uhr und
14.37 Uhr mehrfach zum Verlassen der Kreuzung aufge-
fordert. – Das ist der Tatbestand.

Für uns war wichtig: Gibt es irgendwelche Hinweise
auf Willkür aus politischen Gründen? Ich glaube, dass
hier die Tatsachen dafür sprechen, dass das nicht der Fall
war. Es sind über 200 Ermittlungsverfahren eingeleitet
worden, davon zwölf Ermittlungsverfahren gegen Mit-
glieder von Verfassungsorganen wie des Landtages
Sachsen und des Bundestages. Wichtig ist – das spricht
ganz wesentlich gegen Willkür –: Von diesen zwölf Er-
mittlungsverfahren gegen Abgeordnete sind inzwischen
sechs wegen Geringfügigkeit unter Auflagen eingestellt
worden. Diese Einstellung nach § 153 a StPO setzt vo-
raus, dass zum einen der Betroffene, dem eine Straftat
vorgeworfen wird, zustimmt, dass ihm eine Auflage ge-
macht wird, und zum anderen das zuständige Amtsge-
richt zustimmt, weil es prüfen muss, ob tatsächlich ein
strafrechtlicher Vorwurf zu erheben ist oder nicht. Das
ist in diesen sechs Fällen so geschehen. Das heißt, diese
Kollegen haben mit ihrer Zustimmung deutlich gemacht,
dass sie einsehen, dass es hier einen Verstoß gegen § 21
des Versammlungsgesetzes gegeben hat. Ich finde die
Lösung übrigens der Situation sehr angemessen, weil die
Kollegen damit nicht vorbestraft sind.

Einige der Betroffenen haben sich mit dem Angebot
der Staatsanwaltschaft nicht einverstanden erklärt. Auch
in einem solchen Fall hat ein Rechtsstaat wie die Bun-
desrepublik Deutschland eine klare Lösung: Ein unab-
hängiger Richter hat zu entscheiden, ob der Vorwurf zu
Recht erhoben wird oder nicht. Inzwischen gibt es elf
rechtskräftige Verurteilungen wegen dieses Vorgangs.
Das alles macht deutlich, dass man von Willkür über-
haupt nicht sprechen kann.


(Michael Leutert [DIE LINKE]: Aber von politischer Motivation!)


Wir empfehlen, dass wir auch hier die unabhängige Jus-
tiz entscheiden lassen und niemanden sonst.


(Zuruf der Abg. Caren Lay [DIE LINKE])


Wenn wir den Dingen ihren Lauf lassen, erfolgt das,
was bei allen anderen Bürgern auch geschehen ist: Die
unabhängige Justiz prüft, ob ein berechtigter Vorwurf
gegen diese beiden Kollegen aus der Linksfraktion erho-
ben wird oder nicht. Deshalb ist meine herzliche Bitte,
dass wir kein Sonderrecht für zwei Abgeordnete schaf-
fen, sondern dass wir die Justiz prüfen lassen, ob dieser
Vorwurf durch die Staatsanwaltschaft zu Recht erhoben
wird oder nicht. Das ist der richtige Weg. Der Bundestag
war immer gut beraten, dass er die unabhängige Justiz
hat entscheiden lassen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1722207900

Die letzte Erklärung erfolgt jetzt durch den Kollegen

Volker Beck von Bündnis 90/Die Grünen.


(Zuruf von der LINKEN)



Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722208000

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr van

Essen, ich komme zum gleichen Ergebnis, aber mit et-
was anderen Akzenten in der Argumentation. Egal, wie
wir auf die Tat und auf die politische Motivation, die
hinter der Tat steht, blicken, das Entscheidende ist: Was
haben wir als Deutscher Bundestag, was haben wir als
Immunitätsausschuss zu entscheiden?

Sie haben völlig korrekt gesagt: Wir entscheiden
nicht, ob die rechtliche Bewertung der Staatsanwalt-
schaft Dresden richtig ist. Wir entscheiden auch nicht,
ob wir das für eine moralisch oder politisch billigens-
werte Tat halten, sondern wir entscheiden nur: Erkennen
wir in den Ermittlungen, in den Sanktionen eine Schi-
kane der Justiz gegen einen Abgeordneten, um die Frei-
heit des Mandats oder die Freiheit und Arbeitsfähigkeit
des Bundestages zu treffen?

Das war uns zu Beginn des Verfahrens nicht ganz
klar, weil die Staatsanwaltschaft zunächst sehr dünn be-
richtet hat. Sie von der Koalition hatten sich dann trotz
der Sachlage – vertrauend darauf, dass es so sein möge,
wie es dann am Ende auch war – entschlossen, als Mehr-
heit zu sagen: Wir heben die Immunität auf und lassen
die Sanktion zu. Erst als die Koalition gemerkt hat, dass
wir uns wegen der nicht beantworteten Fragen, die ich
gestellt hatte und die alle Kollegen von der Opposition
gleichermaßen bewegt haben, entschieden hatten, der
Aufhebung nicht zuzustimmen – es war Weihnachten,
eine besinnliche Zeit –, hat sich die Koalition besonnen
und die Fragen schließlich doch an die Staatsanwalt-
schaft Dresden übermittelt.

Das Ergebnis dieser Befragung war ganz eindeutig:
200 Bürgerinnen und Bürger sahen sich für die gleiche
Tat zum gleichen Zeitpunkt am gleichen Ort strafrechtli-
chen Ermittlungen ausgesetzt.


(Zuruf der Abg. Caren Lay [DIE LINKE])


Wenn das so ist, dann kann es nicht sein, dass mit Abge-
ordneten anders umgegangen wird als mit anderen Bür-
gerinnen und Bürgern.

Ich sehe aber schon – und das ist meine Botschaft
nach Dresden –, dass die Staatsanwaltschaften mit juris-
tischen Tatbeständen trotz gleicher Rechtslage unter-
schiedlich umgehen. Die Staatsanwaltschaft Dortmund
zum Beispiel hat bei Blockadevorgängen eine ganz an-
dere Praxis. Ich will der Staatsanwaltschaft Dresden ver-
mitteln – wenn wir hier schon frei reden –, dass ich mir
wünsche, Dresden würde sich die zum Vorbild nehmen.
Wenn sie das nicht tut, dann bleibt im Falle einer als un-
gerecht empfundenen Sanktion nur der Weg, sich durch
die Instanzen zu klagen.

Das ist der Sinn von Gewaltenteilung. Wir leben in ei-
nem Rechtsstaat, in dem wir als Legislative eine Rolle
haben, die Justiz eine andere Rolle hat und die Exekutive
wieder eine andere Rolle hat. Daran müssen wir uns hal-
ten. Als Abgeordnete dürfen wir uns nicht anheischig
machen, hier eine Sonderrolle in Anspruch zu nehmen.
Damit dieses Verfahren des Immunitätsrechts Akzeptanz
in der Bevölkerung und unter den Kolleginnen und
Kollegen findet, wird von uns als Mitgliedern des Immu-





Volker Beck (Köln)



(A) (C)



(D)(B)


nitätsausschusses verlangt, besondere Zurückhaltung in
der Öffentlichkeit bezüglich der strafrechtlichen
Vorwürfe zu üben. Wir haben diese Vorwürfe zu prüfen,
aber nur im Lichte des Immunitätsrechtes und nicht im
Sinne der Motivation der Kolleginnen und Kollegen,
und wir dürfen nicht als Ersatzstrafrichter in diesen
Fragen auftreten.

An dieser Stelle will ich eine kritische Anmerkung
machen, Herr Kollege Strobl, unser Ausschussvorsitzen-
der. Wir haben am gleichen Tag über einen weiteren Fall
diskutiert, über die Nichtwiederherstellung der Immuni-
tät des Kollegen Gysi. Dabei ging es um eine angebliche
Falschaussage an Eides statt. Dazu haben Sie in einem
Interview gesagt: „Aber natürlich wirkt schon der Vor-
wurf schwer.“ Ich finde, wenn wir so argumentieren, wie
ich es gerade bezüglich der Dresdner Blockadefälle ge-
tan habe, dann steht uns als Mitgliedern des Ausschusses
und Ihnen als Vorsitzendem unseres Ausschusses eine
solche Bewertung nicht zu.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Das mögen andere Kolleginnen und Kollegen im Rah-
men des Meinungskampfes zwischen den Fraktionen
auch bei solchen Fragen halten, wie sie wollen. Ich rate
da generell zur Zurückhaltung. Ich halte es für möglich,
dass auch für Abgeordnete in einem Strafverfahren zu-
nächst einmal die Unschuldsvermutung gilt. Das mögen
andere anders handhaben, aber wir müssen die Akzep-
tanz dieses Verfahrens, das von der Linksfraktion durch
Politisierung angegriffen wird, schützen, indem wir uns
besonders zurückhaltend zu diesen Fragen äußern.

Mir wurden die gleichen Fragen wie Ihnen gestellt.
Ich hätte das Interview auch geben können. Ich habe alle
Anfragen zurückgewiesen.


(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Das ist Ihre größte Stärke, Herr Beck!)


Ich weiß, der Kollege van Essen hat das genauso ge-
handhabt. Ich finde, daran sollten wir uns halten, um die
Akzeptanz des Verfahrens nicht zu gefährden.

Ich hoffe, dass die Verfahren, über die wir heute re-
den, die Bürgerinnen und Bürger nicht dazu bringen,
sich zurückhaltender zu engagieren. Wir Abgeordnete
sagen: Auch wir Abgeordnete stehen für die Konsequen-
zen unseres Handelns ein. Ich war letztes Jahr auch in
Dresden. Mich hat es komischerweise nicht erwischt;
aber das war eher Zufall. Ich war dieses Jahr in Magde-
burg und habe blockiert gegen die Naziaufmärsche. Ich
muss das oft in Köln gegen die lokale rechtsradikale Par-
tei pro Köln tun. Ich werde das weiter tun. Ich will da
keine Extrawurst, sondern ich will den Bürgerinnen und
Bürgern sagen: Ich stelle mich möglichen Konsequen-
zen, wenn ich eine Linie übertreten habe, weil ich
dachte, ich sei moralisch und politisch dazu berechtigt
oder sogar dazu verpflichtet. Ziviler Ungehorsam bedeu-
tet auch, dass man für die Konsequenzen des zivilen
Ungehorsams einsteht. Diesbezüglich haben wir als Ab-
geordnete eine Vorbildfunktion. Wir müssen sagen: Ja,
wir stehen zu diesen Konsequenzen,


(Zuruf des Abg. Michael Leutert [DIE LINKE])


und wir wollen nicht privilegiert und geschützt werden.
Sie fordern für sich ein Privileg und ein Sonderrecht.
Das ist nicht legitim.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP – Zuruf des Abg. Michael Leutert [DIE LINKE])



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1722208100

Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die zwei

Beschlussempfehlungen. Der Ausschuss für Wahlprü-
fung, Immunität und Geschäftsordnung empfiehlt in sei-
nen Beschlussempfehlungen, die Genehmigung zur
Durchführung eines Strafverfahrens jeweils zu erteilen.
Wer stimmt für die Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 17/12285? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –
Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der
Fraktion Die Linke mit den Stimmen aller übrigen
Fraktionen angenommen.

Wer stimmt für die Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 17/12286? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –
Auch diese Beschlussempfehlung ist mit gleichem
Stimmverhältnis angenommen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 39 e auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss)


zu dem Streitverfahren vor dem Bundes-
verfassungsgericht 2 BvE 4/12

– Drucksache 17/12397 –

Berichterstattung:

(VillingenSchwenningen)


Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung, in dem Streitverfahren Stellung zu nehmen
und den Präsidenten zu bitten, Professor Dr. Martin
Nettesheim als Prozessbevollmächtigten zu bestellen.
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Die Beschlussempfehlung ist einstimmig ange-
nommen.

Wir kommen nun zu Tagesordnungspunkt 39 f:

Beratung der Beschlussempfehlung des Rechts-
ausschusses (6. Ausschuss)


Übersicht 8

über die dem Deutschen Bundestag zugeleite-
ten Streitsachen vor dem Bundesverfassungs-
gericht

– Drucksache 17/12398 –

Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Wiederum einstim-
mig angenommen.

Tagesordnungspunkte 39 g bis 39 q. Wir kommen zu
den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)


Zunächst rufe ich Tagesordnungspunkt 39 g auf:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 526 zu Petitionen
– Drucksache 17/12201 –

Wer stimmt dafür? – Dagegen? – Enthaltungen? – Sie
ist einstimmig angenommen.

Wir kommen nun zu Tagesordnungspunkt 39 h:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 527 zu Petitionen
– Drucksache 17/12202 –

Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Ebenfalls einstimmig angenommen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 39 i auf:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 528 zu Petitionen

– Drucksache 17/12203 –

Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-
Fraktion bei Gegenstimmen der Linken und Enthaltung
der Grünen.

Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 39 j auf:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 529 zu Petitionen
– Drucksache 17/12204 –

Wer stimmt dafür? – Dagegen? – Enthaltungen? – Sie
ist einstimmig angenommen.

Wir kommen nun zu Tagesordnungspunkt 39 k:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 530 zu Petitionen

– Drucksache 17/12205 –

Wer ist dafür? – Dagegen? – Enthaltungen? – Sie ist
bei Zustimmung der Koalitionsfraktionen sowie der
Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen bei
Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.

Wir kommen nun zu Tagesordnungspunkt 39 l:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 531 zu Petitionen

– Drucksache 17/12206 –

Wer stimmt dafür? – Dagegen? – Enthaltungen? – Sie
ist bei Gegenstimmen der Grünen mit den Stimmen aller
übrigen Fraktionen angenommen.

Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 39 m auf:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 532 zu Petitionen

– Drucksache 17/12207 –

Wer stimmt dafür? – Dagegen? – Enthaltungen? – Sie
ist bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke mit den
Stimmen aller übrigen Fraktionen angenommen.

Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 39 n auf:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 533 zu Petitionen

– Drucksache 17/12208 –

Wer stimmt dafür? – Dagegen? – Enthaltungen? – Sie
ist bei Gegenstimmen der SPD mit den Stimmen aller
übrigen Fraktionen angenommen.

Wir kommen nun zu Tagesordnungspunkt 39 o:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 534 zu Petitionen

– Drucksache 17/12209 –

Wer stimmt dafür? – Dagegen? – Enthaltungen? – Sie
ist bei Gegenstimmen der Linken und der Grünen mit
den Stimmen aller übrigen Fraktionen angenommen.

Wir kommen nun zu Tagesordnungspunkt 39 p:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 535 zu Petitionen

– Drucksache 17/12210 –

Wer stimmt dafür? – Dagegen? – Enthaltungen? – Sie
ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktio-
nen und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen von
SPD und Grünen.

Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 39 q auf:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 536 zu Petitionen

– Drucksache 17/12211 –

Wer stimmt dafür? – Dagegen? – Enthaltungen? – Sie
ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktio-
nen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen.

Ich rufe nun die Zusatzpunkte 4 a bis e auf. Zunächst
kommen wir zum Zusatzpunkt 4 a:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung (15. Ausschuss) zu dem Antrag
der Abgeordneten Bettina Herlitzius, Dr. Harald
Terpe, Britta Haßelmann, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)


Angebot von Spielhallen mit dem Baugesetz-
buch begrenzen

– Drucksachen 17/4201, 17/5698 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Peter Götz

Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/5698, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/4201 abzu-
lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Sie ist ange-
nommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei
Gegenstimmen der Grünen und Enthaltung von SPD und
Linken.

Wir kommen nun zu Zusatzpunkt 4 b:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung (15. Ausschuss) zu dem Antrag
der Abgeordneten Dr. Anton Hofreiter, Nicole
Maisch, Markus Tressel, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Stärkung der Fahrgastrechte im Fernbus-
verkehr

– Drucksachen 17/5057, 17/7822 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Volkmar Vogel (Kleinsaara)


Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/7822, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5057 abzu-
lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Dagegen? – Enthaltungen? – Sie ist angenommen mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstim-
men der Linken und der Grünen bei Enthaltung der SPD-
Fraktion.

Ich rufe nun Zusatzpunkt 4 c auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung (15. Ausschuss) zu dem Antrag
der Abgeordneten Dr. Anton Hofreiter, Stephan
Kühn, Dr. Valerie Wilms, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Für ein einheitliches Lkw-Tempolimit von
80 km/h auf Autobahnen in Europa

– Drucksachen 17/6480, 17/7887 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Oliver Luksic

Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/7887, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/6480 abzu-
lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Sie ist ange-
nommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen ge-

gen die Stimmen von SPD und Grünen bei Enthaltung
der Linken.

Zusatzpunkt 4 d:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung (15. Ausschuss) zu dem Antrag
der Abgeordneten Dr. Valerie Wilms, Sven-
Christian Kindler, Bettina Herlitzius, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Anbindung deutscher Seehäfen verbessern –
Alternativen zur Y-Trasse vorantreiben

– Drucksachen 17/11352, 17/12366 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Werner Simmling

Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/12366, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/11352 abzu-
lehnen. Wer stimmt dafür? – Dagegen? – Enthaltungen? –
Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion
bei Gegenstimmen der Linken und der Grünen.

Wir kommen zu Zusatzpunkt 4 e:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung (15. Ausschuss) zu dem Antrag
der Abgeordneten Stephan Kühn, Dr. Anton
Hofreiter, Dr. Valerie Wilms, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN

Verbesserung des Schienenverkehrs zwischen
Deutschland und Polen

– Drucksachen 17/9947, 17/12369 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Veronika Bellmann

Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/12369, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/9947 abzu-
lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Diese Be-
schlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposi-
tionsfraktionen.

Jetzt rufe ich Zusatzpunkt 5 auf:

Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und
FDP

Umstrittene Weichenstellungen – rot-grüne
Politik in den Bundesländern

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner das Wort dem Kollegen Dr. Frank Steffel von der
CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)







(A) (C)



(D)(B)



Frank Steffel (CDU):
Rede ID: ID1722208200

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Der Bund der Steuerzahler ist von den rot-grünen
Plänen geschockt und spricht von einer „Steuererhö-
hungsorgie“. Die Medien sprechen von einem steuer-
politischen Amoklauf, und das Handelsblatt titelt: Der
rot-grüne Steuerhammer schlägt zu.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: So hätten Sie es gern!)


Ursache für diesen Aufschrei der Medien, der Wissen-
schaft und der Fachleute


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Welche Wissenschaft? Welche Fachleute?)


sind die rot-grünen Koalitionsverträge in Nordrhein-
Westfalen, Baden-Württemberg, Schleswig-Holstein und
jüngst in Niedersachsen. Sie erhöhen in den rot-grün ge-
führten Ländern Steuern, Gebühren und Abgaben dra-
matisch.

Sie wollen den Spitzensteuersatz um 7 Prozentpunkte
anheben. Dadurch würden höhere Steuersätze nach den
Vorstellungen der Grünen schon ab 54 000 Euro und
nach den Vorstellungen der Sozialdemokraten ab 64 000
Euro Jahresbruttoeinkommen greifen.


(Zuruf von der SPD: Wahnsinn!)


Sie sind gegen die Abschaffung der kalten Progression
und dagegen, dass Menschen, die mehr leisten und eine
kleine Lohnerhöhung bekommen, davon etwas übrig be-
halten.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Das ist ja Unsinn!)


Sie wollen für den Mittelstand und für unsere Unterneh-
men die Gewerbesteuer erhöhen. Sie wollen die Grund-
steuer und die Grunderwerbsteuer erhöhen bzw. haben
das in den meisten rot-grün geführten Ländern bereits
getan; die Erhöhung ist dramatisch und hoch zweistellig.
Sie wollen das Ehegattensplitting und gleichzeitig die
Kinderfreibeträge abschaffen.


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Alles Populismus!)


Sie wollen eine kommunale Wirtschaftsteuer – was
auch immer das ist – einführen.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Kennen Sie das Kommunalmodell nicht?)


Sie erhöhen die Gebühren für staatliche bzw. behördli-
che Leistungen in allen rot-grün geführten Bundeslän-
dern deutlich.


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir sind für die Kommunen!)


Sie sprechen sich für eine Erhöhung kommunaler Abga-
ben aus. Sie wollen die Vermögensteuer wieder einfüh-
ren, obwohl es als Ausgleich für ihre Abschaffung 1997
eine deutliche Anhebung der Grunderwerbsteuer und der
Erbschaftsteuer gegeben hat. Außerdem wollen Sie die

Einnahmen aus der Erbschaftsteuer durch eine Erhöhung
der Erbschaftsteuer deutlich steigern.

Sie wollen das Dienstwagenprivileg abschaffen und
die pauschale Versteuerung von 1 Prozent auf 1,5 Pro-
zent des Listenpreises um sage und schreibe 50 Prozent
erhöhen. Sie wollen die Schenkungsteuer drastisch erhö-
hen, wie man in Ihren Koalitionsvereinbarungen nachle-
sen kann.


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie wiederholen sich!)


In Schleswig-Holstein wollen Sie sogar noch zusätzlich
eine Klimaschutzsteuer – was immer das nun wieder ist –
einführen.

Sie täuschen die Menschen, wenn Sie sagen, diese
Steuererhöhungen träfen nur die Reichen. Diese Steuer-
erhöhungen treffen alle Menschen in Deutschland.
Natürlich treffen sie zuerst die Bezieher mittlerer Ein-
kommen und die Leistungsträger unserer Gesellschaft.


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch Quatsch!)


Wenn Sie die Steuern für Vermieter erhöhen, zahlt der
Mieter die Zeche.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wenn Sie die Steuern für Handwerksbetriebe erhöhen,
zahlen die Verbraucher durch höhere Preise und die Mit-
arbeiter durch sinkende oder nicht steigende Löhne die
Zeche. Wenn die Unternehmen in Deutschland mehr
Steuern zahlen müssen, entlassen sie ihre Mitarbeiter
und erhöhen die Preise. Die Konsequenzen sind: Die Ar-
beitslosigkeit steigt, und die Lohnnebenkosten steigen
ebenfalls.

Sie von Rot-Grün haben unser Land ab 1998 mit
Schröder, Lafontaine, Fischer und Trittin gegen die
Wand gefahren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wie bitte?)


Das Ergebnis rot-grüner Politik waren 5 Millionen Ar-
beitslose, Rekordpleiten von Unternehmen, Rekordplei-
ten im Mittelstand und übrigens auch Rekordpleiten bei
Privatpersonen.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sie sind ein Loser!)


Sie haben durch Ihre falsche Politik Millionen von Men-
schen in Hartz IV geschickt, und Sie haben den Begriff
„Minuswachstum“ überhaupt erst eingeführt.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Welche ist die schönste Stadt Deutschlands, Herr Steffel? München, oder?)


Sie haben Rekordschulden gemacht, Herr Heil, Sie ha-
ben gegen die Maastricht-Kriterien verstoßen, und Sie
tragen die Verantwortung für die Aufweichung des
Euros.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ist das schlecht!)


Sie haben die Lohnnebenkosten auf 42 Prozent erhöht.





Dr. Frank Steffel


(A) (C)



(D)(B)



(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sind wohl Phantomschmerzen!)


Deutschland war nach wenigen Jahren Rot-Grün das ab-
solute Schlusslicht in Europa und trug die rote Laterne.


(Manfred Zöllmer [SPD]: Quatsch!)


Als Schröder seinen Irrtum bemerkte, hat ihm die SPD
die Gefolgschaft verweigert. Deswegen, meine Damen
und Herren, ist seit 2005 Angela Merkel Bundeskanzle-
rin der Bundesrepublik Deutschland.

Seitdem hat sich Deutschland verändert.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 500 Milliarden Euro mehr Schulden!)


Die Arbeitslosigkeit ist um die Hälfte gesunken. Mit
über 42 Millionen Erwerbstätigen haben wir in Deutsch-
land Rekordbeschäftigung. Die Schuldenbremse wird
eingehalten. Ab 2014 werden wir keine neuen Schulden
mehr machen. Die Beitragssätze zur Sozialversicherung
sinken kontinuierlich; mittlerweile liegen sie insgesamt
deutlich unterhalb von 40 Prozent. Wir haben die höchs-
ten Steuereinnahmen in der Geschichte der Bundesrepu-
blik Deutschland zu verzeichnen, und das haben wir
ganz ohne Steuererhöhungen geschafft.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es ist 1 Million Menschen weniger in Hartz IV, davon
übrigens 250 000 Kinder; das finde ich besonders wich-
tig.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Heute, unter Angela Merkel, sind wir spitze in Eu-
ropa. Wir sind spitze beim Wachstum. Wir sind spitze
bei der Beschäftigung. Wir sind spitze beim Konsolidie-
ren. Wir sind absolute Weltspitze beim Export. Wir sind
spitze bei Wissenschaft, Bildung und Forschung. Wir
sind spitze bei den Steuereinnahmen und bei der Steige-
rung der Steuereinnahmen, und das alles ohne Steuerer-
höhungen. Meine Damen und Herren, Deutschland geht
es besser.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wenn Sie Fachleuten, Wissenschaftlern und naturge-
mäß uns nicht glauben, dann glauben Sie doch wenigs-
tens Ihrem Altkanzler Gerhard Schröder.


(Gustav Herzog [SPD]: Wir glauben den Wählern! Das sollten Sie auch tun! Sie wurden in den Ländern doch fast überall abgewählt!)


Altkanzler Schröder hat sich gerade in einem Interview
zu den Plänen der SPD geäußert und gesagt:

Die Pläne, die Steuern zu erhöhen, halte ich für
ganz falsch.

Niemand in Deutschland, meine Damen und Herren,
kann sagen, er habe das nicht gewusst. Die rot-grün re-
gierten Länder machen vor, was man im Bund vorhat,
wenn man die Wahlen gewinnen würde. Insofern haben
Sie recht: Deutschland steht im September 2013 vor ei-

ner Richtungsentscheidung. In Anbetracht der Ergeb-
nisse Ihrer Politik bin ich sicher, die Deutschen werden
die richtige Richtungsentscheidung treffen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Gustav Herzog [SPD]: Genau! Abwählen! – Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! So wie sie es in Niedersachsen gemacht haben!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1722208300

Das Wort hat der Kollege Hubertus Heil von der SPD-

Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Hubertus Heil (SPD):
Rede ID: ID1722208400

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Die Bürgerinnen und Bürger in Niedersachsen ha-
ben bei der Landtagswahl am 20. Januar dieses Jahres
den Wechsel gewählt. Sie haben der SPD und dem
Bündnis 90/Die Grünen einen Regierungs- und Gestal-
tungsauftrag erteilt. Nach Hamburg, Nordrhein-Westfa-
len, Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein haben
CDU/CSU und FDP damit ein weiteres Bundesland ver-
loren. Schwarz-Gelb regiert nur noch in drei Bundeslän-
dern. Ich füge hinzu: Im Herbst gibt es die Möglichkeit,
dies in zwei weiteren Bundesländern, in Hessen und
Bayern, zu ändern.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ohne Zweifel, Herr Steffel, sind die Wahlniederlagen
Ihrer Ministerpräsidenten auch das Ergebnis einer ver-
fehlten Politik in den Ländern, aus jeweils sehr spezifi-
schen Gründen. Aber eines werden Sie den Menschen
nicht ausreden können: Die dramatische Serie der Wahl-
niederlagen von Schwarz-Gelb ist auch ein dramatisches
Misstrauensvotum der Menschen gegenüber dieser
Merkel-Regierung.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Frank Steffel [CDU/ CSU]: Warten Sie es ab! Es spricht die 23-Prozent-Partei!)


Nach meiner festen Überzeugung ist das auch kein Wun-
der. Schließlich ist Ihre Regierung die schlechteste Re-
gierung seit 1949;


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Frank Steffel [CDU/CSU]: Die erfolgreichste!)


ich komme gleich darauf zurück.

Ich sage Ihnen: Den Schmerz in Ihren Reihen kann
ich verstehen. Wahlniederlagen sind schmerzhaft. Wir
haben das erlebt, und Sie, Herr Steffel, haben das hier in
Berlin dramatisch erlebt. Wahlniederlagen tun wirklich
sehr weh. Der Schmerz in Ihren Reihen muss so groß
sein, dass Sie diese Aktuelle Stunde beantragt haben.
Was immer der Grund dafür war, diese Aktuelle Stunde
zu beantragen – es ist ein sehr durchsichtiger Grund; das





Hubertus Heil (Peine)



(A) (C)



(D)(B)


war ja während Ihrer Rede spürbar –, Sie zeigen damit
vor allen Dingen eines: Sie sind ganz schlechte Verlierer.
Das mögen die Menschen nicht. Sie versuchen, die nie-
dersächsische Landesregierung, die gerade einmal zwei
Tage im Amt ist, mit Vorwürfen und Behauptungen zu
überziehen. Ich danke Ihnen für die Gelegenheit, dass
wir uns an zwei Stellen einmal mit diesen Vorwürfen
auseinandersetzen können.

Fangen wir an mit der Finanzpolitik. Wie sieht denn
die Bilanz von schwarz-gelber Regierungspolitik in Nie-
dersachsen aus? Sie hinterlassen der neuen Landesregie-
rung in Hannover eine Landesverschuldung von 60 Mil-
liarden Euro; das ist das Ergebnis von zehn Jahren
Regierung Wulff bzw. McAllister.


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 20 Milliarden Euro Schulden in zehn Jahren! – Gegenruf des Abg. Dr. Mathias Middelberg [CDU/CSU]: Und locker 50 Milliarden von Ihnen!)


Ich sage Ihnen: Die Regierung von Stephan Weil, die
neue rot-grüne Landesregierung in Niedersachsen, wird
die Neuverschuldung konsequent zurückführen und die
Schuldenbremse, die laut Grundgesetz auch für die Län-
der vorgesehen ist, einhalten, und zwar durch eine spar-
same Haushaltspolitik.

Gleichzeitig müssen wir in Zukunft investieren, zum
Beispiel in eine bessere Bildung unserer Kinder und Ju-
gendlichen. Dafür trägt eine gerechtere Politik auf Bun-
desebene – in der Steuerpolitik – eine Mitverantwortung.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Herr Steffel, Sie können noch so sehr im Sound der
Tea Party über die Steuern in diesem Land reden – Tatsa-
che ist, dass, wenn Steuern und Abgaben zusammenge-
zählt werden, herauskommt, dass in Deutschland die un-
teren und mittleren Einkommen die Hauptlast tragen.
Deshalb ist es nicht schlimm, zu sagen, dass Menschen,
die durch Spitzeneinkommen Vorteile in dieser Gesell-
schaft genießen, auch ein Stück mehr dazu beitragen sol-
len, die Haushalte zu konsolidieren und in die Zukunft
dieses Landes zu investieren. Das zu diffamieren, ist ein
durchsichtiges Spiel, Herr Steffel. Mit der Realität in
Niedersachsen und in Deutschland hat das nichts zu tun.

Wir bekennen uns dazu: Wir wollen die öffentlichen
Haushalte in Ordnung bringen. Angesichts eines verän-
derten Aufbaus unserer Gesellschaft müssen wir gleich-
zeitig mehr in Bildung und in Forschung und in die Inf-
rastruktur in diesem Land investieren.


(Dr. Frank Steffel [CDU/CSU]: Sparen statt Steuererhöhungen!)


Deshalb geht nicht zusammen, was Sie den Menschen
versprechen: gleichzeitig mehr Geld auszugeben und
mehr zu sparen und die Steuern zu senken. Dieser
schwarz-gelbe Weg ist – das werden wir deutlich ma-
chen – zu Ende. Die Schuldenbremse verpflichtet die öf-
fentliche Hand, auf der Ausgabenseite vernünftig zu
haushalten, sie verpflichtet uns aber auch, dafür zu sor-
gen, dass Bund, Länder und Kommunen vernünftig fi-

nanziert sind. Angesichts verrottender Infrastruktur ge-
rade in unseren Kommunen – das liegt an der falschen
Politik Ihrer Regierung – sage ich Ihnen: Schauen Sie
sich einmal an, was in den Kommunen Niedersachsens
nach zehn Jahren schwarz-gelber Politik an öffentlicher
Infrastruktur übrig geblieben ist und was verrottet ist und
was alles geschlossen werden musste! Das bedroht das
Zusammenleben der Menschen in den Kommunen.
Doch dort entscheidet sich, ob der Zusammenhalt einer
Gesellschaft gelingt.

Deshalb sage ich: Ja, wir sind für eine Politik mit Au-
genmaß, auch im Bereich der Steuer- und Finanzpolitik.
Wir werden mit den Steuergeldern sparsam umgehen;
aber wir wollen auch mehr in Bildung, Forschung und
Infrastruktur investieren. Dafür brauchen wir einen an-
gemessenen Beitrag der Spitzenverdiener in diesem Land.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Zweiter Punkt – präventiv; weil ich ahne, dass Herr
Döring gleich für die FDP das Wort ergreifen wird –: In
den letzten Tagen war allerlei zu lesen und zu hören,
Rot-Grün wolle in Niedersachen das Sitzenbleiben ab-
schaffen. Es kann sein, dass der eine oder andere von Ih-
nen da traumatische frühkindliche Erfahrungen gemacht
hat. Ich sage Ihnen: Mit der Formulierung, die in den
Koalitionsvertrag aufgenommen wurde, ist etwas ganz
anderes gemeint. Richtig ist, dass in meinem Heimatland
Niedersachsen nach Studien der Bertelsmann-Stiftung
– einem unabhängigen Institut – in schwarz-gelber Zeit
ein trauriger Rekord in der Schulpolitik aufgestellt
wurde: Das Abstufen nach unten in der Bildung hatte
richtig Konjunktur, der soziale Aufstieg war in Nieder-
sachsen besonders schwierig.

Deshalb wollen wir, wo immer es geht – durch die
frühe und individuelle Förderung von Kindern, auch
durch die Möglichkeit zu längerem gemeinsamem Ler-
nen –, dafür sorgen, dass kein Kind zurückgelassen wird,
dass jeder eine Chance auf sozialen Aufstieg durch Bil-
dung bekommt. Wir wollen, dass Leistung und Talent
sich entfalten können und nicht Herkunft in diesem Land
zählt. Das ist der Unterschied zwischen Ihnen und uns.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Deshalb ist es richtig, dass Rot-Grün in Niedersach-
sen die Studiengebühren, die Sie eingeführt haben, wie-
der abschafft. Inzwischen macht das ja Schule: Die CSU
ist inzwischen auch auf die Idee gekommen, die Studien-
gebühren in Bayern infrage zu stellen.

Ich sage Ihnen zum Schluss: Es wird Ihnen nicht ge-
lingen, Ihren Schmerz mit lauten Reden zu übertönen,
Herr Steffel. Sie haben in vielen Städten und Ländern in
Serie Wahlen verloren. Das wird sich fortsetzen. Der
Grund liegt, wie gesagt, auch in Ihrer Bundespolitik. Ich
werde Ihnen zum Schluss ein paar Fragen mit auf den
Weg geben, die Sie beantworten müssen.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1722208500

Herr Kollege Heil.






(A) (C)



(D)(B)



Hubertus Heil (SPD):
Rede ID: ID1722208600

Schlusskurve, Herr Präsident.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1722208700

Bitte.


Hubertus Heil (SPD):
Rede ID: ID1722208800

Ich frage Sie: Wer verweigert den Menschen in

Deutschland einen gesetzlichen Mindestlohn? Es ist die
Merkel-Regierung. Wer hat ein unsinniges Betreuungs-
geld eingeführt? Es ist die Merkel-Regierung. Wer ver-
sucht, durch ein Abkommen mit der Schweiz Steuerkri-
minelle zu schützen? Es ist die Merkel-Regierung.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1722208900

So, jetzt ist es aber gut.


Hubertus Heil (SPD):
Rede ID: ID1722209000

Das ist der Grund, warum wir im Herbst auf den

Wechsel setzen – der jetzt eingeleitet wird mit den Wah-
len in Niedersachsen und darüber hinaus.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1722209100

Das Wort hat jetzt der Kollege Patrick Döring für die

FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Patrick Döring (FDP):
Rede ID: ID1722209200

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kol-

leginnen und Kollegen! Wer angesichts eines demokrati-
schen, aber knappen Ergebnisses in Niedersachsen hier,
lieber Herr Heil, von einem dramatischen Vertrauensver-
lust spricht, der hat nicht den nötigen Respekt vor den
Wählerinnen und Wählern; man kann hier auch anders
auftreten.


(Beifall bei der FDP – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das ist der Leihstimmenkönig!)


Die Freien Demokraten und die Union haben das
Land in einer Zeit übernommen, als es auf einem Ab-
stiegsrang stand – im Wachstum, bei der Verschuldung
und in der Bildung. Jetzt, zehn Jahre nachdem Union
und FDP dieses Land regiert haben, sind so viele Men-
schen in Niedersachsen Lehrer wie noch nie in der Ge-
schichte des Landes. Die Neuverschuldung für die
nächsten Haushalte ist so niedrig angesetzt wie noch nie,
und wir lagen im Wirtschaftswachstum auf Platz 2 hinter
Bayern vor dem grün-rot regierten Baden-Württemberg.


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In wie vielen Landesregierungen ist die FDP noch?)


Das ist die Bilanz nach zehn Jahren Schwarz-Gelb in
Niedersachsen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Der Landtagswahlkampf ist vorbei!)


Wenn man Ihren Koalitionsvertrag und jene in Baden-
Württemberg und Nordrhein-Westfalen liest und die
praktische Politik in diesen Ländern betrachtet, dann
sieht man: Trotz Rekordsteuereinnahmen steigen die
Schulden in all diesen Bundesländern überproportional.
Die Neuverschuldung in den Bundesländern in Deutsch-
land hat zwei Farben: Rot und Grün. Sie sind nicht bereit
zu sparen, und genau das ist der Fehler.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Die niedersächsische Landesregierung hat in ihrem
Koalitionsvertrag viele Wohltaten versprochen und ist
im Unkonkreten geblieben. Steuererhöhungen im Bund,
die niemals kommen werden, sollen die Wohltaten be-
zahlen. Steuererhöhungen im Land sind angekündigt.
Wer Grundsteuer und Grunderwerbsteuer erhöht, der be-
lastet nicht die Superreichen und die Immobilienbesitzer,
sondern er belastet am Ende die Mieterinnen und Mieter.
Das ist Politik von Rot-Grün in schwieriger Zeit.


(Beifall bei der FDP)


Kommen wir zu der wunderbaren Diskussion über die
Schulpolitik. Lieber Herr Heil, ich will mich nicht in den
schulpolitischen Details verlieren.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sie kennen sich auch nicht aus!)


Ich möchte einmal den Satz erwähnen, den die neue Kul-
tusministerin sagte und der aus meiner Sicht bemerkens-
wert ist. Sie sagte: „Leistung macht krank, und wir wol-
len ein Lernen ohne Angst.“

Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Grund-
festen dieser sozialen Marktwirtschaft sind zuallererst:
„Leistung macht stolz“, und wir sollten in unseren Schu-
len vermitteln, dass Leistung etwas Gutes und Schönes
ist und nichts, was angst oder krank macht.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Das Einzige, was in Ihren Schulsystemen den Men-
schen mit auf den Weg gegeben wird, ist, dass sich der
Staat in jedem Fall kümmern wird und man möglichst
viel abgenommen bekommt, nicht nur Verantwortung,
sondern am Ende auch Geld. Das ist genau der Punkt.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das Betreuungsgeld haben Sie gerade eingeführt!)


Dann wird hier so blumig gesagt, wir wollten den ver-
meintlich Reichen


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: „Vermeintlich“! Das ist entlarvend!)


– in Wahrheit der gesellschaftlichen Mitte – mehr Geld
für Bildung und Infrastruktur abnehmen. Was passiert
denn? In Baden-Württemberg und in Niedersachsen sol-
len zukünftig weniger Menschen Lehrer im Schulsystem
vor Ort sein. Sie wollen Personalkosten sparen, statt in
Bildung zu investieren. Sie nehmen mit der Abschaffung
der Studiengebühren ohne Kompensation – jedenfalls





Patrick Döring


(A) (C)



(D)(B)


ohne gegenfinanzierte – den Universitäten in Nieder-
sachsen gewaltige Geldmengen,


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt doch gar nicht! Das ist doch falsch!)


und der Qualitätsverlust in unseren Hochschulen wird
groß sein. Was ich aber viel schlimmer finde: Sie haben
alle sinnvollen verkehrspolitischen Projekte im Land auf
Eis gelegt. Diese Landesregierung wird nicht in Infra-
struktur investieren, sondern sie wird sich auf die blumi-
gen Versprechen derjenigen besinnen, die irgendwo ir-
gendwann mal eine Bahnlinie planen wollten. Die
konkreten Projekte sind unterfinanziert, weil Sie sie
nicht wollen.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sie sind bundesunterfinanziert! Das sind Bundesstraßen und -autobahnen!)


Sie sind bei A 20 und A 39 eingeknickt, und das ist
das Schlimmste, was dem Land passieren kann.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Niedersachsen ist eine starke Wirtschaftsregion, im
Wachstum die zweitstärkste in Deutschland – auch, weil
Niedersachsen als Vorhof zu Hamburg und Bremen so-
wie mit dem eigenen Tiefwasserhafen eine große indus-
trielle Bedeutung hat.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wir sind kein Vorhof! Wir sind Niedersachsen!)


Gerade die Logistikwirtschaft spielt eine entschei-
dende Rolle beim Wachstum von Niedersachsen. Dass
eine neue Landesregierung nicht erkennt, dass der Aus-
bau von Straße, Schiene und Wasserstraße existenziell
für dieses Land ist, und Planungsmittel streicht, um Fan-
tastereien der Grünen zu finanzieren, spricht Bände. Sie
wollen Infrastruktur nicht finanzieren, so wie Sie es
schon in Baden-Württemberg und NRW nicht tun.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Letzte Bemerkung. Die zweitgrößte Wirtschaftskraft
in Niedersachsen entfaltet die unternehmerische Land-
wirtschaft zusammen mit der gewerblichen Ernährungs-
wirtschaft. Bei dem, was wir darüber lesen und hören,
kann einem angst und bange werden.

Wir sind stolz darauf, dass es in Niedersachsen und in
ganz Deutschland gewerblich orientierte Landwirte gibt,
die nicht zurück zu der subventionsfinanzierten klein-
bäuerlichen Struktur, sondern sich am Markt beweisen
wollen.


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch gerade hoch subventioniert! Keine Ahnung!)


Das können sie in Niedersachsen Gott sei Dank,


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die meisten Subventionen gibt es für die Agrarindustrie bisher!)


und das soll auch so bleiben, wenn es nach uns geht.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Patrick Döring [FDP]: Herr Kollege Kindler, warum dürfen Sie nicht reden, wenn Sie doch laufend dazwischenquaken? Sie haben doch verhandelt! – Gegenruf der Abg. Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und gut verhandelt! – Patrick Döring [FDP], an die Abg. Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] gewandt: Dann hätte er doch hier mal reden können!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1722209300

Für die Fraktion Die Linke hat jetzt die Kollegin

Johanna Voß das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Johanna Voß (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1722209400

Meine Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Präsi-

dent! Mit dieser Aktuellen Stunde fährt die Regierung
ein billiges Manöver. Mit Blick auf den 22. September
2013 soll hier ein Lagerwahlkampf inszeniert werden.
Dafür fehlen die Voraussetzungen jedoch ganz erheblich.
Die Unterschiede zwischen der Regierungskoalition und
SPD und Grünen sind definitiv gering. Bei zentralen
Punkten sind die Übereinstimmungen viel stärker.

Nehmen Sie die Friedenspolitik. Seit dem Kosovo-
Einsatz unterscheidet sich die rot-grüne Politik, abgese-
hen von Einzelkämpfern wie Christian Ströbele, kaum
von der konservativen Kriegsführung. Aktuell unterstüt-
zen Sie in Mali einen neokolonialen Krieg – auch im In-
teresse der französischen Atomindustrie.


(Manfred Zöllmer [SPD]: Das ist reiner Blödsinn, was Sie da erzählen!)


Trittin kritisiert die Regierung von rechts und meint,
Frankreich würde militärisch nicht klar genug unter-
stützt. Auch der Entsendung von Patriot-Raketen in die
Türkei haben fast alle Abgeordneten von SPD und Grü-
nen zugestimmt.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das machen alles unsere Landesregierungen?)


Wer eine militärische Eskalation vermeiden will, der
darf keine Waffen in Krisengebiete schicken. Nur die
Linke steht für eine konsequente Friedenspolitik, und die
fängt mit der Armutsbekämpfung hier und in Afrika an.


(Beifall bei der LINKEN)


Ein weiterer Punkt. Alle vier Fraktionen verkünden
einhellig die neoliberalen Glaubenssätze. Auch hier bil-
det nur die Linke einen Gegenpol, einen sozialen Gegen-
pol.


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was hat das gerade mit der Landespolitik zu tun?)


Das gilt auch dann noch, wenn die SPD in der Opposi-
tion einige Forderungen der Linken, wie den Mindest-
lohn, aufgegriffen hat. Ein kurzer Blick auf den Kanzler-





Johanna Voß


(A) (C)



(D)(B)


kandidaten zeigt nämlich, wie ernst es der SPD mit der
tatsächlichen Umsetzung sozialer Forderungen ist.


(Michaela Noll [CDU/CSU]: Das stimmt!)


Mit Agenda-2010-Steinbrück sehe ich keinen Politik-
wechsel. Am 14. März 2013 ist es zehn Jahre her, dass
die Agenda-Politik angefangen hat. Das ist wahrlich
kein Ruhmesblatt.

Der Koalitionsvertrag in Niedersachsen zeigt, dass
Rot-Grün mit dem Diktat der Schuldenbremse die fatale
neoliberale Politik fortschreiben wird. Die Schulden-
bremse soll nun auch in Niedersachsen landesrechtlich
verankert werden. Gleichzeitig haben SPD und Grüne in
den vergangenen Jahren gemeinsam mit CDU und FDP
für leere Staatskassen gesorgt.

Die Steuergeschenke für Unternehmen und Rettungs-
pakete für Banken: Dazu sagt nur die Linke „Nein“. Nur
die Linke lehnt das konsequent ab. Wir wollen die Rei-
chen zur Kasse bitten; dann können wir die Kosten der
Wirtschafts- und Finanzkrise finanzieren. Eine Millio-
närssteuer, wie sie die Linke fordert, würde allein in Nie-
dersachsen 8 Milliarden Euro in die Landeskasse spülen.
Stellen Sie sich das einmal vor! Aber der Koalitionsver-
trag ist wachsweich.

Ich wohne im Wendland und bin seit 30 Jahren, wenn
nicht schon länger, in der Anti-Atom-Bewegung und war
Mitglied im Gorleben-Untersuchungsausschuss. Ich
habe es begrüßt, dass auch SPD und Grüne in Nieder-
sachsen zu der Einsicht kamen, dass Gorleben nicht als
Atomklo geeignet ist und aus der weiteren Endlagersu-
che heraus muss.


(Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist denn jetzt los?)


Doch das war vor der Regierungsübernahme.

Von der Zusage im Wahlkampf, ein Endlagersuchge-
setz nur unter Ausschluss von Gorleben mitzutragen,
blieb nun – ich zitiere den Koalitionsvertrag –:

Wir sehen die Gefahr, dass bei einem Verbleib Gor-
lebens … die Sicherheits-, Ausschluss- und Abwä-
gungskriterien auf Gorleben zugeschnitten werden
würden.

Folgender klarer Satz fehlt: Wenn Gorleben im Topf
bleibt, können wir einem Endlagersuchgesetz nicht zu-
stimmen. – Das ist keine standhafte Politik; das lässt
jede Menge Hintertürchen offen.

Im Koalitionsvertrag fehlt ebenso ein klares Bekennt-
nis zu einem Fracking-Verbot. Es gibt keine klaren Aus-
sagen dazu, nicht einmal so etwas wie ein Moratorium
wie in NRW.


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann müssen Sie einmal den Vertrag richtig lesen! Da steht NRW nicht drin, aber rot-grüne Bundesländer! – Gegenruf des Abg. Hans-Michael Goldmann [FDP]: Nein, nein, sie hat den Vertrag genau richtig gelesen!)


Auch das Verpressen des giftigen Lagerstättenwassers
in den Untergrund soll, nun jedoch mit wasserrechtlicher
Erlaubnis, weitergehen. Das alles fällt sogar hinter die
Forderung von SPD und Grünen im Bundestag sowie
hinter die der Umweltministerkonferenz zurück.


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt überhaupt nicht! Sie müssen den Vertrag richtig lesen! Weil rotgrüne Bundesländer angesprochen sind durch Initiative!)


Was ist los? Der Koalitionsvertrag in Niedersachsen
enttäuscht alle, die auf einen wirklichen Politikwechsel
gehofft haben.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Warum ist denn die Linkspartei aus dem Landtag geflogen? Das ist doch die Frage!)


Wie bitte soll bei diesem großen neoliberalen Konsens
zwischen Schwarz-Gelb und Rot-Grün ein Lagerwahl-
kampf aufgemacht werden können? Ein wirklicher Poli-
tikwechsel hin zu mehr Demokratie, zu einem existenz-
und rentensicheren Mindestlohn und zu einer friedlichen
Außenpolitik braucht eine starke Linke.

Unsere Vorschläge haben wir gestern mit dem Ent-
wurf des Wahlprogramms vorgelegt. Eindeutig fordern
wir ein Fracking-Verbot. Eindeutig fordern wir: kein
Endlagersuchgesetz mit Gorleben im Topf. Wir haben
klare Konzepte für bezahlbare Mieten und Energie-
preise, und wir haben ein durchgerechnetes Steuerkon-
zept. Das ist machbar und sozial gerecht, und es gibt
Kommunen und Ländern wieder notwendige Hand-
lungsspielräume. – So groß ist der Unterschied zwischen
Rot-Grün und Schwarz-Gelb in Wirklichkeit nicht.

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1722209500

Für Bündnis 90/Die Grünen hat das Wort die Kollegin

Ekin Deligöz.


Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722209600

Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Wir

stehen am Anfang eines Wahljahres. Union und FDP
müssen feststellen, dass sie eine Wahl nach der anderen
verlieren und Rot-Grün diese gewinnt. Sie werden ner-
vös. Das Ergebnis ist, dass Sie zu solchen Instrumenten
wie der Aktuellen Stunde greifen. Eigentlich, liebe Kol-
legen und Kolleginnen, müssen wir Ihnen dafür danken;
denn zum einen geben Sie uns jetzt die Gelegenheit, ein
paar Sachen zurechtzurücken, und zum anderen zeigen
Sie der Öffentlichkeit endlich einmal, wie verzweifelt
Sie sind, wenn Sie hier so laut herumbrüllen und so ei-
nen komischen Krawall veranstalten, im Versuch, sich
zu behaupten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Glauben Sie mir, die Menschen nehmen Ihnen das nicht
ab.





Ekin Deligöz


(A) (C)



(D)(B)


Wenn wir schon darüber reden: Was ist mit den Steu-
ern? Die Frage ist doch nicht, was geschieht, sondern,
warum es zu Steuererhöhungen kommen muss. Es muss
dazu kommen, weil Sie die Kommunen und die Länder
im Stich gelassen haben.


(Dr. Frank Steffel [CDU/CSU]: Das glatte Gegenteil ist die Wahrheit!)


Sie haben diese vor Ort ausbluten lassen,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


und Sie haben verhindert, dass vor Ort echte Investitio-
nen in Bildung bzw. zur Schaffung von Teilhabegerech-
tigkeit überhaupt stattfinden können.

Ja, Baden-Württemberg hat die Steuern erhöht – zu-
gunsten von Bildung. Ja, in Bremen wird unter den wid-
rigsten Umständen versucht, eine Schuldenbremse ein-
zuhalten. Die Bürger und Bürgerinnen stöhnen nicht
unter diesen Länderregierungen, sondern unter dieser
Bundesregierung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Sie stöhnen, weil Sie hier komplett konzeptlos hin und
her agieren. Darunter stöhnen die Bürger und Bürgerin-
nen!

Ich gebe Ihnen ein paar Beispiele: Finanztransaktion-
steuer, Mindestlohn, Rentenpolitik.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Energiewende!)


Was genau sind da Ihre Vorschläge? Was haben wir da
zu erwarten? Sie trauen sich hier noch nicht einmal, die
Frauenquote zu behandeln. Es könnte ja etwas „Fal-
sches“ dabei herauskommen. Die Mietpreisexplosion in-
teressiert Sie überhaupt nicht.


(Patrick Döring [FDP]: Sie verursachen die doch mit den Steuererhöhungen!)


Worüber haben wir geredet? Wir haben über die Einnah-
men der Vermieter gesprochen, aber nicht über die Mie-
ter. Sie ignorieren Entgeltungleichheit zwischen Frauen
und Männern in diesem Land und sagen: Alles muss
bleiben, wie es ist. – Sie wollen Deutschlands Zukunft in
die Vergangenheit zurückführen. Sagen Sie doch mal
ehrlich, dass das Ihr Ziel ist!

Ich gebe Ihnen weitere Beispiele dafür. In der Bil-
dungspolitik behaupten Sie, das Abendland würde unter-
gehen, weil Rot-Grün anscheinend das Sitzenbleiben ab-
schafft.


(Dr. Frank Steffel [CDU/CSU]: Wie beim ersten Mal! Richtig!)


Liebe Kollegen und Kolleginnen, das ist einfach so nicht
wahr.


(Dr. Frank Steffel [CDU/CSU]: 98 lässt grüßen!)


Wir wollen Kinder fördern, und wir wollen, dass die
Schulen die Kinder fördern. Wir wollen eine individuelle
Förderung; wir wollen, dass Kinder eine Chance bekom-
men, weiter voranzukommen. Wir wollen nicht, dass sie

ein Jahr verlieren, sondern wir wollen gute Bildung.
Deshalb sagen wir, dass Sitzenbleiben keine Antwort ist.
Was wollen Sie? Sie wollen sortieren, Kinder zurücklas-
sen und ausgrenzen. Genau dazu führt die Politik des
Sitzenbleibens. Und das wollen wir nicht,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


weil die Kinder von heute die Fachkräfte von morgen
sind. Wenn Sie das ignorieren, ist das eine rückwärtsge-
wandte Politik.

Genau das Voranbringen durch beste Förderbedingun-
gen steht im Koalitionsvertrag für Niedersachsen. Ich
lese es Ihnen vor:

… Sitzenbleiben und Abschulung durch individu-
elle Förderung überflüssig machen.

Das bedeutet, dass Kinder gefördert und nicht in erster
Linie althergebrachte Strukturen bewahrt werden sollen.
Das müssen Sie wahrnehmen.

Auch wenn Sie so laut schreien: Es ist kein Zufall,
dass es inzwischen überhaupt keinen CDU- bzw. FDP-
Kultusminister mehr gibt; denn Ihre Bildungspolitik
wird abgewählt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Auch Ihre Studiengebühren sind abgewählt worden. In
München standen Menschen mitten im Winter Schlange,
damit sie gegen Studiengebühren unterschreiben konn-
ten. In Niedersachsen sind die Menschen auf die Straße
gegangen und haben Rot-Grün gewählt, weil sie gegen
Studiengebühren sind. Ich bin einmal gespannt, was Ihre
neue Bundesbildungsministerin macht, die immer noch
davon schwärmt, wie toll Studiengebühren in diesem
Land sind. Das ist die Politik, für die Sie stehen. Sagen
Sie das hier doch einmal klipp und klar!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ein anderes Beispiel: Krippenausbau. Rheinland-
Pfalz hat schon heute die 35-Prozent-Quote bei Betreu-
ungsplätzen für unter Dreijährige erfüllt. Nordrhein-
Westfalen wird von Ihnen schwer dafür angegriffen, dass
es anscheinend die Quote nicht erfüllen kann. In Nord-
rhein-Westfalen hatte Ihre Regierung für das Jahr 2013
ganze 8 Millionen Euro für den Krippenausbau zur Ver-
fügung gestellt. Heute stellt die Regierung dafür
253 Millionen Euro bereit. Alle, die Nordrhein-Westfa-
len kritisieren, müssen sich fragen, wo Nordrhein-West-
falen stehen würde, wenn Sie weiter regiert hätten, und
wie dann die Quote aussehen würde.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme aus
Bayern. Den besten Beweis dafür, dass die Bürger in die-
sem Land weiter sind als die Regierenden, auf Bundes-
ebene und auch in Bayern, können Sie in Bayern sehen.
Die Menschen gehen auf die Straße. In München zum
Beispiel glich das Ganze dem Kampf von David gegen
Goliath, als die Menschen gegen den Ausbau des Flug-
hafens aufgestanden sind. David – nämlich die Bürger –





Ekin Deligöz


(A) (C)



(D)(B)


hat gewonnen. Die Menschen haben ein Signal gesetzt.
Sie haben sich ferner gegen Studiengebühren entschie-
den. Auch Ihrem Betreuungsgeld wird dort bei weitem
nicht so applaudiert, wie Sie das immer behaupten.

Ich wünsche mir für Bayern nichts sehnlicher, als
dass wir eine Regierung wie in Baden-Württemberg,
Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Hol-
stein, Bremen und nun Niedersachsen bekommen, weil
das gute Regierungen sind. Das ist eine gute Art und
Weise, die Zukunft voranzubringen. Die Uhr tickt, insbe-
sondere für Sie. Da helfen Ihnen auch keine Aktuellen
Stunden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1722209700

Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt das Wort der

Kollege Andreas Mattfeldt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Andreas Mattfeldt (CDU):
Rede ID: ID1722209800

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Mitnichten wird auf der rechten
Seite irgendjemand nervös. Aber wir erleben Weichen-
stellungen durch rot-grüne Landesregierungen, die eben
erhebliche Nachteile für die Menschen in unserem Land
bedeuten. Darauf hinzuweisen, das ist Aufgabe der Poli-
tik. Das ist der Anlass dieser Aktuellen Stunde.


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch nur Wahlkampf!)


Rot-Grün nimmt durch diffuse Entscheidungen billi-
gend in Kauf, dass die Wettbewerbsfähigkeit in Deutsch-
land erheblichen Schaden nimmt und die gute Arbeits-
marktlage nachhaltig gefährdet wird. Das sehen wir
leider ganz aktuell in meinem Heimatbundesland Nie-
dersachsen. Dort wurde während des Wahlkampfes viel
versprochen. Doch was die Menschen jetzt bekommen,
das verschlechtert ihre Lebensbedingungen massiv.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Quatsch! – Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo denn?)


Dabei hat Ihnen, Herr Heil, die christlich-liberale
Landesregierung in Niedersachsen ein gut bestelltes
Land mit besten Perspektiven übergeben:


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Warum sind Sie denn dann abgewählt worden?)


hohes Wirtschaftswachstum, niedrige Arbeitslosigkeit,
leistungsfähige Schulen und Hochschulen und, Herr
Heil, vor allen Dingen solide Landesfinanzen.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: 60 Milliarden Schulden nennen Sie solide?)


Wenn Sie hier von Schulden in Höhe von 60 Milliarden
Euro sprechen – Sie wiederholen es gerade –, dann ge-
hört zur Wahrheit dazu, dass 46 Milliarden Euro an
Schulden aus Ihrer Zeit, aus der Zeit von Herrn Gabriel
übernommen wurden und er in seiner letzten Zeit noch

3 Milliarden Euro gemacht und uns übergeben hat. Das
ist die Wahrheit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt nicht!)


Angesichts des Koalitionsvertrags der neuen Landes-
regierung bin ich zutiefst entsetzt. Rot-Grün hat sich
entschieden, den Erfolgspfad solider Entscheidungen
dauerhaft zu verlassen und stellt einmal mehr Parteiinte-
ressen vor Landesinteressen.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Warum sind Sie dann abgewählt worden?)


Rot-Grün hat sich vom wichtigsten politischen Ziel für
nachfolgende Generationen, nämlich vom Ziel der Haus-
haltskonsolidierung, verabschiedet


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Warum sind Sie dann abgewählt worden?)


und steht für höhere Schulden sowie für eine regelrechte
Orgie an Steuererhöhungen.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Es fehlt das Geld, um die teuren und ideologischen
Wahlversprechen zu finanzieren. Deshalb drehen Sie
jetzt munter an der Steuerschraube.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Es wundert natürlich wenig, dass sich Rot-Grün vom
McAllister-Ziel verabschiedet hat, die Schuldenbremse
bereits 2017 einzuhalten.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Die Menschen haben sich von McAllister verabschiedet!)


Sie wollen nun erst 2020, also weit nach der kommenden
Landtagswahl, dieses Ziel einhalten. Es ist immer leicht,
sich Ziele zu setzen, die so weit in der Zukunft liegen,
dass sie wohl erst von nachfolgenden Regierungen reali-
siert werden müssen.


(Petra Hinz [Essen] [SPD]: Damit kennen Sie sich bestimmt aus!)


Rot-grün agiert hier ganz nach dem Motto „Nach mir die
Sintflut“.


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sind schwarz-gelbe Phantomschmerzen!)


Verantwortungsbewusstes Regieren gerade für junge
Menschen in diesem Land sieht anders aus.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Wenn man dann noch wie beim Kitaausbau zusätzliches
Geld für Investitionen und Bewirtschaftung anbietet, es
Ihnen quasi hinterherträgt, dann wollen Sie es noch nicht
einmal annehmen, wie wir gesehen haben, sondern Sie
verweigern durch ideologische Blockadehaltung im
Bundesrat die zügige Auszahlung von 580 Millionen
Euro an die Städte und Gemeinden bei uns im Land. Erst





Andreas Mattfeldt


(A) (C)



(D)(B)


ein eiliges Gesetz durch die Bundesregierung musste
dieses heilen, damit Städte und Gemeinden endlich
bauen können.

Meine Damen und Herren, Niedersachsen erwartet
jetzt aber auch ein Mehr an Ausgaben für die Sozialin-
dustrie.


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist denn eigentlich „Sozialindustrie“?)


Denn es ist logisch, dass zuerst die eigene Wählerklien-
tel die Einlösung von Wahlversprechen erwartet.


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist denn das für eine Diffamierung: „Sozialindustrie“?)


Mehr Sozialausgaben – das hört sich zunächst schön und
vor allen Dingen auch großzügig an. Uns allen ist aber
heute schon klar, dass kommende Generationen diese
Großzügigkeit nicht werden bezahlen können.

Erst einmal werden die Ausgaben nun aber ganz ein-
fach dadurch finanziert, dass man wichtige Fernstraßen-
und Infrastrukturprojekte auf Eis legt. Aber kluge Men-
schen wissen, dass man dadurch nicht nur das Wirt-
schaftswachstum, sondern auch die hervorragenden Ar-
beitslosenzahlen in Niedersachsen und nicht nur dort
erheblich gefährdet.

Meine Damen und Herren, die Bürgerinnen und Bür-
ger meines Wahlkreises beschäftigen sich derzeit mit
vielen Fragen im Bereich der Erdgasförderung. Auch in
diesem Bereich hält der niedersächsische Koalitionsver-
trag nicht das, was gerade Sie vorher lauthals verspro-
chen haben. Kurz vor Weihnachten haben wir an dieser
Stelle über einen Antrag von Ihnen, den Grünen, debat-
tiert, in dem ein Moratorium für Fracking gefordert
wurde. Ich habe dem sogar – das macht man nicht jeden
Tag – zugestimmt.


(Manfred Zöllmer [SPD]: So was!)

Wer allerdings jetzt glaubt, dass Derartiges im rot-grü-
nen Koalitionsvertrag in Niedersachsen festgehalten
wurde, der wird bitter enttäuscht. Im Koalitionsvertrag
findet man nur vage und unbestimmte Äußerungen zum
Thema Fracking.


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mal richtig lesen! Das stimmt nicht!)


Ich habe den Eindruck, 500 Millionen Euro Förderzins
haben die rot-grüne Landesregierung dazu gebracht, ihre
Versprechungen ganz, ganz schnell über Bord zu werfen.

In Niedersachsen enttäuscht der Koalitionsvertrag
nicht nur, weil Versprochenes nicht eingehalten wurde,
sondern vor allen Dingen, weil wichtige Aufgaben nicht
angegangen, sondern in ferne Zukunft nach der nächsten
Wahl verschoben wurden.

Alles in allem kann ich Ihnen sagen, liebe Kollegin-
nen und Kollegen von Rot-Grün: Eine verantwortungs-
bewusste Politik sieht bei weitem anders aus.

Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1722209900

Für die SPD-Fraktion hat jetzt das Wort der Kollege

Oliver Kaczmarek.


(Beifall bei der SPD)



Oliver Kaczmarek (SPD):
Rede ID: ID1722210000

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin ein

bisschen enttäuscht. Ich habe mich vorbereitet und über-
legt, mit welchen Finten Sie jetzt die Landespolitik in
den rot-grün geführten Ländern auseinandernehmen
könnten und wie wir darauf reagieren sollten. Aber im
Grunde sind Sie, glaube ich, nur sauer über den Liebes-
entzug durch die Wählerinnen und Wähler, und so rea-
gieren Sie auch: irrational.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Hermann E. Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schlechte Verlierer! – Gustav Herzog [SPD]: Beleidigte Leberwurst!)


Dabei ist die Antwort auf die Frage, warum Sie so
viele Landtags- und im Übrigen auch Oberbürgermeis-
terwahlen verloren haben, ziemlich einfach: Sie haben
selbst falsche Weichenstellungen vorgenommen. Sie ha-
ben Studiengebühren eingeführt. Sie haben in der früh-
kindlichen Bildung die Gruppengrößen heraufgesetzt.
Dazu gibt es eine aktuelle Auseinandersetzung auch in
Hessen. Sie haben die Gesamtschulen benachteiligt. Das
ist in Niedersachsen ein ganz großes Problem.

Sie haben massiv gegen das Gerechtigkeitsempfinden
der Menschen und massiv gegen das Chancengleich-
heitsverständnis verstoßen. Deswegen sind Sie abge-
wählt worden, und das zu Recht.


(Beifall bei der SPD)


Dass Sie daraus nichts gelernt haben, zeigt ein Blick
in mein Heimatland Nordrhein-Westfalen. Denn in die-
sen Minuten kommt der Haushalts- und Finanzausschuss
des nordrhein-westfälischen Landtags zusammen. Die
CDU wird dort ihre bekannten Vorschläge noch einmal
vortragen: Wiedereinführung von Studiengebühren und
Wiedereinführung von Elternbeiträgen im letzten Kin-
dergartenjahr.

Sie wollen im Haushalt das Geld, das jetzt den Uni-
versitäten und Kindertageseinrichtungen als Kompensa-
tion zur Verfügung gestellt wird, streichen, und Sie wol-
len dafür die Eltern zur Kasse bitten. An diesem Beispiel
wird der Unterschied zwischen Schwarz-Gelb und Rot-
Grün aus meiner Sicht überdeutlich.

Während wir in Nordrhein-Westfalen die Familien
durch die Abschaffung der Studiengebühren und die
Beitragsfreistellung im letzten Kindergartenjahr um
400 Millionen Euro entlasten und das sauber mit einer
Erhöhung der Grunderwerbsteuer gegenfinanziert ha-
ben, wollen Sie die Familien in Nordrhein-Westfalen mit
400 Millionen Euro belasten. Sie wollen eine Umvertei-
lungspolitik zulasten der Familien in Nordrhein-Westfa-





Oliver Kaczmarek


(A) (C)



(D)(B)


len. Deswegen sind Sie auch zu Recht so weit weg von
der Regierungsverantwortung.


(Beifall bei der SPD)


Sie wollen jetzt stattdessen aus Enttäuschung über
Ihre Wahlniederlagen – klar! –, aber auch aus einer ge-
wissen Verantwortungslosigkeit, wie ich finde, gegen-
über den Ländern die Länder schlechtreden, um sich
eine bessere Ausgangsposition für die Bundestagswahl
zu verschaffen.

Das führt mich zu zwei Schlussfolgerungen. Erstens.
Ich glaube, dass diese Verweigerungshaltung, diese Ver-
antwortungslosigkeit zeigen: Sie sind nicht mehr willens
oder in der Lage, gesamtstaatliche Verantwortung zu
übernehmen, und das insbesondere in der Bildungspolitik.
Auf keinem anderen Politikfeld erwarten die Menschen
nämlich – zu Recht – mehr Zusammenarbeit von Bund
und Ländern wie in der Bildungspolitik.


(Beifall bei der SPD)


Wir müssen noch mehr in frühkindliche Bildung inves-
tieren, wir müssen mehr Ganztagsschulen einrichten, wir
brauchen eine Ausbildungsgarantie. Viele weitere Bei-
spiele könnte man dafür anführen, wo Bund und Länder
dringend besser kooperieren müssen. Denn keines der
Länder – ich hätte auch noch die Hochschulen anführen
können – wird das auf Dauer allein schaffen.

Doch die Koalition verweigert sich einer systema-
tischen Zusammenarbeit von Bund und Ländern in der
Bildung. Sie halten am Kooperationsverbot fest und le-
gen stattdessen eine Mini-Grundgesetzänderung vor,


(Zuruf von der CDU/CSU: Die Sie blockieren!)


die für – das wissen Sie selbst – die großen Bildungs-
herausforderungen nichts bewegt. Deswegen: Tun Sie
sich endlich mit den Ländern zusammen! Die Menschen
erwarten das zu Recht. Keiner will Ihr verantwortungs-
loses Schwarzer-Peter-Spiel gegen die Länder. Die
Menschen erwarten zu Recht ein Miteinander in der Bil-
dungspolitik und nicht ein Gegeneinander und Schuld-
zuweisungen.


(Beifall bei der SPD)


Zweite Schlussfolgerung. Während sich Schwarz-
Gelb in zentralen Fragen eben nicht einigen kann, zeigen
die rot-grünen Landesregierungen, wie man eine Hal-
tung einnimmt und damit auch Verantwortung über-
nimmt.


(Beifall bei der SPD)


Vor drei Wochen hat hier der nordrhein-westfälische In-
nenminister Ralf Jäger gestanden, ein sehr geschätzter
Mann, der eben nicht nur über Rechtsextremismus redet,
sondern der ihn auch konsequent verfolgt und Organisa-
tionen verbietet. Er hat die Botschaft aller Innenminister
überbracht, ein Verbotsverfahren gegen die NPD zu er-
öffnen.

Ich will das in der Sache gar nicht weiter ausführen,
aber welcher Unterschied ist auch das? Hier ein Innen-
minister, der für alle Innenminister der Länder spricht,
eine klare Haltung zum NPD-Verbot übermittelt, und

dort im Saal eine Koalition und eine Bundesregierung,
die noch nicht einmal in der Lage sind zu sagen, ob sie
für oder gegen ein NPD-Verbotsverfahren sind, die nicht
in der Lage sind, überhaupt irgendeine Haltung einzu-
nehmen. Das ist ein echtes Armutszeugnis und auch ein
klarer Unterschied zwischen Schwarz-Gelb und Rot-
Grün.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Ein anderes, ein letztes Beispiel. Der Bundesrat hat
Verantwortung für das Thema Steuergerechtigkeit über-
nommen und deshalb auch zu Recht das von Ihnen aus-
verhandelte Steuerabkommen mit der Schweiz abge-
lehnt. Welch ein Unterschied auch hier! Hier auf der
rechten Seite diejenigen, die Steuerbetrügern für ein Ta-
schengeld das Freikaufen ermöglichen wollen, und dort
diejenigen, die mit konsequenter Strafverfolgung gegen
Steuerbetrug vorgehen – auch durch den Ankauf ent-
sprechender CDs. Das ist eine Frage, die das elementare
Gerechtigkeitsempfinden der Menschen betrifft. Auch
hier ein ganz deutlicher Unterschied zwischen Schwarz-
Gelb und Rot-Grün.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Insofern – ich komme zum Schluss – ist diese Ak-
tuelle Stunde dann doch vielleicht sinnvoll, um deutlich
zu machen, wo die Unterschiede liegen: Wir haben Ver-
antwortung übernommen, Haltung gezeigt, Partei ergrif-
fen. Wir haben Chancen geschaffen. Sie haben Ihre
Chance seit 2009 nicht genutzt.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1722210100

Für die FDP-Fraktion hat jetzt die Kollegin Birgit

Homburger das Wort.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Birgit Homburger (FDP):
Rede ID: ID1722210200

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es

ist hier in dieser Debatte gerade einiges gesagt worden,
was man dringend richtigstellen muss. Das fängt damit
an, dass hier behauptet worden ist, dass wir die Kommu-
nen und die Länder im Stich lassen würden.


(Gustav Herzog [SPD]: Das tun Sie ja auch!)


Das Gegenteil, meine sehr verehrten Damen und Herren,
ist der Fall. Ich mache Ihnen das nur einmal an einem
Beispiel deutlich: In Baden-Württemberg nimmt eine
grün-rote Landesregierung 350 Millionen Euro aus dem
kommunalen Finanzausgleich raus, Geld, das man den
Kommunen wegnimmt, weil das Land angeblich diese
Mittel braucht.

Sie ignorieren auch völlig, dass der Bund zwischen-
zeitlich erhebliche Lasten zum Beispiel dadurch dauer-
haft übernommen hat, dass er zukünftig die Grundsiche-
rung im Alter komplett bezahlt. Damit werden die





Birgit Homburger


(A) (C)



(D)(B)


Länder und die Kommunen entlastet. Im letzten Jahr be-
trug diese Entlastung für die Bundesländer 10,5 Milliar-
den Euro, in diesem Jahr werden es 12 Milliarden Euro
sein, und in den nächsten Jahren werden es ebenfalls
zweistellige Milliardenbeträge sein.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, von einer
solchen Entlastung sind Sie weit weg. Wir machen sie,
Sie quatschen drüber.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Wenn ich mir die Steuerpolitik in allen rot-grün re-
gierten Ländern anschaue, dann heißt das zuallererst:
Steuererhöhungen. Angesichts der höchsten Steuerein-
nahmen, die wir in diesem Land jemals hatten, ist das
ein Schlag in das Gesicht aller anständigen Bürgerinnen
und Bürger.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


In der Haushaltspolitik versagen Sie vollkommen.
Die allermeisten rot-grün regierten Länder sind über-
haupt nicht bereit, trotz massiver Steuermehreinnahmen
den Haushalt zu konsolidieren. In Baden-Württemberg
will man im Jahr 2020 einen ausgeglichenen Haushalt
erreichen, also erst dann, wenn es die im Grundgesetz ver-
ankerte Schuldenbremse vorsieht. In Nordrhein-West-
falen hat die Landesregierung nun gesagt, man will dieses
Ziel noch nicht einmal 2020 erreichen. Ja, wo sind denn
da die Anstrengungen zur Verbesserung der Zukunfts-
fähigkeit in diesen Ländern?


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Gleiches gilt für die Infrastrukturpolitik und die Bil-
dungspolitik. Ich kann Ihnen nur sagen: Wir haben mehr
Geld in Bildung und Forschung investiert. Wir haben im
Bundesrat auf den Weg gebracht, dass das Kooperations-
verbot geändert wird und dass Forschungseinrichtungen
dauerhaft auch vom Bund mitfinanziert werden können.
Sie sind es, die das blockieren, weil Ihnen das Geld, das
wir den Ländern und den Forschungseinrichtungen ge-
ben wollen, noch nicht reicht. Das ist kleinkariert. Sie
blockieren Zukunftschancen in diesem Land.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Bildung ist die soziale Frage unserer Zeit.


(Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wovon reden Sie eigentlich? Von Ganztagsschulen? Von Kitaausbau? Können Sie mal Zukunftschancen definieren? Hotels! Mehr Zukunftschancen für Hotels!)


Wir wollen Aufstieg durch Bildung, und zwar unabhän-
gig von der Herkunft. Das ist das Ziel, das wir erreichen
wollen. Deswegen brauchen wir ein möglichst differen-
ziertes Bildungssystem, möglichst individuelle Förde-
rung und mehr Entscheidungsfreiheit der Schulen vor
Ort. In Niedersachsen schwadronieren Sie von mehr in-
dividueller Förderung. Erklären Sie mir bitte mal, wie
Sie das mit deutlich weniger Lehrkräften hinkriegen
wollen!


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Was Sie vorhaben, ist nichts anderes als eine Einheits-
schule. Die heißt dann in Nordrhein-Westfalen und Nie-
dersachsen Gesamtschule, die an allen Ecken und Enden
stärker gefördert wird. In Baden-Württemberg heißt das
Ganze Gemeinschaftsschule.


(Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie wollen, dass Kinder auf der Strecke bleiben! Das ist Ihre Einstellung!)


Wenn das ein Angebot wäre, wäre das okay. Aber das,
was Sie machen, ist kein Angebot, sondern die gezielte
Förderung einer einzigen Schulart durch entsprechende
finanzielle Rahmenbedingungen. Sie wollen die Ein-
heitsschule in Deutschland. Das bedeutet sozialen Ab-
stieg.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie wollen sortieren! – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Das ist peinlicher Unsinn! Haben Sie schon mal Bildungspolitik durchbuchstabiert?)


Ich sage Ihnen genauso deutlich: Wenn wir in diesem
Land Exzellenz behalten wollen, wenn wir wollen, dass
wir weiterhin spitze bei Forschung, Wissenschaft und
Innovation sind,


(Dr. Hermann E. Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann muss die FDP weg!)


dann ist das nicht möglich, wenn unser Schulsystem im-
mer schlechter wird. Das Gymnasium bildet die Grund-
lage von Exzellenz. Wer das Gymnasium ausbluten will
wie in NRW, wer es kaputt machen will, macht sich zum
Sargnagel von Qualität und Exzellenz unseres Bildungs-
systems. Das sind Sie von Rot-Grün.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Sie führen in der Bildungspolitik permanent Struktur-
debatten. Wir führen Qualitätsdebatten,


(Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie mal was zum Betreuungsgeld! Was ist da die FDP-Strategie?)


weil wir der Auffassung sind, dass Kinder und Jugendli-
che mehr Unterstützung brauchen. Es soll keiner auf der
Strecke bleiben. Das ist eine Frage der Schwerpunktset-
zung, auch in den Haushalten. Deshalb haben wir mit
Eintritt der FDP in die Bundesregierung 2009 entschie-
den, dass wir mehr Geld in Bildung und Forschung in-
vestieren. Das waren in dieser Legislaturperiode auf
Bundesebene 13 Milliarden Euro mehr. Im Vergleich
dazu sehen Sie alt aus. Sie sollten diesen Anstrengungen
nacheifern und nicht einen solchen Unsinn erzählen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Sie wollen mit einer Kuschelpädagogik den Kindern
etwas vormachen. Keine Noten und kein Sitzenbleiben
soll es mehr geben; das steht auch in diesem Koalitions-
vertrag in Niedersachsen. Das alles gaukelt den Schülern
eine heile Welt vor. Es gaukelt ihnen vor, dass Erfolge
ohne Anstrengung und Leistung erreichbar wären. Da-
mit betrügen Sie Kinder um ihre Zukunftschancen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)






Birgit Homburger


(A) (C)



(D)(B)


Was wir in der Bildungspolitik brauchen, ist mehr An-
strengung. Kein Kind darf verloren gehen. Das bedeutet:
Wir müssen in diesen Bereich investieren. Wir müssen
vor allen Dingen von der Qualität her denken. Wir müs-
sen die Kinder mitnehmen, ihnen Chancen geben, even-
tuelle Defizite auszugleichen, und sie gegebenenfalls
durch Sommer- oder Wochenendkurse fit machen.

Die Politik der rot-grünen Regierungen in den Län-
dern führt zu nichts anderem als zu einer Zweiklassenge-
sellschaft: diejenigen, die sich eine Privatschule leisten
können, und diejenigen, die sich eine Privatschule nicht
leisten können. Das, meine Damen und Herren, ist nicht
zukunftsfähig. Deswegen wollen wir Bildung als Bür-
gerrecht. Dafür werden wir weiter kämpfen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1722210300

Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Albert

Rupprecht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Albert Rupprecht (CSU):
Rede ID: ID1722210400

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!

Liebe Kollegen! Frau Deligöz, mit Stand von heute er-
reichen die Parteien CDU und CSU nach Meinungsum-
fragen 43 Prozent; in Bayern sind es für die CSU sogar
47 Prozent. Das heißt, es würde sogar zu einer absoluten
Mehrheit reichen. Das wissen Sie als Bayerin. Deswegen
können Sie mir glauben, dass wir nicht ängstlich sind,
sondern ausgesprochen optimistisch auf die Wahl im
September blicken.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Zur Sache. Wir haben es ja schwarz auf weiß: Seit
PISA, IKB und anderen Bildungsstudien wissen wir,
welche Bildungspolitik erfolgreich ist und welche nicht.
Fakt ist schlichtweg, dass die Bundesländer mit rot-grü-
ner Bildungspolitik auf dem Gebiet der Bildung seit Jah-
ren das Schlusslicht in Deutschland sind. Bei allen Tests
sind die Schüler aus Bayern und aus Sachsen – alte und
neue Bundesländer – meilenweit besser


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Als in Niedersachsen!)


als die Schüler aus SPD-regierten Ländern wie beispiels-
weise Bremen und Brandenburg, und dies, obwohl Sach-
sen und Brandenburg vor 22 Jahren mit denselben Vo-
raussetzungen gestartet sind. Heute, nach 22 Jahren, sind
die Unterschiede dramatisch. Das liegt nicht daran, dass
die Kinder in Bremen und Brandenburg dümmer wären
als die Kinder in Bayern oder in Sachsen. Nein, sehr ge-
ehrte Damen und Herren, das liegt daran, dass die Bil-
dungspolitik dieser Länder grottenschlecht bzw. misera-
bel ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Auch im Jahr 2013 ist die rot-grüne Bildungspolitik

– zu den Details werde ich gleich kommen – eine An-
sammlung von gebrochenen Versprechen und von ideo-
logischen Verirrungen. Vor den Wahlen reden Sie davon,

wie wichtig Ihnen die Bildung sei, und danach streichen
und kürzen Sie dramatisch. Sie schwadronieren von In-
klusion und individueller Förderung – Frau Homburger,
Sie haben das angesprochen –, aber streichen allerorts
Stellen, zum Beispiel bei den Lehrern. In Rheinland-
Pfalz streicht die SPD 2 000 Lehrerstellen. Die Landes-
regierung von Schleswig-Holstein streicht 3 000 Lehrer-
stellen. In Bremen ist deswegen im November sogar die
Schulsenatorin zurückgetreten. In Niedersachsen – Dis-
kussion dieser Woche – kündigt die Regierung an, die
demografische Rendite nicht in mehr Lehrer, sondern in
weniger Lehrer umzusetzen. Was heißt das in der Konse-
quenz? Ich zitiere die Osnabrücker Zeitung: Bis zu
10 000 Lehrerstellen sollen durch Rot-Grün in Nieder-
sachsen gestrichen werden. – Am schlimmsten ist es in
Baden-Württemberg unter grüner Führung. Angekündigt
waren im Wahlkampf zusätzliche Lehrerstellen; in Wirk-
lichkeit werden rund 12 000 – ich wiederhole: 12 000 –
Lehrerstellen gestrichen. Nach wenigen Wochen der rot-
grünen Regierung in Baden-Württemberg herrscht im
früheren Musterländle so viel Chaos,


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Bei der CDU! Ja, das stimmt!)


dass die zuständige Bildungsministerin Warminski-
Leitheußer zurücktreten musste. Das ist die Realität dort,
wo Sie regieren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Hermann E. Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie mal, wo Sie das herhaben!)


Zur selben Zeit haben wir in anderen Bundesländern das
entgegengesetzte Bild. Wen verwundert es, dass ich hier
Bayern anführe? In Bayern werden in den Jahren 2012/
2013 fast 4 000 Lehrer eingestellt. Das ist der Unter-
schied.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Oder nehmen wir die Hochschulpolitik. In Hamburg
hat Bürgermeister Scholz, SPD, Folgendes angekündigt
– ich zitiere –: Wir brauchen exzellente Universitäten.
Wir werden dafür sorgen, dass sie unter besseren Rah-
menbedingungen arbeiten können. – Was hat er in Wirk-
lichkeit getan?


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sagen Sie mal etwas zu Studiengebühren!)


Er streicht den Hochschulen inflationsbereinigt 5 Pro-
zent der Gelder. Das nennt man nicht Unterstützung; das
nennt man Kaputtsparen der Hochschulen. Das ist kein
Wachstumsprogramm, sondern ein Abbauprogramm.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Jeder muss wissen, dass wir inzwischen vonseiten des
Bundes mit Milliardengeldern beim Hochschulpakt, bei
der Exzellenzinitiative und bei vielen anderen Bereichen
den Ländern unter die Arme greifen. Täten wir dies nicht,
leisteten wir nicht vonseiten des Bundes diesen Kraftakt,
gingen in den Hochschulen Hamburgs die Lichter aus.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)






Albert Rupprecht (Weiden)



(A) (C)



(D)(B)


Sehr geehrte Damen und Herren, es gibt ein Beispiel,
wie man es anders machen kann. Zur selben Zeit wird
nämlich im CSU-geführten Bayern, dem Bildungsland
Nummer eins in Deutschland, ein ganz anderer Weg be-
schritten.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Werden nun die Studiengebühren abgeschafft? Ja oder nein? Wissen Sie das noch nicht?)


Wir haben eine klare Priorität für Bildung und For-
schung. Die Ausgaben für Wissenschaft und Forschung
steigen im Jahr 2013 um 6 Prozent; in den vergangenen
Jahren haben wir die Ausgaben im Bildungsbereich um
sage und schreibe 41 Prozent gesteigert.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Was ist mit den Studiengebühren?)


Ein Drittel des gesamten Landeshaushalts geht in die
Bildung. Auch deswegen haben die bayerischen Schüler
bei den Tests ausgezeichnete Ergebnisse.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sagen Sie mal einen Satz zu den Studiengebühren in Bayern! Haben Sie eine Position dazu? Haben Sie keine?)


Auch auf Bundesebene muss jeder wissen: Wir halten
Wort. Wir haben eine Priorität für Forschung und Bil-
dung angekündigt. Im Gegensatz zu den rot-grün regier-
ten Ländern leben wir das. Wir hatten 12 Milliarden
Euro mehr für Forschung und Bildung angekündigt.
Dies haben wir nicht nur realisiert und somit Wort gehal-
ten, sondern wir setzen noch eines drauf: Wir werden in
dieser Legislaturperiode 13 Milliarden Euro für For-
schung und Bildung ausgeben. Deswegen ist es auch
möglich, dass die Politik in manchen Ländern überhaupt
noch funktionieren kann.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722210500

Herr Kollege, wir setzen keines drauf bei der Rede-

zeit. Deswegen wäre es gut, wenn Sie zum Ende kämen.


Albert Rupprecht (CSU):
Rede ID: ID1722210600

Frau Präsidentin, ich bin am Ende.


(Beifall des Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD])


Es gäbe noch viele andere Beispiele. Wir machen auch
Versprechungen; aber wir halten unser Wort. Rot-Grün
verspricht vieles, hält aber eben nicht Wort.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Zu den Studiengebühren haben Sie jetzt nichts gesagt!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722210700

Das Wort hat der Kollege Lothar Binding für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Lothar Binding (SPD):
Rede ID: ID1722210800

Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren!

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Niederlagen in
den Ländern müssen wirklich sehr schmerzhaft sein.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das kann man wohl sagen!)


Das sage ich ohne Häme, weil alle von uns Niederlagen
kennen. Aber ich glaube, dass es hier noch eine beson-
dere Komponente gibt, die etwas mit der Selbstwahrneh-
mung und der Fremdwahrnehmung zu tun hat. Der Kol-
lege Steffel hat gesagt: Wir sind spitze.


(Dr. Frank Steffel [CDU/CSU]: Deutschland ist spitze!)


Wenn das die Selbstwahrnehmung ist, wie will man
dann verstehen, dass man reihenweise abgewählt wird.
Wenn man spitze ist, dann ist doch klar, dass man nicht
abgewählt wird.

Vielleicht haben Sie selber sogar eine Erklärung ge-
liefert, als Sie die hohen Steuereinnahmen bejubelt ha-
ben, die jetzt sprudeln. Ich finde es auch toll, wenn man
ein hohes Steueraufkommen hat. Aber warum haben Sie
gleichzeitig die Verschuldung so exorbitant erhöht? Das
kann man nicht erklären.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wenn man solche Erklärungen schuldig bleibt, dann hat
man ein Problem. Die gute Lage, die Sie beschreiben,
könnte man genauer analysieren; denn es wird jeder
Fachmann folgen, dass Schwarz-Gelb hier schon drei
Jahre von den Erfolgen, die Rot-Grün vor längerer Zeit
und danach die Große Koalition erreicht haben, und de-
ren Weichenstellung zehrt. Ich glaube, die Menschen
spüren, dass diese Regierung vom Volk nicht mehr lange
auszuhalten ist. Ich denke, dass es im September einen
ähnlichen Weg gehen wird, den das Volk jetzt schon in
den Ländern gegangen ist, weil diese Erklärung von Ih-
nen fehlt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ganz evident ist dies auch entlang der Entscheidungs-
schwäche der Kanzlerin. Man muss nur einmal gucken,
was sie wirklich entscheidet. Ist es nicht so, dass sie vor-
gibt, die Sparguthaben der kleinen Leute in Deutschland
zu schützen, während in Wahrheit die EZB bzw. Herr
Draghi oder auch einmal Frankreich entscheidet? In
Wahrheit entscheiden immer andere. Es ist eine Ersatz-
vornahme für die fehlende Politik in dieser Regierung,
die mehr oder weniger dahindümpelt.

Ich will zwei Gedanken zu den Ländern äußern, und
zwar zu der Frage der Glaubwürdigkeit und der Zuver-
lässigkeit. Es gab ja den sogenannten EnBW-Deal, bei
dem Herr Mappus irgendwie mit Aktien gehandelt hat.
Nun gibt es irgendwelche Unklarheiten. Ich will da nicht
vorgreifen und behaupten, was richtig oder falsch bzw.
unwahr war, zumal es dazu auch einen Untersuchungs-
ausschuss gibt. Interessanterweise musste der Vorsit-
zende dieses Ausschusses, der CDU-Kollege Ulrich





Lothar Binding (Heidelberg)



(A) (C)



(D)(B)


Müller, zurücktreten, weil er Herrn Mappus über interne
Unterlagen berichtet hat. Man muss sich einmal vorstel-
len, welch ein Bild eine Partei auf diese Weise präsen-
tiert, die dann auch noch sagt, sie sei spitze und wolle
wiedergewählt werden. – Abgesehen davon hätte Herr
Kollege Rupprecht ruhig ein Wort dazu sagen können,
wie die CSU in Bayern eigentlich mit den Studiengebüh-
ren umgehen wird; denn das ist auch so ein Eiertanz, den
eigentlich niemand, der seriöse Politik im Blick hat, ver-
stehen kann.


(Beifall bei der SPD – Christian Lange [Backnang] [SPD]: CDU ist Mappus! So ist das!)


Sie haben das Wort „Weichenstellung“ benutzt. Stel-
len wir uns vor, es sitzt jemand im Zug und merkt plötz-
lich, dass der Zug in die falsche Richtung fährt. Was
macht er? Er läuft so lange, wie es geht, gegen die Fahrt-
richtung, und denkt, er werde am richtigen Bahnhof an-
kommen. Das ist aber leider falsch, und deshalb kann
eine solche Art der Politik gar nicht funktionieren. Es ist
viel wichtiger, danach zu fragen, wer die Schienen ge-
legt, die Weichen gestellt und den Zug gestartet hat.

Schauen wir auf das zurück, was Sie bisher gemacht
haben. Sie haben dreieinhalb Jahre lang gesagt, Sie ar-
beiteten an einem einfachen, niedrigen und gerechten
Steuersystem. Wenn Sie uns das zeigten, wäre es genial.
Ich suche die ganze Zeit. Was finde ich? Nichts!


(Beifall bei der SPD)


Nach Berechnung des BMF hatte die FDP Steuersenkun-
gen in Höhe von 80 Milliarden Euro versprochen.


(Patrick Döring [FDP]: Aber nicht auf Pump!)


Am Ende waren es magere 6 Milliarden Euro. Diese
Steuersenkungen waren allerdings schwierig verteilt und
wurden auch noch mit der falschen Erklärung „Absen-
kung der Progression“ verknüpft. Das Ergebnis ist, dass
die ärmeren Leute eine Tasse Kaffee und die Reichen
30 Euro extra im Monat haben. Im Haushalt gibt es aber
6 Milliarden Euro weniger für die Erledigung wichtiger
Aufgaben: Über Familienpolitik und Bildung wurde
heute schon viel gesprochen.


(Gustav Herzog [SPD]: Verkehrsinvestitionen!)


– Verkehrsinvestitionen.


(Patrick Döring [FDP]: Wir investieren mehr in Schienen und Straßen als unter Rot-Grün, Herr Binding!)


Auch die Kommunen sind zu bedenken. – Sie merken,
wir haben so viele Aufgaben vor uns und Sie haben so
viele Probleme mit dem Geld, dass es besser wäre, Sie
würden abgewählt.

Aber werden wir genauer. Ich zitiere die Koalitionsver-
einbarung, die Sie schon mehrfach erwähnt haben: steu-
erliche Entlastung insbesondere der Bezieher unterer und
mittlerer Einkommen in Höhe von 24 Milliarden Euro.
Kann mir jemand zeigen, wo diese 24 Milliarden Euro
sind? Das kann mir keiner zeigen. Was haben Sie also da-
mals damit gemeint? Im Ergebnis gab es das Wachstums-

beschleunigungsgesetz. Damit haben Sie Leute bedient,
die Ihnen zuvor etwas gespendet haben, Stichworte „Ho-
telsteuer“ und „Mövenpick“. Das wurde schon gelegent-
lich genannt.


(Patrick Döring [FDP]: Sie blockieren doch jede politische Entscheidung!)


Eine Kommission – das steht auf Seite 14 Ihres Koali-
tionsvertrags – soll die Neuausrichtung der Gemeinde-
finanzierung erarbeiten. Können Sie mir zeigen, wo das
passiert ist? Gibt es das? Finde ich das irgendwo, oder
stand das nur in der Koalitionsvereinbarung? Im Ergeb-
nis hat es die Kommunen 2,5 Milliarden Euro gekostet.


(Patrick Döring [FDP]: Wir haben die Kommunen entlastet durch die Grundsicherung im Alter!)


Sie wollten die im Grundgesetz verankerte Schulden-
bremse umsetzen und eine generationengerechte Finanz-
politik praktizieren. Im Ergebnis haben Sie im Bereich
„Arbeit und Soziales“ gekürzt. Sie haben das Elterngeld
für Arbeitslose gestrichen. Sie haben die Rentenversi-
cherungsbeiträge ruiniert. Sie haben den Heizkostenzu-
schuss beim Wohngeld gestrichen. Sie haben den Ein-
gliederungstitel für Arbeitslose gesenkt.


(Patrick Döring [FDP]: Weil wir weniger Arbeitslosigkeit haben!)


Sie haben gemeint, das wäre gute Sozialpolitik. Wer Ih-
nen das glaubt, der wird Sie auch wählen. Alles Gute!


(Beifall bei der SPD – Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Das können ja nicht viele sein!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722210900

Das Wort hat der Kollege Dr. Volker Wissing.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Der Blockierer der Finanztransaktionsteuer!)



Dr. Volker Wissing (FDP):
Rede ID: ID1722211000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die zentrale Frage, vor der unser Land steht, vor der die
öffentlichen Haushalte stehen, ist: Wie schaffen wir es,
die Schuldenbremse einzuhalten, ohne dass es zu Ver-
werfungen insbesondere im sozialen Bereich kommt?
Diese Bundesregierung hat eine klare Lösung des Pro-
blems gefunden. Die Lösung liegt im soliden Wirtschaf-
ten, im Sparen. Wir haben das mit einem Sparhaushalt in
Deutschland vorgemacht. Wir schaffen es, die Schulden-
bremse durch seriöse und konsequente Ausgabenkür-
zung vorzeitig einzuhalten. Die Bundesregierung – die
Bundeskanzlerin hat heute eine Regierungserklärung
dazu abgegeben – schafft es auch, diese Politik der
Haushaltsvernunft in Europa durchzusetzen. Deswegen
haben wir erstmals einen rückläufigen europäischen
Haushalt. Das sind die Erfolge christlich-liberaler Regie-
rungspolitik.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Es gibt ein zweites Ziel; denn mit Sparen allein ist es
nicht getan. Das zweite Ziel ist, Wachstum in unserem





Dr. Volker Wissing


(A) (C)



(D)(B)


Land zu generieren. Die christlich-liberale Regierung
hat in Deutschland einen Wachstumserfolg geschafft, der
in ganz Europa seinesgleichen sucht. Was aber machen
die rot-grünen Landesregierungen im Bundesrat? Sie
versuchen, die Weichen weg von einer wachstumsorien-
tierten Finanzpolitik hin zu einer Politik der konsequen-
ten Steuererhöhung umzulenken. Das gefährdet die Sta-
bilität Europas, die Stabilität Deutschlands und auch die
Stabilität unseres Sozialstaates.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Während wir heute über solide Staatsfinanzen in Eu-
ropa reden, muss Rheinland-Pfalz einen Nachtragshaus-
halt in Höhe von 200 Milliarden Euro beschließen, weil
Rot-Grün die Finanzen nicht im Griff hat. Ich will Ihnen
auch sagen, warum. Rot-Grün hat die Finanzen nicht im
Griff, weil 300 Millionen Euro in Achterbahnen und
Freizeitparks investiert wurden und am Ende nichts an-
deres als Insolvenz produziert wurde.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Sie können nur Pleite in den Ländern.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Fragen Sie mal Herrn Brüderle nach der Wirtschaftspolitik dort!)


Sie bekommen auch die Infrastrukturpolitik in den
Ländern nicht in den Griff. Wir haben gehört, dass der
Straßenbau in Niedersachsen unter dieser Regierung
nicht mehr vorankommt.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Seit zwei Tagen wird keine Straße gebaut, oder wie? Das ist absurd, was Sie hier erzählen! Ideologisch verblendet!)


In Rheinland-Pfalz gibt es ein Debakel um den Flugha-
fen Hahn. Die Verkehrsstraßen werden nicht ausgebaut.
Sie stellen die Weichen gegen Wachstum in der Zukunft,
und damit stellen Sie die Weichen gegen Zukunftschan-
cen in Deutschland.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Was haben Sie im Bundesrat im Zusammenhang mit
der kalten Progression veranstaltet? Wir haben Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmer, die bei 2 Prozent Infla-
tion mit den Gewerkschaften an ihrer Seite hart um
2 Prozent Lohnerhöhung streiten müssen.


(Zuruf von der SPD: Weil Sie keine Mindestlöhne machen!)


Aber was passiert jetzt dank SPD und Grünen im Bun-
desrat bei 2 Prozent Lohnerhöhung? Die Lohnerhöhung
kommt nicht bei den Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
mern an; sie bekommen nicht einmal eine Nullrunde mit
Inflationsausgleich. Nein, sie müssen auch noch höhere
Steuern bezahlen, weil Sie die kalte Progression ver-
schärft haben. Das ist arbeitnehmerfeindliche Politik;


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


das gefährdet die Binnennachfrage, die Konjunktur, das
Wachstum. Es ist desaströs, was Sie diesem Land mit Ih-
rer rot-grünen Mehrheit im Bundesrat antun.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Nicht zu fassen, was Sie hier erzählen!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, die SPD will das
Steueraufkommen um 40 Milliarden Euro erhöhen; das
ist nur das, was die SPD auf die Waagschale legt. Die
Grünen setzen mit der Vermögensabgabe noch eins
drauf: 15 Prozent sollen die Deutschen an den Staat ab-
führen.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: „Die Deutschen“! „15 Prozent“! Also, wirklich!)


Bei der Vermögensabgabe, die zusätzlich zur Vermögen-
steuer, zu höheren Einkommensteuern und höheren Un-
ternehmensteuern kommen soll – 100 Milliarden Euro
sollen die Deutschen insgesamt zahlen –, berufen Sie
sich auf ein Gutachten von Herrn Professor Wieland von
der Verwaltungshochschule in Speyer. Er sagt, man
müsse das dadurch ergänzen, dass man den Menschen
eine Alternative zur Zahlung in bar gibt, indem man ih-
nen die Möglichkeit eröffnet, ihr Immobilienvermögen,
ihr Eigentum direkt an den Staat zu übertragen. Das ist
die Politik, die Sie wollen. Das ist der Ausstieg aus der
sozialen Marktwirtschaft. Das ist der Ausstieg aus der
Wachstums- und Stabilitätspolitik. Deswegen sagen wir
dazu ganz klar: Das darf in Deutschland nicht mehrheits-
fähig werden.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist das denn für ein Schreckgespenst?)


Liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot und Grün,
Sie erhöhen die Abgaben in den Ländern. In Rheinland-
Pfalz bauen Sie Lehrerstellen ab; weit über 1 000 Lehrer-
stellen werden gestrichen, weil Sie den Haushalt mit Ih-
rer unsinnigen Politik nicht in den Griff bekommen.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sind Sie da eigentlich im Landtag?)


Wir haben dort eine neue Ministerpräsidentin, die er-
klärte, wie man das Geld gerechter verteilt, aber vergaß,
eine einzige Silbe dazu zu sagen, wie man in Deutsch-
land ein entsprechendes Wachstum schaffen kann, um all
das zu erwirtschaften, was wir brauchen, um unseren So-
zialstaat zu stabilisieren.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sie sind doch gar nicht im Landtag!)


Die Menschen in Deutschland müssen wissen, dass
die Politik, die Sie betreiben, zum Schaden unseres Lan-
des ist.


(Gustav Herzog [SPD]: Überlegen Sie mal, warum Sie in Rheinland-Pfalz nichts mehr zu sagen haben!)


Es ist eine Politik, die Wachstum beendet, eine Politik,
die stabile Staatsfinanzen in Deutschland gefährdet, eine
Politik, die die wirtschaftliche Stabilität ganz Europas
und damit die Stabilität unserer gemeinsamen Währung
gefährdet. Deswegen muss jetzt Schluss sein


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Schluss mit der FDP! Da haben Sie recht! Schluss damit! Raus mit der FDP aus dem Deutschen Bundestag! Das ist die Antwort!)






Dr. Volker Wissing


(A) (C)



(D)(B)


mit diesem rot-grünen Unsinn. Wir brauchen eine Stär-
kung von Schwarz-Gelb, von CDU/CSU und FDP, in
Deutschland,


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


für Wachstum, für Stabilität, für Solidität bei Bildung
und Finanzen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Es sprach die rheinland-pfälzische APO, die außerparlamentarische Opposition!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722211100

Dirk Fischer hat das Wort für die CDU/CSU-Frak-

tion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dirk Fischer (CDU):
Rede ID: ID1722211200

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Um zu sehen, wie Rot-Grün in der Verkehrspolitik
den Rückwärtsgang einlegt, muss man sich nur die letz-
ten Koalitionsvereinbarungen aus den Ländern Nieder-
sachsen, Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen
ansehen – von Baden-Württemberg ganz zu schweigen.
Das ist in weiten Teilen nichts anderes als Propaganda-
und Blockadepolitik, die unserem Land und unseren
Leuten Schaden zufügt.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Ihre habe ich ja gerade zitiert, und was die wert ist!)


Unsere Koalition im Bund dagegen handelt und
macht Gesetze, die nachweislich auch den Ländern und
den Gemeinden zugutekommen. In den letzten beiden
Bundeshaushalten wurden zusätzliche Investitionsmittel
in Höhe von 1,75 Milliarden Euro für Bundesfernstra-
ßen, Bundesschienenwege und Bundeswasserstraßen be-
reitgestellt.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Wollen Sie jetzt eigentlich Stuttgart 21 bauen oder nicht? Dazu können Sie mal was sagen!)


Allein 300 Millionen Euro wurden für den Ausbau der
Schleuse Brunsbüttel am Nord-Ostsee-Kanal bereitge-
stellt.

Rot-Grün in Niedersachsen fordert eine anteilige Fi-
nanzierung der Netze der nicht bundeseigenen Bahnen
durch den Bund. Offenbar sind die im Tiefschlaf; denn
die Bundesregierung hat schon vor zwei Wochen einen
Gesetzentwurf zur Ausführung der Förderung der nicht
bundeseigenen Bahnen beschlossen. Die Haushaltsmittel
– das haben Sie wahrscheinlich auch noch nicht gemerkt –
hat der Deutsche Bundestag schon im letzten November
bewilligt. Da kommen Sie wohl etwas sehr spät.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Rot-Grün in Niedersachsen will die Planung für die
A 20 und die A 39 nur noch mit eingeschränktem Mittel-
einsatz weiterführen,


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Mit den ganz normalen Mitteln!)


anstatt ohne Schranken nach vorne zu blicken und dem
Land endlich die dringend nötige Infrastruktur zu geben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich kann nur sagen: Ha, ha, ha, unsere liebe SPD im
Schwitzkasten der Grünen. Das ist einfach nur jämmer-
lich.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Rot-Grün in Niedersachsen will für den Feldversuch
mit Lang-Lkw keine neuen Strecken ausweisen. Rot-
Grün in Schleswig-Holstein will sich aus dem Feldver-
such zurückziehen. Mit dieser Verweigerungshaltung
werden deutliche Einsparpotenziale beim Kraftstoffver-
brauch und damit bei den CO2-Emissionen vergeben.
Wo heute drei LKW fahren, werden es im Feldversuch in
der Zukunft nur noch zwei Lang-Lkw sein.

Rot-Grün in Schleswig-Holstein schließt den Weiter-
bau der A 20 westlich der A 7 in dieser Legislatur-
periode aus. Das bedeutet Stillstand. Ich kann nur sagen:
hoffentlich nur bis zur nächsten Wahl. Der Bund hat
nämlich schon einen ersten Teilabschnitt in seinem In-
vestitionsrahmenplan als prioritäres Vorhaben vorgese-
hen. Sie aber hauen hier eine Blockade rein, um dieses
wichtige Infrastrukturprojekt zu verhindern.

Die steuerliche Förderung der energetischen Gebäu-
desanierung insbesondere für die Eigenheimbesitzer ha-
ben rot-grün regierte Länder verhindert. Das trifft Haus-
eigentümer und Mieter gleichermaßen und offenbart ein
wirklich merkwürdiges Umweltverhalten der Grünen;
denn sie haben damit aus niederen, hauseigentümer-
feindlichen Gründen einen entscheidenden Beitrag zur
CO2-Reduzierung blockiert. Wir wissen aber, dass der
Gebäudesektor neben dem Verkehrssektor der wichtigste
Bereich zur Minderung von CO2-Emissionen ist. Da
kann ich nur sagen: Das ist ein wirklich peinlicher dun-
kelroter Fleck am grünen Rock.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Verehrte Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, so
kann man sich als Ökopartei auf dem Laufsteg vor den
Wählern nicht sehen lassen.

Heute Abend beraten wir in erster Lesung die Fort-
zahlung der Entflechtungsmittel. Dabei geht es auch um
den sozialen Wohnungsbau. Ich kenne den Widerstand
der Länder und der Opposition zum vorliegenden Ge-
setzentwurf. Aber die Länder müssen sich fragen lassen,
welchen Beitrag sie in den letzten Jahren geleistet haben,
um eine Fortzahlung auf hohem Niveau zu rechtfertigen.
Die Bundesmittel werden von den Ländern nur teilweise
oder gar nicht für den sozialen Wohnungsbau eingesetzt.
Die eigene frühere Kofinanzierung der Länder ist weit-
gehend gestrichen worden. Obwohl Sie die Aufgaben-
verantwortung haben, wollen Sie dem Bund anlasten,
dass er für den sozialen Wohnungsbau zu wenig tut? Das
ist doch wahrheitswidrig. Es gibt keinen Bundesfinanz-
minister, der taub ist, wenn ihn solche Berichte errei-
chen. Er muss sich doch fragen, ob eine Bundesförde-
rung hier wirklich zielgenau zur Erledigung der Aufgabe
eingesetzt wird. Damit haben die betreffenden Länder





Dirk Fischer (Hamburg)



(A) (C)



(D)(B)


den Verhandlungen über die Fortzahlung der Entflech-
tungsmittel einen Bärendienst erwiesen.

Ich komme zum Ergebnis: Wer nach den Hilfen des
Bundes ruft, muss zunächst einmal Selbstkritik üben und
daraus glaubhafte Maßnahmen der eigenen Besserung
ableiten. Erst dann kann er beanspruchen, ernst genom-
men zu werden. Ansonsten – das ist bedauerlich für
Land und Leute – missbraucht Rot-Grün die Macht in
den Ländern, um Gutes für unsere Bürger und unser
Land zu verhindern.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Quatsch!)


Wäre ich Franzose, würde ich sagen: À la barricade, ci-
toyen! – Aber ich bin ein deutscher Abgeordneter. Ich
sage: „Wehrt euch, Bürger!“, und zwar friedlich, mit
dem Stimmzettel.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben sie doch gerade gemacht in Niedersachsen! – Dr. Hermann E. Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sind doch abgewählt! – Gustav Herzog [SPD]: Wer hat Sie gedrängt, eine solche Rede zu halten?)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722211300

Die Aktuelle Stunde ist beendet.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset-
zung der Richtlinie 2011/61/EU über die Ver-
walter alternativer Investmentfonds 

(AIFM-Umsetzungsgesetz – AIFM-UmsG)


– Drucksache 17/12294 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)
Rechtsausschuss 
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO

Verabredet ist, hierzu eine Stunde zu debattieren. –
Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann ist
das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parla-
mentarische Staatssekretär Hartmut Koschyk für die
Bundesregierung.

H
Hartmut Koschyk (CSU):
Rede ID: ID1722211400


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben in diesem Haus eine hohe Einigkeit darüber,
dass wir unverändert daran arbeiten müssen, die richti-
gen Lehren aus der Finanzmarktkrise mit ihren Folgen
für die Volkswirtschaften, für die Staaten zu ziehen.
Diese Bundesregierung hat auf allen politischen Ebenen,
natürlich in erster Linie auf internationale Ebene, zum
Beispiel auf G-20-Ebene, aber natürlich auch auf Ebene
der Europäischen Union, immer eine Schrittmacherfunk-
tion inne, wenn es darum geht, die notwendige Regulie-
rung der Finanzmärkte voranzutreiben.

Heute legen wir einen Gesetzentwurf vor, mit dem
eine wichtige europäische Richtlinie umgesetzt wird,
nämlich die Europäische Richtlinie über die Verwalter
alternativer Investmentfonds. Mit dem heute in den Bun-
destag eingebrachten Gesetzesvorhaben wird in Deutsch-
land ein Kapitalanlagegesetzbuch geschaffen, das sämt-
liche Fondsmanager und Fonds einer Finanzaufsicht un-
terwirft.

Ziel dieser europäischen Richtlinie ist, dass Manager
von alternativen Investmentfonds einer Zulassungs-
pflicht unterworfen und fortlaufend beaufsichtigt wer-
den. Die Manager müssen ein angemessenes Risiko- und
Liquiditätsmanagement einrichten. Sie müssen über be-
sondere Sachkenntnisse, Erfahrung und Zuverlässigkeit
verfügen, und sie müssen auf Grundlage dieser neuen
Regelung umfangreiche Berichtspflichten erfüllen. Ferner
muss ein Fondsmanager gemäß den Anforderungen die-
ser europäischen Richtlinie sicherstellen, dass für jeden
von ihm verwalteten alternativen Investmentfonds eine
sogenannte Verwahrstelle bestellt wird. Die Verwahrstel-
lenregelungen, insbesondere die Regelung zur Unterver-
wahrung und zur Haftung, wurden als Lehre aus dem
Schneeballbetrugssystem des ehemaligen US-Finanz-
und Börsenmaklers Madoff, dem sogenannten Madoff-
Skandal, getroffen.

Für Manager von Fonds, die in beträchtlichem Um-
fang hebelfinanziert sind, die sogenannten Hedgefonds,
gelten besondere und zusätzliche Transparenzpflichten,
um den Aufsichtsbehörden einen besseren Blick auf
mögliche systemische Risiken zu geben und so eine Ge-
fahr zu bannen.

Hinsichtlich der Regulierung werden aus Gründen
des Anlegerschutzes Fonds, die an Kleinanleger vertrie-
ben werden, sogenannte Publikumsfonds, strengeren Re-
gelungen unterworfen. Das dient insbesondere dem An-
legerschutz. So werden den Managern von Publikums-
fonds zum Beispiel umfangreichere Informationspflich-
ten gegenüber den Anlegern auferlegt als Managern von
Fonds für professionelle Anleger. Ferner werden die be-
reits im bisherigen Investmentgesetz getroffenen Rege-
lungen zu Anlagegrenzen für offene Publikumsfonds
wie zum Beispiel gemischte Sondervermögen oder sons-
tige Sondervermögen übernommen.

Wir mussten auch im Bereich der offenen Publikums-
fonds Konsequenzen ziehen; denn bei den offenen Im-
mobilienfonds ist es in der Vergangenheit vermehrt zu
Fondsschließungen und -abwicklungen gekommen. So
wurde in dem Gesetzentwurf die Möglichkeit der Rück-
nahme von Anteilen an offenen Publikumsimmobilien-
fonds auf ein Mal im Kalenderjahr begrenzt. Wir mei-
nen, ein fester jährlicher Rückgabetermin bietet eine
höhere Schockresistenz. Er dient dem Ziel, die Inkonsis-
tenz zwischen kurzfristigen Rückgabemöglichkeiten und
langfristiger Anlage in illiquide Vermögensgegenstände
zu beseitigen, und wahrt damit die im Rahmen der
Schattenbankdiskussion geforderte Fristenkongruenz.

Um den Marktbedürfnissen zu entsprechen, wird die
Ausgabe von Anteilen an offenen Publikumsimmobi-
lienfonds anders als nach dem Investmentgesetz nicht
mehr an die Rücknahmetermine gekoppelt. Anteilsaus-





Parl. Staatssekretär Hartmut Koschyk


(A) (C)



(D)(B)


gaben können bis zu viermal im Jahr vorgesehen wer-
den.

Geschlossene Publikumsfonds und ihre Manager wer-
den durch das Kapitalanlagegesetzbuch erstmals einer
umfassenden Regulierung unterworfen. Damit wird ein
weiterer Schritt unternommen, um den grauen Kapital-
markt in Europa und damit auch in Deutschland zu ver-
engen.

Bei der Regulierung wollen wir aber nach dem
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vorgehen. Deshalb
werden auch Abstufungen vorgenommen. So wird zum
Beispiel die Schwellenwertregelung der AIFM-Richtli-
nie, nach der Manager kleiner Fonds einer Registrie-
rungs-, aber keiner Zulassungspflicht unterliegen, auch
auf die Manager von den kleinen Publikumsfonds er-
streckt. Zusätzlich gelten für diese aber auch wichtige
anlegerschützende Vorschriften wie zum Beispiel die
Verwahrstellenregelung und die Informationspflichten
gegenüber den Anlegern.

Lassen Sie mich etwas zur Regulierung der sogenann-
ten Spezialfonds sagen. Bei der Regulierung von Mana-
gern, die Fonds für professionelle Anleger verwalten,
wurden die Vorschriften der europäischen Richtlinie eins
zu eins übernommen. Um jedoch dem Bedürfnis insbe-
sondere von Sozialkapital wie Versicherungen und Pen-
sionskassen an der Beibehaltung von bewährten Pro-
duktregeln und gesetzlichen Rahmenbedingungen für
die steuerliche und bilanzielle Einstufung Rechnung zu
tragen, wurden die aus dem Investmentgesetz bestehen-
den Produktregulierungen für diese Spezialfonds über-
nommen.

Im Gegenzug müssen aber die zu erfüllenden Auf-
sichtsregeln für Fondsmanager gemäß den Vorgaben der
europäischen Richtlinie übernommen werden. Sie erhal-
ten einen EU-Pass, der ihnen dann den EU-weiten Ver-
trieb von Fonds für professionelle Anleger erlaubt.

Neben der Umsetzung der europäischen AIFM-Richt-
linie werden in das neue Kapitalanlagegesetzbuch als
zweiter wichtiger Bereich die bisherigen Regelungen des
Investmentgesetzes zur Umsetzung der Richtlinie über
Organismen für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren,
die sogenannte OGAW-Richtlinie, übernommen, und
das Investmentgesetz wird aufgehoben.

Lassen Sie mich den dritten und letzten Bereich der
Umsetzung dieser europäischen Richtlinie nennen. Zum
Dritten geht es nämlich darum, mit dem Umsetzungsge-
setz dieser europäischen Richtlinie unser nationales
Recht an die europäische Verordnung über europäische
Risikokapitalfonds und an die europäische Verordnung
über europäische Fonds für soziales Unternehmertum
anzupassen.

Werte Kolleginnen und Kollegen, die Bundesregie-
rung verfolgt seit Beginn dieser Legislaturperiode ein
ganz klares Ziel: Kein Finanzmarkt, kein Finanzakteur
und kein Finanzprodukt darf unbeaufsichtigt bleiben.
Schritt für Schritt haben wir einen neuen Ordnungsrah-
men für die Finanzmärkte geschaffen. Deutschland war
bei vielen dieser Gesetzgebungsvorhaben auf europäi-
scher und auf G-20-Ebene Vorreiter.

Mit dem heute eingebrachten Gesetzentwurf zur Um-
setzung der Europäischen Richtlinie über die Verwalter
alternativer Investmentfonds wurde ein weiteres wichti-
ges Gesetzesvorhaben zur Erreichung unserer Regulie-
rungsziele für die Finanzmärkte auf den Weg gebracht.

Ich bitte daher um Unterstützung bei der parlamenta-
rischen Beratung und Verabschiedung dieses Gesetzent-
wurfs.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722211500

Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der Kollege

Dr. Carsten Sieling.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Carsten Sieling (SPD):
Rede ID: ID1722211600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Es ist heute wieder so, wie wir es schon mehrfach in die-
sem Hause erlebt haben: Mit großem Gestus tritt die
Bundesregierung auf und legt uns Gesetzesentwürfe vor
mit der Botschaft, damit wäre bei der Finanzmarktregu-
lierung ein weiterer Meilenstein erreicht, und sie würde
umgesetzt, wie es vereinbart sei. Kein Markt, kein Pro-
dukt, nichts solle ohne Regulierung bleiben.


(Zuruf von der FDP: Was ist jetzt daran falsch?)


Die Wirklichkeit ist: Man macht nichts anderes – und
das in der Regel, nachdem die Zeit schon länger abge-
laufen ist –, als europäische Vorgaben umzusetzen, und
Sie, meine Damen und Herren, setzen sie auch noch
schlecht um. Dazu werde ich gleich einige Ausführun-
gen machen.

Ich sage dies deshalb, weil dass das übliche Lied ist
und wir das in der Vergangenheit schon mehrfach erlebt
haben. In diesem Falle werden wir uns bei der Beratung
– Herr Staatssekretär, Sie haben das angesprochen – na-
türlich sehr konstruktiv bemühen, hieraus noch etwas
Ordentliches zu machen. Aber wir haben es mit einem
Gesetzentwurf, sozusagen einem Kapitalanlagegesetz-
buch, mit einem Umfang von fast 600 Seiten zu tun
– dieser Umfang ist in den Beratungen hier selten –, in
dem viele Elemente neu sortiert werden.


(Zuruf des Abg. Ralph Brinkhaus [CDU/ CSU])


– Ein Kollege der Koalition ruft dazwischen, das sei eine
große Leistung. – Ja, Sie, bzw. nicht Sie, sondern die
Ministerien, haben sich nach der Beschlussfassung auf
europäischer Ebene 20 Monate Zeit genommen, um das
auszuarbeiten. Wir haben hier jetzt verdammt wenig
Zeit, um das parlamentarisch zu begleiten und umzuset-
zen. Das ist nicht Demokratie. Da will man uns ein biss-
chen über den Tisch ziehen.


(Beifall bei der SPD)


Ich hätte mir gewünscht, dass man den Gesetzentwurf
hier früher einbringt und wir eine wirkliche Gelegenheit





Dr. Carsten Sieling


(A) (C)



(D)(B)


haben, im Parlament darüber zu reden, bevor wir es um-
setzen.

Es hat schon eine ganze Reihe anderer Gesetze im
Bereich Anlegerschutz und im Bereich Stabilität der Fi-
nanzmärkte gegeben, die hier immer mit großem Elan
eingebracht wurden und die aus unserer Sicht in der Re-
gel immer Lücken gelassen haben, durch die die Finanz-
branche leider weiter ihre Spielräume haben wird. Hier
sehen wir Gefährdungen für die Stabilität und eben auch
Schwächen im Bereich des Anlegerschutzes.

Das ordnet sich insgesamt in das ein, was hier meist
vorgelegt wird. Es gibt dabei entweder die Variante
„Bruder Leichtfuß“, die Variante „Verwirrung“ oder die
Variante „Wortbruch“, dass man sozusagen an unter-
schiedlichen Stellen Wortbrüche gegenüber dem, was
man einmal geäußert hat, begeht.

Die Variante „Bruder Leichtfuß“ erleben wir gerade
beim Thema Trennbanken. Das hat schon heute Morgen
im Rahmen der Regierungserklärung eine Rolle gespielt.
Es gibt ordentliche Vorschläge zu diesem Thema. Erst
war die Bundesregierung komplett dagegen, jetzt legt
man etwas vor, das die Situation in der Tat verwässert
und keine Lösung ist. Das sind Raubkopien von guten
Ideen, die in diesem Zusammenhang auch von unserer
Seite, der Seite der Sozialdemokraten, namentlich von
Peer Steinbrück, vorgebracht worden sind.


(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Sie kopieren die Ideen und bringen sie hier in einer
schlappen Variante ein. Dadurch werden die Finanz-
märkte nicht reguliert; das wird keine Stabilität schaffen.


(Beifall bei der SPD)


Ich schaue mir einmal die Aufsichtsdebatte an. Ich
bin ja in den letzten Tagen vom Stuhl gefallen, als ich le-
sen musste, dass es nun auch im Bundesfinanzministe-
rium wieder eine muntere Debatte darüber gibt, ob die
Finanzaufsicht nicht doch von der BaFin weg und bei
der Bundesbank angesiedelt werden soll.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das hat mich auch gewundert!)


Das ist ein Hin und Her, bei dem Sie von Beginn an nicht
wussten, was Sie machen.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das kann man wohl sagen!)


Sie bringen auch in die Aufsichtsbereiche Unsicherheit.
Das ist nicht zu verantworten.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Von der Bundesbank geführt! Wollen Sie denen das verbieten?)


– Nein, ich verbiete niemandem, nachzudenken, Herr
Kollege, ich äußere mich nur dazu, dass auch seitens des
Bundesfinanzministeriums darüber nachgedacht worden
ist.

Ich komme zum wichtigsten, schwierigsten und pro-
blematischsten Thema, das ganz eng im Zusammenhang

mit der Regulierung und mit der Ordnung, die wir im In-
vestmentbereich brauchen, steht. Wir müssen dafür sor-
gen, dass spekulative Elemente begrenzt werden, dass es
exzessive Gewinne und kurzfristig orientierte Hand-
lungsweisen nicht mehr gibt. Deshalb hatten wir im
Sommer letzten Jahres unter ganz schwierigen Bedin-
gungen hier im Hause die Vereinbarung getroffen, eine
Finanztransaktionsteuer auf den Weg zu bringen. Ich
weiß, dass sich die Bundesregierung Mühe gibt, aber
man hört auch immer wieder Gegenteiliges.

Gerade heute Morgen musste ich wieder diese Zwi-
schenrufe und Äußerungen vonseiten der FDP hören, zu
denen ich nichts anderes sagen kann, als dass das eine
völlig falsche Darstellung dessen ist, was vereinbart
worden ist. Immer wieder wird an dieser Stelle nicht auf
die Stabilität und die notwendige Regulierung geachtet,
sondern es wird gesagt, die Kleinanleger seien bedroht.
Das geht sehr weit. Ich darf hier zitieren, was sich Herr
Wissing erlaubt in diesem Zusammenhang zu sagen. Er
sagt, nach den Vorschlägen der Brüsseler Behörde zur
Finanztransaktionsteuer wären es vor allem – vor allem! –
die Kleinsparer und mittelständischen Betriebe, die diese
35 Milliarden Euro zahlen müssten.


(Beifall bei der FDP)


– Dadurch, dass Sie jetzt klatschen, weiß ich, dass Sie
die Blockierer an dieser Stelle sind.

Ich will Ihnen einmal sagen, wie die Wirklichkeit aus-
sieht. 85 Prozent aller Umsätze und Aktivitäten, die an-
gegangen werden, finden zwischen Finanzinstituten
statt. Davon wird überhaupt kein Anleger, erst recht kein
Kleinanleger, betroffen sein. Es geht vielleicht um po-
tenziell 15 Prozent. Da sind wir zum Beispiel im Bereich
der hier diskutierten Investmentfonds und Immobilien-
fonds; um diese könnte es in der Tat gehen. Ich darf Sie
darauf hinweisen – aber Sie wissen das ja alles besser;
Sie wissen es genau –:


(Björn Sänger [FDP]: Nein! Sie wissen immer alles besser! – Gegenruf des Abg. Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Ja, nur, bei ihm stimmt es!)


Jemandem, der heutzutage 10 000 Euro anlegen will – das
ist ja wohl ein Kleinanleger –, werden an Gebühren und
Ausgabeaufschlag erst einmal mindestens 200 Euro, also
2 Prozent, abgenommen; das sind Durchschnittswerte.
Ob darauf jemals eine Finanztransaktionsteuer erhoben
wird, hängt vom jeweiligen Geschäftsmodell ab. Wenn
dies der Fall wäre, wären das bei 10 000 Euro maximal
0,1 Prozent, also 10 Euro. Ich meine, allein daran sieht
man schon die Dimension Ihrer Angstmache.

Die Formulierung des Kollegen Wissing war: vor al-
lem Kleinsparer und mittelständische Betriebe. Ich sage:
Das ist eine bewusste Falschbehauptung; man könnte
das an dieser Stelle auch „Lüge“ nennen. Ich fordere Sie
auf, gerade die Bundesregierung, dem endlich einen Rie-
gel vorzuschieben und dafür zu sorgen, dass wir erfah-
ren, wofür Deutschland und diese Regierung stehen.
Verabredungen, die hier im Deutschen Bundestag getrof-
fen wurden, müssen Sie einhalten. Sie dürfen sie nicht
hintergehen, meine Damen und Herren.





Dr. Carsten Sieling


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Konkret zum vorliegenden Gesetzentwurf, der in eine
ganz ähnliche Richtung zielt.


(Björn Sänger [FDP]: Oh, jetzt geht es mal konkret um das Gesetz? Wie schön!)


Ich beziehe mich jetzt nur auf den Bereich der geschlos-
senen Fonds und auf den grauen Kapitalmarkt, der auch
reguliert werden soll. Der ursprüngliche Gesetzentwurf
ist an verschiedenen Stellen durchlöchert und weichge-
macht worden.


(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Wo?)


Da
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1722211700
Ich erwarte
– ich will nur diesen einen Punkt nennen –, dass wir, wie
ursprünglich vorgesehen, weiter daran festhalten, dass
solche Fonds extern und nicht von den jeweiligen Fir-
men selber bewertet werden. Das ist ein wesentlicher
Punkt, ein Vorschlag des Bundesrates, dem wir folgen
sollten.

Ich kann aufgrund der fortgeschrittenen Zeit nur die-
sen einen Punkt ansprechen.


(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Ja, weil Sie Ihre Zeit mit der Finanztransaktionsteuer verbraten haben! – Björn Sänger [FDP]: Tja, Sie hätten mal lieber zum Thema reden sollen!)


Ich spreche ihn deshalb an, weil vor einigen Tagen eine
Razzia bei der S&K-Gruppe durchgeführt wurde. Diese
Finanzholding hat falsche Bewertungen vorgenommen.
Millionen von Anlegern werden in Schwierigkeiten ge-
bracht, weil dort unredliche Geschäfte gemacht wurden.
In diesem Gesetzentwurf haben Sie gegen so etwas keine
Vorkehrungen getroffen. Ich könnte Ihnen noch eine
ganze Reihe von Punkten nennen, an denen ebenfalls
dringender Nachbesserungsbedarf besteht; ob nachge-
bessert wird, ist allerdings sehr fraglich. Ich bitte Sie und
fordere Sie auf, die Anhörung diesmal ernsthaft dazu zu
nutzen, Veränderungen herbeizuführen, –


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722211800

Herr Kollege.


Dr. Carsten Sieling (SPD):
Rede ID: ID1722211900

– damit ein besserer Gesetzentwurf herauskommt als

der, den Sie vorgelegt haben.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD – Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Es wäre schön gewesen, hätten Sie auch mal zum Thema gesprochen! – Dr. Frank Steffel [CDU/CSU]: Nichts zum Thema!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722212000

Der Kollege Björn Sänger hat das Wort für die FDP-

Fraktion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Björn Sänger (FDP):
Rede ID: ID1722212100

Es ist noch ganz schön neblig hier von der Kerze, die

der Kollege Sieling abgefackelt hat.


(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Wahrnehmungsstörungen! – Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Gestern Abend zu viel getrunken?)


Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Lieber Kollege Sieling, wenn Sie sich nicht
sachfremd geäußert, sondern zum Thema gesprochen
hätten,


(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Das werde ich gerne Ihnen überlassen!)


hätten Sie noch den einen oder anderen Gedanken, der in
dieser Debatte möglicherweise – die Wahrscheinlichkeit
ist allerdings nicht sehr hoch – nutzbringend gewesen
wäre, loswerden können. Dafür wären wir Ihnen sehr
dankbar gewesen.

Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird eine Regu-
lierungslücke geschlossen, nämlich bei alternativen In-
vestmentformen. Sie erhalten einen Ordnungsrahmen.
Das ist neu, das ist grundsätzlich gut, und das ist ein wei-
terer Schritt hin zu einem Anlegerschutz in dem Seg-
ment, das häufig mit dem Begriff „grauer Kapitalmarkt“
umschrieben wird.

Bei allem, was wir da machen, sollten wir uns vor
Augen führen, dass wir alternative Investmentformen
vor dem Hintergrund der weiteren Regulierung, insbe-
sondere in Anbetracht von Basel III, zukünftig mögli-
cherweise mehr als bisher brauchen werden, um unsere
Volkswirtschaft zu finanzieren. Insofern müssen durch
die Regulierung die Risiken eingedämmt werden,
gleichzeitig aber müssen solche Investments ermöglicht
werden.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: So ist das!)


Die Maßnahmen müssen verhältnismäßig sein; Staatsse-
kretär Koschyk hat schon darauf hingewiesen. Ich will
jetzt nicht vorgreifen, aber man kann schon einmal fest-
halten: Das ist mit diesem Gesetzentwurf ganz gut ge-
lungen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dabei muss klar sein: Das Anlagesegment der geschlos-
senen Fonds ist per se eigentlich kein Anlagesegment für
Kleinanleger. Innerhalb der Pyramide, als die man sich
den Vermögensaufbau denken kann, bewegen wir uns
hier im oberen Drittel, in der Spitze, in dem Bereich, wo
man sozusagen noch etwas beimischen kann, seine An-
lagebedürfnisse aber im Grunde genommen schon erle-
digt hat.





Björn Sänger


(A) (C)



(D)(B)


Aber auch für die Kleinsparer ist in diesem Gesetz et-
was enthalten: das sogenannte Pension Asset Pooling,
also die Bündelung von betrieblichem Altersvorsorge-
vermögen multinational aufgestellter Unternehmen an
einem Ort. Das war bisher in Deutschland nicht möglich;
da hatten wir einen Wettbewerbsnachteil gegenüber Bel-
gien, Großbritannien, Luxemburg, den Niederlanden
oder Irland. Ich bin ein Stück weit stolz, dass es gelun-
gen ist, die Lücke in diesem Bereich zu schließen, sodass
dieses Pension Asset Pooling nun auch in Deutschland
angeboten werden kann. Jetzt gibt es für die betriebliche
Altersvorsorge der deutschen Anleger eine deutsche Re-
gulierung. Die Bündelung hat den Vorteil geringerer
Verwaltungskosten und bietet die Chance auf eine hö-
here Rendite. Nicht zuletzt stärkt diese Regelung den Fi-
nanzstandort. Allein bei den DAX-30-Unternehmen geht
es um ein Volumen von 200 bis 300 Milliarden Euro. In-
sofern ist dieses Gesetz ein gutes Gesetz für die betrieb-
liche Altersvorsorge.

Des Weiteren wird mit diesem Gesetz der wichtige
Bereich des Venture Capitals geregelt. Da möchte ich
– der Kollege Burgbacher wird das bestimmt ausrich-
ten – dem Bundesminister Rösler ausdrücklich danken.
Der Minister ist ja in die USA gereist und hat sich ange-
schaut: Wie ist da die Unternehmenskultur, wie ist da die
Gründungskultur, wie ist da die Finanzierungskultur?
Wir müssen feststellen: Wir werden an diesen Finanzie-
rungsformen schlichtweg nicht vorbeikommen.

Auch hier gilt es, verhältnismäßig zu regulieren. Das
ist mit den De-minimis-Regelungen gelungen: Wenn
Fremdkapital eingesetzt wird, gelten die Regelungen bis
zu einer Grenze von 100 Millionen Euro. Wenn kein
Fremdkapital eingesetzt wird und die ersten fünf Jahre
ein Kündigungsriegel existiert, gelten die Regelungen
bis zu einer Grenze von 500 Millionen Euro. Die Mana-
ger können die entsprechenden Regeln freiwillig anwen-
den, müssen es aber nicht unbedingt. Ich denke, auch an
dieser Stelle haben wir einen guten Kompromiss zwi-
schen den Chancen auf der einen Seite und den systemi-
schen Risiken auf der anderen Seite gefunden.


(Beifall bei der FDP – Dr. Axel Troost [DIE LINKE], an die FDP gewandt: Das scheint ihr durchgesetzt zu haben, oder?)


Auch im Bereich der Mindestanlage waren Fragen zu
klären. Auch hier noch einmal die Erinnerung: Das ist
im Prinzip kein Produkt für den Kleinanleger; denn es
gilt eine Mindestanlagegröße von 20 000 Euro. Im Ge-
spräch waren ursprünglich 50 000 Euro. Ich begrüße,
dass die Bundesregierung bei der Mindestanlagegröße
auf 20 000 Euro heruntergegangen ist, weil man 50 000
dann schon auf zwei Fonds streuen kann.

Ich appelliere an die Initiatoren solcher Fonds – sie
sind in der Verantwortung –, sicherzustellen, dass im Ver-
trieb klargemacht wird, um was für ein Anlageprodukt es
sich bei diesen Fonds handelt. Das entsprechende Pro-
duktinformationsblatt – das wir ja auch einführen – kann
helfen, dem Anleger deutlich zu machen: Du eröffnest
kein Tagesgeldkonto, sondern es handelt sich bei diesen
Fonds ein Stück weit um eine unternehmerische Beteili-

gung, mit allen Chancen oder eben auch Risiken, die da-
mit gewissermaßen einhergehen.

Ein weiteres Problem ist die Fremdkapitalquote. Ich
denke, diesen Bereich müssen wir uns noch einmal an-
schauen. Auch hier gilt: Es gibt gesellschaftlich ge-
wünschte Projekte, die mit der Fremdkapitalquote, die
momentan vorgesehen ist, möglicherweise nicht auskom-
men. Ich denke beispielsweise an Windparks; da sind
Fremdkapitalquoten von über 60 Prozent gang und gäbe.
Wenn wir es ernst meinen mit der Energiewende – wir
werden das nicht alles vom Staat aus finanzieren können,
wir brauchen dazu privates Kapital –, dann dürfen wir
auch hier nicht so regulieren, dass diese Investitionen
nicht möglich sind; dazu wird der Kollege Breil gleich
noch etwas sagen.


(Beifall bei der FDP)


Zum Schluss möchte ich noch zwei, drei Sätze über
die offenen Immobilienfonds verlieren. Sie sind ein
wichtiges und wertvolles Anlageinstrument, um gerade
für den Kleinsparer eine Eintrittsmöglichkeit zu schaffen
in eine Assetklasse, die er sonst nicht hat. Hier gilt es
wirklich, genau darauf zu schauen, dass diese Asset-
klasse nicht verloren geht, sondern weiter für den Ver-
mögensaufbau erhalten bleibt. In diesem Sinne freue ich
mich auf die weitere parlamentarische Beratung.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722212200

Für die Fraktion Die Linke hat der Kollege Dr. Axel

Troost das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Axel Troost (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1722212300

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, Sie
legen wieder ein aus unserer Sicht dürftiges Gesetz vor
und wollen dies den Wählerinnen und Wählern – das
wird hier wieder deutlich – als Meilenstein der Finanz-
marktregulierung verkaufen.

Konkret debattieren wir hier über die sogenannten
Schattenbanken, im Volksmund auch „Heuschrecken“
genannt, das heißt, spekulative Fonds wie Hedgefonds
und Private-Equity-Fonds. In Ihrem Gesetz heißen sie
vornehm „alternative Investmentfonds“. Inzwischen ver-
walten diese Fonds wieder genauso viel Geld wie vor der
Krise, und ihr Zweck ist, möglichst viel Geld zu machen –
mit oft sehr aggressiven Mitteln. Deswegen heißen sie
häufig „Heuschrecken“. Der realwirtschaftliche Hinter-
grund interessiert überhaupt nicht; wichtig ist nur, mög-
lichst viel Rendite zu machen. Anders gesagt: Sie sind
reine Melkkühe ohne volkswirtschaftlichen Nutzen.

Vor der Krise wurden Hedgefonds damit gerechtfer-
tigt, dass sie Risiken auf sich nehmen, die andere nicht
auf sich nehmen würden. Das ist aber genau das Pro-
blem: Sie nehmen außergewöhnliche Risiken auf sich,
was aber die Finanzstabilität bedroht. Man sollte das





Dr. Axel Troost


(A) (C)



(D)(B)


nicht herunterspielen. Der legendäre Hedgefonds LTCM
hat 1998 mit seiner Pleite das Finanzsystem schwer er-
schüttert.


(Zuruf von der CDU/CSU: Wo war das?)


Die Pleite der Investmentbank Bear Stearns durch zwei
hausinterne Hedgefonds war der Auftakt für die Finanz-
marktkrise. Hedgefonds haben das rapide Wachstum der
Märkte der toxischen Wertpapiere befeuert. 2008 platzte
die Immobilienpreisblase ebenfalls, die dadurch ange-
heizt worden war. Deshalb ist es dringend erforderlich,
diese Fonds schärfer zu regulieren.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Latte dafür haben Ihre Vorvorgänger allerdings sehr,
sehr niedrig gelegt. Ich will aus dem rot-grünen Gesetz
zur Modernisierung des Investmentwesens von 2003 zi-
tieren:

Anbieter von Hedgefonds sollen nach dem Gesetz-
entwurf in Deutschland auf moderne und liberale
rechtliche Rahmenbedingungen treffen.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Ja!)


Etwas weiter:

Die Hedgefonds-Branche scheint sich zu einer
Branche entwickelt zu haben, die sich der mit
Hedgefonds verbundenen Risiken bewusst ist und
mit ihnen verantwortungsvoll umgeht. Es darf da-
her erwartet werden, dass die vom Gesetzgeber vor-
gesehenen Freiräume nicht missbraucht werden.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Das hat supergut geklappt!)


Das hört sich heute an wie ein Witz, wie Satire. Es
war damals naiv, und es ist jetzt naiv.


(Beifall bei der LINKEN – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Nein, es war damals richtig!)


Insofern muss hier Grundlegendes geändert werden.
Aber viele Passagen im vorgelegten Gesetzentwurf klin-
gen ähnlich. Sie sind zu schwach, deshalb reichen sie aus
unserer Sicht nicht einmal in Ansätzen aus.

Im Detail möchte ich drei Schwächen der neuen Re-
gelung ansprechen:

Erstens. Mit dem Gesetz unterliegen Fondsmanager
künftig einer Zulassungspflicht in der EU. Fonds mit
weniger als 100 Millionen Euro an verwaltetem Vermö-
gen brauchen keine Erlaubnis. Wir haben eben den fre-
netischen Applaus der FDP gehört. Damit fallen aber
70 Prozent sämtlicher Fonds eben nicht unter die Zulas-
sungspflicht.

Zweitens. Bei der Zulassung müssen die Fondsmana-
ger ein Mindesteigenkapital nachweisen. Wenn man an
Fonds auch nur in Ansätzen ähnliche oder gleiche Vor-
schriften wie für Banken anlegen würde, wäre weit mehr
Eigenkapital erforderlich.

Drittens. Die nationalen Behörden können bei Ver-
dacht auf Systemrisiken die Geschäfte auf Pump, den so-

genannten Leverage-Effekt, einschränken. Das setzt aber
eine gut ausgestattete und aktive Aufsicht voraus. Solche
Erwartungen sind in der Vergangenheit häufig enttäuscht
worden. Insofern halten wir es für absolut erforderlich,
die Hebelwirkung generell zu begrenzen, das heißt, die
Verschuldung einzudämmen und in bestimmte Relatio-
nen zum Eigenkapital zu setzen.


(Beifall bei der LINKEN)


Außerdem gibt es eine sehr großzügige Übergangsrege-
lung bis 2018, die im Prinzip eine Zulassung nach natio-
nalem Recht möglich macht. Das bedeutet, dass sich
Fondsmanager bei den großzügigen Behörden in Groß-
britannien oder Irland registrieren lassen und auch hier
entsprechend wirken können.

Es wäre aber nicht fair, jetzt nur davon auszugehen,
dass die Vorlagen schlecht waren, sondern Sie hätten
auch aus unserer Sicht deutlich mehr betreiben können.
Immer mehr bankähnliche Geschäfte werden von Fonds
betrieben, die sich der Regulierung der Banken entzie-
hen. Wir hören seit Monaten, dass diese Schattenbanken
ein riesiges Problem darstellen. Passiert ist aber nicht
wirklich etwas.

Ihre eigene Expertenkommission „Neue Finanzarchi-
tektur“ hat Ende 2011 ein Papier mit konkreten Maßnah-
men zur Regulierung von Schattenbanken vorgelegt. Das
verstaubt seither in der Schublade. Ein Gesetz von Ih-
nen, das sich daran orientieren könnte und mit dem auch
im Zusammenhang mit dem G-20-Prozess versucht wer-
den könnte, weitere Regulierungen anzugehen, ist von
daher in dieser Legislaturperiode wohl nicht mehr zu er-
warten.

Das Problem von Schattenbanken ist, dass sie sich
weitgehend in regulierungsfreien Zentren – wie den
Kayman-Inseln oder auch Delaware in den USA – orga-
nisieren. Wir fordern – wie bei Steueroasen – eine Initia-
tive gegen diese Schattenbankfinanzierungsplätze.


(Beifall bei der LINKEN)


Insofern können Sie mit der Regulierung anfangen und
diese Zentren austrocknen, etwa durch Abschlagsteuern
auf Gewinnübertragungen oder den Entzug von Lizen-
zen für alle Banken, die dort Niederlassungen betreiben.

Ich habe in der letzten Woche in unserer parteinahen
Stiftung eine Broschüre mit dem Titel „Deals im Dun-
keln – Ziele und Wege der Regulierung von Schatten-
banken“ herausgegeben. Ich stelle Ihnen die gerne zur
Verfügung. Wir versuchen, darin unsere konkreten Vor-
schläge auch nachlesbar zu entwickeln.

Meine Damen und Herren, wir haben insofern dem
zugrundegelegten Gesetzentwurf bereits im Europäi-
schen Parlament nicht zugestimmt, weil wir der Ansicht
waren, dass das Ganze zu lax ist und nicht ausreicht.
Wenn sich nicht Erhebliches ändert, werden wir auch in
der zweiten und dritten Lesung diesem Gesetzentwurf
nicht zustimmen.

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN)







(A) (C)



(D)(B)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722212400

Der Kollege Dr. Gerhard Schick hat jetzt das Wort für

Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol-
legen! Das, was wir jetzt gerade als Gesetz diskutieren,
hat einen Bezug zu dem, was dieser Tage medial öffent-
lich wurde, als nämlich Polizei und Staatsanwaltschaft
mit einer bundesweiten Razzia gegen ein Unternehmen
– ich rede von der Firmengruppe S&K – vorgingen, das
viele Millionen in vermeintlich sichere Immobilien in-
vestiert haben soll, wo aber der Verdacht besteht, dass da
ein Schneeballsystem aufgebaut und für die Anleger ein
Schaden in dreistelliger Millionenhöhe verursacht wor-
den ist. Das betrifft mehrere Tausend Personen, die dort
investiert haben.

Gegenstand der Ermittlungen sind mehrere Anlage-
fonds mit einem Volumen im neunstelligen Euro-
Bereich. Die Staatsanwaltschaft Frankfurt/Main sagt,
dort seien wohl betrügerisch erlangte bzw. veruntreute
Anlagegelder für den extrem aufwendigen und exzessi-
ven Lebensstil der Beschuldigten, die Anschubfinanzie-
rung, den Aufbau und die hohen laufenden Kosten von
eigenen und verbundenen Unternehmen sowie zweck-
widrige Objektfinanzierungen verwendet worden. Da-
bei geht es um die Dinge, die wir in diesem Bereich des
Kapitalmarkts immer wieder feststellen: Das, was die
Anleger meinen zu tun – nämlich in vermeintlich sichere
Anlagen zu investieren –, findet nicht statt, sondern die
Gelder landen ganz woanders.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das ist aber Betrug!)


– Das ist Betrug. – Wir werden die Auswüchse nie völlig
verhindern können. Die Frage ist nur, ob wir es durch die
Regulierung schaffen, dass das früher erkannt wird und
von Beratern auf Probleme hingewiesen wird, die schon
bekannt sind, oder ob es besonders einfach ist, so etwas
auf den Weg zu bringen. Es besteht das Interesse, unse-
ren Finanzmarkt da möglichst sicher zu gestalten.

Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird die AIFM-
Richtlinie umgesetzt. Dabei geht es aber nicht nur um
den Bereich der alternativen Investmentfonds, sondern
der Gesetzentwurf stellt auch Bezüge zur OGAW-Richt-
linie her, die bisher in Deutschland im Investmentgesetz
abgebildet worden ist. Damit kommen wir zur Schaffung
eines Kapitalanlagegesetzbuches. Wir finden es vom
Grundsatz her erst einmal sinnvoll, diese Regelungen in
einem einzelnen Buch zusammenzufassen, auch wenn
das bedeutet hat, dass es um sehr viele unterschiedliche
Regelungen ging und sich unsere Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter und wir selbst deshalb durch ziemlich viel
Papier durcharbeiten mussten.

Im Zuge der OGAW-Richtlinie für den Investment-
fondsbereich gibt es bereits seit Jahren Regelungen sowohl
für die Verwalter von Fonds als auch für Fondsprodukte
selbst. Für Manager und Verwalter von alternativen In-
vestmentfonds werden jetzt neue Regelungen aufge-

stellt. Das ist im Grunde richtig, insbesondere geht es
um Publikumsinvestmentvermögen. Im Bereich ge-
schlossene Publikumsinvestmentfonds qualifizieren bei-
spielsweise die geschlossenen Schiffs-, Medien- oder
Immobilienfonds, also zum Beispiel das, worüber ich
vorher im Zusammenhang mit der Firma S&K ge-
sprochen habe. Diese Fonds haben sich in den letzten
Jahrzehnten nämlich zum gängigen Anlageprodukt ent-
wickelt, häufig mit Steuervorteilen angepriesen. Wir
haben bei diesen Fonds häufig aggressive Verkaufsme-
thoden zu beklagen; auch haben sie sich für Millionen
von Anlegerinnen und Anlegern als finanzielles Desaster
herausgestellt.

Bei geschlossenen Immobilienfonds waren die Immo-
bilien oft in baufälligem Zustand und die prognostizier-
ten Erträge weit weg von realistischen Berechnungen. In
geschlossene Schiffsfonds – ein Thema, über das wir,
glaube ich, bisher zu wenig geredet haben, wenn man
sich deren Bedeutung für die internationalen Schiffs-
märkte anschaut – sind in den letzten Jahren über
20 Milliarden Euro investiert worden. Diese Fonds sind
jetzt von der Finanzkrise besonders stark betroffen. Es
geht also in diesem Segment um die Vernichtung von
Anlegergeldern in immenser Höhe.

Wir als grüne Fraktion haben diese Anlegerschutzde-
fizite im Bereich der geschlossenen Fonds bereits 2007
angesprochen, als es um die Umsetzung der Finanz-
marktrichtlinie MiFID ging. Wir haben aber in der da-
maligen Legislaturperiode nur anregen können, dieses
Thema anzugehen. Es ist deswegen richtig, dass, nach-
dem in diesem Bereich schon einzelne Anpassungen er-
folgt sind, jetzt mit dem Kapitalanlagegesetzbuch für ge-
schlossene Fonds selbst Regelungen getroffen werden,
zum Beispiel die Einführung einer Erlaubnispflicht.


(Beifall der Abg. Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Es gibt allerdings eine Reihe von Aspekten, die durchaus
diskussionsbedürftig sind. Diese werden wir in den Be-
ratungen stärker thematisieren.

Zum einen sieht der Gesetzentwurf im Gegensatz
zum Diskussionsentwurf für die Verwalter von kleinen
geschlossenen Publikums-AIF eine weitreichende Aus-
nahme vor. Nach dieser Sonderregelung sollen jene Ver-
walter, deren verwaltetes Vermögen den Wert von insge-
samt 100 Millionen Euro nicht überschreitet und die
ausschließlich inländische geschlossene alternative In-
vestmentfonds verwalten, lediglich eingeschränkten Re-
gelungen unterliegen. Da gibt es Klärungsbedarf. Das
war in der Richtlinie ursprünglich so nicht vorgesehen.
Wir müssen befürchten, dass gerade die Fälle, die wir
jetzt beklagen, durch die Ausnahmeregelung, die jetzt
geschaffen wird, auch in Zukunft weiterhin eintreten
werden. Wir werden uns bei den Ausschussberatungen
noch einmal genau anschauen müssen, ob diese Ausnah-
meregelung nicht in die falsche Richtung geht und da-
durch nicht genau die Modelle in der Praxis weiterhin
möglich sind, deren Existenz wir beklagen.

Zum anderen – auch das muss man sich anschauen –
gibt es neben dem Vertrieb von Finanzprodukten auch





Dr. Gerhard Schick


(A) (C)



(D)(B)


unternehmerisches Engagement. Wir sehen das im Be-
reich der Energiewende, wo über genossenschaftliche
Modelle oder regionale Bürgerwindkraftfonds Investi-
tionen getätigt werden, welche wir im Zusammenhang
mit der Energiewende auch wollen. Dabei müssen wir
jetzt schauen, wie wir die Schnittstelle zwischen Finanz-
anlageprodukten mit einem sauberen Vertrieb und einer
guten Fondsregelung einerseits und unternehmerischen
Investitionen, die wir für sinnvoll halten, andererseits
ausgestalten und beide Seiten vernünftig austarieren. Da
gibt es unterschiedliche Einschätzungen: Was heißt der
Gesetzentwurf für Genossenschaften? Was heißt das bei-
spielsweise für einzelne Windkraftfonds vor Ort? Wir
werden uns das bei den Ausschussberatungen genau an-
schauen. Ich glaube, das ist sinnvoll. Hier gibt es ja ein
gemeinsames Interesse. Ich nehme zumindest an, dass
das bei Ihnen in der Fraktion ähnlich diskutiert wird.

Ich will noch ein anderes Thema ansprechen, das uns
intensiv beschäftigt und große Marktbedeutung hat: das
Thema offene Immobilienfonds. Es ist schon erstaun-
lich, dass hier in derselben Legislaturperiode noch ein-
mal eine Korrektur vorgenommen werden soll. Hinzu
kommt noch ein gewisses Hin und Her: Der erste Vor-
schlag aus dem Ministerium ist jetzt noch einmal korri-
giert worden, sodass wir innerhalb kürzester Zeit sozusa-
gen mehrere Regulierungsvorschläge aus der Koalition
zu demselben Themenbereich bekommen haben.

Ich glaube, dass es sinnvoll ist, die bestehende Regu-
lierung erst einmal beizubehalten. Es gibt aber einzelne
Punkte, die man korrigieren muss. Wir werden uns ge-
nau anschauen müssen, was man bei den offenen Immo-
bilienfonds macht. Wir hatten ja schon an mehreren Stel-
len Gelegenheit, darüber zu diskutieren. Wir fragen uns,
ob das damals falsch gemacht worden ist und ob die Re-
gelungen, die jetzt vorgesehen sind, in die richtige Rich-
tung gehen.

Ich will außerdem den Punkt „Verwahrstellen für ge-
schlossene Fonds“ ansprechen. Der Gesetzentwurf sieht
vor, dass die Verwahrstelle bestimmter geschlossener al-
ternativer Investmentfonds auch ein Treuhänder sein
kann. Wir haben Zweifel, ob eine sinnvolle Form von
Anlegerschutz gewährleistet ist, wenn wir das auf diese
Art und Weise machen.

Des Weiteren will ich die Anlagebedingungen bei of-
fenen Publikumsfonds – das wird auch in unseren Aus-
schussberatungen eine Rolle spielen – thematisieren. Ist
dabei die Kostentransparenz gewährleistet oder nicht?
Die Bundesregierung hat in der Erwiderung auf die Stel-
lungnahme des Bundesrates versprochen, etwas zu tun.
Das habe ich zur Kenntnis genommen; das werden wir
aufmerksam weiterverfolgen.

Ich will zum Schluss noch ein Thema ansprechen.
Das mag Sie ein bisschen nerven, aber ich spreche es
trotzdem an, auch wenn es keinen unmittelbaren Bezug
zu dieser EU-Richtlinie hat. Wir müssen aber gegen
Ende dieser Legislaturperiode schon konstatieren, dass
wir in Deutschland im Bereich Zertifikate, also Retail-
Derivaten, die an Kleinanleger vertrieben werden, mehr
als vier Jahre nach dem Kollaps von Lehman Brothers,
im Zuge dessen die Probleme mit diesen Produkten je-

dem offenkundig wurden, immer noch keine wirkliche
Regelung haben. Auch das werden wir in den Aus-
schussberatungen thematisieren. Denn es kann nicht
sein, dass an dieser Stelle keine Lehre aus der Finanz-
krise gezogen wird.

Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722212500

Der Kollege Ralph Brinkhaus hat das Wort für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Ralph Brinkhaus (CDU):
Rede ID: ID1722212600

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe

heute ein etwas umfangreicheres Manuskript mitge-
bracht: 600 Seiten mit mehreren 100 Paragrafen –


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722212700

So lang ist die Redezeit nicht.


Ralph Brinkhaus (CDU):
Rede ID: ID1722212800

– umfasst nämlich der Gesetzentwurf, den wir heute

behandeln. Ich möchte Ihnen


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Vorlesen!)


kurz vorlesen, um was es darin alles geht.

Es geht um ein komplett neues Kapitalanlagegesetz-
buch. Es geht um die Aufhebung des Investmentgesetzes,
Änderungen des Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes,
des Bürgerlichen Gesetzbuchs, des Unterlassungsklagenge-
setzes, des Handelsgesetzbuchs, des Einführungsgesetzes
zum Handelsgesetzbuch, des Wertpapierhandelsgesetzes,
des Wertpapierprospektgesetzes, des Börsengesetzes,
des Vermögensanlagengesetzes, des Aktiengesetzes, des
Gesetzes über Unternehmensbeteiligungsgesellschaften,
des Depotgesetzes, des Strafgesetzbuchs, des Gesetzes
gegen Wettbewerbsbeschränkungen, der Gewerbeord-
nung, des Kreditwesengesetzes, des Einlagensicherungs-
und Anlegerentschädigungsgesetzes,


(Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben wir doch schon gelesen! Das ist doch nicht neu, Herr Brinkhaus!)


des Finanzdienstleistungsaufsichtsgesetzes, des Finanz-
stabilitätsgesetzes, des Zahlungsdiensteaufsichtsgeset-
zes, des Gesetzes über die Deutsche Bundesbank, des
Pfandbriefgesetzes, des Versicherungsaufsichtsgesetzes
und des Bausparkassengesetzes sowie Folgeänderungen
in ungefähr zehn Rechtsverordnungen.

Dabei handelt es sich, meine Damen und Herren, nur
um einen einzigen Gesetzentwurf. Wir haben in dieser
Legislaturperiode noch weitere Gesetze auf den Weg ge-
bracht. Wir haben reguliert die Vergütungsstrukturen.
Wir haben reguliert die Leerverkäufe. Wir haben regu-
liert die Ratingagenturen. Wir haben reguliert die Groß-
kredite. Wir haben reguliert die Verbriefungen. Wir ha-
ben reguliert Produkte des grauen Kapitalmarktes. Wir





Ralph Brinkhaus


(A) (C)



(D)(B)


haben reguliert den Anlegerschutz. Wir haben reguliert
und neugeordnet die europäische und deutsche Auf-
sichtsstruktur. Wir haben reguliert die Restrukturierung
der Banken und dabei eine Bankenabgabe eingeführt.
Wir sind dabei, die Eigenkapital- und Liquiditätsvor-
schriften von Banken und Versicherungen zu regulieren.
Wir regeln den Hochfrequenzhandel. Wir regeln die Ho-
norarberatung. Wir werden die Risiken in den Banken in
einer Art Trennbankensystem regulieren, und wir wer-
den die KfW unter eine andere Aufsicht stellen.

Meine Damen und Herren, ich erzähle Ihnen das alles
nicht, weil ich besonders stolz darauf bin, dass ich viele
Gesetze gemacht habe. Das ist nicht christdemokrati-
scher Anspruch. Aber ich erzähle es Ihnen deswegen,
weil in diesem Haus zwei grundlegende Irrtümer beste-
hen. Das haben wir heute Morgen bei der Rede des am-
tierenden, muss man ja sagen, Kanzlerkandidaten der
SPD gehört, und das haben wir auch gerade bei der Rede
des Kollegen Sieling gehört.

Erster Irrtum: Es ist nichts oder zu wenig im Bereich
der Regulierung der Finanzmärkte gemacht worden.
Meine Damen und Herren, keine Bundesregierung hat
bei den Finanzmärkten so viel reguliert wie die christlich-
liberale Koalition. Niemals ist so viel geregelt worden
wie in den letzten dreieinhalb Jahren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Carsten Sieling [SPD]: Dickes Buch ist noch keine Leistung!)


Ich glaube, das ist unbestritten. Das hat der eine oder an-
dere vielleicht nicht mitgekriegt.

Die Antwort auf die Frage, warum er es nicht mitge-
kriegt hat, leitet über zum zweiten grundlegenden Irr-
tum. Der zweite grundlegende Irrtum ist, anzunehmen,
dass Finanzmarktregulierung aus zwei oder vielleicht
aus drei großen grünen Knöpfen besteht, durch die im
Prinzip alles erledigt werden kann.

Der erste grüne Knopf – der ist heute Morgen in der
Rede des Kanzlerkandidaten vorgekommen, der ist ge-
rade in wahrscheinlich über 60 Prozent der Redezeit von
Herrn Sieling vorgekommen – ist die Finanztransaktion-
steuer. Meine Damen und Herren, wir werden die Fi-
nanztransaktionsteuer bekommen, weil sich dafür eine
christlich-liberale Koalition auf europäischer Ebene ein-
gesetzt hat.


(Zuruf des Abg. Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Wir werden eine Finanztransaktionsteuer bekommen,
weil sich dafür ein christdemokratischer Finanzminister
auf europäischer Ebene eingesetzt hat. Aber: Diese Fi-
nanztransaktionsteuer wird hilfreich sein, jedoch bei
weitem nicht das erledigen, Herr Sieling, was Sie sich
davon versprechen, dass nämlich die Finanzmärkte sta-
bilisiert werden und gleichzeitig so viele Einnahmen ge-
neriert werden, dass wechselweise oder wahlweise die
Armut in dieser Welt, der Hunger, der Klimawandel, die
Jugendarbeitslosigkeit, die Staatsverschuldung und ganz
viele andere Sachen geregelt werden können.

Da dem einen oder anderen das vielleicht aufgegan-
gen ist, dass die Finanztransaktionsteuer nicht dieser
große grüne Knopf ist, hat man sich einen zweiten gro-
ßen grünen Knopf gesucht. Das ist das Trennbankensys-
tem. Auch das Trennbankensystem werden wir in der
von uns als gut erachteten Form hier in Deutschland be-
kommen. Aber auch das Trennbankensystem wird die
Finanzmärkte nicht final sichern, meine Damen und
Herren. Dazu bedarf es mehr.

Der Kollege Troost hatte gerade noch einen dritten
Punkt erwähnt – das ist dann praktisch großer grüner
Knopf 3.0 –, nämlich Maßnahmen gegen die Schatten-
banken.


(Dr. Carsten Sieling [SPD]: So ist es!)


Meine Damen und Herren, Finanzmarktregulierungen
sind nicht große grüne Knöpfe, sondern Finanzmarktre-
gulierung ist wenig spektakulär. Das ist Kärrnerarbeit,
das ist hart, das ist das Bohren von ganz dicken Brettern.


(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Bei Ihnen ganz kleines Karo!)


Das haben wir getan. Während Sie die letzten dreiein-
halb Jahre damit verbracht haben, über Finanztransak-
tionsteuer und über Trennbanken zu räsonieren, haben
wir gearbeitet, haben an mehr als 25 Projekten mitge-
wirkt, haben viele Dinge auf deutscher Ebene auf den
Weg gebracht, sind auf europäischer Ebene vorangegan-
gen. Ich erinnere hier nur an die Leerverkäufe, an das
Restrukturierungsgesetz und einige andere Projekte.
Und darauf können wir stolz sein.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das Ganze ist auch extrem wichtig, wie auch dieses
G
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1722212900
Es geht im Gesetzentwurf nicht
nur um die Umsetzung von europäischen Regulierungen
im Hinblick auf alternative Investmentfonds, sondern es
geht insbesondere darum, dass wir – der Kollege Schick
von den Grünen hat es angesprochen: Wir leisten hier et-
was Epochales – die Gesetzgebung für den gesamten In-
vestmentbereich in einem Kapitalanlagegesetzbuch zu-
sammenfassen. Damit werden wir Rechtsgeschichte
schreiben.

Darüber hinaus werden wir circa 40 Gesetze und Ver-
ordnungen ändern, und wir werden noch ein steuerliches
Begleitgesetz zu diesem Gesetz mit auf den Weg brin-
gen. Am Ende des Tages, wenn wir im Mai dieses Ge-
setz in der zweiten und dritten Lesung verabschiedet ha-
ben werden, werden wir wieder einen Schritt hin zu
besseren und stabileren Finanzmärkten gemacht haben.
Wir werden einen höheren Verbraucherschutz haben,
und wir werden dabei sicherstellen, dass die Finanzie-
rung der Realwirtschaft durch die Finanzmärkte auch
weiterhin störungsfrei erfolgen wird.

Wenn man sich jetzt einmal die Bedeutung dieses Be-
reiches anguckt, dann erkennt man, dass es sich um mehr
handelt, lieber Axel Troost, als Hedgefonds. Die Bedeu-
tung dieses Bereiches ist nicht zu unterschätzen. Das ha-
ben wir alle schon gemerkt angesichts der Menschen, die
uns schon im Diskussionsprozess aufgesucht und gefragt





Ralph Brinkhaus


(A) (C)



(D)(B)


haben: Mensch, was passiert da eigentlich? Die Bedeu-
tung dieses Bereiches liegt irgendwo – das können Sie
sich jetzt auf der Zunge zergehen lassen – im Billionen-
bereich. Es geht um Anlagevermögen in Höhe von meh-
reren Billionen Euro, die wir in Deutschland in diesem
Bereich haben. Das ist einfach auch Geld, das in der Real-
wirtschaft gebraucht wird.

Investmentvehikel finanzieren die Realwirtschaft und
nicht nur Schiffe für die deutsche Hochseeflotte, sondern
auch Venture Capital, Start-ups, kleinere Unternehmen,
mittlere Unternehmen und deutsche Aktiengesellschaf-
ten. Investmentvehikel finanzieren die deutsche Immo-
bilienwirtschaft, und zwar nicht nur Hotels am Pariser
Platz, Einkaufszentren in Hamburg oder Bürotürme in
Frankfurt, sondern auch die von Ihnen so dringend ge-
forderten Wohnimmobilien in den Ballungsräumen. In-
vestmentvehikel finanzieren die Energieversorgung in
Deutschland, und zwar nicht Kernkraftwerke oder Koh-
lekraftwerke, sondern insbesondere erneuerbare Ener-
gien zum Beispiel in Form von Bürgerwindparks, Ge-
nossenschaften und Ähnlichem. In Investmentvehikeln
liegt halt nicht, lieber Axel Troost, das Geld von Spe-
kulanten oder von mir aus auch von Zahnärzten oder
Steuerberatern, wie ich einer bin, sondern darin liegt das
Geld von Millionen von Kleinanlegern,


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Deshalb ist Vorsicht angesagt!)


weil nämlich auch Versicherungen, Banken und ähnliche
Institutionen in diese Vehikel investiert haben. Deswe-
gen ist es der Mühe wert, dass wir uns mit diesem Kom-
plex beschäftigen


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Genau!)


und dass wir es richtig und gut machen. Wir tragen bei
den Beratungen dieses Gesetzes eine sehr hohe Verant-
wortung.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, bei allen Parteien sind ja
schon Menschen durch die Tür gekommen, die gemein-
hin als Lobbyisten bezeichnet werden. Ich will das jetzt
auch gar nicht negativ sehen. Diese Lobbyisten und Ver-
bände haben legitime Interessen. Sie kämpfen für ihre
Interessen. Natürlich ist nicht jeder, der durch die Tür
geht, ehrlich. Der eine oder andere argumentiert auch
pro domo, das heißt für sein Produkt, für seinen Markt
und vielleicht für Intransparenz, die ihm zugutekommt.
Wenn man sich aber genau anschaut, wer da durch die
Tür kommt, dann stellt man fest: Es sind nicht nur Ver-
treter großer Investmentvermögen, sondern auch Vertre-
ter von Fonds, in denen mehrere Hunderttausend Euro
angelegt sind. Es sind nicht nur Hedgefondsmanager. Ich
habe gestern ein Gespräch mit einem Landwirt geführt,
der einen Bürgerwindpark begleitet und verwaltet und
sich nun Sorgen um dieses Gesetz macht. Es sind nicht
nur Immobiliensachverständige, sondern auch Verbrau-
cherschützer. Es sind nicht nur Private-Equity-Gesell-
schaften, sondern auch Volksbanken. Ich halte das für
gut und richtig.

Unsere Aufgabe wird es sein, zu unterscheiden, was
gut und was richtig ist: Ist das richtig, was das Bundes-
finanzministerium aufgeschrieben hat? Ist das richtig,
was die Verbraucherschützer sagen? Ist das richtig, was
die Verbände und Unternehmen sagen? Diese Aufgabe
werden wir verantwortungsvoll wahrnehmen.

Weil hier hin und wieder gesagt wird, dass der Bun-
destag nicht transparent arbeitet: Wir werden am
13. März eine Anhörung zu diesem Thema durchführen;
sie ist öffentlich. – Ich sehe gerade die Vorsitzende des
Finanzausschusses. Diese Anhörung wird im Parla-
mentsfernsehen übertragen oder zumindest protokolliert.
Die Stellungnahmen, die die Lobbyverbände, die zu die-
ser Anhörung eingeladen sind, abgeben werden, werden
im Internet veröffentlicht und sind dann für jeden ein-
sehbar. Jeder Abgeordnete, der sich mit diesem Ge-
setzentwurf befasst, ist offen für alle Anregungen, die
gegeben werden. Wir werden außerdem Berichterstatter-
gespräche zu diesem Thema führen.

Wir werden in den nächsten drei Monaten – ich
glaube, das ist ausreichend Zeit, lieber Kollege Sieling –
im Finanzausschuss über diesen Gesetzentwurf beraten
und ihn im Mai verabschieden. Wenn wir das gut ge-
macht haben, wenn wir konstruktiv und ohne Schaum
vor dem Mund daran arbeiten, dann werden wir es hin-
bekommen, dass die Investmentwelt besser sein wird als
zuvor. Dafür lohnt es sich, meine Damen und Herren, die
600 Seiten des Gesetzentwurfs durchzulesen.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722213000

Lothar Binding hat jetzt das Wort für die SPD-Frak-

tion.


(Beifall bei der SPD)



Lothar Binding (SPD):
Rede ID: ID1722213100

Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren!

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, in unserem
Fachausschuss sind wir uns alle einig – so haben wir es
bisher auch gehandhabt –, dass ein Umfang von 600 Sei-
ten einer kritischen Würdigung bedarf. Denn es ist klar:
Wer 600 Seiten verfasst, kann gar nicht alles so richtig
machen, dass es mehrheitsfähig wird. Damit gehen wir
seriös um. Aber, Herr Brinkhaus, man darf jetzt nicht
Qualität durch Quantität ersetzen. Es kann sein, dass vie-
les von dem, was geschrieben wurde, falsch ist. Auch
diese Möglichkeit muss man in Betracht ziehen.

Sie haben gesagt, dass es nicht nur um Hedgefonds
geht. Das stimmt. Aber gerade weil es auch um Klein-
investoren und vielleicht indirekt sogar um Spargelder
geht, muss man besonders vorsichtig sein und genau da-
rauf achten, was damit auf welchem Markt und in wel-
chen Dimensionen unter Inkaufnahme welcher Risiken
passiert. Das ist doch unsere Aufgabe. Wenn man dann
in Betracht zieht, dass in der realen Welt im Jahr nur Gü-
ter im Wert von 70 Billionen Dollar produziert werden,
es hier aber um Märkte geht, auf denen Geld- und Wert-
papiertransfers im vierstelligen Billionenbereich vorge-





Lothar Binding (Heidelberg)



(A) (C)



(D)(B)


nommen werden, kann man nur zu dem Schluss kom-
men: So einfach ist es nicht, wenn die Risiken, die auf
solchen Märkten eingegangen werden, plötzlich von
Menschen in der realen Welt übernommen werden sol-
len. Sie haben gesagt, Investmentvehikel würden ge-
braucht. Ja, sie werden gebraucht. Die Frage lautet aber,
in welchem Maß. Wie weit wollen wir den Spekulations-
markt eindampfen, um ihn näher an den realen Markt zu
bringen?

Herr Troost, eine kritische Bemerkung hat mich ein
bisschen geärgert. Sie haben gesagt, dass das, was Rot-
Grün ab 2003 gemacht hat, nichts getaugt habe.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Ich habe es zitiert!)


Meine Antwort lautet: Was wir gemacht haben, war sehr
klug. Wir hatten damals relativ wenig Erfahrung mit
Hedgefondsstrategien; darüber war nicht viel bekannt.
Aber es gab auch Anlass zur Sorge; denn es ging zu viel
Geld an Deutschland vorbei. Was haben wir gemacht?
Wir haben Hedgefonds zugelassen, aber gleichzeitig
stark reguliert.


(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Aber Lothar! – Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Welche Naivität!)


– Wie ich sehe, entrüsten sich die Linken gerade ein
bisschen. Ich will das deshalb mit Zahlen belegen.
Deutschland ist eine relativ starke Wirtschaftsnation.
Man könnte also vermuten, dass Deutschland eine ge-
wisse Zahl der weltweit tätigen Hedgefonds beherbergt.
In Europa gibt es 1 180 Hedgefonds. Weltweit gibt es
über 8 000 Hedgefonds. Wie viele haben sich wohl in
der starken Wirtschaftsnation Deutschland angesiedelt?
Welche Anzahl erwarten Sie: 1 000 oder sogar 2 000?
Die Antwort lautet: 18. Ganze 18 Hedgefonds gibt es in
Deutschland. Das heißt, wir haben sehr gut reguliert und
die Menschen erst einmal davor geschützt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das können Sie ja noch einmal nachlesen!)


Das hat über Jahre gehalten. Das war also sehr gut.

Man kann das auch noch an einer anderen Tatsache
festmachen: Damals hieß es, Abermilliarden – es war die
Rede von über 80 Milliarden Euro – gingen an Deutsch-
land vorbei. Wie viele Euro sind heutzutage in deutsche
Hedgefonds investiert? Die Antwort lautet: 1,3 Milliar-
den Euro. Daran sieht man, dass die gegenwärtigen Ge-
fahren mit der alten Regulierung wunderbar beherrscht
werden.

Dennoch muss man viel tun, weil sich der Markt in-
zwischen erweitert hat. Es gibt ganz neue Strategien, das
Risikopotenzial hat sich deutlich vergrößert. Kollege
Koschyk hat eben gesagt, für Hedgefonds gälten beson-
dere Regulierungsvorschriften. – Das finden wir gut. Er
hat auch gesagt, der graue Kapitalmarkt solle eingeengt
werden, hat das aber gleich im nächsten Satz einge-
schränkt, indem er sagte, man werde dabei die „Verhält-
nismäßigkeit“ im Blick haben. Nun stimmt das ja im-

mer; aber ich glaube, da muss man schon genauer
hingucken: Zulassungsverfahren, EU-Pass, Risiko- und
Liquiditätssteuerung, Managerpflichten, externe Ver-
wahrstellen, Mindesteigenkapitalvorgaben – all das ist
gut. Hedgefonds werden dadurch stabiler. Die Koalition
klopft sich dafür auf die Schulter, unter diesem Blick-
winkel zu Recht.

Aber wer sind eigentlich die Anleger in Hedgefonds?
Es sind wirklich sehr vermögende Privatanleger, es sind
institutionelle Anleger, es sind Banken. Es sind also ei-
gentlich – früher dachte ich das immer – die Experten im
Markt. Deshalb ist der Ansatz unzureichend. Wir mei-
nen: Solange Hedgefonds alle Geschäfte machen dürfen,
die man sich nur ausdenken kann, also auch offene Spe-
zial-AIF bzw. alternative Investmentfonds, müssen wir
darauf achten, dass durch dieses Gesetz nicht nur die
professionellen Anleger geschützt werden. Wir müssen
gucken, ob wir nicht hinsichtlich der Gefahren, die von
diesem Instrument Hedgefonds ausgehen – es ist ja ein
Werkzeug –, mehr machen müssen. Die Frage lautet
also: Hat man im vorliegenden Gesetzentwurf auch
Marktrisiken, indirekte Risiken für Kleinanleger im
Blick?

Ich will es einmal an einem Beispiel deutlich machen.
Das, was wir hier machen, würde bedeuten, dass wir
zwar regeln, dass ein Auto zum TÜV muss, dass der
Tank voll sein muss und dass die Versicherungsprämie
bezahlt sein muss, aber zugleich überall auf Ampeln und
auf die Straßenverkehrs-Ordnung verzichtet würde, und
Polizei auch nicht vorgesehen ist. Was für Folgen das ha-
ben kann, haben wir eben schon gehört: Wenn so etwas
wie bei S&K möglich ist, dass 37 000 Anleger in betrü-
gerischer Absicht hintergangen werden, dann muss man
mehr machen, als in diesem Gesetzentwurf jetzt vorge-
sehen ist.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir müssen auch fragen: Brauchen wir Hedgefonds
überhaupt? Das ist natürlich die Kardinalfrage. Viel-
leicht brauchen wir sie ja ein bisschen; aber wir müssen
zumindest fragen: Brauchen wir sie, oder gehen davon
Gefahren aus, die wir mithilfe dieses Gesetzes nicht re-
gulieren können und wir also nicht dafür sorgen können
– wahrscheinlich wird das ganze Haus dies unterschrei-
ben –, dass im Markt der Grundsatz „Gleiches Geschäft,
gleiches Risiko, gleiche Regeln“ gilt? Wenn wir entspre-
chende Regelungen vorsehen könnten, wäre sicherlich
viel erreicht. Aber das ist zugleich meine Kritik am Ge-
setz: Es gibt eben keine Lösungsvorschläge für Risiken
im System. Es wird nur auf Teilmärkte reagiert.

Wir wissen ja inzwischen, dass die globalen Krisen
von den Knotenpunkten in diesem Markt ausgehen, so-
zusagen von einer implizierten Instabilität nicht nur der
Produkte, sondern auch der Beziehungen der Institutio-
nen zueinander. Diese Knotenpunkte – nennen wir sie
Eigenhandelstransaktionen zwischen regulierten Banken
und unregulierten Hedgefonds – müssen wir anschauen:
Wertpapierleihgeschäfte, Rückkaufsvereinbarungen, also
Repo-Geschäfte, extreme Fristentransformationen. All
das müssen wir in den Blick nehmen, weil es dann, wenn





Lothar Binding (Heidelberg)



(A) (C)



(D)(B)


diese miteinander kommunizieren und sich auch austau-
schen, eine Risikokonzentration im Markt gibt, die für
uns wieder unbeherrschbar ist. Mit den vorhin genannten
Grenzen von 100 Millionen Euro ist das evident.

Die Präsidentin mahnt mich, zum Schluss zu kom-
men. Daher sage ich abschließend: Im Moment hat die
Bundesregierung meines Erachtens noch keine Idee, wie
wir diese Strukturen auflösen und Risiko und Haftung an
der richtigen Stelle entzerren können, und zwar so, dass
zum guten Schluss nicht der Steuerzahler das Nachsehen
hat. Dieser Aufgabe sollten wir uns beim Lesen des di-
cken Werkes sicher unterziehen.

Schönen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722213200

Der Kollege Klaus Breil spricht jetzt für die FDP-

Fraktion.


Klaus Breil (FDP):
Rede ID: ID1722213300

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-

legen! Wir stehen heute inmitten eines der bedeutends-
ten Projekte der Bundesregierung: dem Um- und Ausbau
der Energieinfrastruktur. An diesem Projekt will die
Bundesregierung auch in Zukunft möglichst viele betei-
ligen. Mit „viele“ meine ich gerade die Bürgerinnen und
Bürger.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Es geht in dieser Debatte nicht um die Kosten. Die
Beteiligungs- und Gewinnmöglichkeiten, die sich aus
der Energiewende ergeben, wollen wir möglichst vielen
Privatpersonen zugänglich machen. Damit lassen sich
zumindest teilweise die individuellen finanziellen Belas-
tungen begrenzen. Das wiederum kann der gesamtge-
sellschaftlichen Akzeptanz nur guttun.

Zu Anfang dieses Jahrtausends, als ich in meinem frü-
heren Beruf die ersten Erneuerbare-Energien-Fonds, so-
genannte New Power Fonds, auflegte, spielten Bürger-
energieprojekte, wie wir sie heute kennen, keine große
Rolle. Heute ist das anders: Ihnen kommt eine zuneh-
mend wichtigere Rolle zu, insbesondere auch in der
Rechtsform der Genossenschaften. Sie helfen uns, zwei
wichtige Ziele zu erreichen: Erstens beschleunigen sie
unseren Weg hin zu einer dezentraleren Erzeugerstruk-
tur. Zweitens unterstützen sie die regionale Wertschöp-
fung.

Die unmittelbare individuelle Beteiligungsmöglich-
keit – von 500 Euro bis zu mehreren Tausend Euro zum
Beispiel bei Genossenschaften – im direkten räumlichen
Umfeld erhöht auch die lokale Akzeptanz gegenüber
Energieanlagen und dem Ausbau der Infrastruktur. Aus
der Erfahrung wissen wir, dass die Beträge der Beteili-
gungen in den meisten Fällen überschaubar sind. Dafür
ist die Anzahl der Teilhaber oft recht groß. Bürgerener-
gieprojekte sind daher nur bedingt mit Kapitalanlagepro-
jekten gleichzustellen, um die es im Rahmen dieses Um-
setzungsgesetzes eigentlich geht.

Wir haben uns daher, wie in der Richtlinie vorgese-
hen, für eine De-minimis-Regel für alternative Invest-
mentfonds mit einem Vermögen von unter 100 Millio-
nen Euro eingesetzt. Die Verwaltung von AIF ist weder
für die Finanzmarktstabilität noch für die Markteffizienz
mit nennenswerten Risiken verbunden. Wenn ein AIF
nicht hebelfinanziert ist und die Anleger in den ersten
fünf Jahren nicht aus ihrem Investment aussteigen kön-
nen, liegt die De-minimis-Schwelle für die Maßnahmen
im Rahmen des Umsetzungsgesetzes bei 500 Millionen
Euro.

Gründung, Verwaltung und Betrieb von Bürgerener-
gieanlagen erfolgen oft durch ehrenamtliches Engage-
ment. Diesem Umstand tragen wir im Rahmen der No-
vellierung des Kapitalanlagegesetzbuches ausreichend
Rechnung. Manager, deren nicht gehebelte Fonds unter
die De-minimis-Regel fallen, müssen sich lediglich re-
gistrieren und unterliegen keiner der weiteren Maßnah-
men aus der Richtlinie.

In den kommenden Berichterstattergesprächen Mitte
März werden wir darauf achten, dass wir keine Regelun-
gen beschließen, die die eingeleitete positive Entwick-
lung abbremsen werden.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722213400

Das Wort hat jetzt der Kollege Hans Michelbach für

die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Hans Michelbach (CSU):
Rede ID: ID1722213500

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kol-

legen! Die internationale Finanzkrise hat uns zwei Dinge
gezeigt: Erstens. Schwerwiegende Störungen in der Fi-
nanzwirtschaft in einem Teil der Welt können schwer-
wiegende weltweite Folgen nicht nur für die gesamte
Finanzwirtschaft, sondern auch für die gesamte Welt-
wirtschaft nach sich ziehen. Zweitens. Alternative
Investmentfonds, Private-Equity-Fonds, Risikokapital-
fonds oder Hedgefonds bergen Risiken für das gesamte
Finanzsystem. Sie haben ihren Teil zur internationalen
Finanzkrise beigetragen.

Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, beraten wir
jetzt einen neuen Ordnungsrahmen und Leitplanken für
diesen Teil der Finanzwirtschaft zum Schutz der Ge-
samtwirtschaft, ihrer Unternehmen und Arbeitnehmer
und zum Schutz der Anleger. Diese Bundesregierung
und die sie tragende Koalition haben sich deshalb in Eu-
ropa und darüber hinaus bei G 20 für einen internationa-
len Regelungsrahmen starkgemacht.

Ein Ergebnis dieser konsequenten Politik ist die
AIFM-Richtlinie der Europäischen Union. Diese gilt es
nun sachgerecht in nationales Recht umzusetzen. Dass
der heute zu beratende Gesetzentwurf 600 Seiten um-
fasst, bin ich weniger stolz. Mir geht es um die Verhält-
nismäßigkeit und die Praxisnähe dieser Regulierung. Es





Dr. h. c. Hans Michelbach


(A) (C)



(D)(B)


ist sinnvoll, dass wir diesen Gesetzentwurf dazu nutzen,
um ein geschlossenes Regelwerk für Investmentfonds zu
schaffen.

Wir wollen damit unser Finanzsystem krisenfester
machen. Wir wollen Transparenz von Produkten und
Märkten. Wir wollen Haftung und Kontrolle verbessern
und damit eine Stärkung des Anlegerschutzes erreichen.
So werden Übertreibungen auf den Finanzmärken einge-
dämmt, und so wird auch Betrug erschwert. Diese Ziele
gehen wir fachlich und praxisnah an. Aber für die Real-
wirtschaft wollen wir – das muss klar sein – einen funk-
tionsfähigen Kapitalanlagemarkt. Der Wirtschaftsstand-
ort Deutschland braucht diesen Markt. Ihn müssen wir
nur ordentlich regulieren.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wir können doch nicht eine einzige Sache zum Maß-
stab machen. Wir können nicht einen einzelnen, sicher
bedauerlichen Betrugsfall herauspicken, wie es Herr
Schick gemacht hat. Keine Regulierung kann die Ab-
sicht zu Betrug verhindern. Wir dürfen nicht eine völlig
falsche Hoffnung in die Öffentlichkeit hineintragen. Wir
stellen die Finanzbranche nicht unter Generalverdacht,
sondern wir fordern Lernbereitschaft des Finanzmarktes,
und das mit Verhältnismäßigkeit. Nur so kann man über-
zeugen, und nur so kann man die Zukunft dieses Markt-
systems durchsetzen.

Wir sind also für einen funktionierenden Kapitalanla-
gemarkt. Das Kapitalanlagegesetzbuch ist ein Meilen-
stein. Wir haben dabei keinen ideologischen Schaum vor
dem Mund, sondern wir korrigieren jetzt auch Fehlent-
wicklungen im Finanzsektor unter Rot-Grün. Wir haben
inzwischen rund 15 Regulierungsgesetze auf den Weg
gebracht. Der Kollege Brinkhaus hat alle wunderbar auf-
gezählt. Das ist lobenswert, Herr Kollege.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Der finanzpolitische Besserwisser Steinbrück und
Rot-Grün haben keine gute Bilanz, so wie wir sie vor-
weisen können. Nur zur Erinnerung, liebe Kollegen von
Rot-Grün: Es war Ihre damalige Bundesregierung, es
war die Regierung Schröder/Fischer mit Hans Eichel als
Finanzminister, die den Hedgefonds in Deutschland Tür
und Tor geöffnet hat, mit allen Folgen, die wir heute
kennen. Ich stelle fest: Die SPD ist heute noch stolz auf
die 18 deutschen Hedgefonds, die der Kollege Binding
letzten Endes noch einmal verteidigt hat. Dies ist ein
treffliches Beispiel dafür, was passiert, wenn man Sie
machen lässt. Darüber können Sie auch mit Ihrem nach-
träglichen Gejammere über Heuschrecken nicht hinweg-
täuschen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie von Rot-Grün ziehen zumeist die falschen Lehren
aus den Krisen. Sie ziehen die falschen Lehren aus die-
ser Finanzmarktkrise. Ich sage deutlich: Sie sind eine
Gefahr für Unternehmen, Arbeitsplätze und Vermögen.
Sie sind eine Gefahr für sinnvolle Rahmenbedingungen
am Finanzmarkt.

Wir bringen das jetzt in Ordnung, wie wir schon an-
deren Murks von Ihnen in Ordnung gebracht haben. Wir
verbieten jetzt Hedgefonds für Privatanleger. Wir halten
Wort. Wir handeln. Das ist die Tatsache. Jetzt gehen wir
mit dem Regierungsvorhaben Kapitalanlagegesetzbuch
in die Sachverständigenanhörung. Unsere parlamentari-
sche Beratung wird in fachlicher Prüfung sicher einige
Modifikationen des Entwurfs vornehmen. Das ist ganz
normal. Wir Parlamentarier haben das letzte Wort. Wir
sind für funktionsfähige offene Immobilienfonds, und
wir wollen die Erhaltung der Spezialfonds in der richti-
gen Verhältnismäßigkeit durchsetzen.

Es darf auch keine Verunsicherungen gegenüber den
bisherigen Regulierungen geben, wo sich das Anleger-
schutz- und Funktionsverbesserungsgesetz bewährt hat.
Dies ist zum Beispiel beim Bewertungsregime der Fall.
Ich bin der Auffassung, dass das Bewertungsregime
nicht jeden Monat angewandt werden darf. Ich bin der
Auffassung, dass sich das Bewertungsregime bewährt
hat und nicht geändert werden muss. Ich bin auch der
Auffassung, dass die Zweiklassengesellschaft im Hin-
blick auf Neuanleger und Altanleger zu überprüfen und
zu hinterfragen ist.

All das sind Dinge, die wohldurchdacht sein müssen;
denn die Produkte müssen sich zum Schluss auch am
Markt bewähren können. Das ist entscheidend: Auf der
einen Seite brauchen wir Regulierung. Auf der anderen
Seite müssen die Anbieter wissen, dass sie mit ihrem
Kapital eine Rendite erzielen können, insbesondere
dann, wenn der Markt diese Kapitalanlageprodukte an-
nimmt.

Zum Abschluss. Alles, die neuen Bestimmungen und
die bereits vorhandenen Bestimmungen des Anleger-
schutz- und Funktionsverbesserungsgesetzes, wird im
Kapitalanlagegesetzbuch zusammengefasst.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722213600

Herr Kollege.


Hans Michelbach (CSU):
Rede ID: ID1722213700

Das dient den Anlegern und dem Finanzmarkt. Meine

Damen und Herren, so sieht Politik aus, die Wort hält.
Das sollten Sie sich als Beispiel nehmen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722213800

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/12294 an die Ausschüsse vor-
geschlagen, die Sie in der Tagesordnung finden. – Damit
sind Sie einverstanden. Dann ist das so beschlossen.

Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b
auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Anette
Kramme, Gabriele Hiller-Ohm, Petra





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)


Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD

Missbrauch von Werkverträgen bekämpfen

– Drucksache 17/12378 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Rechtsausschuss 
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz

b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jutta
Krellmann, Sabine Zimmermann, Diana Golze,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE
LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Verhinderung des Missbrauchs von Werk-
verträgen

– Drucksache 17/12373 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Rechtsausschuss

Hier wurde verabredet, eine Stunde zu debattieren. –
Auch dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann
ist das ebenfalls so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Für die SPD-Fraktion hat
die Kollegin Anette Kramme das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Anette Kramme (SPD):
Rede ID: ID1722213900

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Es läuft eine öffentliche Diskussion unter dem
Titel „Missbrauch von Werkverträgen“. Dieses Phäno-
men droht eine neue Niedriglohnwelle in Deutschland
auszulösen. Ich glaube, ich brauche an dieser Stelle nicht
anzufügen, dass die Situation bei den Niedriglöhnen in
Deutschland schon problematisch ist; wir stehen hier un-
mittelbar hinter den USA. Man kann es an einzelnen
Zahlen festmachen, beispielsweise daran, dass 23 Pro-
zent aller Haupt- und Nebenbeschäftigten weniger als
8,50 Euro verdienen. Man kann es aber auch an der Ein-
kommensentwicklung im unteren Einkommensbereich
festmachen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, viele sind in den
letzten Wochen dabei erwischt worden, dass sie beim
Spiel Werkverträge mitmachen: Netto und Kaufland,
Rossmann und Real. Über Schlachtbetriebe wird berich-
tet, dass nur noch 20 Prozent der dort Arbeitenden bei
den Schlachtbetrieben selbst beschäftigt sind. Auch
BMW und Porsche sind bei diesem Spiel dabei. Der Be-
triebsrat von Daimler hat uns in der Sachverständigenan-
hörung berichtet, dass es dort ebenfalls Probleme gibt.

Die Zielsetzungen derjenigen Unternehmen, die diese
Werkverträge nutzen, sind im Prinzip klar und eindeutig:

Einerseits geht es darum, den Mindestlohn in der
Leiharbeit zu unterlaufen. Bereits an dieser Stelle sei
angemerkt: Ein Mindestlohn ist nicht alles, was wir im
Bereich der Leiharbeit brauchen; es geht selbstverständ-
lich um Equal Pay. Die Arbeitsbedingungen in der Leih-

arbeit sind keinesfalls großartig, und dennoch werden sie
unterlaufen.

Andererseits fürchten die Branchen, die solche Werk-
verträge einsetzen, dass die europäische Leiharbeits-
richtlinie hier durch Gerichte unmittelbar angewendet
wird. Beispielsweise hat das LAG Brandenburg aktuell
im Januar so entschieden. Es hat eindeutig gesagt: Leih-
arbeit, die nicht vorübergehend, sondern dauerhaft ist,
führt dazu, dass der Leiharbeitnehmer Mitarbeiter des
Entleihers wird. Da fürchten natürlich viele Unterneh-
men, dass sie diese Menschen plötzlich – in Anführungs-
zeichen – „an der Backe“ haben.

An sich ist der Titel „Missbrauch von Werkverträgen
bekämpfen“ falsch. Denn der Werkvertrag an sich ist nur
Ausdruck für die Rechtsbeziehungen zwischen den
Unternehmen. Aber es geht um das Lohndumping beim
Einsatz von Fremdpersonal, und es geht um den Status,
unter dem Fremdpersonal in das dritte Unternehmen
hineinkommt: Sie kommen als Leiharbeitnehmer, sie
kommen als reguläre Arbeitnehmer, und manche dieser
regulären Arbeitnehmer sind dann doch Leiharbeitneh-
mer. Sie kommen als Soloselbstständige oder als Schein-
selbstständige. Ein Problem in diesem Zusammenhang
sind Betriebsübergänge, die dazu genutzt werden, beste-
hende Tarifverträge zu unterlaufen.

Die Abgrenzung, wann ein Beschäftigter Leiharbeit-
nehmer und wann er einfacher Arbeitnehmer ist, ist
schwierig. In der Rechtsprechung wurden Kriterien ent-
wickelt. Primär geht es darum, wer das Weisungsrecht
ausübt: ob das Weisungsrecht durch den Entleiher ausge-
übt wird oder ob das Weisungsrecht bei der dritten Firma
liegt.

Es werden darüber hinaus eine Unzahl weiterer Krite-
rien angewendet. Das kann für uns nur eine Schlussfol-
gerung ergeben: Damit Überwachungsbehörden arbeiten
können, damit Arbeitnehmer und Betriebsräte ihre
Rechte durchsetzen können, brauchen wir eine Vermu-
tungsregelung, die wir an sieben Kriterien festmachen,
von denen drei erfüllt sein müssen.

Es geht darum, dass eine Vermutungsregelung nicht
ohne Konsequenzen bleibt. Wir sprechen uns eindeutig
dafür aus: Liegt die Vermutung nahe, dass es sich um ei-
nen Scheinwerkvertrag handelt, muss dem nachgegan-
gen werden. Bestätigt sich die Vermutung, dann geht es
im Ergebnis um Arbeitsvermittlung. Es besteht also ein
Arbeitsverhältnis zwischen demjenigen, der das Fremd-
personal eingestellt hat, und dem entsprechenden Arbeit-
nehmer.

Aber es geht auch darum, die Informationsrechte von
Betriebsräten zu stärken. Zwar gibt es dort bereits
Rechte, aber Betriebsräte wissen damit nicht umzu-
gehen. Die Rechte als solche sind auch unzureichend
dargestellt.


(Beifall bei der SPD)


Es geht darum, dass Betriebsräte mitbestimmen können,
wenn Einstellungen von Fremdpersonal vorgenommen
werden.





Anette Kramme


(A) (C)



(D)(B)


Mit dem Begriff der Einstellung können wir an dieser
Stelle nicht arbeiten. Deswegen sagen wir: Es geht um
die Besetzung, die dem unternehmerischen Konzept des
eigentlichen Arbeitgebers unterliegt. So können
Betriebsräte ihre Zustimmung zu einer Einstellung ver-
weigern, wenn der eigene Personalbestand gefährdet ist,
weil Entlassungen drohen oder sonstige Nachteile zu be-
fürchten sind. Es geht darum, dass reguläre Betriebs-
vereinbarungen Anwendung finden, beispielsweise die
Arbeitszeit betreffend.

Das bringt mich zum nächsten Thema, das ich bereits
angedeutet habe: Soloselbstständige. Wir brauchen eine
Vermutungsregelung für den Fall, dass keine Schein-
selbstständigkeit vorliegt, sondern Arbeitnehmerschaft.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Damit hat die SPD schon mal Schiffbruch erlitten! Das kann ich Ihnen zeigen! 1998! Da haben Sie das mal erfolglos versucht!)


Ein allerletzter Punkt, ganz kurz erwähnt: Es geht
darum, die Rechte von Arbeitnehmern und Arbeit-
nehmerinnen im Falle eines Betriebsübergangs zu ver-
bessern. Derzeit ist es häufig so, dass Tarifverträge nur
noch statisch wirken, dass Tarifverträge gar keine
Anwendung mehr finden bzw. dass die Haftungsmasse
des neuen Unternehmens weitaus schlechter ist,


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ja, die Welt ist schlecht, Frau Kramme!)


dass zwangsweise neue Arbeitsverträge unterschrieben
worden sind. Das alles soll künftig einer Sozialplan-
pflicht unterliegen.


(Beifall bei der SPD)


Frau Arbeitsministerin von der Leyen hat das
Problem im Januar 2012 zwar bezeichnet, bis heute ist es
jedoch lediglich zu einem Symposium gekommen, das
diesen Monat stattfindet.


(Gabriele Groneberg [SPD]: Schlimm genug!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722214000

Frau Kollegin.


Anette Kramme (SPD):
Rede ID: ID1722214100

Ich bin fast fertig. – Mein letzter Satz:


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Bis zum Kern des Problems ist die Kollegin Kramme leider nicht vorgedrungen! – Max Straubinger [CDU/ CSU]: Das ist wahr!)


Sollte es so sein, dass es in diesem Tempo weitergeht,
werden wir in 15 bis 20 Jahren mit großen Problemen zu
rechnen haben; denn die Entwicklung ist verschlafen
worden.


(Beifall bei der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Was wollte uns die Kollegin Kramme damit sagen? Das erschließt sich mir nicht!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722214200

Karl Schiewerling hat jetzt das Wort für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Karl Schiewerling (CDU):
Rede ID: ID1722214300

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Frau Kramme, ich will gar
nicht verschweigen, dass im Antrag der SPD die eine
oder andere Situation treffend beschrieben ist.


(Anette Kramme [SPD]: Ach, nur da?)


Vor allem aber will der Antrag der SPD das wieder ein-
führen, was die SPD unter Rot-Grün abgeschafft hat:


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Tja!)


Sie will, dass die sogenannte Vermutungsregelung, die
unter Rot-Grün abgeschafft worden ist, wieder aufge-
nommen wird. Sie wollen wieder einführen, dass es eine
Grenze, eine Höchstdauer im Bereich der Arbeitnehmer-
überlassung gibt.


(Anette Kramme [SPD]: Was die europäische Leiharbeitsrichtlinie vorgibt!)


Auch das ist unter Rot-Grün abgeschafft worden. – Ich
will das überhaupt nicht verkennen. Ich will nur sagen,
dass in Ihrem Antrag bezeichnenderweise viele Dinge
beschrieben und dargestellt werden, die letztendlich auf
Ihr Konto gehen. Ich glaube, dass es notwendig ist, dies
deutlich zu sagen.

In Ihrem Antrag gibt es auch einen interessanten Hin-
weis auf das Thema Werkverträge. In Ihrem Antrag
steht, dass wir manche Auseinandersetzung über das In-
strument der Werkverträge haben, die darauf zurückzu-
führen ist, dass im Bereich der Zeitarbeit Regulierungen
vorgenommen worden sind.


(Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]: So ist es!)


Sie schreiben völlig zu Recht: Seitdem es Mindestlöhne
im Bereich der Zeitarbeit gibt, wird sie für einige Unter-
nehmen zunehmend unattraktiv. Die ursprünglichen Re-
gelungen sind von der rot-grünen Koalition eingeführt
worden, und die jetzige Koalition hat diese Dinge regu-
liert.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Man wird von der augenblicklichen Diskussion über-
rascht. Vielleicht hören viele das Wort „Werkvertrag“
zum ersten Mal und halten das Ganze per se für Teufels-
zeug. Werkverträge sind im BGB geregelt. Sie sind ein
uraltes vertragliches Regelungsinstrument. So liegen
beispielsweise die Herstellung und der Einbau eines
Fensters, das dann auch noch schließt und dicht ist, ei-
nem Werkvertrag zugrunde. Es wird nicht die Zeit be-
zahlt, die der Schreiner braucht, sondern bei Erfolg das
funktionierende Fenster samt Lieferung und Einbau,
auch wenn der Schreiner zehnmal kommen muss. Bei
Mängeln wird die Rechnung erst beglichen, wenn alles





Karl Schiewerling


(A) (C)



(D)(B)


in Ordnung ist. Das ist klar. So habe ich das gelernt. Das
ist völlig unstrittig.

Strittig wird es in der Tat erst dann, wenn die Kriterien
eines Werkvertrags nicht eingehalten werden. Kriterien
sind: Ein Werkunternehmer erbringt ein Werkerzeugnis;
der Werkunternehmer behält seine unternehmerische Dis-
positionsfreiheit; der Werkunternehmer trägt das unter-
nehmerische Risiko einschließlich der Gewährleistung
sowie die erfolgsorientierte Erbringung der Werksleis-
tung. Es kann sein, dass nicht ganz klar ist, ob es sich bei
dem Auftrag nicht doch um eine Arbeitnehmerüberlas-
sung handelt, weil es Anweisungen des Auftraggebers an
den Werkarbeitnehmer gibt und die Grenzziehung zur
Zusammenarbeit mit anderen Arbeitnehmern im konkre-
ten Fall nicht mehr klar ist.

Schwierig wird es auch dann, wenn es sich um einen
Dienstvertrag handelt, also um einen Vertrag mit einer
einzelnen Person, die selbstständig ist, deren Gestal-
tungsspielräume eng sind, die mit dem sonstigen Perso-
nal des Auftraggebers eng zusammenarbeitet, wenn es
ein Miteinander gibt und eine genaue Einpassung des
Soloselbstständigen in Prozesse, die vom Auftraggeber
gekauft werden.

Diese juristischen Unterscheidungen sind etwas tro-
cken, aber sie sind klarzumachen. Es gibt in der Tat eine
Grauzone. Es gibt in der Tat Gestaltungsmöglichkeiten
und Gestaltungsspielräume. Allerdings halte ich nichts
davon, ein Gesetz zu verändern, wie es jetzt von der SPD
vorgeschlagen wird, und die Vermutungsregelung wie-
der einzuführen. Sie ist damals völlig zu Recht abge-
schafft worden. Warum ist sie abgeschafft worden? Weil
– Frau Kollegin Connemann wird darauf später näher
eingehen – letztendlich im Einzelfall sowieso Gerichte
Klarheit herbeiführen müssen, weil wir nicht jedes ein-
zelne Detail regeln können. Im Streitfall sind die Ge-
richte gefordert.

Besonders schwierig wird es allerdings dann, wenn
ein Unternehmen sowohl Arbeitnehmerüberlassung an-
bietet als auch die Übernahme von Aufträgen im Rah-
men von Werkverträgen. Da die christlich-liberale Ko-
alition die Zeitarbeit strukturiert hat, die Tarifpartner
aufgrund unseres Drucks Mindestlöhne eingeführt


(Widerspruch des Abg. Stefan Rebmann [SPD] – Zurufe von der SPD: Oh!)


– ja, daran waren wir mächtig beteiligt – und Regelun-
gen zur gleichen Behandlung von Stammbelegschaft und
Leiharbeitnehmern geschaffen haben, gibt es mittler-
weile natürlich – das haben Sie in Ihrem Antrag richtig
beschrieben – Ausweichmanöver bestimmter Zeitar-
beitsunternehmen hin zu Werkverträgen.

Das spielt sich dann so ab – so haben mir das Verbände
geschildert –: In den Verhandlungen mit möglichen Auf-
traggebern, in denen es eigentlich um Arbeitnehmerüber-
lassung geht, sagt der Unternehmer: Ich kann es Ihnen
auch billiger machen; wandeln wir das Ganze in einen
Werkvertrag ab; dann sind wir nicht an die Mindestlöhne
gebunden.

Zurückhaltend formuliert: Da gibt es Gestaltungsmiss-
brauch. Um es deutlich zu formulieren: Dieses Unterneh-
men hat nicht begriffen, dass dies mit der unternehmeri-
schen Freiheit in unserer sozialen Marktwirtschaft nichts
zu tun hat. Das ist ein Unterlaufen von tariflichen Verein-
barungen. Man fügt darüber hinaus nicht nur der Zeitar-
beitsbranche, sondern auch dem Wirtschaftsstandort
Deutschland und dem Ansehen des Unternehmens
schweren Schaden zu. Das sehen übrigens die Bundes-
verbände BAP und iGZ genauso. Deswegen sind sie sehr
an einer eindeutigen und präzisen Regelung dieser Fragen
interessiert. Wir können das als Fraktion nur begrüßen
und unterstützen sie dabei ausdrücklich.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Meine Damen und Herren, Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer – –


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722214400

Möchten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten

Schaaf zulassen?


Karl Schiewerling (CDU):
Rede ID: ID1722214500

Wenn er will, kann er gern fragen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Toni hat Redebedarf!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722214600

Bitte schön.


Anton Schaaf (SPD):
Rede ID: ID1722214700

Ich habe in dieser Debatte keine Redezeit; aber ich

bin immer für Redlichkeit. Deswegen muss ich jetzt kurz
nachfragen.

Lieber Kollege Schiewerling, zur Regulierung der
Zeit- und Leiharbeit habe ich nur eine Nachfrage. Ich
bitte um Bestätigung oder Verneinung an dieser Stelle.
Ist es nicht so, dass es schon zu Zeiten der Großen Koali-
tion eine Initiative von Arbeitgebern und Arbeitnehmern
aus der Zeit- und Leiharbeit gab – insbesondere im Hin-
blick auf die Allgemeinverbindlichkeitserklärung von
mit den DGB-Gewerkschaften abgeschlossenen Tarif-
verträgen –, wobei es dann in der Großen Koalition die
Union war, die mit dem Hinweis auf konkurrierende Ta-
rifverträge die Allgemeinverbindlichkeitserklärung ver-
weigert hat?

Erst als die Gewerkschaften, auf die sich die Union
bezogen hat, nämlich die christlichen Gewerkschaften,
durch Gerichte für tarifunfähig erklärt worden waren,
haben Sie dann – nach Ende der Großen Koalition – die
Allgemeinverbindlichkeitserklärung tatsächlich umge-
setzt. Erzählen Sie hier nicht, Sie hätten das gemacht.
Sie haben sich in der Großen Koalition verweigert. Erst
als die Gewerkschaften, auf die Sie sich gestützt haben,
für tarifunfähig erklärt worden sind, haben Sie die Allge-
meinverbindlichkeitserklärung auf den Weg gebracht.


(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Die Antwort lautet: Nein!)







(A) (C)



(D)(B)



Karl Schiewerling (CDU):
Rede ID: ID1722214800

Um Ihrem Wunsch zu entsprechen, sage ich Nein,


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


und zwar deswegen, weil es in der Tat so lange konkur-
rierende Tarifverträge gab, bis ein Tarifvertrag für ungül-
tig erklärt worden war. Ich sage sehr deutlich: Danach
sind die neuen Regelungen getroffen worden. Vorher
war das Argument, dass es konkurrierende Tarifverträge
gibt, richtig. Nachdem es keine konkurrierenden Tarif-
verträge mehr gab, mussten neue Regelungen her. Des-
wegen sind sie eingeführt worden.


(Anton Schaaf [SPD]: Ich fordere Redlichkeit an dieser Stelle! Redlichkeit!)


Insofern ist Ihre Beschreibung völlig richtig, und unsere
Haltung war okay.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Anton Schaaf [SPD]: Von Redlichkeit bleibt da nicht viel übrig!)


Meine Damen und Herren, es geht letztendlich auch
um Fairness am Arbeitsmarkt; das ist völlig unstrittig. In
aller Regel sind von diesen vertraglichen Gestaltungs-
mechanismen Menschen betroffen, die nicht zu den
Topqualifizierten gehören; vielmehr handelt es sich um
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die eine einfache
Ausbildung haben, die sich in einer Anlernsituation be-
finden und die des besonderen Schutzes bedürfen und
diesen auch verdienen.

Allerdings haben wir einige Probleme:

Wir wissen überhaupt nicht, wie viele Werkverträge
im Dienstleistungsbereich bestehen und wie viele Men-
schen davon überhaupt betroffen sind.


(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Sehr richtig! Genau so ist es!)


Es gibt überhaupt keinen Überblick. Wenn man Ihren
Worten glaubt, hat man den Eindruck, als würde ganz
Deutschland nur noch mit Werkverträgen arbeiten. Wir
hätten eine Verelendung der gesamten Bevölkerung,
weil alle nur noch auf der Basis von Werkverträgen ar-
beiten. Das ist schier barer Unfug. Wir haben noch nicht
einmal einen Überblick, wie viele solcher Verträge es
wirklich gibt. Deswegen ist es notwendig, dass wir uns
zunächst einmal einen Überblick verschaffen; das be-
grüße ich ausdrücklich.

Wir brauchen auch Regulierungen für die Überwa-
chung durch die Rentenversicherung, vor allem durch
den Zoll und die Bundesagentur für Arbeit. Gerade der
Zoll benötigt entsprechende Hilfen. Wenn der Zoll näm-
lich einen Schlachthof kontrollieren will, muss er mit ei-
ner Hundertschaft anrücken. Bis alle hundert Kontrol-
leure die Sicherheitsschleuse passiert haben, damit sie
keine Krankheitserreger hineintragen, können die Dinge
im Schlachthof möglicherweise schon wieder geordnet
sein. Wir brauchen andere Regelungen, damit vernünf-
tige Überwachungen durchgeführt werden können.

Ferner muss klar sein, ob es sich um eine Arbeitneh-
merüberlassung oder um einen Werkvertrag handelt. Da-
bei kommt es auf den Inhalt an. Am besten wäre es,
wenn Unternehmen, die Arbeitnehmerüberlassung an-
bieten und auch Aufträge in Form von Werkverträgen
übernehmen können, getrennt werden oder wenn zumin-
dest bei Vertragsabschluss eindeutig geklärt wird, dass
Verschiebungen innerhalb eines Betriebes nicht mehr
möglich sind. Überall da, wo Werkverträge für Dienst-
leistungen vergeben werden, von denen Arbeitnehmer
des Betriebes betroffen sind, die diese Dienstleistungen
bisher erledigt haben, ist der Betriebsrat einzubeziehen.

Der sozialen Marktwirtschaft liegt das Konzept des
freien Marktes zugrunde. Sein Wesen ist die Freiheit des
unternehmerischen Handelns. Sein Wesen sind jedoch
auch ein fairer Wettbewerb und ein faires Verhalten am
Markt.


(Anette Kramme [SPD]: Was machen Sie jetzt?)


Es gibt auch für Werkverträge gesetzliche Regelungen.
Der Missbrauch muss bekämpft werden.


(Anette Kramme [SPD]: Wie? – Gegenruf der Abg. Gitta Connemann [CDU/CSU]: Durch Kontrolle! Kontrolle, Kontrolle, Kontrolle!)


Die Gestaltung, die dazu führt, dass es zu großen Proble-
men für die betroffenen Menschen kommt, muss be-
kämpft werden. Im Mittelpunkt steht für uns letztendlich
der Mensch, der ein Recht auf faire Arbeitsbedingungen
und Fairness hat.


(Anette Kramme [SPD]: Wann kommt Ihre Gesetzesinitiative?)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722214900

Herr Kollege.


Karl Schiewerling (CDU):
Rede ID: ID1722215000

Ich komme zum Ende. – Was ich gestern bereits zu

Amazon gesagt habe, –


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722215100

Das steht im Protokoll.


Karl Schiewerling (CDU):
Rede ID: ID1722215200

– das sage ich auch zu diesem Fall: Wirtschaft kommt

nicht ohne Ethik aus. Es wäre für alle Unternehmen gut,
sich, bevor Kunden auf Missstände reagieren, auf diese
Ethik zu verständigen und zu wissen, dass man nur so
glaubwürdig wirtschaften kann.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722215300

Für die Fraktion Die Linke spricht jetzt der Kollege

Klaus Ernst.


(Beifall bei der LINKEN)







(A) (C)



(D)(B)



Klaus Ernst (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1722215400

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen

und Kollegen! Werkverträge gab es immer. Die Verände-
rung besteht darin, dass Unternehmen inzwischen ganz
bewusst Tätigkeiten an ein anderes Unternehmen aus-
gliedern. Die Angestellten machen dann dieselbe Tätig-
keit, die sie vorher gemacht haben, aber für weniger
Geld. Dies sehen wir auch bei einzelnen Personen, und
zwar massenhaft. Wir haben den Skandal bei Schlecker
erlebt – Stichwort „Drehtürklausel“ –, und wir haben
Probleme bei der Leiharbeit gesehen, die man teilweise
zu lösen versucht hat.

Diese Dumpingkarawane ist längst weitergezogen. Es
kommt nun darauf an, dass wir dem tatsächlich einen
Riegel vorschieben. Andere – nicht wir – haben das
Lohnniveau in der Bundesrepublik Deutschland deutlich
nach unten gedrückt. Mit der Methode der Werkverträge
werden die Löhne um bis zu 50 Prozent weiter nach un-
ten gedrückt.

Die Berichte, die vorliegen, dürften auch Sie kennen.
Ich will einige erwähnen, als Erstes den Bericht zum Fall
Danish Crown. Von der Peripherie Europas werden Be-
schäftigte angeworben. Sie werden über Subunternehmen
für weniger als 5 Euro in der Stunde für die Arbeit an
Schlachtbändern beschäftigt. Die Gewerkschaft Nah-
rung-Genuss-Gaststätten versuchte, einen Betriebsrat zu
gründen. Letztendlich führte das dazu, dass dem Subun-
ternehmen gekündigt und ein anderes Subunternehmen
herangezogen wurde. Dadurch geht es genauso weiter
wie vorher. Bis zu 20 Beschäftigte müssen in einer Zwei-
zimmerwohnung unter katastrophalen hygienischen Be-
dingungen leben. Sie müssen dafür auch noch 200 Euro
Miete zahlen.

Oft wird gesagt, das seien nur Einzelfälle. Herr
Schiewerling, das sind keine Einzelfälle. In den einzel-
nen Schlachtbetrieben gibt es inzwischen einen Anteil an
Werkverträgen von bis zu 90 Prozent.


(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Seit 30 Jahren!)


Die zuständigen Gewerkschaften haben diese Daten be-
reits erhoben. Es geht hier also nicht nur um schwarze
Schafe; vielmehr sind ganze Herden in Europa unter-
wegs, die Beschäftigte „abgrasen“ und versuchen, mög-
lichst billige Fachkräfte oder Arbeitskräfte in die Firmen
zu vermitteln. Es wird geschätzt, dass im Einzelhandel
circa 120 Fremdfirmen mit bis zu 350 000 Beschäftigten
unterwegs sind. Wir reden hier also nicht über Einzel-
fälle. Das sage ich mit aller Klarheit.


(Beifall des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE])


Selbst in der Automobilindustrie, also bei unseren
Vorzeigeunternehmen, ist dies so. Bei BMW in Leipzig
arbeiten auf der einen Seite des Montagebands BMW-
Beschäftigte, auf der anderen Seite arbeiten Werkver-
tragsarbeiter, die Material zuliefern. Sie tragen eine an-
dersfarbige Arbeitskleidung, werden schlechter bezahlt
und haben schlechtere Arbeitsbedingungen. Sie machen
aber letztendlich dasselbe. Ihre Tätigkeit unterscheidet
sich nicht von der Tätigkeit der anderen Beschäftigten.

Wir haben hier einen Gesetzentwurf vorgelegt. Ich
möchte Ihnen ganz deutlich sagen: Sie kennen die Ver-
hältnisse. Sie lesen die Berichte genauso wie wir.


(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Schauen Sie sich die Betriebe einmal an!)


Ich sage Ihnen: Wenn Sie das nicht ändern, sind Sie mit-
verantwortlich für die Zustände, die inzwischen in den
Schlachthöfen herrschen – Sie persönlich, alle, die Sie
hier sitzen. Sie können sich da nicht aus der Verantwor-
tung stehlen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Gitta Connemann [CDU/ CSU]: Ich lade Sie gerne in meine Stadt ein!)


Herr Schiewerling, Ihnen möchte ich ganz deutlich
sagen: Sie greifen die Missstände zwar auf, Sie beschrei-
ben sie sogar richtig, aber Sie machen keinen einzigen
Vorschlag, wie sie zu beheben sind. Ich habe vonseiten
der Regierung nichts dazu gelesen, was sie tun will, um
die Missstände abzustellen – keinen einzigen Vorschlag.


(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie sind eine Regierung, keine Appellierung. Sie appel-
lieren aber nur. Das reicht nicht, meine Damen und Her-
ren.


(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Das war jetzt komisch! – Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU)


– Das war gar nicht komisch; das ist leider Fakt. Wenn
Sie wirklich einmal etwas tun würden, müsste man nicht
immer jammern.

Frau von der Leyen, Sie muss ich an dieser Stelle lei-
der persönlich ansprechen. Sie sitzen so lange auf der
Herdplatte, bis es dampft, dann gehen Sie an die Öffent-
lichkeit, und Ihre eigene Partei pfeift Sie zurück. Das ist
doch die Lage. Ich bin davon ausgegangen, dass auch
Sie die Verhältnisse, die Sie hier vorfinden, nicht akzep-
tieren. Aber ich kann keinen einzigen Vorschlag der Re-
gierung erkennen, der tatsächlich dazu führen würde,
dass sich an diesen Verhältnissen in irgendeiner Form et-
was ändert.


(Beifall bei der LINKEN)


Was müssen wir tun? Natürlich brauchen wir Rege-
lungen, die den Missbrauch einschränken, zum Beispiel
die Vermutungsregelung. Die Vermutungsregelung hat
den Vorteil, dass einem Arbeitnehmer, der im Vergleich
zu dem Unternehmen, in dem er beschäftigt wird, in ei-
ner schlechteren Situation ist, von der anderen Seite
nachgewiesen werden muss, dass er tatsächlich ein or-
dentliches Arbeitsverhältnis, das einem Werkvertrag ent-
spricht, hat. Insofern ist die Vermutungsregelung sehr
wichtig.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Anton Schaaf [SPD])


Die Vermutung, dass es sich um keinen ordentlichen
Vertrag handelt, ist dann gegeben, wenn die Materialien
und die Werkzeuge des Bestellers verwendet werden und





Klaus Ernst


(A) (C)



(D)(B)


nicht die des Unternehmens, in dem der Arbeitnehmer
eigentlich schafft, wenn der Unternehmer für das er-
brachte Ergebnis nicht haftet oder wenn der Unterneh-
mer in die Arbeitsorganisation oder das Arbeitsregime
des Bestellers einbezogen ist und selbstständig gar keine
Entscheidung zu treffen hat. Sie wissen, dass das mas-
senhaft der Fall ist.

Wir brauchen auch eine Regelung, um die Schein-
selbstständigkeit einzudämmen. Wir müssen klarstellen,
wann jemand scheinselbstständig ist. Wenn jemand re-
gelmäßig für dasselbe Unternehmen arbeitet und wei-
sungsgebunden ist,


(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Richtig!)


wenn jemand sonst keine unternehmerische Tätigkeit am
Markt ausübt,


(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Ja!)


wenn seine Tätigkeit der Tätigkeit entspricht, der er
möglicherweise vorher in demselben Unternehmen als
abhängig Beschäftigter nachgegangen ist, dann kann
man davon ausgehen, dass es sich um eine Scheinselbst-
ständigkeit handelt.

Herr Schiewerling, Sie haben vorhin bemängelt, es
gebe keine statistischen Angaben zu Werkverträgen. In
den beiden Vorlagen, in der Vorlage der SPD und in der
von uns, fordern wir, dass genau dies gesetzlich geregelt
wird. Wir wollen, dass erfasst wird, wie viele Werkver-
träge von Unternehmen abgeschlossen werden. Von Ih-
nen habe ich dazu nichts gehört, außer dass das nicht so
einfach ist. Auch die Einführung einer Generalunterneh-
merhaftung, die wir vorschlagen, wäre eine Möglichkeit,
das Ganze einigermaßen vernünftig zu regeln.


(Beifall bei der LINKEN)


Meine Damen und Herren, meine Kollegin Jutta
Krellmann hat die Bundesregierung in einer Kleinen An-
frage gefragt, ob sie nun endlich stärker gegen den Miss-
brauch von Werkverträgen vorgehen wolle. Sie hat die
Antwort bekommen – ich möchte sie zitieren –:

Die Bundesregierung sieht zum jetzigen Zeitpunkt
keinen Bedarf, den Abschluss von Werkverträgen
stärker zu regulieren. Unternehmen steht es im
Rahmen der geltenden Gesetze grundsätzlich frei
zu entscheiden, ob sie Tätigkeiten durch eigene Ar-
beitnehmer ausführen lassen oder Dritte im Rah-
men von Werkverträgen beauftragen.

So lautet die Antwort der Bundesregierung.

Dazu muss ich ganz deutlich sagen: Wenn diese un-
ternehmerische Freiheit dazu führt, dass massenhaft Be-
schäftigte und ihre Familien durch Lohndrückerei ent-
würdigt und in die Armut getrieben werden, dann leisten
Sie Beihilfe zur permanenten Ausbeutung. Das lassen
wir Ihnen nicht durchgehen, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1722215500

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Heinrich Kolb für

die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1722215600

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir

haben in Deutschland eine große Vielfalt von Beschäfti-
gungsformen. Ich bin sehr froh und glücklich, dass es
diese Vielfalt gibt. Es gibt sie nicht zuletzt deswegen,
weil die rot-grüne Regierung seinerzeit mit wegweisen-
den Reformen im Rahmen der Agenda 2010 die Wei-
chen dafür gestellt hat. Bedauerlich ist nur, dass die da-
mals Regierenden heute, da sie in der Opposition sind,
mit ihrem vormaligen Handeln nichts mehr zu tun haben
wollen; das will ich hier einmal feststellen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Wir haben ja in dieser Woche und in den letzten Wo-
chen in mehreren Aufzügen und mit unterschiedlichen
Akzentsetzungen das Schauspiel „Blame the govern-
ment“ erlebt. Ist diese Vielfalt von Beschäftigungsfor-
men jetzt eine Katastrophe oder ein Glücksfall? Ich habe
schon gesagt: Aus meiner Sicht ist sie ein Glücksfall.
Gerade in den letzten zwei Jahren konnten wir feststel-
len, dass diese Vielfalt von Beschäftigungsformen in
Deutschland zu der hohen Beschäftigungsquote, zu den
niedrigen Arbeitslosenquoten – vor allen Dingen der
niedrigen Jugendarbeitslosigkeit – und zu steigenden
Durchschnittslöhnen geführt hat. In dieser Ausprägung,
mit diesem Ergebnis ist die zu verzeichnende Vielfalt
von Beschäftigungsformen eine Bereicherung für den
Standort Deutschland.


(Johannes Kahrs [SPD]: Da klatscht ja keiner von den Regierungsfraktionen! – Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/ CSU – Gabriele Groneberg [SPD]: Sind Sie stolz darauf, dass wir Billiglohnland sind?)


– Einige mögen gedacht haben, dass ich jetzt noch mal
draufhaue; aber das will ich lassen.

Die mit Abstand häufigste Beschäftigungsform ist
immer noch die sozialversicherungspflichtige unbefris-
tete Vollzeitstelle.


(Steffen-Claudio Lemme [SPD]: „Immer noch“! Schlimm! Furchtbar!)


Ich finde das auch gut, und das soll auch in Zukunft so
bleiben.

Wichtig ist, dass daneben eine andere Beschäf-
tigungsform eine gute Vereinbarkeit von privaten
Erfordernissen und Beruf ermöglicht, nämlich die Teil-
zeitbeschäftigung. Manche verteufeln die Teilzeitbe-
schäftigung. Ich möchte sie daran erinnern: Dass man
die unterschiedlichen Erwartungshorizonte Privat/Beruf
mit Teilzeitbeschäftigung unter einen Hut bringen kann,
wurde in Deutschland vor nicht allzu langer Zeit noch
als große Errungenschaft gefeiert.

Die Zeitarbeit ist in Deutschland meiner Meinung
nach ein unverzichtbares Instrument am Arbeitsmarkt.


(Johannes Kahrs [SPD]: Aber der Missbrauch nicht! – Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir reden über Werkverträge!)






Dr. Heinrich L. Kolb


(A) (C)



(D)(B)


Für Einsteiger, aber auch für Wiedereinsteiger – nach
Arbeitslosigkeit, oft auch nach Langzeitarbeitslosigkeit –
ist die Zeitarbeit hervorragend geeignet, einen zukünfti-
gen Arbeitgeber von den eigenen Qualitäten zu überzeu-
gen, und auch eine Möglichkeit, verschiedene Beschäfti-
gungen auszuprobieren.

Mini- und Midijobs stellen vor allen Dingen für Schü-
ler, Studenten und Rentner eine bevorzugte Möglichkeit
dar, nebenher etwas zu verdienen.

All diese Beschäftigungsformen haben also ihre Be-
rechtigung neben der sozialversicherungspflichtigen
Vollzeitbeschäftigung, und das ist auch gut so.

Neben abhängiger Beschäftigung gibt es andere For-
men der Erwerbstätigkeit: die Selbstständigkeit. Selbst-
ständigkeit ist ohne Werkverträge undenkbar.


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es geht doch nicht darum, dass alle Werkverträge abgeschafft werden sollen!)


Herr Kollege Ernst, da haben Sie irgendwie einen
Denkfehler. Die Frage ist doch: Wie kommt es überhaupt
zu Werkverträgen? Ganz einfach: In einer arbeitsteiligen
Wirtschaft und Gesellschaft bekommt jemand, weil er
besser ausgebildet ist, schneller arbeiten kann, erfahre-
ner ist, weniger Fehler macht, effizienter arbeitet – auch
weil er die besseren Maschinen hat –, von einem anderen
einen Auftrag. Woanders produzieren zu lassen und da-
für mehr Geld auszugeben, wäre wirtschaftlich unsinnig,
Herr Ernst. Es ist für den Werkvertrag geradezu konstitu-
tiv, dass man billiger einkauft, als man selbst produzie-
ren könnte.


(Zuruf von der SPD: Wie kommen Sie auf die Idee, die Werkverträge machen das einfacher?)


Das ist nicht verwerflich. Wenn Sie Werkverträge pau-
schal diskreditieren wollen, dann ist das aus meiner
Sicht unlauter und zeigt, dass Sie ein Stück weit nicht
verstanden haben, wie die arbeitsteilige Produktion
funktioniert. Wenn am Ende jeder alles selbst macht,
dann sind wir wieder bei den Kombinaten, die über vier
Jahrzehnte in der DDR gezeigt haben, dass es so nicht
geht – jedenfalls nicht mit wirtschaftlichem Erfolg.

Herr Kollege Ernst möchte eine Zwischenfrage stel-
len.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1722215700

Herr Kollege Kolb, erlauben Sie eine Zwischenfrage

des Kollegen Ernst?


Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1722215800

Sicher, klar. Ich wäre sonst gleich zu Ende gewesen.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1722215900

Bitte.


Klaus Ernst (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1722216000

Sehr gern ermögliche ich Ihnen eine Verlängerung der

Redezeit.

Herr Kollege Kolb, Sie haben, wenn es um Mindest-
löhne ging, schon oft dargestellt, dass Sie ein extremer
Verfechter der Tarifautonomie sind.


Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1722216100

Ja.


Klaus Ernst (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1722216200

Es geht jetzt nicht um den normalen Werkvertrag,

sondern um den Missbrauch von Werkverträgen. Es ist
etwas anderes, ob eine Automobilfirma einem anderen
den Einbau der Fenster überträgt oder ob sie einem ande-
ren plötzlich die ganze Montage am Band überträgt –
und das, obwohl die Arbeitnehmer vorher im eigenen
Unternehmen beschäftigt waren. Ist Ihnen bewusst, dass
durch die Regelungen, um die es jetzt geht, Tarifverträge
ausgehebelt werden, weil der andere, wie Sie selbst sa-
gen, in der Regel billiger ist? Ist Ihnen das bewusst, und
liegt das in Ihrer Absicht? Können Sie sich vorstellen,
dass es, wenn Sie so argumentieren wie jetzt, Menschen
gibt, die sagen: „Wenn sich die FDP um die Qualität von
Tarifverträgen Sorgen macht, dann ist das so, als würde
sich die katholische Kirche um die Qualität von Kondo-
men sorgen“?


(Heiterkeit bei Abgeordneten der LINKEN und der SPD)


Können Sie das verstehen?


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1722216300

Herr Kollege Ernst, das kann ich Ihnen nicht bestäti-

gen. Sie hatten allenfalls insoweit recht, als dass uns die
Tarifautonomie in unserem Lande, also das, was in
freien Verhandlungen zwischen Arbeitgebern und Ge-
werkschaften an Vereinbarungen zustande kommt, am
Herzen liegt.

Das ist übrigens genau der Grund, warum die FDP in
dieser Legislaturperiode – aber auch schon in früheren
Legislaturperioden – Mindestlöhne auf der Basis von Ta-
rifverträgen für allgemeinverbindlich erklärt hat. Wir
haben ja mittlerweile für 4 Millionen Menschen in
Deutschland Mindestlöhne, alle auf der Basis von Tarif-
verträgen. Wenn Sie sich einmal informieren und genau
hinschauen, Herr Kollege Ernst, dann werden Sie fest-
stellen: Fast alle dieser Mindestlöhne sind unter Regie-
rungsbeteiligung der FDP zustande gekommen.


(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Das ist wahr!)


Deswegen ist es vollkommen unlauter, wenn Sie hier
den Eindruck erwecken, die FDP hätte ein Problem mit
der Anwendung von Tarifverträgen. Nein, wir haben in
einer ganzen Reihe von Branchen sogar Mindestlöhne
für allgemeinverbindlich erklärt. Sie wissen das eigent-
lich, Herr Kollege Ernst, und hätten deshalb nicht fragen
müssen.


(Stefan Rebmann [SPD]: Sie widersprechen sich am laufenden Band!)






Dr. Heinrich L. Kolb


(A) (C)



(D)(B)


– Nein, ich wiederhole am laufenden Band, weil ich die
Hoffnung habe, dass es Ihnen dann besser eingeht, Herr
Kollege. Man muss es Ihnen immer wieder sagen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Ihre Frage war aber, Herr Kollege Ernst – ich hoffe,
Sie geben mir weiter die Gelegenheit, zu antworten –:
Wie ist das an den Montagebändern? Aus meiner Sicht
findet Arbeitsteilung dann statt, wenn ein Subunterneh-
mer ein Gewerk günstiger erstellen kann als der Auftrag-
geber. Das muss nicht zwangsläufig dazu führen, dass
die Löhne bei dem Subunternehmer niedriger sind. Im
Gegenteil, ich glaube, dass durch Spezialisierung, durch
den wirtschaftlicheren Einsatz von Humankapital, aber
auch von Maschinen Spielräume entstehen, die ein Sub-
unternehmer nutzen kann und nutzen wird, insbesondere
dann, wenn er im Bereich Automobilbau, Maschinen-
bau, Elektrotechnik oder wo auch immer darauf ange-
wiesen ist, qualifiziertes Personal am Arbeitsmarkt zu
akquirieren und für seinen Produktionsprozess zu nut-
zen. Wir sprechen hier in der Regel nicht über große in-
dustrielle Unternehmen, sondern gerade auch über die
Beschäftigung von Handwerksunternehmen, die perso-
nalintensiv und auf einem hohen Qualifikationsniveau
stattfindet. Also, diese Spielräume müssen genutzt wer-
den.


(Johannes Kahrs [SPD]: Das hat mit der Frage nichts mehr zu tun!)


Ich möchte einen weiteren Aspekt ansprechen, um auf
Ihre Frage zu antworten. Die überwiegende Zahl der
Werkverträge ist auch bei genauem Hinsehen über jeden
Zweifel erhaben. Aber ich konzediere Ihnen, dass es eine
Reihe von Werkverträgen – hier bin ich sogar bereit, zu
sagen: sogenannten Werkverträgen – gibt, bei denen zu-
mindest die Vermutung naheliegt – wahrscheinlich ist
dies im Ergebnis auch zuzugestehen –, dass es sich dabei
überhaupt nicht um Werkverträge handelt. Dafür hat die
Rechtsprechung eine ganze Reihe von Merkmalen ent-
wickelt. Es würde zu weit gehen, im Rahmen der Beant-
wortung dieser Frage alle diese Kriterien vorzutragen.


(Heiterkeit und Beifall bei der FDP sowie des Abg. Max Straubinger [CDU/CSU])


Aber – so viel will ich noch sagen –: Ich finde es rich-
tig, dass es in unserem Rechtsstaat die Möglichkeit gibt,
im Einzelfall eine Überprüfung vornehmen zu lassen, ob
mehrere Merkmale zusammenkommen, die darauf
schließen lassen, dass kein Werkvertrag besteht, sondern
dass es sich möglicherweise um ein abhängiges Arbeits-
verhältnis handelt. Dazu braucht es übrigens keine Ver-
änderung der Rechtslage. Vielmehr bietet das bereits
heute bestehende Recht hinreichende Möglichkeiten. Ich
halte insbesondere die Möglichkeit, dass sich Arbeitneh-
mer an die Deutsche Rentenversicherung wenden kön-
nen, um den Status ihres Arbeitsverhältnisses überprüfen
zu lassen, für eine Errungenschaft unseres Sozialstaates.
Darin sollten Sie, Herr Kollege Ernst, mir eigentlich
recht geben und mit mir gemeinsam darauf stolz sein.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Nun weiß ich nicht, welche Aspekte Sie noch ange-
sprochen haben.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1722216400

Herr Kollege Kolb, zunächst einmal möchte ich mich

im Namen des Hauses für die Kürze Ihrer Antwort be-
danken


(Heiterkeit)


und bitte Sie, doch zum Ende zu kommen.


Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1722216500

Dann will ich nur noch so viel sagen: Wir stellen fest,

dass die Opposition bemüht ist, an den Ergebnissen die-
ser Regierung kein gutes Haar zu lassen. Ich stelle aber
fest: 29 Millionen sozialversicherungspflichtige Be-
schäftigungsverhältnisse, 41 Millionen Erwerbstätige in
Deutschland,


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Fast 42!)


die niedrigste Arbeitslosigkeit in ganz Europa – das sind
Ergebnisse, die Sie auch mit noch so vielen Attacken
nicht schlechtreden können, und das wissen und merken
auch die Menschen draußen im Lande.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1722216600

Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt das Wort die

Kollegin Beate Müller-Gemmeke.


(Johannes Kahrs [SPD]: Das kann ja nur besser werden!)



(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-
nen und Kollegen! Es ist wichtig, dass heute wieder zwei
Vorlagen zum Thema Werkverträge auf der Tagesord-
nung stehen. Auf den ersten Blick gibt es viele Über-
schneidungen zu unserem Antrag vom letzten Jahr. Wir
werden also genau prüfen und in den Ausschüssen be-
stimmt ausreichend diskutieren.

Heute geht es mir aber erst einmal ganz allgemein um
das Thema Werkverträge und um Überzeugungsarbeit in
Richtung der Regierungsfraktionen, insbesondere in
Richtung der FDP, Herr Kolb. Der Missbrauch von Werk-
verträgen ist Realität, und er nimmt schlichtweg zu. Da-
bei geht es uns nicht um die moderne arbeitsteilige Ar-
beitswelt, Herr Kolb, die Sie gerade angesprochen haben,
sondern es geht um die sogenannten Scheinwerkverträge.

Die Zustände in der Fleischwirtschaft sind hinläng-
lich bekannt. Im Einzelhandel kennen wir beispielsweise
die Regaleinräumerinnen und Regaleinräumer. Inzwi-
schen gibt es auch den kompletten Kassenbereich als
Werkvertrag. Das ist ein neueres Angebot. In der Druck-
branche werden ganze Schichten und Rotationsmaschi-
nen als Werkverträge vergeben. Der Fantasie ist hier
keine Grenze gesetzt. Genau dieser Trend muss endlich
gestoppt werden.





Beate Müller-Gemmeke


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Die entsprechenden Firmen werben offen und ohne
Skrupel. Ich zitiere ein Beispiel aus dem Internet:

Am Ende haben Sie vielleicht weniger eigene Mit-
arbeiter. Aber mit Sicherheit einen höheren Ge-
winn.

Diese Fakten sind bekannt. Allerdings sind allein die
Opposition und die Gewerkschaften alarmiert. Sie, die
Regierungsfraktionen – das muss heute wieder festge-
stellt werden –, ignorieren diese Fehlentwicklungen. Ins-
besondere die FDP erinnert dabei an die drei Affen, die
nichts sehen, nichts hören und auch nichts sagen. Verant-
wortungsbewusste Politik sieht unserer Meinung nach
anders aus.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Werkverträge stehen hoch im Kurs; denn damit wer-
den der Kündigungsschutz, die betriebliche Mitbestim-
mung, die tarifliche Bezahlung und somit der soziale
Schutz der Beschäftigten unterlaufen. Mit Werkverträ-
gen können die Arbeitgeber Urlaubsgeld, Sonderzahlun-
gen, Sonntags-, Feiertags- und Nachtzuschläge problem-
los einsparen. Im Einzelhandel liegen die Löhne bei den
Werkverträgen rund 45 Prozent unter den Tariflöhnen.
Hier geht es vor allem um Minijobs. Vor allen Dingen
gibt es häufig auch Arbeit auf Abruf. Das alles zusam-
men ist Lohndumping und Wettbewerb um die niedrigs-
ten Löhne. Das ist nicht akzeptabel.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Natürlich wird mit diesen zweifelhaften Werkver-
tragskonstruktionen auch die Leiharbeit umgangen. Wer
das nicht glaubt, muss nur ganz kurz im Internet nach
Seminaren Ausschau halten. Aktuell wird dort folgendes
Seminar angeboten: „Wunderwaffe Werkvertrag & an-
dere Alternativen zur Zeitarbeit“. In der Beschreibung
steht – ich zitiere in Auszügen –:

Unwirksame Tarifverträge und Lohnuntergrenzen:
Die Zeitarbeit wird für viele Unternehmen zuneh-
mend unattraktiv. Ein neuer Weg … sind Werkver-
träge … Doch bei dieser „Wunderwaffe“ gibt es
viele juristische Fallstricke … Sie erhalten vom Re-
ferenten Lösungsansätze für die rechtssichere Ge-
staltung von Werkverträgen …

In welcher Welt leben wir eigentlich? Da verdient
sich ein Jurist für 1 142,40 Euro pro Teilnehmer eine
goldene Nase mit Anleitungen für Lohndumping und zur
Tarifflucht, und Sie, die Regierungsfraktionen, verwei-
sen noch immer auf die unternehmerische Freiheit. Das
geht überhaupt nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Beim Thema Werkverträge geht es uns um den Wert
der Arbeit, aber auch um die Arbeitswelt insgesamt.
Wenn, bedingt durch Werkverträge, immer mehr Firmen
auf demselben Betriebsgelände arbeiten, zersplittern die
Belegschaften. Kollegialität und innerbetriebliche Soli-
darität werden zerstört, und es entstehen Konkurrenz,

Unsicherheit und Misstrauen. Die gewerkschaftlichen
Errungenschaften, die über lange Zeit hart erkämpft
wurden, existieren nur noch auf dem Papier. Das
schwächt nicht nur die Beschäftigten, sondern auch die
Betriebsräte und Gewerkschaften. Vor allem wird mit
dem Geschäftsmodell „Werkvertrag“ der jahrzehntealte
gesellschaftliche Konsens der Sozialpartnerschaft aufge-
kündigt. Das können Sie, die Regierungsfraktionen,
doch wohl nicht unterstützen. Werden Sie also Ihrer ge-
sellschaftlichen Verantwortung gerecht!

Wenn Sie schon keine Empathie für die Beschäftigten
und die Betriebsräte entwickeln können,


(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Das sagt die Richtige!)


dann denken Sie doch zumindest an die verantwortungs-
vollen Arbeitgeber, die ihre Beschäftigten fair behandeln
und ihnen auf Augenhöhe begegnen. Sie wollen beim
Wettbewerb um die niedrigsten Löhne nicht mitmachen.
Sie brauchen deshalb Schutz, damit sie nicht vom Markt
gedrängt werden. Wir brauchen also wieder soziale Leit-
planken auf dem Arbeitsmarkt, auch bei den Werkverträ-
gen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE])


Sehr geehrte Regierungsfraktionen, auch Frau Merkel
hat den Missbrauch von Werkverträgen – zumindest ver-
bal – entdeckt und meinte, darauf müsse man ein Auge
haben. Das ist natürlich zu wenig. Handeln ist angesagt.
Herr Schiewerling, Sie haben vorhin die Finanzkontrolle
Schwarzarbeit angesprochen. Da können Sie relativ
schnell etwas unternehmen. Es geht um eine bessere per-
sonelle Ausstattung. Es geht um Befugnisse. Es geht da-
rum, dass die Werkverträge wirklich zielgenau geprüft
werden.

Nehmen Sie die heutigen Vorlagen als Denkanstöße.
Lehnen Sie nicht alle Vorlagen wie im letzten Jahr re-
flexartig ab. Beenden Sie diese unsägliche Werkver-
tragskonstruktion. Jegliche Arbeit hat ihren Wert. Bei
Lohndumping hört die unternehmerische Freiheit
schlichtweg auf.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE])



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1722216700

Jetzt hat das Wort der Kollege Ulrich Lange für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Ulrich Lange (CSU):
Rede ID: ID1722216800

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Zunächst möchte ich – da knüpfe ich gerne an den Kolle-
gen Kolb an – einmal festhalten: Wir haben circa 29 Mil-
lionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte, den
höchsten Stand seit Jahrzehnten. Es gibt nur in einem





Ulrich Lange


(A) (C)



(D)(B)


ganz geringen Teil prekäre Beschäftigung. Wir haben ein
ständiges Anwachsen der Zahl sozialversicherungs-
pflichtiger Beschäftigungsverhältnisse.


(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Genau so ist es!)


Insgesamt gesehen geht es der Wirtschaft und den Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmern in diesem Lande
sehr gut.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich wehre mich – ich sage das auch im Lichte der De-
batte von heute Vormittag – schon dagegen, dass wir hier
den ganzen Tag nur eine negative Sicht auf unsere Wirt-
schaft und unsere Arbeitsverhältnisse zu hören bekom-
men.


(Widerspruch bei der SPD)


Das kann es nicht sein; denn insgesamt ist Deutschland
stark aus der Krise hervorgegangen. Angesichts der heu-
tigen europäischen Verhältnisse darf man das in dieser
Debatte einmal in dieser Deutlichkeit sagen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Muss man auch! – Zurufe von der SPD)


– Sie haben dazu beigetragen. Jetzt machen Sie sich vom
Acker, weil Sie die Agenda 2010 nicht mehr wahrhaben
wollen. Da nützt auch die rote Krawatte nichts mehr.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Johannes Kahrs [SPD]: Was ist denn das für einer? Wo haben sie denn den ausgegraben?)


Wir haben – darauf hat der Kollege Schiewerling hin-
gewiesen – natürlich das eine oder andere schwarze
Schaf, das das Instrument der Werkverträge missbraucht.
Aber ich will nicht meine Rede von vor einigen Wochen
wiederholen.


(Zurufe von der SPD)


Wir haben konkrete rechtliche Bestimmungen, was ein
Werkvertrag ist und was kein Werkvertrag ist.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Wir haben eine eindeutige Rechtsprechung dazu, was ein
Werkvertrag ist und was kein Werkvertrag ist. Wir haben
schon heute die Möglichkeit, zu kontrollieren, ob ein
Werkvertrag vorliegt oder nicht.


(Gabriele Groneberg [SPD]: Das glauben Sie ernsthaft, was Sie erzählen?)


Wir haben für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
immer noch die Möglichkeit der Statusanfrage bei der
Deutschen Rentenversicherung. Es ist also nicht so, dass
hier alles im Argen liegen würde.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Um Scheinwerkverträge zu verhindern, gibt es – das
ist vorhin schon angesprochen worden – den Zoll, die
Rentenversicherung, aber natürlich auch die Gerichte.

Ich habe es schon mehrfach gesagt: Ich habe Vertrauen
in unsere Judikative. Das möchte ich an dieser Stelle
deutlich unterstreichen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Johannes Kahrs [SPD]: Aber nicht in diese Bundesregierung! Das ist das Problem!)


– Kennen Sie die Unterschiede zwischen Exekutive, Ju-
dikative und Legislative? Ich kann Sie da gerne aufklä-
ren; dann machen wir hier ein Grundlagenseminar.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Zurufe von der SPD)


Eines ist natürlich auch klar: Bereits heute sind
Dienstleistungen unter dem Deckmantel eines Werkver-
trags illegale Zeitarbeit.

Nur, Kollege Ernst, was Sie vorhin hin und her gespielt
und hin und her geschmissen haben, ist eine klare Vermi-
schung von Werkvertrag und Zeitarbeit. Wenn Sie vorhin
die juristische Definition des Kollegen Schiewerling ge-
nau aufgenommen hätten, dann wäre Ihnen das nicht pas-
siert. Die Rechtsprechung hat klare Kriterien – ob die
Eingliederung oder das Weisungsrecht; ich will das nicht
alles wiederholen.

Insgesamt hat sich unser System der Werkverträge
zum Beispiel in der Automobilindustrie nicht nur beim
Einbau von Fenstern, sondern auch in der Zulieferung
bewährt. Natürlich – und auch hier ist unsere Ministerin
tätig – findet derzeit aufgrund der Debatte eine qualita-
tive Untersuchung statt. Das ist richtig.

Auch die Möglichkeiten im Sinne der Finanzkontrolle
Schwarzarbeit sind sicherlich auf der Tagesordnung.

Eines geht aber mit Sicherheit nicht: Das sind Ihre
Vermutungsregelungen oder gar der von Ihnen, den Lin-
ken, vorgeschlagene § 92 b BetrVG. Hier geht es schon
ganz massiv um einen Eingriff in die freie unternehmeri-
sche Entscheidung: Nehme ich einen Werkvertrag, kaufe
ich mir ein Werk zu oder produziere ich im Betrieb sel-
ber?


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch schon lange nicht mehr die Frage!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, es
führt überhaupt kein Weg hin zu Ihrem § 92 b. Wer
schon heute ins Betriebsverfassungsgesetz schaut, stellt
fest: § 80 Abs. 1 Nr. 8 betrifft die Beschäftigung im Be-
trieb,


(Anette Kramme [SPD]: Da fallen einem gleich die Ohren ab bei Ihrer Lautstärke!)


§ 90 Abs. 1 Nr. 3 die Beratungsrechte bei Arbeitsverfah-
ren und -abläufen, § 92 die Personalplanung, § 92 a die
Beschäftigungssicherung, § 106 den Wirtschaftsaus-
schuss und § 111 ff. Betriebsänderungen.


(Thomas Oppermann [SPD]: Nicht so laut! – Anette Kramme [SPD]: Uns fallen die Ohren ab!)






Ulrich Lange


(A) (C)



(D)(B)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, tun Sie bitte nicht
so, als ob wir nicht auch ausreichend Normen für die Re-
gelung der Mitbestimmung hätten.


(Anette Kramme [SPD]: Wir haben ein Recht auf Arbeitsschutz bei der Lautstärke!)


– Dann sollte leiser geschaltet werden.

Die spezialisierten Bereiche und die arbeitsteilige
Wirtschaft verlangen auch weiterhin die Möglichkeit der
Werkverträge. Missbrauch ist zu bekämpfen. Dafür ha-
ben wir Regelungen. Wir brauchen nicht reflexartig neue
Gesetze. Aber wir sollten dafür sorgen, dass der Wirt-
schaftsstandort Deutschland weiterhin die Arbeitsplatz-
garantie für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bie-
tet, wie wir sie heute haben.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Niedrige Löhne durch die CDU/CSU!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1722216900

Das Wort hat jetzt der Kollege Josip Juratovic von der

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD – Anton Schaaf [SPD]: Der macht nicht nur Lärm! Der sagt auch was!)



Josip Juratovic (SPD):
Rede ID: ID1722217000

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Unser Land ist sehr reich und wird auch von
außen von vielen so betrachtet und bewundert.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Doch wenn man aus der Nähe hinschaut, sieht man: Un-
ser Land ist auch reich an Ungerechtigkeit.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: So gut begonnen!)


Es ist ein Skandal, dass Menschen in unserem Land
über einen Werkvertrag für beispielsweise 173 Euro im
Monat im Akkord Tiere schlachten. Es ist ein Skandal,
dass in unserem Land über 300 000 Menschen zum Ar-
beits- und Sozialamt müssen, um aufzustocken.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das hat die SPD eingefädelt!)


Es ist auch ein Skandal, dass dieser Bundesregierung
nicht jeder Mensch in unserem Land gleich viel wert ist.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Würde vieler Menschen wird durch den Missbrauch
auf dem Arbeitsmarkt mit Füßen getreten, von der Wert-
schätzung der Arbeit und der Wertschätzung der Men-
schen ganz zu schweigen.

Die Solidarität und der Zusammenhalt in unserer Ge-
sellschaft sind durch die Spaltung des Arbeitsmarktes,

durch prekäre Beschäftigung gefährdet. Denn viele Ar-
beiter mit Werkverträgen werden sowohl im Betrieb als
auch in der Gesellschaft stigmatisiert. In den Betrieben
gibt es ein Vier-Kasten-System: die Angestellten ganz
oben, die Stammbelegschaft, dann befristete Beschäf-
tigte und Neueinsteiger und ganz unten Leiharbeiter und
Arbeitnehmer mit Werkverträgen. Bei der Bank erhalten
sie keinen Kredit. Auch Mietverträge sind schwierig zu
bekommen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Werkverträge waren
ursprünglich dazu gedacht, Dienstleistungen, die nichts
mit dem Unternehmen direkt zu tun haben – zum Bei-
spiel die Wartung von Aufzügen –, an andere Unterneh-
men zu vergeben. Mittlerweile sind Werkverträge jedoch
zum Kalkulationsgegenstand der Unternehmen gewor-
den, um Lohnkosten zu drücken.

Wir müssen klarstellen, dass die Kalkulation mit pre-
kärer Beschäftigung weder tüchtig noch besonders
schlau ist.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Es ist vielmehr unredlich, Wettbewerb auf Kosten der
Schwächsten und der Allgemeinheit zu betreiben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Auch die anständigen Unternehmer, die ihre Mitarbei-
ter fair bezahlen, leiden unter Dumpingmethoden der
ausbeuterischen Unternehmer, weil sie durch den Wett-
bewerb unter Druck geraten. Es ist bemerkenswert, dass
selbst vermeintlich arbeitgebernahe Parteien wie die
Union und die FDP die ehrlichen Unternehmer nicht vor
unanständiger Billigkonkurrenz schützen.


(Gabriele Groneberg [SPD]: Ja!)


Es ist unerträglich, dass die Arbeitsministerin von der
Leyen zwar geübt vor Kameras ihr Mitgefühl für die
Umstände und Zustände in diesem Land zum Ausdruck
bringt. In der Bundesregierung unternimmt sie aber rein
gar nichts, um den Menschen zu helfen und sie vor Miss-
brauch zu schützen. Oder kann sie sich nicht durchset-
zen? Das kann ich jetzt nicht einschätzen.


(Anton Schaaf [SPD]: Beides!)


Die Menschen in unserem Land brauchen endlich Si-
cherheit durch Gesetze statt Mitgefühl und Appelle.


(Beifall bei der SPD)


Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP, es ist
peinlich, welch scheinheilige Argumente Sie hier vor-
bringen. Einmal wissen Sie nicht, wie viele tatsächlich
davon betroffen sind, als ob es nicht um jeden Bürger in
unserem Land geht, der geschützt werden muss, dann
verstecken Sie sich hinter Tarifautonomie und Mitbe-
stimmungsrechten, und dann erklären Sie uns hier was
von Informationsrechten. Dann wandeln Sie doch diese
Informationsrechte in Mitbestimmungsrechte um! Dann
haben wir das Problem gelöst.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN)






Josip Juratovic


(A) (C)



(D)(B)


Wir brauchen Regeln für einen fairen Wettbewerb;
denn ohne Regeln für einen Wettbewerb – ob in der
Wirtschaft oder im Sport – gibt es Chaos. Unser SPD-
Antrag gibt diese Regeln für einen fairen Wettbewerb
vor, damit die Menschen in unserem Land, in unserem
reichen Land, wieder Gerechtigkeit erfahren.

Ich bin kein Jurist und rede daher nicht nur über
Recht. Mir als ehemaligem Arbeiter ist das Gespür für
Gerechtigkeit wichtig. Deshalb setze ich mich dafür ein,
der Gerechtigkeit Recht zu verschaffen. Unser SPD-
Antrag ist ein wichtiger Schritt dazu. Ich bitte Sie des-
halb um Ihre Unterstützung. Hier handelt es sich um die
Schwächsten in unserer Gesellschaft.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1722217100

Das Wort hat jetzt der Kollege Johannes Vogel von

der FDP-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)



Johannes Vogel (FDP):
Rede ID: ID1722217200

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Nach einer aufgeheizten Grundsatzdebatte heute Morgen
über Grundfragen von Armut und Reichtum und Gerech-
tigkeit sind wir jetzt wieder in den Details der Fachpoli-
tik angekommen.


(Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Das ist jetzt auch nicht besser!)


– Nein, beides ist wichtig, Frau Kollegin. Man hat aber
bei dem Thema, das Sie wählen, den Eindruck, Sie sind
ein Stück weit auf der Suche nach etwas Neuem. Es geht
ja hier im Kern auch um die Abgrenzung zwischen Zeit-
arbeit und Werkverträgen und um die Frage, wird mög-
licherweise das eine ausgenutzt, um das andere zu um-
gehen. Was Sie vielleicht auch im Sinne unserer guten
Debattenkultur für sich noch ein bisschen klären sollten,
ist, wie eigentlich Ihr Blick auf Zeitarbeit ist.


(Zuruf von der FDP: Ja!)


Gestern hatten wir eine Aktuelle Stunde, und da ha-
ben Sie, obwohl – das haben wir ja gestern schon disku-
tiert – in dem konkret diskutierten Fall mehr als der von
Ihnen geforderte Mindestlohn gezahlt wurde, im Kern
suggeriert: Zeitarbeit ist per se Lohndumping, das ist
Ausbeutung.


(Zuruf von der CDU/CSU: Ja, genau!)


Heute legen Sie uns einen Antrag vor, liebe Kolleginnen
und Kollegen von der SPD, in dem es heißt – ich
zitiere –:

Für die Leiharbeit existiert mittlerweile ein Min-
destlohn.

Deshalb „war“ – nicht ist – die Zeitarbeit „ein Instru-
ment zum Lohndumping“ und sei heute für Unterneh-
men unattraktiver.

Also, gestern sagten Sie noch, Zeitarbeit ist
Lohndumping, und heute legen Sie einen Antrag vor, der
das Gegenteil behauptet. Ich glaube, es wäre uns allen
geholfen, wenn Sie sich entscheiden würden, liebe Kol-
leginnen und Kollegen von der SPD.


(Zurufe von der FDP: Ja, ja! Das ist sowieso Lyrik, der Antrag!)


Sie machen sich Gedanken darüber, wie man verhin-
dern kann, dass Menschen aus der Zeitarbeit in Schein-
werkverträge – unabhängig davon, ob das häufig oder
selten der Fall ist – gedrängt werden. Das impliziert,
dass Sie offenbar erkannt haben, dass die Zeitarbeit, so
wie wir sie reguliert haben, per se nichts Schlechtes
mehr ist. Es wäre schön, wenn Sie das offen zugestehen
würden. Dann könnten Sie uns solche Debatten in Zu-
kunft ersparen. Zumindest in diesem Wahljahr sollten
Sie sich irgendwann einmal entscheiden.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das könnten Sie jetzt in einer Zwischenfrage machen!)


Kommen wir zum allgemeinen Thema Werkverträge
zurück.


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist nett!)


– Bitte, Frau Kollegin, gern geschehen. – Ich glaube, ich
muss das nicht ausführlich ergänzen, was der Kollege
Kolb eben kompakt und im Überblick zur allgemeinen
Bedeutung der Werkverträge in unserer Wirtschaft aus-
geführt hat. Im Kern geht es um arbeitsteiliges Wirt-
schaften. Das ist grundsätzlich Quelle des menschlichen
Fortschritts. Damit ist nicht zu spaßen. Das sollte nicht
kaputt gemacht werden. So verstehe ich Sie aber auch
nicht. Ihnen geht es darum, Scheinwerkverträge auszu-
merzen, und zwar dort, wo faktisch Arbeitnehmerüber-
lassung durch das Instrument des Werkvertrags stattfindet.
Ich sage Ihnen: Darin sind wir uns einig. Das wäre ein
Missbrauch des Instruments Werkvertrag. Aber dieser
Missbrauch ist schon heute illegal.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es gibt klare Kriterien in der Rechtsprechung, die eine
Abgrenzung ermöglichen.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Die reicht nicht aus! Das ist ja das Problem! – Beate MüllerGemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und warum breitet sich das massenhaft aus?)


Weder gibt es Daten, die fundiert belegen, dass hier
systematischer Missbrauch in relevanter Zahl stattfindet
– deshalb ist es richtig, dass das Bundesarbeitsministe-
rium genau prüft, ob es sich hier tatsächlich um substan-
ziell begründbare Sorgen handelt –, noch machen Sie
deutlich, welche zusätzlichen Kontrollmöglichkeiten er-
forderlich sind. Sie legen ein Sammelsurium an Maß-
nahmen vor. Ich greife eine heraus: die Beweislastum-





Johannes Vogel (Lüdenscheid)



(A) (C)



(D)(B)


kehr. Sie soll wieder eingeführt werden. Das gab es
schon einmal, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
Linken. Sie haben das schon in einem Antrag aus dem
letzten Jahr gefordert. Ich zitiere die Aussagen der Ex-
perten in der Anhörung zu diesem Instrument: Es sei un-
verhältnismäßig und unzumutbar, schaffe Rechtsunsicher-
heit,


(Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Das war der alte Antrag! – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Eure Leute! – Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und was haben die anderen Experten gesagt?)


führe zu unüberwindlichen Problemen in der Praxis und
zu einem unbürokratischen Mehraufwand, der untragbar
sei. – Bis heute sind Sie schuldig geblieben, zu belegen,
was sich daran geändert haben soll. Sie werfen in Ihren
Vorlagen zum Teil Fragen wieder auf, die die Bundesre-
gierung in ihrer Antwort auf Ihre Anfrage schon beant-
wortet hat.

Sie werden für die zweite und dritte Lesung im Aus-
schuss nachlegen müssen. Wir sind ganz gespannt und
freuen uns auf die vertiefte Beratung. Ich freue mich,
wenn die Debatte zumindest zu dem Ergebnis führt, dass
Sie die Zeitarbeit in Zukunft nicht mehr diskreditieren.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Sie ist diskreditiert! Das brauchen wir nicht zu machen!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1722217300

Für die SPD-Fraktion hat jetzt das Wort die Kollegin

Gabriele Groneberg.


(Beifall bei der SPD)



Gabriele Groneberg (SPD):
Rede ID: ID1722217400

Vielen Dank, Herr Präsident. – Sehr geehrte Damen

und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine
Kollegin hat vorhin gesagt, dass es eine regelrechte
Welle des Missbrauchs von Werkverträgen gibt. Wenn
ich meine Region betrachte, dann muss ich sagen, dass
es sich hier um Wellenberge handelt. Das ist bei Ihnen
noch gar nicht richtig angekommen. Diese Praxis ist in
den Schlachtbetrieben mittlerweile Tagesgeschäft. Sie
hat sich ausgeweitet. Seit Jahren werden nun Aufgaben
für gelernte Schlachter, also Fachkräfte, outgesourct. Sie
sind zu teuer. Die Arbeit wird im Rahmen von Werkver-
trägen auf andere Unternehmen, die dann aber im
Schlachthof tätig sind, verlagert; das ist Fakt. Die Größe
der Stammbelegschaft im Verhältnis zu Werkvertrags-
arbeitern beträgt vielfach nur noch ein Fünftel. Das, Herr
Kolb, sollten Sie sich wirklich einmal auf der Zunge zer-
gehen lassen.

Die Arbeitskräfte findet man überwiegend in Osteu-
ropa. Sie folgen falschen Versprechungen in Bezug auf
die Arbeitsbedingungen, den Verdienst und die Wohnsi-
tuation. Sie sprechen kein Deutsch und sind auf die Ein-
peitscher des Unternehmens angewiesen. Stundenlöhne
von 3 bis 5 Euro sind die Regel. Erhalten die Betreffen-

den mehr, wird ihnen spätestens bei der Gestellung der
Wohnmöglichkeit das Fell über die Ohren gezogen. Mit
bis zu acht Leuten auf 20 Quadratmetern, mieseste hy-
gienische Bedingungen, Arbeitszeiten, die nichts mit ei-
nem Achtstundentag zu tun haben – das ist keine Selten-
heit. Muckt jemand auf oder verletzt sich jemand bei
seiner Tätigkeit, wird er umgehend in sein Heimatland
zurückgeschickt. Betriebsräte? – Kaum vorhanden!


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist aber illegal, Frau Kollegin!)


Gewerkschafter, die hier zu helfen versuchen, die die
Öffentlichkeit immer wieder über diese Zustände infor-
mieren, werden ausgegrenzt, mit Drohungen und Klagen
überzogen.


(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Dafür gibt es Gesetze!)


Diese Methoden haben sich etabliert. Wenn es nicht
so wäre, liebe Kolleginnen und Kollegen, würden nicht
die Schweine aus Dänemark zum Schlachten ins Billig-
lohnland Deutschland gebracht werden. Darauf kann
man doch wohl nicht stolz sein.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Meines Erachtens ist es eine Schande für den Wirt-
schaftsstandort Deutschland, dass wir uns so etwas leis-
ten, vor allem in Bezug auf den sozialen Standort
Deutschland.

Sicherlich handelt es sich hierbei um Missbrauch.


(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Was?)


Aber es ist so, dass wir nicht die Kontrollmöglichkeiten
haben, um diesem Missbrauch entsprechend zu begeg-
nen, Herr Kolb.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Haben wir die nicht? Natürlich haben wir die! Die gibt es!)


Im Gegensatz zu Ihnen, Herr Kolb, haben das die Men-
schen im meiner Region begriffen, und sie beginnen,
sich dagegen zu wehren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Den Ausschlag gaben eine umfassende, deutliche Hin-
tergrundreportage der örtlichen Presse – den Journalisten
sei von dieser Stelle aus gedankt –, scharfe zustimmende
Reaktionen vonseiten der Kirche und eine Veranstaltung
der Gewerkschaft NGG mit rund 400 Menschen, die
deutlich machte: Wir hier werden diese Verhältnisse
nicht mehr tolerieren.

Was ist daraufhin passiert? – Mafiareife Reaktionen:
Gewerkschafter, Oberstaatsanwalt und der Kirchenmann
werden bedroht. Prälat Kossen, der in dankenswerter
Weise klare Worte zum Umgang mit den Arbeitnehmern
gefunden hat, wird ein totes Kaninchen als Drohung vor
die Haustür gelegt. – Ja, wo sind wir denn hier? Das geht
doch wohl nicht so.





Gabriele Groneberg


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das geht auch nicht!)


Jetzt müsste auch dem Letzten der Ernst der Lage,
insbesondere mit Blick darauf, mit wem man es hier zu
tun hat, deutlich werden. Hier muss endlich etwas pas-
sieren. Wir als SPD solidarisieren uns mit allen, die ge-
gen diese Missstände kämpfen.

Auf einmal geht auch einiges. Die Landkreise und
Kommunen haben endlich Mittel und Wege gefunden,
besonders auffällige Wohnsituationen zu kontrollieren
und zu beseitigen.


(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Das Gesetz funktioniert also! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Geltendes Recht!)


Nun zu glauben, damit wären diese Missstände behoben,
ist falsch. Jetzt findet man die Arbeitnehmer in umzäunten
ehemaligen Kasernengebäuden. Versuche von Pressever-
tretern und Gewerkschaftsvertretern, mit den Menschen
dort Kontakt aufzunehmen, scheitern am Sicherheitsper-
sonal des Betreibers. Ich bitte Sie!

Herr Schiewerling, hier geht es eben nicht mehr um
unternehmerische Freiheit. Was hier passiert, ist auch
eindeutig ein Werteverfall, ein Verfall von Werten, die
einen anständigen Umgang mit den Menschen gebieten
sollten.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Und von Sitte!)


Gerade auch Sie als Katholik – ich spreche Sie an –
müssten wirklich absolut dagegen sein.


(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Was ist mit den Protestanten?)


Der Wertekonsens, den wir einmal hatten, wird hier ein-
seitig von Verantwortlichen in der Fleischwirtschaft auf-
gekündigt. Es ist aber deutlich geworden, dass das mitt-
lerweile auch in anderen Bereichen der Fall ist.

Wir legen heute einen Antrag vor, mit dem erreicht
werden soll, deutlich mehr mögliche Maßnahmen gegen
diese Machenschaften in die Hand zu bekommen, um
hier wirksam tätig werden zu können,


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das steht aber gerade nicht darin!)


und zwar vonseiten der Behörden, die sagen: Wir brau-
chen dringend einen größeren Handlungsrahmen, wir
brauchen hier mehr Wirkungsmöglichkeiten.

Ich erwarte von allen aus den Reihen der CDU, von
der Kanzlerin über den CDA-Bundesvorsitzenden bis
hin zu meinem Kollegen, dem Wahlkreisabgeordneten
Franz-Josef Holzenkamp, sich nicht nur offiziell mit
Worten gegen diese Verhältnisse zu wehren und sie zu
kritisieren, sondern sich unserem Antrag anzuschließen
und endlich ganz schnell Schluss mit dieser Art von
Menschenhandel zu machen. Ich erwarte von Ihnen
nicht nur einen Workshop und noch einen Workshop,
sondern den Mut, sich dagegen zu wehren und entspre-
chend zu handeln.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1722217500

Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt

hat jetzt die Kollegin Gitta Connemann von der CDU/
CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Gitta Connemann (CDU):
Rede ID: ID1722217600

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sagt Ih-

nen die Klamottenkiste noch etwas?


(Zurufe: Ja!)


– Wunderbar. Die Klamottenkiste war eine Slapsticks-
Serie. Alte Filme wurden aus der Versenkung herausge-
holt. Sie wurden abgestaubt und dann wieder verwertet.

Genau an diese Klamottenkiste erinnern mich die
heute zu beratenden Vorlagen von den Linken und der
SPD.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Die sind sehr gut!)


Bei den Linken ist das nicht neu. Inzwischen – das kon-
zediere ich voller Hochachtung –, sind Sie die Meister
des Recyclings. Immer wieder legen Sie dieselben An-
träge vor.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Schade um das Papier! – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Bis ihr es abschreibt!)


Das einzige, was wechselt, ist der Titel und natürlich die
Schuldigen, und zwar sind es in dem heutigen Fall die
Werkunternehmer. Dazu heißt es in Ihrem Antrag ganz
markig – –


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Da könnte man doch einfach eine neue Antragsnummer darauf schreiben und so Papier sparen! – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Bei der Praxisgebühr haben Sie auch dreimal den gleichen Antrag gebracht! – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Ihr braucht doch einen Ideengeber!)


– Es gibt ein wunderbares Sprichwort: Mit Schreien
wirst du es nicht erreichen. – Kommen Sie einfach ein
bisschen herunter.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Ich wollte doch gerade aus Ihrem Gesetzentwurf zi-
tieren. Da heißt es sehr markig:

Werkverträge werden von Unternehmen miss-
braucht, um Löhne und Gehälter zu drücken.

Das ist der erste Satz.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Genau so ist es! – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Genau so ist es!)


– Lieber Herr Ernst, mit diesem Generalverdacht stellen
Sie jeden Malermeister, jeden Kfz-Betrieb in die





Gitta Connemann


(A) (C)



(D)(B)


Schmuddelecke; denn der Werkvertrag ist die Grundlage
des deutschen Handwerks. Das nenne ich absolut infam.

Aber wozu sollten Sie auch differenzieren oder sich
informieren? Wenn Sie dies getan hätten, dann wüssten
Sie, dass die von Ihnen geforderte Ausweitung der Mit-
bestimmungsrechte ein übermäßiger Eingriff in die un-
ternehmerische Freiheit und damit verfassungswidrig ist.
Aber dies interessiert Sie wie immer nicht.


(Gabriele Groneberg [SPD]: Wenn durch die unternehmerische Freiheit die Rechte von Menschen ausgenutzt werden, muss man sie begrenzen!)


Überrascht hat mich allerdings das Vorgehen der
SPD. Ich schätze Sie, liebe Frau Kramme, wirklich als
Arbeitsrechtlerin. Aber hier haben Sie Ihre Hausaufga-
ben nicht gemacht; denn das was Sie heute fordern, hatte
die SPD schon 1998 wortgleich zum Gesetz gemacht
und dann selbst wieder abgeschafft, übrigens gemeinsam
mit den Grünen.

Ich sage nur Eismann: Der Hersteller von Tiefkühl-
kost hatte seine Verkaufsfahrer kurzerhand zu selbststän-
digen Unternehmern umdeklariert. Die Männer mieteten
sich von Eismann ihren Lkw, bekamen ein Verkaufsge-
biet und lieferten dort auf festgelegten Routen aus. Dies
hatte natürlich überhaupt nichts mit einem selbststän-
digen Unternehmer zu tun. Sie waren eindeutig Schein-
selbstständige.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So ist es!)


So stellte es dann eben auch der Bundesgerichtshof auf
Grundlage des geltenden Gesetzes fest. Das Gesetz
funktionierte also.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Dennoch nahm 1998 Rot-Grün diesen Fall zum An-
lass für ein Gesetz zur Bekämpfung der Scheinselbst-
ständigkeit.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Auch das hat Schiffbruch erlitten!)


Da wurde genau das getan, was Sie heute fordern: Es
wurde ein Katalog von Kriterien im Gesetz verankert.
Wenn zwei, später drei davon vorlagen, wurde die
Scheinselbstständigkeit vermutet. Das Gesetz war sicher-
lich gut gemeint; aber es war vollkommen untauglich.
Journalisten, Programmierer, Grafiker, Rechtsanwälte
usw. sahen sich plötzlich mit der Forderung konfrontiert,
ihre Selbstständigkeit nachweisen zu müssen. Vor allen
Dingen Existenzgründern fiel dies unendlich schwer. Bei
den damaligen Regierungsparteien von Rot-Grün setzte
sich sehr schnell die Erkenntnis durch, dass das Gesetz
die erwünschten Unternehmensgründungen behinderte.
Nachbesserungen halfen nicht, und am Ende stampfte
Rot-Grün dieses Gesetz wieder ein. Die Kriterien wur-
den abgeschafft und die Beweislast wieder umgekehrt.
Seitdem, seit 2002, gilt die heutige Rechtslage.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Haben Sie das vergessen, liebe Kolleginnen und Kol-
legen von der SPD?


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Rot-grüner Murks!)


Oder haben Sie geglaubt, dass wir das vergessen würden?
Offensichtlich, denn Sie fordern heute exakt dasselbe,
was Sie 2002 in die Tonne getreten haben. Dies ist mir
nicht verständlich.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Mangel an Fantasie! Der Fachkräftemangel in der Opposition ist eklatant!)


Das zeigt leider auch, dass nicht jeder aus Erfahrung
klug wird. Dies ist aber auch Ausdruck Ihrer Hilflosig-
keit bei dem Thema der heutigen Debatte, nämlich dem
Missbrauch von Werkverträgen. Fakt ist, dass dieses
Thema vor einigen Monaten von den Linken entdeckt
worden ist.


(Gabriele Groneberg [SPD]: Das ist Unfug! – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Von den Gewerkschaften!)


Sie war auf der Suche, nachdem die Zeitarbeit als Buh-
mann ausrangiert worden war. Hinsichtlich der Zeitar-
beit hatten wir – der Kollege Vogel hat zutreffend darauf
hingewiesen – die Regelungen verschärft und eine Lohn-
untergrenze eingeführt. Seit diesem Jahr gelten übrigens
Branchenzuschläge. Dies alles wurde geschaffen von der
christlich-liberalen Koalition.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zurufe von der LINKEN)


Der Blick der Linken fiel auf den Werkvertrag, der
seit 1900 im Bürgerlichen Gesetzbuch verankert ist. Die-
ser hat 112 Jahre deutscher Politik überstanden. Aber
jetzt kommen die Linken, und die SPD lässt sich leider
verleiten. Dies bedauere ich; denn Daten über den Miss-
brauch oder die tatsächliche Ausbreitung von Werkver-
trägen gibt es nicht. Es gibt also keine validen Unterla-
gen, sondern die Angaben gehen im Wesentlichen auf
Umfragen zurück – es gibt eine DGB-Umfrage –, und
zum Teil geht es auch um Vermutungen.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Dann macht doch etwas dagegen! Ihr regiert doch!)


Diese Vermutungen erhalten ohne Frage Nahrung
durch aufrüttelnde Medienberichte insbesondere aus der
Fleischwirtschaft. Schlachtung und Zerlegung erfolgen
dort übrigens nicht erst seit drei Jahren durch Drittfirmen,
sondern das erfolgt in dieser Form auch schon seit 1900,
und zwar auf der Grundlage des damaligen Preußischen
Schlachthofgesetzes.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Hört! Hört!)


Damals wurde den Gemeinden ermöglicht, Verträge mit
Metzgern zu schließen, die dann nicht als Arbeitnehmer,
sondern als Werktätige tätig wurden.

Seit 30 Jahren ist das Outsourcen von Schlachtung und
Zerlegung in der Fleischbranche allgemein üblich. Das
Bundesarbeitsgericht, liebe Frau Kollegin Groneberg,
hat sich mehrfach mit diesem Vertragskonstrukt beschäf-





Gitta Connemann


(A) (C)



(D)(B)


tigt und hat zuletzt im Jahr 2007 gesagt: Dieses Vertrags-
konstrukt ist rechtlich völlig in Ordnung.


(Gabriele Groneberg [SPD]: Es geht nicht um das Vertragskonstrukt, sondern um den Missbrauch!)


Inzwischen haben natürlich – hier gebe ich Ihnen Recht –
diese Drittfirmen ihren Sitz im europäische Ausland;
denn – auch das gehört zur Wahrheit – es finden sich
trotz guter Bezahlung kaum noch deutsche Mitarbeiter,
die diesen Knochenjob machen wollen. Das verstehe ich.
Ich würde es auch nicht machen wollen.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Vielleicht liegt es am Geld!)


Es gibt Berichte über menschenunwürdige Unterbrin-
gung, über Ausbeutung dieser Mitarbeiter – ähnlich wie
bei Amazon. Auch hier gilt – und das sage ich sehr deut-
lich im Namen meiner Fraktion –: Jedem Verdacht muss
nachgegangen werden. Schuldige müssen mit aller Härte
bestraft werden. Aber dafür brauchen wir eines: Kon-
trolle, Kontrolle, Kontrolle. Diese findet statt. Insbeson-
dere für meinen Wahlkreis kann ich dies sagen. Auch in
meinem Wahlkreis habe ich einen Schlachthof: den
Schlachthof Weidemark.


(Gabriele Groneberg [SPD]: Einen!)


Dort finden regelmäßig unangemeldete Kontrollen statt.
Es gibt mit den Verantwortlichen vor Ort einen runden
Tisch. Dort sind über 103 Veterinäre und Fleischbe-
schauer tätig. Lieber Herr Ernst, ich empfehle Ihnen,
sich solche Betriebe anzuschauen und nicht über sie zu
reden. Ich lade Sie herzlich ein, mit mir diesen Betrieb
anzusehen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das stelle ich mir schön vor, wenn die beiden gemeinsam auftreten! – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Das mache ich! – Gegenruf des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Dann lasst mich sein im Bunde der Dritte!)


Es gibt aber keinen Anlass, um den Werkvertrag in
Gänze infrage zu stellen; denn Werkverträge sind unver-
zichtbar in unserem arbeitsteiligen Wirtschaftsleben. Sie
sind Ausdruck der Spezialisierung der Betriebe, die es
den Betrieben überhaupt erst ermöglicht, wettbewerbs-
fähig zu sein und zu bleiben. Anlass dafür ist nicht der
Wunsch nach Tarifflucht, sondern in der Regel die Diffe-
renzierung der Wertschöpfungskette, manchmal auch
das fehlende Know-how oder auch Sicherheits- und
Qualitätsaspekte.

Sicherlich gibt es auch Missbräuche, ohne Frage.
Aber für diese Missbräuche gilt eins: Sie sind heute
schon gesetzlich verboten. Das heißt, Ihr Gesetz könnte
an dieser Stelle überhaupt nicht nachschärfen.


(Gabriele Groneberg [SPD]: Selbstverständlich!)


Missbrauch ist verboten. Das einzige, was wir brauchen,
ist tatsächlich: Kontrolle, Kontrolle, Kontrolle.


(Gabriele Groneberg [SPD]: Reden Sie einmal mit den Kontrollbehörden!)


Hierauf müssen wir ein Auge haben. Das hat auch un-
sere Bundeskanzlerin deutlich gemacht, übrigens auch
die Ministerin von der Leyen.

Ob eine Scheinselbstständigkeit vorliegt, kann immer
nur das Gericht feststellen,


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So ist es! Richtig!)


und zwar in jedem Einzelfall und nicht holzschnittartig.
Das hat auch das Bundesverfassungsgericht festgestellt,
mit dem ich enden will. Es hat die vorliegenden Formu-
lierungen als notwendig herausgestellt, und zwar mit fol-
gender Begründung – ich zitiere –:

… da es gerade der … Rechtsfigur … zu verdanken
sei, dass die Vorschriften über die Versicherungs-
und die Beitragspflicht … mit ihrer Konkretisie-
rung durch die Rechtsprechung und Literatur über
Jahrzehnte hinweg auch bei geänderten sozialen
Strukturen ihren Regelungszweck erfüllen und ins-
besondere die Umgehung der Versicherungs- und
Beitragspflicht zum Nachteil abhängig beschäftig-
ter Personen verhindern konnten.

So sagt es das Bundesverfassungsgericht. Dem gibt es
nichts hinzuzufügen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1722217700

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 17/12378 und 17/12373 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a bis 9 c auf:

a) – Zweite und dritte Beratung des von den Frak-
tionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent-
wurfs eines Zweiundzwanzigsten Gesetzes
zur Änderung des Bundeswahlgesetzes

– Drucksache 17/11819 –

– Zweite und dritte Beratung des von den Abge-
ordneten Halina Wawzyniak, Dr. Dagmar
Enkelmann, Jan Korte, weiteren Abgeordneten
und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten
Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung
des Bundeswahlgesetzes

– Drucksache 17/11821 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Innen-
ausschusses (4. Ausschuss)


– Drucksache 17/12417 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Grindel
Gabriele Fograscher
Dr. Stefan Ruppert





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)


Halina Wawzyniak
Wolfgang Wieland

b) – Zweite und dritte Beratung des von der Frak-
tion der SPD eingebrachten Entwurfs eines …
Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes

(Artikel 28 Absatz 1)


– Drucksache 17/1047 –

– Zweite und dritte Beratung des von den Abge-
ordneten Memet Kilic, Josef Philip Winkler,
Ingrid Hönlinger, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur

(Artikel 28 Absatz 1 – Kommunales Ausländerwahlrecht)


– Drucksache 17/1150 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Innen-
ausschusses (4. Ausschuss)


– Drucksache 17/12424 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Ingo Wellenreuther
Rüdiger Veit
Serkan Tören
Sevim Dağdelen
Wolfgang Wieland

c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Innenausschusses (4. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Sevim Dağdelen,
Matthias W. Birkwald, Andrej Hunko, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Kommunales Wahlrecht für Drittstaatenange-
hörige einführen

– Drucksachen 17/1146, 17/12424 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Ingo Wellenreuther
Rüdiger Veit
Serkan Tören
Sevim Dağdelen
Wolfgang Wieland

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. Gibt es Wider-
spruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so
beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner dem Kollegen Michael Grosse-Brömer von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Michael Grosse-Brömer (CDU):
Rede ID: ID1722217800

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Das Wahlrecht ist ein Themenfeld, das beson-
ders große Aufmerksamkeit in der öffentlichen Debatte
erhält, wenn man es ändert. Wir alle haben im Rahmen
der Arbeit an dieser Aufgabe festgestellt: Es gibt sehr

viele Bürgerinnen und Bürger, die sich fast hobbymäßig
mit dem Wahlrecht beschäftigen.


(Christine Lambrecht [SPD]: Zum Beispiel Sie!)


Es war für uns eine große Herausforderung, diese Auf-
gabe ordnungsgemäß durchzuführen; aber ich meine,
wir haben sie in letzter Konsequenz ganz gut erfüllt.


(Christine Lambrecht [SPD]: Spät!)


Spannenderweise geht es beim Wahlrecht immer um
die Fragen: Welchem Wahlsystem folgen wir? Wer darf
wählen? Wer darf gewählt werden? Wie sind Wahlen
durchzuführen? – Das sind spannende Fragen für die De-
mokratie und letztendlich für das Parlament und den Par-
lamentarismus. Weil sie machtpolitischen Charakter hat,
ist am Schluss die spannendste Frage: Wie werden nach
der Wahl aus den vielen Millionen Stimmen einige Hun-
dert Parlamentssitze? – Auch darum mussten wir uns
kümmern. Ich habe gerade gelesen, dass 62 Millionen
Deutsche am 22. September wahlberechtigt sein werden.
Die hoffentlich in hoher Anzahl abgegebenen Stimmen
gilt es dann entsprechend aufzuteilen. In letzter Konse-
quenz geht es dabei auch um die Arbeitsfähigkeit unse-
res Parlamentes.

Weil all diese Fragen und insbesondere die Antworten
auf diese Fragen von hoher Bedeutung sind, ist es jeden-
falls aus meiner Sicht gut, dass fast alle Fraktionen hier
im Deutschen Bundestag den am heutigen Tage vorlie-
genden Gesetzentwurf zum Wahlrecht mitgezeichnet ha-
ben. Es ist mittlerweile das Zweiundzwanzigste Gesetz
zur Änderung des Bundeswahlgesetzes, das wir heute in
zweiter und dritter Lesung zur Abstimmung stellen. Vier
von fünf Fraktionen tragen den vorliegenden Entwurf
mit. Das ist aus meiner Sicht sehr erfreulich, zumal wir
alle unterschiedliche Ausgangspositionen hatten, je nach
Größe der Fraktion und je nach Hoffnung auf Überhang-
mandate unterschiedliche Interessenslagen hatten.


(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Sie haben uns alle Wünsche erfüllt, Herr Grosse-Brömer! – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Grosse-Brömer macht Träume wahr!)


– Es ist immer wieder schön, Herr Wiefelspütz, wenn
Sie diese positiven Zwischenrufe machen, und dann
auch noch in meine Richtung.


(Christine Lambrecht [SPD]: Das sollte Ihnen zu denken geben!)


Dann muss in diesem Fall irgendetwas gut gelaufen sein.


(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Sie haben das wirklich gut gemacht!)


– Zu viel Lob kann auch schädlich sein – das ist wohl
wahr –, aber ich nehme es heute einfach mal freundlich
entgegen.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bei Ihnen klingt das nicht so freundlich!)


Es ist so, dass das Wahlrecht von uns schon einmal et-
was anders konzipiert worden war.





Michael Grosse-Brömer


(A) (C)



(D)(B)



(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Unwesentlich! – Christine Lambrecht [SPD]: Verfassungswidrig konzipiert!)


Wir wollten jedenfalls keine Vergrößerung des Deut-
schen Bundestages. Das wäre bei Umsetzung unseres
ersten Vorschlags auch nicht passiert.


(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


Gleichwohl gab es Vorbehalte des Bundesverfassungs-
gerichtes, und so mussten wir schwierige Detailfragen
lösen, insbesondere zum Stichwort „negatives Stimm-
gewicht“, aber auch zu den Überhangmandaten. Ich
glaube, weil wir konstruktiv zusammengearbeitet haben,
haben wir alle zusammen eines geschafft – vielleicht
müsste man eine Fraktion ausnehmen, aber dazu komme
ich gleich noch –: Wir haben deutlich gemacht, dass die-
ses Parlament funktionsfähig und in der Lage ist, frak-
tionsübergreifend gute Kompromisse bei schwierigen
Fragen zu finden. Ich glaube, das ist ein positives Ergeb-
nis dieser Beratungen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie des Abg. Thomas Oppermann [SPD])


Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Grundzüge die-
ses Wahlrechtes sind schon in der ersten Lesung ange-
sprochen worden und eigentlich bekannt. Ich will, weil
ich hier als erster Redner stehe, kurz der Übersicht we-
gen nochmals die Kernpunkte erwähnen: Es wird keine
Listenverbindung mehr geben. Wir führen stattdessen
Ländersitzkontingente ein: Jedes Bundesland bekommt
entsprechend seinem Anteil an der Wohnbevölkerung
ein bestimmtes Kontingent zugewiesen; in einem zwei-
ten Schritt werden die Stimmen je nach Zweitstimmen-
ergebnis an die jeweiligen Parteien unterverteilt. Über-
hangmandate werden künftig durch zusätzliche Mandate
an andere Parteien ausgeglichen, sodass ein gewisser
Proporz nach Zweitstimmen garantiert wird.

Wie gesagt: Aus unserer Sicht wäre es denkbar gewe-
sen, eine gewisse Anzahl von Überhangmandaten zu re-
alisieren; das Bundesverfassungsgericht hat das in sei-
nem Urteil durchaus zugelassen.


(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Die sind jetzt alle weg!)


Die anderen Fraktionen wollten das nicht. Wir haben das
zur Kenntnis genommen und unsere Kompromissfähig-
keit unter Beweis gestellt, im Sinne eines übergeord-
neten Zieles. Darauf können wir als CDU/CSU ein Stück
weit stolz sein.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Stefan Ruppert [FDP])


Wir haben dem Urteil des Bundesverfassungsgerich-
tes Rechnung getragen. Ich fand, das war nicht einfach.
Wir mussten klare Vorgaben umsetzen. Glücklicher-
weise bin nicht nur ich der Auffassung, dass wir den
Vorgaben des Verfassungsgerichts gerecht geworden
sind. Es gab am 14. Januar dieses Jahres eine Sachver-
ständigenanhörung, bei der deutlich geworden ist, dass
wir die Aufgaben, die uns gestellt wurden, gut umgesetzt
und erfüllt haben.

Durch die Einführung von Ländersitzkontingenten
haben wir den Effekt des negativen Stimmgewichts – so-
weit es verfassungsrechtlich relevant ist – beseitigen
können. Das haben die Sachverständigen bestätigt. Sie
haben auch bestätigt, dass es uns gelungen ist, den Cha-
rakter der Verhältniswahl zu bewahren.

Frau Kollegin Wawzyniak, Sie und Ihre Fraktion ha-
ben sich leider einer gemeinsamen einvernehmlichen
Lösung verweigert. Ich bedauere das sehr. Sie sagen im-
mer, Sie haben angeblich ein besseres Modell, das keine
rechtlichen Risiken aufweist


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Nicht „angeblich“! Haben wir ja auch!)


und gleichzeitig eine Vergrößerung des Bundestages ver-
meidet. Das hört sich nicht schlecht an.


(Zuruf von der LINKEN: Ist auch nicht schlecht!)


Das scheint zunächst ein wunderbares Modell zu sein,
aber wenn man genauer hinschaut, dann ergeben sich
doch manche Risiken und Nebenwirkungen,


(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Ein wunderbares Modell! Es ist nur etwas fragwürdig!)


die Sie immer wieder vergessen zu erwähnen; en passant
die Fünfprozentklausel abzuschaffen und den föderalen
Proporz massiv zu verzerren – auch das vergessen Sie zu
erwähnen.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Ich habe doch noch gar nicht geredet!)


Ich halte es nach wie vor nicht für sinnvoll, dass man,
wenn man in Kiel abstimmt, jemanden am Bodensee
wählen könnte. Ich halte es nach wie vor für richtig, dass
wir uns darauf nicht eingelassen haben; denn es geht da-
rum, dass die Wählerin, der Wähler die Konsequenzen
verstehen. Deswegen finde ich es bedauerlich, dass Sie
unserem Kompromissmodell trotz guter Argumente
nicht folgen konnten.

Auch Bündnis 90/Die Grünen kann ich nicht so ganz
von der Kritik ausnehmen. Herr Kollege Beck – der
skandalöserweise gerade nicht zuhört –


(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Wir zitieren ihn hierbei!)


hat am 14. Dezember anlässlich der ersten Lesung der
Novelle zum Wahlrecht gesagt: Die Gleichheit der Wahl
und die Chancengleichheit der Parteien werden durch
den vorgeschlagenen Gesetzentwurf gewährleistet. Dann
hat er noch gesagt, der Gesetzentwurf sei ein anständiger
Kompromiss. – Ich begrüße es ausdrücklich und finde es
gut, dass die Grünen den vereinbarten Kompromiss mit-
tragen.

Leider haben Sie einen aus meiner Sicht schlechten
Änderungsantrag nachträglich in den Innenausschuss
eingebracht. Schon der erste Entwurf einer Änderung
wurde von mehreren Sachverständigen kritisiert. Auch
der neue Antrag weist nach allgemeiner Kenntnis der
Sachverständigen mehrere Ungenauigkeiten und Deu-





Michael Grosse-Brömer


(A) (C)



(D)(B)


tungsprobleme auf. Deswegen ist es gut, dass wir Ihrem
Anliegen nicht nachgekommen sind; denn das Letzte,
was wir vor der Bundestagswahl gebrauchen können, ist
Regelungschaos, das dazu führt, dass wir bei der Wahl
keine vernünftigen Ergebnisse erzielen.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Lesen Sie doch einmal den Beschlusstext vor!)


Zum Änderungsantrag der Grünen kann man nur sagen:
Hättest du geschwiegen, hätten wir dich weiterhin für
weise gehalten.


(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Nein, ich nicht! Das akzeptiere ich ausdrücklich nicht! – Dr. Stefan Ruppert [FDP]: Das würde ich so nicht unterschreiben!)


Aber das gilt in Richtung der gesamten Fraktion, nicht
nur im Hinblick auf eine Person.

Schlechte Absichten hatten die Grünen mit ihrem
Antrag nicht. Es ging um die bessere Verständlichkeit
des Textes. § 6 des Wahlgesetzes ist in der Tat ein ganz
spezieller und ein etwas anstrengender Paragraf. Deswe-
gen war es in letzter Konsequenz nicht falsch, zu überle-
gen: Kann man es besser machen? Aber die Sachverstän-
digen haben zu diesem vermeintlich guten Anliegen
gesagt: Es scheitert an der Komplexität der Materie und
den zu regelnden Sachverhalten.

Man muss aufpassen, dass man bei diesem schwieri-
gen Thema nicht das Kind mit dem Bade ausschüttet;
denn die Grundprinzipien des neuen Wahlrechts – auch
das ist wichtig – müssen weiterhin verständlich bleiben.
Auch wenn der eine oder andere Paragraf für denjeni-
gen, der ihn zum ersten Mal oder vielleicht zum zweiten
oder dritten Mal liest, nicht verständlich ist, so glaube
ich doch, dass das Wahlrecht allen Menschen in
Deutschland, die wahlberechtigt sind, und auch den an-
deren, die Möglichkeit gibt, die Grundzüge des Wahl-
rechts zu verstehen und zu wissen, was sie mit ihrer
Stimme jeweils bewirken, wenn sie zur Wahl gehen.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hauptsache der Bundeswahlleiter weiß, was wir gemeint haben!)


Das ist wichtig. Deswegen haben wir es vermieden, an
den bestehenden und bewährten Grundsätzen des Bun-
deswahlrechts etwas zu ändern. Das ist gut. Das dient
weiterhin dem besseren Verständnis; denn die Menschen
müssen darauf vertrauen können, dass sie mit ihrem Vo-
tum das bewirken, was sie sich vorstellen.

Mit der vorliegenden Novelle haben wir unsere
Aufgabe erfüllt. Wir haben die Vorgaben des Verfas-
sungsgerichtes umgesetzt. Wir haben für die Bürger
mehr Sicherheit geschaffen. Dafür danke ich allen Kolle-
ginnen und Kollegen der anderen Fraktionen. Für meine
Fraktion danke ich ausdrücklich dem Kollegen Krings
und seinem Team, ebenso dem Kollegen Uhl, weil sie
exzellente Vorarbeit geleistet haben.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Warum? Wofür? Sie meinen: obwohl Krings dabei war!)


– Herr Wiefelspütz, stellen Sie sich vor, Herr Krings
wäre nicht dabei gewesen. Dann hätten Sie alleine gere-
det. Das hätte keiner gewollt,


(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Sogar meine Fraktion stimmt dem zu, Herr GrosseBrömer!)


auch wenn manche Schlussfolgerung von Ihnen sehr
verständlich und gut war. Das muss man angesichts der
großen Harmonie an diesem Tag in puncto Wahlrecht
doch noch einmal erwähnen.

Ein herzliches Dankeschön gilt auch den Mitarbeitern
des Bundesinnenministeriums. Ich muss den Staatsse-
kretär bitten, diesen Dank weiterzugeben. Diese Mitar-
beiter haben exzellent gearbeitet, sie haben uns auch ex-
zellent zugearbeitet, und sie sind von uns exzellent
kontrolliert worden. Es war wichtig, dort Spezialisten zu
haben, die alles noch einmal überprüft haben.

Infolgedessen bleibt mir neben dem Dank, den ich
hier abgestattet habe, letztlich nur, von Ihnen die logi-
sche Konsequenz einzufordern, die Zustimmung zu die-
ser gelungenen Wahlrechtsnovelle. Möge sie für längere
Zeit vielleicht die letzte sein.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1722217900

Für die SPD spricht jetzt der Kollege Thomas

Oppermann.


(Beifall bei der SPD)



Thomas Oppermann (SPD):
Rede ID: ID1722218000

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir been-

den heute eine fast fünfjährige Debatte über verfassungs-
widriges Wahlrecht in Deutschland.


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Jetzt wollen wir aber mal die gute Stimmung hier nicht stören!)


Das ist schon einmal eine gute Nachricht.

Vor viereinhalb Jahren hat das Bundesverfassungsge-
richt zum ersten Mal das Wahlrecht für verfassungswid-
rig erklärt. Dann hat die Regierungsmehrheit das Wahl-
recht nach eigenen Wünschen und Interessen und gegen
den Willen der Opposition neu gestaltet. Das war ein
Fehler; denn danach hat das Bundesverfassungsgericht
das Wahlrecht im letzten Sommer zum zweiten Mal für
verfassungswidrig erklärt. Nach monatelangen Verhand-
lungen haben wir uns jetzt mit ganz großer Mehrheit auf
ein neues Wahlrecht verständigt. Das neue Wahlrecht ist
verfassungskonform. Das ist eine gute Nachricht. Wir
können endlich wieder wählen, ohne daran zu denken,
dass das auf einer verfassungswidrigen Grundlage ge-
schieht.





Thomas Oppermann


(A) (C)



(D)(B)


Ich möchte mich bei allen bedanken, die daran mitge-
wirkt haben. Mit ihrer Expertise standen uns Juristen,
Mathematiker und Politologen zur Seite.


(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Und Erfinder!)


Auch die Kolleginnen und Kollegen beim Bundeswahl-
leiter und in den Ministerien standen uns zur Seite. Sie
alle haben dazu beigetragen, dass das ein gutes Ergebnis
geworden ist. Vielen Dank dafür!


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Freiheit und Gleichheit, das Sozialstaatsgebot und das
Wahlrecht bilden eigentlich das Fundament unserer
demokratischen Ordnung. Das Wahlrecht ist das Verfah-
ren, in dem die Wählerinnen und Wähler die beim Volk
liegende Staatsgewalt auf das Parlament übertragen.
Deshalb muss dieses Verfahren sehr genau sein. Es muss
fair ausgestaltet sein, und es muss durch und durch vom
Grundsatz der Gleichheit geprägt sein. Das sind sehr
hohe Anforderungen, aber ich glaube, mit diesem Ge-
setzentwurf haben wir sie jetzt erfüllt. Ich glaube, das ist
ein gutes Ergebnis.

Überhangmandate spielen im deutschen Wahlrecht
keine Rolle mehr. Sie werden vollständig ausgeglichen.
Jeder Wähler kann sich darauf verlassen, dass er mit sei-
ner Stimmabgabe die Partei wirksam unterstützt, die er
gewählt hat. Das negative Stimmgewicht ist beseitigt.
Jahrelang hatten Wählerinnen und Wähler in Deutsch-
land ein doppeltes Stimmgewicht. Jahrelang stand das
Wahlrecht mit den Überhangmandaten im Widerspruch
zu dem Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien.
In der ganzen Zeit bestand die Gefahr, dass Überhang-
mandate das Mehrheitsverhältnis umdrehen und eine
Partei, die gar nicht die Mehrheit der Stimmen hat, plötz-
lich im Parlament zusammen mit einer anderen Partei
die Mehrheit der Mandate hat. Jahrelang wollten die Ko-
alitionsfraktionen nicht wahrhaben, dass Überhangman-
date verfassungswidrig sind. Diesen Missstand beseiti-
gen wir heute. Jede Stimme hat nach dem neuen
Wahlrecht das gleiche Gewicht. Mit dem neuen Wahl-
recht können sich die Wählerinnen und Wähler darauf
verlassen, dass sie mit ihrer Stimme das bewirken, was
sie zu bewirken beabsichtigt haben. Jetzt entscheiden al-
lein die Wählerinnen und Wähler mit ihrer Zweitstimme
über die Zusammensetzung des Bundestages, und es gibt
nicht mehr irgendwelche Absurditäten des Wahlrechts.

Damit haben wir das große Versprechen der Demo-
kratie eingelöst: faires und gleiches Wahlrecht für alle.

Aber damit dürfen wir uns am Ende nicht zufrieden-
geben. Es gibt neue Herausforderungen beim Wahlrecht.
Dazu gehört für uns ganz klar auch das Wahlrecht für
Ausländer, die schon seit vielen Jahren in Deutschland
leben, hier arbeiten und Steuern zahlen. Ihnen wollen
wir die Mitwirkung an der politischen Willensbildung
auf kommunaler Ebene nicht länger verweigern.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Aber nur auf kommunaler Ebene!)


Deswegen haben wir in einem anderen Verfahren und in
einem anderen Entwurf einen Vorschlag zum Kommu-
nalwahlrecht für Ausländer eingebracht.

Die andere große Herausforderung ist, das Wahlrecht
auch für diejenigen effektiv zu machen, die nicht lesen
und schreiben können.


(Beifall bei der SPD)


Wir führen eine Debatte über Analphabetismus in
Deutschland. Es ist schlimm genug, dass es ihn in unse-
rem modernen und reichen Land noch immer gibt, aber
7,5 Millionen Menschen sind in ihrer Fähigkeit einge-
schränkt, Texte zu lesen und sie so zu verstehen. 3 Mil-
lionen Menschen können nur einzelne Worte lesen. Ei-
nige Hunderttausend können nicht einmal ihren eigenen
Namen schreiben.

Menschen, die nicht lesen können, kommen auch mit
den Wahlzetteln nicht zurecht. Sie gehen entweder gar
nicht erst zur Wahl, oder sie stehen hilflos vor den Wahl-
zetteln. Deshalb werden wir in einer weiteren Reform
des Wahlgesetzes dafür sorgen müssen, dass Analphabe-
ten Hilfen bekommen und


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Die bekommen sie jetzt schon!)


dass wir die Kandidaten und Parteien so kenntlich ma-
chen, dass auch diejenigen, die nicht lesen können, wäh-
len können. Das wollen wir auch noch erreichen.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1722218100

Herr Kollege Oppermann, der Kollege Seifert würde

gern eine Zwischenfrage stellen.


Thomas Oppermann (SPD):
Rede ID: ID1722218200

Ja, gerne. Ich bin jetzt eigentlich auch schon am Ende,


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: „Am Ende“ würde ich nicht sagen, aber Ihre Rede ist jetzt vorbei!)


dann erlaube ich die Zwischenfrage gern.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1722218300

Herr Seifert, bitte.


Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1722218400

Herr Kollege Oppermann, Sie haben gerade davon

gesprochen, dass Sie in einem weiteren Schritt Men-
schen, die Analphabeten sind, das Wählen ermöglichen
wollen.

Sie sagen auch, dass das Menschen betreffen soll, die
unter voller Betreuung stehen. Sie hatten gestern im
Ausschuss nicht nur die Möglichkeit, einen Antrag zu
stellen, in dem Sie fordern, dass die Bundesregierung ei-
nen solchen Gesetzentwurf vorlegen soll, sondern auch
die Möglichkeit, einem Änderungsantrag von uns zuzu-
stimmen.

Sie haben das abgelehnt. Können Sie bitte begründen,
wieso Sie nicht einem fertigen Änderungsantrag zuge-





Dr. Ilja Seifert


(A) (C)



(D)(B)


stimmt haben, wenn Sie das darin enthaltene Anliegen
theoretisch wollen? Das sieht ein bisschen unglaubwür-
dig aus.


Thomas Oppermann (SPD):
Rede ID: ID1722218500

Weil wir das sehr sorgfältig prüfen müssen. Sie spre-

chen einen dritten Bereich an: Personen, die unter voll-
ständiger Betreuung stehen, sind im Augenblick vom
Wahlrecht ausgeschlossen. Das ist für uns auch mit Blick
auf die Verfassung ein nicht akzeptabler Zustand.


(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Richtig!)


Das sagen wir ganz klar.

Die vollständige Betreuung kann niemals ein automa-
tisches, einziges und entscheidendes Kriterium für den
Ausschluss vom Wahlrecht sein. Das wollen wir ändern.
Denn es gibt durchaus Menschen unter Betreuung, die
einen politischen Willen haben und artikulieren können.
Dann muss man ihnen das Wahlrecht eröffnen. Das zu
regeln, ist aber keine einfache Aufgabe. Das wollen wir
ganz sorgfältig machen und keinen Schnellschuss abge-
ben. Aber das ist die dritte Baustelle, auf der wir unser
Wahlrecht noch reformieren müssen.

Ich hoffe, dass wir das gemeinsam tun können. Ich
fand es sehr gut, dass wir hier einen Konsens bei der Re-
form des Wahlrechts gefunden haben. Er wird von Dauer
sein. Das ist gut für die Verlässlichkeit und für die Bere-
chenbarkeit unserer Demokratie.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1722218600

Das Wort hat jetzt Herr Kollege Dr. Stefan Ruppert

von der FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Dr. Stefan Ruppert (FDP):
Rede ID: ID1722218700

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! In der Tat: 60 Jahre lang hat dieses Land ein be-
währtes, gutes Zwei-Stimmen-Wahlrecht gehabt.

Die gute Neuigkeit des heutigen Tages ist: Wir wer-
den dieses Zwei-Stimmen-Wahlrecht in seinen Grundzü-
gen erhalten. Es hat in Deutschland immer wieder dazu
geführt, dass die Mitte der Gesellschaft hier im Parla-
ment repräsentiert war und dass wir eine Abbildung aller
Bevölkerungsgruppen durch dieses System hier gesehen
haben. Das bewährte Zwei-Stimmen-Wahlrecht bleibt
also erhalten.

Mir ist nie ganz klar, warum diejenigen, die ein Ein-
Stimmen-Wahlrecht befürworten, das für ein demokrati-
scheres Prinzip halten. Denn eigentlich ist es ganz
einfach: Wer zwei Stimmen abgeben kann, hat mehr Ein-
flussnahme auf die Demokratie ausgeübt als jemand, der
nur eine Stimme abgeben kann. Insofern ist das, glaube
ich, ein erstes gutes Ergebnis.

Als wir vom Bundesverfassungsgericht die Aufgabe
bekommen hatten, das Wahlrecht neu zu regeln, ging
dieser Auftrag zuerst an Herrn Oppermann und die
Große Koalition. Diese hat das dann auf die nächste Re-
gierung vertagt, der sie in der Sache anscheinend mehr
zutraute.


(Thomas Oppermann [SPD]: Das ist eine Fehleinschätzung!)


Wir haben uns dann dieser Aufgabe angenommen. Dabei
haben wir mehrere Prinzipien zugrunde gelegt, die wir
leider nie ganz in Ausgleich bringen konnten.

Das erste Prinzip war, kein größeres Parlament zu be-
kommen. Wir hatten uns in unserem ursprünglichen Ent-
wurf, den ich nach wie vor für den leicht besseren halte,
dafür entschieden, das Parlament nicht zu vergrößern.
Wir hatten bewusst gesagt, dass die Größe von 598 Mit-
gliedern adäquat ist.

Zweitens wollten wir, dass Brandenburg, Baden-
Württemberg, Hessen, dass alle unsere Bundesländer
entsprechend ihrer Bevölkerungszahl im Deutschen
Bundestag vertreten sind. Ein föderaler Proporz sollte
also erhalten bleiben.

Drittens hatten wir die Vorstellung, dass es in kleinen
Landesverbänden keine verlorenen Stimmen geben soll.
Auch das haben wir erhalten.

Wir haben damals gesagt: Ein kleiner Teil an Über-
hangmandaten wäre in der Tat vertretbar. Sie haben das
anders gesehen. Allerdings – auch das gehört, glaube
ich, zur Wahrheit – gab es den von Ihnen, Herr
Oppermann, beschriebenen Fall einmal, dass eine Mehr-
heit des Deutschen Bundestages überhaupt nur noch auf-
grund von Überhangmandaten bestand.


(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Die erste Regierung Schröder! Beinahe!)


Sie haben einmal allein deswegen politisch überlebt,
weil sich die rot-grüne Bundesregierung bei einer Ver-
trauensfrage im Deutschen Bundestag auf Überhang-
mandate stützen konnte.


(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Was wollen Sie damit sagen?)


Damals waren Sie ein großer Fan des politischen Überle-
bens auf diese Weise und dieser Überhangmandate.


(Thomas Oppermann [SPD]: So wollten wir nie wieder politisch überleben!)


Erst als sich der Wind etwas drehte und auch andere Par-
teien Überhangmandate bekamen, haben Sie deren Pro-
blematik anscheinend nachhaltig entdeckt. Aber damals,
als Herr Schröder deswegen politisch überlebte, waren
Sie doch eigentlich ganz zufrieden.

Wir haben jetzt die Wahl zwischen einem Gesetzent-
wurf von vier Fraktionen und einem Gesetzentwurf von
einer Fraktion. Ich will deutlich sagen, dass der Gesetz-
entwurf der Linken so, wie er heute vorliegt, erhebliche
Mängel hat, wenn nicht gar verfassungswidrig ist.





Dr. Stefan Ruppert


(A) (C)



(D)(B)


Sie müssen sich einmal folgenden Fall vorstellen:
360 000 Menschen in Brandenburg gehen zur Wahl und
entschließen sich aus mir nicht ganz erfindlichen Grün-
den, die CDU zu wählen. Ich könnte ihnen eigentlich ei-
nen besseren Tipp geben. Also, wenn 360 000 Branden-
burger die CDU wählen, bekommt die CDU nach dem
Vorschlag der Linken dafür kein einziges Mandat, wäh-
rend die CDU, wenn sich 58 000 Baden-Württemberger
entschließen, sie zu wählen, ein Mandat dafür bekommt.
Das heißt, Sie schlagen uns ein Wahlrecht vor, bei dem
sechsmal so viele Bürger aus dem Osten kein Wahlrecht
geltend machen können bzw. ihren politischen Willen
nicht niedergeschlagen finden, weil durch ihre Stimmen
kein Mandat errungen wird, während durch die Stimmen
von knapp 60 000 Baden-Württembergern, also einem
Sechstel davon, ein Mandat errungen wird. Ich glaube,
dies kann nicht ernsthaft in Ihrem Interesse sein. Inso-
fern lade ich Sie ein, dem etwas besseren Gesetzentwurf
unserer vier Fraktionen heute zuzustimmen.

Lassen Sie mich am Ende meiner Rede noch eine Be-
merkung zu der Frage machen, ob wir ein zu großes Par-
lament haben. Ich glaube, dieses Wahlrecht ist auf Dauer
angelegt; das hat Herr Oppermann völlig richtig gesagt.
Wir haben im internationalen Vergleich, zum Beispiel
mit Italien, Großbritannien oder Frankreich, durchaus
ein Parlament, das nicht übermäßig groß ist, wenn man
die Zahl der Wähler bzw. Bürger, die auf einen Abgeord-
neten kommen, betrachtet. Gleichwohl werden wir be-
obachten müssen, wie sich dieses Wahlrecht auswirkt.
Bei zu starkem Anwachsen der Zahl der Mitglieder des
Bundestages wird meine Fraktion in der nächsten Legis-
laturperiode darauf dringen –


(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Sind Sie sicher, dass Sie dabei sind?)


– jeder kann helfen, Herr Wiefelspütz –, etwas zu tun,
damit der Bundestag nicht dauerhaft zu groß wird.

Ich danke allen, die daran beteiligt waren. Auch im
Hintergrund haben viele Mitarbeiter ganz tolle Arbeit
geleistet, zum Beispiel im BMI, beim Bundeswahlleiter
und bei anderen Behörden, sodass wir eine hochkom-
plexe Materie


(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Na! So schwierig war das auch nicht!)


heute zu einem wirklich guten Abschluss bringen. Das
perfekte Wahlrecht gibt es nicht. Insofern haben wir ein
gutes, wenn auch nicht das perfekte Wahlrecht, dem ich
heute aus voller Überzeugung zustimme. Ich lade Sie
dazu ganz herzlich ein. Die Linken sollten noch einmal
darüber nachdenken, ob sie den Osten so sträflich behan-
deln wollen, wie es ihr Entwurf tut.


(Zuruf von der LINKEN)


Machen Sie es lieber besser, und behandeln Sie die ost-
deutschen Wähler genauso gut wie die westdeutschen
Wähler. Stimmen Sie unserem Entwurf zu!

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1722218800

Für die Fraktion Die Linke hat jetzt das Wort die Kol-

legin Halina Wawzyniak.


(Beifall bei der LINKEN)



Halina Wawzyniak (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1722218900

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Ich dachte schon, die Debatte wird langweilig. Aber
wenn sich die FDP als Vertreterin der Ostdeutschen auf-
spielt, ist das immer eine Überraschung.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Gisela Piltz [FDP]: Ja, ja! Dass es so weit kommen musste, was? – Dr. Stefan Ruppert [FDP]: Tja, wenn ihr so ausfallt! Wir sind eben eine gesamtdeutsche Partei!)


Es wird Sie trotzdem nicht überraschen, dass wir dieses
Wahlrecht ablehnen werden,


(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Ach! Wie schade, Frau Wawzyniak! Geben Sie sich einen Ruck!)


weil es zu einer Vergrößerung des Bundestages führt,
obwohl es eine verfassungsgemäße Alternative gibt. Ich
will sehr deutlich sagen: Gäbe es diese verfassungs-
gemäße Alternative nicht, müsste eine Vergrößerung des
Bundestages um der Demokratie willen selbstverständ-
lich hingenommen werden; aber es gibt eine verfas-
sungsgemäße Alternative.


(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Eine mäßige, aber keine verfassungsgemäße!)


Zu den Regelungen des Gesetzentwurfes, den Sie vor-
gelegt haben. Für die Wählerinnen und Wähler ist es
ziemlich schwer, zu verstehen, wie aus den Prozentzah-
len, die am Wahlabend genannt werden, Sitze werden.
Ich will Ihnen zugutehalten: Das liegt nicht an Ihren For-
mulierungskünsten – auch ich hätte das wahrscheinlich
nicht besser hinbekommen –, sondern an dem Verfahren,
das Sie gewählt haben.

Sie haben das Verfahren gewählt, mit dem in einer
ersten Stufe die 598 gesetzlich vorgeschriebenen Sitze
an die Bundesländer verteilt werden. An dieser Stelle
will ich Sie ausdrücklich loben: Sie haben die Anhörung
ernst genommen, hier eine Änderung vorgenommen und
gesagt: Wir verdoppeln nicht mehr die Wahlkreise, son-
dern wir machen das am Bevölkerungsanteil fest. – Das
ist lobenswert, auch wenn ich noch nicht ganz sicher bin,
ob die praktische Umsetzung, so wie sie uns gestern er-
klärt worden ist, funktioniert.

In einem nächsten Schritt werden die Sitze innerhalb
der Länder verteilt. Da kann es vorkommen, dass eine
Partei mehr Direktmandate als Zweitstimmen erhält. Das
führt dann zu einer Vergrößerung des Bundestages, weil
sich das Zweitstimmenergebnis auf Bundesebene in der
Sitzverteilung des Bundestages widerspiegeln muss. Bei
diesem Verfahren gibt es diverse Divisoren und Run-
dungseffekte; allein diese könnten zu einer Vergröße-
rung des Bundestages führen. Wir haben dazu eine Al-
ternative vorgelegt.





Halina Wawzyniak


(A) (C)



(D)(B)


Unsere Alternative lautet: Wir verrechnen auf der
Bundesebene – es handelt sich schließlich um eine Bun-
destagswahl, nicht um verbundene Landtagswahlen –
die Direktmandate mit den Zweitstimmen. Die Sitze, die
dann noch übrig sind, werden an die Parteien verteilt.
Der zentrale Einwand dagegen lautet, das würde den fö-
deralen Proporz verzerren. Ich streite das gar nicht ab.
Aber diese Probleme gibt es auch bei anderen Modellen.

Ich habe Sie in der ersten Lesung dieses Gesetzent-
wurfes auf Folgendes hingewiesen: Die SPD in Meck-
lenburg-Vorpommern erhielte auf Basis ihres Wahl-
ergebnisses von 2009 bei 598 Sitzen drei Sitze und bei
671 Sitzen zwei Sitze. Viel Spaß den Genossinnen und
Genossen der SPD in Mecklenburg-Vorpommern! Die
CDU in Sachsen-Anhalt erhielte bei 598 Sitzen sechs
Sitze und bei 671 Sitzen fünf Sitze. Vielleicht ist Ihnen
der Osten dann doch nicht so wichtig, wie Sie gerade
vorgetragen haben.


(Beifall bei der LINKEN)


Um wieder etwas sachlicher zu werden: Was wir ge-
meinsam versucht haben, ist die Quadratur des Kreises.
Wir haben versucht, vier Prinzipien in Übereinstimmung
zu bringen: Wir wollten das negative Stimmgewicht ver-
meiden, die Überhangmandate ausgleichen, den födera-
len Proporz möglichst wahren und eine Vergrößerung
des Bundestages vermeiden. Man muss feststellen: Sie
setzen den Schwerpunkt bei der Wahrung des föderalen
Proporzes – das kann man machen –, wir setzen den
Schwerpunkt bei dem Prinzip, eine Vergrößerung des
Bundestages zu vermeiden. Festhalten müssen wir – da
sind wir uns, glaube ich, alle einig –: Diese vier Prinzi-
pien können wir nicht zu 100 Prozent verwirklichen, so-
lange wir am Zwei-Stimmen-Wahlrecht festhalten.

Offen bleibt – auch das will ich noch sagen; Herr Pro-
fessor Meyer hat das in der Anhörung angesprochen –,
ob in der ersten Stufe wirklich Mindestsitzzahlen festge-
legt werden sollten. Wenn Sie in der ersten Stufe Min-
destsitzzahlen festlegen wollen, sind zumindest rechtli-
che Schwierigkeiten nicht ganz ausgeschlossen.

Um zum Thema Kompromissfähigkeit zu kommen:
In der ersten Lesung dieses Gesetzentwurfes habe ich
gesagt, dass wir bereit waren, uns auf ein drittes Modell
einzulassen, nämlich auf das Modell Pukelsheim III. Das
Modell Pukelsheim III ist ein bisschen wie unser Mo-
dell, was den föderalen Proporz angeht, aber nicht ganz
so verzerrend wie unseres. Wir waren bereit, uns auf die-
ses Modell einzulassen; auch Grüne und SPD haben es ja
ursprünglich favorisiert. Am Ende wollten sich Grüne
und SPD damit nicht mehr zufriedengeben. Jetzt werfen
Sie uns fehlende Kompromissbereitschaft vor. Nein, das
ist falsch. Wir sind kompromissbereit. Wir sind aber
nicht prinzipienlos.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Ui! Jetzt schelten Sie uns nicht so! Ich wollte vor mich hindösen, jetzt muss ich aufpassen!)


Jetzt liegen ein Gesetzentwurf der SPD, ein Gesetz-
entwurf der Grünen und ein Antrag der Linken zur Än-
derung des Grundgesetzes für ein kommunales Wahl-

recht für Drittstaatenangehörige vor. Selbstverständlich
werden wir in allen drei Fällen zustimmen; denn wir fin-
den, dass ein kommunales Wahlrecht ein Anfang ist und
die Entwürfe in die richtige Richtung gehen. In Deutsch-
land leben 6,7 Millionen Menschen ohne die deutsche
Staatsangehörigkeit. 4,3 Millionen dieser Menschen
kommen aus Ländern, die nicht zur Europäischen Union
gehören. Diese Menschen leben hier, diese Menschen ar-
beiten hier, diese Menschen zahlen hier Steuern, sie sind
in Vereinen aktiv, sie kümmern sich um das Gemeinwe-
sen. Es ist überhaupt nicht einzusehen, warum diese
Menschen nicht mitentscheiden dürfen. Insofern ist es
für uns eine Selbstverständlichkeit, dass auch Menschen,
die keine deutsche Staatsbürgerschaft haben, das kom-
munale Wahlrecht erhalten sollen. Wir sind sehr froh,
dass die SPD das jetzt auch so sieht. In der letzten Legis-
laturperiode hat sie das ja noch nicht ganz so gesehen.


(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Keine Beleidigungen!)


Wir wollen, dass diese Menschen das kommunale
Wahlrecht erhalten. Das reicht aber nicht. Wir wollen,
dass darüber hinaus alle Menschen, die seit fünf Jahren
legal in Deutschland leben, auch das Wahlrecht auf Län-
der- und Bundesebene erhalten. Der SPD-Vorsitzende
sieht das nun auch so, auch wenn er mit der Übertragung
des Wahlrechts ein bisschen länger warten will. Was
Herr Gabriel sagt, ist das eine; aber wo bleiben die Ta-
ten? Wir haben damals einen entsprechenden Gesetzent-
wurf vorgelegt. Ich verspreche Ihnen: Nach der nächsten
Bundestagswahl werden wir den Punkt „Wahlrecht auf
Länder- und Bundesebene für Menschen, die seit fünf
Jahren in Deutschland leben“ wieder auf die Tagesord-
nung setzen.


(Beifall bei der LINKEN)


Ein letzter Satz. Wenn es um die Integration geht,
dann sollten wir beim Wahlrecht nicht stehen bleiben.
Deswegen wiederhole ich an dieser Stelle gern: Die Son-
dergesetze für Asylsuchende und Flüchtlinge – die Resi-
denzpflicht – gehören abgeschafft. Wir wollen gleiche
Rechte für alle hier lebenden Menschen. Das fängt beim
Wahlrecht an und endet bei der Abschaffung dieser Son-
dergesetze.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1722219000

Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt das Wort der

Kollege Volker Beck.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722219100

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es gibt

eine gute Botschaft, die von diesem Tage ausgeht: Die
Bundesrepublik Deutschland hat wieder ein verfassungs-
konformes Wahlrecht. Damit steht der Abwahl von
Schwarz-Gelb wahlrechtlich nichts mehr im Wege.


(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Schlechter Beginn!)


Die zweite gute Nachricht ist: Es gibt einen Konsens
über ein verfassungskonformes Wahlrecht – unter Zu-





Volker Beck (Köln)



(A) (C)



(D)(B)


rückstellung der verschiedenen Interessen und der wahl-
politischen Präferenzen der einzelnen Fraktionen. So ei-
nen Kompromiss sollte man nicht kleinreden; denn er ist
wichtig: Er ist auch ein Signal an die Bürgerinnen und
Bürger draußen im Lande, dass hier niemand einen ego-
istischen Vorteil durchgesetzt hat, sondern dass wir ein
faires Wahlrecht haben, das am Ende allein den Bürger
und die Bürgerin entscheiden lässt, welche Fraktion in
welcher Stärke in den nächsten Deutschen Bundestag
einzieht, und nicht zulässt, dass durch einen Kniff im
Wahlrecht das Ergebnis womöglich ins Gegenteil ver-
kehrt wird – wie es Schwarz-Gelb mit dem ersten Ent-
wurf, der in Karlsruhe gescheitert ist, vorhatte.


(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Na, na, na!)


Der Resozialisierungsgedanke, dem die Grünen ja an-
hängen, hat sich bewährt: Die Koalition ist in die Reihen
der Vertreter eines verfassungskonformen Wahlrechts
zurückgekehrt.


(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Jetzt wollen wir nicht anmaßend werden, Herr Beck! Nein, das wollen wir nicht!)


Wir heißen Sie recht herzlich willkommen!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


SPD und Grüne haben verfassungskonforme Gesetz-
entwürfe vorgelegt. Wir konnten sie in den Verhandlun-
gen nicht durchsetzen. Unsere Entwürfe, Frau Kollegin
Wawzyniak, waren in der Tat besser. Der Gesetzentwurf,
den wir in der letzten Wahlrechtsdebatte vorgelegt hat-
ten, war überhaupt der konsequenteste: Bei uns wäre
kein einziges Überhangmandat entstanden; deshalb wäre
auch nichts auszugleichen gewesen. Wir hätten eine
Punktlandung bei 598 Abgeordneten gemacht. Bei dem
Regionalproporz, der laut Verfassungsgericht ein Krite-
rium ist, das im Wahlrecht von Gesetzes wegen berück-
sichtigt werden kann, aber nicht berücksichtigt werden
muss, hatte unser Gesetzentwurf zugegebenermaßen ein
paar Unwuchten, die der Unionsfraktion nicht gefallen
haben. Das haben wir in den Verhandlungen verstanden
und am Ende auch respektiert. Deshalb sind wir hier zu
einem anderen Ergebnis gekommen.

Der Kollege Grosse-Brömer hat vorhin ein bisschen
vollmundig erklärt, wir hätten in den Ausschussberatun-
gen einen Vorschlag gemacht, der untauglich war. Das
ist nun wirklich nicht der Fall. Das, was wir jetzt als Ge-
setzestext beschließen – Herr Kollege, das müssen Sie
konzedieren –, ist ein guter Tipp für jeden Kabarettisten,
der sich über die Gesetzgebungsarbeit des Deutschen
Bundestages lustig machen will. Ich hoffe zumindest,
dass einer versteht – nämlich der Bundeswahlleiter –,
was wir da aufgeschrieben haben. Viel größer dürfte die
Zielgruppe dieser Norm in puncto Verständlichkeit nicht
sein.


(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Es kommt auf den Empfänger an!)


Wir haben einen Vorschlag gemacht, daran hätte man
arbeiten können. Das wollten Sie nicht – gut, Schwamm
drüber. Ab morgen ist diese komplizierte Regelung
Gesetz. Ich denke, wir müssen in der nächsten Wahl-

periode in puncto Verständlichkeit und Entstehen von
Überhangmandaten nochmals nacharbeiten, damit wir
nicht dauerhaft zu einer ziemlichen Vergrößerung des
Deutschen Bundestages kommen; denn das ist nicht gut
für die Arbeitsfähigkeit und die Akzeptanz dieses Parla-
ments in der Bevölkerung.

Aber, Frau Kollegin von der Linken, in Verhandlun-
gen gibt es ein Geben und Nehmen. Die Koalition hat
darauf aufmerksam gemacht: Es wäre doch möglich ge-
wesen, dass sie irgendeinen Entwurf durchgeschummelt
hätten, in dem am Ende 15 Überhangmandate stehen
bleiben, was unter Umständen das Risiko bedeutet hätte,
dass Rot-Grün zwar die Wahlen beim Volk gewonnen
hätte, aber nicht die Mehrheit der Sitze im Deutschen
Bundestag hätte.


(Zuruf von der FDP: Sie träumen zu viel!)


Darauf hat die Koalition verzichtet, aber verlangt,
dass wir – umgekehrt – diesen Regionalproporzgedan-
ken respektieren, obwohl er verfassungsrechtlich nicht
zwingend ist. Politikfähig sein bedeutet, dass man in
Respekt vor den unterschiedlichen Interessen in der
Lage ist, Kompromisse zu schließen. Kompromisse be-
deuten aus der eigenen Perspektive zwangsläufig, dass
man etwas nur Zweitbestes tut. Sie sind aber immer nur
bereit, das, was schon „ums Eck“ ist, als letzte Kompro-
misslinie zu akzeptieren. Das zeigt, dass die Linke, un-
abhängig von ihren Positionen, einfach vom Verfahren
und vom Politikverständnis her nach wie vor nicht poli-
tikfähig ist, da sie nicht in der Lage ist, am Verhand-
lungstisch fair auf jemanden zuzugehen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der FDP – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Herr Beck, Herr Beck, Herr Beck!)


In einem Punkt bin ich allerdings bei Ihnen: Sie haben
am Schluss, genau wie der Kollege Oppermann, das
Thema Kommunalwahlrecht für Ausländer angespro-
chen. Grüne, Linke und SPD haben Entwürfe zur Ände-
rung der Verfassung vorgelegt, die ermöglichen, dass
sowohl EU-Bürger als auch Bürger von Drittstaaten, die
dauerhaft hier leben, endlich in den Kommunen unseres
Landes gleichberechtigt an Wahlen und Abstimmungen
teilnehmen dürfen. Ich halte dies für ein wichtiges Inte-
grationssignal. Wenn ich im Ausschussbericht lese, das
Argument der CDU dagegen sei, dazu bedürfe es einer
Verfassungsänderung – wo die Oppositionsfraktionen
gerade eine Verfassungsänderung vorschlagen –, dann
finde ich, dass dies eine sehr schwache Argumentation
ist, die letztendlich zeigt, dass Sie nur am Stammtisch
Punkte sammeln und kein Signal der Integration im
Wahlrecht setzen wollen. Das finde ich schade und
hoffe, dass Sie sich diese Position noch einmal überle-
gen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die zentrale Perspektive für Ausländer ist nicht im
Wahlrecht aufzuzeigen, sondern meines Erachtens im
Staatsbürgerschaftsrecht. Wir müssen dafür sorgen, dass
die Menschen, die fünf Jahre und länger hier im Land le-
ben, hier Steuern zahlen, arbeiten und Sozialversiche-





Volker Beck (Köln)



(A) (C)



(D)(B)


rungsbeiträge entrichten, die vollen Rechte haben, auch
darüber zu bestimmen, was mit dem Geld geschieht und
welche Prioritäten die Politik setzt. Das können sie nur,
wenn sie das Wahlrecht über die Staatsbürgerschaft be-
kommen.

Deshalb müssen wir noch einmal an die Staatsbürger-
schaft herangehen und sagen: Die doppelte Staatsbürger-
schaft soll kein Hindernis für den Erhalt des deutschen
Passes sein. Ferner müssen wir die alte Trophäe von
Herrn Brüderle aus Rheinland-Pfalz, von der 1999er-
Reform, endlich in den Papierkorb expedieren: nämlich
die Optionsregelung, dass sich ein Kind von Migranten,
das hier in Deutschland geboren worden ist oder in den
ersten zehn Jahren hier lebte und dann die deutsche
Staatsbürgerschaft bekam, mit 23 Jahren zwischen dem
Pass des Landes, in dem es immer gelebt hat, und dem
Pass der Eltern entscheiden muss. Das ist ein unnötiger
Keil, den wir in die Familien treiben, eine falsche Ent-
scheidungsalternative. Wir wollen, dass diese Menschen
Ja zu diesem Land sagen. Wir wollen sie nicht vor solche
Entscheidungen stellen. Sie sollen vielmehr hier mitwir-
ken dürfen. Deshalb brauchen wir dringend eine Staats-
bürgerschaftsreform, die beim Wahlrecht entsprechend
dafür sorgt, dass die Menschen voll und ganz teilhaben
können.

Das Gleiche gilt für die Behinderten. Die UN-
Konvention müssen wir umsetzen. Wir haben einen
Gesetzentwurf vorgelegt, der mit dem Ausschluss der
Betreuten vom Wahlrecht Schluss macht. Ich meine, der
Respekt vor der Verschiedenheit der Menschen gebietet
das, auch der Respekt vor Betreuten und Behinderten,
die vielleicht bei manchen Dingen im Leben Unterstüt-
zung brauchen, aber deshalb nicht vollständig entmün-
digt werden dürfen und auch bei freien Wahlen ihren
Willen artikulieren können müssen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1722219200

Jetzt hat das Wort der Kollege Dr. Günter Krings von

der CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Günter Krings (CDU):
Rede ID: ID1722219300

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Der Kollege Beck ist schon recht euphorisch. Er
sprach eben davon, dass das neue Wahlrecht morgen in
Kraft tritt.


(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Der hat ja keine Ahnung, der Beck! Das ist klar!)


Das Gesetzgebungsverfahren in Deutschland ist ein
wenig komplizierter. Es gibt Art. 82 der Verfassung:
Danach gibt es noch einen Bundespräsidenten, der aus-
fertigt. Das kann ich Ihnen gleich im Einzelnen noch
einmal erklären. Trotzdem – das ist die Brücke, lieber
Herr Kollege Beck –, ich teile Ihre Begeisterung, dass
wir nun zum Abschluss des parlamentarischen Verfah-
rens kommen und dieses Gesetz in zweiter und dritter
Lesung hoffentlich heute beschließen können. Wir haben

es gemeinsam gründlich und zügig beraten. Beides zu-
sammen ist, glaube ich, wichtig.

Die Anhörung hat gezeigt: Alle Experten haben die
Verfassungsgemäßheit des Gesetzentwurfes bestätigt.
Daher können wir ihn Ihnen heute hier mit zwei ganz ge-
ringfügigen Änderungen guten Gewissens zur Abstim-
mung empfehlen.

Es bleibt dabei: Dieser Gesetzentwurf verbindet vier
wichtige Ziele. Das ist, wenn man so will, ein Parallelo-
gramm, das nicht einfach zusammenzubekommen ist.
Zunächst einmal ging es um den Auftrag des Bundesver-
fassungsgerichts, das negative Stimmgewicht zu beseiti-
gen. Wir ersparen uns alle die nochmalige Definition
dieses Phänomens. Aber das gibt es, Mathematiker
haben es entdeckt. Es soll beseitigt werden.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Erklären Sie es doch einmal! Ich habe es nicht verstanden! – Gegenruf des Abg. Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das ist nicht das Einzige, was Sie nicht verstanden haben!)


Diesen klaren Auftrag des Bundesverfassungsgerichts
haben wir umgesetzt. Inzwischen gibt es sogar schon
verschiedene Definitionen des negativen Stimmge-
wichts. Es gibt so weitgehende, dass man bei ihnen sogar
Zweifel haben könnte. Ich glaube aber, dass wir das, was
man realistischerweise als negatives Stimmgewicht be-
zeichnen kann, mit dem Entwurf beseitigt haben.

Wir haben ein Weiteres getan, nämlich Überhang-
mandate beseitigt. Das Verfassungsgericht hat gesagt:
Ihr dürft 15 Überhangmandate ausgleichslos stehen las-
sen. Niemand weiß genau, woher diese Zahl kommt.


(Dr. Stefan Ruppert [FDP]: Die magische 15!)


Das soll aber hier kein Thema sein. Aber da sie rational
nicht hinreichend erklärbar ist – so auch das Gericht sel-
ber –, haben wir, glaube ich – ich sage das so offen –, gut
daran getan, konsequenter zu handeln als das Gericht
selber, indem wir die Grenze bei null festgelegt haben.
Damit kann man, glaube ich, am ehesten künftigen uner-
quicklichen Auslegungsstreitigkeiten beim Wahlrecht
aus dem Weg gehen bzw. sie vermeiden.

Wir haben drittens – das ist in der Tat ein zumindest
allgemeinpolitisch, wenn nicht auch verfassungspoli-
tisch wichtiger Punkt – eine extreme Ungleichverteilung
der Mandate in der Bundesrepublik Deutschland verhin-
dert. Das Beispiel ist bekannt, der Kollege Ruppert hat
es genannt. Ich könnte ein anderes nennen, aber ich
bleibe beim Brandenburger Beispiel. Über 300 000
Wähler der CDU in Brandenburg hätten nach einem
Wahlrecht, wie es ursprünglich beispielsweise die Grü-
nen vorgeschlagen haben, leicht ohne einen einzigen
CDU-Abgeordneten aus ihrem Land im Parlament daste-
hen können. Das wäre, glaube ich, starkes Gift.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Das hätte die Demokratie ausgehalten!)


Es wäre geradezu tödlich für die Akzeptanz von Wahlen
in Bundesländern gewesen. Wenn knapp ein Drittel der
Menschen eine Partei wählen, aber keinen einzigen Ver-





Dr. Günter Krings


(A) (C)



(D)(B)


treter dieser Partei aus ihrem Bundesland im Bundestag
vorfinden, kann man darüber philosophieren, ob das ver-
fassungsrechtlich gerade noch so geht. Verfassungspoli-
tisch und demokratiepolitisch wäre es eine große Kata-
strophe gewesen, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Für die Verfassung oder für die CDU? Das ist doch die Frage!)


Mit diesem Entwurf haben wir ein Weiteres erreicht.
Wir haben keine radikale bzw. grundlegende Abkehr
vom Prinzip der personalisierten Verhältniswahl vorge-
nommen. Uns als Union hätte der Gedanke eines Mehr-
heitswahlrechts oder eines halben Mehrheitswahlrechts
durchaus gefallen. Das wäre für uns hervorragend gewe-
sen; dann hätten wir über Koalitionspartner wahrschein-
lich gar nicht mehr nachdenken müssen. Meine Damen
und Herren, das wäre aber von den Menschen nicht als
fair empfunden worden; denn das wäre eine grundle-
gende Abkehr von einem Wahlsystem gewesen, das sich
in über 60 Jahren in Deutschland bewährt hat und das
ein Exportschlager für andere Länder gewesen ist und
immer noch ist.

Aus diesem Grunde ist es gut, dass wir bei dem Sys-
tem mit zwei Stimmen – einer Erststimme im Wahlkreis
und einer Zweitstimme bzw. einer Listenstimme – blei-
ben. Ich finde es nicht richtig – das sage ich an die
Adresse der Kollegen Oppermann und auch Beck, die
das eben so ein wenig insinuiert haben –, so zu tun, als
ob nur die Zweitstimme eine Bedeutung hat. Beide Stim-
men sind bei der Wahl wichtig. Die Stimme, mit der ich
meinen Kandidaten vor Ort aussuche, ist eine ganz wich-
tige Stimme. Die Geringschätzung oder, wie wir das se-
hen, die Hochschätzung der Erststimme ist für mich der
Lackmustest der Bürgernähe einer Partei, nämlich ob sie
es wichtig findet, im Wahlkreis den direkten Kontakt zu
den Bürgern zu haben. Deswegen ist es mir wichtig, dass
wir diese beiden Stimmen haben, dass wir ein Zwei-
Stimmen-Wahlrecht behalten.


(Beifall bei der CDU/CSU – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die kennen Sie doch gar nicht, sonst hätte Sie doch keiner gewählt!)


Der Erfolg ist natürlich auch, dass wir bei diesem
Wahlrecht vier von fünf Fraktionen an Bord haben. Wir
von Union und FDP haben entgegen anderslautenden
Behauptungen mehrere Versuche gemacht, auch schon
2011 mit anderen Fraktionen ins Gespräch zu kommen
und einen Kompromiss zu finden. Das war damals nicht
möglich. Das haben wir auch respektiert. Das ist uns nun
gelungen; darüber freue ich mich. Ich bedanke mich da-
her sehr für die gute und konstruktive Zusammenarbeit
bei den Kollegen aus den anderen Fraktionen, bei deren
Mitarbeitern, aber natürlich auch bei den Mitarbeitern
des Bundesinnenministeriums.

Nach dem Dank für die gute und konstruktive Zusam-
menarbeit wende ich mich mit einer Bitte, mit einer Auf-
forderung an die Grünen. Es wäre schon gut, wenn wir
jetzt nicht mehr die Kritteleien an dem Gesetzentwurf in

den Mittelpunkt stellen würden, sondern die Gemein-
samkeit des Vorgehens.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir können auch festhalten, dass wir nicht nur bei die-
sem Gesetzentwurf, sondern auch in anderen Bereichen
wirklich gut zusammengearbeitet haben. Wir haben den
subjektiven Rechtsschutz im Wahlrecht, also den subjek-
tiven Wahlrechtsschutz, eingeführt.

Wir haben vor einigen Tagen die Neuregelung des
Wahlrechts für Auslandsdeutsche herbeigeführt. Der
Kollege Grindel war mit seiner Truppe sogar noch
schneller. Ein Lob an ihn, dass er diese Regelung sehr
schnell und sehr gut hinbekommen hat. Wenn wir nach
der diesbezüglichen Verfassungsgerichtsentscheidung
nämlich nichts gemacht hätten, hätte bei der nächsten
Bundestagswahl kein einziger im Ausland lebender
Deutscher abstimmen können. Das wäre nicht gut gewe-
sen. Es ist gut, dass wir das geschafft haben. Dafür noch
einmal ganz herzlichen Dank.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1722219400

Herr Kollege Krings, der Kollege Ilja Seifert möchte

Ihnen gern eine Zwischenfrage stellen.


Dr. Günter Krings (CDU):
Rede ID: ID1722219500

Ja, gerne.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1722219600

Bitte schön.


Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1722219700

Herr Kollege Krings, Sie alle haben so großen Wert

darauf gelegt, dass das Wahlverfahren demokratisch ist
und dass alle Stimmen gewertet werden sollen. Können
Sie mir jetzt bitte erklären, warum Ihre Fraktion nicht
unserem Antrag zugestimmt hat, Menschen, die unter
Betreuung stehen – ich habe dieselbe Frage schon Herrn
Oppermann gestellt –, das Wahlrecht zu geben?


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Damit habe ich zwölf Minuten vor wenigen Wochen zugebracht, das zu erklären!)


Der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung,
Mitglied Ihrer Fraktion, der Kollege Hüppe, will das ge-
nauso und hat genau die gleichen Argumente wie ich
und wie viele andere, etwa das Deutsche Institut für
Menschenrechte. Es gibt überhaupt kein Erkenntnispro-
blem. Es gibt nur noch die Frage: Warum setzen Sie
nicht um, dass diese Menschen bei der nächsten Bundes-
tagswahl wählen dürfen?


Dr. Günter Krings (CDU):
Rede ID: ID1722219800

Ich bedanke mich, Herr Kollege Seifert, für die Frage,

weil sie wichtig und berechtigt ist. Ich kann sie leicht be-
antworten. Ich teile Ihre Prämisse nicht, dass es hier in
Bezug auf die schlussfolgernde Analyse eine einheitli-
che Meinung gibt und nur die Umsetzung fehlt.





Dr. Günter Krings


(A) (C)



(D)(B)


Erst einmal müssen wir – das liegt sicherlich auch in
Ihrem Interesse – die Menschen an den Fernsehgeräten
oder diejenigen, die die Debatte nachlesen, auf eines hin-
weisen: Es gibt in Deutschland ein Behindertenwahl-
recht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie des Abg. Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD])


Wenn wir so tun – das ist sicher nicht Ihre Absicht –, als
ob es das nicht gäbe, ist das sehr gefährlich. Behinderte
Menschen in Deutschland dürfen wie nichtbehinderte
Menschen selbstverständlich ihre Stimme abgeben. Es
gibt dazu auch vielfältige Hilfen,


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Analphabeten!)


übrigens auch für solche, die des Lebens und Schreibens
nicht kundig sind. Auch diese können wählen. Sie kön-
nen sich einer Hilfsperson bedienen. Es gibt an dieser
Stelle keinen Handlungsdruck.

Das Wahlrecht gilt nicht nur für behinderte Men-
schen, sondern es gilt auch für Menschen, die unter
Betreuung stehen. Auch Menschen, die unter Betreuung
stehen, können ihr Wahlrecht in aller Regel ausüben.
Unter den Betreuten wiederum gibt es eine ganz kleine
Gruppe von Menschen, die dauerhaft und in allen
Lebensangelegenheiten unter Betreuung stehen. Das
sind wirklich Schwerstbehinderte.

Da kann man natürlich darüber sprechen – insofern ist
das vielleicht ein theoretisches Anliegen –, inwieweit
diese Menschen überhaupt in der Lage sein werden, ih-
ren Willen so zu bilden und zu artikulieren, dass eine
Teilnahme an der Wahl überhaupt möglich sein wird. Es
ist wichtig, festzuhalten, dass zurzeit nur diese vom
Wahlrecht ausgeschlossen sind. Das stellt auch nach
Meinung aller Experten, die jedenfalls ich dazu gehört
habe, keinen Konflikt mit der UN-Konvention dar. Das
machen andere Länder ähnlich.

Aber eines ist wichtig. Ich bin sehr dafür, dass wir
noch einmal schauen: Wie ist die Praxis des Betreuungs-
rechts in Deutschland? Ab wann werden Menschen unter
Betreuung gestellt? Ich warne nur davor, das Thema der
vollständigen und dauerhaften Betreuung – das sind nur
ganz wenige extreme Fälle – von der Frage des Wahl-
rechts zu trennen. Was nützt es dem schwerstbehinderten
Menschen, wenn er zwar bei der Wahl seine Stimme ab-
geben kann, aber nicht einmal in der Lage ist, vorher
eine Zeitung zu kaufen, um festzustellen: Was oder wer
steht überhaupt zur Wahl?

Wir müssen auch aufpassen, dass wir das Wahlrecht
nicht als ein minderwertiges Recht ansehen, indem wir
sagen: Es kann zwar selbst der einfachste Kaufvertrag
nicht abgeschlossen werden – das ist nämlich die Folge
des Betreuungsrechts –, nicht einmal Schokolade oder
ein kleiner Gegenstand kann gekauft werden, aber wäh-
len darf man.

Ich glaube, den Menschen, die vielleicht im Einzelfall
zu Unrecht unter vollständiger Betreuung stehen, wäre
nicht damit geholfen, wenn wir sagen: Wir geben euch
das Wahlrecht zurück, aber alles andere dürft ihr weiter-

hin nicht. – Wir müssen vielmehr noch kritischer prüfen,
ob vielleicht im Einzelfall eine vollständige Betreuung
zu leichtfertig ausgesprochen wird. Dazu wird jetzt ein
Gutachten von der Bundesregierung in Auftrag gegeben.
Ich halte das für wichtig.

Aber noch einmal: Ich würde davor warnen, vollstän-
dige Betreuung und Wahlrecht zu trennen. Ich glaube, es
gibt gute Gründe dafür, das zusammenzunehmen. Ich
fürchte nämlich, wenn wir es trennen würden, könnte
das dazu führen, dass Stimmen in diesem Land sagen:
Gibt es nicht viele Missbrauchsfälle? Müssen wir nicht
noch viel kritischer hinschauen und sogar Menschen, die
nicht unter vollständiger Betreuung stehen, das Wahl-
recht nehmen? – Diese Diskussion möchte ich nicht ha-
ben. Denn wichtig ist mir: Menschen mit Behinderung
können in Deutschland wählen, genau wie Menschen
ohne Behinderung in Deutschland wählen können.


(Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


– Wenn noch eine weitere Frage gewünscht ist, gerne.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1722219900

Bitte schön, Herr Seifert.


Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1722220000

Zu Ihrer Argumentation mit dem Missbrauch: Miss-

brauch ist schon verboten. Man kommt eh schon vor den
Kadi, wenn man das Wahlrecht missbraucht. Das
braucht man nicht mehr zu beschließen. Das ist zum
Glück so geregelt.

Aber, bitte schön, warum wollen Sie ein Wahlrechts-
problem nicht im Wahlgesetz lösen, sondern im Betreu-
ungsrecht? Das ist überhaupt nicht zu verstehen. Dass
wir im Betreuungsrecht noch viel zu tun haben, darin
stimmen wir durchaus überein. Da haben wir ganz dicke
Bretter zu bohren. Aber ein Wahlrechtsproblem muss
man im Wahlrecht lösen und nicht irgendwo anders.


Dr. Günter Krings (CDU):
Rede ID: ID1722220100

Wir können darüber gerne noch einmal ausführlicher

diskutieren. Es gibt aber so etwas wie die Einheit der
Rechtsordnung. Ich glaube, es gibt durchaus Wechselbe-
züglichkeiten zu der Möglichkeit eines Menschen, über-
haupt als Geschäftsfähiger Geschäfte zu tätigen. Auch
der Wahlvorgang ist eine rechtsverbindliche bzw. recht-
lich relevante Erklärung. Von daher kann man das schon
verbinden.

Ich beispielsweise finde auch den Gedanken interes-
sant, den, glaube ich, der Kollege Ruppert in einer Be-
sprechung eingebracht hat, nämlich ob man nicht bei-
spielsweise in der Tenorierung eines Urteils, durch das
die Betreuung angeordnet wird, gleichzeitig über das
Thema Wahlrecht mitentscheidet, damit klar ist, dass es
auch um das Wahlrecht geht.

Sie sehen schon, es gibt vielfältige Möglichkeiten, ob
und wie man reagieren kann. Ich bin gerne bereit, dieses
Gespräch weiterzuführen, aber ich glaube, es gibt gute





Dr. Günter Krings


(A) (C)



(D)(B)


Gründe, das nicht in dem heutigen Gesetzentwurf zu the-
matisieren. – Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Meine Damen und Herren, ich habe eben auf das
Wahlrecht für Auslandsdeutsche hingewiesen. Das war
ein wichtiger Punkt.

Ich hätte übrigens an dieser Stelle der Rede noch et-
was zum Behindertenwahlrecht gesagt, aber das muss
ich jetzt nicht mehr tun.

Ich will aber noch etwas zu dem sagen, was vielfältig
angeklungen ist, nämlich zur Frage des Wahlrechts für
Ausländer, und zwar für Nicht-EU-Ausländer. Auch da-
bei gibt es wieder ein Missverständnis: Natürlich können
EU-Ausländer bei Kommunalwahlen wählen. Es geht
um die Ausländer aus Drittstaaten.

Wenn hier für Kommunalwahlen oder teilweise auch
allgemein ein Wahlrecht gefordert wird, dann muss ich
sagen: Wir als Union jedenfalls haben ein etwas anderes
Verständnis. Wir werben darum, dass möglichst viele
ausländische Mitbürger, die hier länger leben, sich ein-
bürgern lassen. Wir wollen, dass sie die vollen Rechte ei-
ner deutschen Staatsbürgerschaft haben. Wir wollen sie
nicht auf eine Art Staatsbürgerschaftsrecht light verwei-
sen und sagen: „Ihr kriegt bei den Kommunalwahlen ein
Wahlrecht“, und das reicht uns dann.

Nein, wir wollen die volle Integration, und die ist, wie
ich finde, mit der Annahme der deutschen Staatsbürger-
schaft als Schlusspunkt erreicht. Dann gibt es das Wahl-
recht nicht nur bei Kommunalwahlen, sondern auch bei
Landtags- und Bundestagswahlen.

Um es auf den Punkt zu bringen und das Thema der
doppelten Staatsbürgerschaft noch einmal anzusprechen,
das eben schon genannt worden ist: Doppelte Staatsbür-
gerschaft heißt letztlich auch doppeltes Stimmgewicht,
zwar in verschiedenen Staaten, aber immerhin. Das, was
von den Grünen und anderen im Wahlrecht immer als
Gift bezeichnet wird, wird außerhalb des Wahlrechts auf
einmal als normal hingenommen. Auch das ist, glaube
ich, ein Punkt, über den man noch einmal nachdenken
sollte. Ich glaube, es ist richtig, dass wir auch dieses
Thema in dieser Reform, die wichtig war, nicht anspre-
chen.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1722220200

Herr Kollege Krings, Herr Kollege Beck würde gerne

eine Zwischenfrage stellen.


Dr. Günter Krings (CDU):
Rede ID: ID1722220300

Gerne.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1722220400

Bitte schön.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722220500

Ich würde gerne verstehen, warum das doppelte

Stimmgewicht und die doppelte Staatsbürgerschaft bei
manchen ein Problem ist und bei anderen nicht. Sie ha-
ben einen Ministerpräsidentenkandidaten gehabt,

McAllister, der einen britischen und einen deutschen
Pass hat. Da hat es offensichtlich niemanden in der
Union gestört, dass er doppeltes Stimmgewicht hat.

Bei dem türkischen Gemüsehändler bei mir um die
Ecke und seinem Sohn ist das offensichtlich ein riesiges
Problem.


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Der eine ist EU, der andere ist nicht EU! Das wissen Sie schon?)


Deshalb stellen wir den Sohn vor die Entscheidung, die
die Optionsregelung mit sich bringt.

Können Sie mir erklären, warum in manchen Fällen
– bei Kindern von binationalen Paaren, bei EU-Auslän-
dern, bei Ländern, mit denen wir entsprechende Abkom-
men haben – die doppelte Staatsbürgerschaft uns kein
Problem bereitet, wir aber bei diesen komischen Türken,
die bei uns leben,


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Vorsichtig! – Gisela Piltz [FDP]: Wir sagen jedenfalls nicht „komische Türken“!)


auf einmal ein Riesenbohei machen, wenn es um eine
doppelte Staatsbürgerschaft geht? Das kommt mir etwas
eigenartig vor. Ich würde gerne verstehen, ob es da eine
Ratio gibt oder ob die Ratio, wie ich glaube, doch ei-
gentlich dem Vorurteil gehorcht.


Dr. Günter Krings (CDU):
Rede ID: ID1722220600

Herr Kollege Beck, ich will Ihnen gerne zugestehen,

dass Sie das mit den „komischen Türken“ ironisch ge-
meint haben. Aber nicht einmal als Ironie sollten wir
hier im Hause einen solchen Begriff benutzen, meine
sehr verehrten Damen und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Es ist in der Tat so – das werden Sie wissen –:
Deutschland ist Mitglied der Europäischen Union. Ich
glaube nicht, dass Sie etwas dagegen haben. Natürlich
überformt europäisches Recht nationales Recht. Insofern
gibt es schon einen Unterschied bezüglich Menschen aus
Mitgliedstaaten der Europäischen Union und denen, die
nicht aus der EU sind. Das würde auf den von Ihnen ge-
nannten Ministerpräsidenten von Niedersachsen zutref-
fen.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Den ehemaligen!)


– Ja, er kommt vielleicht bald wieder, nicht?


(Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Von daher ist das ein durchaus triftiger, sachlicher
Grund.

Es gibt ferner – Sie haben es angedeutet – auch fami-
liäre Konstellationen, in denen es zu unzumutbaren Här-
ten führen würde, keine doppelte Staatsbürgerschaft aus-
zusprechen. Die Beispiele beweisen, dass unser Recht
sehr flexibel und sehr human auf diese Anliegen re-
agiert.





Dr. Günter Krings


(A) (C)



(D)(B)



(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


Aber wenn sich jemand entscheidet, dauerhaft hier in
Deutschland zu leben, dann soll er sich auch zur deut-
schen Staatsbürgerschaft bekennen. Dann ist in diesen
Fällen eine doppelte Staatsbürgerschaft nicht zwingend
erforderlich. – Vielen herzlichen Dank.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es sei denn, er heißt McAllister!)


Meine Damen und Herren, es ist ja auch viel darüber
gerätselt worden – es sind sogar klare Prognosen abge-
geben worden –, was dieses Wahlrecht denn für die
Größe des Bundestages bedeutet. Zunächst einmal ist es
ein guter Zeitpunkt, dass wir heute dieses Wahlrecht ver-
abschieden können, weil wir seit einigen Tagen auch den
Wahltermin kennen, den 22. September. Ich würde doch
allen, die jetzt schon genau wissen, wer die Wahl gewin-
nen wird oder wie groß der nächste Bundestag sein wird,
raten, aus Respekt vor den Wählerinnen und Wählern
unseres Landes den 22. September dieses Jahres abzu-
warten.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf von der FDP: Ich fürchte, wir müssen abwarten, ja!)


Ich rate deshalb von allen wilden Prognosen nicht nur
über den Wahlausgang, sondern auch über die Bundes-
tagsgröße ab. Das betrifft auch die Frage, wie viele
Überhangmandate, wie viele Ausgleichsmandate am
22. September anfallen werden, und das betrifft auch die
oftmals schon reflexhafte Klage über die Vergrößerung
des Bundestags. Ich halte das für unsinnig.

Wenn man – ich will hier nicht nach vorn schauen; ich
will nicht irgendwelche nicht haltbaren Prognosen auf-
stellen – das Ergebnis der letzten Bundestagswahl zu-
grunde legen würde – das darf man, glaube ich, einmal
sagen –, wäre der Bundestag zwar etwas größer gewor-
den – weil wir uns leider mit unserem Wahlrecht nicht
haben durchsetzen können –, aber diese Vergrößerung
wäre in einem Maße geschehen, dass die Bundesrepu-
blik Deutschland immer noch das zweitkleinste Parla-
ment innerhalb der Europäischen Union, gemessen an
unserer Bevölkerungszahl, hätte. Ich glaube, das sind
keine dramatischen oder unzumutbaren Zustände. Auch
das muss man in die richtige Perspektive rücken.

Ich halte es für uns alle gemeinsam, hoffe ich, für be-
sorgniserregend, dass in weiten Teilen unserer Gesell-
schaft das Parlament offenbar in erster Linie als Kosten-
faktor angesehen wird. Zum einen ist es wichtig, dass
wir dann als Parlamentarier gemeinsam für unsere Ar-
beit werben, gemeinsam dieser reinen Betrachtung des
Parlaments als Kostenfaktor entgegentreten. Denn wir
haben nur diese Demokratie, wir sollten sie verteidigen.

Zum anderen müssen wir natürlich das ernst nehmen,
was an Kritik kommt, warum so viele Menschen die Ar-
beit des Bundestages nicht mehr positiv wahrnehmen,
sondern eher negativ als Kostenfaktor. Das sollte viel-
leicht auch stilbildend für den Wahlkampf werden, den

wir im Sommer dieses Jahres führen werden: dass wir
auch immer im Auge behalten, dass es nicht nur darum
geht, den Nutzen für die eigene Partei zu mehren, son-
dern auch zu schauen, wie wir das Vertrauen in die Insti-
tution Bundestag wiederherstellen können, sodass man
uns in dieser Republik nicht ausschließlich als Kosten-
faktor ansieht.

Lassen Sie mich einen allerletzten Punkt ansprechen.
Natürlich hat der Bundestag auch bei diesem Gesetz eine
Gesetzesbeobachtungspflicht nach der Verabschiedung
heute. Ich bin der Auffassung – wie das die Redner vor
mir gesagt haben –: Wir müssen nach der Wahl natürlich
analysieren, ob das Wahlgesetz wirklich zu einer unan-
gemessenen Vergrößerung des Bundestages geführt hat.
Ich rechne zwar nicht damit, aber es ist natürlich nicht
auszuschließen. Der Gesetzgeber wird dann gegebenen-
falls darauf zu reagieren haben.

Ich finde es wichtig und notwendig, dass wir auch das
dann wieder in einem parteiübergreifenden Konsens ma-
chen, und ich finde, dass wir diesen Konsens in einer
formalen Weise am ehesten dauerhaft sicherstellen kön-
nen, wenn wir über eine jedenfalls teilweise Veranke-
rung des Wahlrechts in der Verfassung nachdenken, dass
wir also Grundzüge unseres Wahlsystems in unsere Ver-
fassung schreiben. Das würde garantieren, dass die Wei-
terentwicklung des Wahlrechts immer von mindestens
zwei Dritteln dieses Hauses getragen werden würde.

Meine Damen und Herren, sollten aus der Bundes-
tagswahl im September also Konsequenzen im Wahl-
recht gezogen werden müssen, so sollten diese Konse-
quenzen aus meiner Sicht im Grundgesetz gezogen
werden.

Vielen herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1722220700

Für die SPD-Fraktion hat jetzt der Kollege Dr. Dieter

Wiefelspütz das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD):
Rede ID: ID1722220800

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir

haben in dieser Debatte wenig Streit. Das würde mir
jetzt auch nicht gelingen, in eine einvernehmliche De-
batte Streit hineinzubringen. Lassen Sie mich aber mit
dem beginnen, bei dem es vielleicht doch die eine oder
andere Kontroverse gibt: beim kommunalen Ausländer-
wahlrecht.

Herr Krings, Sie haben hier die Position Ihrer Frak-
tion vorgetragen. Die Union ist mit dieser Position hier
im Hause allein. Das muss nichts Schlimmes sein.


(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Genau!)


Ich weise nur darauf hin, dass die Oppositionsfraktionen
und die FDP an dieser Stelle anderer Auffassung sind.
Ich bitte Sie sehr nachdrücklich darum, diese Diskussion
in Ihrer Fraktion bzw. in Ihrer Partei fortzuführen. Ich
verstehe ernsthaft nicht, warum Sie Angst oder Beden-





Dr. Dieter Wiefelspütz


(A) (C)



(D)(B)


ken haben. Wir sind gemäß unserem Menschenbild – ich
denke, gemeinsam – der Auffassung, dass Teilhabe, Par-
tizipation, Übernahme von Verantwortung und Aktiv-
bürgerschaft in unserer parlamentarischen Demokratie
herausragende Elemente sind. Deswegen sollte jedes In-
strument, das geeignet ist, diese zu befördern, genutzt
werden. Ich bin der Auffassung, dass das kommunale
Ausländerwahlrecht für Drittstaatsangehörige in Sachen
Integration kein Patentrezept darstellt. Aber es handelt
sich um einen nicht unwichtigen Baustein, weil Wahl-
recht auf kommunaler Ebene ein zentrales und wichtiges
Recht der Bürgerinnen und Bürger ist. Wenn wir den
Drittstaatsangehörigen, die seit Jahren in Deutschland zu
Hause sind, nicht dieses Recht gewähren, schließen wir
locker 2 Millionen bis 3 Millionen Menschen von dieser
demokratischen Teilhabe aus. Warum sollte das, was auf
EU-Ebene funktioniert, nicht auch bei Menschen funk-
tionieren, die aus der Türkei oder Nordafrika zu uns ge-
kommen sind und seit Jahren in Deutschland leben, ohne
bislang die deutsche Staatsangehörigkeit zu haben?
Also, bitte, haben Sie keine Angst vor dem Ausländer-
wahlrecht für Drittstaatsangehörige, und bewegen Sie
sich an dieser Stelle! Sie sind mit Ihrer Position allein im
Deutschen Bundestag, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der CDU/CSU. Hier besteht massiver Änderungs-
bedarf. Deswegen werbe ich sehr dafür, dem, wenn nicht
heute, so doch hoffentlich in Zukunft zuzustimmen.

Das Wahlrecht für Behinderte wurde bereits kurz an-
gesprochen. Das wird ein großes Thema in der kommen-
den Wahlperiode sein. Die Zeit ist zu knapp, um das jetzt
noch zu regeln, einfach so. Herr Kollege Seifert, auch
aus Respekt vor Ihrem Anliegen ist es sachgerecht, uns
Zeit für eine ernsthafte Betrachtung dieses Themas zu
nehmen. Ich bin gemeinsam mit meiner Fraktion der
Auffassung, dass die gegenwärtige Rechtslage unzurei-
chend und verfassungsrechtlich bedenklich ist. Bislang
gilt die Fiktion bzw. der Automatismus, dass das Wahl-
recht entfällt, wenn Vollbetreuung besteht. Das ziehen
wir in Zweifel. Das halten wir für hoch problematisch,
wenn nicht sogar für verfassungswidrig. Das müssen wir
anpacken. Was wir aber anstelle dessen machen, Herr
Seifert, muss in aller Ruhe überdacht werden. Wir soll-
ten im Parlament einen seriösen Diskussionsprozess ein-
leiten, um hier zu einem guten Ende zu kommen.


(Beifall bei der SPD)


Ich will noch ein Thema aufgreifen, das nicht unmit-
telbar Gegenstand der heutigen Gesetzgebung ist: Wahl-
recht und Analphabetentum. Ich sage freimütig – ich
schließe mich da ein –, dass wir das bislang völlig unter-
schätzt bzw. ausgeblendet haben, weil wir vielleicht zu
selbstverständlich davon ausgehen, dass jeder lesen und
schreiben kann. Das ist aber nicht der Fall. In Deutsch-
land gibt es Millionen Menschen, die entweder voll und
ganz Analphabeten sind oder – technisch ausgedrückt –
funktionale Analphabeten, also mehr oder weniger An-
alphabeten sind. Hier bestehen im Zusammenhang mit
dem Wahlrecht Beeinträchtigungen, Hemmungen, Er-
schwernisse und sogar Diskriminierungen, die vielleicht
gar nicht beabsichtigt sind, sich aber tatsächlich auswir-
ken. Das sollten wir zur Kenntnis nehmen. Ich habe
keine perfekte Lösung. Aber man wird daran arbeiten

müssen. Es wird ein großes Thema in der nächsten
Wahlperiode sein, Millionen Menschen, die ein Problem
mit Lesen und Schreiben haben, die Teilhabe zu erleich-
tern. Dieses Thema hat der Deutsche Bundestag in den
vergangenen Jahren völlig ausgeblendet. Er hat es nicht
zur Kenntnis genommen. Dieses Thema müssen wir an-
packen.

Im Mittelpunkt stehen heute Überhangmandate, Aus-
gleichsmandate und das negative Stimmgewicht. Dazu
ist bereits alles gesagt worden, was dazu gesagt werden
kann. Wir haben eine ordentliche Debatte geführt und
einvernehmliche Ergebnisse erzielt. Wir haben ein soli-
des Wahlrecht. Es war bislang zu 98 bzw. 99 Prozent gut
und überzeugend. Aber dieses eine oder die zwei Pro-
zent – Überhangmandate und negatives Stimmgewicht –
stellen ein großes Problem dar. 1 Prozent oder 2 Prozent
mag dem einen oder anderen wenig erscheinen. Aber
wenn Wahlen knapp ausgehen, sind genau diese Margen
gigantisch. Ich darf einmal daran erinnern: Wie knapp es
zugehen kann, zeigte sich auch bei der letzten Wahl in
Niedersachsen. Da ging es, glaube ich, um 0,4 Prozent
der abgegebenen Stimmen.

Dieses Problem haben wir jetzt verfassungskonform
gelöst. Insoweit ist das ein guter Tag. Wahlrecht ist Wett-
bewerbsrecht in der parlamentarischen Demokratie, und
dieses Wettbewerbsrecht muss fair, transparent, klar und
sauber sein. Das war es eben nicht; das hat uns Karlsruhe
sehr deutlich bescheinigt. Dies reparieren wir heute ein-
vernehmlich, und das ist eine gute Botschaft. Einver-
nehmlich war das nur deshalb möglich, weil alle Betei-
ligten bis auf die Linksfraktion aufeinander zugegangen
sind. Sie haben ihre Interessen zwar nicht verleugnet,
aber doch auch die Interessen der jeweils anderen Grup-
pierungen ernst genommen. Diese Grundbedingung für
einen Kompromiss ist beherzigt worden. Deswegen gab
es einen guten, soliden Kompromiss. Dafür sind wir aus-
gesprochen dankbar. Insofern können wir mit fairen
Wettbewerbsbedingungen in den Wahlkampf eintreten.

Schönen Dank fürs Zuhören.


(Beifall bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1722220900

Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Serkan

Tören das Wort.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Serkan Tören (FDP):
Rede ID: ID1722221000

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lassen

Sie mich kurz etwas zu den gesonderten Anträgen der
Opposition zum kommunalen Wahlrecht für Drittstaats-
angehörige sagen.

Professor Ingo von Münch, seinerzeit stellvertreten-
der Bürgermeister in Hamburg und FDP-Mitglied, hat
schon vor Jahrzehnten über diese Thematik gesprochen
und sich darüber Gedanken gemacht. Die FDP-Bundes-
tagsfraktion kann sich über eine Länderöffnungsklausel
durchaus ein kommunales Wahlrecht für Ausländer vor-





Serkan Tören


(A) (C)



(D)(B)


stellen. Die Bundesländer sollen selbst entscheiden kön-
nen, ob sie ein kommunales Wahlrecht für Ausländer
wollen oder nicht. Unser Ideal ist, dass die Bürger vor
Ort über möglichst viel entscheiden, was sie betrifft.
Was am besten vor Ort entschieden werden kann, soll
auch vor Ort entschieden werden.


(Beifall bei der FDP)


Den Bürgern vor Ort kommt für uns daher eine beson-
dere Bedeutung zu. Gerade weil wir den Entscheidungen
in den Kommunen einen so hohen Stellenwert einräu-
men, können wir das Recht, an ihnen teilzuhaben, nicht
ohne jede Bedingung vergeben. Genau das ist aber das
Ziel der Anträge der Opposition. Das Wahlrecht soll
überwiegend an den Wohnort gekoppelt und unabhängig
von bestimmten Bedingungen sein. Diese Richtung mag
zwar richtig sein; nur schießen Sie über das Ziel hinaus.

Wer sich in seiner Gemeinde einbringen will, muss
mit den Gegebenheiten vor Ort, zumindest aber mit de-
nen in Deutschland vertraut sein. Das ist meines Erach-
tens nur gegeben, wenn jemand mindestens fünf Jahre in
Deutschland gelebt hat. Damit bekämen all diejenigen
das kommunale Wahlrecht, die in Deutschland aufge-
wachsen sind, aber auch Angehörige der ersten Genera-
tion, die eingewandert sind und sich nicht für die deut-
sche Staatsangehörigkeit entschieden haben. Der große
Unterschied zum Vorschlag der Opposition aber ist, dass
nicht jeder, der von außerhalb der EU nach Deutschland
kommt, sofort mitentscheiden darf, sondern nur diejeni-
gen, die ausreichend lange bei uns leben.

Die FDP wird heute die Gesetzentwürfe der Opposi-
tion ablehnen. Für die Integration in unserem Land ist
das kein Problem; da mag die Opposition noch so laut
tönen. Internationale Studien zeigen immer wieder, dass
die Wahlbeteiligung von Ausländern bei Kommunal-
wahlen deutlich niedriger ist als die der Staatsangehöri-
gen. Die Beispiele Kanada, wo es ein kommunales
Wahlrecht für Ausländer gibt, und Norwegen verdeut-
lichen das. Ganz offensichtlich gehört das kommunale
Wahlrecht für Ausländer nicht zu den drängendsten Zie-
len der Betroffenen selbst. Umso wichtiger ist es, dass
wir hier für die deutsche Staatsangehörigkeit werben.
Wer Deutscher geworden ist, engagiert sich weitaus stär-
ker als derjenige, der noch nicht Deutscher geworden ist.
Das Ziel muss die volle Staatsangehörigkeit sein.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ein kommunales Wahlrecht für Ausländer aus Dritt-
staaten kann zwar eine Hilfe sein; ein bedingungsloses
Wahlrecht, wie von den Vertretern von SPD, Grünen und
Linken gefordert, ist aber keine Hilfe.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1722221100

Ich schließe die Aussprache.

Mir liegen drei Erklärungen zur Abstimmung gemäß
§ 31 unserer Geschäftsordnung vor. Wir nehmen diese

Erklärungen entsprechend unserer Geschäftsordnung zu
Protokoll.1)

Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/
Die Grünen eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Änderung des Bundeswahlgesetzes. Der Innenaus-
schuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/12417, den Gesetzent-
wurf der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP
und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/11819 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim-
men wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dage-
gen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung mit den Stimmen der Unionsfraktion,
der FDP-Fraktion, der SPD-Fraktion und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion
Die Linke angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen,
der SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke ange-
nommen.

Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent-
wurf der Fraktion Die Linke zur Änderung des Bundes-
wahlgesetzes. Der Innenausschuss empfiehlt unter
Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 17/12417, den Gesetzentwurf der Fraktion Die
Linke auf Drucksache 17/11821 abzulehnen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der SPD-
Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen
die Stimmen der antragstellenden Fraktion Die Linke ab-
gelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung
die weitere Beratung.

Tagesordnungspunkt 9 b. Abstimmung über den Ge-
setzentwurf der Fraktion der SPD zur Änderung des
Grundgesetzes, Art. 28 Abs. 1. Der Innenausschuss
empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/12424, den Gesetzentwurf der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/1047 abzulehnen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Be-
ratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen
die Stimmen der Oppositionsfraktionen abgelehnt. Da-
mit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere
Beratung.

Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent-
wurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Änderung
des Grundgesetzes, Art. 28 Abs. 1 – Kommunales Aus-
länderwahlrecht. Der Innenausschuss empfiehlt unter

1) Anlage 2





Vizepräsidentin Petra Pau


(A) (C)



(D)(B)


Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 17/12424, den Gesetzentwurf der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/1150 abzulehnen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Be-
ratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen
die Stimmen der Oppositionsfraktionen abgelehnt. Da-
mit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere
Beratung.

Tagesordnungspunkt 9 c. Wir setzen die Abstimmung
über die Beschlussempfehlung des Innenausschusses auf
Drucksache 17/12424 fort. Der Ausschuss empfiehlt un-
ter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung die Ableh-
nung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksa-
che 17/1146 mit dem Titel „Kommunales Wahlrecht für
Drittstaatenangehörige einführen“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen bei Enthaltung der SPD-Fraktion angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine
Zimmermann, Jutta Krellmann, Dr. Axel Troost,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Einstieg in gute öffentlich geförderte Beschäf-
tigung beginnen

– Drucksache 17/12377 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Innenausschuss 
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
gin Jutta Krellmann für die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Jutta Krellmann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1722221200

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen

und Herren! Die Agenda 2010 wird in diesem Jahr zehn
Jahre alt. Damit begann Rot-Grün einen Systembruch:
Sozialstaat ade. Rot-Grün wollte nun die Arbeitslosig-
keit durch einen aktivierenden Sozialstaat senken, nach
dem Prinzip „Fördern und Fordern“.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Was sehr richtig war!)


Wie sieht es heute, zehn Jahre danach, aus? Nach amtli-
chen Angaben waren Ende letzten Jahres über 1 Million
Menschen langzeiterwerbslos. Im letzten Jahr sank die
Zahl der Langzeiterwerbslosen auch nur um 1 Prozent,
und das, obwohl die Unternehmen in Deutschland gute
Geschäfte gemacht haben und Arbeitnehmer gefragt wa-

ren. „Fördern und Fordern“ hat nicht wirklich gut funk-
tioniert.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Das stimmt doch gar nicht!)


Nun hat diese Bundesregierung beschlossen, die Mit-
tel der aktiven Arbeitsmarktpolitik in den kommenden
Jahren zu reduzieren.


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Unerhört!)


Das hat bereits jetzt Auswirkungen auf die beschäfti-
gungschaffenden Maßnahmen, die die Bundesagentur fi-
nanziert: Die Zahl der Teilnehmer an diesen Maßnahmen
ist zwischen 2010 und 2012 um 46 Prozent gesunken.


(Zuruf von der LINKEN: Hört! Hört!)


Das sind schlechte Nachrichten für Menschen, die lang-
zeitarbeitslos sind. Statt den Menschen Mut zu machen
und ihnen eine Perspektive zu geben, werden sie mit
Sanktionen unter Druck gesetzt. Ihre Würde wird aufs
Schärfste verletzt. Dafür muss sich diese Bundesregie-
rung eigentlich schämen.


(Beifall bei der LINKEN)


Wenn man sich dieses Jahr anschaut, dann sind die
wirtschaftlichen Prognosen schlechter als im vergange-
nen Jahr. Deshalb brauchen wir einen sofortigen Wech-
sel in der Arbeitsmarktpolitik. Seriöse Untersuchungen
zeigen, dass die meisten Langzeiterwerbslosen nicht nur
arbeiten wollen, sondern auch gute Leistungen erbringen
können, wenn sie die Chance dazu bekommen. Arbeit
bedeutet Bestätigung und Selbstwertgefühl. Aber es
fehlt das Angebot an Arbeitsplätzen. Das allein privaten
Unternehmen zu überlassen, ist aussichtslos. Private Un-
ternehmen sind keine Sozialvereine. Ihr Ziel ist es, Ge-
winne zu machen. Soziale Gesichtspunkte sind oftmals
nur Nebeneffekte. Die Unternehmen haben nicht ausrei-
chend Arbeitsplätze für Langzeitarbeitslose geschaffen.
Deshalb fordert die Linke den Aufbau eines öffentlich
geförderten Beschäftigungssektors, ÖBS. Den gab es
schon einmal in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin,
und das war erfolgreich.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Unter Rot-Rot!)


In unserer Gesellschaft gibt es nach wie vor viele Be-
reiche, in denen gesellschaftlich sinnvolle Arbeit geleis-
tet werden müsste. Aber mit denen ist oftmals kein Profit
zu machen. Diese Lücke muss öffentliche Beschäftigung
dringend schließen.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir wollen mit dem ÖBS weg von demütigenden For-
men von Beschäftigungstherapien wie 1-Euro-Jobs, weg
von öffentlich geförderten Niedriglöhnen, die ergän-
zende Sozialleistungen notwendig machen, hin zu sinn-
voller Arbeit und einer mittelfristigen Perspektive. Diese
Arbeit muss vernünftig tariflich bezahlt werden. Wo
keine Tarife bestehen, muss es einen Rechtsanspruch auf
einen Mindestlohn von 10 Euro geben, auch bei ÖBS.


(Beifall bei der LINKEN)






Jutta Krellmann


(A) (C)



(D)(B)


Wir haben die Vorschläge zur Einrichtung eines
sozialen Arbeitsmarktes, die SPD und Grüne im Herbst
gemacht haben, zur Kenntnis genommen. Wir können
uns diesen Vorschlägen aber nicht anschließen; denn sie
brechen nicht mit der Logik der Agenda 2010. Die Linke
will mit einem öffentlich geförderten Beschäftigungs-
sektor eine grundlegende Abkehr von den Prinzipien
erreichen, die der Agendapolitik zugrunde lagen. Wir
wollen gute Arbeit für Langzeiterwerbslose. Schluss mit
jeder Form von Sanktionen!


(Beifall bei der LINKEN – Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bei uns ist das doch auch nicht sanktionsbewehrt! Frau Krellmann, Sie haben unsere Anträge nicht gelesen!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1722221300

Für die Unionsfraktion hat der Kollege Dr. Matthias

Zimmer das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Matthias Zimmer (CDU):
Rede ID: ID1722221400

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Verehrte

Frau Krellmann, ich hatte bei Ihrer Rede über weite Stre-
cken die Anmutung einer argumentativen Notwasserung.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP)


Es ist beinahe ein Déjà-vu, das ich beim Antrag der Lin-
ken habe: einmal mehr öffentlich geförderte Beschäfti-
gung. Wir haben uns zu Beginn der Legislaturperiode,
während der Krise, damit beschäftigt. Jetzt, nach der
Krise, kommen Sie wieder mit der öffentlich geförderten
Beschäftigung. Für jede Lebenslage schlagen Sie vor:
öffentlich geförderte Beschäftigung. Es ist schon richtig,
Frau Krellmann: Wer nur einen Hammer hat, für den se-
hen alle Probleme aus wie Nägel. – Das ist ein bisschen
einfältig.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das ist ein bisschen billig!)


Aber nun gut; ich habe mir sagen lassen: Früher, als Sie
noch Hammer und Sichel hatten, war es auch nicht bes-
ser.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Schauen wir uns Ihren Antrag einmal an. Da sprechen
Sie von einer hohen Langzeiterwerbslosigkeit, vergessen
aber, zu vermelden: In den letzten Jahren wurde die Zahl
der Langzeiterwerbslosen aufgrund der Erfolge der
Arbeitsmarktpolitik dieser Bundesregierung fast hal-
biert. Da beklagen Sie, dass wir Maßnahmen zusammen-
gestrichen hätten, die Langzeiterwerbslosen neue
Perspektiven eröffnen. Das einzige Programm, das wir
tatsächlich deutlich gekürzt haben, ist das Existenzgrün-
derprogramm; da gab es zu viele Mitnahmeeffekte. Aber
dass sich ausgerechnet Ihre Partei, das zum Programm
gewordene Investitionshindernis, als Schutzpatron der
Selbstständigen aufspielt, ist schon ein starkes Stück.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Lachen bei Abgeordneten der LINKEN)


Dann kritisieren Sie, wir hätten in der Arbeitsmarkt-
und Beschäftigungsbeförderung eingespart. Sie ver-
schweigen allerdings, dass wir die Mittel für Programme
der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungsförderung auf dem
Höhepunkt der Krise deutlich nach oben gefahren haben.
Trotz der danach vorgenommenen Reduzierung geben
wir heute pro Kopf mehr für die Integration von Lang-
zeitarbeitslosen in den Arbeitsmarkt aus als vor der
Krise. Aber das passt natürlich nicht in Ihr Weltbild.
Gibt es mehr Arbeitslose, muss mehr Geld ausgegeben
werden; gibt es weniger Arbeitslose, muss auch mehr
Geld ausgegeben werden. Wer so rechnet, dem bleibt am
Ende natürlich nichts anderes übrig, als die Steuern zu
erhöhen und zu behaupten, in Deutschland gebe es ohne-
hin zu viele Reiche. Da zeigt sich schon, liebe Frau
Krellmann, dass Adenauer recht hatte: Alles was die So-
zialisten vom Geld verstehen, ist die Tatsache, dass sie
es von anderen haben wollen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Frau Krellmann, richtig amüsiert hat mich ein Lapsus
Linguae in Ihrem Antrag, weil er ein wenig verrät,
worauf Sie eigentlich hinauswollen. Sie sprechen vom
Instrument des Aktiv-Passiv-Transfers, meinen aber of-
fensichtlich den Passiv-Aktiv-Transfer, also die Zusam-
menführung passiver Leistungen zur Aktivierung am
Arbeitsmarkt. Das kann in der Aufregung passieren;
aber wie gesagt: Es wirft eben auch ein Licht auf Ihre
Gedankenwelt. Denn beim Begriff „Aktiv-Passiv-Trans-
fer“ hatte ich sofort das bedingungslose Grundeinkom-
men vor Augen, also die Finanzierung der Passivität
durch die wenigen noch verbliebenen Aktiven.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Es ist schon erstaunlich, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der Linken: Die Marx-Rezeption der Linken ist am
Ende bei Paul Lafargue angekommen, jenem Schwieger-
sohn von Karl Marx, der mit seinem Buch Das Recht auf
Faulheit sowohl Marx als auch Engels zur Weißglut ge-
reizt hat. Aber das ist eben auch Stand der Debatte bei
den Linken, und ich kann es Ihnen nicht verdenken; die
Toskana-Fraktion der Salonsozialisten unter Oskar
Lafontaine lässt grüßen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dazu passt natürlich, dass Sie in Ihrem Antrag bekla-
gen, dass wir auf eine schnelle Vermittlung in Arbeit
setzen. Ja, worauf denn sonst? Wenn ich der öffentlich
geförderten Beschäftigung etwas abgewinnen könnte,
dann doch nur dies: dass sie Menschen in Arbeit bringt,
wo es der Markt im Augenblick nicht kann. Selbst bei
der öffentlich geförderten Beschäftigung gilt: Es ist Ar-
beit und keine Einladung zum Wohlergehen auf Kosten
der öffentlichen Hand.

Aber zurück zu Ihrem Antrag. Ich meine, dass wir
diese Form der öffentlichen Beschäftigung im Augen-
blick nicht brauchen. Die bisher bereitgestellten Instru-
mente sind ausreichend.





Dr. Matthias Zimmer


(A) (C)



(D)(B)



(Katja Mast [SPD]: Das stimmt nicht, Herr Kollege Zimmer! – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Sie müssen nur mit der Bundesagentur reden! Das hilft schon!)


Die ganze Hilflosigkeit Ihres Antrags zeigt sich auch in
der Vermischung mit den alten üblichen Forderungen:
Mindestlohn von 10 Euro, Verweis auf drohende Alters-
armut, Beschwerde darüber, dass es Sanktionen gibt,
also der ganze Reigen der sozialistischen Folklore, der
uns seit vielen Jahren begleitet. Das ist alles legitim, am
Ende jedoch nichts als alter Wein in noch älteren Schläu-
chen, eine Politik von gestern, die wir im Interesse einer
Chancengesellschaft von morgen ablehnen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1722221500

Die Kollegin Katja Mast hat für die SPD-Fraktion das

Wort.


(Beifall bei der SPD)



Katja Mast (SPD):
Rede ID: ID1722221600

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen

und Kollegen! Einmal mehr debattieren wir hier im
Hohen Hause über die Teilhabe und Integration von
Langzeitarbeitslosen.


(Pascal Kober [FDP]: Da war keine Regierung so erfolgreich wie wir!)


Einmal mehr müssen wir feststellen, dass die Bundes-
regierung – im Gegensatz zu der Behauptung meines
Kollegen Zimmer – keine Antworten hat;


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Was? Mehr als ihr, Frau Mast! – Pascal Kober [FDP]: Wir waren erfolgreich!)


denn sonst würden hier Anträge von Ihnen vorliegen.
Bereits im November haben wir die Anträge von SPD
und Grünen diskutiert; heute diskutieren wir den von der
Linken. Von der Regierungskoalition liegt kein Antrag
vor.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wir lösen das etwas anders!)


Herr Kollege Zimmer, es stimmt eben nicht, dass die
Bundesregierung nur die Existenzgründungsförderung
für Langzeitarbeitslose abgeschafft hat.


(Pascal Kober [FDP]: Wir haben sie nicht abgeschafft! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ermessen! Nicht abgeschafft! – Sebastian Blumenthal [FDP]: Wir haben sie nicht abgeschafft, sondern ermessen!)


– Reden Sie einmal mit den Gründerinnen und Grün-
dern, die keine Zuschüsse mehr bekommen. Was Sie ge-
macht haben, ist de facto eine Abschaffung.


(Gisela Piltz [FDP]: Das ist Ihre interessante Wahrnehmung der Wahrheit, Frau Kollegin!)


Lassen Sie uns aber beim Thema bleiben. Es geht um
die Vermittlung von Langzeitarbeitslosen. Das sind die

Menschen, über die Ihr ehemaliger Parteivorsitzender
gesagt hat, sie wären spätrömisch dekadent, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen von der FDP.


(Pascal Kober [FDP]: Das stimmt nicht, Frau Mast! Sie müssen genau zitieren! Wenn Sie einen Doktortitel hätten, wäre er schon weg!)


– Schreien hilft auch nicht, Herr Kober. Stellen Sie doch
eine Zwischenfrage!


(Beifall bei der SPD)


Setzen Sie sich mit den langzeitarbeitslosen Men-
schen auseinander, die in Beschäftigungsprojekten arbei-
ten, die in einem Laden der „Tafel“ Gemüse sortieren
oder bei der „Beschäftigungsinitiative“ in der Küche ste-
hen oder im Garten helfen! Wo auch immer sie mit die-
sen Menschen zu tun haben, wird Ihnen immer eine
Frage gestellt: Was können Sie dafür tun, dass ich nach
dem Auslaufen des Projektes weiter arbeiten kann? –
Das ist die Frage, die uns die Menschen zu Recht stellen.
Wir als Abgeordnete des Deutschen Bundestages haben
die Pflicht, uns mit dieser Frage auseinanderzusetzen.


(Beifall bei der SPD)


Wir sind der Meinung – da unterscheiden sich übri-
gens die Ansätze der Linken von denen der SPD –, dass
nicht alle Langzeitarbeitslosen in die öffentlich geför-
derte Beschäftigung sollen, das heißt: in Beschäftigung
mit sozialversicherungspflichtigem Arbeitsvertrag, die
auf Dauer ausgerichtet ist; denn wir glauben, dass es
viele gibt, die man durch Fördern und Fordern für den
ersten Arbeitsmarkt fit machen kann, und zwar zeitnah.


(Gisela Piltz [FDP]: Das wäre vielleicht einmal ein Anreiz für die SPD! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Genau das machen wir!)


Das können wir derzeit in Baden-Württemberg erleben.
Aber es gibt auch Langzeitarbeitslose, die ganz am Rand
stehen. Sie sind schon drei, vier, fünf oder sechs Jahre
arbeitslos und arbeitsuchend. Sie haben mehrere Ver-
mittlungshemmnisse; viele Alleinerziehende sind dabei.
Für sie brauchen wir eine andere Lösung, als zu sagen:
Durch schnelle Qualifizierung bekommen wir sie auf
den ersten Arbeitsmarkt. – Hier setzt das Konzept des
sozialen Arbeitsmarktes der SPD an, das echte Chancen
auf Teilhabe eröffnet.

Die Menschen wollen einen Arbeitsvertrag. Das hat
etwas mit der Würde der Arbeit zu tun. Ein Arbeitsver-
trag ist nicht auf sechs Monate befristet wie eine Arbeits-
gelegenheit oder Ähnliches, sondern auf Dauer, mindes-
tens drei bis fünf Jahre, angelegt. Auch hier
unterscheidet sich unser Konzept von den Konzepten der
Linkspartei. Wir meinen, dass alle sechs Monate über-
prüft werden muss: Können wir dafür sorgen, dass die
Person nicht in den öffentlichen Beschäftigungssektor,
den sogenannten dritten Sektor, vermittelt wird, sondern
wieder in den ersten Arbeitsmarkt integriert wird? Das
Ziel von uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemo-
kraten ist nach wie vor eine echte Teilhabe am ersten
Arbeitsmarkt. Das ist unser Bestreben. Dafür kämpfen
wir mit allem, was wir tun. Wir wollen Vollbeschäfti-





Katja Mast


(A) (C)



(D)(B)


gung für alle Menschen in der Bundesrepublik Deutsch-
land.


(Beifall bei der SPD)


Sie von der Regierung haben Folgendes gemacht: Sie
haben von 2009 bis 2013 den Eingliederungstitel für
langzeitarbeitslose Menschen um 40 Prozent abgesenkt.
Die Arbeitslosigkeit ist im gleichen Zeitraum um 2 bis
3 Prozent zurückgegangen. Das heißt, Sie haben einen
massiven Kahlschlag in der aktiven Arbeitsmarktpolitik
vorgenommen.


(Gisela Piltz [FDP]: Das kann man auch nur sagen, wenn man von Mathematik keine Ahnung hat!)


Sie haben sich an dieser Stelle von dem Prinzip des
Förderns und Forderns in der Arbeitsmarktpolitik abge-
wendet. Wir wollen uns den Menschen zuwenden und
uns nicht von ihnen abwenden, wie Sie von der Regie-
rungskoalition das tun.

Ich möchte noch einmal auf meine Kolleginnen und
Kollegen von der Linksfraktion zu sprechen kommen,
die ihren Antrag heute vorgelegt haben. Ich danke Ihnen
für die Chance, heute noch einmal darüber zu diskutie-
ren. Hinsichtlich der Kahlschlagpolitik der Bundesregie-
rung sind wir uns einig. Wir sind uns auch darüber einig,
dass wir über öffentlich geförderte Beschäftigung reden
müssen.


(Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Das ist ja schon einmal etwas! – Gisela Piltz [FDP]: Eine rot-rot-grüne Koalition!)


Allerdings sind wir uns über die Dimensionen nicht ei-
nig. Sie wollen einen dritten Arbeitsmarkt für alle Lang-
zeitarbeitslosen. Wir wollen, dass die Menschen schnell
in den ersten Arbeitsmarkt kommen. Wir sind uns auch
an einer anderen Stelle nicht einig. Sie definieren die
Zielgruppe nicht. Sie gehen der Frage, um wen es eigent-
lich geht, völlig aus dem Weg. Wir haben „langzeit-
arbeitslos“ definiert: mindestens 24 Monate arbeit-
suchend, über 25 Jahre alt – für Jugendliche brauchen
wir andere Instrumente – und zwei Vermittlungshemm-
nisse; in Ausnahmefällen reicht ein besonders schwer-
wiegendes Vermittlungshemmnis. Wir haben uns die
Mühe gemacht, aus den Erfahrungen, die wir mit öffent-
lich geförderter Beschäftigung gesammelt haben, eine
Definition abzuleiten, um echte Teilhabeperspektiven zu
bieten. Diesbezüglich ist Ihr Antrag – wir haben heute
die erste Lesung und den parlamentarischen Beratungs-
prozess noch vor uns – an der einen oder anderen Stelle
durchaus verbesserungswürdig und verbesserungsfähig.
Da muss noch nachgelegt werden, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der Linksfraktion.


(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Das könnt ihr ja in den Koalitionsverhandlungen debattieren!)


Darüber hinaus ist festzustellen, dass Sie einer Logik
folgen, die eigentlich die Regierung vertritt.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Loben Sie die Linken nicht so arg, Frau Mast!)


Wir sagen: Öffentlich geförderte Beschäftigung muss
sinnvoll sein. Sie muss im normalen Wirtschaftsprozess
stattfinden können.


(Pascal Kober [FDP]: „Zusätzlich“ sagen sie!)


Sie sagen: Sie wollen, dass sie zusätzlich und im öffent-
lichen Interesse ist. Auf diese Kriterien verzichten wir
ganz. Wir sagen: Wir haben vor Ort Beiräte, die darüber
entscheiden können.

Außerdem wollen wir ein Vetorecht für Arbeitgeber
und Gewerkschaften bei der Definition dieses Beschäfti-
gungssektors. Die Entwicklung dieser Definition war
– das sage ich Ihnen – ein weiter Weg. Ich würde sagen:
Ihrem Antrag fehlt an dieser Stelle noch die Reife. Sie
gehen genauso wie wir von einer Förderungsdauer von
drei bis fünf Jahren aus. Sie wollen aber nicht alle sechs
Monate prüfen. Sie sagen einfach: Die Leute bleiben
dort. – Wir wollen keinen Stempel „öffentlich geförderte
Beschäftigung“. Wir wollen alle in den ersten Arbeits-
markt integrieren. Deshalb wollen wir alle sechs Monate
überprüfen.

Wir wollen bei der Finanzierung einen Passiv-Aktiv-
Transfer,


(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: So ist es richtig!)


weil wir festgestellt haben, Herr Kollege Zimmer, dass
diese Bundesregierung den Eingliederungstitel so
massiv zusammenstreicht, dass es keine echte Perspek-
tive für eine Teilhabe mit sozialversicherungspflichtiger
Beschäftigung gibt.


(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Das ist eine Legende, Frau Mast!)


Reden Sie mit den Beschäftigungsträgern vor Ort! Sie
werden Ihnen dasselbe sagen.

Ich freue mich – ich sage das an dieser Stelle für
meine Fraktion – auf den parlamentarischen Beratungs-
prozess. Ich freue mich auf die Anhörung, in der über die
Anträge der Opposition diskutiert wird. Von Ihnen gibt
es ja leider keine. Aber seien Sie sicher: Am 22. Septem-
ber werden die Bürgerinnen und Bürger entscheiden,
und dann wird es einen echten öffentlich geförderten Be-
schäftigungsbereich in Deutschland geben.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD – Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Da sieht man, dass das eine Wahlkampfrede war und nichts anderes, Frau Mast!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1722221700

Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Pascal Kober

das Wort.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Pascal Kober (FDP):
Rede ID: ID1722221800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Es ist doch erfreulich, dass die Zahl der Langzeitarbeits-





Pascal Kober


(A) (C)



(D)(B)


losen zum ersten Mal seit 45 Jahren in Zeiten des Auf-
schwungs sinkt.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Seit unserem Regierungsantritt ist ihre Zahl um über
250 000 Menschen gesunken. Ihnen persönlich, Frau
Krellmann und Frau Mast, nehme ich ab, dass Sie sich
insgeheim, auch wenn Sie das hier nicht zugeben, für je-
den einzelnen dieser 250 000 Menschen wirklich freuen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Ich glaube, das ist etwas, was wir zunächst einmal
festhalten sollten. Das ist eine gute Leistung, und dafür
sollten wir alle zusammen dankbar sein.

Die Lage der Langzeitarbeitslosen hat sich in Zeiten
dieser christlich-liberalen Regierungskoalition deutlich
verbessert. Aber wir ruhen uns auf den Erfolgen nicht
aus. Jeder, der keine Arbeit hat und arbeiten will in unse-
rem Land, ist einer zu viel, der keine Arbeit hat. Das se-
hen wir auch so.

Aber man muss eben auch sehen, dass die Gruppe der
Langzeitarbeitslosen in unserem Land sehr heterogen ist.
Es finden sich unter ihnen zum Beispiel Alleinerzie-
hende, zumeist Frauen, die wegen fehlender Betreuungs-
möglichkeiten für ihre Kinder keinen Arbeitsplatz an-
nehmen können.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schlimm genug!)


Es finden sich unter ihnen zum Beispiel Menschen mit
Migrationshintergrund, deren mangelnde Sprachkennt-
nisse das Finden eines Jobs erschweren. Es finden sich
unter ihnen ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer,
die aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters Probleme ha-
ben, einen Job zu finden, und es finden sich unter ihnen
Menschen, die aufgrund persönlicher Schicksalsschläge,
zum Beispiel Krankheit, Schulden oder Suchterfahrung,
Probleme haben, eine Arbeit aufzunehmen.

Jeder einzelne Langzeitarbeitslose hat seine ganz ei-
gene individuelle Biografie, und seine Arbeitslosigkeit
hat ganz individuelle Ursachen. Da sind pauschale Lö-
sungsansätze zur Bekämpfung von Langzeitarbeitslosig-
keit, wie Sie sie jetzt vorschlagen, kein geeignetes Mit-
tel.

Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, wenn
man wirklich etwas für die Langzeitarbeitslosen tun und
dieses Problem lösen will, muss man sich gedanklich et-
was mehr anstrengen. Einfache Lösungen gibt es in die-
sem Bereich nicht. Man muss differenziert vorgehen. So
tut es diese Bundesregierung und die sie tragende Regie-
rungskoalition.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Sie müssen Ihre Politik mehr an den Bedürfnissen der
Menschen ausrichten und weniger an politischer Taktik
oder Ideologie.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Wir machen das anders als Sie. Deshalb sind wir auch im
Sinne der Menschen erfolgreich. So fördert zum Beispiel
der Bund den Ausbau der Kinderbetreuung bis zum Jahr
2014 mit fast 5,4 Milliarden Euro. Ab 2015 werden wir
vonseiten des Bundes den dauerhaften Betrieb der neu
geschaffenen Kinderbetreuungsplätze mit jährlich 845 Mil-
lionen Euro fördern. Das ist ein Weg, um einem Teil der
Langzeitarbeitslosen eine echte Hilfestellung zu bieten.
Mit besseren Betreuungsmöglichkeiten können viele Al-
leinerziehende wieder eine bessere Chance auf dem Ar-
beitsmarkt haben.


(Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Aber die Arbeitsplätze gibt es nicht!)


Auch Vorsorge gehört zu einer klugen Politik gegen
Arbeitslosigkeit. Zum Beispiel haben wir das Programm
„Offensive frühe Chancen“ auf den Weg gebracht, wo
wir mit 400 Millionen Euro insgesamt 4 000 Schwer-
punktkindertageseinrichtungen fördern. Dabei liegt ein
ganz besonderer Schwerpunkt auf der Integration von
Kindern, die Sprachschwierigkeiten haben.

Ihr Ansatz ist ein öffentlich geförderter Beschäfti-
gungssektor. Sie erklären jedoch nicht – darauf hat auch
die Kollegin Katja Mast schon hingewiesen –, wie viele
Arbeitsplätze da gefördert werden sollen. Sie erklären
nicht, wer die Personengruppe am Ende sein soll. Sie er-
klären nicht, wie Sie diese öffentlich geförderte Beschäf-
tigung überhaupt finanzieren wollen. Liebe Kolleginnen
und Kollegen der Linken, das ist keine seriöse Politik,
sondern nur der Anschein von Politik.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1722221900

Herr Kollege Kober, gestatten Sie eine Frage der Kol-

legin Vogler?


Pascal Kober (FDP):
Rede ID: ID1722222000

Ja, gerne.


Kathrin Vogler (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1722222100

Vielen Dank, Frau Präsidentin! – Danke, Herr Kol-

lege, dass Sie eine Zwischenbemerkung von mir gestat-
ten.


Pascal Kober (FDP):
Rede ID: ID1722222200

Frage.


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Auch Bemerkungen gehen nach der Geschäftsordnung!)



Kathrin Vogler (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1722222300

Es hält mich jetzt einfach nicht auf dem Stuhl, weil

ich mir schon zum zweiten Mal an diesem Tage anhören
muss, wie ein Vertreter der Koalition hier Bemühungen
für gute Arbeit und gegen Langzeitarbeitslosigkeit damit
konterkariert, dass er sagt: Aber wir tun so viel für die
Bildung.


(Zuruf von der FDP: Das ist doch gar nicht der Punkt!)






Kathrin Vogler


(A) (C)



(D)(B)


Haben Sie sich schon einmal Gedanken darüber ge-
macht, dass Sie, wenn Sie in solchen Debatten sagen:
„Wir kümmern uns aber um die Bildung der Kinder, da-
mit sie später nicht langzeitarbeitslos sind“, damit zwei-
erlei tun? Zum einen schreiben Sie die älteren Men-
schen, die Erwachsenen, ab. Zum Zweiten unterstellen
Sie denen auch noch kollektiv, sie seien ungebildet. Es
ist tatsächlich so, dass viele dieser Menschen über gute
Qualifikationen verfügen und trotzdem keinen Arbeits-
platz finden, was damit zu tun hat, dass Arbeitsplätze,
die dieser Qualifikation entsprechen, nicht zur Verfü-
gung stehen.


(Sebastian Blumenthal [FDP]: Es geht um Betreuungsmöglichkeiten, Frau Kollegin!)


Wie reagieren Sie darauf? Wie gehen Sie damit um?
Schreiben Sie diese Millionen Menschen in unserem
Land einfach ab, oder sind Sie willens, sich Gedanken
darüber zu machen, dass man auch denen eine Perspek-
tive eröffnen muss, die eben nicht bedeutet, regelmäßig
zum Amt zu gehen, jede Woche 20 Bewerbungen zu
schreiben, die erfolglos sind, und mit Sanktionen be-
droht zu werden, wenn sie einmal nur 19 Bewerbungen
schreiben?


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)



Pascal Kober (FDP):
Rede ID: ID1722222400

Frau Kollegin Vogler, ich glaube, wir sind in der Ziel-

richtung gar nicht so weit auseinander. Meiner Rede zielt
ja gerade darauf ab, zu sagen, dass die Langzeitarbeitslo-
sen eine sehr heterogene Gruppe mit ganz individuellen
Problemen sind. Deshalb müssen wir auch individuell
auf die Probleme reagieren. Ein Beispiel sind der Aus-
bau der Kinderbetreuung und die Verbesserung der Qua-
lität der Kinderbetreuung, gerade auch die Verbesserung
der Betreuung und der Bildung von Kindern mit Migra-
tionshintergrund. Der Sinn dieser Passage meiner Rede
war ja: Einerseits geht es um die Sorge für diejenigen,
die jetzt beschäftigungslos sind, andererseits müssen wir
in einer klugen Politik natürlich auch langfristig denken
und zukünftige Langzeitarbeitslosigkeit verhindern. Ich
habe in meiner kurzen Redezeit versucht, einzelne
Punkte zu benennen, um deutlich zu machen: Wir wollen
einen differenzierten Ansatz wählen, weil wir dem Pro-
blem nur mit einem differenzierten Ansatz insgesamt
Herr werden können.

Sie haben völlig recht, wenn Sie sagen: Nicht jeder ist
unqualifiziert. Ich habe beispielsweise über die Allein-
erziehenden gesprochen. Sehr häufig ist bei Alleinerzie-
henden – auch das habe ich ausgeführt – ja nicht das
Problem, dass sie keine Qualifikation haben. Sehr viele
von ihnen, gerade Frauen, sind sehr gut qualifiziert, ha-
ben einen Berufsabschluss. Sie haben aber in einer be-
stimmten Phase ihres Lebens, wenn sie ein Kind allein
erziehen, keine ausreichende Möglichkeit der Kinderbe-
treuung. Diese Langzeitarbeitslosen haben überhaupt
keinen Qualifizierungsbedarf, wir helfen ihnen auch
nicht mit einem öffentlich geförderten Beschäftigungs-
sektor; denn dadurch haben sie ja keine Kinderbetreu-
ung.


(Zurufe von der FDP: So ist es!)


Vielmehr müssen wir dieser Personengruppe unter den
Langzeitarbeitslosen helfen, indem wir die Kinderbe-
treuung ausbauen. Das ist ein Baustein, eine Maßnahme,
um insgesamt dem Problem der Langzeitarbeitslosigkeit
begegnen zu können.

Das war die bisherige Aussage meiner Rede. Ich habe
ja noch einige Minuten, um meine Rede fortzusetzen.
Dabei werde ich versuchen, Ihnen noch weitere Aspekte
zu nennen.


(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Die werden dich trotzdem absichtlich missverstehen!)


Vorsorge gehört zu einer klugen Politik, auch wenn
sie nicht alle Probleme löst; das ist klar. Vorsorge darf
man nicht vergessen. Ihr Ansatz ist ein öffentlich geför-
derter Beschäftigungssektor. Ich habe schon gesagt:
Ähnlich wie der Kollegin von der SPD fehlt mir hier ein
genaueres Konzept, in dem Zahlen, Daten, Fakten und
Kosten genannt werden. Wir haben hier im Plenum
schon mehrfach über öffentlich geförderte Beschäfti-
gung gesprochen. Ich habe an dieser Stelle schon gesagt,
dass wir vonseiten der FDP zum Beispiel der Idee des
Passiv-Aktiv-Transfers einiges abgewinnen können.
Wahrscheinlich ist dies für einen ganz kleinen Teil der
Langzeitarbeitslosen die richtige Lösung, um sie lang-
fristig für den Arbeitsmarkt zu qualifizieren.

Liebe Kollegin Katja Mast, wir wissen ja, dass wir
dazu die Länder brauchen. Weil Sie ja ideologisch be-
dingt und aus taktischen Gründen sowie aus Machtgrün-
den gerade im Bundesrat alles Kluge blockieren und
nichts auf den Weg bringen wollen, sehen wir im Mo-
ment, jetzt kurz vor der Wahl, keine Chance, einen An-
trag einzubringen, um mit Ihnen etwas umzusetzen.


(Katja Mast [SPD]: Aus den Ländern gab es den Antrag, und Sie haben ihn abgelehnt!)


Das bedaure ich sehr, liebe Katja Mast. Als Generalse-
kretärin in Baden-Württemberg könnten Sie ja von Ihrer
bedeutenden Stellung aus etwas mäßigend auf Ihren Par-
teivorsitzenden und auf Ihren Kanzlerkandidaten einwir-
ken. Vielleicht würden wir dann am Ende mehr für die
Menschen in unserem Land erreichen, beispielsweise
beim Abbau der kalten Progression.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Katja Mast [SPD]: Ich träume, dass Sie im Bundesrat zustimmen werden, wenn der nächste Antrag kommt!)


Das Instrument der öffentlich geförderten Beschäfti-
gung ist nicht die Antwort auf jedes Problem. Eines
möchte ich Ihnen nicht ersparen, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der Partei Die Linke. Katja Mast, hör auch
gut zu. Sie fordern in Ihrem Antrag einen Mindestlohn
von 10 Euro. Jetzt sind Sie ja in Brandenburg an der Re-
gierung. Dort haben Sie zusammen mit der SPD ein Pro-
gramm für öffentlich geförderte Beschäftigung aufge-
legt. Dort ist festgelegt, dass Sie 7,50 Euro als untere
Lohngrenze zahlen.





Pascal Kober


(A) (C)



(D)(B)



(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Nein! – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: 8,50 Euro, weil der Bund seinen Anteil nicht bringt!)


Bei den Kolleginnen und Kollegen von der Linken und
von der SPD zeigt sich wieder: Handeln und Reden klaf-
fen auseinander.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Das werden Ihnen die Menschen draußen, die uns zuhö-
ren, nicht weiter abnehmen. Sie fordern hier das eine,
und wenn Sie irgendwo in Regierungsverantwortung
sind, machen Sie das andere. Die Menschen haben es
sieben Jahre lang bei rot-grüner Bundesregierung erfah-
ren: Ankündigung und tatsächliche Politik sind unter-
schiedlich. Sie erfahren es in den Ländern, zum Beispiel
in Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg,


(Katja Mast [SPD]: Im Bundesrat können Sie ja zustimmen!)


wo Sie hemmungslos die Zukunft der Kinder durch eine
übermäßige Verschuldung aufs Spiel setzen und in un-
verantwortlicher Weise die sozialen Probleme der Zu-
kunft schon jetzt vorprogrammieren.


(Katja Mast [SPD]: Wo ist ihr Antrag?)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1722222500

Kollege Kober, Sie dürfen jetzt aber auch nicht hem-

mungslos die Zeit überziehen, nachdem Sie mit der Kol-
legin Vogler schon so ausführlich debattiert haben.


Pascal Kober (FDP):
Rede ID: ID1722222600

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sollten Deutsch-

land nicht regieren. Das wird im September dieses Jah-
res auch nicht der Fall sein.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Katja Mast [SPD]: Schade, dass es keinen Antrag der FDP gibt!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1722222700

Die Kollegin Brigitte Pothmer hat für die Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen das Wort.


Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722222800

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr

Zimmer, Ihre Rede war im Wesentlichen durch Reali-
tätsverweigerung gekennzeichnet.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN – Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Ach ja? – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Wieso das denn?)


Sonst hätten Sie zur Kenntnis nehmen müssen, dass we-
der der wirtschaftliche Aufschwung noch der demografi-
sche Wandel noch der Fachkräftemangel an den Proble-
men der Langzeitarbeitslosigkeit qualitativ irgendetwas
verändert haben.


(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Hat sich die Anzahl halbiert oder nicht?)


Wir haben immer noch über 1 Million langzeitarbeits-
lose Menschen. Hunderttausende von ihnen sind seit
mehr als drei Jahren im Hartz-IV-Bezug eingemauert.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Sie wären damals froh gewesen, hätten Sie nur ansatzweise diese Zahlen gehabt!)


Es ist doch ganz offensichtlich, dass die Instrumente der
aktiven Arbeitsmarktpolitik, die wir derzeit haben, nicht
geeignet sind, das Problem zu lösen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich will etwas zu Ihren vermeintlichen Erfolgen sa-
gen. Ihre Erfolge bei der Bekämpfung der Langzeitar-
beitslosigkeit basieren im Wesentlichen auf statistischen
Tricks.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ein Beispiel. Über 100 000 Langzeitarbeitslose werden
einfach nicht mehr gezählt, weil sie 58 Jahre alt sind und
ein Jahr lang kein Arbeitsangebot bekommen haben;
dann fallen sie aus der Statistik heraus.


(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Das habt doch ihr eingeführt! – Pascal Kober [FDP]: Das haben Sie eingeführt! Sie von Rot-Grün waren das! Aber jetzt wollen Sie es natürlich nicht gewesen sein!)


Aber, Herr Zimmer, das ändert nichts an der Tatsache,
dass diese Menschen arbeitslos sind.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich habe eine Kleine Anfrage an die Bundesregierung
gestellt. In den Antworten auf meine Fragen ist offen-
sichtlich geworden, dass die Langzeitarbeitslosenquote,
wenn man die statistischen Tricks herausrechnet, in den
letzten drei Jahren um einen einzigen Prozentpunkt zu-
rückgegangen ist; so viel, Herr Zimmer, zu Ihren Erfol-
gen bei der Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1722222900

Kollegin Pothmer, gestatten Sie eine Frage oder Be-

merkung des Kollegen Vogel?


Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722223000

Ja, bitte.


(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Gut! Dann wird die Erregungsspitze etwas abgebaut!)



Johannes Vogel (FDP):
Rede ID: ID1722223100

Liebe Frau Kollegin Pothmer, Sie haben ja gerade ge-

sagt, die erfreuliche Reduktion der Arbeitslosigkeit und
der Langzeitarbeitslosigkeit in den letzten drei Jahren,
also seitdem diese Koalition regiert, würde auf statisti-
schen Tricks beruhen, –






(A) (C)



(D)(B)



Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722223200

Ja.


Johannes Vogel (FDP):
Rede ID: ID1722223300

– und Sie haben eine Besonderheit der Arbeitslosen-

statistik angeführt. Könnten Sie mir erklären, inwiefern
– wenn diese Besonderheit von einer vorigen Bundesre-
gierung eingeführt wurde und aufgrund der Tatsache,
dass diese Koalition die Statistik überhaupt nicht verän-
dert hat – die positive Entwicklung in dieser Legislatur-
periode auf einen statistischen Trick zurückzuführen
sein soll? Das erschließt sich mir logisch nicht. Ich
würde da gerne aufgeklärt werden.


Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722223400

Lieber Herr Vogel, die Tatsache, dass Sie diesen sta-

tistischen Trick nicht eingeführt haben, ändert doch
nichts an der Tatsache, dass das nur ein rein statistischer
Effekt ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Lachen bei der CDU/CSU und der FDP – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Aber ihr habt ihn eingeführt! – Pascal Kober [FDP]: Denken Sie lieber noch einmal darüber nach, Frau Pothmer! Lächerlich, was Sie sagen!)


Ich will Ihnen einen weiteren statistischen Effekt nen-
nen. Aus den Antworten auf meine Anfrage geht auch
hervor, dass diejenigen, die aus der Langzeitarbeitslosig-
keit kommen, nur zu 15 Prozent in Arbeit gehen. Die an-
deren verschwinden im Nirwana, lieber Herr Vogel. Das
ist ein weiterer statistischer Effekt.


(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Sie strampeln jetzt, aber machen nichts besser! – Pascal Kober [FDP]: Denken Sie lieber noch mal darüber nach, was Sie sagen! – Gisela Piltz [FDP]: Es wird nicht besser, egal was Sie sagen! Hören Sie lieber auf!)


Sie erwecken hier den Eindruck, als würden Sie die
Langzeitarbeitslosen durch Ihre Arbeitsmarktpolitik in
Arbeit bringen. Aber Sie steuern diese Menschen aus.
Ich kann Ihnen sagen: Die Langzeitarbeitslosen sind die
Verlierer der Arbeitsmarktpolitik von Frau von der
Leyen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Für diese Menschen waren dreieinhalb Jahre Schwarz-
Gelb dreieinhalb verlorene Jahre.


(Pascal Kober [FDP]: 350 000 mehr in Arbeit!)


– Nicht von den Langzeitarbeitslosen, mein lieber Herr
Kober.


(Pascal Kober [FDP]: Doch, von den Langzeitarbeitslosen!)


Ich will Ihnen sagen: Auch diese Menschen haben ein
Recht auf Arbeit, und auch diese Menschen haben ein
Recht auf Teilhabe durch Arbeit. Deswegen brauchen

wir – da haben die Linken recht – einen verlässlichen so-
zialen Arbeitsmarkt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich begrüße, dass die Linken, nachdem wir einen Ge-
setzentwurf erarbeitet haben und auch die SPD etwas
vorgelegt hat, einen Vorschlag dazu gemacht haben;


(Gisela Piltz [FDP]: Das glaube ich Ihnen sofort!)


das ist gut für die Debatte. Aber ich will an dieser Stelle
nicht verhehlen: Mit den konkreten Vorschlägen, die Sie
in Ihrem Antrag machen, habe ich erhebliche Probleme,
insbesondere was das Prinzip der Zusätzlichkeit angeht.
Ihr Antrag enthält das Prinzip der Zusätzlichkeit. Wir
wissen aber, dass gerade diese Zusätzlichkeit in der Ver-
gangenheit flächendeckend zu Konflikten geführt hat.
Dieses Kriterium hat dazu geführt, dass die Tätigkeiten
auf dem sozialen Arbeitsmarkt quasi in Kunstwelten ab-
gedriftet sind; diese Tätigkeiten waren zum Teil Licht-
jahre entfernt von dem, was auf dem ersten Arbeitsmarkt
gebraucht wird. Wenn der soziale Arbeitsmarkt so abge-
spalten wird, ist ein Übergang in Normalbeschäftigung
auf dem ersten Arbeitsmarkt nicht mehr möglich. Das
muss aber unser Ziel bleiben. Deswegen finden wir das
Kriterium der Zusätzlichkeit falsch.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Aus genau diesem Grund haben wir Grüne uns ent-
schieden, das Prinzip der Zusätzlichkeit, des öffentlichen
Interesses und der Wettbewerbsneutralität aus den Rege-
lungen herauszunehmen; denn wir wollen arbeitsmarkt-
nahe Tätigkeiten. Wenn all diese Ansprüche erfüllt wer-
den müssen, bleibt es am Ende wirklich dabei, dass der
Sandhaufen von der einen Seite auf die andere Seite hin-
und hergeschippt wird. Mit Würde der Arbeit hat das
nichts zu tun.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.


(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Gute Ankündigung!)


Ich bin froh, dass wir eine Anhörung verabredet haben.
Wir werden die unterschiedlichen Ideen und Vorstellun-
gen im Rahmen dieser Anhörung abklären können. Ei-
nes ist für mich jedenfalls ganz klar: Die Frage ist nicht
mehr, ob wir einen sozialen Arbeitsmarkt brauchen, die
Frage ist nur noch, wie wir ihn ausgestalten.

Ich danke Ihnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Gabriele Hiller-Ohm [SPD])



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1722223500

Das Wort hat der Kollege Paul Lehrieder für die

Unionsfraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)







(A) (C)



(D)(B)



Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1722223600

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen

und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Frau
Krellmann, Sie haben bei der Vorstellung Ihres Antrags
bzw. bei Eröffnung der Debatte ausgeführt, die Agenda 2010
hätte nicht funktioniert. Jetzt frage ich Sie: In welcher
Welt haben Sie die letzten vier Jahre gelebt? Vor vier Jah-
ren standen wir vor Beginn der größten Wirtschaftskrise
nach dem Zweiten Weltkrieg. Dank der – zugegebener-
maßen unter Rot-Grün eingeführten – Reformen der
Agenda 2010 hatten wir die richtigen Instrumente, um
der Krise besser zu begegnen als jedes Land um uns he-
rum: Wir haben weniger Arbeitslose als vor der Krise.
Wir haben die Krise besser gemeistert, als uns das jeder
zugetraut hätte.


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Wie viel Leiharbeit, wie viel Teilzeitbeschäftigte, wie viel Minijobs?)


Wir haben die Krise sogar besser gemeistert, als wir uns
es selber vor vier Jahren zugetraut hätten.


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Schlechte Arbeit!)


Dazu – das muss man einmal sagen – hat die
Agenda 2010 mit ihren Flexibilisierungen am Arbeits-
markt und den Erleichterungen bei der Arbeitnehmer-
überlassung beigetragen.

Beigetragen haben aber auch die Maßnahmen, die die
christlich-liberale Koalition eingeleitet hat: angefangen
von der Abwrackprämie über die Konjunkturpakete I
und II bis hin zur Verlängerung des Bezugs von Kurzar-
beitergeld. Wir haben die richtigen Maßnahmen ergrif-
fen.


(Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Das hat doch mit der Agenda 2010 nichts zu tun!)


– Langsam! Ich bin schon dabei. – Die Agenda 2010 war
eine wesentliche Voraussetzung für die ordnungsgemäße
Bewältigung dieser Krise. Ich gehe davon aus, dass viele
Länder in Europa – insbesondere in Südeuropa – in den
nächsten Jahren ähnliche Sozialreformen vor sich haben
werden, wenn sie die Probleme auf dem Arbeitsmarkt
– die hohe Arbeitslosigkeit, insbesondere die hohe Ju-
gendarbeitslosigkeit – bewältigen wollen.

Meine Damen und Herren, die Zahl der sozialversi-
cherungspflichtig Beschäftigten ist auf 29 Millionen ge-
stiegen. Insgesamt – die Kollegen haben bereits darauf
hingewiesen – sind in Deutschland sogar 41 Millionen
Menschen in Beschäftigung. Allein in den letzten drei
Jahren sind 1,5 Millionen sozialversicherungspflich-
tige Beschäftigungsverhältnisse entstanden; lediglich
350 000 davon sind Teilzeitbeschäftigungsverhältnisse.
Das heißt, die umsichtige und kluge Arbeits- und Wirt-
schaftspolitik der Koalitionsregierung wirkt sich positiv
aus.

Jetzt komme ich noch einmal zu Ihrem Antrag, Frau
Krellmann. Eine Ausweitung des öffentlich geförderten
Beschäftigungsmarktes, wie Sie sie fordern, haben wir
genau vor einem Jahr beim Nachjustieren der arbeits-
marktpolitischen Instrumente geprüft. Wir haben gesagt:

Die christlich-liberale Koalition möchte den Schwer-
punkt bei der Vermittlung in Arbeit setzen und nicht bei
der Verfestigung von Arbeitslosigkeit. – Das unterschei-
det uns von Ihnen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Frau Pothmer, Sie haben die hohe Zahl der Langzeit-
arbeitslosen beklagt.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Über 1 Million Menschen!)


Wir haben die Zahl der Langzeitarbeitslosen – das wurde
schon gesagt – etwa auf die Hälfte reduzieren können.
Die statistischen Tricks, die Sie uns vorwerfen, haben
Sie doch eingeführt;


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, Herr Lehrieder!)


es gehört zur Ehrlichkeit, das zuzugeben. Sie haben da-
mals das Kinderbildungsgesetz vergessen, Frau Pothmer.
Jetzt jammern Sie und sagen: Wir brauchen aber mehr
Bildung. – Wir haben bei dem, was unter Rot-Grün
falsch gemacht wurde, nachgebessert. Gestehen Sie uns
das einmal zu, und loben Sie uns auch einmal dafür!


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Meine Damen und Herren, die Kollegin Mast hat ver-
misst, dass noch kein Antrag der Koalitionsfraktionen
vorliegt. Wir haben das vor einem Jahr, im April, im Zu-
sammenhang mit den arbeitsmarktpolitischen Instru-
menten auf den Weg gebracht,


(Katja Mast [SPD]: Als Sie sie abgeschafft haben! Sie haben alles kaputtgemacht!)


wir haben das als Ermessensentscheidung mit mehr Be-
fugnis in die Jobcenter vor Ort gegeben, weil die Jobcen-
ter die Situation besser kennen. Bei Ihnen gilt dasselbe,
was ich bei Frau Krellmann gesagt habe: Wir wollen die
Menschen wieder in Arbeit vermitteln. Für uns ist Arbeit
Menschenwürde und nicht Manifestierung in einem
1-Euro-Job.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Katja Mast [SPD]: Aber Sie sind gerade dabei!)


Ich empfinde es als Frechheit, wenn die Linke be-
hauptet, es fehlten ausreichende Arbeitsplätze auf dem
ersten Arbeitsmarkt. Wir haben es geschafft, mit den
richtigen Maßnahmen in der Krise neue Arbeitsplätze zu
schaffen. Wir haben jetzt mit 41 Millionen Beschäftigten
den höchsten Beschäftigungsstand in Deutschland seit
dem Krieg. Auch das gehört zur historischen politischen
Wahrheit, und auch dafür gebührt ein Wort des Dankes.

Es ist ein großes Verdienst der christlich-liberalen Re-
gierung, dass es trotz der bereits angesprochenen welt-
weit schwierigen Finanz- und Wirtschaftssituation ge-
lungen ist, unsere Wirtschaft wettbewerbsfähig zu
machen und zu halten. Für uns ist die Schaffung von Ar-
beitsplätzen die beste Sozialpolitik. Eine gute Bildungs-
und Familienpolitik – auch darauf haben wir hingewie-





Paul Lehrieder


(A) (C)



(D)(B)


sen – ist aber ebenso Voraussetzung für eine langfristig
positive wirtschaftliche Entwicklung. Deshalb haben wir
zum Beispiel das Bildungs- und Teilhabepaket für be-
nachteiligte Kinder geschaffen und es dieser Tage erst
im Ausschuss reformiert bzw. mit Sachleistungen ange-
passt, die wir damit gewähren können, damit kein Kind
in seiner Entwicklung behindert wird, nur weil die Eltern
nicht über ausreichend finanzielle Mittel verfügen.

Die Linkspartei hat aus rein parteitaktischen Gründen
immer gegen unsere zielführenden arbeitsmarktpoliti-
schen Instrumente gestimmt. Darüber sind wir nicht
überrascht. 29 Millionen sozialversicherungspflichtige
Beschäftigungsverhältnisse zeigen jedoch, dass der von
uns konsequent verfolgte Weg der richtige war, ist und
bleiben wird.

Trotz dieser berechtigten Euphorie ist jedoch richtig:
Jeder Arbeitslose ist einer zu viel. Deshalb müssen wir
ein besonderes Augenmerk darauf legen, dass auch
Langzeitarbeitslose und weniger Qualifizierte zügig den
Weg zurück in den Arbeitsmarkt finden. Dies erreichen
wir aber nicht mit den Vorschlägen der Linken, die Geld
nach dem Gießkannenprinzip verteilen möchte. Bei dem
vorliegenden Antrag der Linken handelt es sich quasi um
die Wiedereinführung der sogenannten ABM, Arbeitsbe-
schaffungsmaßnahmen, die sich in den vergangenen
Jahrzehnten nicht in ausreichendem Maße bewährt ha-
ben. Wir haben in den letzten Jahren festgestellt, dass
von 1 Milliarde Euro, die in den geförderten Arbeits-
markt geflossen ist, 700 Millionen Euro bei den Institu-
tionen geblieben und nur 300 Millionen Euro tatsächlich
bei den Berechtigten, den Bedürftigen angekommen
sind. Ich glaube, dafür können wir die Gelder des Bun-
des nicht zum Einsatz bringen. Wir halten es für sinnvol-
ler und effizienter, die Gelder zielgenau für die Betroffe-
nen einzusetzen. Wir hätten heute Nacht noch die
Debatte über die sogenannte zweite Chance geführt, die
Bildung junger Erwachsener, die den ersten Bildungsab-
schluss versäumt haben. Dies ist leider zu Protokoll ge-
gangen. Von daher: Wir achten darauf, dass jeder seine
Chance hat und in den ersten Arbeitsmarkt vermittelt
wird. Das ist für die Menschen ehrlicher, fairer und lang-
fristig nachhaltiger, als wenn wir sie in den sogenannten
ABM parken.

Deshalb ist der Antrag der Linken nicht zielführend
und abzuweisen.

Ich bedanke mich.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Erst einmal beraten wir im Ausschuss!)


– Ja, danach dann, langfristig. Frau Enkelmann, wir wei-
sen ihn schon später noch zurück.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1722223700

Das werden Sie dann an anderer Stelle fortsetzen, be-

vor wir zur Abstimmung hier im Plenum kommen.

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/12377 an die in der Tagesordnung aufge-

führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Damit ist die Überwei-
sung so beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales

(11. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Maria
Michalk, Michael Grosse-Brömer, Stefan
Müller (Erlangen), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abge-
ordneten Gabriele Molitor, Rainer Brüderle
und der Fraktion der FDP

Mehr Berücksichtigung von Qualität bei
der Vergabe von Dienstleistungen

– zu dem Antrag der Abgeordneten Silvia
Schmidt (Eisleben), Anette Kramme, Petra
Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD

Ausschreibungspflicht für Leistungen der
Integrationsfachdienste stoppen – Sicher-
stellung von Qualität, Transparenz und Ef-
fizienz

– zu dem Antrag der Abgeordneten Markus
Kurth, Fritz Kuhn, Brigitte Pothmer, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Alternativen zur öffentlichen Ausschrei-
bung für Leistungen der Integrationsfach-
dienste ermöglichen

– Drucksachen 17/10113, 17/4847, 17/5205,
17/11084 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Maria Michalk

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
gin Maria Michalk für die Unionsfraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Maria Michalk (CDU):
Rede ID: ID1722223800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wir bleiben bei der Arbeitsmarktsituation und der Be-
schäftigungsquote. Noch einmal: Es hat seit der Wieder-
vereinigung Deutschlands noch nie eine so niedrige Ar-
beitslosigkeit und eine so hohe Beschäftigungsquote
gegeben. Allerdings – darin sind wir uns einig – profitie-
ren nicht alle davon. Die Zahl der arbeitslosen Menschen
mit Behinderung stagniert. Dies zu ändern, ist eine ge-
samtgesellschaftliche Aufgabe, der wir uns alle stellen.
Es geht genauso die Arbeitgeber, die Belegschaften, die
Bundesagentur für Arbeit, also alle in der Gesellschaft
an, jeweils eine sehr passgenaue, auf die individuelle
Situation der betroffenen Menschen zugeschnittene Lö-





Maria Michalk


(A) (C)



(D)(B)


sung zu finden. Es besteht oftmals aufgrund der Beein-
trächtigung ein ganz besonders hoher Unterstützungsbe-
darf, um die schlechten Chancen auf dem Arbeitsmarkt
auszugleichen.

Hier haben – da sind wir uns alle einig – die Integra-
tionsfachdienste mit ihrem träger- und schnittstellen-
übergreifenden Ansatz viele einzelne Unterstützungs-
maßnahmen entwickelt und praktiziert. Sie haben sich in
der Praxis bewährt. Die Leistung in der Arbeitsmarkt-
vermittlung, die im Auftrag der Bundesagentur für Ar-
beit erfolgt, umfasst sowohl die Fähigkeits- und Interes-
senanalysen, die Vermittlung an sich, die Vorbereitung
auf den Arbeitsplatz und sehr oft auch eine sehr langfris-
tige, manchmal monatelange Begleitung am Arbeits-
platz.

Diese Förderung der Teilhabe am Arbeitsleben ist
nach wie vor unverzichtbar. Die Betreuung aus einer
Hand wurde von den Arbeitgebern gelobt und geschätzt.
Diese Arbeitsmarktdienstleistungen sind natürlich nicht
zum Nulltarif zu haben. Sie sind dem Vergaberecht nach
europäischen Kriterien unterworfen. Der Wegfall der
freihändigen Vergabe in diesem Bereich ging mit der Be-
fürchtung einher, dass eine lange aufgebaute Fachkom-
petenz verloren gehen könnte. Bei diesen Befürchtungen
ging es zum Beispiel um wechselnde Ansprechpartner
nach den Ausschreibungsergebnissen, die zu Vertrauens-
und vielleicht sogar auch Motivationsverlusten bei den
zu unterstützenden Arbeitsuchenden führen könnten.

Das war politisch nie gewollt. Andererseits ist die
Trägervielfalt bei den Leistungen im Dienstleistungsbe-
reich auf der Grundlage der Vergabekriterien bei öffent-
lichen Ausschreibungen ein unabdingbarer Bestandteil
der sozialen Marktwirtschaft. Für uns in der CDU/CSU-
Bundestagsfraktion war es deshalb wichtig, die Praxiser-
fahrungen seit dem Jahr 2002, seit dem dies gilt, zu be-
obachten und zu beleuchten. Sie sind grundsätzlich erst
einmal positiv. Es hat sich aber auch gezeigt, dass das
bestehende Vergaberecht für die Beschaffung von sozia-
len Dienstleistungen noch kein durchgehendes Instru-
mentarium für die Anforderungen der Praxis bereitstellt.

Wenn wir uns die Ergebnisse der Ausschreibungen
– das müssen wir jetzt ehrlich machen – im Jahr 2012
ansehen, ist festzustellen, dass bei 30 Prozent der 39 neu
ausgeschriebenen Losen der IFD, und zwar als Einzel-
bieter oder in Bietergemeinschaften, beteiligt ist. Die
Beteiligung des IFD ist damit gegenüber 2011 deutlich
zurückgegangen. Da lag diese Zahl noch bei 55 Prozent.

In der Ausschussberatung haben wir uns immer wie-
der darauf verständigt, dass wir das beobachten wollen.
Ich möchte an dieser Stelle lobend hinzufügen, dass die
Anträge – auch die von der Opposition –, die heute zur
Diskussion stehen, seinerzeit, also im Jahr 2011, sogar
zurückgestellt wurden, weil wir gesagt hatten: Wir wol-
len das beobachten, die Qualität dieser Vermittlungs-
und Leistungsarbeit ist für uns wichtig.

Bieterbezogene Kriterien, wie Qualifikation, Fach-
kenntnisse der Ausführungskräfte, Erfahrungen und Ver-
mittlungsergebnisse, dürfen immer nur im Rahmen der
Mindestanforderungen an die Eignung der Bieter, also

nur bei der grundsätzlichen Eignungsprüfung, aber nicht
bei der finalen Auswahlentscheidung, berücksichtigt
werden. Das haben wir erkannt und einen Antrag einge-
bracht, der heute zur Abstimmung steht. Wir möchten,
dass in Zukunft die Qualität stärker gewichtet und nicht
nur ausschließlich der Preis berücksichtigt wird.

Die strikte Trennung von Eignungs- und Zuschlags-
kriterien, die auf die Vorgaben der europäischen Verga-
berichtlinie und die entsprechende Rechtsprechung
zurückzuführen sind, ist bei den Arbeitsmarktdienstleis-
tungen schwierig durchzuführen, weil manchmal – wir
wissen das auch – der etwas teurere Anbieter wegen zü-
gigerer und nachhaltigerer Integration in Ausbildung
und Beschäftigung durchaus wirtschaftlicher sein kann.
Deshalb sind Qualität und Vermittlungserfolge stärker zu
gewichten.

Wir haben daher in unserem Antrag zwei Forderungen
formuliert. Zum einen soll diese Gewichtung in der Aus-
schreibung enthalten sein, und zum anderen soll darauf
hingewirkt werden, dass bei dem aktuell anstehenden No-
vellierungsprozess des europäischen Vergaberechts die
Regelungen für diese speziellen Dienstleistungen modifi-
ziert werden. Wir lagen mit unserer Vermutung richtig;
denn bei dem jetzt schon vorliegenden Entwurf ist in Zif-
fer 2 unser Ansatz – ich will den jetzt nicht noch näher be-
leuchten – sehr genau aufgeführt. In Kap. 1 sind die be-
sonderen Beschaffungsregelungen für soziale und andere
besondere Dienstleistungen extra hervorgehoben.

Was ich zum Schluss noch lobend erwähnen möchte,
ist, dass bei diesen Ausschreibungen ein höherer
Schwellenwert angesetzt ist, nämlich 500 000 Euro, wo-
hingegen für die übrigen Dienstleistungen der Schwel-
lenwert von 200 000 Euro gilt.

Meine Damen und Herren, ich glaube, in dem Zeit-
raum zwischen dem Einbringen unseres Antrages und
der heutigen Beschlussfassung ist schon eine Menge
passiert und sind viele Fortschritte erreicht worden. Wir
lagen mit unseren Forderungen richtig. Für mich haben
sich damit die Anträge der Opposition eigentlich erle-
digt. Ich jedenfalls werbe ausdrücklich dafür, unserem
Antrag zuzustimmen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Das machen wir!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1722223900

Die Kollegin Katja Mast hat für die SPD-Fraktion das

Wort.


(Beifall bei der SPD)



Katja Mast (SPD):
Rede ID: ID1722224000

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen

und Kollegen! Der Dienst des Menschen am Menschen
wird immer wichtiger. Deutschland ist ein starker So-
zialstaat und hat ein breites soziales Netz für Menschen,
die unsere Hilfe und Unterstützung brauchen. Deshalb





Katja Mast


(A) (C)



(D)(B)


genießt unser soziales Sicherungssystem auch internatio-
nal große Anerkennung.

Klar ist, dass wir vor großen Herausforderungen ste-
hen: die Bewältigung des demografischen Wandels, die
Überwindung der Spaltung am Arbeitsmarkt, aber eben
auch die Inklusion von Menschen mit Behinderung. Nur
mit der Unterstützung von Menschen für Menschen
schaffen wir das.


(Beifall bei der SPD)


Heute reden wir über die Vergabe von sozialen
Dienstleistungen. Ich will klar voranstellen, dass wir
beim Einkauf von sozialen Dienstleistungen eben nicht
die gleichen Kriterien wie beim Einkauf von irgendei-
nem anderen Produkt haben dürfen. Das Aussuchen
eines persönlichen Betreuers, der einen in allen Lebens-
lagen begleitet, ist eben doch etwas anderes als der Ein-
kauf eines Taschenrechners. Deshalb müssen wir eben
bei der Vergabe von sozialen Dienstleistungen anders
hinschauen. Menschen brauchen einfach mehr.

Die Vergabe dieser sozialen Dienstleistungen – das
hat meine Vorrednerin schon betont – darf nicht nur nach
ökonomischen Leitlinien erfolgen. Das bestehende Ver-
gaberecht für die Beschaffung von allgemeinen Dienst-
leistungen kann eben nicht eins zu eins auf soziale
Dienstleistungen übertragen werden. Das hat auch die
Koalition erkannt. Deshalb stimmen wir dem Antrag zu,
den die Koalition vorgelegt hat.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Der erste gute Satz heute!)


– Jetzt überlege ich es mir noch einmal, Herr Kollege
Lehrieder, wenn das Ihrer Meinung nach der einzige
gute Satz war.


(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Nein! Deswegen strahlen wir dich alle so an!)


Aber immerhin haben Sie zugehört. Das ist auch schon
ein gutes Signal.

Die strittige Frage – unabhängig davon, ob wir zu-
stimmen – ist nicht, ob wir neue Regelungen brauchen,
sondern wie wir die aktuellen Regelungen künftig ausge-
stalten wollen. Da sind die Vorstellungen sehr unter-
schiedlich. Genau deshalb gibt es einen eigenen Antrag
der SPD-Fraktion; denn diesen Handlungsbedarf blen-
den Sie ein Stück weit aus. Besser wäre es gewesen,
wenn Sie auch schon die entsprechenden Rechtsverord-
nungen auf den Weg gebracht hätten. Dann bräuchten
wir heute nämlich gar nicht miteinander zu diskutieren.

Es darf einfach nicht sein, dass bei sozialen Dienst-
leistungen die Frage der Wirtschaftlichkeit, also die nach
dem günstigsten Angebot, bei der Vergabe ausschließ-
lich ausschlaggebend ist. Was haben wir davon, wenn
zum Beispiel für einen arbeitslosen Jugendlichen günstig
entsprechende Maßnahmen ergriffen werden, er aber
hinterher nicht vermittelt wird? Davon haben wir gar
nichts. Deshalb geht es auch um die Qualität.

Es geht um bieterbezogene Qualitätskriterien. Für all
diejenigen, die sich nicht jeden Tag mit dem Vergabe-

recht auseinandersetzen, übersetze ich das einmal: Es
werden zum einen alle Kriterien einer öffentlichen Aus-
schreibung erfüllt, aber es werden zum anderen eben
auch die stillen Kriterien, die sonst nicht erfasst werden,
zum Beispiel langjährige erfolgreiche Erfahrung bei der
Vermittlung junger Menschen oder ein Netzwerk vor Ort
– es muss also kein Büro vor Ort eröffnet werden –,
berücksichtigt. All dies sind bieterbezogene Qualitäts-
kriterien. Diese müssen wir bei diesen Ausschreibungen
also stärker berücksichtigen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir sind der Meinung – das schließt den Kreis zur öf-
fentlich geförderten Beschäftigung, über die wir gerade
eben diskutiert haben –, dass bei dem Einkauf von sozia-
len Dienstleistungen nicht nur die Integration in den
Arbeitsmarkt zu messen ist, sondern es auch um Integra-
tionsfortschritte gehen muss. Das, was wir immer als
Teilhabefortschritte bezeichnen, muss also besser be-
rücksichtigt werden. Es wäre ein dankbares Projekt für
die Bundesregierung mit ihren großen Ministerien, einen
gescheiten Katalog vorzulegen, wie man das messen
kann. Denn das wäre in der Tat am Ende des Tages alle
Arbeit wert.

Genau deshalb haben wir als Sozialdemokratinnen
und Sozialdemokraten schon 2011 unseren Antrag ein-
gebracht. Wir haben dabei die Teilhabechancen der
Menschen mit schwerer Behinderung in den Mittelpunkt
gestellt.

Es geht unseres Erachtens bei der Ausschreibung von
Leistungen der Integrationsfachdienste darum, dass hier-
bei völlig andere Kriterien als bei dem Einkauf von
Maßnahmen durch die Bundesagentur für Arbeit und
Ähnlichem gelten müssen. Denn wir finden, dass die
Kontinuität in der Betreuung und in der Arbeit von Men-
schen mit Behinderung der Schlüssel zum Vermittlungs-
erfolg ist. Wenn es infolge der Ausschreibungspflicht zu
häufig zum Wechsel von Trägern kommt, die dieses An-
gebot machen, werden wir unserer Ansicht nach den
Menschen wie auch letztendlich dem Ziel, sie in Arbeit
zu vermitteln, nicht gerecht.

Für diejenigen, die sich nicht jeden Tag mit dem
Thema Integrationsfachdienste beschäftigen, will ich an
einem Beispiel klarmachen, was dort geleistet wird und
warum es so wichtig ist, dabei auf die üblichen Aus-
schreibungskriterien zu verzichten. Nehmen wir zum
Beispiel einen Mann, der einen Motorradunfall hatte und
nun seinen rechten Arm nur noch eingeschränkt bewe-
gen kann und dadurch seinen Job als Gerüstbauer ver-
liert. Das kann jeden Tag auf unseren Straßen passieren.
Jetzt fängt die Arbeit des Integrationsfachdienstes an.
Der Integrationsfachdienst nimmt sich dieses Gerüstbau-
ers an und sucht nach passgenauen Lösungen, wo und
wie er künftig noch arbeiten kann. Er sucht für ihn eine
Baufirma und entwickelt eventuell mit ihr eine speziell
angefertigte Maschine, die man nur mit einer Hand be-
dienen kann – das kann eine Lösung sein –, und begleitet
dann diesen Mann nicht nur am ersten Tag oder beim
Einrichten des Arbeitsplatzes, sondern so lange wie





Katja Mast


(A) (C)



(D)(B)


nötig, also bis es im Job wieder rundläuft. Das leistet der
Integrationsfachdienst.

Um diese Arbeit leisten zu können, braucht man gute
Netzwerke vor Ort. Man braucht Verlässlichkeit und
muss wissen, welchen Arbeitgeber man ansprechen
kann. Man braucht auch Erfahrung in der Begleitung
von Menschen in solchen Sondersituationen. Genau des-
halb sagen wir, dass die wertvolle Arbeit der Integrati-
onsfachdienste unterstützt werden muss und ihnen keine
Hürden in den Weg gelegt werden dürfen. Allein im Jahr
2009 sind 7 324 schwerbehinderte Menschen von Inte-
grationsfachdiensten in Arbeit vermittelt worden. Das ist
ein Zeichen dafür, wie wertvoll und wichtig diese Arbeit
ist. Auch da geht es um Vollbeschäftigung; denn wir
finden: Jeder Mensch soll das Recht auf Teilhabe am
Arbeitsmarkt haben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Deshalb ist die Ausschreibung von Leistungen im Be-
reich der individuellen Dienstleistungen, die auf einen
Menschen persönlich zugeschnitten sind, für schwerbe-
hinderte Menschen aus unserer Sicht völlig ungeeignet,
die Vermittlung und Begleitung am Arbeitsmarkt erfolg-
reich zu organisieren. Diese Forderung wird im Übrigen
auch von den Teilnehmern der 87. Arbeits- und Sozial-
ministerkonferenz der Länder unterstützt, und zwar voll-
umfänglich.

Im Sinne der Menschen mit Behinderung in unserem
Land werben ich und meine Fraktion deshalb an dieser
Stelle eindringlich um Zustimmung auch zu unserem
Antrag. Wir gehen über die Brücke und können Ihrem
Vorschlag zustimmen. Das können Sie doch auch bei uns
machen. In diesem Sinne freue ich mich auf die Abstim-
mung nachher.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1722224100

Die Kollegin Molitor spricht nun für die FDP-Frak-

tion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Gabriele Molitor (FDP):
Rede ID: ID1722224200

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Mit dem vorliegenden Antrag „Mehr Berück-
sichtigung von Qualität bei der Vergabe von Dienstleis-
tungen“ sorgt die Koalition dafür, dass der hohe Stan-
dard sozialer Dienstleistungen auch im Rahmen eines
europäisierten Vergabeverfahrens aufrechterhalten wird.
Das Vergaberecht ist in meinen Augen überhaupt kein
Hinderungsgrund, Qualität sichern zu können. Ganz im
Gegenteil: Das Vergaberecht kann sogar dazu führen,
dass mehr Qualität erreicht wird.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf des Abg. Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Trotzdem haben wir uns vorgenommen, uns die Pra-
xis noch einmal genauer anzusehen, und haben unseren
Antrag auch entsprechend aufgebaut. Es ist uns nämlich
ein sehr wichtiges Anliegen, Menschen mit Behinderung
in das Berufsleben einzugliedern und ihnen dabei alle
Unterstützung zuteilwerden zu lassen. Die Anträge der
Opposition gehen da jedoch in die falsche Richtung,
weil in ihnen gefordert wird, soziale Dienstleistungen
nicht mehr öffentlich auszuschreiben, sondern zu einer
freihändigen Vergabe zurückzukehren.


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, bei den Integrationsfachdiensten, Frau Molitor!)


Ich denke, dass gerade die öffentliche Vergabe „ein
Höchstmaß an Qualität, Transparenz und Wirtschaftlich-
keit bei der Leistungserbringung“ sicherstellt. Diese For-
mulierung stammt aus dem Antrag der Grünen, und ich
kann diese Formulierung nur unterstützen.


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, nein, das ist doch aus dem Zusammenhang gerissen! Das ist doch Unsinn!)


Denn die genannten Kriterien werden durch die Bindung
an objektive Kriterien im Vergaberecht erfüllt.

Ich bin der Meinung, die befristete Zuteilung von so-
zialen Dienstleistungen kann im Gegenteil sogar einen
Anreiz darstellen, die Qualität der geleisteten Arbeit
auch auf Dauer zu sichern.


(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Paul Lehrieder [CDU/CSU])


Wir unterstützen es daher, dass, bedingt durch den Ver-
gaberhythmus, eine Art Erfolgskontrolle passiert


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die passiert ja gerade nicht!)


und damit auch Neuanbietern eine Markteintrittschance
verschafft wird.


(Gabriele Lösekrug-Möller [SPD]: Das sehen wir anders!)


– Gut, das ist Ihr gutes Recht. Aber ich denke, eine Pra-
xis der stillschweigenden Auftragserteilung aufgrund
nicht objektiv nachvollziehbarer Kriterien


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach!)


oder möglicher enger persönlicher Bindungen eines
Sachbearbeiters an das gewählte Unternehmen ist mit
uns als Regierungskoalition nicht zu machen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir fordern Transparenz und Effektivität bei der Auf-
tragsvergabe.

Wir sehen ja, dass es Spielräume gibt; diese sollen bei
der Rechtsetzung genutzt werden, um bieterbezogene
Qualitätsmerkmale stärker zum Zuge kommen zu lassen.
Wir wollen die strikte Trennung von Eignungs- und Zu-





Gabriele Molitor


(A) (C)



(D)(B)


schlagskriterien aufweichen und schauen, dass hier auch
der Qualität zum Erfolg verholfen wird.

Aber die Vorschläge der Opposition erreichen das
Ziel nicht.


(Zuruf von der FDP: Wie so oft!)


Das Festhalten an den Integrationsfachdiensten als ein-
zig mögliche Dienstleister für die Eingliederung von
Menschen mit Behinderung am Arbeitsmarkt zeigt, dass
es eigentlich nur darum geht, bestehende Strukturen zu
sichern. Ich finde, das schadet eigentlich dem Ziel; denn
wir wollen hier durch Wettbewerb auch Veränderungen
möglich machen, wir wollen, dass sich auch neue Anbie-
ter bewerben können. Wenn wir das verhindern, werden
wir nie wissen, ob nicht vielleicht ein neuer Dienstleister
zu viel besseren Erfolgen kommt. Die Vermittlungsquote
der Integrationsfachdienste liegt im Augenblick bei
32 Prozent. Es ist aber durchaus möglich, dass das auch
durch andere Formen noch getoppt werden kann.

Die Opposition behauptet, dass durch Ausschreibun-
gen besonders Neuanbieter gefördert werden, die erfor-
derliches Wissen und Kontinuität nicht aufweisen. Für
die IFD wird befürchtet, dass die öffentliche Ausschrei-
bung aufgrund der Wettbewerbssituation zu einer
Erosion bestehender Strukturen führen wird. Auch
werden Ängste verbreitet, dass bei der Anwendung des
Vergaberechts einige wenige Anbieter den Markt unter
sich aufteilen und damit andere kleinere Anbieter ver-
drängen. Diese Ängste halte ich für unbegründet,


(Zuruf von der FDP: Eindeutig!)


denn die Maßnahmen zur beruflichen Eingliederung von
Menschen mit Behinderung machen für die IFD nur ei-
nen Teil ihrer Arbeit aus. Sie leisten noch andere Dinge.
Die Vergangenheit hat jedenfalls nicht gezeigt, dass klei-
nere Anbieter hier Probleme bereiten.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich glaube, uns Liberale macht aus, dass wir eine
Partei bzw. eine politische Richtung darstellen, die dem
Wettbewerb vertraut, weil er nämlich bestmögliche
Lösungen und auch Fortentwicklungen möglich macht.


(Pascal Kober [FDP]: Ja, so ist es!)


Ich denke, es ist auch in diesem Fall überhaupt nicht
schlimm, wenn immer wieder bessere Erfolge in den so-
zialen Dienstleistungen angemahnt werden und dazu
auch ein Anreiz besteht. Bei den öffentlich vergebenen
Arbeitsmarktdienstleistungen sehen wir das ja bereits; da
stellt das überhaupt keine Problematik dar.


(Zuruf von der FDP: Genau!)


Alles in allem: Wir müssen zum einen zu Verbesse-
rungen in Deutschland bei der Vergabepraxis kommen
und uns zum anderen auch für eine einheitliche Vergabe-
praxis in der gesamten Europäischen Union einsetzen;
das besagt auch unser Antrag. Wir wollen gemeinsam
mit unseren europäischen Partnern eine einheitliche Ge-
wichtung der bieterbezogenen Kriterien erarbeiten. Das
wird uns mit Sicherheit gelingen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1722224300

Für die Fraktion Die Linke hat der Kollege Dr. Ilja

Seifert jetzt das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1722224400

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-

legen, meine Damen und Herren! In der Behindertenpo-
litik geht es auch immer um leichte Sprache. Ich präsen-
tiere Ihnen nun in dieser Hinsicht einen linguistischen
Leckerbissen.


(Zuruf von der CDU/CSU: „Linguistisch“ ist auch nicht leicht auszusprechen!)


– Deswegen sage ich es ja. – Wir sollen einem Antrag
zustimmen, mit dem die Koalition die Regierung beauf-
tragt, „den nationalen Rechtsetzungsspielraum zu nut-
zen, um insbesondere bei sozialen Dienstleistungen die
Berücksichtigung bieterbezogener Qualitätskriterien bei
der Zuschlagserteilung stärker zu gewichten“. Ich finde,
das ist eine dufte Steilvorlage für eine Straßenumfrage
bei der heute-show.


(Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN)


Die zentrale Frage würde lauten: Verstehen Sie diesen
Satz? – Oder soll hier jeder alles darunter verstehen kön-
nen, also nichts? Mein linkes Verständnis biete ich gern
als Dienstleistung an. Wir reden hier nämlich über ar-
beitslose Menschen, insbesondere über 180 000 Men-
schen mit schwerer Behinderung, die die größten Schwie-
rigkeiten haben, einen regulären Arbeitsplatz zu finden.
Und wenn sie einen finden, dann bekommen sie ihn
nicht.

Wir reden des Weiteren über 208 Integrationsfach-
dienste, deren rund 1 500 Mitarbeiterinnen und Mitar-
beiter besonders gut wissen, was zu tun ist, um schwer-
behinderte Menschen auf einen passenden Arbeitsplatz
zu vermitteln; darauf haben schon viele hingewiesen.
Diese Mitarbeiter wissen, wie man Arbeitgeber moti-
viert, ihre Vorbehalte zu überwinden, und sie begleiten
die schwerbehinderten Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmer auch im Arbeitsleben, um das Arbeitsverhältnis
dauerhaft zu sichern. Das betraf 2011 mehr als 67 000
Menschen.

Wir reden auch darüber, dass die Bundesagentur für
Arbeit bis 2009 den Auftrag, schwerbehinderte Men-
schen auf dem Arbeitsmarkt zu vermitteln, freihändig an
Integrationsfachdienste vergeben konnte, eben weil de-
ren Qualität darin bestand, genau zu wissen, worauf es
ankommt. Der Gesetzgeber hat ja 2001 diese Fach-
dienste überhaupt erst geschaffen, um entsprechende
Qualität zu entwickeln. Seit drei Jahren ist aber beson-
dere soziale Qualität kein Maßstab mehr. Die Vermitt-
lung schwerbehinderter Menschen kann nämlich seither
über eine öffentliche Ausschreibung vergeben werden.
Es ist also schon richtig Schaden angerichtet worden, es
ist schon richtig etwas kaputtgemacht worden. Das wol-





Dr. Ilja Seifert


(A) (C)



(D)(B)


len Sie jetzt weiter vertiefen. Das kann doch nicht Sinn
der Sache sein.


(Beifall bei der LINKEN)


Vor fast zwei Jahren kamen von den Kollegen von
den Oppositionsfraktionen SPD und Grünen zwei An-
träge, die zum Ziel hatten, die Ausschreibungspflicht zu-
rückzunehmen. Der Markenkern der Fachdienste – Ver-
mittlung und Begleitung in reguläre Beschäftigung aus
einer Hand – sollte erhalten bleiben und nicht dem un-
kontrollierten Wettbewerb ausgesetzt werden. In der ent-
sprechenden Anhörung sagten acht von zehn Sachver-
ständigen, dass das vernünftig sei. Heute, nach fast zwei
Jahren, werden auch die Vermittlungsleistungen im Be-
reich des SGB IX, also des Schwerbehindertenrechts,
ausgeschrieben, zum Beispiel bei der Unterstützten Be-
schäftigung. Die Zahl der Aufträge zur Arbeitsvermitt-
lung an die Fachdienste sank um fast die Hälfte. Vom ge-
setzlichen Gründungsanspruch der Fachdienste ist die
heutige Situation jedenfalls weiter entfernt denn je – so
heißt es im Jahresbericht der Integrationsfachdienste.

Nun – das verwundert mich wirklich – stimmen die
Kollegen der Oppositionsfraktionen dem Antrag der Ko-
alition zu,


(Gabriele Molitor [FDP]: Ja, weil es ein guter ist!)


obwohl er das genaue Gegenteil von dem darstellt, was
die Opposition beantragt hat. Das ist der Witz an der Sa-
che. Wie können Sie sich da wundern, dass die Koalition
Ihren Vorschlägen nicht zustimmt!

Man kann über die Integrationsfachdienste sicherlich
geteilter Meinung sein. In einer inklusiven Welt ohne
Arbeitslose, ohne Barrieren und ohne Sondereinrichtun-
gen wären sie wohl überflüssig. Bei größerem Vermitt-
lungserfolg würden sie sich also selber überflüssig ma-
chen. Doch weil wir davon weit entfernt sind, plädiert
die Linke gegenwärtig dafür, die Integrationsfachdienste
zu stärken und zur freihändigen Vergabe zurückzukeh-
ren.


(Beifall bei der LINKEN)


Deshalb stimmen wir heute gegen den Antrag der Koali-
tion und somit auch gegen die Beschlussempfehlung des
Ausschusses.

Wer Qualität gewichten will, muss schon sagen, was
er damit meint. Weder wir hier im Parlament noch die
Menschen mit Behinderung brauchen solch leeres Wort-
geklingel, wie ich es eingangs vorgelesen habe.

Ich danke für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1722224500

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kol-

lege Markus Kurth das Wort.


Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722224600

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Stellen Sie sich einmal vor, die Kriterien für die

Vergabe würden auf den Bereich der schulischen Bil-
dung übertragen. Dann würde beispielsweise eine Grund-
schule in Bielefeld 1 500 Stunden Mathematik-, 500 Stun-
den Sachkunde- und 1 000 Stunden Deutschunterricht
bei einem regionalen Einkaufszentrum in Düsseldorf be-
antragen. Von dort aus würde anschließend eine breite
Ausschreibung gemacht. Dann käme aus den Niederlan-
den eine Firma – nennen wir sie Easy Education Incor-
porated –, die zu Billigsttarifen Lehrkräfte einstellen
würde, die vor allen Dingen preiswert wären. Diese wür-
den dann von Düsseldorf aus oder von woher auch im-
mer nach Bielefeld geschickt. Dort würden sie dann drei
Jahre lang unterrichten, immer in Angst um die Verlän-
gerung des Vertrages,


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Bringen Sie die nicht auf solche Ideen!)


und würden dabei untertariflich bezahlt. Das würden wir
unseren Kindern, denen wir die beste Bildung zukom-
men lassen wollen, niemals zumuten.


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Weiß man es?)


Aber genau so wird es bei denjenigen gemacht, die
komplexe, teils sehr schwierige Unterstützungs-, Bil-
dungs- und Qualifizierungsbedarfe haben. Dieser Ver-
gleich zeigt schon, dass man bei der Vergabe von Dienst-
leistungen am Menschen nicht nach den gleichen Krite-
rien verfahren kann wie bei der Beschaffung von Blei-
stiften.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Man muss an dieser Stelle auch ganz klar konstatie-
ren, dass im Grundsatz die Fraktionen der Regierungs-
koalition diesen Gedankengang in ihrem Antrag zumin-
dest grundsätzlich nachvollzogen haben; das will ich
gleich vorwegschicken, gerade auch an die Adresse des
Kollegen Seifert. Auch wir werden diesem Antrag der
die Regierung tragenden Fraktionen zustimmen, unse-
rem eigenen Antrag natürlich auch, weil so in Zukunft
die Praxis der Vergabe, wie sie bisher gewesen ist, zu-
mindest ein Stück weit verändert werden kann. Jetzt
können nämlich die bieterbezogenen Qualitätskriterien
auch zum Zuschlagskriterium gemacht werden. Das ist
die entscheidende Änderung gegenüber dem, was in der
Vergangenheit war.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich meine, da sollte man auch ruhig als Opposition über
den eigenen Schatten springen und sagen: Eine kleine
Verbesserung ist besser als gar nichts.


(Katja Mast [SPD]: Genau!)


Wir werden allerdings genau gucken, ob Sie das auch
umsetzen, zum Beispiel über die VOL/A, die Vergabe-
und Vertragsordnung für Leistungen – hoffentlich recht
rasch –, und natürlich auch im Prozess der europäischen
Neuordnung des Vergaberechts.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)






Markus Kurth


(A) (C)



(D)(B)


Ich muss allerdings noch anmerken, dass die Aus-
schreibung eines Teils der Leistungen der Integrations-
fachdienste nicht zweckmäßig ist. Der Gesetzgeber hat
damals – soweit ich weiß, haben auch Sie, FDP und
CDU/CSU, dem Neunten Buch Sozialgesetzbuch zuge-
stimmt – die Integrationsfachdienste als ganzheitliche
Dienstleistung konzipiert. Der Gesetzgeber hat in § 110
SGB IX gesagt, der IFD soll die Menschen im Vorfeld
beraten und unterstützen, er soll vermitteln, er soll An-
sprechpartner für die Arbeitgeber sein und vor allen Din-
gen auch nach der Vermittlung die Personen begleiten
– das ist ganz wichtig auch für Menschen mit psychi-
schen Beeinträchtigungen – und Ansprechpartner für
Probleme sein, falls der Arbeitgeber solche nach der
Vermittlung hat.

Es macht also Sinn, das in eine Hand zu legen. Es gibt
jetzt zwar eine unterschiedliche Kostenverantwortung
– die Bundesagentur für Arbeit hat die Kostenverant-
wortung für die Vermittlung –, aber es ist grundfalsch,
daraus nun abzuleiten, dass der Bereich der Vermittlung
ausgeschrieben und an einen externen Dienstleister ver-
geben wird, während jemand anders weiterhin An-
sprechpartner bei Beratung und Unterstützung ist. Dies
widerspricht dem Geist – ich würde fast sagen: dem
Buchstaben – dessen, was im Gesetz steht, und macht
auf jeden Fall keinen Sinn.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir wollen zu einer ganzheitlichen vernünftigen Ver-
gabe zurückkehren. Dies ist auch nach jetzigen rechtli-
chen Maßstäben möglich. Sie wissen, dass die Fraktion
der Grünen auch eine Anfrage an den Wissenschaftli-
chen Dienst des Deutschen Bundestages gestellt hat, der
ausdrücklich festgestellt hat, dass in diesem Bereich eine
Vergabe nicht zwingend ist. Insofern hält Sie nichts da-
von ab, wieder zum ursprünglichen Willen des Gesetz-
gebers zurückzukehren und eine vernünftige Praxis im
Sinne aller Menschen mit Behinderung zu befolgen.

Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1722224700

Das Wort hat der Kollege Paul Lehrieder für die

Unionsfraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1722224800

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen

und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die
Vorredner haben fast ausnahmslos bestätigt – ich denke,
wir sind uns darin alle einig –, dass das Instrumentarium
des Vergaberechts einen wesentlichen Teil unserer sozia-
len Marktwirtschaft darstellt, ein Instrumentarium, um
den erforderlichen Anforderungen an die zu erbringen-
den Dienste flexibel gerecht zu werden. Dies gilt ver-
mehrt auch im Bereich von Dienstleistungen. So nutzt
auch die Bundesagentur für Arbeit Arbeitsmarktdienst-
leistungen im Rahmen des Vergaberechts.

Seit 2009 ist eine freihändige Vergabe an die Integra-
tionsfachdienste aufgrund der Änderungen der VOL/A,
auf die von Vorrednern bereits hingewiesen wurde, nicht
mehr möglich. An diese Rechtsänderung infolge der
Rechtsprechung zum Vergaberecht ist auch die Bundes-
agentur für Arbeit als öffentlicher Auftraggeber gebun-
den. Hierzu zählen auch die Leistungen der Integrations-
fachdienste zur Vermittlung schwerbehinderter Menschen.

§ 46 Abs. 4 Satz 1 SGB III beinhaltet einen deklarato-
rischen Verweis auf das Vergaberecht, wonach dieser an-
zuwenden ist, wenn die Voraussetzungen dafür vorlie-
gen, also wenn Verträge der Integrationsämter mit
privaten Dritten geschlossen werden, sofern es sich nicht
um Rehabilitationsleistungen nach §§ 111 und 113 SGB IX
handelt. Im Übrigen möchte ich Ihnen in Erinnerung ru-
fen, dass ein gleicher Zugang aller privaten Dienstleister
zu öffentlichen Aufträgen im Rahmen wettbewerblicher
Vergabeverfahren grundsätzlich verfassungsrechtlich
zwingend zu gewährleisten ist. Dies erfordert Art. 3 Abs. 1
unseres Grundgesetzes.

Gleichwohl wird – das muss ganz offen angesprochen
werden; darauf haben auch Sie, Herr Kollege Kurth, mit
dem Hinweis auf komplexe Unterstützungsbedarfe ein-
dringlich aufmerksam gemacht – das hiesige Vergabe-
recht speziell im Rahmen von sozialen Dienstleistungen
den Anforderungen der Praxis nicht immer vollumfäng-
lich gerecht. Es handelt sich bei den zu integrierenden
Mitbürgerinnen und Mitbürgern gerade nicht um Waren
oder beliebig austauschbare Dienstleistungen, sondern
um Menschen, bei denen es um Vertrautheit, um kom-
plexe Sachverhalte geht. Es geht hier nicht um eine Akte
und nicht um eine Bewerbung, die man einem Unterneh-
men mit den Worten schicken kann: Stellt den mal ein,
es wird schon klappen. – Vielmehr muss man sich den
Bewerber anschauen; man muss sich seine Geschichte,
seine Beschwerden anhören; man muss seine Eignung
im Detail überprüfen; man muss sich eingehend mit die-
ser Person beschäftigen, bevor man ihn überhaupt in ei-
nen Job empfehlen kann, und dann auch noch die Nach-
sorge ein Stück weit mitmanagen.

Hier handelt es sich um Menschen, bei denen die As-
pekte der Behinderung, die Geschichte, das Umfeld, die
Kontakte, die familiäre Situation, aber auch Präferenzen
und insbesondere die Krankheitsgeschichte oder die Ge-
schichte der Behinderung eine große Rolle spielen. Des-
halb ist es wichtig, nach der Vermittlung auch eine Be-
gleitung am Arbeitsplatz mit zu übernehmen. Frau
Kollegin Mast hat in ähnlicher Form darauf hingewie-
sen, dass es gerade nicht um austauschbare Elemente
oder Waren geht, sondern um Menschen und Schicksale.

Deshalb jedoch völlig auf eine Ausschreibungspflicht
für Leistungen der Integrationsfachdienste, also Vermitt-
lung und begleitende Hilfe, zu verzichten, wie Sie, liebe
Kolleginnen und Kollegen von der SPD, es in Ihrem An-
trag fordern, oder eine Rechtsänderung zu fordern, durch
welche die Bundesagentur für Arbeit künftig wieder
Aufträge zur Vermittlung schwerbehinderter Menschen
an Integrationsfachdienste freihändig vergeben kann,
wie es die Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/
Die Grünen in ihrem Antrag fordern, halten wir nicht für





Paul Lehrieder


(A) (C)



(D)(B)


zielführend. Warum soll sich denn nicht auch der Inte-
grationsfachdienst um Ausschreibungen auf der Grund-
lage von § 46 SGB III bewerben können?

Dies, meine sehr geehrten Damen und Herren, haben
im Übrigen auch die Sachverständigen im Rahmen der
vom Ausschuss für Arbeit und Soziales durchgeführten
öffentlichen Anhörung am 17. Oktober 2012 bestätigt.

Die christlich-liberale Koalition verfolgt den Ansatz,
die Qualität bei der Vergabe von Dienstleistungen besser
zu berücksichtigen. Ich will es gerne wiederholen, Herr
Kollege Seifert, nachdem Sie dies vorhin als unüber-
windbaren rhetorischen Fauxpas bezeichnet haben: Wir
fordern die Bundesregierung auf, „den nationalen
Rechtssetzungsspielraum“, das heißt, die Möglichkeit,
rechtliche Gestaltung vorzunehmen, „zu nutzen, um ins-
besondere bei sozialen Dienstleistungen die Berücksich-
tigung der bieterbezogenen“ – es geht also um das Un-
ternehmen, das sich um die Integrationsdienstleistung
bewirbt – „Qualitätskriterien bei der Zuschlagserteilung
stärker zu gewichten sowie auf europäischer Ebene sich
für die Schaffung einer entsprechenden, für alle Dienst-
leistungen geltenden Regelung bei der anstehenden Re-
form der Vergaberichtlinien einzusetzen.“

Im Rahmen der beschränkten Ausschreibung kennt
man die sogenannte Bewährtheit und Zuverlässigkeit der
Unternehmen, die sich um die Ausschreibung bewerben.
Genau dort kann man das einbeziehen, was Sie individu-
alisiert für die Menschen als Schwerpunkt der Integra-
tionsdienste gesehen haben. Ich glaube, das ist eine Lö-
sung im Hinblick auf eine viel bessere Problemsituation
für die Betroffenen und die zu vermittelnden Mitbürge-
rinnen und Mitbürger.

Wir müssen feststellen – was betrüblich ist –: Die po-
sitive Entwicklung der letzten Jahre auf dem Arbeits-
markt ist an unseren gehandicapten Mitbürgerinnen und
Mitbürgern nahezu vollständig vorbeigegangen; Frau
Kollegin Michalk hat in ihrer Rede bereits darauf hinge-
wiesen. Wir müssen aufpassen, dass wir die Menschen
in Problemsituationen, die gehandicapten und behinder-
ten Menschen, am wirtschaftlichen Erfolg unseres Lan-
des teilhaben lassen.

In allen anderen Bereichen des Arbeitsmarktes – ich
verweise auf die Langzeitarbeitslosen, über die wir ge-
rade diskutiert haben, und die Halbierung der Jugendar-
beitslosigkeit – haben wir Erfolge erzielt. Dazu leisten
die Integrationsfachdienste einen wertvollen Beitrag.
Wir müssen ihnen die Möglichkeit geben, ein geordne-
tes, vernünftiges Ausschreibungsverfahren ohne große
Vergaberichtlinien und unter Vermeidung von Haus- und
Hoflieferanten durchzuführen, was anbieterbezogen aus-
gestaltet werden kann. Damit werden wir hoffentlich
mehr Erfolge bei der Vermittlung von Langzeitarbeitslo-
sen und behinderten Mitbürgerinnen und Mitbürgern ha-
ben. Dabei sollten Sie uns begleiten.

Ich bedanke mich bei der SPD und den Grünen für die
Zustimmung zu unserem Antrag. Bei den Linken dauert
es mit der Zustimmung noch ein wenig. Vielleicht wer-
den Sie uns auch einmal zustimmen. Die Betroffenen ha-

ben eine möglichst breite Unterstützung durch dieses
Haus verdient.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1722224900

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales auf
Drucksache 17/11084. Der Ausschuss empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Annahme
des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf
Drucksache 17/10113 mit dem Titel „Mehr Berücksich-
tigung von Qualität bei der Vergabe von Dienstleistun-
gen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Be-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen, der SPD-Fraktion und der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke angenommen.

Unter Buchstabe b der Beschlussempfehlung emp-
fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/4847 mit dem Titel
„Ausschreibungspflicht für Leistungen der Integrations-
fachdienste stoppen – Sicherstellung von Qualität,
Transparenz und Effizienz“. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der
Oppositionsfraktionen angenommen.

Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksa-
che 17/5205 mit dem Titel „Alternativen zur öffentli-
chen Ausschreibung für Leistungen der Integrations-
fachdienste ermöglichen“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der Oppositionsfraktionen angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:

– Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Sascha Raabe, Dr. h. c. Gernot Erler, Petra
Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der SPD


(Übergen in Entwicklungsländern strukturell verbessern – Ländliche Entwicklung als Schlüssel zur Bekämpfung von Hunger und Armut – Drucksache 17/12379 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Auswärtiger Ausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Vizepräsidentin Petra Pau Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Dr. Sascha Raabe für die SPD-Fraktion. Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! 1 Milliarde Menschen leben in extremer Armut, 870 Millionen hungern. Armut ist für diese Menschen kein abstraktes Problem. Gerade für die Menschen in Subsahara-Afrika geht es dabei ums Überleben. Ein Sprichwort des afrikanischen Volkes der Haya sagt: Armut ist wie ein Löwe – kämpfst du nicht, wirst du gefressen. Leider werden die Kleinsten und Schwächsten zuerst gefressen: Jedes Jahr sterben 2,5 Millionen Kinder an Mangelernährung. Dabei gibt es mehr als genug Lebensmittel auf der Welt. Kein Kind, kein Mensch müsste hungern. Es ist genug da; es ist nur ungerecht verteilt. Nelson Mandela hat gesagt: Die Überwindung der Armut ist keine Geste der Barmherzigkeit. Sie ist ein Akt der Gerechtigkeit … Das Recht auf Nahrung ist ein Menschenrecht, und deshalb müssen wir alles unternehmen, damit den Ärmsten der Armen Gerechtigkeit wiederfährt und wir spätestens bis zum Jahr 2030 endgültig Hunger und Armut überwinden. (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Helmut Heiderich [CDU/CSU])





(A) (C)


(D)(B)


(Beifall bei der SPD)

Dr. Sascha Raabe (SPD):
Rede ID: ID1722225000

Unser Antrag zur ländlichen Entwicklung kann einen
wesentlichen Beitrag dazu leisten; denn drei Viertel der
Armen und Hungernden leben auf dem Land. Es ist also
entscheidend, hier die Lebensbedingungen strukturell zu
verbessern. Ländliche Entwicklung wurde jahrelang
vernachlässigt, sowohl von den Geberländern als auch
von den Partnerländern, und das hat seine Gründe: Wir
haben jahrzehntelang durch Agrarexportsubventionen
die Märkte dort so zerstört, dass es sich für Bauern nicht
gelohnt hat, eigene Produkte anzubauen, weil die Märkte
mit europäischem Milchpulver oder mit Geflügel und
Schweinehälften aus Europa und den USA über-
schwemmt wurden. Aber jetzt gibt es eine Chance für
Kleinbauern; die Weltmarktpreise sind gestiegen. Das ist
eine Chance, die es zu nutzen gilt.

Wir Sozialdemokraten sagen aber auch – das lesen
Sie in unserem Antrag –: Ländliche Entwicklung bedeu-
tet für uns mehr, als den Kleinbauern nur dabei zu hel-

fen, in der Subsistenzwirtschaft nicht zu verhungern.
Vielmehr ist es uns wichtig, ländliche Entwicklung als
Querschnittsthema zu begreifen, also die Wertschöpfung
und die Weiterverarbeitung vor Ort zu verbessern und
das ganze Paket mit all seinen wirtschaftlichen, sozialen
und klimapolitischen Aspekten zu betrachten.

Wir fordern die Bundesregierung deshalb auf, eine ei-
gene haushalterische Zielgröße für die Förderung der
ländlichen Entwicklung festzulegen, damit die Stärkung
dieses Bereiches nicht zulasten anderer Bereiche geht.
Denn es würde uns schaden, wenn die Mittel innerhalb
des Einzelplans 23 nur umgeschichtet würden, also eine
stärkere Förderung der ländlichen Entwicklung zulasten
der Bereiche Gesundheit und Bildung sowie anderer
Sektoren ginge. Wir müssen die zusätzlichen Mittel, die
wir hier brauchen, über einen Aufwuchs, über mehr Mit-
tel generieren. Das haben wir auch versprochen: Bis zum
Jahr 2015 wollen wir einen Anteil der Entwicklungshilfe
am BIP von 0,7 Prozent erreichen. Es ist eine Schande,
Frau Staatssekretärin, dass die Mittel des Einzelplans 23
gekürzt wurden. Wir brauchen einen Aufwuchs, damit
den Menschen im ländlichen Raum mehr Chancen zu-
teilwerden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir fordern in unserem Antrag auch, dass die Pro-
gramme stärker auf die ärmsten Entwicklungsländer aus-
gerichtet werden. Wir erwarten von den Ländern mit
mittleren Einkommen und von den Schwellenländern
mehr Eigenverantwortung bei der Umsetzung des Men-
schenrechts auf Nahrung. Es ist schon eine Schande,
dass etwa die Hälfte aller hungernden Menschen welt-
weit immer noch in China und Indien lebt, obwohl es
dort mittlerweile Reichtum und Luxusstädte gibt.

Natürlich ist gute Regierungsführung eine Vorausset-
zung dafür – das wollen wir gar nicht verschweigen –,
dass es den Menschen in den Entwicklungsländern bes-
ser geht. Durch eine gute, gerechte Land- und Bodenre-
form könnte man schon vielen Menschen helfen, und das
wollen wir natürlich von unseren Partnerländern einfor-
dern. Wer aber nur mit dem Finger auf die Partnerländer
zeigt, der greift viel zu kurz. Denn auch Deutschland und
Europa müssen ihre Hausaufgaben machen. Wir haben
noch immer einen ungerechten Welthandel. Deswegen
müssen wir unsere Agrarsubventionen senken. Gerade
werden in Europa wieder Agrarsubventionen beschlossen;
sie sollen fast 40 Prozent am EU-Haushalt ausmachen.
Aber nicht nur die Agrarexportsubventionen, sondern
auch die internen Stützungen wirken handelsverzerrend.

Wir müssen beim Abschluss von Freihandels- und
Partnerschaftsabkommen darauf achten, dass die Part-
nerländer weiterhin Schutzzölle zugunsten ihrer Land-
wirtschaft erheben dürfen. Wir müssen auch darauf achten,
dass soziale Mindeststandards wie die ILO-Kernarbeits-
norm eingehalten werden und die Menschenrechte ge-
wahrt bleiben.

Hier unterscheidet sich unsere Strategie von der des
Bundesministers Niebel. Er sagt: Jede Investition in
Afrika oder einem anderen Entwicklungsland ist eine





Dr. Sascha Raabe


(A) (C)



(D)(B)


gute Investition. – Nein, nicht jede ausländische Investi-
tion ist gut, sondern nur diejenige, die den Ärmsten vor
Ort zugutekommt. Wir haben in vielen Ländern oft ge-
nug gesehen, dass Kinder in Bergwerken schuften müs-
sen, dass Landarbeiter auf agroindustriellen Plantagen
durch in die Luft versprühte Pestizide vergiftet werden.
Das zeigt: Nicht jede Investition ist eine gute Investition.
Deswegen brauchen wir in Afrika und in den anderen
Entwicklungsländern endlich eine Förderung, die den
Menschen zugutekommt und nicht nur der Industrie und
den deutschen Interessen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir haben ein ganzes Bündel von Maßnahmen in un-
serem Antrag aufgeführt, die ich jetzt nicht alle anführen
kann: Bildung, Unterstützung von Kooperativen von
Kleinbauern, Erhöhung der Wertschöpfung, Stärkung
des Dienstleistungssektors, Verbesserung des Nachernte-
schutzes durch sachgemäße Lagerung. Wir brauchen
mehr Kapital für Kleinbauern und Landwirte, Mikrokre-
dite und spezielle Finanzprodukte, die auf Erntezyklen
abgestimmt sind. Wir brauchen noch mehr Infrastruktur,
und zwar nicht nur Straßen und Transportwege, sondern
auch Mobilfunk und Internet; denn das Internet ist ein
entscheidender Faktor für den ländlichen Raum in den
Entwicklungsländern, damit die Menschen dort nicht nur
in die Stadt flüchten, sondern auch auf dem Land Ver-
marktungs- und Bildungschancen haben. Wir brauchen
Zugang zu erneuerbaren Energien auf dem Land. Wir
brauchen Maßnahmen zur Anpassung an die Folgen des
Klimawandels: Schutz vor Überschwemmung und Vor-
sorge vor Dürre. Wir brauchen Zugang zu Wasser und
Saatgut – all das und noch viel mehr.

All das wird aber nicht reichen; denn es gibt Regio-
nen, in denen wir jetzt schon beobachten können, dass
sich die Menschen durch Landwirtschaft allein nicht
mehr ernähren können. Deswegen brauchen wir soziale
Sicherungssysteme auch für Nomaden, für Völker, die
durch den Klimawandel nicht mehr wie gewohnt ihr Ein-
kommen haben, weil ihnen ihr Land durch Land Grab-
bing weggenommen wurde. Wir brauchen eine Versiche-
rung im Gesundheitsbereich, aber auch zum Schutz vor
Einkommensausfall bei Arbeitslosigkeit.

Soziale Sicherungssysteme kann man mit Budgethilfe
gut anfinanzieren. Auf lange Sicht rechnet sich das auch
für arme Länder, weil die Absicherung irgendwann ein-
mal selbsttragend ist. Wir werden aber gemeinsam mit
anderen nicht umhinkommen, das Ganze durch Budget-
hilfe anzufinanzieren. Auch hier unterscheiden wir uns
von Minister Niebel, der lieber überall Krankenstationen
mit einem deutschen Fähnchen darauf baut und sich
dann fotografieren lässt. Aber eine Woche später, wenn
der Ministertross abgereist ist, gibt es dort keine Medi-
kamente, keine Krankenschwestern und keine Ärzte
mehr.


(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Sie reden nur noch dummes Zeug! Das ist peinlich! Mehr als peinlich! – Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Wer hat Ihnen denn das erzählt?)


Wir sagen: Es ist besser, Budgethilfe in das Gesund-
heitswesen des Partnerlandes zu stecken, damit die
Krankenschwestern ausgebildet werden können, damit
die Ärzte bezahlt werden können. Das ist nachhaltiger
und sinnvoller, als irgendwelche Werbemaßnahmen
durchzuführen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


In unserem Antrag fordern wir Sie zu einer modernen
Entwicklungspolitik auf.

Wir müssen weiterhin gegen Nahrungsmittelspekula-
tionen vorgehen. Die neue Debatte, in der jetzt so getan
wird, als hätte das alles keinen Einfluss, halte ich für un-
säglich. Wir haben uns im Ausschuss ernsthaft mit dem
Thema beschäftigt und sind zu der Erkenntnis gekom-
men: Die Marktteilnehmer brauchen eine Absicherung
an den Märkten, aber nur die echten Marktteilnehmer.
80 oder 90 Prozent der Beteiligten sind gar keine echten
Marktteilnehmer mehr. Für mich ist es nach wie vor eine
Schande, dass die Deutsche Bank und andere mit dem
Hunger und dem Tod von Menschen spekulieren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir müssen Maßnahmen ergreifen, um gegen das
Land Grabbing vorzugehen. Die Ursachen für Land
Grabbing sind Spekulationen auf Land, aber auch auf
Agrokraftstoffe. An dieser Stelle sage ich ganz klar: Es
kann nicht sein, dass wir Agrosprit aus Entwicklungslän-
dern einführen, nur damit Menschen in Deutschland mit
gutem Umweltgewissen in einem Geländewagen herum-
fahren können. Durch den Anbau von Pflanzen für Agro-
sprit gehen den Menschen in den Entwicklungsländern
Flächen für den Anbau für Nahrungsmittel verloren.
Ebenso unterbunden werden muss, dass wir einen Groß-
teil des Getreides und des Sojas, das auf der Welt ange-
baut wird, an Schweine und andere Tiere verfüttern, die
wir hier in Deutschland mästen, um sie dann in alle Welt
zu exportieren.

Ich schließe mit einem Zitat vom Bundespräsidenten
Gauck. In einer Rede hat er festgestellt:

Die Hälfte des weltweit produzierten Getreides
wird an Tiere verfüttert. Würde in den entwickelten
Ländern nur drei Prozent weniger Fleisch gegessen,
könnte man mit dem weniger benötigten Getreide
etwa eine Milliarde Menschen ernähren.


(Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Ja!)


Er hat uns aufgefordert, dies zu tun. Wir können auch
„kleine Löwen“ sein, indem wir faire Handelsprodukte
einkaufen und indem wir weniger Fleisch essen.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1722225100

Kollege Raabe, das Staatsoberhaupt hat hier keine zu-

sätzliche Redezeit bekommen. Sie müssen zum Schluss
kommen.






(A) (C)



(D)(B)



Dr. Sascha Raabe (SPD):
Rede ID: ID1722225200

Frau Präsidentin, Sie sehen, ich kämpfe wie ein Löwe

für die armen Menschen. Ich werde jetzt natürlich respekt-
voll meinen Platz räumen.

Ich hoffe, dass Sie unserem Antrag in zweiter Lesung
zustimmen und heute Abend einmal vegetarisch essen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Genau! Morgen auch!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1722225300

Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Helmut

Heiderich das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Helmut Heiderich (CDU):
Rede ID: ID1722225400

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Liebe Zuhörer! Spät kommt er, doch er kommt.
Spät kommt er, der lange angekündigte Antrag der SPD
zu diesem Themenbereich. Er kommt gleich aus zwei
Gründen spät:

Erstens ist er erst gestern vorgelegt worden, sodass
wir uns sozusagen über Nacht damit beschäftigen muss-
ten, das Niedergeschriebene zu lesen und dazu Position
zu beziehen.


(Dr. Sascha Raabe [SPD]: Ich habe doch kluge Kollegen!)


Zum Zweiten kommt er spät, weil wir uns fast schon
in den letzten Sitzungswochen dieser Legislaturperiode
befinden.


(Dr. Sascha Raabe [SPD]: Gott sei Dank!)


Es wird dauern, bis er nach der Behandlung in den Aus-
schüssen zurück ins Plenum kommt. Deswegen können
Sie mit diesem Antrag nicht mehr das erreichen, was Sie
damit angeblich erreichen wollen, nämlich dieser Bun-
desregierung im Bereich der Entwicklungshilfe und im
Bereich von Ernährung und ländlicher Sicherung Hand-
lungsoptionen zu geben.


(Dr. Sascha Raabe [SPD]: Wir setzen das dann um als nächste Bundesregierung! – Gegenruf des Abg. Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/ CSU]: Dafür brauchst du aber Fachleute!)


Ich darf Ihnen sagen: Erst einmal hat es diese Bundes-
regierung überhaupt nicht nötig, von Ihnen Ratschläge
und Handlungsoptionen entgegenzunehmen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Sascha Raabe [SPD]: Ein tolles parlamentarisches Verständnis!)


Zweitens haben auch wir Koalitionsfraktionen das nicht
nötig; denn wir haben bereits in den Jahren 2011 und
2012 drei entsprechende Vorlagen hier eingebracht. Von
daher brauchen wir Ihre Nachhilfe nicht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Sascha Raabe [SPD]: Masse statt Klasse!)


Das, was Sie eben hier vorgetragen haben, und das,
was Sie niedergeschrieben haben, kommt hinsichtlich ei-
niger Formulierungen dem, was wir damals aufgeschrie-
ben und verabschiedet haben, recht nahe. Der Unter-
schied ist, dass Sie das damals bekämpft und abgelehnt
haben. Jetzt haben Sie mit ähnlichen Formulierungen
das niedergeschrieben, was in unseren Anträgen steht.
Ich will nicht plagiator.de einschalten; aber ich will doch
ein paar Beispiele nennen. Zum Beispiel stammen einige
Ihrer Punkte fast wörtlich aus unserem Antrag zur ländli-
chen Entwicklung. Ihr Punkt 18 spiegelt sich ähnlich in
unserem Antrag „Wasser und Ernährung sichern“ wider.
Der Punkt 17 Ihrer Forderungen steht analog in unserem
Antrag „Illegale Landnahme verhindern“.


(Dr. Sascha Raabe [SPD]: Dann können Sie ja zustimmen! – Klaus Riegert [CDU/CSU]: Sascha, hast du abgeschrieben?)


Generell fällt auf, Kollege Raabe, dass Ihr Antrag im
Gegensatz zu der zugespitzten Agitation, die Sie am
Schluss hier vorgetragen haben, äußerst moderat formu-
liert ist. Da scheinen die Agrarpolitiker Ihrer Fraktion
mehr Einfluss gehabt zu haben, als Sie eben gesagt
haben. Ich will Ihnen auch dafür das eine oder andere
Beispiel geben:

Sie haben eben vom Land Grabbing gesprochen. In
Ihrem Antrag steht wörtlich: Es kann „bei Direktinvesti-
tionen in Land auch positive Effekte geben“.


(Dr. Sascha Raabe [SPD]: Das ist ja kein Land Grabbing!)


Da gibt es also schon eine ganz andere Positionierung.

Sie haben eben von Spekulationen gesprochen. In Ih-
rem Antrag steht wörtlich: „Hauptproblem“ ist „nicht“
die „Verteuerung der Marktpreise an sich, die für den
Fall, dass die Bauern vor Ort von höheren Einkommen
profitieren, durchaus eine Chance für die ländliche Ent-
wicklung darstellen könnte.“


(Dr. Sascha Raabe [SPD]: Volatilität!)


Auch diesbezüglich gibt es also eine Position, die anders
ist als die, die Sie hier eben so kampfbetont vorgetragen
haben.

Letztlich steht in Ihrem Antrag:

Moderne ländliche Entwicklung denkt von der
kleinbäuerlichen Landwirtschaft bis zu wirtschaftli-
cheren Betriebsgrößen.

Das ist aus zwei Gründen interessant: Erstens besagt
das, dass aus Ihrer Sicht kleinbäuerliche Landwirtschaft
nicht wirtschaftlich ist. Zweitens nehmen Sie zum ersten
Mal wirtschaftliche Betriebsgrößen, das heißt größere
oder Großbetriebe, in die Förderungsbereiche Ernäh-
rungssicherung und ländliche Entwicklung auf. Auch
das ist hochinteressant. Das ist etwas ganz anderes als
das, was Sie eben so kampfbetont hier vorgetragen
haben.


(Dr. Sascha Raabe [SPD]: Das stimmt, was ich vorgetragen habe!)






Helmut Heiderich


(A) (C)



(D)(B)


Sie haben auch vorgetragen – auch das will ich aus
Ihrem Antrag zitieren –:

Die ländliche Entwicklung fristete lange ein Schat-
tendasein …

Das ist wohl wahr. Solange Ihre Ministerin
Wieczorek-Zeul im Amt war, war genau das zutreffend.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Richtig!)


In Ihrer Fraktion hat es lange gedauert, bis Sie zu dieser
Einsicht kamen. Ich gebe Ihnen recht. Diesem Punkt
Ihres Antrags könnten wir zustimmen.

Seit unsere Koalition und unsere Regierung hier
verantwortlich sind, haben wir aber eine vollständige
Kehrtwende vorgenommen. Sie wissen doch auch, dass
wir in genau diesem Bereich sehr erfolgreich arbeiten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Seit unserer Regierungsübernahme haben wir die Mittel
für diesen Bereich jährlich fast verdoppelt. Mit rund
700 Millionen Euro pro Haushaltsjahr – ich habe noch
einmal nachgesehen: nach Auskunft des Ministeriums
waren es 2011 sogar über 800 Millionen Euro – sind wir
inzwischen weltweit drittgrößter Geber in diesem Auf-
gabenbereich. Da können Sie den Unterschied sehen:
Bei Ihnen fristete das Ganze ein Schattendasein; heute
investieren wir massiv in diese Aufgabe.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich will Ihnen ein paar kleine Beispiele nennen. Bei
der von der G 8 in L’Aquila beschlossenen Agrarinitia-
tive hat Deutschland nicht nur 2,1 Milliarden Euro für
einen Auftrag übernommen, sondern es hat diese
2,1 Milliarden Euro bis Ende 2012 in die Auftragserfül-
lung investiert.


(Dr. Sascha Raabe [SPD]: Umgeschichtet!)


Wir haben – auch das ist etwas Neues – zum ersten
Mal die Möglichkeiten der einzelnen Ressorts miteinan-
der verknüpft. So ist zum Beispiel im September 2012
das Eckpunktepapier über die Zusammenarbeit bei der
Ernährungssicherung zwischen Bundesministerin Ilse
Aigner und Dirk Niebel unterzeichnet worden. Hinter
dieser Kooperation steht bei uns die Erkenntnis, dass wir
die fachliche Kompetenz des Agrarministeriums und die
Umsetzungskompetenz des Entwicklungshilfeministeri-
ums vor Ort in den Entwicklungsländern bündeln soll-
ten; das macht Sinn. Zusammen, gemeinsam sind wir
stärker. Das zeigt: Hier haben wir einen deutlichen
Schritt nach vorn gemacht.

Es ist nicht so, wie Sie behaupten, wenn Sie von Män-
geln bei der Umsetzung sprechen. Gleiches gilt übrigens
auch – das wurde uns gestern von Minister Peter
Altmaier im Ausschuss höchstpersönlich vorgetragen –
für die Zusammenarbeit mit dem BMU. Insofern rennen
Sie mit vielem, was Sie in Ihrem Antrag formuliert ha-
ben, offene Türen ein.

Wenn man diesen Antrag liest, stellt man auch fest,
dass Sie häufig mit breitester Unverbindlichkeit argu-

mentieren. Deswegen ist mein Eindruck wohl nicht
falsch, dass Sie hierbei eigentlich gar nicht mehr die
Hoffnung haben, der Bundesregierung Material vorlegen
zu können, sondern dass Sie offensichtlich ein Hinter-
grundpapier brauchen, damit Sie sich im Wahlkampf
darauf berufen können. Auch deswegen haben Sie hinter
den Spiegelstrichen in Ihrem Antrag alles aufgenom-
men, was einem zu diesem Thema überhaupt nur einfal-
len kann, egal ob man es, realistisch gesehen, umsetzen
kann.


(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Raabes Gemischtwarenladen!)


– Es ist wirklich ein Gemischtwarenladen, und ich habe
auch ein schönes Zitat dazu gefunden.


(Dr. Sascha Raabe [SPD]: Eure Zeit läuft ab!)


Der gute alte Gotthold Ephraim Lessing hat gesagt –
Herr Raabe, Sie haben durchaus Neues und Gutes vorge-
legt –: „Das Neue daran ist nicht gut, und das Gute daran
ist nicht neu.“


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Sie sehen: Auch schon vor über 200 Jahren hat man so
etwas durchschauen können.

Wenn Sie nun ländliche Entwicklung als Quer-
schnittsaufgabe fordern, so sage ich Ihnen: Wir als Re-
gierung sind dem längst gerecht geworden. Längst geht
es nicht mehr darum – Sie haben es eben angesprochen –,
die Subsistenzwirtschaft als solche zu erhalten, sondern,
wie es der Präsident des IFAD vor zwei Jahren in unse-
rem Ausschuss gesagt hat – ich habe mir das herausge-
sucht –: Es geht besonders um die Ausarbeitung einer
Vision einer kleinbetrieblichen Agrarkultur. – Er hat
wörtlich bei uns gesagt: Man muss die Bekämpfung des
Hungers mit dem Privatsektor verbinden. Es geht um die
kleinen und mittelständischen Unternehmen in den länd-
lichen Gebieten; denn diese sind das Verbindungsglied
zwischen den Kleinbauern der Produktion und dem
Weiterverkauf. – Interessanterweise haben die Experten,
die in diesem Januar in Davos zusammengesessen ha-
ben, auch über den Bereich der Agrarpolitik gesprochen,
und sie sind genau zu diesem Ergebnis gekommen.
Damals haben sie formuliert: Make small farming to a
small business. – Es geht also darum, Kleinbauern zu ei-
ner wirtschaftlichen Einheit zu verbinden.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, was die
Vernetzung vieler Einzelthemen angeht – Sie haben eben
gesagt, wir bräuchten ein Querschnittsthema –, sind wir
längst auf dem Weg und brauchen uns von Ihnen dazu
nichts mehr vorhalten zu lassen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das BMZ hat inzwischen eine eigene Taskforce eta-
bliert. Es hat ein Zehn-Punkte-Konzept aufgestellt. Ins-
besondere in diesen Bereichen sind wir auf dem richti-
gen Weg. Wir haben festgelegt, dass wir mit den
Ländern, in denen wir helfen und mit denen wir ein part-
nerschaftliches Miteinander pflegen, gemeinsam die





Helmut Heiderich


(A) (C)



(D)(B)


Maßnahmen auf Wirksamkeit prüfen. Wir sind nur dann
erfolgreich, wenn wir das so umsetzen.

Zudem haben wir jetzt über das BMZ eigene Vertreter
an den Botschaften. Das wird uns eine ganz neue Quali-
tät der Zusammenarbeit ermöglichen, um in den einzel-
nen Ländern die Maßnahmen partnerschaftlich miteinan-
der zu konzipieren und voranzubringen.

Eine letzte Bemerkung. Wenn Sie schon auf die
nächste Regierungsperiode hinausschauen, dann, meine
ich, sollten wir in unserer Entwicklungspolitik einige
Bereiche forcieren, bei denen wir bisher große Erfolge
haben. Ich denke zum Beispiel an das Thema Wasser,
das international immer mehr an Bedeutung gewinnt,
von der Wassererzeugung über die Verteilung bis hin zu
Bewässerungssystemen. Wir sollten uns bei der Ausbil-
dung und der Verbesserung der Produktivität vor Ort
verstärkt einbringen, insbesondere auch bei den Klein-
bauern. Denn auch da ist unsere Arbeit international sehr
anerkannt.

Wir sollten auch die stärkere Einbindung der privat-
wirtschaftlichen Seite fortsetzen, angefangen bei der
neugegründeten GFP, German Food Partnership, die wir
mit der Industrie in Gang gebracht haben, über die Bill-
und-Melinda-Gates-Stiftung bis hin zur Etablierung von
Wertschöpfungsketten mit großen Unternehmen.


(Zuruf der Abg. Heike Hänsel [DIE LINKE])


Wir sind auch international, verehrte Frau Hänsel, bes-
tens etabliert. Ich will nur darauf verweisen, dass unser
Expräsident Horst Köhler inzwischen auf internationaler
Ebene daran arbeitet – das wird auch im Antrag der SPD
gefordert –, das Post-2015-Development voranzubrin-
gen, das heißt, aus den MDGs SDGs zu machen. Auch
da haben wir mit Horst Köhler eine hervorragende Ver-
tretung und sind bestens vernetzt. Insofern brauchen wir
an dieser Stelle von Ihnen keine Nachhilfe.

Letzter Punkt, den ich anführen will. Wir haben über
G 20 ein neues Informationssystem angeschoben,
AMIS, das inzwischen in der Feinausarbeitung ist. Wir
sind auch im Committee on World Food Security. Sie se-
hen: Unsere Arbeit ist längst mehr als nur Querschnitt.
Wir haben schon heute einen umfassenden Ansatz in
diesem Bereich. Dabei wird es auch in Zukunft bleiben.
Wir werden weiter erfolgreich daran arbeiten.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Sascha Raabe [SPD]: Weiter die Mittel kürzen!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1722225500

Das Wort hat der Kollege Niema Movassat für die

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Niema Movassat (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1722225600

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Klima-

katastrophen, Ausdehnung der Wüsten, ausgelaugte Bö-
den, steigende Weltbevölkerung – all dies ist für Milliar-

den Menschen eine düstere Zukunftsperspektive. Heute
schon hungern 870 Millionen Menschen. Das Men-
schenrecht auf Nahrung wird so häufig verletzt wie kein
anderes. Fast im Sekundentakt stirbt ein Kind unter fünf
Jahren an Hunger. Es ist eine Schande, dass dieser tägli-
che Skandal kaum mehr Aufsehen erregt.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Im vorliegenden Antrag der SPD werden Vorschläge
zur Hungerbekämpfung gemacht. So soll Nahrungsmit-
telspekulation durch ein Verbot von Fonds, die mit
Lebensmitteln zocken, eingedämmt werden. Es soll ver-
bindliche Regeln zur Verhinderung von Landraub geben.
Agrarexportsubventionen sollen abgeschafft werden. So
weit, so gut. Dies alles sind Punkte, die auch wir als
Linke schon in Anträgen gefordert haben.

Sie haben aber für Ihren Antrag den Titel „Ernährung
sichern …“ gewählt. Angesichts eines so umfassenden
Titels sind die Vorschläge insgesamt nicht ausreichend.
So kann ich nicht verstehen, wie Sie Ernährung sichern
wollen, wenn Sie keine Silbe zur neoliberalen Politik
Deutschlands und der EU verlieren, welche mittels Frei-
handelsabkommen mit den Ländern des Südens betrie-
ben wird.


(Beifall bei der LINKEN)


Durch diese Abkommen werden regionale Märkte in
armen Ländern für Billigwaren aus Europa geöffnet. Die
einheimischen Waren können dem Preisdruck nicht
standhalten. Sie werden zerstört. Menschen vor Ort ver-
lieren ihr Einkommen und stürzen in Hunger. Wegen der
neoliberalen Programme von Weltbank und Internatio-
nalem Währungsfonds dürfen die Staaten im Süden ihre
Landwirte nicht unterstützen: keine gesicherten Abnah-
mepreise, keine Zuschüsse für Saatgut und Dünger. Wir
füttern unsere Landwirtschaft mit Subventionen, verbie-
ten es aber Ländern wie Kenia und Ghana. Das ist ab-
surd. Deshalb sagt die Linke „Nein“ zu solchen Freihan-
delsabkommen und „Nein“ zu neoliberalen Reformen.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Sascha Raabe [SPD]: Einmal den Antrag lesen!)


Im Antrag steht auch nichts zu einer weiteren wichti-
gen Frage: Wer produziert was unter welchen Bedingun-
gen? Tragen Fairtrade-Rosen in Kenia und Zuckerrohr-
anbau in Brasilien zu mehr Ernährungssouveränität bei?
Wohl kaum, weil Kleinbauern erst von ihrem Land ver-
trieben und anschließend als billige Saisonarbeiter ange-
stellt werden. Sie verlieren also ihr Land und ihre Unab-
hängigkeit. Das Interesse der Agrarkonzerne an der
Landwirtschaft ist groß wie nie. Nahrungsmittel sind für
sie das neue Öl, und Land ist das neue Gold. Die Politik
unterstützt sie dabei. So setzen die G-8-Staaten zur Er-
nährungssicherung zunehmend auf die Privatwirtschaft.
Mehrere Unternehmen, auch Agrarriesen wie Syngenta,
Unilever und Monsanto, haben die Kampagne „Neue Al-
lianz für Ernährungssicherheit“ für Afrika gestartet.


(Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Ja, richtig!)






Niema Movassat


(A) (C)



(D)(B)


Auch die Bundesregierung unterstützt diese Kampa-
gne finanziell. Um daran teilzunehmen, müssen afrikani-
sche Regierungen ihre Politik investitionsfreundlich im
Sinne des Agrobusiness gestalten. So musste sich Mo-
sambik dazu verpflichten, den freien Austausch von
Saatgut zu verbieten und stattdessen nur mit dem kosten-
pflichtigen Saatgut der Agrarkonzerne zu handeln. Hier
geht es offensichtlich nicht um Ernährungssicherung,
sondern um Gewinne für Monsanto & Co. Wer Hunger
bekämpfen will, muss gegen so etwas vorgehen.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Sascha Raabe [SPD]: Ja! Deshalb steht das ja auch in unserem Antrag!)


Die Bundesregierung setzt ebenfalls auf die Privat-
wirtschaft. So fließen öffentliche Gelder in einen Fonds
für afrikanische Landwirtschaftsbetriebe, der dann aber
von der Deutschen Bank gemanagt wird, von derselben
Bank, die Hunger schafft, indem sie mit Lebensmitteln
zockt. Auch die neue sogenannte German Food Partner-
ship wird mit deutschen Steuergeldern und der Gates-
Stiftung Agrarkonzernen wie BASF und Syngenta neue
Märkte eröffnen. Solche Kooperationen mit der Privat-
wirtschaft füllen keine Teller in Afrika, sondern die Ta-
schen der Unternehmen. Deshalb sagen wir: Finger weg!


(Beifall bei der LINKEN)


Die SPD sagt dazu in ihrem Antrag nichts. Sie von
der SPD scheuen sich, die Profiteure des weltweiten
Hungers zu benennen und ihnen das Handwerk zu legen.
Aber genau das muss passieren. Niemand darf am welt-
weiten Hunger von Menschen verdienen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1722225700

Herr Kollege, wollen Sie Ihre Redezeit durch eine

Zwischenfrage bzw. jetzt eine Nachfrage verlängern?


Niema Movassat (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1722225800

Ja, das können wir machen.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1722225900

Bitte schön.


Dr. Sascha Raabe (SPD):
Rede ID: ID1722226000

Herr Kollege Movassat, ich habe unseren Antrag als

Berichterstatter selbst geschrieben. Jetzt höre ich, wozu
die SPD angeblich nichts sagt. Ich habe den Antrag hier
bei mir. Es ist völliger Quatsch, wenn Sie sagen, dass
sich die SPD nicht zum Thema Saatgut geäußert hat. In
Punkt 24 unseres Antrags fordern wir wörtlich, „Saatgut
zu fairen Preisen einzusetzen“. Außerdem heißt es dort,
dass Biopatente dem nicht entgegenstehen dürfen. Das
bezieht sich gerade auch auf die Kleinbauern.

Sie haben kritisiert, dass wir nichts zu den Freihan-
delsabkommen gesagt haben. Dieses Thema nimmt in
unserem Antrag einen ganz großen Teil ein. In Punkt 7
schreiben wir, dass wir den ärmsten Ländern einerseits
durch einen zoll- und quotenfreien Zugang zu unseren

Märkten Weltmarktchancen eröffnen und – jetzt kommt
es – sie andererseits durch ausreichende Schutzmecha-
nismen vor einer Zerstörung ihrer heimischen Märkte
bewahren wollen und dass Freihandels- und Partner-
schaftsabkommen nur dann abgeschlossen werden sol-
len, wenn menschenrechtliche, ökologische und soziale
Mindeststandards eingehalten werden.

Man kann zwar die gleiche Platte jedes Mal vortra-
gen.


(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Das beherrschen Sie ja perfekt!)


Aber man sollte den Kollegen zumindest den Respekt
entgegenbringen, ihren Antrag vorher zu lesen und dann
auf diesen Antrag Bezug zu nehmen, statt immer wieder
alle Vorurteile, die man gegenüber der SPD hat, auszu-
breiten, auch wenn der Antrag dies nicht hergibt.


Niema Movassat (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1722226100

Herr Kollege Raabe, ich habe Ihren Antrag natürlich

aufmerksam gelesen.

Ich fange mit dem Freihandel an. Es ist richtig, dass
Sie in Punkt 7 Ihres Antrags den EU-Freihandel anspre-
chen. Sie machen dort auch entsprechende Vorschläge.
Aber Sie gehen in Ihrem Antrag nicht auf die neoliberale
Politik ein, die dahintersteckt; das ist das Problem. Das
ist der Punkt, den ich in meiner Rede an Ihrem Antrag
kritisiert habe.

Was das Saatgut angeht, lautete meine Kritik, dass Sie
die Partnerschaft mit der Privatwirtschaft nicht kritisie-
ren und dass die Auswüchse, zu denen es hier gekom-
men ist, die kleinbäuerliche Entwicklung in den Ländern
des Südens nicht unterstützen, sondern vor allem dazu
dienen, die Taschen der Unternehmen zu füllen.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1722226200

Das Wort hat nun Christiane Ratjen-Damerau für die

FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Christiane Ratjen-Damerau (FDP):
Rede ID: ID1722226300

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten

Kollegen und Kolleginnen! „Der Hunger in der Welt ist
ein Skandal, besonders weil er überwindbar ist.“ Dies
sagte Ende Januar dieses Jahres der Vorsitzende der
Kommission Weltkirche der Deutschen Bischofskonfe-
renz, der Erzbischof Dr. Ludwig Schick. Ich sage:
Deutschland als wohlhabendes Land mit einer gewichti-
gen Stimme in der Welt hat die Verantwortung, sich für
Frieden, Freiheit, Demokratie, Menschenrechte und die
Bekämpfung der Armut einzusetzen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir haben die Pflicht, uns für eine faire Gestaltung der
Globalisierung sowie für den Erhalt der Umwelt und der
natürlichen Ressourcen zu engagieren.





Dr. Christiane Ratjen-Damerau


(A) (C)



(D)(B)


Um dieses Ziel zu erreichen – eine Welt in Frieden, in
Freiheit und ohne Hunger – hat die christlich-liberale
Koalition in dieser Legislaturperiode drei Anträge ver-
abschiedet: erstens „Illegale Landnahme verhindern,
Eigentumsfreiheit schützen, Ernährungsgrundlage in
Entwicklungsländern sichern“, zweitens „Ländliche Ent-
wicklung und Ernährungssicherheit weltweit verbes-
sern“ und drittens „Wasser und Ernährung sichern“.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Liebe Kollegen von der SPD, ich sehe es als ein au-
ßerordentliches Kompliment an, dass Sie große Teile un-
serer Forderungen aus den eben genannten Anträgen
übernommen und jetzt in Ihren Antrag eingebaut haben.
Herr Raabe, herzlichen Dank dafür!


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Sascha Raabe [SPD]: Dann stimmen Sie zu!)


Einige Punkte, Herr Raabe, sehen wir jedoch anders
– und unsere Sichtweise wird auch von der Wissenschaft
bestätigt –: Spekulation und Spekulanten für den Hunger
in der Welt verantwortlich zu machen, ist zwar eine ein-
fache und leicht vermittelbare Erklärung. Dies ist jedoch
eine völlig falsche Interpretation der Zusammenhänge.


(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Das stimmt nicht!)


Dies zeigt beispielsweise die Entwicklung des Weizen-
preises: Zwischen 2006 und 2007 hat sich Weizen auf
dem Weltmarkt um 78 Prozent verteuert. Die Hauptursa-
che dieser Preissteigerung ist der steigende Ölpreis, der
auf die energieintensive Landwirtschaft durchgeschla-
gen hat und gleichzeitig den Transport von Nahrungs-
mitteln verteuert. Gravierend kommt hinzu, dass es in
dieser Zeit Exportbeschränkungen in Ländern wie Russ-
land oder der Ukraine gab, die das Angebot auf dem
Weltmarkt zusätzlich verknappt haben.

Termingeschäfte hingegen – die von Ihnen als große
Übeltäter ausgemacht wurden – sichern Landwirte auf
der ganzen Welt gegen Preisschwankungen ab. Die
Preisbildung ergibt sich ganz automatisch durch Ange-
bot und Nachfrage.

Die Idee, dass Spekulanten tonnenweise Nahrungs-
mittel aufkaufen und diese zurückhalten, um sie zu ei-
nem späteren Zeitpunkt wieder profitabel verkaufen zu
können, kann einer logischen Betrachtung nicht stand-
halten: Die Lagerkosten und das Risiko einer verdorbe-
nen Ware wären viel zu hoch. Zudem befindet sich auf
dem Agrarsektor eine Vielzahl von Akteuren. Einzelne
haben gar keine Möglichkeit, den gesamten Markt zu be-
einflussen.

Es bleibt ein frommer Wunsch Ihres Antrages, dass
sich durch gute Worte und – ich will es einmal so nennen –
eine SPD-nahe Erziehung die Essgewohnheiten der
Weltbevölkerung zum Vegetarismus hin verändern.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es mag in der gutsituierten Bevölkerung in Deutschland
ein Trend sein, sich fleischlos zu ernähren; doch für den
größten Teil der Weltbevölkerung trifft dies nicht zu. Die
Nachfrage nach Fleisch wird mit dem weiteren Wachs-
tum der Weltbevölkerung und dem zunehmenden Wohl-
stand in den Schwellen- und Entwicklungsländern weiter
ansteigen.

Neben den vielen richtigen, auch von Ihnen genann-
ten Aspekten wie der gezielten Einbeziehung von
Frauen, der Stärkung der ländlichen Bevölkerung und ei-
ner fairen Verteilung von Land wird es vor allem darauf
ankommen, das Angebot an Nahrungsmitteln zu erhöhen
und gleichzeitig die Umwelt und die Biodiversität zu
schützen. Wir werden den weltweiten Hunger nur dann
bekämpfen können, wenn wir die Produktivität in der
Landwirtschaft, das heißt den Ertrag pro Fläche, weiter
steigern und weitere Anbauflächen erschließen.

Leider sind Sie dazu nicht bereit; anders ist Ihre neue
Landwirtschaftspolitik in Niedersachsen mit der durch
den sogenannten Bauernschreck-Minister großangekün-
digten Agrarwende nicht zu verstehen. Das erklärte Ziel,
Lebensmittel nur noch für das eigene Land zu produzie-
ren und nicht mehr für den Export, schadet sowohl den
Unternehmen als auch der Weltbevölkerung. Ich sage
ganz ehrlich: Ich finde so eine Einstellung extrem egois-
tisch.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Thilo Hoppe [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Da spricht die Agrarlobby!)


Europa muss vom Nettoimporteur wieder zum Netto-
exporteur werden. Wir müssen mit unserem technischen
Wissen und unseren Umweltstandards für die Weltbevöl-
kerung mitproduzieren und damit die Weltmarktpreise
senken. Gepaart mit Investitionen in der Forschung – so-
wohl bei uns als auch in den Entwicklungsländern – wird
das zu weniger Hunger in der Welt führen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1722226400

Letzter Redner zu diesem Debattenpunkt ist Thilo

Hoppe für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Jetzt muss Thilo aber etwas bringen; sonst geht das den Bach herunter!)



Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722226500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu-

erst die gute Nachricht in Richtung SPD: Wir stimmen
eurem Antrag zu.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Er ist erstaunlich gut. Wir hätten nicht gedacht, dass ihr
ihn durch die Gesamtfraktion bekommt. Entweder hat
die Agrarlobby bei euch geschlafen, oder es gibt wirk-
lich einen Bewusstseinswandel in der SPD – was wir
sehr begrüßen würden.





Thilo Hoppe


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Darauf deutet zum Beispiel der Punkt 31 hin, in dem
gefordert wird – ich zitiere –, „der zunehmenden Kon-
kurrenz von ‚Trog und Teller‘ entgegenzuwirken und die

(Intensivhend mit regionaler Futtermittelerzeugung bewerkstelligt werden kann“. (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Super!)


– Prima, super! Zum Glück eine deutliche Abkehr von
den Vorstellungen eines Udo Folgart, der noch 2009
Schattenagrarminister im Kabinett von Steinmeier war
und mit riesengroßen Schweinemastanlagen und Futter-
mittelimporten aus Entwicklungsländern keine Probleme
hatte.


(Dr. Sascha Raabe [SPD]: Jetzt habe ich das Sagen!)


– Jetzt hast du das Sagen, und wir hoffen, dass dieser
Kurswechsel Bestand haben wird.


(Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Das wollen wir doch verhindern!)


Am Anfang des Antrages stehen die Hungerzahlen,
die allerdings mit Vorsicht zu genießen sind. Wir alle ge-
brauchen jetzt immer die Zahl 870 Millionen Hun-
gernde. Vor einiger Zeit sprachen wir von 1 Milliarde.
Diese neue Zahl erweckt den Eindruck, als ob es wirk-
lich Rückschritte gäbe, über die wir uns freuen können.
Schön wär’s! Die Kriterien und Methoden der Zählung
haben sich geändert. Die Statistiken und die Zahl
870 Millionen, die die FAO verbreitet hat, beziehen sich
auf das Jahr 2011 – vor der großen Hungersnot am Horn
von Afrika und in der Sahelzone. Die Zahl 1 Milliarde
wird wahrscheinlich der Realität sehr viel näher kom-
men.

Dann gibt es noch den sogenannten versteckten Hun-
ger: weitere 1,5 Milliarden Menschen, die auf den ersten
Blick nicht wie abgemagerte Hungeropfer aussehen, die
jedoch nicht dauerhaft an wertvolle lebenswichtige Vita-
mine und Nährstoffe wie Zink, Eisen und Jod kommen
und daran schwer erkranken. Ich habe die Zahlen noch
einmal kontrolliert. Die Vereinten Nationen gehen davon
aus, dass jeden Tag auf dieser Welt rund 25 000 Men-
schen – darunter sehr viele Kinder – an den direkten und
indirekten Folgen der Unter- und Mangelernährung ster-
ben. 25 000 – etwa die Einwohner einer mittleren Klein-
stadt – jeden Tag!

Dies liegt keineswegs an der sogenannten Bevölke-
rungsexplosion; denn die landwirtschaftliche Produktion
ist schneller gestiegen als die Weltbevölkerung. Das
kann man daran ablesen, dass die Kalorienmenge, die
statistisch jedem Menschen zur Verfügung steht, in den
letzten 40 Jahren ebenfalls um 30 Prozent gestiegen ist.
Wie gesagt, dies sind statistische Angaben, die den Hun-
gernden nicht helfen. Sie machen aber deutlich, dass ge-
nug für alle da ist, dass der Hunger in der Welt noch kein
Mengenproblem ist, sondern ein Verteilungs- und Ge-
rechtigkeitsproblem.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Der Hunger in der Welt ist eine Folge von Politikversa-
gen – und so gesehen eine Anklage gegen uns alle.

Im Antrag werden fast alle Hungerursachen benannt:
vor allem die Vernachlässigung der Landwirtschaft und
der ländlichen Entwicklung – dort wäre vielleicht auch
ein wenig Selbstkritik angebracht gewesen, aber lassen
wir das –, der Klimawandel, die ausufernde Spekulation
mit Nahrungsmitteln – Frau Ratjen-Damerau, die Anhö-
rung bei uns im Ausschuss bzw. die Ausführungen von
Herrn Müller haben etwas völlig anderes ergeben als
das, was Sie jetzt vorgetragen haben –, Land Grabbing,
kriegerische Auseinandersetzungen und ungerechte
Welthandelsstrukturen. Etwas zu kurz kommt in dem
Antrag der SPD die Überfischung der Meere. Da könnte
man Bezug nehmen auf die wirklich gute Entschließung
des Europäischen Parlaments.

Wirklich vermisst haben wir in dem Antrag einen Be-
zug auf den Weltagrarreport, die Empfehlungen des
IAASTD-Berichts; denn dieser warnt eindrücklich vor
einem Verlust der Bodenfruchtbarkeit durch Überdün-
gung und einen zu starken Einsatz chemischer Gifte.

Industrielle Landwirtschaft mit Gentech und der che-
mischen Keule ist Teil des Problems und nicht Teil der
Lösung. Wir brauchen eine weltweite Agrarwende – hin
zu wirklich nachhaltigen Anbaumethoden. Das kommt
in dem SPD-Antrag etwas zu kurz. Wir hätten uns auch
eine klare Absage an die verfehlte Strategie im Rahmen
der Neuen Allianz für Ernährungssicherheit gewünscht,
die die Bundesregierung befürwortet; denn diese will mit
BASF, Coca-Cola und Monsanto im Rahmen dieser
neuen G-8-Initiative den Hunger bekämpfen. Das ist
eine unheilige Allianz, die nicht der Ernährungssouverä-
nität dient.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1722226600

Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.


Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722226700

Wir haben bereits einige Anträge zur Bekämpfung

von Land Grabbing und der Spekulation mit Nahrungs-
mitteln sowie einen Antrag zur ländlichen Entwicklung
vorgelegt. Trotzdem werden wir noch einen Antrag vor-
legen, der all diese Maßnahmen in einem Maßnahmen-
bündel zusammenfasst. Dann hoffen wir, dass die SPD
sich revanchiert und unserem Antrag zustimmt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1722226800

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/12379 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 13 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-
nologie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Ab-
geordneten Dr. Joachim Pfeiffer, Dr. Heinz
Riesenhuber, Nadine Schön (St. Wendel), weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Dr. Hermann Otto
Solms, Dr. Martin Lindner (Berlin), Claudia
Bögel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP

Innovationen stärken und Lust auf Technik
wecken

– Drucksachen 17/11859, 17/12099 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Werner Dreibus

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so.

Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin Birgit
Homburger für die FDP-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Birgit Homburger (FDP):
Rede ID: ID1722226900

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir

haben zu später Stunde noch die Gelegenheit, über das
Thema Forschung zu sprechen. Ich bin froh, dass wir
heute die Möglichkeit haben, den dazu vorliegenden An-
trag hier im Plenum abschließend zu beraten. Es wäre
uns lieber gewesen, wenn er heute zu einem früheren
Zeitpunkt beraten worden wäre. Der Ablauf des heutigen
Tages war aber so, wie er eben war. Insofern haben wir
jetzt die Gelegenheit, darüber zu sprechen.

Ich glaube, dass das Thema von zentraler Bedeutung
für die Zukunftsfähigkeit unseres Landes ist. Das wird
auch in diesem Antrag noch einmal deutlich herausge-
stellt. Einerseits bezieht sich das darauf, was wir geleis-
tet haben, und andererseits auf das, was es noch zu tun
gilt.

Zunächst einmal will ich deutlich machen, dass un-
sere Koalition in dieser Legislaturperiode nicht ohne
Grund 13 Milliarden Euro mehr in Bildung und For-
schung investiert hat. Im letzten Jahr hatten wir mit FuE-
Ausgaben in Höhe von 14 Milliarden Euro die höchsten
Ausgaben, die der Bund je getätigt hat. Wir haben damit,
glaube ich, eine gute Entwicklung eingeleitet.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Wenn wir in diesem Feld bestehen und vor allen Din-
gen noch besser werden wollen – und wir müssen besser
werden, wenn wir den Status quo erhalten wollen –,
müssen wir etwas tun. Die Koalition macht da auch eini-
ges. Wir haben beispielsweise die Hightech-Strategie
2020 auf den Weg gebracht, welche die Position
Deutschlands als Technologie- und Innovationsmotor in
Europa in den verschiedensten Aufgabenfeldern, bei-
spielsweise bei Klima und Energie, Gesundheit und Mo-

bilität oder aber auch im Bereich Kommunikation und
Sicherheit, stärken soll.

Ich bin froh, dass es daneben eine neue Innovations-
strategie des Bundesministers für Wirtschaft gibt, mit
der vor allem versucht werden soll, die Gründung von
Technologieunternehmen zu erleichtern. Wenn wir in
diesem Bereich noch besser werden wollen und quantita-
tiv noch mehr erreichen wollen, schaffen wir das vor al-
len Dingen dadurch, dass neue Unternehmen auf den
Markt kommen und neue Dinge in den Markt bringen.
Das ist von zentraler Bedeutung für die gesamte Strate-
gie.

Wir wollen deshalb gerade für die jungen Gründer
einen verbesserten Zugang zu Wagniskapital schaffen.
Beispielsweise durch den Investitionszuschuss für Busi-
ness Angels haben wir eine erhebliche Verbesserung in
diesem Bereich erreicht. Das ist auch gut so.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Darüber hinaus ist eine enge Zusammenarbeit zwi-
schen Universitäten, Forschungseinrichtungen und der
Praxis notwendig. Deshalb finde ich es gut, dass es die
EXIST-Initiative gibt, die universitätsweit Gründungs-
strategien entwickelt. Wir wollen im Grunde erreichen,
dass junge Menschen von vornherein ihre Forschungs-
erfolge auch in Markterfolge umsetzen. Das gilt sowohl
für Produktinnovationen, aber ganz besonders für Pro-
zessinnovationen, die in dem gesamten Diskussionspro-
zess oft ein wenig übersehen werden, aber einen wesent-
lichen Beitrag für die Weiterentwicklung leisten können.
Insofern ist auch die EXIST-Initiative ein wichtiger
Punkt, mit dem junge Leute an dieses Thema herange-
führt werden.

Ein weiterer Punkt – das ist, glaube ich, ein ganz zen-
trales Element der Förderung von Innovationen – ist das
ZIM, das Zentrale Innovationsprogramm Mittelstand.
Wir haben es ausgebaut bzw. die Mittel dafür aufge-
stockt. Das ist auch gut so. Es ist extrem praxisorientiert
und extrem erfolgreich, weil es sich an den Bedürfnissen
des Mittelstandes orientiert. Gerade der Mittelstand hat
sehr viele Weltmarktführer, sogenannte Hidden Cham-
pions. Das sind diejenigen, die uns auch im Bereich
Innovation stark machen. Wir wollen sie mithilfe ent-
sprechender Rahmenbedingungen stärken.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Schauen wir darüber hinaus, so gibt es einen weiteren
Komplex, der einer etwas intensiveren Betrachtung be-
darf. Das ist das Thema öffentliche Beschaffung. Wenn
man sich die Innovationsindikatoren anschaut, dann
sieht man an den erfolgreichen Ländern, dass sie deshalb
Erfolg haben, weil sie mit einem Instrumentenmix arbei-
ten, also mit sehr verschiedenen Instrumenten in der För-
derung von Forschung und Innovation. Dazu gehört
eben auch das Thema öffentliche Beschaffung.

Ich bin froh, dass der Bundeswirtschaftsminister ein
Kompetenzzentrum zur Förderung von Innovationen im
Beschaffungswesen eingerichtet hat. Hiermit wollen wir
erreichen, dass bei öffentlichen Beschaffungen innova-





Birgit Homburger


(A) (C)



(D)(B)


tive Produkte besser berücksichtigt werden. Damit wol-
len wir in diesem Bereich Starthilfe leisten.

Es gibt einen weiteren Themenkomplex, der mir per-
sönlich sehr am Herzen liegt: Das ist das Thema steuerli-
che Forschungsförderung. Ich glaube, dass im Instru-
mentenkasten der Forschungsförderung in Deutschland
genau dieses Instrument nach wie vor fehlt.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Jetzt können Sie sagen: Das hättet ihr ja machen können.
– In der Tat haben wir es noch nicht umsetzen können.


(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum denn nicht?)


– Aufgrund der finanziellen Situation. Dafür brauchen
wir Geld, Frau Kollegin. Im Gegensatz zu Ihnen haben
wir den Haushalt konsolidiert


(Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


und sind der Meinung: Man muss auf Haushaltsdaten
achten. Deswegen ist das eben nicht so gegangen, wie
wir uns das gewünscht hätten.


(René Röspel [SPD]: Ihre Witze zu später Stunde sind immer gut!)


Wäre die Euro-Krise nicht dazwischengekommen, wäre
in dieser Legislaturperiode manches sicherlich anders
gelaufen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Allerdings geben wir diese Idee nicht auf, sondern tun
nach wie vor alles dafür, sie noch umzusetzen. Vielleicht
finden wir in den nächsten Monaten noch Ansätze, um
im Haushalt Geld zusammenzukratzen, um dieses In-
strument vielleicht doch noch auf den Weg zu bringen.
Ich persönlich gebe es jedenfalls nicht auf.

Es gibt einen weiteren Punkt: Das ist das Thema
Fachkräfteinitiative. Das beginnt für mich mit der früh-
kindlichen Bildung. Ich sage das hier in aller Deutlich-
keit, weil ich glaube, dass wir schon sehr frühzeitig das
Interesse an Naturwissenschaft und Technik wecken
müssen, wenn wir für die Zukunft gewappnet sein wol-
len.

Abschließend, Herr Präsident, möchte ich deutlich
machen, dass die ganze Förderung im Forschungsbe-
reich nicht bei einer finanziellen Förderung stehen blei-
ben kann. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass es vor
allen Dingen einer gesellschaftlichen Diskussion bedarf.
Wenn ich mir die Lage in Deutschland anschaue und
sehe, dass wir hier in Deutschland immer stärker die Ri-
siken betonen und immer weniger die Chancen, dann
komme ich zu dem Ergebnis, dass wir ein Problem ha-
ben.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Wenn wir dieses Problem nicht überwinden, wenn wir
es nicht schaffen, dass wir der Forschung einen Freiraum
und entsprechende politische Rahmenbedingungen ge-
ben, dann werden wir für die Zukunft schlecht aufge-
stellt sein. Deshalb plädiere ich sehr dafür, dass wir uns

alle daran beteiligen, den Menschen in diesem Land
klarzumachen, wie wichtig dieses Feld ist, wie wichtig
beispielsweise Biotechnologie und andere Bereiche sind
und wie wichtig es ist, dass diese Forschung auch in
Deutschland stattfindet und nicht nur im Ausland.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1722227000

Das Wort hat nun Andrea Wicklein für die SPD-Frak-

tion.


(Beifall bei der SPD)



Andrea Wicklein (SPD):
Rede ID: ID1722227100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich

glaube, ich habe heute ein Déjà-vu-Erlebnis. Ich habe
vor exakt zwei Jahren hier an dieser Stelle gestanden und
über einen anderen Antrag der Regierungskoalition ge-
sprochen. Er hatte den Titel: „Gestärkt aus der Krise –
Der deutsche Mittelstand als Motor für Wachstum,
Wohlstand und Innovation“.

Schon damals haben Sie Ihre eigene Regierung zum
Handeln auffordern müssen.


(René Röspel [SPD]: Bis heute tut sie nichts! – Birgit Homburger [FDP]: Es hat etwas genutzt! – Nadine Schön [St. Wendel] [CDU/ CSU]: Es ist viel passiert!)


Schon damals ging es um die gleichen Themen wie
heute: Innovationsförderung, Gründungen, Finanzie-
rungsbedingungen. Zwei Jahre sind vergangen, und in
zentralen Themenfeldern hat sich nichts getan.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Um es gleich vorwegzusagen: In Ihrem Antrag „Inno-
vationen stärken und Lust auf Technik wecken“ steht
vieles Richtige.


(Birgit Homburger [FDP]: Immerhin!)


Das ist klar; darin sind wir uns einig. Sie fordern im We-
sentlichen das, was der Bundesbericht Forschung und
Innovation 2012 als Ergebnis zutage gefördert hat. Das
ist nicht falsch, aber es ist schon hinlänglich bekannt.

Auch wir von der SPD wissen, dass wir es in erster
Linie den innovativen mittelständischen Unternehmen
zu verdanken haben, dass wir die zurückliegenden Kri-
sen so gut bewältigen konnten. Auch meine Fraktion for-
dert schon seit Jahren eine steuerliche Forschungsförde-
rung; darauf sind Sie gerade eingegangen, Frau Homburger.


(Birgit Homburger [FDP]: Sie waren auch schon mal an der Regierung!)


Wir teilen Ihre Einschätzung beim Thema Wagniskapital
und Gründungen. Frau Homburger, Sie haben einiges
getan; aber das reicht nicht aus, wie Sie das in Ihrem ei-
genen Antrag selbst formuliert haben.





Andrea Wicklein


(A) (C)



(D)(B)


Das beste Beispiel ist die steuerliche Forschungsför-
derung. Ich darf aus Ihrem Antrag zitieren. Sie stellen –
wenig überraschend – fest:

Es müssen noch mehr Unternehmen an die For-
schung herangeführt und eine größere Breitenwir-
kung der Forschungsförderung erzielt werden. Da-
für sollten auch neue Wege beschritten werden,
zum Beispiel, indem die steuerliche Forschungsför-
derung als eine Art Forschungsbonus eingeführt
wird …

Das ist ein interessanter Vorschlag, aber die Realität
sieht anders aus. Ich habe erst gestern im Rahmen der
Fragestunde die enttäuschende Antwort des Parlamenta-

Hartmut Koschyk (CSU):
Rede ID: ID1722227200


Im Bundeshaushalt 2013 und im geltenden Finanz-
plan ist eine steuerliche Förderung von Forschung
und Entwicklung nicht berücksichtigt.


(Birgit Homburger [FDP]: Dafür hätte man keine Frage gebraucht!)


Wir haben es schwarz auf weiß: Mit dieser Bundesre-
gierung wird es keine steuerliche Forschungsförderung
mehr geben. Frau Homburger, es liegt nicht am Geld. Es
liegt an der falschen Prioritätensetzung Ihrer Politik. Für
andere Ausgaben war Geld da. Ich denke an das Betreu-
ungsgeld oder an die Mövenpick-Steuer.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Jörn Wunderlich [DIE LINKE] – Zuruf von der CDU/CSU: Das musste ja jetzt kommen!)


– Das kann man nicht oft genug sagen. – Das ist eine
Vergeudung von wertvollen Mitteln, die man im Bereich
der Forschung sinnvoller hätte einsetzen können.

Nächstes Beispiel: die Unternehmensgründungen.
Auch dazu stellen Sie zutreffend fest, dass die Anzahl
der Gründungen rückläufig ist. Das stimmt. Doch was
hat die Bundesregierung bisher getan? Sie hat faktisch
den Gründungszuschuss abgeschafft. Sie stellen zu
Recht fest, dass die Defizite bei Gründungen im Spitzen-
technologiebereich besonders dramatisch sind, weil die
Finanzierungsquellen nicht ausreichen. Das steht alles in
Ihrem eigenen Antrag, auch wenn Sie es jetzt nicht hö-
ren wollen. – Auch das ist also richtig. Aber warum ist
bis jetzt so wenig geschehen, um den Wagniskapital-
markt zu stärken? Warum hinken wir immer noch ande-
ren Ländern hinterher?

Sie hätten ausreichend Zeit gehabt, die Bedingungen
wirksam zu verbessern. So bleiben große Potenziale un-
genutzt, weil es an Finanzierungsinstrumenten fehlt.


(Beifall des Abg. René Röspel [SPD])


Ein drittes Beispiel: Auch beim Technologietransfer
fehlt der Bundesregierung der Mut, alte Pfade zu verlas-
sen. Die allseits beklagte Förderlücke beim Transfer von
neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen in wirtschaft-
lich verwertbare Produkte und Dienstleistungen könnte
durch eine moderne Validierungsforschung überbrückt
werden. Die SPD-Bundestagsfraktion schlägt dazu die
Einrichtung eines Deutschen Innovationsfonds in Stif-
tungsform vor. Dieser hätte die Aufgabe, die Forscherin-

nen und Forscher im Rahmen von Validierungsprojekten
finanziell, inhaltlich und organisatorisch zu unterstützen.

Wir sind uns mit den Experten einig, dass ein Innova-
tionsfonds ein geeignetes Instrument wäre, um die Lü-
cken zu schließen, die derzeit durch die klassischen För-
derinstrumente oder am Kapitalmarkt nicht geschlossen
werden können.


(Beifall bei der SPD)


Das wäre innovativ. Das würde helfen. Aber auch hier
bleibt die schwarz-gelbe Bundesregierung tatenlos.

Innovation heißt wörtlich Neuerung oder auch Erneu-
erung. Davon ist in Ihrem Antrag leider nicht sehr viel
zu finden.

Meine Damen und Herren der Koalition, die SPD-
Fraktion teilt viele Ihrer Forderungen an die schwarz-
gelbe Regierung. Aber mir fehlt der Glaube, dass Ihre
Forderungen bis zum Ende dieser Legislaturperiode
noch umgesetzt werden.

Ganz herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1722227300

Das Wort hat nun Heinz Riesenhuber für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Heinz Riesenhuber (CDU):
Rede ID: ID1722227400

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Frau Wicklein, es ist immer ein Vergnü-
gen, mit Ihnen zu plaudern. Sie bringen hier schon
Punkte, die wir austragen. Sie sagen, wir hätten die fal-
schen Prioritäten beim Geld gesetzt. Jetzt reden wir erst
einmal über Geld.

Herr Schröder, der vor längerer Zeit einmal regiert
hat, hat 1998 gesagt, in fünf Jahren wolle er die Ausga-
ben der Bundesregierung für Forschung verdoppeln.


(René Röspel [SPD]: Investitionen in Bildung und Forschung!)


– Entschuldigung, das wurde hinterher nachgereicht,
nachdem die Wahl vorbei war. Ich habe es sehr bewun-
dert, wie genau es auf seiner Karte stand.

In der Zeit, als er regiert hat, hat er die Ausgaben
nicht verdoppelt, sondern er hat sie in sieben Jahren um
11 Prozent erhöht. Auch dies trage ich immer in meinem
Herzen.


(René Röspel [SPD]: Investitionen!)


Er hat die Ausgaben in sieben Jahren um 11 Prozent er-
höht.

Wir haben sie seit 2005, in acht Jahren, um über
50 Prozent erhöht. Und dies geht weiter. Ich räume Ih-
nen freimütig ein: Geld allein macht nicht glücklich. Es
gehört auch Intelligenz dazu.


(Heiterkeit)






Dr. Heinz Riesenhuber


(A) (C)



(D)(B)


Frau Homburger hat hier dargestellt, wo wir gefördert
haben. Es war richtig, den Forschungsinstituten einen
stetigen und hohen Zuwachs von 5 Prozent pro Jahr zu
garantieren. Es war richtig, die Hightech-Strategie auf-
zubauen und von den Zielen und Problemen her die
große Fülle an Techniken, die wir haben, sinnvoll und
prioritär zu ordnen. Es war sinnvoll, dem Mittelstand
mehr zu geben als je zuvor. Heute haben wir beim Mit-
telstand Forschungsaufwendungen in Höhe von 8,3 Mil-
liarden Euro im Jahr – so viel gab es nie –, und bei der
Wirtschaft insgesamt sind es über 50 Milliarden Euro.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir haben in einem Tempo, in einer Stetigkeit, in ei-
ner geschlossenen Strategie, mit einer strategischen Ver-
nunft, mit einer intellektuellen Überzeugungskraft, mit
einer strahlenden und tatendurstigen Regierung


(Lachen des Abg. Dr. Tobias Lindner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


die Sache in einer solchen Zügigkeit vorangebracht, dass
sich die Wirklichkeit in Deutschland geändert hat und
dass unsere Unternehmen auf den Weltmärkten Spitzen-
ergebnisse erwirtschaften.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Das muss alles einmal gesagt werden! – Birgit Homburger [FDP]: Genau!)


Das heißt, wir haben hier in der Tat die Prioritäten rich-
tig gesetzt. Wir haben das Geld hergebracht, wir haben
die Prioritäten gesetzt, und wir haben hier offensichtlich
den Unternehmungsgeist der Menschen angeregt.


(Willi Brase [SPD]: Nein!)


Nun sagen Sie, es sei nicht alles gelungen. Weil wir
das auch wissen, haben wir beschlossen, weiter zu regie-
ren, und wir alle werden dazu beitragen, dass das so sein
wird.


(Lachen bei der SPD)


Wir haben die steuerliche Forschungsförderung noch
vor uns.


(Beifall der Abg. Birgit Homburger [FDP])


Wir haben bei den Steuern überhaupt noch eine Menge
– zum Beispiel bei den Rahmenbedingungen für Wag-
niskapital – zu tun. Wir haben bis jetzt eine Quote von
2,9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erreicht, die wir
für die Forschung ausgeben. Das Lissabon-Ziel betrug
3 Prozent. In dieser Zeit seit 2000 ist kaum ein Land
weiter gekommen. Die Deutschen haben es gezogen.
Dabei wissen wir, dass dies nicht das Ende ist. Wenn Eu-
ropa im Schnitt 3 Prozent für Forschung ausgeben soll,
dann muss es in Deutschland sehr viel mehr sein. Des-
halb wollen wir weiterarbeiten, damit dies zügig mehr
wird, damit dieser Trend bleibt und wir nicht wieder bei
11 Prozent in sieben Jahren landen. Dies wäre verhäng-
nisvoll. Insofern können wir nur hoffen, dass wir das
auch in den nächsten Jahren hier gestalten.

Nun zu dem schönen Titel unseres Antrages. Einer
aus der Opposition hat im Ausschuss gelobt, wie schön
der Titel „Lust auf Technik“ sei.


(Dr. Tobias Lindner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war ich!)


– Das waren Sie? Herr Lindner, Sie? – Ich habe schon
immer Ihre Intelligenz bewundert.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Das, was wir hier haben, ist die Erkenntnis des heiligen
Origines: Nichts geschieht, es sei denn aus der Lust.


(Heiterkeit der Abg. Birgit Homburger [FDP])


Wenn wir keine Lust haben, passiert nichts. Dazu gibt es
jetzt mögliche Ansätze auf verschiedenen Ebenen. Frau
Homburger sprach von dem „Haus der kleinen Forscher“
für Kinder im Vorschulalter, von den Schülerlaboren,
von den Partnerschaften zwischen Schule und Wirt-
schaft, also von den Unternehmen, die in die Schulen ge-
hen, von der Initiative von BDI und BDA „MINT Zu-
kunft schaffen“.


(Willi Brase [SPD]: Und von der Bundesregierung?)


Viele arbeiten daran: die Regierung, die Wirtschaft, die
Unternehmen. Dies ist die eine Hälfte.

Dass wir da noch viel erreichen müssen, dass wir
mehr Frauen in die technischen Berufe kriegen müssen,
dass wir gern mehr Ingenieurinnen haben möchten, dass
sich dann auch die Einkommensschere zwischen Män-
nern und Frauen schließen wird, wenn Frauen verstärkt
in diese Berufe hineingehen, das ist alles Teil einer ge-
glückten Gesamtstrategie.

Dabei wissen wir, wenn die Leute keine Freude daran
haben, dann gelingt es eben nicht. Das Grundgesetz sagt
uns: Die Parteien wirken an der Willensbildung des Vol-
kes mit. – Was heißt das? Das heißt, das, was wir sagen,
hat Auswirkungen auf das Denken der Menschen. Wir
predigen keinen technokratischen Hurra-Patriotismus. Es
gibt kein anderes Land, das eine so sorgfältige Risikofor-
schung und Umweltforschung betreibt wie Deutschland –
über alle Regierungen hinweg bis in die 80er-Jahre zu-
rück. Ich erinnere mich schon noch ein bisschen daran.
Damals hatten wir einen prima Forschungsminister.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – René Röspel [SPD]: Volker Hauff!)


– Ein ausgezeichnetes Beispiel, ich höre es mit Bewun-
derung.


(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Das war ein sehr guter Mann!)


Damals ist die Zuversicht entstanden, dass wir, weil
wir die Risiken beherrschen, Neues wagen können. Nie-
mand von uns sollte so reden, als sei er grundsätzlich ge-
gen das Neue. Dann entsteht der falsche Geist im Land.
Niemand soll so reden, als sei er grundsätzlich gegen
Grüne Gentechnik, gegen CCS oder gegen Fracking.
Wir müssen sagen, wo die Probleme neuer Techniken





Dr. Heinz Riesenhuber


(A) (C)



(D)(B)


bestehen und wie wir sie lösen wollen. Wenn wir die Ri-
siken beherrschen, müssen wir alles tun, das Neue
durchzusetzen und damit Zukunft zu schaffen. Wir soll-
ten diejenigen, die Unternehmensgeist und Tatkraft zei-
gen, ermutigen und nicht entmutigen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1722227500

Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.


Dr. Heinz Riesenhuber (CDU):
Rede ID: ID1722227600

Herr Präsident, das tue ich nicht gerne, aber ich tue es.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1722227700

Immerhin.


Dr. Heinz Riesenhuber (CDU):
Rede ID: ID1722227800

Wenn wir alle in diesem Geist gemeinsam arbeiten,

dann haben einige von uns, Herr Lindner, mit ihrer
Klientel vielleicht mehr Schwierigkeiten als andere.


(Dr. Tobias Lindner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein!)


Aber wir alle sollten gemeinsam das Neue wollen. Wir
sollten mit Lust auf Technik dem Land den Geist brin-
gen, der uns stark macht, sodass wir nicht nur uns selber,
sondern auch anderen in schwierigen Zeiten helfen kön-
nen, auf dass wir auf den offenen Weltmärkten bestehen
und das Neue mit Freude gestalten. Wir sollten mit
Freude an der Arbeit im Land einen Geist schaffen, der
Deutschlands Zukunft sichert.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1722227900

Das Wort hat nun Petra Sitte für die Fraktion Die

Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Petra Sitte (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1722228000

Ich habe es jetzt natürlich nicht einfach. Es ist immer

schwierig, nach Herrn Riesenhuber zu reden. Aber ich
mache einen ganz scharfen Cut und werde auf die Erde
zurückfinden.


(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Sie brauchen nur zu sagen: Ich schließe mich den Worten meines Vorredners an!)


Man muss klar sagen: Eigentlich ist der vorliegende
Antrag in gewissem Maße ein politisches Armutszeugnis
für die Selbstständigkeit der Koalitionsfraktionen.


(Beifall bei der LINKEN)


Was haben Sie gemacht? Sie legen hier ein PR-Papier,
eine Hochglanzsammlung, die das Wirtschaftsministe-
rium vor gut sechs Monaten veröffentlicht hat, auf den
Tisch und lassen es in Form eines Antrags noch einmal
durch das Parlament ventilieren. Der Text des Antrags
geht zum Teil wörtlich auf dieses Papier zurück; dazu
will ich mich nicht näher äußern. Dahinter steht die so-

genannte Innovationsoffensive von Minister Rösler.
Wenn man genau hinschaut, stellt man fest, dass diese
Initiative weder innovativ noch offensiv ist. Sowohl der
Antrag als auch das Hochglanzpapierchen enthalten
viele Maßnahmen, die längst laufen und überhaupt nicht
neu sind.


(René Röspel [SPD]: So ist es!)


Nur sehr wenige Punkte sind tatsächlich neu. Angesichts
dessen sollten Sie hier nicht so tönen. Wie wollen Sie
Lust auf Innovation und Politik wecken, wenn Sie hier
nur Aufgewärmtes vorlegen?

Schauen wir uns einmal an, was da im Eintopf
schwimmt. An Schulen wird für technische Berufe ge-
worben. Großartig, als hätten wir nicht gerade Re-
kordquoten an Studierenden und Auszubildenden! Den
jungen Menschen wäre weit mehr geholfen, wenn die
anstehenden Kürzungsrunden der Länder im Hochschul-
bereich verhindert werden könnten.


(Beifall bei der LINKEN)


Sie sollten das dringend benötigte Geld in die Hand neh-
men, um den Hochschulpakt über das Jahr 2014 hinaus
zu finanzieren. Wir stellen fest, dass die dafür geplante
Summe nicht ausreicht. Wenn Sie nicht nachlegen, wird
eine ganze Generation Studierwilliger vor verschlosse-
nen Türen stehen.

Die Koalition bedient in ihrem Antrag zugleich das
müde Klischee einer technologiefeindlichen Gesell-
schaft, die irrationalen Befindlichkeiten folgt. Erstens
stelle ich das ohnehin infrage. Zweitens sind Ihre Bei-
spiele nicht geeignet, das zu belegen. Ich bin hingegen
froh, dass über die Folgen von Fracking, also die Gasge-
winnung mittels Einpressung chemischer Substanzen in
Gesteinsschichten, die Folgen unsicherer unterirdischer
Kohlendioxidspeicherung, über Nanostoffe im Körper,
über Grüne Gentechnik und ihre Folgen für die Umwelt,
aber auch über die Folgen digitaler Technologien öffent-
lich – Pro und Contra – diskutiert wird. Hätte man sich
vor 50 Jahren nicht einfach der Atomkrafteuphorie erge-
ben, wäre uns so manches Problem heute erspart geblie-
ben.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es ist nun einmal zutiefst demokratisch, dass mündige,
gut informierte Menschen mitentscheiden wollen, und
zwar natürlich auch darüber, welche Risikotechnologien
aus ihrer Sicht vertretbar sind. Es gibt Probleme, die
nicht beherrschbar sind; bei aller Hochachtung, Herr
Riesenhuber, das können Sie nicht garantieren.

Was wollen Sie dann weiter in dem Antrag? Sie unter-
stützen das Europäische Patent, und Sie setzen sich für
internationale Normen und Standards ein. Sie wollen
– was für eine Überraschung – die eigene Breitbandstra-
tegie und den High-Tech-Gründerfonds II fortführen.
Das alles, meine Damen und Herren, läuft längst. Wir
brauchen nicht den Bundestag als Durchlauferhitzer für
Ihre Anträge.


(Beifall bei der LINKEN)






Dr. Petra Sitte


(A) (C)



(D)(B)


Dann wird auch noch das „grüßende Murmeltier“ aus
dem Winterschlaf geholt: Die sogenannte steuerliche
Forschungs- und Entwicklungsförderung bekommen
Ihre liberalen Freunde für den Wahlkampf dann noch
einmal präsentiert. Damit dürfen diese ihre Klientel wie-
der anfüttern. Sie fordern diese Förderung, seit ich hier
im Bundestag sitze. Aber der Umsetzung sind Sie genau
genommen nicht einen einzigen Cent näher gekommen.
Warum? Weil der ganze Laden natürlich Milliarden kos-
tet. Da muss man erklären, woher man das Geld nimmt.

Die Gefahr, die ich aufgrund der Diskussionen der
vergangenen Jahre sehe, besteht darin, dass bei anderen
Programmen des Bundeswirtschaftsministeriums, die
sich bewährt haben, beispielsweise dem Zentralen Inno-
vationsprogramm Mittelstand, dann wieder gekürzt
wird. Die Mittelständler haben sich eindeutig für das
ZIM entschieden. Das ist ein erfolgreiches Programm
und wird gut abgerufen. Solche Dinge sollte man nun
wahrlich nicht infrage stellen.

Kurzum: Innovationen werden in diesem Lande zu-
hauf entwickelt. Weder die Hochglanzbroschüre noch
dieser Antrag sowie das, was danach vonseiten der Ko-
alition und der Bundesregierung kommt, gehört jedoch
dazu.

Danke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1722228100

Das Wort hat nun Tobias Lindner für die Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! In den letzten
Tagen wurde wieder viel und durchaus heiß und leiden-
schaftlich über die Energiewende in Deutschland disku-
tiert. Es wurden landauf, landab mehr oder weniger se-
riös Kosten geschätzt und anschließend vor allem die
Diskussion geführt, wer es denn bezahlen soll.

Eines ist klar – vielleicht sind wir uns an diesem
Punkt einig –: Der Umstieg auf erneuerbare Energien ist
die größte Herausforderung im Bereich der Infrastruk-
tur- und der Wirtschaftspolitik, die wir seit der Wieder-
vereinigung in Deutschland vor uns haben. Diese Ener-
giewende bietet aber auch immense Chancen für unseren
Wirtschaftsstandort und gerade für Innovationen durch
deutsche Unternehmen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Macht man sich dann aber einmal die Mühe und sucht
in Ihrem Antrag das Wort „Energie“, findet man es an
genau zwei Stellen, nämlich in einer Aufzählung zusam-
men mit den Herausforderungen wie Kommunikation,
Sicherheitsforschung und anderen Dingen. Sucht man
nach der Vokabel „Energiewende“, wird man überhaupt

nicht fündig, ganz zu schweigen beispielsweise von dem
Thema E-Mobilität.


(Andrea Wicklein [SPD]: Richtig! Nichts gefunden!)


Angesichts dessen frage ich mich, ob diese Koalition
wirklich die Zeichen der Zeit erkannt und hiermit einen
Antrag für eine zukunftsweisende Innovationspolitik
vorgelegt hat. Auf diese Frage sage ich ganz klar Nein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Vielmehr wirkt dieser Antrag auf mich als Antrag von
zwei Fraktionen, die mehr oder weniger mit der Bundes-
regierung zu tun haben. Was Sie uns hier präsentieren,
ist der Abgleich Ihres Koalitionsvertrages mit dem Re-
gierungshandeln der letzten vier Jahre. Das, was Sie auf-
geschrieben haben, ist eine Mängelliste mit unerfüllten
Vorhaben. Ich frage mich, ehrlich gesagt, wie Sie diese
in den letzten sechs Monaten Ihrer Regierungszeit noch
angehen wollen. Ich habe daran große Zweifel.

Ich möchte Ihnen ein Beispiel nennen, das hier bereits
angesprochen wurde, die steuerliche Forschungsförde-
rung, ein Thema, das vermutlich älter ist als ich vom
Jahrgang 1982,


(René Röspel [SPD]: Nein, das stimmt nicht!)


ein Thema, bei dem Sie durchaus unsere Unterstützung
hätten. Auch wir Grüne sind der Auffassung, dass wir ne-
ben der Projektförderung, die durchaus vielfach geschätzt
wird, als weitere Säule eine steuerliche Forschungsförde-
rung benötigen, vor allem, weil sie unbürokratisch ist.
Von einer Koalition, der eine Fraktion angehört, die im-
mer den Bürokratieabbau auf ihre Fahnen schreibt, hätte
ich durchaus erwartet, dass da in den letzten vier Jahren
mehr passiert wäre.

Lassen Sie mich noch eines sagen: Wenn dann das
Argument kommt, wir müssten den Haushalt konsolidie-
ren und schauen, dass Mittel vorhanden sind, dann
würde ich Ihnen entgegnen, dass Haushaltspolitik auch
heißt, sich zu entscheiden. Wenn ich auf der einen Seite
eine Mövenpick-Steuererleichterung einführe und eine
Herdprämie verteilen will, auf der anderen Seite aber
kein Geld für steuerliche Forschungsförderung habe,
meine sehr geehrten Damen und Herren, dann ist dies
natürlich eine Entscheidung gegen Innovationspolitik.
Dies muss man auch einmal so deutlich sagen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie der Abg. Dr. Petra Sitte [DIE LINKE] – René Röspel [SPD]: Klientelpolitik!)


Ich will einen letzten Punkt ansprechen und dabei Ih-
ren Antrag dem Publikum ein bisschen vorstellen. Sie
treffen ganz viele wünschenswerte Feststellungen, bei-
spielsweise, dass Naturwissenschaft und Technik auch in
der frühkindlichen Bildung mehr Beachtung finden
müssten. Frühkindlich ist für mich die Zeit zwischen der
Geburt und dem dritten Lebensjahr. Mit dieser Forde-
rung würden Sie von uns zwar keinen Widerspruch ern-
ten; aber ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Antworten





Dr. Tobias Lindner


(A) (C)



(D)(B)


bleiben Sie schuldig, und ich denke da eher an Familie
Hoppenstedt, in der das Kind zum Weihnachtsfest einen
Atomkraftwerksbausatz bekommt.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich persönlich habe Lust auf Technik. Uns macht die-
ser Antrag aber wenig Lust auf Ihre Innovationspolitik,
sondern vielmehr Lust auf eine neue Bundesregierung,
die wirklich mit Innovationen umgehen kann.

Ich danke Ihnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1722228200

Das Wort hat nun Nadine Schön für die CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Nadine Schön (St. Wendel) (CDU/CSU):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Lieber Kollege Lindner, ich hätte einmal Lust
auf einen Antrag von Ihnen zu diesem Thema. Das wäre
etwas ganz Neues, und dann würden wir auch einmal se-
hen, was Sie sich in puncto Innovationspolitik in unse-
rem Land so vorstellen. Sie haben in dieser Legislaturpe-
riode noch ein paar Monate Zeit. Vielleicht zeigen Sie
uns dann auch einmal Ihre Vorschläge.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Tobias Lindner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bekommen Sie!)


Wir wollen Innovationen stärken, wir wollen Lust auf
Technik wecken. Das ist die Überschrift des Antrages,
den wir heute vorlegen, und sie bringt genau auf den
Punkt, worum es geht: Wir wollen Innovationen stärken,
wir wollen, dass in unserem Land neue Ideen entstehen,
aus denen neue Produkte werden, mit denen wir Welt-
marktführer werden und die in Deutschland Arbeits-
plätze schaffen und dazu beitragen, dass es uns in Zu-
kunft noch so gut gehen wird, wie es uns heute geht.


(Beifall bei der CDU/CSU – Iris Gleicke [SPD]: Das wollen wir auch! – René Röspel [SPD]: Und schönes Wetter!)


„Made in Germany“ ist unser Erfolgslogo, unsere
Marke in der Welt. Man muss sich nur einmal vorstellen,
dass jeder fünfte Neuwagen weltweit ein deutsches Logo
trägt, in fast jedem Maschinenpark stehen deutsche Ma-
schinen, überall finden Sie deutsche Produkte, und vor
allen Dingen sind Tausende deutscher Mittelständler mit
ihren Produkten Weltmarktführer in ihrer Nische. Das
fängt bei Rollen für Krankenhausbetten an und reicht bis
hin zu Pistenbullies. Es gibt ganz viele kleine Nischen,
in denen unsere KMU Weltmarktführer sind. Zusammen
mit China sind wir Exportweltmeister, wir sind erfolg-
reich mit unseren innovativen Ideen und Produkten. Dies
macht die Stärke unseres Landes aus.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir wissen so gut wie Sie, dass Erfolg keine Selbst-
verständlichkeit ist, sondern nur dann entsteht, wenn die
richtigen Rahmenbedingungen gesetzt wurden. Wir ha-
ben die richtigen Rahmenbedingungen gesetzt. Wir in-
vestieren heute so viel wie noch nie in der Geschichte
unseres Landes in Forschung und Entwicklung. Allein in
dieser Legislaturperiode sind es 13,6 Milliarden Euro
zusätzlich, mehr als doppelt so viel wie 2005. Wir haben
die Hightech-Strategie, wir unterstützen Gründer, wir
unterstützen wachsende Unternehmer mit den High-
Tech-Gründerfonds, den ERP-Fonds und jetzt ganz neu
auch mit den Investitionszuschüssen für Business An-
gels. – So viel zum Thema, wir hätten nichts gemacht, in
den letzten zwei Jahren sei nichts Neues dazugekom-
men. Dies ist dazugekommen, genauso wie die Aufsto-
ckung beim Mittelstandsinnovationsprogramm ZIM, für
das wir mittlerweile 500 Millionen Euro ausgeben.

Daher hätte ich von Ihnen auch erwartet, dass Sie
dann, wenn es hier im Bundestag um innovative Themen
geht, etwa beim Thema Streubesitzdividende, auch ein-
mal mutig mit uns gehen und sich nicht enthalten. Ent-
haltung stelle ich mir nicht unter einer Unterstützung in-
novativer Unternehmen vor; da hätte ich Sie gern auch
stärker an unserer Seite und an der Seite der jungen und
innovativen Unternehmen in unserem Land gewusst. Da
hätten Sie es wirklich beweisen können, statt immer nur
zu sagen, dass Sie Unternehmen unterstützen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wichtig ist uns aber auch, dass wir Lust auf Technik
wecken; denn wir dürfen nicht vergessen, dass Innova-
tionen durch Menschen und nur in einem Klima entste-
hen, das auch Innovationen zulässt. Genau dies ist unser
Anliegen. Wir brauchen die Menschen, die Innovationen
schaffen, wir brauchen Fachkräfte.

Allein im vergangenen Jahr haben über 100 000 Men-
schen in den MINT-Berufen gefehlt. Der Mangel ist
nicht überall gleich, sondern nach Branchen und Regio-
nen unterschiedlich. Doch der Fachkräftemangel wird
größer – das wissen wir –, wenn es uns nicht gelingt,
junge Menschen für die MINT-Berufe zu begeistern: be-
geistern, indem wir Neugierde wecken, indem wir junge
Menschen ermutigen, den Schritt in die MINT-Berufe
und vielleicht auch den Schritt in die Selbstständigkeit
zu gehen; denn nur durch Neugierde und Mut geht es.

Das ist mir noch einmal bewusst geworden, als ich
vergangene Woche meine Facebook-Community – fast
5 000 Menschen – gefragt habe: Was hat diejenigen von
euch, die in einem MINT-Beruf arbeiten, zu diesem
MINT-Beruf gebracht? Was fasziniert euch? Was treibt
euch an? In den Antworten ist dann die Rede von Neu-
gierde, herauszufinden, warum Dinge so sind, wie sie
sind. Es ist die Rede von dem Wunsch, einen kleinen
Beitrag zu etwas Großem und Wichtigem zu leisten, es
ist die Rede von der Freude, eigene Ideen einzubringen,
vom Spaß, ein Rätsel zu lösen, neue Dinge zu versuchen,
neue Wege zu gehen und Spuren auf dieser Welt zu hin-
terlassen. Man kann darüber spöttisch grinsen, Frau
Sitte.





Nadine Schön (St. Wendel)



(A) (C)



(D)(B)



(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Ich habe nicht über Sie gegrinst! Ich habe gar nicht zugehört!)


Ich finde, das sind junge Unternehmen, die unser Land
voranbringen. Es sind Menschen, die die Neugierde mit-
bringen, die wir brauchen und die wir fördern müssen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Ich bin auch neugierig! Jetzt höre ich auch zu!)


– Ich nehme zur Kenntnis, dass Sie nicht über die Leute
gelacht haben, die mit Neugierde und Spaß bei der Sache
sind. Das freut mich sehr. Ich glaube, da sind wir wieder
auf einer Linie.

Wir brauchen vor allem Programme und Projekte, die
diese Neugierde fördern und unterstützen. Von meinem
Kollegen Professor Riesenhuber ist das „Haus der klei-
nen Forscher“ genannt worden. Wir brauchen aber auch
Lehrer und Erzieher, die diese Lust an Technik vermit-
teln. Ich bin der Meinung, dass heute zu jedem Lehr-
amtsstudium, egal ob Mathe, Biologie oder Deutsch, das
Thema IT gehört. IT-Methodenkompetenz und Medien-
kompetenz sind die Schlüsselkompetenzen der Zukunft.
Die müssen genauso selbstverständlich vermittelt wer-
den wie Schreiben, Lesen und Rechnen.

Es muss Projekte geben, die MINT-Berufe auch für
Mädchen reizvoll machen. Gerade Mädchen fehlen in
den technischen Bereichen. So gibt es beispielsweise
Projekte wie den Girls’ Day. Im vergangenen Jahr haben
über 115 000 am Girls’ Day teilgenommen. Viele sind in
einem der Bereiche hängengeblieben. Das ist eine wirk-
lich gute Sache.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – René Röspel [SPD]: Wir sind gegen Sitzenbleiben!)


Wir brauchen eine gesellschaftliche Offenheit und ein
Verständnis für diese Themen. Ganz interessant sind
Analysen, die zeigen, dass etwa in den Medien der USA
viel mehr Technikkompetenz vermittelt wird. Es gibt
eine Studie, die sagt, dass etwa die Simpsons eine
Menge über Physik, Biologie und Roboter vermitteln.
Das kann man teilen oder nicht. Wer die Simpsons
kennt, weiß das besser. Uns in Deutschland kann das ein
Vorbild sein. Auch wir brauchen mehr Technik und Na-
turwissenschaften in unseren Serien, vor allem auch in
den Sendungen, die es gibt, wie Quarks & Co, nano,
Galileo oder auch die Verleihung des Deutschen Innova-
tionspreises. Das alles sind Sendungen, die Lust auf
Technik machen. Von diesen brauchen wir viel mehr in
unserem Land. Auch hier haben die Medien eine beson-
dere Verantwortung.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1722228300

Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.

Nadine Schön (St. Wendel) (CDU/CSU):
Ich komme zum Schluss. – Daran sieht man, liebe

Kolleginnen und Kollegen – das soll mein letzter Satz
sein –, dass wir, wenn wir unsere Kräfte bündeln, wenn

wir die Weichen richtig stellen – das haben wir in dieser
Legislaturperiode gemacht und wollen es weiter tun –,
Menschen dazu bewegen können, in die MINT-Berufe
zu gehen, dass sie zu Fachkräften, Erfindern und Grün-
dern werden. Das trägt dazu bei, dass wir auch zukünftig
noch Exportweltmeister sein werden und dass die Pro-
dukte Made in Germany hier Arbeitsplätze schaffen und
unsere Zukunft sichern. Dafür wollen wir arbeiten. Da-
rauf können wir stolz sein.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1722228400

Das Wort hat nun René Röspel für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



René Röspel (SPD):
Rede ID: ID1722228500

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Vorab, Herr Riesenhuber, das hätte ich mir nicht
vorstellen können: Zitierfehler und fehlende Quellenan-
gaben. Ich trage Gerhard Schröder immer an meinem
Herzen, und auf der Karte, die Sie zitiert haben, steht –
ich zitiere –:

Deutschland als Ideenfabrik durch Verdoppelung
der Investitionen in Bildung, Forschung und Wis-
senschaft in 5 Jahren.

Investitionen sind etwas anderes als Ausgaben und
Haushalt. Das ist viel größer.


(Beifall bei der SPD)


Wir haben es in diesen fünf Jahren nicht ganz geschafft,
dieses Versprechen einzulösen. Aber nach der Muff-Ära
von Kohl war es eine wirkliche Wohltat und ein
Aufbruch zu mehr Bildung und mehr Wissenschaft in
diesem Land.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das Zweite: fehlende Quellenangaben. Wenn Sie
diese wirklich erfolgreichen Maßnahmen „Pakt für
Forschung und Innovation“ und „Exzellenzinitiative“
angeben – das ist ein Erfolg, auf den wir alle stolz sein
können –, so muss ich sagen, dass das eine Idee der SPD
war.


(Birgit Homburger [FDP]: Das war eine Rede und keine Doktorarbeit!)


Wir haben sie durchgesetzt, und Sie führen das weiter.
Das ist gut; das loben wir an jeder Stelle.

Kommen wir zum Thema. Wenn Sie, Herr Kollege
Riesenhuber, sich bei Ihrer Rede am Pult nicht transver-
sal zu Ihrer Rederichtung bewegt hätten, dann wäre viel-
leicht deutlicher geworden, welcher Eiertanz eigentlich
heute von den Koalitionsfraktionen aufgeführt wird.
Denn in diesem Antrag steht eigentlich nichts wesentli-
ches Neues, außer dass Sie die Bundesregierung auffor-
dern, das eine oder andere Projekt fortzuführen oder aus-
zubauen bzw. das eine oder andere Neue zu machen. Das
ist eigentlich alles nicht der Rede wert.





René Röspel


(A) (C)



(D)(B)


Was mich wirklich ärgert, ist ein anderer Punkt – das
muss ich sagen –: Sie zeichnen ein Zerrbild mangelnder
Technikoffenheit in diesem Land.


(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Ja!)


Das hat mit Realität nichts zu tun. Ich erlebe es ganz an-
ders: Ich sehe, mit welcher Selbstverständlichkeit und
Begeisterung gerade junge Menschen bis hin zu Kindern
mit Technik umgehen, etwa mit Smartphones. Sie kön-
nen mit all dem viel besser umgehen als ich – und ich
gehöre sicher nicht zur ganz rückständigen Truppe. Dort
gibt es eine große Offenheit für Technik. Das passt wirk-
lich überhaupt nicht zu dem, was Sie hier zu vermitteln
versuchen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN sowie der Abg. Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Ich weiß auch nicht, was Sie unter Technikfeindlich-
keit verstehen. Ist es technikfeindlich, wenn man beim
Fracking die kritische Frage stellt, was denn da eigent-
lich passiert? Ist es technikfeindlich, wenn man sich bei
der Präimplantationsdiagnostik oder der Stammzellen-
forschung fragt, ob man die entsprechenden Technolo-
gien wirklich anwenden sollte oder ethische Fragestel-
lungen zu beachten sind? – Ich finde, das hat mit
Technikfeindlichkeit nichts zu tun; das ist ein vernünfti-
ges Nachdenken. Es ist Ausdruck von Zukunftsorien-
tiertheit; denn man versucht, Probleme von vornherein
auszuräumen.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das Beispiel für Technikfeindlichkeit, das Sie in Ih-
rem Antrag benennen, wird wirklich zum Bumerang. Sie
weisen darauf hin, dass der Bereich der Pflanzengenom-
forschung bei BASF den Standort Deutschland verlassen
hat, übrigens weil das Unternehmen in Deutschland
keine Verbraucherakzeptanz für gentechnisch veränderte
Lebens- und Futtermittel sieht. Dann frage ich mich:
Wer hat denn in dieser Zeit regiert? Warum haben Sie
denn keine Initiative für mehr gentechnisch veränderte
Lebensmittel oder Pflanzen auf den Weg gebracht?

Ich erinnere mich noch: Es gibt in diesem Bereich
niemanden, der populistischer ist als Sie. Als Herr
Seehofer noch hier im Bundestag Verantwortung trug
und Abgeordneter war, da hatte er den Spitznamen
„Horst Genhofer“, weil er viel mehr Gentechnik haben
wollte. Seitdem er aber Ministerpräsident in Bayern ist
und dort mitbekommt, dass die bayerischen Bauern viel-
leicht auch nicht so viel Gentechnik haben wollen, ist er
auf einmal der „Drehhofer“ und will von Gentechnik
nichts mehr wissen. Das ist Populismus; ich finde, das
muss auch einmal gesagt werden.


(Beifall bei der SPD)


Es hat mit Glaubwürdigkeit nichts zu tun, dass Sie
viele Forderungen, etwa die Forderung nach einer steu-
erlichen Förderung von Forschung und Entwicklung
– Frau Wicklein hat es angesprochen –, erst kurz vor
Toresschluss aufgestellt haben. Es ist aber ein schönes

Beispiel dafür – das werden wir mit in den Wahlkampf
nehmen –, wie Sie Politik verstehen. Leider geht es so
nicht voran.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1722228600

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Wirtschaft und Technologie zu dem Antrag
der Fraktionen der CDU/CSU und FDP mit dem Titel
„Innovation stärken und Lust auf Technik wecken“. Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/12099, den Antrag der Fraktionen der
CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/11859 anzuneh-
men. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist mit den Stimmen der beiden Regierungsfrak-
tionen gegen die Stimmen von Linken und Grünen bei
Enthaltung der SPD angenommen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21 a und 21 b auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Daniela
Kolbe (Leipzig), Ulla Burchardt, Rüdiger Veit,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Arbeitsbedingungen von Lehrkräften in Inte-
grationskursen verbessern

– Drucksache 17/10647 -
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Memet
Kilic, Josef Philip Winkler, Katja Dörner, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Lehrkräfte von Integrationskursen stärken
und den Kurszugang erweitern

– Drucksache 17/11577 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
Protokoll zu geben. Sie sind damit einverstanden? –
Dann verfahren wir so.1)

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/10647 und 17/11577 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sie sind damit einverstanden? – Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen.

1) Anlage 9





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 15:

– Zweite und dritte Beratung des von den Frak-
tionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der
beruflichen Aus- und Weiterbildung in der
Altenpflege

– Drucksache 17/12179 –

– Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Stärkung der beruflichen Aus-
und Weiterbildung in der Altenpflege

– Drucksache 17/12327 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
schusses für Familie, Senioren, Frauen und Ju-
gend (13. Ausschuss)


– Drucksache 17/12421 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Erwin Rüddel
Petra Crone
Miriam Gruß
Heidrun Dittrich
Elisabeth Scharfenberg


(8. Ausschuss)


– Drucksache 17/12422 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Andreas Mattfeldt
Rolf Schwanitz
Dr. Florian Toncar
Steffen Bockhahn
Sven-Christian Kindler

Auch hier ist interfraktionell vorgeschlagen, die
Reden zu Protokoll zu geben. – Sie sind damit einver-
standen.1)

Damit kommen wir zur Abstimmung. Der Ausschuss
für Familie, Senioren, Frauen und Jugend empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12421,
die genannten Gesetzentwürfe auf den Drucksachen
17/12179 sowie 17/12327 zusammenzuführen und als
Gesetz zur Stärkung der beruflichen Aus- und Weiter-
bildung in der Altenpflege anzunehmen. Ich bitte dieje-
nigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um
das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-
gen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
einstimmig angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist damit ebenso einstimmig angenommen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 16 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Rosemarie Hein, Diana Golze, Agnes Alpers,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Für ein neues Verständnis der Zusammenar-
beit von Schule und Jugendhilfe – Schulsozial-
arbeit an allen Schulen
– Drucksache 17/11870 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)
Federführung strittig

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
Protokoll zu geben.2) – Sie sind damit einverstanden.
Die Vorlage 17/11870 soll an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden, aber die
Federführung ist strittig. Die Regierungsfraktionen wün-
schen Federführung beim Ausschuss für Familie, Senio-
ren, Frauen und Jugend, die Linke wünscht Federfüh-
rung beim Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung.

Ich lasse zuerst abstimmen über den Überweisungs-
vorschlag der Fraktion Die Linke, also Ausschuss für
Bildung. Wer stimmt für diesen Überweisungsvor-
schlag? – Entschließen Sie sich einmal, die Arme hoch-
zunehmen.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Ja, das ist dumm, weil ich Obmann bei der Familie bin! Ich fände das auch nicht schlecht, persönlich! – Heiterkeit)


– Das ist natürlich jetzt ein innerer Zwist, den wir heute
Abend nicht mehr lösen können. – Wer stimmt dagegen?
– Enthaltungen? – Der Überweisungsvorschlag ist mit
den Stimmen der Regierungsfraktionen und der SPD ge-
gen die Stimmen von Linken und Grünen abgelehnt.

Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungsvor-
schlag der Fraktionen von CDU/CSU und FDP, also Fa-
milienausschuss. Wer stimmt für diesen Überweisungs-
vorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen der
Regierungsfraktionen und der SPD gegen die Stimmen
von Linken und Grünen angenommen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Umsetzung des Seearbeitsübereinkom-
mens 2006 der Internationalen Arbeitsorgani-
sation
– Drucksache 17/10959 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss)

– Drucksache 17/12420 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Jutta Krellmann

1) Anlage 4 2) Anlage 5





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann haben wir das so beschlos-
sen.

Damit eröffne ich die Aussprache und erteile Kolle-
gen Johann Wadephul für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Johann Wadephul (CDU):
Rede ID: ID1722228700

Herr Präsident, vielen herzlichen Dank. – Meine sehr

verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich bin sehr froh, dass Sie zu dieser späten
Stunde noch so zahlreich an Bord sind; denn das Gesetz-
gebungsvorhaben ist von einiger Bedeutung.

In der deutschen Seeschifffahrt haben die Kauffahr-
teischiffe unter deutscher Flagge eine große wirtschaft-
liche Bedeutung, nicht nur für die Seehäfen – dort natür-
lich auf besondere Art und Weise –, sondern auch für
ganz Deutschland, Herr Präsident, für Schwaben ge-
nauso wie für Berlin. Deswegen ist es gut, dass dieses
Thema hier aufmerksam verfolgt wird.

Wir schaffen die gesetzlichen Voraussetzungen für die
Umsetzung des Seearbeitsübereinkommens 2006 der In-
ternationalen Arbeitsorganisation. Wir setzen das deut-
sche Seemannsgesetz von 1957, das bislang die Lebens-
und Arbeitsbedingungen an Bord von Kauffahrteischif-
fen unter deutscher Flagge nur lückenhaft geregelt hat,
außer Kraft. Es war schlicht und ergreifend nicht mehr
zeitgemäß. Es ging von der Vorstellung aus, dass die un-
ter deutscher Flagge fahrenden Schiffe regelmäßig in
deutsche Häfen zurückkehren. Das entspricht heute nicht
mehr der Wirklichkeit.

Wir schaffen Regelungen für insgesamt 1,2 Millionen
Seeleute auf 65 000 internationalen Handelsschiffen.
Deutschland schafft die Voraussetzungen dafür, dass
weltweit verbindliche Mindeststandards der Arbeits- und
Lebensbedingungen für die Seeleute an Bord von Kauf-
fahrteischiffen eingehalten werden müssen, und trägt da-
mit – das sollte allen am Herzen liegen – zu einem fairen
Welthandel bei, der insbesondere die Arbeitsbedingun-
gen und die sozialen Bedingungen der Seeleute im Blick
hat; ein Thema, das Sie von der Backbordseite dieses
Hauses heute mehrfach insofern interessiert hat, als es
um die Landratten ging, also um diejenigen, die an Land
arbeiten.

Wir schaffen Arbeitsbedingungen und soziale Bedin-
gungen, sozusagen Mindestarbeitsbedingungen, in ei-
nem Umfang, wie Sie sie sich heute für die gesamte ar-
beitende Bevölkerung gewünscht haben. Deswegen
kann ich Sie nur herzlich auffordern, diesem Gesetzge-
bungsvorhaben zuzustimmen und sich nicht nur zu ent-
halten.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wie wird das umgesetzt? Die primäre Verantwortung
liegt bei den Flaggenstaaten, also bei Deutschland für
die unter deutscher Flagge fahrenden Schiffe. Daneben
kontrollieren die Hafenstaaten Schiffe unter fremder

Flagge, die ihre Häfen anlaufen. Das nennt man Hafen-
staatkontrolle. Sie sorgt dafür, dass weltweit darauf ge-
achtet wird, dass das internationale Seerechtsüberein-
kommen eingehalten wird und angemessene Lebens-
und Arbeitsbedingungen überall auf See gelten.

Umgesetzt wird dies insbesondere dadurch, dass ein
Seearbeitszeugnis als weltweit gültiges Dokument ein-
geführt wird. Dies ist gegenüber allen Hafenstaatsins-
pekteuren der Beweis des ersten Anscheins dafür, dass
die grundlegenden Regelungen des ILO-Übereinkom-
mens umgesetzt worden sind und auf diesem Schiff ein-
gehalten werden. Das ist eine wichtige Sache. Deswegen
ist unser Gesetz so wichtig. Die deutschen Schiffe kön-
nen jetzt entsprechend zertifiziert werden. Ansonsten
drohte ihnen nämlich sehr kurzfristig die Gefahr, dass sie
an den Haken gelegt werden, wenn sie in einen fremden
Hafen einlaufen und das entsprechende Zertifikat nicht
haben.

All das, was wir hier erarbeitet haben, gilt für den Ge-
setzentwurf der Bundesregierung, der ich, Herr Staatsse-
kretär, sehr herzlich für den Entwurf danke. Wir als Ko-
alitionsfraktionen haben Änderungsanträge vorgesehen,
auf die ich gleich noch ganz kurz zu sprechen kommen
werde. Das ist in ausführlichen Gesprächen mit den So-
zialpartnern vereinbart worden. An dieser Stelle muss
man dem Verband Deutscher Reeder ebenso danken wie
der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi, die sich mit ihrer
Sparte Seeschifffahrt intensiv an den Diskussionen be-
teiligt haben. Die Sozialpartner sind mit dem Gesetzent-
wurf und den Änderungsvorschlägen, die die Koalitions-
fraktionen heute vorlegen, einverstanden. Ich glaube,
das ist ein Beispiel gelebter Sozialpartnerschaft, das sich
sehen lassen kann und auf das wir stolz sind. Wir zollen
den Tarifparteien dafür Dank und Anerkennung.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die Änderungen, auf die ich kurz zu sprechen kom-
men möchte, betreffen zum einen die sogenannten Er-
richterschiffe im Offshorebereich. Dies ist ein weiterer
Ausdruck der Energiewende. Mittlerweile werden zahl-
reiche Windkraftanlagen auf hoher See errichtet. Dazu
braucht man einerseits natürlich seemännisches Perso-
nal, das mit Schiffen hinausfährt, andererseits aber auch
Baupersonal, das die Gründung und Errichtung dieser
Windkraftanlagen vornimmt. Wir haben abweichend
vom Gesetzentwurf vorgeschlagen, dieses Personal von-
einander zu trennen. Wir wollen die Regelung nicht an
die Zeit des Einsatzes knüpfen, sondern an die Tätigkeit,
die verrichtet wird. Das heißt, das nautische Personal
fällt unter dieses Seearbeitsgesetz, und das Baupersonal
fällt unter die Regelungen, die wir schon haben, vom
Baurecht über das Tarifvertragsrecht bis hin zu rentenge-
setzlichen Regelungen.

Eine Frage, die auch die Oppositionsfraktionen be-
schäftigt hat, ist die Frage der Reederhaftung. Wir fassen
die Reederhaftung durch unseren Änderungsantrag
nochmals klarer. Der Reeder ist auch gegenüber solchen
Arbeitnehmern für die Einhaltung sämtlicher Verpflich-
tungen aus dem Seearbeitsgesetz verantwortlich, die mit
einem vom Reeder beauftragten anderen Arbeitgeber ei-
nen Arbeitsvertrag geschlossen haben. Wir haben heute





Dr. Johann Wadephul


(A) (C)



(D)(B)


an anderer Stelle über Werkverträge und die Problemati-
ken, die daraus resultieren können, gesprochen. Für den
Seebereich ist das – das kann man hier einmal sagen –
komplett geregelt. Es gibt eine eindeutige Zuständigkeit
des Reeders für alle arbeits- und sozialversicherungs-
rechtlichen Verbindlichkeiten aus dem Arbeits- und Be-
schäftigungsverhältnis. Dafür haftet der Reeder. Zu den
Diskussionen im Ausschuss möchte ich Folgendes sa-
gen, Herr Kollege Juratovic: Das ist umfassend geregelt.
Wir haben das juristisch nachprüfen lassen. Das ist eine
selbstschuldnerische Bürgschaft. Hier kann sich kein
Reeder aus der Verantwortung stehlen. Er haftet. Dazu
kann man ganz kurz sagen: Das ist gut so.

Wir schlagen gegenüber dem Vorschlag der Bundes-
regierung Änderungen hinsichtlich der Arbeitszeitvor-
schriften vor. Der Grund dafür ist, dass wir aus der Pra-
xis gehört haben, dass die bisherigen Regelungen – das
ist eine verschränkte Regelung von Höchstarbeitszeiten
und Mindestruhezeiten – nicht unbedingt praxisgerecht
sind.

Die Bundesregierung ist mit den Regelungen, die sie
hier vorgelegt hat, auch über die Notwendigkeiten des
internationalen Seerechtsübereinkommens hinausgegan-
gen. Deswegen haben wir uns in der Lage gesehen, hier-
bei zu Liberalisierungen zu kommen.

Einerseits stellen wir in den §§ 43 und 44 des Geset-
zes klar, dass der Acht-Stunden-Arbeitstag der Regelfall
ist. Das ist ernst gemeint.


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ernst gemeint!)


Aber Ausnahmen davon sind möglich.

Zweitens. Die bisherige Höchstgrenze der Wochenar-
beitszeit von 72 Stunden und die vorgesehenen Ausnah-
meregelungen werden grundsätzlich beibehalten.

Zusätzlich haben wir genau definiert, unter welchen
Voraussetzungen diese Höchstgrenze ausnahmsweise
auf bis zu 91 Wochenstunden ausgedehnt werden kann.
Das soll erstens der Fall sein, wenn ein Schiff in enger
Hafenfolge fährt. Wir haben dabei jetzt klar definiert,
was eine Hafenfolge ist. Denn man könnte darüber dis-
kutieren, was das genau ist. Das ist die Reisedauer zwi-
schen zwei Lotsenversetzpunkten der jeweils angelaufe-
nen Hafenreviere. Diese Zeit soll weniger als 36 Stunden
betragen. Dann liegt eine enge Hafenfolge vor.

Das Zweite ist, dass wir bei den Mindestruhezeiten
eine Tariföffnungsklausel vorgesehen haben, die um-
fangreich ist. Bisher galt sie nur für die Berger und
Schlepper. Jetzt gilt sie für alle Schiffe. Das hat den
schlichten Grund, dass es immer wieder die Notwendig-
keit gibt, an einzelnen Schiffen länger zu arbeiten, um
die Ruhezeiten in Einzelfällen und unter ganz bestimm-
ten Kautelen zu verkürzen. Dies sollen die Tarifvertrags-
parteien regeln, aber sie können es jetzt auch regeln.

Ich denke etwa an Problematiken, wie wir sie, Herr
Kollege Liebing, im schleswig-holsteinischen Watten-
meer und an der schleswig-holsteinischen Nordseeküste
haben, wo insbesondere im Sommer ein umfangreicher
Fährverkehr zu den Inseln und Halligen stattfindet. Dort

wäre es auch von den Seeleuten überhaupt nicht ge-
wünscht, so enge Vorschriften zu haben.

Vielmehr interessieren sie sich dafür, dass wirtschaft-
lich gefahren werden kann. Sie wollen selbst möglichst
viel arbeiten. Das ist eine überschaubare Zeit. Das gilt
nur für die Sommersaison. Nur so lange sind in diesem
Umfang Fahrten vorgesehen und nur so lange sind auch
Mitfahrerinnen und Mitfahrer, die dort in aller Regel Ur-
laub machen, da. Aber für solche Fährschiffe brauchen
wir entsprechende Möglichkeiten.

Es war der Wunsch der Reeder, dass wir hier noch
einmal darüber nachdenken. Das hat auch die ausdrück-
liche Zustimmung der Gewerkschaft Verdi gefunden.
Das möchte ich abschließend sagen: Wir haben Fragen
des sozialen Schutzes und des Gesundheitsschutzes bei
der Formulierung dieses Gesetzentwurfs und seiner Än-
derungsanträge sehr ernst genommen. Wir haben die Zu-
stimmung der Sozialpartner zum Gesetz und zu allen
Änderungsanträgen.

Deswegen kann ich die Opposition an dieser Stelle
nur auffordern, sich auch einen Ruck zu geben und die-
sem Gesetzentwurf zuzustimmen.


(Ingbert Liebing [CDU/CSU]: Das ist ein gutes Gesetz!)


Er schafft für alle Seeleute klare Voraussetzungen und
eine gute soziale Absicherung. Gleichzeitig sichert er die
Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Seeschifffahrt.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1722228800

Das Wort hat nun Josip Juratovic für die SPD-Frak-

tion.


(Beifall bei der SPD)



Josip Juratovic (SPD):
Rede ID: ID1722228900

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! In vielen Seemannsliedern werden die Bedin-
gungen auf See besungen. Im Shanty „Rolling home“
beschweren sich Matrosen, dass der Kapitän ihnen keine
freien Tage lässt.


(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Wollen wir mal einen singen?)


Die Seemannslieder zeigen, dass es wichtig ist, mit
guten Gesetzen für faire Arbeitsbedingungen auf See zu
sorgen. Denn die Arbeit auf Schiffen ist etwas Besonde-
res – das sehe ich auch auf den Schiffen, die in meinem
Wahlkreis auf dem Neckar fahren –: die langen Fahrten,
das gesamte Leben auf den Schiffen und oft unvorherge-
sehene Ereignisse.

Daher hat die Internationale Arbeitsorganisation mit
dem Seearbeitsübereinkommen aus dem Jahr 2006 die
Grundlage dafür geschaffen, dass weltweit auf See gute
Arbeitsbedingungen herrschen. Leider hat die Bundesre-
gierung sehr lange gebraucht, dieses ILO-Übereinkom-
men umzusetzen. Seit der schwarz-gelben Regierung





Josip Juratovic


(A) (C)



(D)(B)


2009 wurde das hier immer wieder verzögert. In Ant-
worten auf eine Kleine Anfrage der SPD sowie auf
schriftliche Fragen wurden immer wieder Termine für
den Gesetzentwurf genannt. Die Termine verstrichen,
ohne dass etwas geschah.

Im Oktober 2012 wurde dann endlich das Seearbeits-
gesetz, mit dem das ILO-Übereinkommen umgesetzt
wird, in den Bundestag eingebracht. Besser spät als nie,
dachte ich damals.


(Katja Mast [SPD]: Genau!)


Doch leider beinhaltet der Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung trotz der langen Bearbeitungszeit eine Reihe von
Fehlentscheidungen. Wir Sozialdemokraten hatten daher
im Ausschuss für Arbeit und Soziales einen Änderungs-
antrag eingebracht, durch den diese Fehlentscheidungen
korrigiert werden sollten.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Leider wurde dieser Änderungsantrag von Union und
FDP abgelehnt. Auch Union und FDP haben am Diens-
tag in letzter Minute um 19 Uhr einen zehnseitigen Än-
derungsantrag eingebracht, über den wir im Ausschuss
am Mittwoch um 10 Uhr abgestimmt haben. Es ist un-
möglich, über Nacht zehn Seiten juristische Änderungen
im Detail nachzuvollziehen. Im Sinne einer sinnvollen
und kollegialen parlamentarischen Arbeit, an der alle
mitwirken können, bitte ich Sie: Arbeiten Sie nicht mehr
auf den letzten Drücker, und überlegen Sie sich früher,
was Sie machen möchten.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP,
mit dem vorliegenden Gesetzentwurf versäumen Sie,
dass das deutsche Seearbeitsgesetz ein Gesetz wird, das
den Anforderungen des Seearbeitsübereinkommens und
der ILO-Verfassung entspricht. Dem Seearbeitsüberein-
kommen widerspricht der Gesetzentwurf nach wie vor
bei der Reederhaftung, auch wenn Sie hier in letzter Mi-
nute vermeintlich korrigiert haben. Bisher ist es so, dass
der Reeder dafür haftet, wenn die Heuer nicht bezahlt
wird, auch wenn die Seeleute über eine Bemannungs-
agentur auf dem Schiff arbeiten. Das ist im Prinzip wie
eine sinnvolle Generalunternehmerhaftung. Die kom-
plett unverständliche Idee aus dem Arbeits- und Sozial-
ministerium war, dass der Reeder nicht mehr komplett
haftet, sondern nur noch als Bürge. Auch der Ände-
rungsantrag von Union und FDP bleibt bei dieser aben-
teuerlichen Bürgenkonstruktion. Diese Regelung ist so
unverständlich, dass sie im Ausland kein Mensch ver-
steht.


(Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Brauchen sie auch nicht!)


Zudem besagt die ILO-Verfassung, dass es durch die
Umsetzung von ILO-Übereinkommen nicht zu einer
Schlechterstellung im Vergleich zu der davor geltenden
nationalen Regelung kommen darf. Das ist jedoch bei
der Bürgenhaftung der Fall. Die ILO hatte vorab unter
der Hand verlauten lassen, dass sie in der Bürgenhaftung

einen Verstoß gegen das Seearbeitsübereinkommen sieht
und eine Normenüberprüfung aus Deutschland bei der
ILO Erfolg hätte. Ich kann mir gut vorstellen, dass auch
die jetzige Bürgenkonstruktion vor der ILO keinen Be-
stand haben wird, da sie dem Seearbeitsübereinkommen
widerspricht.

Ein weiterer kritischer Punkt des Gesetzentwurfs sind
die Höchstarbeitszeiten der Seeleute. Zwar ist zu begrü-
ßen, dass die Regelungen in § 48 nun so bleiben, wie sie
bisher tariflich und gesetzlich vereinbart sind, aber im
neuen § 49 werden detaillierte Vorgaben gemacht, wie
eine tarifliche Regelung zu den Arbeitszeiten aussehen
soll. Heimlich will man durch diesen Paragrafen also
eine Verlängerung der Regelarbeitszeit auf mehr als
13 Stunden am Tag umsetzen. Nicht nur im Cockpit,
auch an Bord ist die Übermüdung von Seeleuten gefähr-
lich.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie der Abg. Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Die Höchstarbeitszeiten dürfen daher nicht durch die
Hintertür heraufgesetzt werden.

Wir Sozialdemokraten fordern darüber hinaus, dass
die Seemannsmissionen, die im Gesetzentwurf erwähnt
werden und wichtige Aufgaben bei der Betreuung der
Seeleute durch Sozialeinrichtungen übernehmen, auch
finanziell vom Bund gefördert werden müssen.


(Beifall der Abg. Iris Gleicke [SPD])


Wenn die Seemannsmissionen eine im Gesetz festge-
schriebene Aufgabe übernehmen, muss sich das auch so
niederschlagen. In der Anhörung zum Seearbeitsgesetz
im November 2012 hatte ein Vertreter der CDU gefragt,
an welcher Stelle denn die finanzielle Unterstützung der
Seemannsmissionen besser werden müsse. Der Vertreter
der Seemannsmissionen antwortete unmissverständlich,
dass sie überall besser werden müsse, denn bisher erhal-
ten sie gar kein Geld. Das ist eine eindeutige Aussage:
Hier besteht Handlungsbedarf.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, so sehr ich es begrüße,
dass wir heute endlich das ILO-Seearbeitsübereinkom-
men in nationales Recht umsetzen, so sehr bedaure ich,
dass wir Sozialdemokraten dem Gesetzentwurf aus den
genannten Gründen, insbesondere was die Reederhaf-
tung betrifft, nicht zustimmen können. Die Kritikpunkte,
die die Seeleute aus der Praxis bei der Anhörung im
Ausschuss für Arbeit und Soziales angeführt haben,
wurden viel zu wenig berücksichtigt.

Das Wichtigste bei einem Gesetz zu den Arbeitsbe-
dingungen auf See ist, die Menschen, die praktisch damit
zu tun haben, und auch die zuständigen Gewerkschaften,
besonders Verdi, zu beteiligen und ihre Erfahrungen ins
Gesetz aufzunehmen. Denn nur wenn das Gesetz gut für
die Praxis ist, gehören Klagen über schlechte Arbeitsbe-
dingungen auf See, wie ich sie eingangs aus einem See-
mannslied zitiert habe, der Vergangenheit an.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN)






Josip Juratovic


(A) (C)



(D)(B)


Da wir Sozialdemokraten die Ratifizierung des Seear-
beitsübereinkommens insgesamt begrüßen, wir den Ge-
setzentwurf an einigen Stellen jedoch kritisch sehen,
werden wir uns bei der Abstimmung enthalten.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1722229000

Der Kollege Heinrich Kolb hat seine Rede zur Proto-

koll gegeben.1) Damit hat jetzt Herbert Behrens für die
Fraktion Die Linke das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Herbert Behrens (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1722229100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

„Achtern rausgesegelt“ sagt man zu einem Seemann, der
zu spät zu seinem Schiff kommt. Bei der Ratifizierung
der Maritime Labour Convention, MLC, steht die Bun-
desregierung genauso da wie der Seemann, der sein
Schiff nur noch von hinten sieht.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das 2006 von der Internationalen Arbeitsorganisa-
tion, IAO, beschlossene Übereinkommen war im August
letzten Jahres von 30 Staaten mit einem Anteil von ei-
nem Drittel der Welttonnage angenommen worden. Es
tritt damit genau ein Jahr später, nämlich am 20. August
2013, international in Kraft. Mit dabei sind viele Mit-
gliedstaaten der Europäischen Union. Es fehlt die Bun-
desrepublik Deutschland. Erst heute legt uns die Bun-
desregierung einen Gesetzentwurf vor, mit dem die
Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass die Bun-
desrepublik das Übereinkommen ratifizieren kann. Es
tritt damit erst ein Jahr später, das heißt 2014, auf natio-
naler Ebene in Kraft. Das wiederum bedeutet, dass die
Bundesregierung bis dahin keine MLC-Zertifikate aus-
stellen darf. Die Schiffe unter deutscher Flagge müssen
während dieser Zeit mit verschärften Kontrollen rech-
nen; wir haben es eingangs schon gehört.

Sieben Jahre brauchte die Bundesrepublik, um die
MLC ratifizieren zu können. Die Gewerkschaft Verdi
wirft der Bundesregierung vor, Schiffe unter deutscher
Flagge in schwieriges Gewässer manövriert zu haben.
Die Bundesregierung versteht die Arbeits- und Lebens-
bedingungen der Menschen einfach nicht, auch nicht die
der Menschen auf See.


(Beifall bei der LINKEN)


Bis gestern hatten die Koalitionsfraktionen nicht ein-
mal Antworten auf zentrale Fragen der Seeleute, die spä-
testens seit der Anhörung vor drei Monaten bekannt
sind, zum Beispiel auf die Fragen, an wen sich ein See-
mann eigentlich wenden muss, wenn die Heuer nicht ge-

zahlt wird, oder welche Rechte die Tarifvertragsparteien
in Sachen Arbeitszeiten haben. Schauen Sie sich bei-
spielsweise an, was Sie in Ihrem Änderungsantrag dazu
geschrieben haben, was ein Reeder im Sinne des Geset-
zes ist – ich kann das aufgrund meiner kurzen Redezeit
nicht zitieren –: Aus zwei Absätzen haben Sie fünf ge-
macht. Das ist gut für Juristen; aber das ist, glaube ich,
schlecht für diejenigen, die unter den Bedingungen die-
ses Gesetzes arbeiten sollen. Das ist eine echte Ver-
schlimmbesserung.

Ein anderes Beispiel. Bestehende günstigere Arbeits-
bedingungen für Beschäftigte dürfen nicht verschlechtert
werden; so bestimmt es zumindest das Seearbeitsüber-
einkommen der IAO. Die Bundesregierung aber mischt
sich in die Tarifautonomie der Tarifvertragsparteien
munter ein. Bisher ist die Arbeitszeit auch für Seeleute
im Tarifvertrag geregelt. In besonderen Fällen ist es er-
laubt, länger zu arbeiten. Es ist gut so, dass die Tarifver-
tragsparteien darüber verhandeln. Sie wissen Bescheid,
worüber sie reden, und können entsprechende Regelun-
gen finden.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Oppositions-
fraktionen sind da eindeutig besser. Wir haben die
Knackpunkte in diesem Gesetzentwurf erkannt.


(Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Es wäre auch ganz gut gewesen, wenn Sie in den Ausschussberatungen mal dabei gewesen wären!)


Deshalb haben wir Änderungsanträge vorgelegt, mit de-
nen man die gröbsten Fehler hätte korrigieren können.
Die Fragen der Arbeitszeiten und der Tarifautonomie so-
wie der sozialen Bedingungen auf See hätten klar, besser
und übersichtlicher geregelt werden können. Aber die
Koalitionsfraktionen lehnen diese Vereinfachungen und
Verbesserungen ab.

Sehr geehrte Damen und Herren von der Koalition,
Ihre Politik im Bereich der Seeschifffahrt steht im Ge-
gensatz zu den großen Worten, mit denen Sie vorgeben,
den maritimen Standort Deutschland stärken zu wollen.
Noch immer sehen Sie tatenlos zu, wenn ein Schiff nach
dem anderen ausgeflaggt wird, wenn die Besatzungen
aus dem deutschen Tarifsystem herausgedrängt werden.
Heute fahren 17 Prozent weniger Frachtschiffe unter
deutscher Flagge als noch vor einem halben Jahr. Sie
spannen einen Schutzschirm über den Reedern auf: Sie
schenken ihnen die Lohnsteuer, Sie zahlen Subventionen
für Ausbildung und Sozialabgaben; gleichzeitig verzich-
ten Sie auf eine ordentliche Besteuerung der Gewinne.
Eigentlich sollte es dadurch zu mehr Rückflaggungen
kommen. Was passiert? Das Gegenteil. Anstatt daraus zu
lernen, dass ein Gesetzgeber dort ordnen muss, wo ein
Arbeitsmarkt in Unordnung gerät, versuchen Sie, die
Rechte der Mannschaften mit dem Gesetz zur Umset-
zung des Seearbeitsübereinkommens 2006 der Interna-
tionalen Arbeitsorganisation noch einmal zu beschnei-
den und die wirtschaftlich Mächtigen zu begünstigen.
Ich finde, das ist stramme Klientelpolitik. Diese Politik
muss beendet werden.


(Beifall bei der LINKEN und der SPD Letzte Rednerin ist Beate Müller-Gemmeke für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der SPD)





(A) (C)


(D)(B)

Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1722229200


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-
nen und Kollegen! Ich beginne nicht mit einem See-
mannslied,


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Sehr human!)


dafür aber mit formaler Kritik. Wir verabschieden heute
einen Gesetzentwurf von 128 Seiten. Nach vielfältiger
Kritik in der öffentlichen Anhörung standen im Aus-
schuss gestern seitenweise Änderungsanträge der Koali-
tionsfraktionen zur Abstimmung. Es ist natürlich gut,
wenn ein Gesetzentwurf verbessert wird – keine Frage –;
aber diese Änderungsanträge sind erst am Abend vor der
Ausschusssitzung bei uns eingegangen. In solch einem
Verfahren können wir schlichtweg keine gute Opposi-
tionsarbeit leisten. Deswegen muss ich einmal sagen:
Das ist schlechter Stil, und das nervt mich.

Ich kritisiere dieses parlamentarische Verfahren vor
allem vor dem Hintergrund, dass die Umsetzung des
Seearbeitsübereinkommens extrem lange verschleppt
wurde, und zwar sieben Jahre. Im August tritt das Über-
einkommen jetzt in Kraft. Für deutsche Schiffe gilt es
aber erst in einem Jahr. In der Folge werden Seeleute auf
deutschen Schiffen viele Monate lang Nachteile erfah-
ren. Die Untätigkeit der Bundesregierung kann man also
nur kritisieren. Der Gesetzentwurf kommt zu spät, und
dafür trägt die Bundesregierung die Verantwortung.

Inhaltlich bringt der Gesetzentwurf Verbesserungen
für die Seeleute – keine Frage –; allerdings gibt es im-
mer noch Passagen, die wir als problematisch ansehen.

Erstens: die Haftungsfrage. Nach dem ILO-Entwurf
ist der Reeder für alle Forderungen der Seeleute unein-
geschränkt haftbar, auch wenn das Personal über Be-
mannungsagenturen eingestellt wird. Nach dem ur-
sprünglichen Gesetzentwurf trat der Reeder nur noch als
Bürge auf. Damit wurde die Haftungsfrage sehr verän-
dert und vor allem verkompliziert, zulasten der Seeleute.
Das fanden wir problematisch; deswegen haben wir im
Ausschuss einen Änderungsantrag eingebracht. Mittler-
weile wurde die Haftungsregelung zwar verbessert; die
Regierungsfraktionen haben aber nicht die klare und ein-
deutige Regelung aus dem ILO-Übereinkommen über-
nommen. Im Gegenteil, jetzt gibt es in § 4 fünf Absätze,
mit denen die Haftungsfrage geklärt wird. Das ist unnö-
tig und viel zu kompliziert. Ein Absatz hätte gereicht,
um die Pflichten der Reeder festzustellen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN)


Insbesondere ausländische Seeleute sind auf eine einfa-
che und verständliche Regelung angewiesen, damit sie
durchsetzen können, was ihnen zusteht. Aus unserer

Sicht ist die Haftungsfrage also immer noch nicht opti-
mal gelöst.

Zweitens: die Arbeitszeit. Auch zu diesem Punkt ha-
ben wir im Ausschuss einen Änderungsantrag einge-
bracht. Dieser Änderungsantrag ist abgelehnt worden.
Laut ILO-Übereinkommen kann die Arbeitszeit tariflich
erhöht werden. Was macht die Bundesregierung? Sie er-
höht die ohnehin schon langen Arbeitszeiten gesetzlich.
Das verstößt gegen das Schlechterstellungsverbot der
ILO-Verfassung, vor allem aber ist es ein Eingriff in die
Tarifautonomie. In den Reden heißt es immer, die Tarif-
autonomie sei für die Koalitionsfraktionen ein hohes
Gut. Hier hätten sie es beweisen können. Für uns ist
diese Regelung nicht akzeptabel.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN)


Wir üben also Kritik und sehen Verbesserungsbedarf in
der Umsetzung. Vor allem ergeben die deutschen Son-
derregelungen meiner Meinung nach überhaupt keinen
Sinn; denn die ILO-Übereinkommen haben die Beson-
derheit, dass Arbeitgeberverbände, Gewerkschaften und
Regierungen an einem Strang ziehen. Warum also kann
das Übereinkommen in Deutschland nicht eins zu eins
umgesetzt werden?

Trotz unserer Kritik werden wir den Gesetzentwurf
nicht ablehnen – aber wir werden uns enthalten –; denn
das ILO-Übereinkommen ist insgesamt ein wichtiger
Schritt, damit die weltweit 1,2 Millionen Seeleute bes-
sere Lebens- und Arbeitsbedingungen erhalten. Das
ILO-Übereinkommen bedeutet auch Wertschätzung für
die Seeleute. Deshalb hätten wir uns auch eine schnellere
und eine bessere Umsetzung unter Wahrung der Tarif-
autonomie gewünscht – und übrigens auch einen etwas
attraktiveren Debattenplatz.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1722229300

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Umset-
zung des Seearbeitsübereinkommens 2006 der Interna-
tionalen Arbeitsorganisation. Der Ausschuss für Arbeit
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 17/12420, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 17/10959 in der Ausschussfassung anzu-
nehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der
Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der drei Opposi-
tionsfraktionen angenommen.1)

1) Erklärung nach § 31 GO Anlage 3





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist damit mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen
wie in der zweiten Beratung angenommen.

Wir kommen zum Zusatzpunkt 6:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Agnes
Brugger, Volker Beck (Köln), Marieluise Beck

(Bremen), weiterer Abgeordneter und der Frak-

tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Konsequent vorangehen für eine atomwaffen-
freie Welt

– Drucksache 17/9983 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

Interfraktionell ist vorgeschlagen, die Reden zu die-
sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.1) – Sie
sind damit einverstanden.

Dann kommen wir zur Überweisung. Der Vorschlag
lautet, die Drucksache 17/9983 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. – Sie sind
damit einverstanden. Dann verfahren wir so.

Tagesordnungspunkt 19:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förde-
rung und Regulierung einer Honorarberatung

(Honoraranlageberatungsgesetz)


– Drucksache 17/12295 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz

Auch hier ist vereinbart, die Reden zu Protokoll zu
geben. – Sie sind damit einverstanden.2)

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/12295 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.

Tagesordnungspunkt 20:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über die Statistik der Bevölkerungsbewegung
und die Fortschreibung des Bevölkerungsstan-
des (Bevölkerungsstatistikgesetz – BevStatG)


– Drucksache 17/9219 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-
schusses (4. Ausschuss)


– Drucksache 17/12396 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Frieser
Kirsten Lühmann
Manuel Höferlin
Jan Korte
Dr. Konstantin von Notz

Auch hier ist vereinbart, die Reden zu Protokoll zu
geben.3) – Sie sind einverstanden.

Damit kommen wir zur Abstimmung. Der Innenaus-
schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/12396, den Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung auf Drucksache 17/9219 in der Ausschussfas-
sung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz-
entwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-
gen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
einstimmig angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Wer diesem Gesetzentwurf zu-
stimmen will, den bitte ich, sich zu erheben. – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist einstimmig angenommen.

Tagesordnungspunkte 23 a und 23 b:

a) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Christine Lambrecht, Burkhard Lischka, Sonja
Steffen, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
der SPD eingebrachten Entwurfs eines … Straf-
rechtsänderungsgesetzes – Wirksame Be-
kämpfung der Genitalverstümmelung

– Drucksache 17/12374 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)
Innenausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung

b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines … Strafrechtsänderungsgeset-
zes – Strafbarkeit der Verstümmelung weibli-
cher Genitalien (… StrÄndG)


– Drucksache 17/1217 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.

1) Anlage 14
2) Anlage 7 3) Anlage 8






(A) (C)



(D)(B)



Ute Granold (CDU):
Rede ID: ID1722229400

Wir beraten heute in erster Lesung mehrere Gesetz-

entwürfe zum Thema Genitalverstümmelung.

Aktuellen Angaben von UNICEF zufolge gibt es
weltweit über 140 Millionen beschnittene Frauen.
Schätzungsweise kommen jährlich 3 Millionen Mäd-
chen im Alter von vier bis zwölf Jahren hinzu. Die Bun-
desärztekammer schätzt die Zahl der in Deutschland
betroffenen Mädchen und Frauen auf 18 000, weitere
5 000 sind konkret gefährdet, hier Opfer von Genital-
verstümmelungen zu werden.

Die psychischen und physischen Folgen sind gra-
vierend. Sie reichen von Depressionen, Angstzustän-
den, Blutungen und Infektionen bis hin zu dauerhaften
Folgen wie zum Beispiel Komplikationen während der
Schwangerschaft oder Geburt. In den schlimmsten
Fällen führt die Genitalverstümmelung sogar zum Tod
der betroffenen Mädchen und Frauen.

Aufgrund der schweren Menschenrechtsverletzung
– und das ist die Genitalverstümmelung zweifelsohne –
begrüßt die Unionsfraktion, dass sich bereits seit der
vergangenen Legislaturperiode alle Fraktionen immer
wieder und auch intensiv mit diesem Thema beschäfti-
gen und zum Teil auch konkrete Vorschläge für eine ge-
setzliche Neuregelung unterbreiten. Dennoch besteht
nach wie vor Erörterungsbedarf.

Die derzeitige Rechtslage stellt sich wie folgt dar:

Da die Genitalverstümmelung in der Regel mit ei-
nem Messer, Skalpell oder ähnlich scharfem Gegen-
stand durchgeführt wird, handelt es sich schon jetzt
nicht nur um eine einfache Körperverletzung nach
§ 223 StGB, sondern es wird auch der Straftatbestand
der gefährlichen Körperverletzung nach § 224 StGB
erfüllt. Sofern der Eingriff den Verlust der Fortpflan-
zungsfähigkeit zur Folge hat, ist auch der Tatbestand
der schweren Körperverletzung gemäß § 226 StGB ge-
geben. Die Tathandlung stellt zudem gemäß § 225
StGB eine Misshandlung von Schutzbefohlenen dar,
wenn das betroffene Mädchen noch keine 18 Jahre alt
ist.

Den Gerichten steht somit bereits heute – sowohl
nach § 224 und § 226 als auch nach § 225 StGB – ein
Strafrahmen mit einer Höchststrafe von bis zu zehn
Jahren zur Verfügung. Bei einer Qualifikation nach
§ 225 Abs. 3 StGB – konkrete Gefahr einer schweren
Gesundheitsschädigung – beträgt der Strafrahmen so-
gar 15 Jahre.

Im Vergleich dazu reichen die Strafandrohungen in
den anderen EU-Mitgliedstaaten, in denen eigene Straf-
tatbestände für die Genitalverstümmelung existieren,
von bis zu 3 bis hin zu bis zu 14 Jahren. Teilweise sind
auch Mindeststrafandrohungen von 3 bis 6 Jahren vor-
gesehen.

Das Bundesverfassungsgericht hat im Jahr 2004
entschieden, dass das Sorgerecht von Eltern einge-
schränkt werden kann, wenn der Tochter eine Genital-

verstümmelung droht. So kann das Jugendamt zum
Beispiel Reisen ins Ausland verbieten.

Die Unionsfraktion hat sich in der Vergangenheit
ebenfalls umfassend mit der Thematik auseinanderge-
setzt und bereits Wege eingeschlagen, um der Genital-
verstümmelung in Deutschland entgegenzuwirken. So
haben wir im Juni 2008 in der Großen Koalition den
Antrag „Wirksame Bekämpfung der Genitalverstüm-
melung von Mädchen und Frauen“ mit einem
20-Punkte-Plan verabschiedet. Darin werden eine
Reihe von Maßnahmen genannt, die aus unserer Sicht
erforderlich sind, um Mädchen und Frauen wirksamer
vor Genitalverstümmelungen zu schützen, wie zum
Beispiel die Sensibilisierung der Ärzte und Schulen
oder die Stärkung von Prävention, Beratung und Op-
ferhilfe.

Im Rahmen des 2. Opferrechtsreformgesetzes wurde
auf Drängen der Union § 225 StGB, bei dem es um die
Misshandlung von Schutzbefohlenen geht, in die Ru-
hensregelung des § 78 b Abs. 1 Nr. 1 StGB einbezogen.
Die Verjährung ruht damit bis zur Vollendung des
18. Lebensjahres des Opfers, wenn die Genitalver-
stümmelung zugleich den Straftatbestand der Miss-
handlung von Schutzbefohlenen erfüllt. Dadurch kann
auch eine generalpräventive Wirkung, das heißt, Ab-
schreckung, erzielt werden, wenn den betroffenen El-
tern bewusst wird, dass ihr Kind auch im Erwachse-
nenalter noch die Möglichkeit hat, sich gegen das
strafwürdige Unrecht zu wehren.

Darüber hinaus wird durch diese Regelung auch die
gefährliche und die schwere Körperverletzung einbe-
zogen, soweit diese Tatbestände durch dieselbe Tat
verwirklicht werden, durch die § 225 StGB erfüllt wird,
das heißt, wenn zumindest ein an der Tat Beteiligter
bzw. eine Beteiligte zugleich den Tatbestand der Miss-
handlung von Schutzbefohlenen erfüllt. Dies dürfte so
gut wie immer der Fall sein; denn in der Praxis erfolgt
die Genitalverstümmelung meist mit Wissen und unter
Duldung eines Elternteils. Obwohl die Eltern nicht
selbst unmittelbar an der Körperverletzung mitwirken,
machen sie sich damit zumindest einer Misshandlung
von Schutzbefohlenen strafbar. Zusätzlich zu den El-
tern werden davon aber auch die Personen, die die Ge-
nitalverstümmelung unmittelbar durchführen, wie zum
Beispiel die traditionelle Beschneiderin oder medizini-
sche Kräfte, erfasst.

Aktuell stehen heute zur Diskussion: ein Gesetzent-
wurf des Bundesrates, der für die Genitalverstümme-
lung einen eigenen Straftatbestand – § 226 a StGB-E –
schaffen will, und ein Gesetzentwurf der Fraktion der
SPD, der die Hochstufung der Genitalverstümmelung
zum Verbrechen vorsieht.

Beide Gesetzentwürfe sehen darüber hinaus die
Aufnahme der Genitalverstümmelung in den Katalog
des § 5 StGB vor. Dieser benennt Straftaten, die im
Ausland begangen werden und bei denen das deutsche
Strafrecht unabhängig vom Recht des Tatorts gilt. Da-
durch könnten auch die sogenannten Ferienbeschnei-

Zu Protokoll gegebene Reden





Ute Granold


(A) (C)



(D)(B)


dungen erfasst werden. Hierbei handelt es sich um
Fälle, in denen die Eltern ihre Tochter ins Ausland, in
der Regel in ihr Herkunftsland, verbringen, um dort
die Verstümmelung durchführen zu lassen. Diese Kon-
stellationen werden aber bereits heute vom geltenden
Strafrecht erfasst, sofern den Eltern Vorbereitungs-
handlungen in Deutschland, wie zum Beispiel das Ver-
bringen der Tochter ins Ausland, zur Last gelegt wer-
den können.

Ebenso machen sich die Eltern, die in Deutschland
verbleiben und nichts gegen die Verstümmelung unter-
nehmen, wegen Unterlassens strafbar. Handeln die El-
tern nur als Anstifter oder Gehilfen, genügt deren ent-
sprechende Tätigkeit in Deutschland ebenfalls, um
einen inländischen Tatort zu begründen, und zwar un-
abhängig davon, ob die Genitalverstümmelung selbst
im Ausland mit Strafe bedroht ist.

Selbst wenn eine reine Auslandstat vorliegt, das
heißt, wenn keinerlei Mitwirkungshandlung im Inland
vorgenommen wird, zum Beispiel wenn die Tochter al-
leine ins Ausland fährt und dort ohne Wissen der El-
tern eine Genitalverstümmelung durchgeführt wird,
kann unter den Voraussetzungen des § 7 StGB deut-
sches Strafrecht zur Anwendung kommen. Allerdings
bestehen hier häufig Beweiserhebungs- und Rechtshil-
feschwierigkeiten.

Die Bandbreite der zur Beratung anstehenden Vor-
schläge zeigt, dass die konkrete Ausgestaltung der
Strafbarkeit der Genitalverstümmelung eingehend er-
örtert werden muss. Dies gilt umso mehr, als sich ei-
nige Regelungspunkte der Entwürfe schon jetzt als
problematisch erweisen.

So ergab eine Anhörung im Familienausschuss im
Jahre 2007, dass sich eine Strafverschärfung auch
negativ auswirken kann. Die Ausgestaltung der Geni-
talverstümmelung als Unterfall der schweren Körper-
verletzung hätte zum Beispiel zur Folge, dass die Min-
deststrafandrohung 3 Jahre betragen würde, da die
Genitalverstümmelung in der Regel absichtlich oder
wissentlich erfolgt. Dies würde dazu führen, dass die
Täter, bei denen es sich meist um nahe Familienange-
hörige handelt, regelmäßig abgeschoben würden;
denn nach den einschlägigen ausländerrechtlichen
Vorschriften hat die Verurteilung zu einer Freiheits-
strafe von 3 Jahren die zwingende Ausweisung gemäß
§ 53 Aufenthaltsgesetz zur Folge. Dies wiederum
könnte die Opfer von einer Anzeige abhalten, was auch
bei der gerade erwähnten Anhörung bestätigt wurde.

Eine Erhöhung des Strafrahmens würde dadurch
auch nicht erreicht werden, da die gefährliche ebenso
wie die schwere Körperverletzung eine Höchststrafe
von 10 Jahren vorsieht. Der Tatbestand der gefährli-
chen Körperverletzung ist, wie bereits ausgeführt, bei
einer Genitalverstümmelung in der Regel immer er-
füllt.

Eine Alternative hierzu wäre die Einführung eines
eigenen Straftatbestandes, der eine Mindeststrafe von
weniger als 3 Jahren vorsieht, wie es im Gesetzentwurf

des Bundesrates vorgeschlagen wird. Hier ist jedoch
zu bedenken, dass es auch andere Fälle der gefährli-
chen Körperverletzung gibt, die einen spezifischen Un-
rechtsgehalt aufweisen, zum Beispiel politisch oder re-
ligiös motivierte Taten, für die es keine eigenständige
Regelung gibt. Konsequenterweise müsste dann auch
für diese Fälle ein eigener Straftatbestand geschaffen
werden. Diese Lösung wäre daher aus systematischen
Gründen problematisch.

Außerdem besteht auch bei der in diesem Entwurf
vorgesehenen Strafandrohung von 2 bis 15 Jahren die
Gefahr, dass die Gerichte dennoch auf eine Freiheits-
strafe von mindestens 3 Jahren erkennen, was wiede-
rum zu den bereits genannten ausländerrechtlichen
Problemen führen würde. Dies sollte mit diesem Ent-
wurf aber gerade vermieden werden.

Hinzu kommt, dass gegen die im Entwurf des Bun-
desrates gewählte Formulierung der „äußeren Genita-
lien“ Bedenken bestehen, da davon nicht alle Formen
der Genitalverstümmelung erfasst werden. Hier ist
eine offene Formulierung, die alle Formen erfasst, er-
forderlich. Ebenso lässt der Begriff „Frau“ Zweifel
aufkommen, ob auch weibliche Kinder von dem
Straftatbestand geschützt sind. Die Betroffenen der
Genitalverstümmelung sind aber gerade Mädchen im
Alter zwischen 12 und 14 Jahren.

Wie Sie sehen, ist es aufgrund der Vielzahl der Aus-
gestaltungsmöglichkeiten erforderlich, dass wir alle
Ansätze noch einmal gemeinsam beraten. Schließlich
wollen wir eine Lösung finden, die den Opfern wirklich
hilft und nicht kontraproduktiv wirkt. Wir werden da-
her alle Vorschläge aufgreifen und in den weiteren Be-
ratungen umfassend diskutieren. Ich bin mir sicher,
dass wir dann zu einem guten Ergebnis kommen wer-
den.


Sonja Steffen (SPD):
Rede ID: ID1722229500

Schon 1998 hat der Deutsche Bundestag in einem

Beschluss festgestellt, dass die Genitalverstümmelung
eine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung dar-
stellt. Die irreversible Schädigung der körperlichen Un-
versehrtheit von Frauen und Mädchen sei nicht mit
kulturellen oder religiösen Traditionen zu rechtfertigen.

Die psychischen und körperlichen Schäden sind
meist erheblich. Die Lebensqualität der Frauen wird
drastisch eingeschränkt: von akuten körperlichen
Komplikationen bis hin zu langfristigen psychischen
Folgen und dauerhaften körperlichen Schäden, die so-
gar zum Tod führen können.

Wie viele in Deutschland lebende Frauen und Mäd-
chen genau betroffen sind, weiß niemand so genau.
Die Zahlen schwanken zwischen 18 000 und 30 000.
Weitere 4 000 bis 5 000 Mädchen sind bei uns poten-
ziell von der Durchführung einer Genitalverstümme-
lung bedroht.

Schon oft haben wir im Deutschen Bundestag da-
rüber diskutiert, welche Maßnahmen notwendig sind,
um diese Frauen zu schützen und das Praktizieren von

Zu Protokoll gegebene Reden





Sonja Steffen


(A) (C)



(D)(B)


Genitalverstümmelung weltweit einzudämmen. Neben
Aufklärungskampagnen, Beratungsstellen und entwick-
lungspolitischen Projekten geht es hier auch immer um
die Frage der Verschärfung des deutschen Strafrechts.

Im Moment liegen uns dazu bereits zwei Gesetzent-
würfe vor: einer vom Bundesrat, der die Schaffung ei-
nes eigenen Straftatbestandes mit einer Mindestfrei-
heitsstrafe von 2 Jahren vorsieht, und einer der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, der die explizite
Aufnahme der Genitalverstümmelung in den Katalog
der schweren Körperverletzungen nach § 226 Abs. 1
StGB fordert.

Auf die Frage, wie sie diese beiden Möglichkeiten
bewertet, hat die Bundesregierung in ihrer Antwort auf
eine Kleine Anfrage der SPD-Fraktion geantwortet,
dass ihre Meinungsbildung hierzu noch nicht abge-
schlossen sei. Wir haben immer noch die Hoffnung,
dass wir diesen Prozess der Meinungsbildung noch vor
Ende dieser Legislaturperiode abschließen und ge-
meinsam zu einer Lösung kommen können.

Mit dem heute vorgelegten Gesetzentwurf hat die
SPD-Bundestagsfraktion eine weitere strafrechtliche
Alternative herausgearbeitet, die wir inhaltlich und
systematisch für einen guten Weg halten, um den
Kampf gegen die Genitalverstümmelung weiter voran-
zubringen.

Wir sind uns mit den Grünen darin einig, dass der
Schutz der Frauen und Mädchen vor im Ausland
durchgeführten Genitalverstümmelungen verstärkt wer-
den muss. Gegen die Gefahr, dass der Besuch bei Ver-
wandten in den Ferien zu einer traumatisierenden und
lebenseinschränkenden Erfahrung wird, müssen wir
unbedingt mit allen Mitteln angehen.

Bisher ist deutsches Strafrecht aber nur anwendbar,
wenn die Tat im Herkunftsland mit Strafe bedroht ist.
Und leider gibt es immer noch einige Länder, insbe-
sondere afrikanische, in denen Genitalverstümmelung
praktiziert wird und nicht unter Strafe steht. Diese
Lücke wollen wir mit der Aufnahme in den in § 5 StGB
geregelten Katalog der Auslandstaten gegen inlän-
dische Rechtsgüter schließen.

Die explizite Aufnahme und Einordnung der Geni-
talverstümmelung in das Strafgesetzbuch ist, wie schon
die letzten Debatten gezeigt haben, nicht ganz un-
problematisch. Hier spielen nicht nur rechtssystema-
tische, sondern auch aufenthaltsrechtliche Erwägun-
gen eine Rolle. Gemäß § 53 Aufenthaltsgesetz führt
eine Freiheitsstrafe von drei Jahren zur zwingenden
Ausweisung.

Der Bundesrat begründet hiermit die Schaffung ei-
nes eigenen Straftatbestandes; denn bei einer Auf-
nahme in den Katalog des § 226 Abs. 1 StGB, wie die
Grünen es vorschlagen, ergäben sich aufgrund der
Tatsache, dass die Genitalverstümmelung eigentlich
immer absichtlich oder wissentlich herbeigeführt wird,
regelmäßig Mindestfreiheitsstrafen von 3 Jahren.

Nach geltendem Recht stellt die Genitalverstümme-
lung aufgrund des Gebrauchs eines gefährlichen
Werkzeugs eine gefährliche Körperverletzung nach
§ 224 StGB dar und gilt wegen des Strafrahmens von
6 Monaten bis zu 10 Jahren nur als Vergehen. Erst
wenn der Eingriff zum Verlust der Fortpflanzungsfä-
higkeit führt, liegt auch eine schwere Körperverlet-
zung gemäß § 226 Abs. 1 StGB und damit ein Verbre-
chen vor.

Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf schlagen wir
vor, die Strafbarkeit der Genitalverstümmelung grund-
sätzlich hochzustufen. In einen neuen Abs. 3 des § 224
StGB wird die Beschneidung oder Verstümmelung der
weiblichen Genitalien mit einer Freiheitsstrafe von
mindestens 1 Jahr belegt und damit vom Vergehen zum
Verbrechen.

Durch die explizite Benennung erreichen wir eine
Signalwirkung und stärken die präventive Arbeit gegen
Genitalverstümmelung. Das Verstümmeln der weib-
lichen Genitalien ist eine Menschenrechtsverletzung
und damit für uns ein Verbrechen.

Wir verhindern mit unserem Vorschlag aber, dass
grundsätzlich und in jedem Fall eine zwingende Aus-
weisung der Eltern droht. Im Sinne des Kindeswohls
muss es hier auch andere Möglichkeiten geben.

Ich freue mich, dass wir im Rechtsausschuss bereits
die Durchführung einer öffentlichen Anhörung zu dem
Thema beschlossen haben. Es wäre schön, wenn wir
im Sinne der betroffenen Frauen und Mädchen mög-
lichst bald eine gesetzliche Lösung fänden.


Dr. Marco Buschmann (FDP):
Rede ID: ID1722229600

Als Referendar war ich bei der Staatsanwaltschaft

in einem Dezernat für Sexualdelikte eingesetzt. Dort
gab es Akten, vor denen mich meine Ausbilderin ge-
schützt hat. Sie war der Überzeugung, dass diese Ak-
ten Fotos enthalten, die so furchtbar sind, dass man sie
einem jungen Juristen in der Ausbildung nicht zumuten
konnte. Sie spiegelten entsetzliche Taten wider, die
Leib und Psyche der Opfer auf so furchtbare Weise
verletzten, dass sie sich nie wieder davon erholen wer-
den. Und die Taten, über die wir heute sprechen, gehö-
ren ohne Zweifel auch in diese Kategorie.

Die weibliche Genitalverstümmelung ist daher zu
Recht bereits nach geltendem Recht gemäß §§ 223,
224 Abs. 1 bzw. § 226 StGB mit einer Freiheitsstrafe
von bis zu zehn Jahren bedroht. Das materielle Straf-
recht stellt bereits heute unmissverständlich klar, dass
es sich um schweres Unrecht handelt, das mit hohen
Strafen geahndet werden kann. Vor dem Hintergrund
dieser Rechtslage wollen die vorliegenden Anträge ei-
nige Veränderungen vornehmen, die insbesondere mit
der Auslandsstrafbarkeit in Verbindung stehen.

Abgestellt wird auf die Fälle sogenannter Ferienbe-
schneidungen im Ausland. Grundsätzlich sind auch
solche Taten bereits nach geltendem Recht mit Strafe
bedroht. Das gilt etwa immer dann, wenn auch in
Deutschland eine Mitwirkungshandlung erfolgte, wie

Zu Protokoll gegebene Reden





Marco Buschmann


(A) (C)



(D)(B)


zum Beispiel das Verbringen eines Mädchens ins Aus-
land. Überdies steht eine solche Auslandstat auch be-
reits nach bestehendem Recht in Deutschland unter
Strafe, wenn die Tat auch im Ausland, wo sie begangen
wurde, unter Strafe steht. Das folgt aus § 7 StGB.
Diese Voraussetzungen dürften auch in vielen Fällen
erfüllt sein.

Jedoch bleiben die Ausnahmefälle, in denen es an
einer Mitwirkungshandlung in Deutschland mangelt
oder die Tat in einem Land erfolgte, in der die weibli-
che Genitalverstümmelung nicht mit Strafe bedroht ist.
Hier müssen wir sehr genau überlegen, wie die deut-
schen Strafermittlungsbehörden diese Fälle aufklären
sollen. Die Strafverfolgungsbehörden im Ausland wer-
den vermutlich keine effektive Ermittlungshilfe leisten
mangels Strafbarkeit vor Ort. Deutsche Ermittlungs-
beamte wiederum können nicht hoheitlich im Ausland
tätig werden und selbst vor Ort ermitteln. Die Frage ist
also, ob die Anträge nicht Hoffnungen bei den Opfern
wecken, dass das, was man ihnen angetan hat, gesühnt
wird, aber in Wahrheit jeder dieser Fälle mit der Ein-
stellung des Verfahrens durch die Staatsanwaltschaft
enden wird.

Wir sollten uns sehr genau überlegen, ob das den
Opfern hilft. Ob es ihnen hilft, dass wir ihnen ein ma-
terielles Strafrecht anbieten, das die Hoffnung auf
Sühne weckt, aber bei der Anzeige wahrscheinlich
dazu führt, dass die Ermittlungspersonen der Staatsan-
waltschaft diese Hoffnung sofort damit dämpfen müs-
sen, da sie sich aller Voraussicht nach nie erfüllen
wird. Man wird fragen dürfen, was damit gegenüber
der geltenden Rechtslage gewonnen wäre.

Daher bleiben nach Lektüre der Entwürfe bei mir
Zweifel. Ich zweifele nicht an den guten und richtigen
Motiven der Antragsteller. Ich zweifele aber, ob die
Anträge wirklich etwas für die Opfer erreichen, wenn
wir sie beschließen würden.


Halina Wawzyniak (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1722229700

Wir bemühen uns um den richtigen Weg, eine

schwerwiegende Menschenrechtsverletzung an Mäd-
chen und jungen Frauen wirksam und nachhaltig zu
bekämpfen. Genitalverstümmlung ist eine verachtens-
werte Praxis, an deren Folgen Frauen ihr Leben lang
leiden müssen – sie haben Schmerzen, sind seelisch be-
schädigt und ihres sexuellen Lustempfindens beraubt.
Keine Religion und keine Kultur schreibt Genitalver-
stümmlung vor, kein Argument zur Rechtfertigung die-
ser Praxis ist akzeptabel. Deshalb ist es richtig, Mäd-
chen und Frauen davor zu schützen und Rechtsklarheit
zu schaffen, zuallererst für die Opfer, aber natürlich
auch für medizinisches Personal und Strafverfolgungs-
behörden.

Wir sind auf der Suche nach einem Weg, die Täte-
rinnen und Täter der Schwere der Tat angemessen
bestrafen zu können. Gleichzeitig wissen wir, dass es
nur sehr selten zur Anzeige und zu Verfahren kommt.
In Deutschland, wo Schätzungen zufolge rund
20 000 Frauen von Genitalverstümmlung betroffen

und rund 5 000 Mädchen und Frauen mit Migrations-
hintergrund davon bedroht sind, hat bisher kein einzi-
ges Verfahren stattgefunden. Das liegt nicht an den
Lücken im Gesetz, sondern daran, dass dieses Verbre-
chen nur sehr selten zur Anzeige gebracht wird. Das
zeigt aber, dass es notwendig ist, für das Thema zu sen-
sibilisieren und zu ermutigen, dagegen vorzugehen. In
Frankreich beispielsweise, wo es seit langem einen
entsprechenden Tatbestand gibt, kam es in den letzten
30 Jahren nur zu 36 Gerichtsverfahren.

Wir müssen uns also bei der Abwägung, ob wir das
Strafgesetz ausweiten, um Genitalverstümmlung mit
härteren Strafen ahnden zu können, auch die Frage
stellen, ob diese Erweiterung des Strafrechts geradezu
nur symbolischen Charakter hätte, ob nicht, anstatt
auf diesen Weg zu vertrauen, mehr auf Prävention,
Aufklärung, Beratung, Hilfe gesetzt werden sollte, was
– darüber sind wir uns sicher einig – mehr Geld und
mehr Kraft und mehr Zeit kostet als eine Änderung des
Strafrechts.

Das eine zu tun, heißt aber nicht, das andere zu las-
sen, insofern müssen wir trotzdem zugleich die Frage
beantworten, ob die geltenden Regelungen im Strafge-
setz ausreichend sind oder nicht.

Ob das eine – die Änderung des Strafgesetzes – ge-
tan werden muss und das andere – mehr Prävention
und Aufklärung – nicht unterlassen werden darf, kann
heute nicht abschließend beantwortet werden. Deshalb
ist es aus unserer Sicht richtig, diese Entscheidung
nicht übers Knie zu brechen und abzuwägen.

Abwägen heißt, sich zum Beispiel Folgendes zu ver-
gegenwärtigen: Es ist auf der einen Seite tatsächlich
nicht nachvollziehbar, dass Genitalverstümmlung nur,
wenn sie zum Wegfall der Fortpflanzungsfähigkeit
führt – was selten der Fall ist –, als Verbrechenstatbe-
stand ausgestaltet ist und ansonsten aber nicht als dem
Verlust eines Körperglieds gleichgestelltes Unrecht
nach § 226 StGB gilt. Andererseits bietet auch der bis-
herige Strafrahmen des § 224 StGB von 6 Monaten bis
zu 10 Jahren Freiheitsstrafe die Möglichkeit, eine der
Schuld angemessene Strafe zu verhängen. Der Straf-
rahmen würde ja immerhin eine Freiheitsstrafe von bis
zu 10 Jahren zulassen.

Nach geltender Rechtslage kann eine vorsätzliche
Genitalverstümmlung nur als gefährliche Körperver-
letzung mittels eines gefährlichen Werkzeugs nach
§ 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB bestraft werden. Tritt in der
Folge kein Verlust der Fortpflanzungsfähigkeit ein,
handelt es sich um keine schwere Körperverletzung
nach § 226 StGB. Dies sei, so die Verfasser des vorlie-
genden Entwurfes des Bundesrats, nicht angemessen;
Genitalverstümmlung sollte nach ihrer Ansicht als
Verbrechen und nicht als bloßes Vergehen geahndet

(Bundestagsdrucksache 17/4759)

destfreiheitsstrafe von 3 Jahren zu aufenthaltsrechtli-
chen Konsequenzen, worauf die vorliegenden
Gesetzentwürfe ebenfalls hinweisen. Dies sieht der

Zu Protokoll gegebene Reden





Halina Wawzyniak


(A) (C)



(D)(B)


Bundesratsentwurf als nicht wünschenswert an, weil
es die Opfer unter Umständen davon abhält, Anzeige
gegen die Täter oder Täterinnen (meist die Eltern) zu
erstatten.

Wir sind der Meinung, dass die Folge einer Ab-
schiebung nach einer Verurteilung wegen Genitalver-
stümmlung ausgeschlossen werden muss. Auch im
Hinblick auf das Opfer ist eine Ausweisung der Eltern
zu verhindern. Diese würde regelmäßig zu einer Ver-
schlechterung der Situation des zum Opfer geworde-
nen Kindes führen und kontraproduktiv wirken, wie
auch die SPD in ihrem Gesetzentwurf zu Recht fest-
stellt. Diese Gefahr besteht, wenn auch eingeschränk-
ter, beim Vorschlag des Bundesrats ebenfalls.

Die im Rechtsausschuss geplante Anhörung ist ab-
zuwarten; sie wird hoffentlich alle Vor- und Nachteile
der verschiedenen Vorschläge umfassend zutage brin-
gen.

Wir sind aber vor allem der Überzeugung, dass die
Diskussion zu diesem Thema nicht nur auf strafrechtli-
che Aspekte reduziert werden darf. Unser Haupt-
augenmerk sollte darauf liegen, alle Mittel und Mög-
lichkeiten zu nutzen, um Genitalverstümmlungen zu
verhindern, und zwar nicht nur hierzulande, sondern
auch in jenen Ländern, wo bis zu 90 Prozent aller
Frauen davon betroffen sind. Mehr Aufklärung, mehr
Beratung, mehr Entwicklungshilfe!


Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722229800

Es wäre wirklich ein schwerer Fehler, die Existenz

von Genitalverstümmelungen auch bei uns in Deutsch-
land zu negieren, auch wenn wir bisher keine Strafan-
zeigen und -verfahren trotz der jetzt schon vorhande-
nen Strafbarkeit feststellen können. Zum Glück tut dies
niemand ernsthaft, denn die von Terre des Femmes
vorgelegten Zahlen und Berichte von Frauenärzten
legen nahe, dass auch bei uns Tausende von Mädchen
von der Genitalverstümmelung bedroht oder ihr Opfer
geworden sind. Noch sind diese Opfer fast vollständig
im Dunkelfeld, aber weibliche Genitalverstümmelung
findet aufgrund von Migration und Flucht aus betroffe-
nen Ländern heute auch in Deutschland statt. Dagegen
etwas zu unternehmen, bedeutet zuerst, Information,
Beratung und Unterstützung in den Blick zu nehmen.
Aus- und Fortbildung müssen dem über Leitlinien von
Ärztinnen- und Ärzte-, Hebammen- und Pflegeorgani-
sationen Rechnung tragen. Die weibliche Genital-
verstümmelung muss als Menschenrechtsverletzung
gebrandmarkt und ihr Charakter als Unterdrückung
weiblicher Sexualität und Unterordnung unter patriar-
chale Verhältnisse muss offengelegt werden.

Wir Grüne fordern schon seit langem, die als Kör-
perverletzung strafbare Genitalverstümmelung aus-
drücklich als einen Fall schwerer Körperverletzung
ins Strafgesetzbuch aufzunehmen. Wir haben dazu
schon vor zwei Jahren einen Gesetzentwurf vorgelegt.
Die Debatte ist aber noch viel älter. Alle Versuche in
der letzten Legislaturperiode sind bisher gescheitert,

auch der Versuch eines überfraktionellen Gruppenan-
trags. Im klaren Widerspruch hierzu stehen die Äuße-
rungen aus allen anderen Fraktionen bei der Ausspra-
che über den Gesetzentwurf der Grünen am 9. Februar
2012 – also vor über einem Jahr, – dass Handlungs-
bedarf bestünde. Bisher sind diesen Ankündigungen
keine Taten gefolgt.

Jetzt zieht die SPD nach und legt einen eigenen Ge-
setzentwurf vor, der aber hinter unserem Entwurf zu-
rückbleibt. Sie wollen die Genitalverstümmelung – ich
sage an dieser Stelle ganz bewusst – „nur“ als gefähr-
liche Körperverletzung ausweisen, was sie aber schon
nach bisherigem Recht ist. Mit der ausdrücklichen
Benennung und Qualifizierung als Verbrechen durch
Erhöhung der Mindeststrafe gegenüber allen anderen
Beispielfällen der gefährlichen Körperverletzung grei-
fen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD,
in die Systematik der Körperverletzungsdelikte ein,
ohne sich mit den Folgen auseinanderzusetzen. Der
Straftatbestand der gefährlichen Körperverletzung dif-
ferenziert nicht nach der Art der Verletzung, sondern
lediglich nach den Modalitäten der Tatbegehung. Es
geht nicht um bestimmte Körperteile, sondern um den
Einsatz von Gift oder Waffen, um gemeinschaftliche
Tatausführung oder mittels eines hinterlistigen Über-
falls. Grundsätzlich fallen aber alle denkbaren
Körperverletzungen unter die Norm der gefährlichen
Körperverletzung. Dazu passt nicht die Hervorhebung
des Körperteils der weiblichen Genitalien. Wenn wir
die Verstümmelung der weiblichen Genitalien beson-
ders hervorheben wollen, kann dies nur im Rahmen
der schweren Körperverletzung passieren, wonach er-
hebliche Folgen der Körperverletzung wie Siechtum
oder Lähmung einzelner Körperteile wie Arme, Beine,
Augen oder Schädigung des Gehörs durch Androhung
hoher Mindeststrafen verhindert werden sollen.

An dieser Stelle müssen wir die Wertungsfrage be-
antworten, ob die weibliche Genitalverstümmelung,
die, wie die SPD schreibt, nach Angaben der Bundes-
ärztekammer mit entsetzlichen und lebenslangen phy-
sischen und psychischen Folgen verbunden ist, wie
jede andere gefährliche Körperverletzung, aber mit ei-
ner lediglich um 6 Monate erhöhten Mindeststrafe ein-
zuordnen ist oder ob sie in ihrer Schwere den bisheri-
gen schweren Körperverletzungen entspricht. Wir
Grünen haben uns schon lange für eine Gleichstellung
mit den anderen schweren Körperverletzungen ent-
schieden und lehnen deshalb den Vorschlag der SPD
ab. Nur am Rande will ich darauf hinweisen, dass die
Unterscheidung von „Beschneidungen“ der weibli-
chen Genitalien und ihrer „Verstümmelungen“ weder
gerechtfertigt noch sinnvoll ist, auch nicht unter
Hinweis auf international gebräuchliche englische
Bezeichnungen.

Besonders problematisch und in der Sache auch
falsch ist der Hinweis auf mögliche aufenthaltsrechtli-
che Folgen der Tat und die damit begründete Kritik an
dem Gesetzentwurf von uns Grünen. Grundsätzlich
differenziert das Strafrecht bei von Deutschen oder von

Zu Protokoll gegebene Reden





Jerzy Montag


(A) (C)



(D)(B)


Ausländern begangenen Straftaten nicht im Strafrah-
men unter Hinweis auf mögliche aufenthaltsrechtliche
Folgen. Dies wäre unter Gleichheitsgesichtspunkten
verfassungswidrig. Auch die Tatsache, dass Täter und
Opfer in einem Verwandtschaftsverhältnis stehen, die
Eltern gar die Täter und ihre Kinder die Opfer sind,
führt nicht zu unterschiedlichen Strafrahmen gegen-
über Tätern und Opfern, bei denen kein Verwandt-
schaftsverhältnis besteht. Versucht eine Mutter oder
ein Vater, die Tochter im Schlaf zu töten, also zu ermor-
den, ist die Mindeststrafe drei Jahre. Niemand fordert
bisher in solchen Fällen eine Mindeststrafe von nur ei-
nem Jahr, weil den Tätern – wenn sie Ausländer sind –
aufenthaltsrechtliche Folgen drohen und eine mögli-
che Ausweisung mit Blick auf die Familie oder das
Wohl des Kindes problematisch wäre. Deshalb ist es
systemwidrig und Angst vor der eigenen Courage,
wenn die SPD – aber auch aus anderen Fraktionen
kennen wir solche Argumente – wegen möglicher auf-
enthaltsrechtlicher Folgen unbedingt eine Mindest-
strafe von nur einem Jahr erreichen will und deshalb
die Genitalverstümmelung lediglich als gefährliche
statt als schwere Körperverletzung qualifiziert.

Tatsächlich gestatten aber das geltende Recht und
die Rechtsprechung in Ausweisungsfällen innerhalb
von Familien durchaus, auf bestehende Familienbin-
dungen und das Wohl des Kindes Rücksicht zu nehmen,
selbst wenn eine mehrjährige Freiheitsstrafe gegen die
Mutter oder den Vater verhängt wird.

Eine drohende Verstümmelung unter Mitwirkung
der Eltern kann zum Verlust des Sorgerechts führen;
dies hat der Bundesgerichtshof bereits entschieden.
Eine drohende Verstümmelung im Heimatland stellt
ein Abschiebehindernis dar. In Fällen, bei denen sich
das Opfer erst nach Jahren und nach Loslösung von
der Familie zur Strafanzeige entschließt, wird meistens
der Familienverband bereits aufgelöst sein. Was
bleibt, sind die Fälle einer Aufdeckung der Gentialver-
stümmelung, zum Beispiel anlässlich einer ärztlichen
Untersuchung oder bei anderen Gelegenheiten bei
kleinen Mädchen, die noch bei ihren das Kind ansons-
ten gut versorgenden Eltern leben. In solchen Fällen
sind die aufenthaltsrechtlichen Folgen der Tat bei der
Strafzumessung zu berücksichtigen, auch ein minder
schwerer Fall mit der Folge einer niedrigeren
Mindeststrafe kann angenommen werden. Aufenthalts-
rechtlich ist sowohl in Fällen der sogenannten Istaus-
weisung als auch bei der Regelausweisung eine Ein-
zelfallprüfung vorzunehmen, in der die familiäre
Situation und die familienrechtlichen Verhältnisse und
das Sorgerecht umfassend berücksichtigt werden müs-
sen. Dies ist durch die Europäische Menschenrechts-
konvention garantiert. Darüber hinaus wird häufig ein
besonderer Ausweisungsschutz nach § 56 Abs.1 Auf-
enthaltsgesetz bestehen, wonach nur aus schwerwie-
genden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ord-
nung ausgewiesen wird. Sollten zum Schluss doch
Fälle vorkommen, bei denen es zu nicht hinnehmbaren

aufenthaltsrechtlichen Konsequenzen kommt, muss
dies im Ausländerrecht und nicht im Strafrecht gelöst
werden.

Aus all diesen Gründen meinen wir, dass der SPD-
Vorschlag undurchdacht ist. Er bringt die Schwere der
Tat nicht angemessen zur Geltung. Taten mit bestimm-
ten schweren Folgen sind eben der schweren Körper-
verletzung zuzuordnen. Das gilt umso mehr, als neben
der körperlichen Unversehrtheit auch das Rechtsgut
der sexuellen Selbstbestimmung tangiert ist. Am 9. Fe-
bruar 2012, vor über einem Jahr, haben die Kollegin-
nen Granold, Steffen, Schuster, Ploetz, Roth und der
Kollege Silberhorn, also Vertreter aller Fraktionen,
ihre Bereitschaft betont, bald zu einem Ergebnis zu
kommen. Leider sind den aufgeschlossenen Signalen
aus der Koalition bisher keine Taten gefolgt. Vielmehr
hat die Koalitionsmehrheit vorgestern im Rechts-
ausschuss die Terminierung einer Sachverständigen-
anhörung torpediert, angeblich weil die Koalition jetzt
endlich auch einen Gesetzentwurf vorlegen will. Bitte
lassen Sie sich dazu nicht mehr allzu viel Zeit und
hoffen Sie nicht auf das Ende der Legislaturperiode.
Wir nehmen Sie beim Wort.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1722229900

Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzent-

würfe auf den Drucksachen 17/12374 und 17/1217 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. – Anderweitige Vorschläge gibt es nicht. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.

Tagesordnungspunkt 22:

Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än-
derung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch
und anderer Gesetze

– Drucksache 17/12036 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss)


– Drucksache 17/12412 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Angelika Krüger-Leißner

Interfraktionell ist vorgeschlagen, die Reden zu Pro-
tokoll zu geben.1) – Sie sind damit einverstanden.

Damit kommen wir zur Abstimmung.

Der Ausschuss für Arbeit empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 17/12412, den Ge-
setzentwurf des Bundesrates auf Drucksache 17/12036
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent-
wurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist damit in zweiter Beratung bei Enthaltung der Linken
mit den Stimmen des Hauses sonst angenommen.

1) Anlage 10





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die diesem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist mit dem gleichen Mehrheitsverhältnis wie zuvor
angenommen.

Tagesordnungspunkt 27:

Beratung des Antrags der Fraktion der SPD

Verbesserung des Wahlrechts von Menschen
mit Behinderungen und Analphabeten

– Drucksache 17/12380 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.


Reinhard Grindel (CDU):
Rede ID: ID1722230000

Wir haben zwei wichtige Änderungen im Wahlrecht

auf den Weg gebracht, und zwar gemeinsam mit den
Oppositionsparteien, einen sogar mit allen fünf Frak-
tionen. Wir halten es für sinnvoll, den sensiblen Be-
reich des Wahlrechts auf möglichst breiter Mehrheit
einvernehmlich zu beschließen. Bis vor kurzem konnte
man denken, die SPD teile diese Meinung. So sagte
Frau Kollegin Fograscher in ihrer letzten Wahlrechts-
rede am 31. Januar 2013, dass es zielführend sei,
Wahlrechtsänderungen unter Beteiligung aller Frak-
tionen zu verhandeln. Nun legt die SPD einen Antrag
zu einer Wahlrechtsänderung vor, ohne über dieses
Thema vorher mit irgendjemandem gesprochen zu ha-
ben. Sie folgen nun den Grünen, die bereits im Januar
die Absprache der Berichterstatter zum Wahlrecht ge-
brochen haben.

Sie hätten die Möglichkeit gehabt, in den Ge-
sprächsrunden zum Wahlrecht auch diesen Vorschlag
anzubringen. Im Gegenteil hat die SPD gerade im Be-
reich des Wahlrechts für Menschen mit Behinderungen
zugestimmt, erst die Studie im Rahmen des Nationalen
Aktionsplans abwarten zu wollen. In dieser Studie geht
es darum, dass die Situation von Wählern mit Behinde-
rungen genau untersucht wird, um daraus sinnvolle
Schlüsse im Hinblick auf mögliche Verbesserungen zu
ziehen. Sie erwähnen in Ihrem Antrag die Wichtigkeit
der Studie, und nun warten Sie die Ergebnisse nicht ab.
Stattdessen nun dieser Alleingang und dieser Schnell-
schuss. Das ist doch nichts anderes als Wahlkampf auf
Kosten der Menschen mit Behinderungen. Das ist im
Grunde unerträglich.

Dabei handelt sich um ein ernstes Thema. Die Men-
schen, die von funktionalem Analphabetismus betrof-
fen sind, sehen sich vielfältigen Problemen im Alltag
ausgesetzt. Sie bedürfen einer guten Förderung und ef-
fektiven Unterstützung. Daher hat die Bundesregie-
rung gemeinsam mit den Ländern, Kommunen und

Partnern aus der Wohlfahrtspflege letztes Jahr eine
Vereinbarung über eine gemeinsame Strategie für Al-
phabetisierung und Grundbildung Erwachsener in
Deutschland beschlossen. Seit 2006 sind 70 Millionen
Euro durch die Bundesregierung in den Förderschwer-
punkt Alphabetisierung investiert worden. Es wird also
viel getan für die Menschen mit Lese-Rechtschreib-
Schwäche.

Im Bereich des Wahlrechts wird vollumfänglich si-
chergestellt, dass Menschen mit funktionalem An-
alphabetismus und Menschen mit Behinderungen am
Wahlakt teilnehmen können. Die Wahllokale sind, so-
weit möglich, barrierefrei und die Wähler über die Zu-
gangsmöglichkeiten informiert. Alle Wähler können
die Unterstützung einer Hilfsperson in Anspruch neh-
men. Diese assistiert bei dem praktischen Vorgang der
Wahl, wie beim Lesen und Kennzeichnen des Wahlzet-
tels und beim Einwurf in die Urne.

Ein sehbehinderter Wähler kann eine spezielle
Schablone benutzen, um sein Kreuz zu machen. Dabei
stehen die Mitglieder des Wahlvorstandes als vertrau-
enswürdige Hilfspersonen zur Verfügung, sodass die
Anonymität des Wählers gewahrt bleiben kann.
Ebenso gelten solche Bestimmungen für die Briefwahl.
Das Bundesinnenministerium hat zugesichert, auf
diese Regelungen der Bundeswahlordnung dahin ge-
hend einen aufmerksamen Blick zu werfen, ob sich
noch Verbesserungen hinzufügen lassen.

Auch im Vorfeld der Wahl, bei der politischen Wil-
lensbildung, wird an Menschen mit Behinderungen
und mit funktionalem Analphabetismus in besonderer
Weise gedacht. So sind Informationen über die Wahl
und über die Tätigkeiten des Bundestages und der
Bundesregierung in einfacher Sprache zugänglich,
was das Verstehen auch für Menschen mit Lese-Recht-
schreib-Schwäche erleichtert.

Wenn die SPD eine bessere Umsetzung der UN-Be-
hindertenkonvention fordert, wäre es doch angebracht
gewesen, einmal in das Dokument hineinzuschauen.
Dort geht es in Art. 29 um die Teilhabe am politischen
und öffentlichen Leben. Es heißt, dass sichergestellt
sein soll, dass die Wahlverfahren, -einrichtungen und
-materialien geeignet, zugänglich und leicht zu verste-
hen und zu handhaben sind. Die Regelung erlaubt
ausdrücklich, dass sich der Wähler zum Zwecke der
Stimmabgabe im Bedarfsfall auf Wunsch bei der
Stimmabgabe durch eine Person seiner Wahl unterstüt-
zen lässt. Die UN-Behindertenrechtskonvention, die
die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am de-
mokratischen Prozess vorschreibt, wird also umfas-
send erfüllt.

Die SPD suggeriert in ihrem Antrag, dass Behinde-
rungen ein Grund seien, vom Wahlrecht ausgeschlos-
sen zu sein. Das ist falsch. Wir haben die Debatte kürz-
lich aus Anlass des Antrags der Grünen geführt. Daher
will ich die Argumente gar nicht lang und breit wieder-
holen.





Reinhard Grindel


(A) (C)



(D)(B)


Es entspricht der UN-Behindertenrechtskonvention,
dass ein Ausschluss vom Wahlrecht dann geboten ist,
wenn eine politische Willensbildung und -äußerung
durch Krankheit oder Behinderung unmöglich ge-
macht ist. Dies war auch bei der Verabschiedung der
Konvention unter den Vertragsstaaten allgemeiner
Konsens, und es war völkerrechtlich anerkannt. Daher
sind Menschen, für die eine Betreuung in allen Angele-
genheiten auf Dauer auf richterlichen Beschluss hin
angeordnet wurde, nicht wahlberechtigt. Der Kreis der
Betroffenen ist denkbar klein.

Es entspricht der Rechtsprechung des Bundesver-
fassungsgerichtes, dass derjenige, der in keiner Weise
in der Lage ist, am politischen Kommunikationspro-
zess teilzunehmen, gerade nicht in einem demokrati-
schen Rechtsstaat am Wahlrecht teilhaben darf.

Die UN-Behindertenrechtskonvention spricht von
der „freien Willensäußerung“ der Menschen mit Be-
hinderungen. Wo diese nicht gegeben sein kann, ist es
also legitim, das Wahlrecht zu beschränken. Der Staat
kann die Willensbildung nicht einfach voraussetzen.
Politische Willensbildung ist eine Grundvoraussetzung
für eine demokratische Wahl; das sollte doch Konsens
sein.

Bei Menschen mit Lese-Rechtschreib-Schwäche
liegt die Sachlage natürlich ganz anders. Zur Wahrneh-
mung des Wahlrechts gibt es neben der beschriebenen
Unterstützung beim Wahlakt direkt noch viele weitere
Hilfen, die die Teilnahme an einer Wahl unterstützten.

Hervorheben möchte ich die Aktion des Deutschen
Volkshochschul-Verbandes, der spezielle Übungen un-
ter der vom Bildungsministerium geförderten Seite
„ich-will-lernen.de“ zur letzten Bundestagswahl an-
geboten hat. Die vertonte Internetseite erklärt den
Benutzern, wie man wählen kann, wie ein Wahlzettel
aussieht, wie der Urnengang abläuft, wie man Brief-
wahlunterlagen beantragen kann und auch, worum es
bei der Wahl geht und was der Bundestag eigentlich
macht.

In den Alphabetisierungskursen wurde im Vorfeld
das Thema Bundestagswahl gesondert behandelt. Zu-
dem können sich Analphabeten, die nicht an einem
Kurs teilnehmen wollen oder können, vertraulich an
ihre Volkshochschule vor Ort wenden und erhalten
dort anonyme, schnelle und kostenfreie Unterstützung
auf persönlicher Ebene. Nach Angaben des Volkshoch-
schul-Verbandes stieß auch dieses Angebot auf reges
Interesse.

Diese von der Bundesregierung geförderten Ange-
bote sind niedrigschwellig und können auch von Men-
schen angenommen werden, die Sorge haben, dass ihr
verborgener Analphabetismus entdeckt werden könnte.

Die Menschen, über die wir hier reden, sind nicht
dumm. Sie wissen sich zu helfen und können sich
selbstbestimmt aus allen diesen Angeboten und Mög-
lichkeiten das Richtige für sich herauszusuchen. Die
Bundesregierung wird weiterhin die Menschen mit

funktionalem Analphabetismus unterstützen und för-
dern.

Die vorgeschlagenen Änderungen des Antrags der
SPD-Fraktion halten wir für unnötig und nicht sachge-
recht.

Die geltenden Regelungen zur Hilfestellung bei
Wahrnehmung des Wahlrechts für Menschen mit Be-
hinderungen und Menschen mit Lese-Rechtschreib-
Schwäche sind sehr gut und helfen wirklich den Men-
schen. Wir wollen diese Maßnahmen dabei fortdau-
ernd überprüfen, um sie gegebenenfalls zu optimieren.
Daher ist die eingangs erwähnte Studie im Rahmen des
Nationalen Aktionsplans auch so entscheidend. Erst
wenn diese vorliegt, macht es wirklich Sinn, über Än-
derungen nachzudenken.

Die von der SPD vorgeschlagenen Änderungen, wie
die Verwendung von Fotos und Parteisymbolen, sehen
wir sehr kritisch. In Ländern mit einer Alphabetisie-
rungsquote von unter 50 Prozent ist solch ein bunter
Stimmzettel üblich; hier in der Bundesrepublik sollte
davon doch Abstand genommen werden.

Kandidatenfotos und Parteilogos können die Wahl-
entscheidung aller Wähler beeinflussen. Wahlkampf
muss sich außerhalb der Wahllokale abspielen und
darf nicht noch in der Wahlkabine stattfinden. Gerade
neue Parteien nutzen aufwendig gestaltete Logos, die
nach marketingtechnischen Gesichtspunkten entwi-
ckelt werden. Auf Wahlplakaten ist dies natürlich legi-
tim. Auf dem Stimmzettel hat dies nichts zu suchen. Die
Abgabe der Stimme darf nicht zu einem Wettbewerb
der schönsten Kandidatenfotos werden.

Den Menschen mit funktionalem Analphabetismus
bringt dies alles nichts. Wie konkrete Hilfe aussieht
und Sinn gibt, habe ich bereits beschrieben.


Gabriele Fograscher (SPD):
Rede ID: ID1722230100

Art. 3 Abs. 3 Satz 2 des Grundgesetzes lautet: „Nie-

mand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt
werden.“

In Art. 29 der UN-Behindertenrechtskonvention zur
politischen Teilhabe von Menschen mit Behinderung
verpflichten sich die Vertragsstaaten, „sicherzustellen,
dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt
mit anderen wirksam und umfassend am politischen
und öffentlichen Leben teilhaben können, sei es unmit-
telbar oder durch frei gewählte Vertreter oder Vertrete-
rinnen, was auch das Recht und die Möglichkeit ein-
schließt, zu wählen und gewählt zu werden.“ Nach
Art. 38 GG steht jedem deutschen Bürger und jeder
deutschen Bürgerin nach Vollendung des 18. Lebens-
jahres das aktive und passive Wahlrecht zu.

Nach dem Bundeswahlgesetz und dem Europawahl-
gesetz sind allerdings all jene Menschen vom aktiven
und passiven Wahlrecht ausgeschlossen, für die zur
Besorgung aller ihrer Angelegenheiten ein Betreuer
oder eine Betreuerin bestellt ist. Ebenfalls ausge-
schlossen sind Menschen, die eine Straftat im Zustand

Zu Protokoll gegebene Reden





Gabriele Fograscher


(A) (C)



(D)(B)


der Schuldunfähigkeit begangen haben und aufgrund
dessen in einem psychiatrischen Krankenhaus unter-
gebracht sind.

Diese Wahlausschlüsse bedürfen, nicht nur im Hin-
blick auf die UN-Behindertenrechtskonvention, einer
politischen Neubewertung.

Derzeit stehen in Deutschland knapp 15 000 Men-
schen unter Vollbetreuung und haben deshalb nach
§ 13 Abs. 2 Bundeswahlgesetz das Wahlrecht verloren.
Wenn jemand unter Betreuung in allen Angelegenhei-
ten steht, lässt das aber keine zuverlässigen Rück-
schlüsse auf die tatsächliche Einsichts- und Wahl-
fähigkeit zu. Wird ein Betreuer oder eine Betreuerin für
alle Angelegenheiten bestellt, wird dabei nicht geprüft,
ob die oder der Betroffene das Wesen einer Wahl
versteht oder nicht. Diesen Automatismus, also Voll-
betreuung ist gleich Verlust des Wahlrechts, gilt es,
aufzubrechen.

Auch führt die Vorschrift des § 13 Abs. 2 BWG zu
widersprüchlichen Ergebnissen. Liegen alle Voraus-
setzungen für eine Vollbetreuung vor, hat der oder die
Betroffene aber vorab eine Vorsorgevollmacht erstellt
und somit bestimmt, wer seine oder ihre Angelegenhei-
ten regeln soll, so ist er bzw. sie ebenso wenig „ein-
sichtsfähig“, wie jemand, dessen Betreuung angeord-
net wurde. Der Person mit Vorsorgevollmacht wird
aber das Wahlrecht nicht aberkannt.

Gleiches gilt für Menschen, die in einem psychiatri-
schen Krankenhaus untergebracht sind. Haben sie
eine Straftat begangen, bei der sie zur Tatzeit schuld-
unfähig waren, ist die Folge nach § 13 Abs. 3 Bundes-
wahlgesetz der Verlust des Wahlrechts. Patientinnen
und Patienten mit demselben Krankheitsbild, die keine
Straftat begangen haben, behalten das Wahlrecht.

Gegen diese Widersprüche richtet sich die Kritik
des Deutschen Instituts für Menschenrechte und vieler
Behindertenverbände. Deshalb schlage ich vor, dass
wir versuchen, interfraktionell, wie es beim Wahlrecht
üblich ist, eine Lösung zu finden.

Die Bundesregierung hat sich laut Aktionsplan zur
Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention vom
September 2011 verpflichtet, eine „Studie zur tatsäch-
lichen Situation behinderter Menschen bei der Aus-
übung des aktiven und passiven Wahlrechts“ bis Ende
2012 vorzulegen. Diese Studie liegt bis heute nicht vor,
ja sie ist noch nicht einmal in Auftrag gegeben – ein
großes Versäumnis der Bundesregierung. Mit ersten
Ergebnissen ist wohl erst 2014 zu rechnen. Das hat die
Bundesregierung in ihrer Antwort auf meine schrift-
liche Frage bestätigt.

Nicht nur wir als SPD-Bundestagsfraktion sehen
hier Handlungsbedarf. Auch der Bundesrat befasst
sich derzeit in den Ausschüssen mit einer Entschlie-
ßung zur Verbesserung des Wahlrechts behinderter
Menschen.

Da auch alle Wahlgesetze der Bundesländer diese
Wahlrechtsausschlüsse für Menschen unter Vollbetreu-

ung und die meisten auch für Straftäter, die in einem
psychiatrischen Krankenhaus untergebracht sind,
beinhalten, sollten wir als Bundesgesetzgeber hier
Vorreiter sein und das Wahlrecht für diese Menschen
verbessern. Ich bin mir sicher, dass die meisten Bun-
desländer unserem Beispiel folgen werden.

Mit solchen Änderungen wären wir nicht die Ersten
in Europa. Bereits Österreich, Finnland, die Nieder-
lande, Spanien, Großbritannien, Italien und Schweden
haben ein inklusives Wahlrecht. Daran sollten wir uns
orientieren.

Was wir nicht wollen, ist eine Änderung im Betreu-
ungsrecht. In Deutschland besitzt jeder das Wahlrecht,
der das 18. Lebensjahr vollendet hat und die deutsche
Staatsangehörigkeit besitzt. Es findet keine Prüfung
der Einsichts- und Wahlfähigkeit statt. Eine Änderung
im Betreuungsrecht würde zur Prüfung der Wahlfähig-
keit von Menschen, die unter Vollbetreuung stehen,
führen. Wer sollte das nach welchen Kriterien tun?
Das wäre ein Systembruch, der neue Fragen aufwirft.
Das wollen und werden wir, liebe Kolleginnen und
Kollegen von den Koalitionsfraktionen, nicht mit-
machen.

Eine weitere Personengruppe, die uns sehr am Her-
zen liegt und weitaus größer ist, sind die Menschen mit
Lese-Rechtschreib-Schwäche.

Die Studie „leo. – Level-One“ hat 2010 im Auftrag
des Bundesministeriums für Bildung und Forschung
als erste Studie in Deutschland die Größenordnung
des Analphabetismus unter der erwerbsfähigen Bevöl-
kerung zwischen 18 und 64 Jahren untersucht. Danach
leben in Deutschland etwa 7,5 Millionen Menschen,
die als funktionale Analphabeten gelten. Das sind gut
14 Prozent der Bevölkerung. Etwa zwei Drittel von ih-
nen können zwar einzelne Sätze lesen oder schreiben,
jedoch keine zusammenhängenden Texte. 2,3 Millio-
nen Menschen unter den funktionalen Analphabeten,
also etwa 4 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung,
können zwar einzelne Wörter lesend verstehen oder
schreiben, aber keine ganzen Sätze. 300 000 Menschen
können nicht einmal ihren Namen schreiben.

Für diese Menschen ist der Wahlvorgang eine be-
sondere Herausforderung. Um eine selbstbestimmte
Teilnahme an Wahlen auch ohne den Weg der Brief-
wahl und Unterstützung durch Wahlhelferinnen und
Wahlhelfer zu ermöglichen, schlagen wir eine Neuge-
staltung der Stimmzettel vor: Bei der Erststimme sollte
neben dem Namen des Kandidaten oder der Kandida-
tin eine Bildmarke abgedruckt werden. Hier würde
sich zum Beispiel das Foto des Wahlplakates eignen,
damit der Wiedererkennungseffekt am größten ist. Bei
der Zweitstimme sollte neben dem ausgeschriebenen
Namen der Partei das Parteilogo abgebildet sein.

Auch wenn aufgrund dieser Bild- und Wortbildmar-
ken der Wahlzettel etwas größer werden sollte, so ist
das in unseren Augen vertretbar; denn wir erleichtern
damit nicht nur den Menschen mit Lese-Rechtschreib-

Zu Protokoll gegebene Reden





Gabriele Fograscher


(A) (C)



(D)(B)


Schwäche den Wahlgang, sondern auch vielen älteren
Menschen.

Um diese Änderung für die nächste Bundestagswahl
in Kraft setzen zu können, schlage ich vor, dass sich die
Berichterstatter aller Fraktionen kurzfristig zu einem
Berichterstattergespräch treffen.

Mehr als 7,5 Millionen Menschen sollten es uns
wert sein, zügig eine Verbesserung für sie im Wahl-
recht zu diskutieren und zu beschließen.


Gabriele Molitor (FDP):
Rede ID: ID1722230200

Das Recht, zu wählen und gewählt zu werden, ist

Grundlage unserer Demokratie. Dieses Recht haben
selbstverständlich auch Menschen mit Behinderung.
Die deutsche Verfassung schützt dieses Recht durch die
Grundsätze der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl
in Art. 38 des Grundgesetzes. Grundsätzlich hat da-
nach jeder Bürger das Wahlrecht. Nur unter sehr en-
gen Voraussetzungen sind Einschränkungen möglich.

Diese Einschränkungen werden zurzeit heftig disku-
tiert. Denn spätestens seit Inkrafttreten der UN-Behin-
dertenrechtskonvention sind wir aufgerufen, Ungleich-
behandlungen abzubauen. Doch um was geht es bei
der Diskussion genau? Derzeit sind Menschen vom
Wahlrecht ausgeschlossen, denen infolge einer richter-
lichen Entscheidung ein Betreuer in allen Angelegen-
heiten zur Seite gestellt wurde, oder Menschen, die
schuldunfähig eine Straftat verübt haben und deshalb
in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht
sind. Nach herrschender juristischer Meinung beruhen
diese Regelungen auf der Überlegung: Wer wählt, soll
in vollem Umfang selbstständig handlungs- und ent-
scheidungsfähig sein.

Im vergangenen Jahr wurde in der öffentlichen
Debatte und aus den Reihen der Vereine und Verbände
behinderter Menschen verstärkt die Meinung laut, die
genannten Gründe für einen Wahlrechtsausschluss im
Bundeswahlgesetz seien als Diskriminierung von
Menschen mit Behinderung zu verstehen. Vor diesem
Hintergrund war es auch der FDP-Bundestagsfraktion
ein Anliegen, gemeinsam mit allen Fraktionen im
Deutschen Bundestag dieses wichtige und komplexe
Thema zu beraten. Anstatt aber gemeinsam an einer
Lösung zu arbeiten, bringen nun die Fraktionen der
Grünen und der SPD ihre Anträge ein. Dies ist bedau-
erlich, da so die Chance vertan wurde, ein gemeinsa-
mes Ergebnis zu erzielen.

Ich wünsche mir, dass wir präzise sind, wenn wir
über das Wahlrecht diskutieren. Lassen Sie mich ein
Beispiel nennen: Ein Mensch, der im Wachkoma liegt,
kann seinen Willen nicht bekunden. Ich frage Sie, wie
soll es dann möglich sein, dass er selbstbestimmt
wählt? Allein dieses Beispiel zeigt die Komplexität die-
ser Frage.

Ich denke, von einer Diskriminierung von Menschen
mit Behinderung kann hier jedenfalls nicht die Rede
sein, auch wenn das Deutsche Institut für Menschen-
rechte das gerne behauptet. Denn auch heute dürfen

Menschen zum Beispiel mit einer geistigen Behinde-
rung bereits wählen. In der Praxis führt diese Mög-
lichkeit aber auch zu Problemen. So sagte mir ein für
Wahlen zuständiger Verwaltungsmitarbeiter, dass ihn
nach dem Versand von Wahlbenachrichtigungen oft
Anrufe von Eltern erreichten, die sich wunderten, dass
ihr geistig behinderter Sohn oder ihre geistig behin-
derte Tochter zur Wahl zugelassen sei. Diese Eltern be-
zweifeln, dass ihre Kinder zu einer freien und eigen-
ständigen Willensbekundung in der Lage sind.

Die Fraktionen der Grünen und der SPD fordern
nun, alle Ausschlussgründe ersatzlos zu streichen.
Hier muss jedoch eine Abgrenzung erfolgen. So kann
bei schuldunfähigen und als allgemeingefährlich
eingestuften Tätern durchaus davon ausgegangen
werden, dass die nötige Einsichtsfähigkeit in die Be-
deutung der Wahl und in politische Zusammenhänge
fehlt. Bei Menschen, die aus Krankheitsgründen oder
aufgrund ihrer Behinderung in allen Lebensbereichen
Betreuung benötigen, liegt der Fall allerdings anders.

Diese Totalbetreuung wird äußerst selten angeord-
net und in jedem Einzelfall vom Vormundschaftsrich-
ter, auch im Hinblick auf den damit verbundenen
Verlust des Wahlrechts, abgewogen. Allerdings gibt es
hier Grauzonen. Nicht jeder Betroffene, der den
Charakter und die Bedeutung der Wahl nicht verstehen
kann, ist vom Wahlrecht ausgeschlossen. Andererseits
ist es möglich, dass in Einzelfällen Betroffene fähig
wären, zu wählen, die es aufgrund der Totalbetreuung
nicht dürfen. Der automatische Wahlrechtsausschluss
kann also zu Unausgewogenheit führen. Hier müssen
wir ansetzen und Lösungen erarbeiten.

Für die FDP-Bundestagsfraktion ist dabei klar:
Voraussetzung für eine freie Wahlentscheidung muss
die klare Willensbekundung sein. Nur so kann auch ei-
nem Missbrauch des Wahlrechts vorgebeugt werden.
Der richtige Ansatzpunkt für eine Reform liegt für uns
deshalb im Betreuungsrecht.

Hier muss dann auch klar geregelt werden, dass
nicht Betreuer, Angehörige und Mitarbeiter im Pflege-
heim die Wahlentscheidung treffen, sondern die wahl-
berechtigten Menschen. Dieses Einfallstor für Miss-
brauch muss geschlossen werden. Ausschlaggebend ist
beim Wahlrecht, seinen Willen frei zu bekunden. Den
Vorwurf, hier werde diskriminiert, halte ich für voll-
kommen unangebracht.

Mit der nötigen Sorgfalt sollten nun alle Fraktionen
im Deutschen Bundestag gemeinsam überlegen, wie
der Wahlrechtsausschluss bei Totalbetreuung besser
gestaltet werden kann. Die Ergebnisse der im Nationa-
len Aktionsplan angekündigten Studie zur aktiven und
passiven Beteiligung von Menschen mit Behinderun-
gen an Wahlen sollten abgewartet und ihre Hand-
lungsempfehlungen in die Diskussion mit einbezogen
werden.

Für die FDP-Bundestagsfraktion ist eine Politik der
Inklusion und politischen Teilhabe eine Selbstver-
ständlichkeit. Unser Ziel ist es, die Lebensbedingun-

Zu Protokoll gegebene Reden





Gabriele Molitor


(A) (C)



(D)(B)


gen behinderter Menschen weiter dauerhaft zu verbes-
sern. Menschen mit Behinderung in ihrer politischen
Teilhabe zu stärken und zu unterstützen, wie in Art. 29
der UN-Behindertenrechtskonvention gefordert, ist ein
wichtiges Ziel, dem wir uns auch über die Wahlrechts-
diskussion hinaus widmen.


Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1722230300

Das ist ein spannender Antrag von der SPD; denn

hier sagen Sie: Es gibt nicht nur einen Wahlrechtsaus-
schluss de jure, sondern auch de facto. Nicht nur per
Gesetz, nicht nur am Wahltag, sondern im politischen
Alltag überhaupt werden Bürgerinnen und Bürger be-
hindert. Sie können ihre Rechte nicht wirklich aus-
üben, weil sie nicht oder kaum lesen und schreiben
können. Das betrifft nicht nur den Wahlakt, sondern
alle politischen Prozesse.

Umso verwirrter war ich, als ich die Beschlussemp-
fehlung zur Änderung des Bundeswahlgesetzes aus
dem Innenausschuss las. Im allseits beliebten Omni-
busverfahren legte die Linke einen Änderungsantrag
zum fraktionsübergreifenden Antrag zur Änderung des
Wahlgesetzes vor. Wir forderten, die Abs. 2 und 3 des
§ 13 Bundeswahlgesetz zu streichen, wie die Grünen in
ihrem Gesetzentwurf vom Januar und die SPD in ihrem
heutigen Antrag.

Was aber geschah gestern im Innenausschuss? Un-
seren Änderungsantrag lehnten SPD und Grüne ge-
meinsam mit CDU/CSU und der FDP ab. Sieht so die
dringende „politische Neubewertung“ des Wahl-
rechtsausschlusses für Menschen unter sogenannter
Totalbetreuung aus, von der die SPD-Kollegin Frau
Fograscher in der Debatte am 31. Januar 2013
sprach? Geht es vielleicht nur um eine Bewertung und
nicht wirklich um eine gesetzliche Änderung – zumin-
dest nicht für die Bundestagswahl 2013?

Liest man den SPD-Antrag genauer, kann man zu
diesem Schluss kommen: Sie wissen, dass die Bundes-
regierung die für 2012 versprochene Studie zur aktiven
und passiven Wahlbeteiligung von Menschen mit Be-
hinderungen nicht mehr vor der Wahl vorlegen wird.
Entsprechend haben die SPD-Kollegen die Bundesre-
gierung in der Debatte am 31. Januar 2013 selbst zi-
tiert.

Sie wissen auch, dass die Bundesregierung keinen
Gesetzentwurf mehr vorlegen wird; auch das hat die
Regierung mehrfach deutlich ausgesprochen – und
das, obwohl die stellvertretende Fraktionsvorsitzende
von CDU/CSU, Ingrid Fischbach, am 26. Oktober
2012 während der Veranstaltung „Menschen mit Be-
hinderung im Deutschen Bundestag“ erklärte: Das
uneingeschränkte Wahlrecht „ist eine Stelle, wo Ver-
besserungen nötig sind, wenn wir Inklusion ernst mei-
nen“.

Die SPD fordert nun einen Gesetzentwurf zur Er-
leichterung der Stimmabgabe und ein Konzept für
Kampagnen zur Information und Teilnahme an Wahlen
von eben dieser Regierung, und sie fordert, „bis Mitte

2013 über das Veranlasste zu berichten“. Aber Sie wis-
sen schon heute: Kurz vor der Sommerpause bedeutet,
dass bis zur Wahl nichts mehr passiert.

Selbstverständlich: Die Linke unterstützt den An-
trag der SPD ebenso wie den Gesetzentwurf der Grü-
nen zum Wahlrecht für Menschen mit Behinderung.
Umso weniger akzeptiere ich, dass Sie von SPD und
Grünen gestern im Innenausschuss gegen Ihre eigenen
Forderungen stimmten, nur weil sie von den Linken
eingebracht wurden. Für mich ist das Heuchelei!

Lassen wir die Moral beiseite! Mit dem Wahlrecht
darf man nicht spielen. Es ist das vornehmste und all-
gemeinste Recht der bürgerlichen Gesellschaft. Jede
Behinderung an der Wahl, ob gesetzlich oder prak-
tisch, berührt das politische Selbstverständnis unseres
Staates. Es geht um die einfache Frage, ob alle einzeln
an der Wahl teilnehmen können oder nicht. Deshalb
beschädigt derjenige die Hoheit dieses Rechtes, der, je
nach Interessenlage, an einem Tage beantragt, das
Recht zu ändern, und am nächsten Tage diesen Antrag
verwirft.

Politische Halbheiten beschädigen die Demokratie
nicht weniger als Geheimbeschlüsse. Halbherzig ist
auch, wie der vorliegende Antrag Wahlerleichterun-
gen für Menschen, die kaum lesen und schreiben kön-
nen, einfordert. Das Problem beginnt doch schon mit
der Wahlbenachrichtigung, und die Möglichkeit, Hilfe
in der Wahlkabine anzunehmen, besteht auch für diese
Menschen schon jetzt.

In der Wahlausübung behindert sind auch andere
Menschen. Doch sagt der Antrag nichts über barriere-
freie Wahllokale oder zur Checkliste des Bundeskom-
petenzzentrums Barrierefreiheit anlässlich der Land-
tagswahl in Niedersachsen. Dort sind konkrete
Kriterien für barrierefreie Wahlabläufe entwickelt
worden. Es wäre sicher schnell zu prüfen, ob und wie
diese Checkliste bundesweit zu verallgemeinern wäre.

Auch hinsichtlich des Wahlrechtes gilt für die Linke:
Wir brauchen den klaren politischen Willen zur Umset-
zung der UN-Behindertenrechtskonvention, Selbstbe-
stimmung und die volle politische Teilhabe von Men-
schen mit Behinderung.


Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722230400

Das Recht, zu wählen und gewählt zu werden, ist ein

politisches Grundrecht. Wenn es um das Wahlrecht von
Menschen mit Unterstützungsbedarf geht, muss also
die Frage im Mittelpunkt stehen, wie die notwendige
Unterstützung realisiert werden und wie im Zuge die-
ser Unterstützung möglicher Missbrauch verhindert
werden kann.

In der Bundeswahlordnung und im Bundeswahlge-
setz ist aus diesem Grund die Möglichkeit zur Unter-
stützung für Menschen mit einer körperlichen Beein-
trächtigung und für Menschen, die nicht lesen können,
bereits vorgesehen. Auch in der Europawahlordnung
ist dies der Fall. Das Bundeswahlgesetz und das Euro-
pawahlgesetz machen aber auch Vorgaben, die

Zu Protokoll gegebene Reden





Markus Kurth


(A) (C)



(D)(B)


bestimmte Personengruppen vom Wahlrecht ausschlie-
ßen. Darüber wurde hier bereits hinlänglich gespro-
chen. Als Begründung für diesen Ausschluss wird fast
immer angeführt, diesen Personengruppen fehle die
Fähigkeit zur Wahl.

Es wurde bereits vor drei Wochen in der Debatte um
den Gesetzentwurf meiner Fraktion darauf hingewie-
sen, dass beim Wahlrechtsausschluss, so wie er gegen-
wärtig gesetzlich normiert ist, die individuelle Fähig-
keit zur Wahl überhaupt nicht geprüft wird. Ich halte
eine Wahlfähigkeitsprüfung auch für eine denkbar
schlechte Lösung. Welche objektiven Kriterien sind ge-
eignet, zu bestimmen, ob eine Person in der Lage ist,
eine Wahl zu treffen? Welche Personengruppen sollen
sich einer solchen Wahlfähigkeitsprüfung unterzie-
hen? Wer kann diese Prüfungen durchführen? Abgese-
hen davon, dass wir auf diese Fragen keine befriedi-
genden Antworten finden werden, sind das auch nicht
die Fragen, mit denen ich mich beschäftigen möchte.

Ganz im Gegenteil: Ich möchte die Vorkehrungen,
die wir in Bundeswahlordnung, Bundeswahlgesetz und
Europawahlgesetz bereits getroffen haben, so aus-
bauen, dass auch Menschen mit erhöhtem Unterstüt-
zungsbedarf ihre Wahl treffen können, wenn sie dies
möchten. Und ich möchte darüber sprechen, wie wir
die Gefahr des Missbrauchs, die ja beispielsweise
auch im Zusammenhang mit der Briefwahl besteht,
eindämmen. Es stünde uns gut zu Gesicht, den Fokus
darauf zu legen, wie wir Bürgerinnen und Bürger bes-
ser unterstützen können, anstatt zu debattieren, welche
Begründungen und Mechanismen wir finden können,
um Menschen von der Wahl auszuschließen.

Ganz anders sieht das offenbar der Kollege Krings.
Wie ich heute in einigen Zeitungen lesen durfte, scheint
ihm nicht plausibel, dass „ein Mensch, der nicht mal
selbstständig eine Zeitung kaufen kann, eine Wahlent-
scheidung treffen soll“. Viel weniger plausibel scheint
mir, wie jemand sich guten Gewissens Volksvertreter
nennen kann, der einen derart lapidaren Umgang mit
den politischen Grundrechten der Bürgerinnen und
Bürger pflegt. Ist Dr. Günter Krings der Ansicht, dass
der ältere Herr, der nicht mehrmals am Tag die Trep-
pen zu seiner Wohnung steigen kann und sich deswe-
gen von seiner Nachbarin die Zeitung mitbringen
lässt, keine Wahlentscheidung treffen sollte? Vermut-
lich nicht. Dass er sich ernsthaft mit den bereits beste-
henden Möglichkeiten zur Unterstützung bei der Wahl
auseinandergesetzt hat, ist aber nicht zu vermuten.
Warum er sich trotzdem bemüßigt fühlt, die Welt mit
Aussagen zu beglücken, die einen Schritt hinter beste-
hende Regelungen zurückfallen, bleibt sein Geheimnis.

Bürgerinnen und Bürger, die wählen dürfen, geben
ihre Stimme einer oder mehreren politischen Parteien.
Einige machen ihren Stimmzettel bewusst ungültig, ei-
nige wählen gar nicht. Menschen, die wählen dürfen,
wählen nach eigenen Maßstäben vernünftig oder un-
vernünftig. Sich für eine dieser Möglichkeiten zu ent-
scheiden, ist das gute Recht aller wahlberechtigter
Bürgerinnen und Bürger. Es gibt keinen nachvollzieh-

baren Grund, warum Menschen mit Unterstützungsbe-
darf dieses Recht entzogen wird.

Ich freue mich, dass die SPD der Initiative meiner
Fraktion nun mit einem eigenen Antrag gefolgt ist und
offenbar auch unsere Problemeinschätzung teilt. Wel-
cher Weg der beste ist, müssen wir nun im parlamenta-
rischen Prozess klären. Meine Fraktion möchte zu die-
ser Frage eine öffentliche Anhörung durchführen, und
ich hoffe, Sie sehen dem Gespräch mit Sachverständi-
gen mit ebenso großem Interesse entgegen wie ich.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1722230500

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/12380 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit ein-
verstanden? – Dann ist das so beschlossen.

Tagesordnungspunkt 24:

Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur In-
tensivierung des Einsatzes von Videokon-
ferenztechnik in gerichtlichen und staatsan-
waltschaftlichen Verfahren

– Drucksache 17/1224 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses (6. Ausschuss)


– Drucksache 17/12418 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Patrick Sensburg
Sonja Steffen
Jörg van Essen
Jens Petermann
Jerzy Montag

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.


Dr. Patrick Sensburg (CDU):
Rede ID: ID1722230600

Fast zwei Jahre sind seit dem 17. März 2011 ver-

gangen, dem Tag, an dem wir hier in erster Lesung
über den Gesetzentwurf zur Intensivierung des Einsat-
zes von Videokonferenztechnik in gerichtlichen und
staatsanwaltschaftlichen Verfahren debattierten, zwei
Jahre, in denen wir diesen Gesetzentwurf noch verbes-
sern und mit vielen beteiligten Kreisen diskutieren
konnten. Die Zeit ist nun aber reif, diesen Prozess ab-
zuschließen und damit endlich einen guten Beitrag zur
Entlastung unserer Gerichte leisten zu können.

Das Gesetz zur Intensivierung des Einsatzes von
Videokonferenztechnik in gerichtlichen und staats-
anwaltschaftlichen Verfahren schafft die Möglichkeit,
die moderne Technik der Videokonferenz in Gerichts-
verfahren und bei staatsanwaltschaftlichen Ermittlun-
gen anzuwenden. Dies kann dann erfolgen, wenn die
persönliche Anwesenheit von Parteien, Rechtsanwäl-
ten, Zeugen oder Sachverständigen in bestimmten Fäl-
len als nicht notwendig zu erachten ist. Der Grundsatz,
dass alle Beteiligten persönlich anwesend sein müs-





Dr. Patrick Sensburg


(A) (C)



(D)(B)


sen, wird insofern durchbrochen, aber natürlich nicht
ausgeschlossen. Die persönliche Anwesenheit wird
durch die Zuschaltung mittels Videokonferenztechnik
ersetzt. Die Zuschaltung erfolgt in der Weise, dass der
Verfahrensbeteiligte an einem anderen Ort ist, aber
per Bild- und Tonübertragung im Gerichtssaal simul-
tan zu hören und zu sehen ist.

Mit den neuen Regelungen des Gesetzes zur Intensi-
vierung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in
gerichtlichen und staatsanwaltschaftlichen Verfahren
können insbesondere Anwälten, Sachverständigen und
Zeugen, die ihren Wohnsitz außerhalb des betreffenden
Gerichtsortes haben, Anreise, Zeit und Geld erspart
werden. An die Stelle der persönlichen Anwesenheit
tritt nun die Vernehmung oder Befragung „an einem
geeigneten Ort“.

Durch das Gesetz wird die Zuschaltung von Teilneh-
mern in der Zivilgerichtsbarkeit, in der Sozialgerichts-
barkeit, in der Verwaltungs- und Arbeitsgerichts-
barkeit, in der Insolvenzgerichtsbarkeit sowie in der
freiwilligen Gerichtsbarkeit möglich. Gleiches gilt
auch für an Gerichtsverfahren teilnehmende Sachver-
ständige sowie hinzugezogene Dolmetscher.

Die von mancher Seite geäußerte Sorge, dass in
Verfahren, in denen es auf die Einvernahme von Zeu-
gen, Sachverständigen oder sonstigen Beteiligten an-
kommt, in Zukunft nur noch Videoeinspielungen erfol-
gen werden, ist vollkommen unbegründet. Natürlich
wird die Vernehmung oder Befragung mittels Video-
konferenz nur dann erfolgen, wenn dies nach einer an-
gemessenen Abwägung der widerstreitenden Interes-
sen möglich ist. Die Anordnung oder Ablehnung der
Anwendung der Videokonferenztechnik steht im Er-
messen des Gerichts. Das Gericht wird hierbei pflicht-
gemäß abwägen und die Anwendung der Videokonfe-
renztechnik nur da anordnen, wo ein persönlicher
Eindruck abdingbar ist.

Nach der ersten Lesung im März 2011 waren insbe-
sondere noch zwei Punkte zu klären.

Erstens war klarzustellen, dass eine Verordnungs-
ermächtigung für die Länder geschaffen wird. An der
Ausgestaltung musste aber noch gearbeitet werden. In
Art. 9 des ersten Änderungsvorschlages wurde eine
Länderöffnungsklausel geschaffen, die aber den Zu-
satz enthielt: „Die Ermächtigung kann nur einheitlich
erfolgen.“ Dies hätte, so hat die Sachverständigenan-
hörung am 14. Januar 2013 ergeben, zu Missverständ-
nissen führen können. Die Einheitlichkeit hätte so ver-
standen werden können, dass eine Anwendung der
Videokonferenztechnik nur dann als möglich erachtet
worden wäre, wenn alle Gerichtszweige an allen Ge-
richten bereits entsprechend technisch ausgerüstet
sind. Dieses Verständnis hätte natürlich zu einer deut-
lichen Verzögerung der Nutzbarmachung der Video-
konferenztechnik geführt.

Die Formulierung der Länderöffnungsklausel war
daher zu überarbeiten, zudem war die Begründung zu
erweitern. Dies geschah in dem nun vorliegenden Än-

derungsantrag. Der entsprechende Satz wurde aus
Art. 9 gestrichen. Es ist nun klargestellt, dass die Län-
der bei Gerichtsbarkeiten, in denen Videokonferenz-
technik noch nicht ausreichend zur Verfügung steht,
die gerichtliche Anordnung einer Videokonferenz aus-
schließen können. Wenn in einem Land eine Gerichts-
barkeit vollständig ausgestattet ist, so kann diese Ge-
richtsbarkeit die Videokonferenz nutzen.

Dies hat aber keine Auswirkung auf die anderen Ge-
richtsbarkeiten des jeweiligen Landes. Ein Land muss
somit nicht als Ganzes in allen Gerichtsbarkeiten die
Videokonferenz einführen. Die Gerichtsbarkeit im
Land, die technisch ausgestattet ist, kann für sich al-
leine Videokonferenztechnik nutzen. Dies führt dazu,
dass der Einsatz der Videokonferenz in der Gerichts-
barkeit eines Landes sofort möglich wird, wenn die
technische Ausstattung vorhanden ist, ohne dass zuge-
wartet werden muss, bis alle Gerichtszweige des Lan-
des ausgestattet sind. Der insofern gleichlautende Än-
derungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
ist mithin obsolet geworden.

Zweitens wollten wir regeln, dass bezüglich der
Zeugenvernehmung im Zivilprozess gewährleistet ist,
dass diese auch außerhalb eines Gerichtsgebäudes
stattfinden kann. Auch hier steht natürlich fest, dass
die grundsätzliche Entscheidung zur Anordnung der
Vernehmung mittels Videokonferenztechnik im Ermes-
sen des Gerichts steht. Die Formulierung des ersten
Änderungsvorschlages enthielt in § 128 a ZPO-E eine
entsprechende Regelung, nach der das Gericht den
Parteien, ihren Bevollmächtigten und Beiständen auf
Antrag oder von Amts wegen gestatten kann, sich wäh-
rend einer mündlichen Verhandlung an einem anderen
Ort aufzuhalten und dort Verfahrenshandlungen vor-
zunehmen.

Allerdings galt diese Regelung der Gestattung von
Amts wegen nur für die Zivilgerichtsbarkeit. Wie sich in
der Sachverständigenanhörung vom 14. Januar 2013
zeigte, war dies nicht ausreichend. Die Möglichkeit
der Gestattung von Amts wegen sollte auch in allen an-
deren Gerichtsbarkeiten bestehen.

Im nun vorliegenden Änderungsantrag wurde die in
§ 128 a ZPO-E normierte Möglichkeit der Gestattung
von Amts wegen deshalb jetzt auf alle Gerichtsbarkei-
ten übertragen.

Es bleibt somit festzuhalten: Durch den Einsatz der
Videokonferenztechnik, insbesondere durch die Mög-
lichkeit der Vernehmung von Zeugen außerhalb der
Hauptverhandlung mittels Videokonferenz, wird das
gerichtliche und das staatsanwaltschaftliche Verfah-
ren verbessert und beschleunigt.

Zeugen und sonstige Beteiligte müssen nicht mehr
weite Wege zum Ort der Hauptverhandlung in Kauf
nehmen. So wird eine erhebliche Beschleunigung der
Verfahren erreicht. Gleichzeitig wird aber der hohe
Qualitätsstandard beibehalten, da alle Beteiligten ori-
ginär zuständig für das Verfahren sind – es bedarf

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Patrick Sensburg


(A) (C)



(D)(B)


nicht mehr der Beauftragung oder Ersuchung von an-
deren Gerichten.

In den vielen Verfahren, in denen vornehmlich Poli-
zisten als Zeugen vernommen werden – insbesondere
in Ordnungswidrigkeitenverfahren –, wird noch eine
zusätzliche Entlastung erreicht. Konnten die Polizisten
bisher während ihrer Anwesenheit in den Verhandlun-
gen ihren Dienst nicht ausüben, wird dies nun nur noch
in einem sehr engen zeitlichen Rahmen der Fall sein.
Die Vernehmung kann zum Beispiel auf der Polizei-
dienststelle erfolgen. Dies spart Zeit und Kosten und
führt bei pflichtgemäßen Ermessensentscheidungen
der Gerichte nicht zu einem Qualitätsverlust.

Dagegen werden Dolmetscher sicher immer nur
dann mittels Videokonferenz zugeschaltet werden,
wenn dies unerlässlich ist. Insofern werden die Ge-
richte ihr Ermessen fehlerfrei ausüben.

Schließlich werden Gerichte hinsichtlich gestellter
Beweisanträge in Zukunft häufiger stattgebende Be-
schlüsse fällen. Sollte nämlich sonst bei der Abwägung
der Erforderlichkeit eines Beweismittels auf den Auf-
wand der Beibringung des Beweismittels rekurriert
worden sein, so kann hier nun immer auf das mildere
Mittel – die Zuschaltung per Videokonferenztechnik –
zurückgegriffen werden.

Der technologische Fortschritt, den wir uns zunutze
machen, führt mithin nur zu einer Beschleunigung ge-
richtlicher und staatsanwaltschaftlicher Verfahren;
nicht aber zu einem Qualitätsverlust.

Durch die erfolgte Feinjustierung des Gesetzent-
wurfes liegt nun ein vollständig ausgewogener Gesetz-
entwurf vor, der hoffentlich bald Rechtswirklichkeit
wird.


Sonja Steffen (SPD):
Rede ID: ID1722230700

Die Erweiterung der Nutzung von Videokonferenz-

technik in gerichtlichen Verfahren ist grundsätzlich
eine gute Sache. Ein Beispiel: Wenn ein Zeuge eines
Verkehrsunfalls für eine kurze Aussage von wenigen
Minuten aus Bayern nach Schleswig-Holstein anreisen
muss, kann hier der Einsatz von Videokonferenztechnik
durchaus zu einer Einsparung von Reisekosten und
auch zur Beschleunigung von Gerichtsverfahren füh-
ren. Außerdem stellt er für die Betroffenen eine erheb-
liche Entlastung dar.

Darüber hinaus ist der Einsatz sinnvoll, wenn ohne
die Videokonferenztechnik die Gefahr eines Beweis-
mittelverlustes besteht. Für Beschuldigte kann es eine
Erweiterung des persönlichen Gehörs bedeuten, bei-
spielsweise durch die Anwendung beim Haftprüfungs-
termin, der aktuell ohne die Anwesenheit des Beschul-
digten stattfinden würde.

Schon bislang ist in vielen Bereichen die Nutzung
von Videokonferenztechnik möglich, jedoch ist hierzu
das Einverständnis aller Verfahrensbeteiligten nötig.
Dies soll nun geändert werden; künftig soll in allen
Bereichen allein das Gericht entscheiden können.

Nach dem im Ausschuss gestellten Änderungsantrag
der Regierungskoalition soll dies nicht nur auf Antrag,
sondern auch von Amts wegen möglich sein.

Problematisch ist aus meiner Sicht der Einsatz von
Videokonferenztechnik bei Dolmetschern und Sachver-
ständigen. Hier wäre das Einverständnis aller Betei-
ligten als Voraussetzung sinnvoll gewesen. Die persön-
liche Anwesenheit ist beispielsweise bei der Begut-
achtung eines Angeklagten oder, im Falle des Dolmet-
schers, für die Übersetzung bei vertraulichen Gesprä-
chen mit dem Rechtsbeistand besonders wichtig. Die
Herbeiholung eines Dolmetschers an den Ort der Pro-
zesshandlung ist in der Regel nicht problematisch. Ich
hoffe daher, dass die Gerichte sehr sorgfältig mit die-
ser neuen Möglichkeit umgehen werden, sodass die
Anwendung der Videokonferenztechnik in diesen Fäl-
len in der Praxis letztlich keine große Rolle spielen
wird.

Nach dem Gesetzentwurf des Bundesrates sollte die
Aufzeichnung der Videokonferenz möglich sein. Der
Änderungsantrag der Regierungskoalition lehnt dies
komplett ab, während die Grünen die obligatorische
Aufzeichnung fordern. Begründet wird die Aufzeich-
nungsmöglichkeit damit, dass die nicht anwesende
Person keinen ausreichenden Einfluss auf die Nieder-
schrift und den Inhalt der Ausführungen habe. Auch
wenn sicherlich die Aufzeichnung die genauste Über-
prüfung zulässt, so gilt dies doch auch bei allen ande-
ren Gerichtsverhandlungen. Hier hat sich jedoch auf-
grund der ausführlichen Protokollierung noch kein
Bedarf an Aufzeichnungen ergeben. Ich gehe daher
davon aus, dass dies auch bei der Videokonferenz der
Fall sein wird und daher auch dort keine Aufzeichnung
nötig ist.

Die Nutzung der Videokonferenztechnik soll nach
den Vorgaben des Bundesrates von der Zulassung
durch Rechtsverordnungen der Länder abhängig ge-
macht werden. Die Regierungskoalition lehnt dies mei-
ner Ansicht nach zu Recht ab, da dieses Nutzungsver-
bot mit Zulassungsvorbehalt zu der heutigen Rechts-
lage, in der die Anwendung bereits generell zulässig
ist, einen Rückschritt darstellen kann.

Nach dem Änderungsantrag der Koalitionsfraktio-
nen haben aber die Länder in den einzelnen Gerichts-
barkeiten bis Ende 2017 Zeit, die technischen Voraus-
setzungen zu schaffen. Diese Änderung halten wir für
praktikabel, um die zügige Umsetzung des Gesetzes zu
ermöglichen. Denn nur dann, wenn bundesweit die
Technik eingerichtet ist, kann sie effektiv angewendet
werden.

Wir von der SPD-Fraktion halten den Gesetzent-
wurf in der von der Regierungskoalition geänderten
Version für tragbar und werden ihm daher zustimmen.


Jörg van Essen (FDP):
Rede ID: ID1722230800

Der Einsatz von Videokonferenztechnik hat sich in

der gerichtlichen und staatsanwaltlichen Praxis bisher
noch nicht entscheidend durchgesetzt. Dabei liegen die

Zu Protokoll gegebene Reden





Jörg van Essen


(A) (C)



(D)(B)


Vorteile der Nutzung dieser Technik klar auf der Hand:
Videokonferenztechnik führt in vielen Verfahren zu ei-
nem geringeren zeitlichen und finanziellen Aufwand
für alle Beteiligten und das Gericht. Rechtsanwälte und
andere Beteiligte haben weniger Reisetätigkeit und
weniger Aufwand, um an gerichtlichen Terminen teilzu-
nehmen. Dies erleichtert die Terminierung von münd-
lichen Verhandlungen und Erörterungsterminen und
trägt zu einer Verfahrensbeschleunigung und zu einer
Erhöhung der Wirtschaftlichkeit bei.

Hinderungsgründe für den Einsatz von Videokon-
ferenztechnik sind die nicht vorhandene technische
Ausstattung der Gerichte, Justizbehörden und Rechts-
anwaltskanzleien sowie die Anknüpfung der Verfahrens-
ordnungen an das Einverständnis der Beteiligten zum
Einsatz der Technik.

Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wollen wir die
vorhandenen Hürden für den Einsatz von Videokonferenz-
technik abbauen und die Anwendung der Technik in
der Praxis befördern. Nicht nur die Finanzgerichts-
barkeit, sondern auch die Zivilgerichte, Arbeitsge-
richte, die Sozialgerichtsbarkeit, Verwaltungsgerichte,
Insolvenzgerichte und die FGG sollen auf Antrag oder
von Amts wegen nach pflichtgemäßem Ermessen den
Einsatz von Videokonferenztechnik gestatten können.
Die Entscheidungen darüber sind grundsätzlich unan-
fechtbar.

In strafgerichtlichen Verfahren und Ermittlungs-
verfahren ist der Einsatz von Videokonferenztechnik
jedoch nicht in jedem Fall angezeigt. Wenn es für die
Wahrheitsfindung auch auf den unmittelbaren persön-
lichen Eindruck des Vernehmenden von der Person des
Vernommenen ankommt – und dies ist zum Beispiel re-
gelmäßig im strafgerichtlichen Erkenntnisverfahren
der Fall –, darf Videokonferenztechnik grundsätzlich
nicht zum Einsatz kommen. Auch im Bereich der Straf-
vollstreckung, zum Beispiel im Rahmen der Anhörung
des Verurteilten bei Widerruf einer Aussetzung der
Strafvollstreckung zur Bewährung oder bei Verhän-
gung einer vorbehaltenen Geldstrafe, kommt es auf
den höchstpersönlichen Eindruck des Verurteilten an.
Dieser kann schwerlich durch eine Videokonferenz er-
setzt werden.

Das vom Bundesrat vorgesehene gesetzliche Verbot
der gerichtlichen Videokonferenz mit Zulassungsvor-
behalt haben wir gestrichen; denn dieses fördert den
Einsatz der modernen Technik nicht ausreichend und
ist mit bestehendem Europarecht nicht vereinbar. Die
Small-Claims-Verordnung und die Europäische Beweis-
aufnahmeverordnung sehen den Einsatz der Videokon-
ferenztechnik nämlich bereits vor.

Um den Ländern größtmögliche Flexibilität zu er-
möglichen, können diese das Inkrafttreten einzelner
Regelungen bis zum 31. Dezember 2017 zurückstellen,
um die technischen Voraussetzungen für die einzelnen
Gerichtszweige schaffen zu können.

Der Gesetzentwurf ist ein weiterer Meilenstein in
Richtung einer modernen und wirtschaftlichen Justiz.


Jens Petermann (Plos):
Rede ID: ID1722230900

Zu dem Gesetzentwurf des Bundesrates zum intensi-

ven Einsatz von Videokonferenztechnik haben wir im
Rechtsausschuss ein erweitertes Berichterstatterge-
spräch und kürzlich eine öffentliche Anhörung durch-
geführt. Außerdem lagen dazu in der Ausschussbera-
tung ein Änderungsantrag der Regierungsfraktionen
und einer der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.

Die in der ersten Lesung geäußerte Kritik an dem
Gesetzentwurf halte ich weiter aufrecht, da der Ände-
rungsantrag der Koalition allenfalls die beiden
verheerendsten Auswirkungen des Gesetzentwurfes
zurücknimmt. Leider hat die intensive Beratung der
Gesetzesinitiative in der öffentlichen Anhörung – ins-
besondere die zum Teil erhebliche Kritik der sachver-
ständigen Koryphäen stieß bei der Koalition auf taube
Ohren – nicht zu einem Umdenken bei der Koalition
geführt.

Die Verfasser des Entwurfs preisen die Vorteile des
vermehrten Einsatzes von Videokonferenztechnik an.
Die Videokonferenztechnik kann in geeigneten Fällen
eine sinnvolle Option zur zügigeren Durchführung von
Gerichts- und Ermittlungsverfahren sein. Durch den
Einsatz von Videokonferenztechnik sollen die Verneh-
mung von Zeugen im Ermittlungsverfahren, die
Vernehmung von Sachverständigen im Hauptsachever-
fahren, die Anwesenheit eines Dolmetschers im Ermitt-
lungsverfahren und in der Hauptverhandlung und die
obligatorische Anhörung von Verurteilten bei Ent-
scheidungen über die Strafaussetzung zur Bewährung
ersetzt werden. Es muss gewährleistet sein, dass der
Gebrauch der neuen Technik vor allem Verfahren vor-
behalten ist, die ohne deren Einsatz nicht oder nur mit
ganz erheblicher Verzögerung durchgeführt werden
können. Die Videokonferenztechnik ist – verglichen mit
der persönlichen Anwesenheit im Gericht – mit
Nachteilen verbunden. Diese möchte in nun noch ein-
mal beleuchten:

Durch den Einsatz von Videokonferenztechnik kann
der in allen Prozessrechten geltende Unmittelbarkeits-
grundsatz der Verhandlung unterlaufen werden. Des-
halb darf die Videokonferenztechnik nur eingesetzt
werden, wenn ein hohes Maß an unmittelbarer Kom-
munikation verzichtbar oder wegen unüberwindbarer

(zum Beispiel Zeugenschutz, Sicherheitsmängel oder gegebenenfalls erhebliche Verzögerungen)

umfassender und persönlicher Eindruck des Richters
erforderlich. Bei Bild-Ton-Übertragungen gehen Fein-
heiten in der Betonung, Mimik und Gestik verloren.
Darüber hinaus sind äußere Einflüsse auf die per
Konferenztechnik zugeschaltete Person nicht ohne
Weiteres für den Richter erkennbar. Auch das Aussage-
verhalten ändert sich durch eine vom Gerichtssaal und
von der Gerichtsöffentlichkeit räumlich abgetrennte
Aussagesituation. All das ist dem persönlichen
Eindruck der Richter und auch der Wahrheitsfindung
abträglich.

Zu Protokoll gegebene Reden





Jens Petermann


(A) (C)



(D)(B)


Auch die persönliche Abwesenheit eines Dolmet-
schers — die persönliche Anwesenheit soll durch
Zuschaltung ersetzt werde — ist für die Rechtsverteidi-
gung eines der deutschen Sprache nicht mächtigen Be-
schuldigten abträglich. Hier ist zum einen kein Raum
für vertrauliche Gespräche mit dem Verteidiger, zum
anderen ist eine simultane Übersetzung durch einen
nicht persönlich anwesenden Dolmetscher schwierig.
Häufig kommt es in einer solchen Verhandlung auf je-
des gesprochene Wort an. Die möglichen Fehler gehen
alle zulasten des Beschuldigten. Das ist nicht hin-
nehmbar. Vor diesem Hintergrund muss der Gesetzent-
wurf zwingend festschreiben, wann der Einsatz von Vi-
deokonferenztechnik regelmäßig ausscheidet, und
erhebliche Anforderungsschwellen einführen, die ein
faires und auf Wahrheitsfindung ausgerichtetes Ver-
fahren garantieren. Eine solche Regelung sucht man
hier allerdings vergeblich.

Daneben hängt das Maß der Beeinträchtigung auch
sehr von der Qualität der Bild-Ton-Übertragung ab.
Hier fehlen einheitliche Qualitätsstandards.

Der Gesetzentwurf vermag es nicht, beim Einsatz
von Videokonferenztechnik die Prinzipien eines fairen
Verfahrens gemäß Art. 6 EMRK, das rechtliche Gehör
gemäß Art. 103 Abs. 1 GG und den Justizgewährleis-
tungsanspruch nach Art. 19 Abs. 4 GG willkürfrei
nach Art. 3 Abs. 1 GG zu gewährleisten.

Auch die Bundesregierung kritisiert in ihrer Stel-
lungnahme die Durchbrechung des Unmittelbarkeits-
grundsatzes mit Verweis auf die Bedeutung des persön-
lichen Eindrucks von Beschuldigten und Zeugen. Sie
gibt sich jedoch damit zufrieden, dass die Anwendung
der Videokonferenztechnik nicht gesetzlich vorge-
schrieben, sondern in das Ermessen des Gerichts
gestellt werden soll. Das reicht aber nicht aus. Der
Gesetzgeber selbst muss die Grundrechte und Verfah-
rensgrundsätze absichern und darf diese Aufgabe
gerade nicht auf die dritte Gewalt abwälzen.

Der Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen
streicht glücklicherweise die beiden für den Unmittel-
barkeits- und Mündlichkeitsgrundsatz verheerendsten
Änderungen. Bei Entscheidungen über einen Bewäh-
rungswiderruf und eine Reststrafenaussetzung ist nun
kein Einsatz von Videokonferenztechnik mehr vorgese-
hen.

Auch die Kollegen der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen haben dazu einen Änderungsantrag einge-
bracht. Dieser sieht zwar erfreulicherweise vor, dass
der Einsatz von Videokonferenztechnik die persönliche
Anwesenheit eines Dolmetschers nur mit ausdrückli-
cher Zustimmung aller Beteiligten ersetzen darf, und
schreibt eine Aufzeichnung der Übertragung fest, geht
aber im Hinblick auf die Verordnungsermächtigung
der Länder nicht weit genug. Beide Änderungsanträge
sehen vor, dass die Länder per Verordnung den Beginn
der Anwendung von Videokonferenztechnik im vorge-
sehenen Umfang bis 2017 hinauszögern können. Da-

mit ist die Entstehung eines regionalen Flickentep-
pichs vorprogrammiert.

Wir können einem verstärkten Einsatz von Video-
konferenztechnik nur zustimmen, wenn die Rechte der
Prozessbeteiligten nicht abgewertet werden. Da dieser
Gesetzentwurf diesem Anspruch nicht gerecht wird,
müssen wir ihn ablehnen.


Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722231000

Die Ton- und Bildübertragung ist in den letzten

Jahren technisch einfacher und qualitativ besser ge-
worden. Sie hat sich zu einer realen und praktischen
Möglichkeit entwickelt, Personen, die sich an einem
anderen Ort befinden, zu einem Verfahren hinzuzu-
schalten.

Zweifelsohne birgt die Videokonferenztechnik auch
für die Justiz große Chancen, denen wir uns als Ge-
setzgeber nicht verschließen dürfen, wenn wir die
rechtlichen Voraussetzungen für eine gut ausgestat-
tete, moderne Justiz verbessern. Wir stehen hier auch
nicht völlig am Anfang. Zum Schutz vorrangiger
Opferinteressen können Bild- und Tontechniken in
Hauptverhandlungen bereits seit Jahren verwendet,
seit 2002 darf mit Zustimmung aller Beteiligten die
Videokonferenztechnik auch im Zivilprozess eingesetzt
werden.

Gerichtsverfahren können durch den Einsatz von
Videokonferenztechnik insgesamt kostengünstiger und
zügiger durchgeführt werden, und zugeschalteten
Verfahrensbeteiligten können beschwerliche und zeit-
intensive Anreisen erspart werden. Dort, wo bisher
eine Anhörung – beispielsweise des Inhaftierten –
nicht zwingend vorgesehen war, kann dem Anspruch
auf rechtliches Gehör Geltung verliehen werden. All
dies sind Vorteile der Videokonferenztechnik – und in
diesen Zielen unterstützen wir den Gesetzentwurf des
Bundesrates.

Jedoch kann der Einsatz der modernen Technik kein
Selbstzweck sein; und ökonomische Erwägungen
dürfen nicht allein bestimmend werden. Die Prinzipien
der Mündlichkeit, der Öffentlichkeit, der Unmittel-
barkeit und des rechtlichen Gehörs sind verfassungs-
rechtlich verankerte, wichtige Bausteine unserer
Prozessordnungen. Sie sind Ausdruck des Rechts-
staatsprinzips und dürfen einem zweifelhaften
Effektivitätsstreben nicht zum Opfer fallen. Es muss
sichergestellt werden, dass der Einsatz der Videokon-
ferenztechnik der Entfaltung der Rechte der am
Verfahren beteiligten Personen dient und nicht ihrer
Einschränkung. Und genau hier weist der Gesetzent-
wurf des Bundesrates auch nach der Einbringung ei-
nes Änderungsantrages durch die Koalitionsfraktio-
nen erhebliche Mängel auf.

Die vorgesehene Zuschaltung von Dolmetschern
auch ohne Zustimmung aller Verfahrensbeteiligten ist
ein solcher Mangel. Mehrere Sachverständige haben
dies in der Anhörung des Rechtsausschusses bestätigt.
Die Übertragung einer Fremdsprache in die Gerichts-

Zu Protokoll gegebene Reden





Jerzy Montag


(A) (C)



(D)(B)


sprache ist vor dem Hintergrund des Wahrheitsermitt-
lungsgrundsatzes des Strafverfahrens, aber auch in
anderen gerichtlichen Verfahren bereits im normalen
Verfahrensgang immer fehlerbehaftet. Nicht selten
kommt es in der mündlichen Verhandlung selbst bei
physischer Anwesenheit des Dolmetschers zu Missver-
ständnissen, die erst durch weitere Nachfragen geklärt
werden können. Wird die Dolmetscherin oder der Dol-
metscher nunmehr mittels Videokonferenztechnik in
den Sitzungssaal zugeschaltet, wird die Gefahr solcher
Fehlerquellen noch erhöht und die Möglichkeit der
Aufklärung solcher Fehler vermindert.

Auch die Reaktionen der Verfahrensbeteiligten auf
die Sprachübertragung können nur noch einge-
schränkt wahrgenommen werden. Eine vertrauliche
Kommunikation zwischen dem Angeklagten und
seinem Verteidiger mithilfe des Dolmetschers in der
Hauptverhandlung wird unmöglich. Deshalb ist der
Einsatz von Videokonferenztechnik im Bereich des
Dolmetschens ohne allseitige Zustimmung abzuleh-
nen.

Auch die Vernehmung von Sachverständigen via
Videokonferenztechnik unterscheidet sich erheblich
von einer direkten und unmittelbaren Kommunikation.
Gerade vor dem Hintergrund der wachsenden Bedeu-
tung des Sachverständigenbeweises im Strafverfahren
wäre es für die Wahrheitsfindung kontraproduktiv,
wenn der Einsatz von Videokonferenztechnik auch
gegen den Willen eines oder mehrerer Verfahrensbetei-
ligter angeordnet werden könnte. Sachverständige zum
Beispiel im technischen Bereich können aber mit
Zustimmung aller Beteiligten sehr wohl mittels Video-
konferenztechnik zugeschaltet werden.

Vor diesem Hintergrund erscheint die Aussage von
Herrn Parlamentarischen Staatssekretär Stadler
anlässlich der ersten Lesung des Gesetzentwurfes be-
denklich, die Bundesregierung begrüße den Gesetzent-
wurf, da er die rechtlichen Hürden für den Einsatz der
Videokonferenztechnik abbaue, indem das Erfordernis
der Zustimmung aller Verfahrensbeteiligten gestrichen
werde. Es handelt sich nicht nur um einen Abbau der
rechtlichen Hürden, sondern auch des rechtlichen
Schutzes der Beteiligten.

Auf der anderen Seite hat es die Koalition für nötig
befunden, eine Aufzeichnung der beim Einsatz der
Videokonferenztechnik anfallenden Aussagen strikt zu
untersagen. Damit wird ohne stichhaltige Begründung
auf Möglichkeiten der neuen Techniken verzichtet, die
zweifelsohne für die Wahrheitsfindung von Bedeutung
wären. Festgehaltene Aussagen können zu einem
späteren Zeitpunkt dazu verwendet werden, sich der
Erklärungsinhalte zu versichern. Davon können so-
wohl Gerichte wie auch Verfahrensbeteiligte nur profi-
tieren. Es ist ein großer Fehler, dass die Koalition
diese Möglichkeit nicht nur nicht nutzt, sondern sie so-
gar strikt untersagt.

Auch die Nutzung der Videokonferenztechnik bei
Verhaftungen ist ein Vorteil der modernen Technik,
welchem sich die Koalition verweigert, obwohl in der

Sachverständigenanhörung darauf ausdrücklich hin-
gewiesen worden ist. Ist eine physische Vorführung vor
das zuständige Gericht nicht möglich, so könnte diese
wie auch die Vernehmung mittels der Videokonferenz-
technik erfolgen. In Fällen, in denen der unmittelbaren
Vorführung des Verhafteten vor das zuständige Gericht
ein Hindernis entgegensteht, ist die Videokonferenz-
technik ein sinnvolles Mittel, diesem diejenige Rechts-
position zu verschaffen, die § 115 Strafprozessordnung
gewährt.

Wir Grünen haben mit unserem Änderungsantrag
genau dies vorgeschlagen und damit sogar für eine
sinnvolle Ausweitung des Einsatzes der Videokonfe-
renztechnik plädiert. Es ist schade, dass die Koalition
hierauf nicht eingegangen ist.

Zusammenfassend kann ich sagen, dass wir den Ge-
setzentwurf gern unterstützt hätten, soweit er dem
Recht auf rechtliches Gehör Geltung verleiht, indem er
den Einsatz der Videokonferenztechnik dort ermög-
licht, wo bisher nach Aktenlage entschieden wurde. Ei-
nem Gesetzentwurf, der diesen Weg leider nicht konse-
quent geht, weil er die Möglichkeiten der Technik nicht
ausschöpft und auf der anderen Seite wichtige Pro-
zessgrundsätze infrage stellt, lediglich um damit Zeit
und Geld zu sparen, können wir aber nicht zustimmen.
Wir werden uns aus diesem Grund enthalten.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1722231100

Wir kommen zur Abstimmung.

Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/12418, den Gesetzent-
wurf des Bundesrates auf Drucksache 17/1224 in der
Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung mit den Stimmen der Regierungsfraktionen
und der SPD gegen die Stimmen der Linken und bei Ent-
haltung der Grünen angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie zu-
vor angenommen.

Tagesordnungspunkt 25:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-
nologie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abge-
ordneten Katrin Kunert, Dr. Lukrezia Jochimsen,
Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion DIE LINKE

Die Billigkeitsrichtlinie zu den Umstellungs-
kosten aus der Umwidmung von Frequenzen
den Realitäten anpassen

– Drucksachen 17/7655, 17/10183 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Martin Dörmann





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.


Dr. Georg Nüßlein (CSU):
Rede ID: ID1722231200

Den heute zur Beratung vorliegenden Antrag sollte

man lieber mit dem Titel überschreiben „Die billigen
Forderungen der Linken den Realitäten anpassen“. Es
ehrt Sie ja, dass Sie auch einmal etwas zugunsten der
Kirchen fordern – das aber nur, weil es Ihnen gerade in
den Kram passt. In der Tat sind auch die Kirchen, etwa
bei Fronleichnamsprozessionen, aber auch viele kleine
Veranstalter von Musikveranstaltungen, genauso aber
auch Vereine und kommerzielle Kleinunternehmen von
der Umwidmung der Funkfrequenzen im Bereich
790 bis 814 Megahertz bzw. 838 bis 862 Megahertz in-
folge der Digitalen Dividende betroffen, aber offenbar
längst nicht so dramatisch, wie Sie das in Ihrem
Antrag hinstellen.

Schauen Sie doch einmal auf die Zahl der bislang
beim zuständigen Bundesamt für Wirtschaft und Aus-
fuhrkontrolle, BAFA, gestellten Anträge und auf die
bisherigen Mittelabflüsse: Insgesamt wurden
bislang – also seit dem 15. November 2011 – 1 054
Anträge eingereicht, davon 446 für stationäre Geräte-
einheiten – also für die Zusammensetzung von Mikro-
fon, Sender und Empfänger – und 608 für mobile Ge-
räte. Mobile Geräte werden, wie Sie hoffentlich
wissen, im Gegensatz zu stationären an mehreren
Standorten eingesetzt, zum Beispiel auf einer Tournee.
In nur 536 Fällen wurden auch die für die Antragstel-
lung notwendigen Unterlagen eingereicht; 183-mal für
stationäre und 353-mal für mobile Funkmikrofone.
Das BAFA hat, Stand 19. Februar 2013, 459 Bewilli-
gungsbescheide ausgestellt. 35 Anträge mussten abge-
lehnt werden, und die anderen sind noch in Bearbei-
tung, vor allem, weil noch entsprechende Unterlagen
nachzureichen sind. Von den von Bund und Ländern
für Billigkeitsleistungen zur Verfügung gestellten rund
125 Millionen Euro sind bis heute gerade einmal
1 021 021,73 Euro ausgezahlt worden, wenn Sie es ge-
nau wissen wollen – von 125 Millionen Euro! Das liegt
nicht etwa an der bösen Behörde, die wie ein Cerberus
über die zur Verfügung stehenden Mittel wacht.

Warum aber dieser bescheidene Mittelabfluss? Das
kann ich Ihnen gerne erklären, werte Genossen. Hät-
ten Sie einmal weitergedacht, statt wieder einmal bloß
Wohltaten zu fordern, wäre Ihnen das vielleicht auch in
den Sinn gekommen: Im Rahmen unserer Breitband-
strategie haben wir die Digitale Dividende vor allem
mit der Absicht umgesetzt, auch die ländlichen Räume
kurz- bis mittelfristig an höhere Bandbreiten anzubin-
den. Diese funkbasierte Technik der Long Term Evolu-
tion, kurz: LTE, hat den Effekt, dass wir auch ländlich
geprägten Regionen, die beim Breitbandausbau
gegenüber den Städten und Ballungszentren aus
wirtschaftlichen Gründen benachteiligt waren und es
leider immer noch sind, höhere Internetgeschwindig-
keiten ermöglichen. Sicherlich ist LTE – und auch
das noch im Entwicklungsstadium befindliche LTE

Advanced – nicht der Weisheit letzter Schluss. Vor al-
lem wenn man bedenkt, dass es sich dabei um ein soge-
nanntes Shared Medium handelt, also dass Teilnehmer,
die gleichzeitig über ein LTE-Funknetz Internet emp-
fangen, sich diese Leistung teilen müssen, ist klar, dass
LTE für die kleineren Städte und Gemeinden nur eine
Übergangslösung sein kann. Aber darum geht es heute
nicht.

Im Rahmen der Digitalen Dividende haben wir mit
dem Ziel der Erschließung der ländlichen Räume die
Auflage erteilt, dass Telekommunikationsunterneh-
men, die LTE anbieten, erst dann in dichter besiedelte
und damit lukrativere Regionen gehen dürfen, wenn
sie 90 Prozent der weniger gewinnträchtigen Gegen-
den mit einer Mindestleistung versorgt haben. Die für
LTE genutzten Frequenzen im 800-Megahertz-Bereich
mussten die Mobilfunknetzbetreiber bislang also
hauptsächlich in den ländlichen Regionen in Betrieb
nehmen, und da gibt es nun einmal weniger Groß-
veranstaltungen, Opernhäuser, Musicaltheater, Open-
Air-Konzerte und Jahreskongresse in Stadthallen und
Event-Arenen. Insofern gibt es hier nur wenige
Antragsberechtigte. Antragsteller sind hier Kirchen-
gemeinden, Vereine oder Kleinkunstbühnen, die nur
weniger hohe Beträge geltend machen können.

In den für die Mobilfunkbetreiber lukrativen Städten
und Ballungszentren setzen die Unternehmen vor al-
lem höhere Frequenzbereiche, und zwar im Bereich
1,8 bis 2,6 Gigahertz, ein. In diesem Frequenzbereich
werden drahtlose Mikrofone nicht gestört, sodass es
hier keinen Grund gibt, Billigkeitsleistungen zu bean-
tragen. Es würde mich ja sehr wundern, wenn die
Linke jetzt plötzlich Großunternehmen, die ihren Profit
vor allem in gewinnträchtigen Ballungszentren ma-
chen, mit Entschädigungen des Bundes und der Länder
beglücken will. Genau das fordern Sie, wenn Sie sich
für eine Ausweitung der Richtlinien zur Beantragung
der Billigkeitsleistungen wie in Ihrem Antrag ausspre-
chen. „Linke fordert höhere Entschädigungen für
Großveranstalter“ – diese Schlagzeile möchte ich ein-
mal lesen.

Erst wenn die 800-Megahertz-Frequenzen auch in
den Städten zum Einsatz kommen, nachdem also die
Versorgungsauflagen im Rahmen der Digitalen
Dividende erfüllt sind, kann es zu einem höheren
Mittelabfluss kommen. Der wird sich aber auch derge-
stalt in Grenzen halten, dass die 125 Millionen Euro
mehr als genug sind; das will ich an der Stelle einmal
prophezeien.

Weil wir wissen, dass sich hier noch etwas in den
Städten tut und es noch zu einem Anstieg der Anträge
kommen wird, wenn das 800-Megahertz-LTE dann in
den Städten ausgerollt wird, haben wir in den Nach-
verhandlungen mit den Ländern 2011 im Rahmen der
TKG-Novelle eine Verlängerung der Antragsfristen bis
zum 31. Dezember 2017 beschlossen. Vorher war das
nur bis Ende 2015 möglich. Außerdem haben wir in
diesen Verhandlungen festgelegt, dass für Einrichtun-
gen der Kirche, der Länder, der Städte, Landkreise und

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Georg Nüßlein


(A) (C)



(D)(B)


Kommunen, die nach § 51 ff. der Abgabenordnung
steuerbegünstigte Zwecke verfolgen, die Wertminde-
rungszeit der Geräte auf acht Jahre angehoben wird;
das möchte ich hier auch einmal betonen. Mehr Entge-
genkommen geht nicht und wäre auch völlig unange-
messen. Vor allem kümmern wir uns um die Richtigen.

Bei der Debatte sollten wir auch einmal beleuchten,
dass es – nicht nur in Deutschland – auf demokrati-
schem Wege zustande gekommene, allgemeinwohlori-
entierte politische Entscheidungen gibt, die eine ge-
wisse Berufs- oder Personengruppe zu Umstellungen
oder Umrüstungen zwingen, für die es überhaupt keine
Entschädigung gibt. Wer entschädigt beispielsweise
einen kleinen Handwerksbetrieb mit vier Mitarbeitern,
der seinen in die Jahre gekommenen Transporter mit
Rußpartikelfiltern nachrüsten muss, weil die Stadt
Berlin Umweltzonen eingeführt hat, die dem Hand-
werksmeister vorschreiben, nur noch bei dieser oder
jener Abgasnorm in die Innenstadt hineinzukommen,
wo die Kunden auf ihn warten? Niemand – kein Bund,
kein Land und erst recht nicht die völlig verschuldete,
von Rot-Rot heruntergewirtschaftete Stadt Berlin. Der
Kleinunternehmer wird also in den sauren Apfel bei-
ßen und den Transporter für 1 000 Euro aufrüsten. In-
sofern kommen wir mit der Billigkeitsrichtlinie den
Nutzern von Funkmikrofonen im 800-Megahertz-
Bereich doch schon ziemlich entgegen, meine ich. Da
möchte ich unseren Linkskollegen zurufen: Besser eine
Billigkeitsleistung gewähren als billige Forderungen
leisten.

Das Petitum, dass die durch die erste Digitale
Dividende betroffenen Frequenzen bei einer Digitalen
Dividende II nicht noch einmal betroffen sind, sodass
die nun schon auf andere Frequenzen ausgewichenen
Nutzer nicht noch einmal ausweichen müssen, kann
man grundsätzlich unterstützen. Ich bin sicher, die
Bundesregierung sieht das genauso und wird sich auf
der Weltfunkkonferenz im Jahr 2015 dafür einsetzen.

Statt unsere Kraft und Energie auf solche Anträge
wie den hier vorliegenden zu verschwenden, sollten
wir lieber an dem Ziel arbeiten, schnelles Internet in
Deutschland flächendeckend auszubauen. Damit
meine ich nicht nur den Ausbau in den Städten und
Ballungsgebieten, sondern genauso in den ländlich ge-
prägten Gebieten. Die Digitale Dividende ist ein
Schritt dahin. Mit der TKG-Novelle 2012 haben wir
darüber hinaus eine ganze Reihe von wichtigen
Maßnahmen beschlossen, die den Breitbandausbau
kostengünstiger machen und Investitionen auf dem
Land ankurbeln.

Wir haben bei den Verhandlungen im Vermittlungs-
ausschuss neben dem Randaspekt Billigkeitsleistungen
vor allem auch über die Frage gesprochen, was wir
darüber hinaus noch in die Wege leiten könnten. Dazu
gehört der Auftrag an die Bundesregierung und an die
Länder, gemeinsam mit der KfW zu prüfen, wie diese
ihre vorhandenen Förderprogramme besser auf den
Breitbandausbau ausrichten kann, um sowohl Kommu-
nen als auch Unternehmen die Hemmnisse bei An-

fangsinvestitionen zu nehmen. Bayern macht es als
Bundesland vor: Bis 2017 stehen Unternehmen
500 Millionen Euro für den Ausbau der Datenauto-
bahnen im Freistaat zur Verfügung. Wie sieht es da in
NRW oder in Mecklenburg-Vorpommern aus? Da muss
Bayern über den Länderfinanzausgleich den Breit-
bandausbau auch noch mitfinanzieren. Aber dazu ein
anderes Mal. Diskutieren sollten wir auch, ob und in
welchem Rahmen wir künftige Einnahmen aus einer
Digitalen Dividende II zweckgebunden für den
flächendeckenden Breitbandausbau in Deutschland
verwenden sollten. Das wird sicherlich vor allem mit
dem Bundesfinanzministerium zu klären sein, aber
überlegenswert ist das.

Das sind die Herausforderungen, von denen kleine
Unternehmer im Musik-, Veranstaltungs- oder Kultur-
bereich Lösungen und Fortschritte von der Politik
erwarten – und zwar zu Recht. Solche Nebenkriegs-
schauplätze wie die von den Linken hochgekochten
spielen für die Bürger in unserem Land, für unsere
Unternehmen und Gemeinden kaum eine Rolle und
verschleißen nur unnötig politische Energie. Bleiben
wir dran, die wirkliche Herausforderung zu meistern:
den Breitbandausbau, auch in der Fläche. Dafür bitte
ich Sie um Ihre Unterstützung.


Andreas G. Lämmel (CDU):
Rede ID: ID1722231300

Von der Fraktion der Linken liegt uns heute ein An-

trag zur Abschlussberatung vor, den wir uns schenken
können. Die im Antrag herbeigeschriebenen Probleme
sind längst nicht so dramatisch und von der Realität
längst überholt.

Aber worum geht es? Die Versteigerung des bislang
größten Frequenzpaketes in Deutschland durch die
Bundesnetzagentur im Jahr 2010 bietet große Chan-
cen für den notwendigen Netzausbau und eine bessere
Breitbandversorgung auch in ländlichen Regionen so-
wie zur Erweiterung der Netze im Mobilfunk. Gerade
im Mobilfunk steigen die Kapazitätsbedarfe stetig. Die
Mobilfunkunternehmen, die entsprechende Frequen-
zen ersteigert haben, können nun die Einführung der
Long-Term-Evolution Technologie – LTE – vorantrei-
ben, die hohe Bandbreiten ermöglicht. Zudem bieten
die Frequenzen der Digitalen Dividende in den Bereichen
von 790 bis 862 Megahertz die Möglichkeit, Lücken in
der Breitbandversorgung zu schließen.

Die in dem Antrag beschriebenen Risiken sind
schon sehr lange bekannt. Daher wurde die Frage der
Kostenerstattung bereits im Jahr 2009 im Bundesrat
im Rahmen der Frequenzbereichszuweisungsplan-
verordnung beraten. Diese Verordnung enthält die
Voraussetzungen für die Versteigerung der Frequen-
zen. Darüber hinaus gibt es die Absprachen zwischen
dem Bund und den Bundesländern zur Thematik der
Umstellungskosten. Zwischen Bund und Ländern
wurde zunächst vereinbart, die Kosten aus notwendi-
gen Umstellungen, die sich bis Ende 2015 bei denjeni-
gen ergeben, die die Frequenzen 790 bis 862 Mega-
hertz nutzen, in angemessener Form zu tragen. Im

Zu Protokoll gegebene Reden





Andreas G. Lämmel


(A) (C)



(D)(B)


Rahmen des Vermittlungsverfahrens zur Novelle des
Telekommunikationsgesetzes, TKG, wurde die Richt-
linie für die Umstellungskosten im März 2012 noch
nachgebessert. So wurde der Zeitraum für eine An-
tragstellung von 2015 auf 2017 verlängert. Öffentliche
Einrichtungen können einen Nutzungszeitraum von
acht Jahren geltend machen. Für Nutzer eines
Mikrofons, welches älter als sechs Jahre ist, gibt es
nun eine Sockelregelung nach Beginn der Wertminde-
rungszeit.

Wir halten fest: Es bestehen bereits – nachträglich
verbesserte – Regelungen zur Entschädigung, sofern
konkrete Störungen auftreten. Und das ist der entschei-
dende Punkt!

Wenn konkrete Störungen auftreten, dann sollen die
entsprechenden Einrichtungen eine Entschädigung für
notwendige Ersatzaufwendungen erhalten. Festzuhal-
ten bleibt jedoch; Es besteht kein Rechtsanspruch auf
Entschädigungsleistungen. Darüber hinaus ist auch
einzuschätzen, wie hoch der Grad der Störung ist und
ob es denn technische Möglichkeiten gibt, diese Stö-
rungen zu unterbinden oder zu beheben. Manche
Dinge kann man auch ohne viel Geld reparieren. Die
Bundesnetzagentur bereitet beispielsweise seit Anfang
2010 eine Verlagerung der entsprechenden Nutzung in
alternative Frequenzbereiche vor. Sollte diese Fre-
quenzverlagerung notwendig werden und sollten da-
durch Kosten entstehen, so gibt es die Zusage der Bun-
desregierung, eine angemessene Entschädigung zu
zahlen. Dies ist im Vergleich zu Neuanschaffungen si-
cher der günstigere Weg.

Was ist zu tun, bevor der Bund zahlt? Wenn die eben
erwähnten Voraussetzungen für Entschädigungsleis-
tungen eintreten, dann muss vorab sichergestellt werden,
dass die ausgezahlten Mittel entsprechend eingesetzt
werden und bei den Kultureinrichtungen ankommen.
Klar umrissen werden muss auch der Kreis der mögli-
chen Entschädigungsempfänger. Schließlich muss der
Einsatz der Mittel nachvollziehbar und kontrollierbar
sein. Missbrauch von Steuermitteln darf es nicht ge-
ben.

Schließlich noch ein Wort zu den finanziellen Di-
mensionen. Der Bund hat 124 Millionen Euro an Un-
terstützung zugesagt. Bisher wurden entsprechend dem
obigen Verfahren circa 1 000 Anträge gestellt und un-
gefähr 450 bewilligt. Von den bereitgestellten 124 Mil-
lionen Euro sind also bisher 1 Million Euro abgerufen
worden; das sind weniger als 1 Prozent. Also, die Hor-
rorszenarien der letzten Jahre sind somit nicht einge-
treten.

Bevor ich zum Schluss komme, noch eine grundsätz-
liche Bemerkung. Jeder Teilnehmer am Wirtschafts-
verkehr muss sich auf Veränderungen des Rechtsrah-
mens einstellen. Handwerker und Spediteure müssen
ihre Fahrzeuge gemäß den Schadstoffnormen nachrüs-
ten, Bauunternehmen haben sich an Arbeitsschutzvor-
schriften zu halten, die chemische Industrie muss die
Chemikalienverordnung befolgen. Nun sind kulturelle

Einrichtungen nicht mit Unternehmen gleichzusetzen,
aber eine Vollkaskoregelung darf es trotzdem nicht ge-
ben.

In der konkreten Angelegenheit sind Übergangs-
und Entschädigungsregelungen für Kulturschaffende
eingerichtet. Die Nutzer drahtloser Funkmikrofone
konnten die betroffenen Frequenzbereiche bisher kos-
tenfrei nutzen. Der Bund als Eigentümer hat sich ent-
schieden, diese Frequenzen einer anderen Nutzung zur
Verfügung zu stellen. Künftig werden mobile Breit-
banddienste, LTE, über die versteigerten Frequenzen
laufen. Drei Mobilfunkunternehmen haben viel Geld
investiert und sind Versorgungsauflagen für die Ver-
sorgung ländlicher Regionen eingegangen. Eine leis-
tungsfähige und wirtschaftliche Breitbandversorgung,
gerade der ländlichen Regionen, ist von übergeordne-
tem Interesse für unser Land. Das bisherige Vorgehen
der Bundesregierung hat daher meine Unterstützung.

Der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirt-
schaft und Technologie zu folgen ist richtig und der
Antrag ist abzulehnen.


Martin Dörmann (SPD):
Rede ID: ID1722231400

Erneut beschäftigen wir uns mit den aus der

Umwidmung von Funkfrequenzen resultierenden Pro-
blemen für Nutzer von drahtlosen Mikrofonen, die
durch eine vom Bundeswirtschaftsministerium erlas-
sene Billigkeitsrichtlinie entschädigt werden sollten.
Diese sperrigen Begrifflichkeiten dürfen nicht ver-
schleiern, um wen es auf der Betroffenenseite eigent-
lich geht: Kulturschaffende, Amateurtheater, Freilicht-
bühnen, für die drahtlose Mikrofone unerlässliches
Instrument ihrer Arbeit sind.

Die SPD-Bundestagsfraktion hatte zu dieser Prob-
lematik bereits im Oktober 2010 einen eigenen Antrag
im Bundestag eingebracht. Darin hatten wir gefordert,
betroffene Kultureinrichtungen nach der Frequenzum-
stellung für drahtlose Mikrofone angemessen zu ent-
schädigen. Wir haben stets darauf gedrängt, dass der
Bund seine gegenüber dem Bundesrat erklärte Bereit-
schaft konsequent umsetzt, die Kosten, die sich nach-
weislich aus notwendigen Umstellungen bei denjeni-
gen ergeben, die bislang die Frequenzen 790 bis
862 Megahertz genutzt haben, in angemessener Form
zu tragen. Hierzu hat der Haushaltsausschuss des
Bundestages in eine Billigkeitsrichtlinie eingewilligt.

Immerhin ist es im Zusammenhang mit dem Vermitt-
lungsverfahren zur Novellierung des Telekommunika-
tionsgesetzes, TKG, Anfang 2012 gelungen, einige
Verbesserungen an der Billigkeitsrichtlinie durchzu-
setzen. Dies betraf insbesondere die Festlegung einer
längeren Nutzungsdauer von Anlagen gemeinnütziger,
mildtätiger oder kirchlicher Institutionen. Zudem hatte
der Bundeswirtschaftsminister signalisiert, bei be-
stimmten öffentlichen Einrichtungen von Städten,
Kommunen und Kirchen, auf eine Gemeinnützigkeits-
bescheinigung im Rahmen des Entschädigungsverfah-
rens zu verzichten und auch hier eine Nutzungsdauer

Zu Protokoll gegebene Reden





Martin Dörmann


(A) (C)



(D)(B)


entsprechender Anlagen von acht Jahren anzurechnen.
Nicht zuletzt wegen dieser Zugeständnisse des Bundes
hatten die Länder schließlich den Weg für das neue
TKG freigemacht.

Allerdings hatten sowohl die Länder als auch die
SPD-Bundestagsfraktion von vornherein darauf hinge-
wiesen, dass der vom Bund vorgegebene Finanzrah-
men von 124 Millionen Euro im Zeitraum 2011 bis
2015 für die zugesagte angemessene Kostenerstattung
kaum ausreichen werde. Die Länder hatten ursprüng-
lich rund 750 Million Euro und eine erheblich großzü-
gigere Ausgestaltung der Erstattungskriterien gefor-
dert.

Es sind nun gerade Freilichtbühnen und Amateur-
theater, die darüber klagen, dass sie aufgrund der
nachzuweisenden Abschreibungsfristen faktisch von
der Kostenausstattung weitgehend ausgeschlossen
sind. Für viele kleine Kultureinrichtungen ist die An-
schaffung drahtloser Geräte eine größere Investition,
die weitaus länger genutzt wird als nach den üblichen
Abschreibungsfristen vorgesehen.

Nach aktueller Auskunft des Bundeswirtschafts-
ministeriums ist erst ein geringer Teil – gut 1 Million
Euro – vom BAFA an Auszahlungen veranlasst wor-
den. Wegen der zunächst zu erfüllenden Versorgungs-
auflagen hätten die Mobilfunknetzbetreiber die betrof-
fenen Frequenzen bisher hauptsächlich in ländlichen
Regionen in Betrieb genommen. In diesen Regionen
seien jedoch die Nutzer drahtloser Mikrofone, insbe-
sondere größerer kultureller Einrichtungen, kaum ver-
treten, sodass bisher keine größeren Beträge abgeru-
fen werden konnten. In den lukrativen Ballungszentren
würden die Mobilfunkbetreiber vor allem höhere
Frequenzbereiche einsetzen, die keine Störungen
drahtloser Mikrofone erzeugen. Wenn auch hier die
umgewidmeten Frequenzbereiche zum Einsatz kämen,
könne eine Signifikanzzunahme der direkten Störung
von Funkmikrofonen eintreten, die dann auch zu weite-
ren Mittelabflüssen führen sollte.

Das Wirtschaftsministerium betont, dass der mit
den Ländern erzielte Kompromiss abschließend sei
und eine weitere Anpassung der Richtlinie über Billig-
keitsleistungen nicht vorgesehen sei.

Bei der Konferenz der Chefinnen und Chefs der
Staats- und Senatskanzleien der Länder wurde Mitte
November 2012 der entsprechende Bericht des Bundes
über die Erfahrungen mit der Billigkeitsrichtlinie und
den Umfang der Inanspruchnahme zur Kenntnis
genommen. Im Hinblick auf die Kompromissverein-
barung haben die Länder trotz nach wie vor vorhande-
ner Kritik von konkreten Nachforderungen abgesehen
und den Bund gebeten, Ende 2013 erneut über die Er-
fahrungen mit der Billigkeitsrichtlinie zu berichten.

Aus meiner Sicht gibt es hier ein politisches
Dilemma: Einerseits halten wir nach wie vor die
Billigkeitsrichtlinie für unzureichend, sowohl was die
Gesamtausstattung als auch die einzelnen Anspruchs-
kriterien betrifft. Auf der anderen Seite wollen sich

auch die Länder nicht von dem erzielten Kompromiss
distanzieren. Vor diesem Hintergrund wird sich meine
Fraktion bei dem vorliegenden Antrag der Stimme ent-
halten.

Allerdings muss man berücksichtigen, dass durch
die Verzögerung des LTE-Ausbaus die Sekundärnutzer
erst deutlich später als bei Erarbeitung der Richtlinie
prognostiziert von Störungen betroffen sind. Dieser
Umstand darf aber nicht dazu führen, dass Betroffene
durch Zeitablauf ihre Anspruchsberechtigung auf eine
Entschädigung verlieren. Daher sollten Ende des
Jahres die Kriterien der Billigkeitsrichtlinie vor dem
Hintergrund der bis dahin vorliegenden Erfahrungen
kritisch auf den Prüfstand gestellt werden. Sollte sich,
wie von uns befürchtet, herausstellen, dass die Rege-
lungen unzureichend sind und insbesondere Freilicht-
bühnen und Amateurtheater in der Praxis keine ange-
messene Entschädigung mehr erlangen können, darf
eine Nachbesserung kein Tabu sein!

Auch für die zukünftige Frequenzpolitik – ich
möchte hier nur die bereits im Raum stehende Forde-
rung nach einer Digitalen Dividende II nennen – wird
entscheidend sein, ob der Bund seine Zusage, eine an-
gemessene Entschädigung der Sekundärnutzer zu ge-
währleisten, tatsächlich einhält oder ob das Vertrauen
durch den Wortbruch dauerhaft beschädigt ist.

Zu Recht hat das Verhalten des Bundes bei der gan-
zen Diskussion um die Billigkeitsrichtlinie zu großer
Enttäuschung bei den Betroffenen geführt. Es sei noch
einmal in Erinnerung gerufen, dass der Bund alleine
durch die Versteigerung der Frequenzen im Bereich
der Digitalen Dividende Einnahmen von rund 3,6 Mil-
liarden Euro erzielt hat. Vernünftige Entschädigungs-
regelungen, für die der Bund im Wort steht, wären
daher mehr als recht und billig. Hier hat sich die Bun-
desregierung wahrlich nicht mit Ruhm bekleckert. Von
daher ist zu hoffen, dass nach der Bundestagswahl
eine neue Regierungskonstellation die Belange insbe-
sondere Kulturschaffender besser berücksichtigt und
Zusagen verlässlich umsetzt.


Claudia Bögel (FDP):
Rede ID: ID1722231500

Ein schnelles und leistungsfähiges Internet ist eine

der Grundvoraussetzungen für wirtschaftliches
Wachstum. Zudem sind moderne Kommunikations-
netze ein zentraler Faktor im internationalen und
regionalen Standortwettbewerb.

Die schwarz-gelbe Bundesregierung hat in dieser
Legislaturperiode dafür gesorgt, dass Deutschland
gegenwärtig über eine im internationalen Vergleich
sehr gute Internetinfrastruktur verfügt. Wir Liberalen
setzen dabei vor allem auf investitions- und wachs-
tumsorientierte Regulierung, gezielte finanzielle
Fördermaßnahmen und die Verwendung der Digitalen
Dividende, um den Breitbandausbau in Deutschland
noch weiter voranzutreiben.

Die Städte und Ballungsgebiete sind inzwischen
sehr gut versorgt. Das ist aber vor allem in den ländli-

Zu Protokoll gegebene Reden





Claudia Bögel


(A) (C)



(D)(B)


chen Räumen noch nicht überall der Fall. Denn auch
wenn es dort vielerorts inzwischen möglich ist, einen
adäquaten Zugang zum Internet zu erhalten, sind wir
uns bewusst, dass in vielen Regionen nach wie vor
Versorgungslücken bestehen.

Es ist daher das Hauptziel gemäß unserer liberalen
wettbewerbsorientierten Telekommunikationspolitik,
eine flächendeckende Versorgung mit hochleistungs-
fähigem Internet sicherzustellen. Ein wichtiger
Baustein dafür war und ist für uns der Ausbau der
Breitbandinfrastruktur.

Gerade in ländlichen Regionen, wo die Zahlungs-
bereitschaft und Nachfrage geringer als in urbanen
Gebieten sind und sich die Frage nach der Wirtschaft-
lichkeit für Investoren stellt, bietet vor allem LTE eine
kostengünstige Alternative mit ausreichender Versor-
gungsqualität zur Festnetzversorgung. LTE ist durch
seine technischen Weiterentwicklungschancen und die
damit verbundene Vervielfachung der Übertragungs-
raten ein adäquater DSL-Ersatz.

Mit der Ersteigerung der Frequenzen des 800-Me-
gahertz-Bandes im Jahr 2010 haben sich die Mobil-
funkanbieter verpflichtet, stufenweise diejenigen Ge-
biete mit mobilem Breitband zu versorgen, die bisher
von einer schnellen Netzanbindung abgeschnitten
waren. Dieser Aus- und Aufbauverpflichtung sind die
Mobilfunkanbieter im November letzten Jahres nach-
gekommen und haben den LTE-Ausbau in den ländli-
chen Gebieten abgeschlossen. Damit sind nun alle bis-
her unterversorgten Gebiete ans schnelle Netz
angeschlossen. Das ist nicht zuletzt auch ein Erfolg
unserer wettbewerbsorientierten liberalen Telekom-
munikationspolitik.

Selbstverständlich verschließen wir dabei die
Augen nicht davor, dass es durch den Ausbau des
drahtlosen Internets bzw. die Nutzung des 800-Mega-
hertz-Bandes durch die Mobilfunkanbieter zu Störungen
oder gar Ausfällen von anderen, parallel genutzten
Drahtlossystemen – vor allem von Funkmikrofonen –
kommen kann. Und wir wissen auch, dass viele der bis-
herigen Nutzer des versteigerten Frequenzbereichs
– insbesondere Kultur- und Bildungseinrichtungen –
aufgrund dessen mit finanziellem Aufwand ihre Tech-
nik umrüsten oder sogar komplett erneuern müssen,
weil ihre Technik in einem anderen Frequenzbereich
nicht funktioniert.

Aus diesem Grund hatte der Bund bereits vor der
Versteigerung der Frequenzen zugesagt, die Kosten,
die sich nachweislich aus notwendigen Umstellungen
der Frequenznutzungen für drahtlose Geräte ergeben,
in angemessener Form zu tragen. Zum Ausgleich der
wirtschaftlichen Nachteile hat das Wirtschaftsministe-
rium im Einvernehmen mit dem Finanzministerium
konsequenterweise eine Billigkeitsrichtlinie erlassen.
Und dies war lediglich ein Teil eines wesentlich kom-
plexeren Maßnahmenbündels, um die Belastungen, die
sich für Anwender von Funkmikrofonen durch den

notwendigen Frequenzwechsel in Sinne des Breit-
bandausbaus ergeben, abzufedern.

Mit der Bereitstellung von Ersatzfrequenzen im
Bereich vom 1 785 Megahertz bis 1 800 Megahertz
wurde beispielsweise bereits Mitte des Jahres 2010 ein
weiterer, wichtiger Teil dieser Zusage erfüllt. Darüber
hinaus hat die Bundesnetzagentur für den Zeitraum ab
2015 alternative Frequenzen zur Nutzung durch Funk-
mikrofontechnik zugeteilt und veröffentlicht. Damit
wurde für die Nutzer drahtloser Geräte auch für den
Zeitraum nach 2015 Planungssicherheit mit Blick auf
die Frage, auf welchen Frequenzen drahtlose Mikro-
fone und andere Bühnentechnik dann funken dürfen,
geschaffen. Zudem existiert die Option, bei der
Bundesnetzagentur Einzelzuteilungen in anderen
Frequenzbereichen zu beantragen, wenn eine stö-
rungsfreie Nutzung der drahtlosen Geräte unbedingt
gewährleistet sein muss.

Lassen Sie mich noch einmal auf den Hauptvorwurf
des Antrags der Linken zurückkommen, nämlich dass
die Billigkeitsrichtlinie mit Blick auf die Kosten der
Umstellung der Frequenzen der Realität nicht aus-
reichend Rechnung trage. Das kann ich entschieden
zurückweisen.

Die Bundesregierung hat sich im Rahmen der ver-
fügbaren Haushaltsmittel an den durch den Haushalts-
ausschuss vorgegebenen Empfehlungen für eine Billig-
keitsrichtlinie orientiert. Die FDP-Bundestagsfraktion
findet, dass der zur Verfügung gestellte Betrag vor al-
lem im Hinblick auf die nach wie vor angespannte
Haushaltslage durchaus angemessen ist.

Dass die Linksfraktion die in der Richtlinie ange-
wendete Interpretation des Wortes „angemessen“ in-
frage stellt, war zu erwarten. Dies ist der Fall, weil die
Linksfraktion in aller Regel zuerst daran denkt, wie
das Geld ausgegeben werden kann, und sich erst in
zweiter Linie darum kümmert, wie das Geld in Sinne
einer vernünftigen Haushaltspolitik zusammengehal-
ten werden kann.

Natürlich wissen wir auch um die Interessen der Be-
troffenen, vor allem der kulturellen Einrichtungen.
Aber in finanziell schwierigen Zeiten müssen wir an
bestimmten Stellen Grenzen setzen.

Sämtliche Ressorts bemühen sich, kontinuierlich
Einsparungsmöglichkeiten zu identifizieren, damit wir
unserem Ziel der Haushaltskonsolidierung Jahr für
Jahr ein Stück näher kommen. Deswegen halten wir
Liberalen es nach wie vor für angebracht, weder – wie
mein Kollege Müller-Sönksen kürzlich treffend fest-
hielt – das „Füllhorn noch die Gießkanne“ auszu-
schütten. Die vom Bundeswirtschaftsministerium ver-
anschlagte Kompensationssumme ist daher ein guter
Mittelweg. Und ich bin zuversichtlich, dass die Ziele
der Billigkeitsrichtlinie damit auch erreicht werden
können, denn es gibt viele Einrichtungen, die auf
Umrüstungen eingestellt sind und vorausschauend
auch entsprechende Rücklagen gebildet haben. Deren
Nachteile durch die nötigen vorzeitigen Neuinvestitio-

Zu Protokoll gegebene Reden





Claudia Bögel


(A) (C)



(D)(B)


nen sollen mit den geplanten Zuwendungen ausge-
glichen werden, aber ohne sie gleichzeitig aus ihrer
betriebswirtschaftlichen Verantwortung für die
Instandhaltungskosten zu entlassen. Denn eine Über-
kompensation wäre nicht im Sinne des Erfinders und
ist daher tunlichst zu vermeiden.


Katrin Kunert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1722231600

Wir beschäftigen uns heute zum wiederholten Mal

mit dem Thema der Frequenzversteigerungen und de-
ren Auswirkungen auf die Kulturlandschaft. Die Linke
hatte bereits Mitte 2010, also kurz nach der Versteige-
rung der Frequenzen in den Bereichen 800 Megahertz,
1,8 Gigahertz, 2 Gigahertz und 2,6 Gigahertz, mit ei-
nem Antrag gefordert, den Einrichtungen der Kultur-
und Medienlandschaft die Folgekosten, die durch die
Verlagerung der Frequenzen des Produktions- und
Veranstaltungsfunks entstehen, vollumfänglich zu er-
setzen.

Nur zur Erinnerung: Der Bund hatte bei der Verstei-
gerung der Frequenzen an Mobilfunkunternehmen
über 4,3 Milliarden Euro eingenommen. Das Bundes-
ministerium für Wirtschaft und Technologie hat seiner-
seits die Billigkeitsrichtlinie zur Gewährung von
Leistungen an Sekundärnutzer wegen frequenzwech-
selbedingter Umstellkosten erlassen, die im November
2011 in Kraft getreten ist.

Auch wenn es zunächst positiv zu bewerten ist, dass
das zuständige Ministerium das Thema aufgreift und
sich um eine Verbesserung der Situation bemüht, kom-
men wir als Linke zu dem Schluss, dass die Billigkeits-
richtlinie weitestgehend an den Bedürfnissen der
vielen Theater, der Produzenten der Film- und Fern-
sehbranche, der Kleinunternehmer der Veranstal-
tungsbranche und anderen vorbeigeht. Die Vorausset-
zungen, die kulturelle Einrichtungen, die Leistungen
nach der Billigkeitsrichtlinie erhalten wollen, erfüllen
müssen, sind zu eng formuliert. Die im Bundeshaushalt
bereitgestellten Mittel werden gar nicht abgerufen.
Der Deutsche Bühnenverein geht davon aus, dass bis
zu 90 Prozent der privaten und kommunalen Theater
nicht die Voraussetzung der Billigkeitsrichtlinie in der
derzeitigen Fassung erfüllen. Laut aktuellem Bundes-
haushalt beträgt das Soll der Billigkeitsleistungen für
2012 knapp 29 Millionen Euro. Gleichzeitig wird ein
Restbetrag über 73 Millionen Euro ausgewiesen. Für
2013 sind gerade mal noch gut 9,5 Millionen Euro für
Billigkeitsleistungen eingestellt.

In der Antwort auf meine schriftliche Frage vom
30. Januar 2013 hat die Bunderegierung erklärt, dass
im Zeitraum zwischen Februar 2012 und Januar 2013
Billigkeitsleistungen in Höhe von etwas über 1 Million
Euro bewilligt wurden. Der tatsächliche Bedarf dürfte
um ein Vielfaches höher liegen. Gerade bei Theatern
ist häufig ein Komplettumbau erforderlich. So rechnet
beispielsweise das Opernhaus Hannover mit über
150 000 Euro für notwendige Neuinvestitionen. Für
das Theater in Erfurt ist mit notwendigen Neuinvesti-
tionen in Höhe von etwa 100 000 Euro zu rechnen.

Bei dem Umgang mit den Folgekosten der Neuord-
nung von Frequenzen, auch als Digitale Dividende 1
bezeichnet, geht es nicht nur um die Frage, wer die
Kosten für notwendige Umrüstmaßnahmen der betrof-
fenen kulturellen Einrichtungen trägt. Es geht auch um
die Frage, wie wir mit den unterschiedlichen Interes-
sen umgehen wollen, die daraus resultieren, dass im-
mer mehr Frequenzen für den Mobilfunk geöffnet wer-
den, während gleichzeitig freie Frequenzen benötigt
werden, die von kulturellen Einrichtungen für Draht-
losmikrofone genutzt werden.

Die Digitale Dividende 1 stellt dabei keineswegs
das Ende der technischen Entwicklung dar. Die Inter-
nationale Fernmeldeunion will ab 2015 weitere Fre-
quenzen für den Mobilfunk freigeben. Diese Digitale
Dividende II würde zunächst das digitale terrestrische
Fernsehen, das DVB-T, betreffen. Der Bereich der
DVB-T-Kanäle müsste auf dem UHF-Band derart re-
duziert und komprimiert werden, dass daneben – ver-
einfacht gesagt – nicht mehr genug Raum für drahtlose
Mikrofone und Ähnliches verbleiben würde. Diese Si-
tuation könnte für die vielen kabellosen Produktionen
bei kulturellen Veranstaltungen das Ende sein. Dieses
Problem ließe sich auch nicht durch eine Rückkehr zu
kabelgebundenen Geräten lösen. Eine Vielzahl von
kulturellen Veranstaltungen ist nicht zuletzt aus Kos-
tengründen nur mit Einsatz von Funktechnik durch-
führbar. Sollte diese nicht mehr zur Verfügung stehen,
würde dies also letztendlich zu einer Schwächung des
kulturellen Angebots in der Breite führen.

Die Linke fordert, dass kulturelle Einrichtungen, die
entweder wegen der letzten Frequenzversteigerung in-
folge der Digitalen Dividende I oder wegen künftiger
Frequenzneuzuweisungen zur Neuanschaffung bzw.
Umrüstung ihrer Drahtlostechnik gezwungen sind,
durch den Bund eine angemessene Entschädigung er-
halten. Gleichzeitig muss sichergestellt werden, dass
auch im Falle einer Digitalen Dividende ein ausrei-
chend hochwertiges Spektrum an Funkfrequenzen für
die kulturellen Einrichtungen weiter nutzbar bleibt.

Ich möchte Sie darum bitten, unserem Antrag zuzu-
stimmen.


Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722231700

2010 hat die Bundesnetzagentur Frequenzen ver-

steigert, die bis dahin unter anderem von Funkmikro-
fonen genutzt wurden. Die Frequenzen sollen nun für
den Aufbau des Internetzugangs über Funk verwendet
werden.

Ich begrüße ausdrücklich, dass mit der Versteige-
rung der Frequenzen ein Schritt unternommen wurde,
um den schnellen Zugang zum Internet im ländlichen
Raum zu ermöglichen. Mit den versteigerten Frequen-
zen sollen die weißen Flecken der Breitbandversor-
gung beseitigt werden. Bis heute sind immer noch
Tausende Haushalte vom schnellen Internet ausge-
schlossen. Gerade in ländlichen Regionen ist das ein
gravierender Standortnachteil für die Bevölkerung
und vor allem auch für die regionale Wirtschaft.

Zu Protokoll gegebene Reden





Tabea Rößner


(A) (C)



(D)(B)


Klar muss aber sein: Die Leidtragenden der Auk-
tion dürfen nicht die sein, die den Platz dafür geräumt
haben: der Hörfunk, aber auch Theater und Musikver-
anstalter. Wer kabellose Mikrofone nutzt, bekommt nun
einen neuen Platz im Äther zugewiesen, was mit erheb-
lichen Kosten verbunden ist. Auf den neu zugewiese-
nen Frequenzen können die vorhandenen kabellosen
Mikrofonanlagen meist nicht weiter verwendet wer-
den. Daher müssen Theater und Bühnen in Neuan-
schaffungen investieren.

Für die bisherigen Nutzer der Frequenzen, also In-
stitutionen oder andere Nutzer von Funkmikrofonen

(Theater, Konzertsäle, Kirchen, Konferenzzentren, Parteien, Kleinunternehmen der Veranstaltungsbranche sowie Produzenten und Dienstleister aus der Filmund Fernsehbranche)

drahtlosen Mikrofonanlagen. In der Folge ist die An-
schaffung neuer Geräte bzw. Anlagen erforderlich.

Der Bund, der die Umwidmung der Frequenzen be-
schloss und dem die Versteigerung einen Erlös von
4,38 Milliarden Euro einbrachte, hatte den Ländern
ursprünglich zugesagt, sich in angemessener Weise an
den Kosten zur Umrüstung der drahtlosen Mikrofon-
anlagen zu beteiligen. Das Wirtschaftsministerium hat
dazu eine Verwaltungsvorschrift (Billigkeitsrichtlinie)

vorgelegt, worauf der Haushaltsausschuss die Mittel
von 120 Millionen Euro freigegeben hat. Allerdings
wurden die Forderungen der Verbände bei der Festle-
gung der Kriterien in der Richtlinie in entscheidenden
Punkten missachtet. Zum Beispiel darf das störungsbe-
troffene Gerät nicht älter als fünf Jahre alt sein. Übli-
cherweise werden derartige Geräteeinheiten aber für
einen Zeitraum von 10 bis 15 Jahren angeschafft.

In anderen Ländern ist das besser geregelt. So er-
halten zum Beispiel in Großbritannien die betroffenen
Einrichtungen bei der Versteigerung von Funkfrequen-
zen bereits im Vorfeld eine Zusicherung, wonach sie
60 Prozent der ursprünglichen Anschaffungskosten
von Geräten ersetzt bekommen, die sie aufgrund der
Umwidmung der Frequenzen nicht mehr nutzen kön-
nen.

Die Fraktion Die Linke fordert nun, die Kriterien
zur Erstattung der Kosten auszudehnen.

Ich möchte an einigen Punkten kritische Anmerkun-
gen machen: Die Billigkeitsleistungen sollen nach den
Vorstellungen der Fraktion Die Linke bereits vor einer
tatsächlichen Störung erfolgen. In der Praxis ist es
aber schwierig darzustellen, wer dann wirklich leis-
tungsberechtigt ist. Stattdessen sollte entschädigt wer-
den, wer auch tatsächlich eine Störung hat.

Auch die Forderung, dass Nutzerinnen und Nutzer
drahtloser Mikrofonanlagen generell von künftigen
Umwidmungen ausgeschlossen sein sollen, halten wir
für nicht umsetzbar. Wir wissen heute noch nicht, wer
wann in welchem Maße geschädigt werden könnte. Es
muss aus unserer Sicht lediglich sichergestellt werden,
dass auch künftig Geschädigte Schadensersatz erhal-
ten.

Wir stimmen dem Antrag aber dennoch zu; denn
auch wir haben im Rahmen der parlamentarischen Be-
ratungen über die Frequenzversteigerung den Bundes-
tag dazu aufgefordert, mehr Gelder für die Erstattung
an die von der Umwidmung des Frequenzbereiches Be-
troffenen zur Verfügung zu stellen.

Im Rahmen der Verhandlungen im Vermittlungsaus-
schuss zum Telekommunikationsgesetz haben sich
Bund und Länder auf eine Lockerung der Kriterien ge-
einigt. Die Ergebnisse des Vermittlungsausschusses
sind ein Minimalkonsens und keine Garantie dafür,
dass alle Geschädigten auch entschädigt werden. Der
vorliegende Antrag stellt weiter gehende Forderun-
gen, die wir begrüßen. Außerdem setzt der vorliegende
Antrag den Impuls, diese Regelung auch für zukünftige
Versteigerungen anzuwenden, anstatt die Zusage von
Geldern in irgendwelchen Vermittlungsausschüssen
mühsam immer wieder aufs Neue zu verhandeln.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1722231800

Damit kommen wir zur Abstimmung.

Der Ausschuss für Wirtschaft empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 17/10183, den An-
trag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/7655 ab-
zulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitions-
fraktionen gegen die Stimmen von Linken und Grünen
bei Enthaltung der SPD angenommen.

Tagesordnungspunkt 26:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten
Gesetzes zur Änderung des Holzhandels-Si-
cherungs-Gesetzes

– Drucksache 17/12033 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-
cherschutz (10. Ausschuss)


– Drucksache 17/12400 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Cajus Caesar
Petra Crone
Dr. Christel Happach-Kasan
Dr. Kirsten Tackmann
Cornelia Behm

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.


Cajus Julius Caesar (CDU):
Rede ID: ID1722231900

Über 2 Millionen private Waldbesitzer gibt es in

Deutschland. Diese über 2 Millionen privaten Waldbe-
sitzer bewirtschaften fast die Hälfte der deutschen
Waldfläche nachhaltig – immerhin 4,9 Millionen Hek-
tar.

Diese über 2 Millionen privaten Waldbesitzer tra-
gen dazu bei, dass 1,2 Millionen Menschen in der

Zu Protokoll gegebene Reden





Cajus Caesar


(A) (C)



(D)(B)


Branche einen Arbeitsplatz haben. Diese über 2 Mil-
lionen privaten Waldbesitzer organisieren sich zum
Teil in über 4 500 forstwirtschaftlichen Zusammen-
schlüssen und beweisen damit viel Wirtschaftskompe-
tenz und Verantwortungsbewusstsein. Und diese über
2 Millionen privaten Waldbesitzer generieren einen
Umsatz von etwa 168 Milliarden Euro – ein gewaltiges
Wirtschaftspotenzial.

Neben diesen harten Fakten dürfen auch weitere
Aspekte nicht unerwähnt bleiben:

Unsere Waldbesitzer tragen durch ihre Arbeit zur
Wertschöpfung vor Ort bei. Sie erhalten einen qualita-
tiv hochwertigen Lebensraum für Mensch, Tier und
Natur. Durch die Pflege unserer Waldbesitzer und
Förster genießt unser Wald weltweite Vorbildfunktion.

Ich bin sicher, Sie sind mit mir einer Meinung, dass
man nicht oft genug Danke sagen kann für die Arbeits-
leistung unserer Waldbesitzer. Gerade dies möchte ich
an dieser Stelle natürlich nicht versäumen.

Welche Aufgaben ergeben sich daraus aber noch für
uns in der Politik? Wir müssen sinnvolle und notwen-
dige Rahmenbedingungen setzen, um unsere Waldbe-
sitzer bei ihrer vorbildlichen Arbeit zu unterstützen.
Keinesfalls dürfen wir ihnen unnötig Steine in den Weg
legen und bürokratische Hürden unverhältnismäßig
hoch bauen.

Mit der am 20. Oktober 2010 erlassenen EU-Holz-
handelsverordnung geht die EU gegen den Handel mit
illegal geschlagenem Holz vor, um ihn auf Dauer zu
bekämpfen. In einem ersten Schritt war 2011 zunächst
nur der Handel von Holzprodukten aus Ländern be-
troffen, mit denen ein freiwilliges Partnerschaftsab-
kommen bestand. In einem zweiten Schritt wird nun die
EU-Holzhandelsverordnung in nationales Recht um-
gesetzt. Die Verordnung wird bei uns in Deutschland
durch Änderungen des Holzhandelssicherungsgesetz
umgesetzt.

Ab diesem Zeitpunkt drohen bei Verstößen staatli-
che Sanktionen. Und dies ist auch richtig und sinnvoll;
denn der zentrale Punkt dieses Gesetzes ist die Verhin-
derung illegal eingeschlagenen Holzes!

Ich bin mir sicher, wir sind uns alle einig, dass es
von großer Bedeutung ist, das Inverkehrbringen und
den Handel mit illegalem Holz zu verhindern; denn il-
legal eingeschlagenes Holz bedeutet Profit Einzelner
zulasten der Gesellschaft. Bewährte Gefüge von Regu-
larien und Markt werden zerstört. Damit geht auch
eine Beeinträchtigung der heimischen Marktstrukturen
einher. Ebenso nicht zu vergessen sind die Schädigun-
gen an Klima und Umwelt. Das illegale Schlagen von
Holz und dessen Inverkehrbringen und Handel bedeu-
ten eine erhöhte und vor allem unkontrollierte Freiset-
zung von CO2.

In diesem klimapolitischen Zusammenhang ist es an
dieser Stelle auch wichtig, über den für unser Klima so
wichtigen Urwald zu sprechen, der gleichzeitig Le-
bensraum für viele Menschen, Tiere und Pflanzen ist.

Sie wissen: Jedes Jahr werden etwa 11 Millionen
Hektar Urwald zerstört, also etwa die Waldfläche
Deutschlands. 50 Prozent davon sind auf Dauer verlo-
ren, nur die Hälfte wird wieder aufgeforstet. Das Ziel
muss daher klar sein: Kein Holz und auch kein einzi-
ges Holzprodukt auf unserem deutschen Markt darf
aus illegalem Einschlag kommen.

Für den Schutz unserer Natur, den Schutz der Re-
genwälder und den Schutz unserer deutschen Waldbe-
sitzer, die so vorbildliche Arbeit leisten, setzen wir nun
die EU-Holzhandelsverordnung eins zu eins in natio-
nales Recht um.

Nach der EU-Holzhandelsverordnung ist das Inver-
kehrbringen von illegal eingeschlagenem Holz im EU-
Binnenmarkt verboten. Zudem sind alle Marktteilneh-
mer, die innerhalb der EU Holz oder Holzprodukte
erstmalig in Verkehr bringen, verpflichtet, bestimmte
Sorgfaltspflichten einzuhalten. Dazu gehören unter an-
derem Informationspflichten zur Art und Herkunft des
Holzes sowie Verfahren zur Einschätzung und Redu-
zierung des Risikos, dass das Holz aus illegalem Ein-
schlag stammt.

Das Erste Gesetz zur Änderung des Holzhandels-
sicherungsgesetzes dient der Durchführung der EU-
Holzhandelsverordnung. Die Kontrollmechanismen
sind so einfach wie eindeutig: Die zuständige Behörde
ist die Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernäh-
rung. Die Länder sind zuständig für die Überwachung
der Einhaltung der forst- und naturschutzrechtlichen
Vorschriften. Zudem wird am Thünen-Institut ein Kom-
petenzzentrum Holzherkünfte eingerichtet, das die
BLE wissenschaftlich unterstützt. Aber auch Unter-
nehmen, Verbänden und Verbrauchern wird das Kom-
petenzzentrum bei Fragen zur Verfügung stehen. Sol-
che Fragen können insbesondere Artzugehörigkeit,
geografische Herkunft, Legalität, Nachhaltigkeit und
Handelswege von Holz und Holzprodukten umfassen.

Für uns als CDU war es wichtig, die Verordnung
der EU umzusetzen, um den illegalen Einschlag von
Holz zu verhindern. Zentral ist aber auch, die bürokra-
tischen Hürden und organisatorischen Belastungen für
unsere heimischen Waldbesitzer, die eine hervorra-
gende Arbeit leisten, nicht übermäßig groß werden zu
lassen. Dies ist uns in vorbildlicher Weise gelungen.

Einige zentrale Beispiele bezüglich dieser vorbild-
lichen Umsetzung möchte ich an dieser Stelle heraus-
stellen:

Die EU-Verordnung verlangt, dass Unterlagen zum
Kauf und Handel von Holz aufbewahrt und den Behör-
den kostenlos zur Verfügung gestellt werden müssen.
Dies ist auch richtig und wichtig. Unser Gesetzentwurf
verlangt hier ein Mindesterfordernis, wie im Verwal-
tungsrecht üblich.

Die Behörde muss Originale zur Beweiserhebung
verlangen können, die der Betrieb postalisch übermit-
teln muss. Dies ist keine politische, sondern eine recht-
liche Frage; denn wird in diesem Gesetz explizit for-

Zu Protokoll gegebene Reden





Cajus Caesar


(A) (C)



(D)(B)


muliert, dass die elektronische Übermittlung Vorrang
hat, dann schließt das diese Möglichkeit in allen ande-
ren Gesetzen, in denen das nicht ausdrücklich formu-
liert ist, ausdrücklich aus.

Wir haben für unsere Waldbesitzer hierzu Folgen-
des erkämpft:

Die Änderung des Holzhandelssicherungsgesetzes
soll ausdrücklich formulieren, dass eine elektronische
Übermittlung der Unterlagen aus Gründen der Ver-
hältnismäßigkeit ausdrücklich möglich ist. Auch hin-
sichtlich der Strafbarkeit und der Bußgelder konnte
viel erreicht werden:

Laut EU-Recht ist das Inverkehrbringen von illegal
eingeschlagenem Holz verboten und muss bestraft
werden. Die Art und die Höhe der Bestrafung sind hier
nicht geregelt.

Wir müssen uns im deutschen Recht nun also mit
Fragen der Sanktion und der behördlichen Durchfüh-
rung beschäftigen. Das Problem hier liegt auf der
Hand: Unsere Waldbesitzer, deren hervorragende Ar-
beit wir nicht oft genug betonen können, verwalten und
bewirtschaften zum Teil sehr kleine Flächen. Damit
Holzeinschlag illegal wird, müssen nicht immer über-
mäßig große Teile des Waldes geschlagen werden. Oft
reicht es bereits aus, einen einzelnen Baum zu schla-
gen, in dem beispielsweise eine geschützte Vogelart
nistet – unbemerkbar von menschlichen Blicken.

Das heißt für uns: Wir machen die Motive, nicht die
handelnden Personen, zum zentralen Gegenstand. Nur
wer vorsätzlich und mit grobem Eigennutz handelt
oder seine Taten beharrlich wiederholt, begeht eine
Straftat. Kleinere Verstöße, die in der täglichen Wald-
arbeit auch fahrlässig passieren können, werden als
Ordnungswidrigkeiten geahndet.

Wichtig war uns bei der Umsetzung der EU-Verord-
nung auch, dass die wichtigen Kontrollen ohne unnö-
tige bürokratische Hürden stattfinden können.

Das EU-Recht schreibt uns vor: Belege über Holz-
einschlag und Holzhandel müssen aufbewahrt werden.
Hier besteht lediglich eine Dokumentationspflicht,
keine Genehmigungspflicht.

Laut EU-Verordnung 995/2010 müssen Behörden
regelmäßig Kontrollen in Wald und Betrieb durchfüh-
ren. Hierzu gibt es einen Kontrollplan. Der Bund
erlässt hierzu – in Abstimmung mit den Ländern – all-
gemeine Verwaltungsvorschriften, wie die entspre-
chenden Artikel anzuwenden sind.

Deutschland wird durch die Kontrolle der Bundes-
anstalt für Landwirtschaft und Ernährung dafür sor-
gen, dass kein Holz oder Holzprodukt aus illegalem
Einschlag auf unseren Markt kommt. Damit werden
keine Gelder aus Deutschland als Anreiz für weitere il-
legale Waldzerstörungen wirken können.

Der Gesetzentwurf ermöglicht eine effiziente Kon-
trolle und bürdet gleichzeitig der Wirtschaft und den
Waldbesitzern keine unnötigen bürokratischen Hürden

auf. Um den berechtigten Bedenken der Länder und
Waldbesitzer entgegenzukommen, sollen Verstöße nur
dann strafbar sein, wenn der Täter hierdurch Vermö-
gensvorteile großen Ausmaßes erlangt oder eine sol-
che Handlung beharrlich wiederholt.

Andere Verstöße werden aber weiterhin als Ord-
nungswidrigkeit mit Bußgeldern sowie gegebenenfalls
mit Beschlagnahmung des Holzes geahndet. Damit ist
eine angemessene und abschreckende Sanktionierung
weiterhin gegeben.

Gerade im Jahr 2013, in dem wir das 300. Jubiläum
der forstlichen Nachhaltigkeit feiern, ist dieser Gesetz-
entwurf ein positiver Ausdruck der Wertschätzung für
die Arbeit unserer Waldbesitzer. Gleichzeitig schützen
wir unseren schönen Wald vor dem Zugriff Habgieri-
ger, die es nicht gut mit dem Wald und den dort leben-
den Menschen meinen.

Nirgends wird Nachhaltigkeit so gut begreifbar wie
in unserem Wald – durch die Leistung und das Engage-
ment der Waldbauern und Forstleute. Vor dreihundert
Jahren waren sie es, die den Begriff der Nachhaltigkeit
zu einem entwickelten, der gerade heute wieder in al-
ler Munde ist.


Petra Crone (SPD):
Rede ID: ID1722232000

„Illegal geschlagenes Holz wird auf dem EU-Markt

verboten“: Mit diesen Worten verkündete das Europäi-
sche Parlament am 7. Juli 2010 die Einigung zur EU-
Gesetzgebung, die den Verkauf von illegal gefälltem
Holz verbietet – mit 644 von 685 Stimmen. Das Echo
auf die europäische Entscheidung war gewaltig; ge-
waltig positiv. Das Gesetz sei ein Meilenstein und ein
internationaler Durchbruch bei der Bekämpfung von
illegaler Abholzung, hieß es unisono. Und in der Tat
bilden die strengen Vorschriften der Verordnung eine
wirksame Grundlage gegen das Inverkehrbringen von
illegal geschlagenem Holz oder Produkten aus Holz
auf den EU-Markt.

Nach zehn Jahren intensiver Debatte und zähem
Ringen standen die 27 Mitgliedstaaten hinter der Ver-
ordnung (EU) Nr. 995/2010, die sich sowohl auf die
Wälder weltweit als auch auf den EU-Markt bezieht.
Angestoßen wurden die Debatte und das konkrete Han-
deln im Jahr 2003 mit dem EU-Aktionsplan „Rechts-
durchsetzung, Politikgestaltung und Handel im Forst-
sektor“, kurz FLEGT. Diese Gesetzgebung, für die sich
vor allem das Europäische Parlament verdient ge-
macht hat, galt als Signal an alle Händler, dass diese
zukünftig ihr illegales Holz nicht mehr auf dem euro-
päischen Markt loswerden.

Noch immer stammen schätzungsweise 20 Prozent
des auf dem EU-Markt gehandelten Holzes von illegal
geschlagenen Bäumen. Die Einfuhr illegalen Holzes
nach Deutschland liegt schätzungsweise bei 3 bis
6 Prozent. Würden wir uns nur die Tropenholzimporte
anschauen, läge der Anteil wohl um einiges höher. Es
ist fast unmöglich, belastbare Zahlen über den Raub-
holzhandel zu bekommen. Der Anteil an illegalem oder

Zu Protokoll gegebene Reden





Petra Crone


(A) (C)



(D)(B)


verdächtigem Holz wird bei Lieferungen aus Afrika
oder Südostasien von Experten auf fast 50 Prozent ge-
schätzt.

Illegaler Holzeinschlag ist ein Problem, das in sei-
nen Ausmaßen nicht verheerend genug beschrieben
werden kann: vom Verlust der Artenvielfalt bis hin zu
den nachteiligen sozialen Folgen für die dortige Be-
völkerung. Waldrodung ist zudem für rund 20 Prozent
der Treibhausgasemissionen verantwortlich. Was nach
dem globalen Raub an der Natur zurückbleibt, ist ein
zerstörter Wald. Er ist kein Lebensraum mehr – weder
für Menschen noch für Tiere und Pflanzen.

Nach der Entscheidung im Juli 2010 war Deutsch-
land gefordert, die Verordnung in nationales Recht
umzusetzen. In einem ersten Schritt wurde dann die
Holzeinfuhr aus Ländern geregelt, mit denen die EU-
Mitgliedstaaten freiwillige Partnerschaftsabkommen
geschlossen haben. Sie bezwecken eine aktive Einbe-
ziehung waldreicher Länder, in denen sich der illegale
Holzeinschlag jeden Tag vollzieht. Im Herkunftsland
selbst wird ein Rückverfolgungssystem für Holz einge-
richtet; in Deutschland die Einfuhr mittels FLEGT-Ge-
nehmigungsschein kontrolliert. Bei der Debatte im
April 2011 zum Gesetz gegen den Handel mit illegal
eingeschlagenem Holz, HolzSiG, waren sich alle Frak-
tionen im Deutschen Bundestag einig, dass es in den
nächsten Jahren und Jahrzehnten gelingen muss, die
illegale Abholzung als gängige Praxis in vielen wald-
reichen Ländern zu unterbinden.

Viele an der Debatte beteiligten Kolleginnen und
Kollegen machten deutlich, dass die Umsetzung der
EU-Holzhandelsverordnung in einem zweiten Schritt
das weitaus wichtigere Gesetzesinstrument sein wird,
um die Vermischung von illegal geschlagenem unter
das zugelassene Holz, sobald es auf dem EU-Markt zur
Verfügung steht, zu unterbinden.

Die Bundesregierung hat am 31. Oktober 2012 in
ihrer Kabinettssitzung den „Entwurf eines Ersten Ge-
setzes zur Änderung des Holzhandels-Sicherungs-Ge-
setzes“ verabschiedet und in den Bundestag mit der
Drucksachennummer 17/12033 eingebracht. Er war
alles in allem ein akzeptabler Entwurf. Zentraler Bau-
stein: der neue Straftatbestand des § 7 Abs. 2, der für
einen vorsätzlichen Verstoß gegen die zentrale Vor-
schrift des Art. 4 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 995/
2010 gelten sollte. Die Verankerung des Straftatbe-
stands im Gesetz sollte der wirksamen und abschre-
ckenden Sanktionierung dienen, wie sie in Art. 19
Abs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 995/2010 vorgeschrie-
ben ist. Die Bundesregierung hielt diese auch für ver-
hältnismäßig, da sie nur für einen vorsätzlichen Ver-
stoß gegen die zentrale Vorschrift des Art. 4 Abs. 1 der
Verordnung (EU) Nr. 995/2010 gelten sollte.

Der Versuch der damaligen niedersächsischen Lan-
desregierung aus CDU und FDP, über den Bundesrat
diesen Straftatbestand für die deutschen Waldbesitzer
abzuschaffen, wurde von der Bundesregierung abge-
lehnt.

„Der Straftatbestand ist aus Sicht der Bundesregie-
rung erforderlich und wird auch in den meisten ande-
ren EU-Mitgliedstaaten mit einem hohen Anteil am

(zum Beispiel FR, DK, SW, UK, NL)

Verordnung (EU) Nr. 995/2010 in möglichst gleich-
wertiger Weise durchführen“, so die Bundesregierung
in ihrer Gegenäußerung auf der Bundestagsdrucksa-
che 17/12033.

Und nun hat uns alle am 18. Februar 2013, zwei
Tage vor der abschließenden Lesung im Agraraus-
schuss dieses Hauses, ein Änderungsantrag von CDU/
CSU und FDP erreicht, der diesen zentralen Baustein
des Gesetzes in deutlicher Weise aufweicht. Ich frage
mich ernsthaft, wie viele Blüten die Lobbyhörigkeit
dieser Regierung eigentlich noch treiben wird!

Mit der Einführung zusätzlicher Tatbestandsmerk-
male zur Erfüllung des Straftatbestandes wird die
Schwelle erhöht, was in Zukunft als Straftat gilt. Da es
sich bei den im neuen § 8 HolzSiG geschaffenen Tatbe-
standsmerkmalen um subjektive handelt, kann Straf-
barkeit gegeben sein, muss aber nicht – „grober Ei-
gennutz“, „Vermögensvorteile großen Ausmaßes“,
„beharrliche Wiederholung“. Im ursprünglichen Ge-
setzentwurf war der Straftatbestand bei vorsätzlichen
Verstößen gegen Art. 4 Abs. 1 der Verordnung (EU)

Nr. 995/2010 von Beginn an gegeben, das heißt, es hat
keiner weiteren Tatbestandsmerkmale – „direkter
Straftatbeststand“ – bedurft.

Durch den Änderungsantrag der Koalitionsfraktio-
nen wurde nun eine Änderung eingeführt, die Spiel-
raum für Interpretationen bzw. Entscheidungen zwi-
schen Ordnungswidrigkeit und Straftat zulässt. Die
Verankerung von subjektiven Straftatbeständen wird
einer wirksamen und abschreckenden Sanktionierung,
wie sie in Art. 19 Abs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 995/
2010 vorgeschrieben ist, nicht gerecht.

Schon im ursprünglichen Entwurf hat kein Automa-
tismus bestanden, wonach deutsche Waldbesitzer we-
gen geringfügigen Verstößen mit strafrechtlichen Ver-
fahren zu rechnen hatten. Die Behörden waren mit
genügend Spielraum ausgestattet. Die Bundesregie-
rung nimmt es nun aber in Kauf, das weiter ineffektiv
mit Geldbußen im Rahmen von Ordnungswidrigkeits-
tatbeständen gegen die Einfuhr illegal geschlagenen
Holzes vorgegangen wird. Die Händler von illegalem
Holz und die internationalen Banden wird es freuen.

Wer wie die Koalitionsfraktionen das vorsätzliche
Inverkehrbringen illegal eingeschlagenen Holzes erst
dann strafbar machen will, wenn die in § 8 Abs. 1 vor-
gesehenen Qualifizierungen hinzutreten, erhöht die
Schwelle für strafbare Handlungen und nimmt in Kauf,
dass sich Einschlag und Handel von illegalem Holz
auch weiterhin lohnen werden. Diese deutsche Rege-
lung öffnet auf europäischer Ebene ein Einfallstor für
weitere schwache und schwächere Umsetzungen der
Verordnung in anderen EU-Ländern. Das Umschwen-

Zu Protokoll gegebene Reden





Petra Crone


(A) (C)



(D)(B)


ken der Bundesregierung in letzter Minute ist ein un-
anständiges Vorgehen.

Im Lichte dieser Regelung erscheinen der SPD-
Bundestagsfraktion auch die Regelungen zum Rück-
transport der Waren an den Ursprungsort oder die
Höhe der Geldbußen in einem fahleren Licht.

Mit der Verabschiedung dieses Gesetzentwurfs ist
für den Schutz unserer Wälder auf der ganzen Welt ent-
gegen der Verordnung und den Ankündigungen wenig
erreicht. Ich bin bekümmert, dass eine erste, alles in
allem passable Fassung des neuen HolzSiG auf Betrei-
ben der Lobby verändert wurde. Ich bin auch über-
zeugt, dass dies nicht allen im BMELV gefallen wird,
stecken doch in einem zehn Jahre währenden FLEGT-
Prozess viel persönliches Engagement, Arbeit und
auch Geld.

Die Fraktion der SPD unterstützt den FLEGT-Pro-
zess auf europäischer Ebene. Der ursprüngliche Ge-
setzentwurf der Bundesregierung hätte ihre Zustim-
mung erhalten, welche die Fraktion der SPD durch die
Änderungen nun bedauerlicherweise verweigern muss.
Die Änderung ist aber zu gravierend und berührt den
Kern der europäischen Verordnung. Deutschland ris-
kiert ohne Not seinen Ruf als Vorreiter bei der effekti-
ven Bekämpfung von illegalem Holzeinschlag und
Handel, was mehr als schade ist.


Dr. Christel Happach-Kasan (FDP):
Rede ID: ID1722232100

Wir wollen die intakten Primärwälder erhalten und

schützen. Sie sind die bedeutendsten Schatzkammern
der Artenvielfalt der Erde. Für die Menschen vor Ort
stellen intakte Urwälder die Lebensgrundlage dar, lie-
fern Nahrung und wertvolle nachwachsende Rohstoffe.
Raubbau am Wald ist Frevel an der Natur.

Wir feiern in diesem Jahr 300 Jahre Nachhaltigkeit.
Der sächsische Forstmann Hans von Carlowitz hat vor
1713 in seinem Werk über die Forstwirtschaft den Be-
griff der Nachhaltigkeit geprägt. Mit dem Holzhan-
delssicherungsgesetz wollen wir einen Beitrag für die
Umsetzung der Prinzipien der Nachhaltigkeit in den
Wäldern anderer Länder leisten.

Trotz aller Schutzanstrengungen sind viele Wälder
immer noch akut von illegalem Holzeinschlag bedroht.
So gingen laut Angaben der FAO in den letzten zehn
Jahren jährlich 13 Millionen Hektar naturnaher Wäl-
der verloren. Das ist mehr als die gesamte Waldfläche
Deutschlands. An diesen Verlusten hat der illegale
Holzeinschlag einen erheblichen Anteil. So machen
weitere Zahlen der FAO deutlich, dass außerhalb Eu-
ropas nur ein Bruchteil der Wälder nach den Kriterien
der Nachhaltigkeit bewirtschaftet wird. Die Bekämp-
fung des illegalen Holzeinschlages ist eine schwierige
Aufgabe, weil in vielen betroffenen Staaten die staatli-
chen Kontrollstrukturen wenig effektiv und die Regie-
rungsführungen mangelhaft sind.

Die EU ebenso wie China, die USA und Japan sind
die größten Importeure von Holz und Holzprodukten.
Wir haben daher eine besondere Verantwortung, dass

in der EU genutztes Holz nur aus legal und nachhaltig
bewirtschafteten Wäldern stammt. Die EU hat zum
Erreichen dieses Ziels die FLEGT-Verordnung (EG)

Nr. 2173/2005 – Forest Law Enforcement, Govern-
ment and Trade – eingeführt. Ziel dieses Regelungs-
werkes ist es, mithilfe freiwilliger Partnerschaftsab-
kommen, Voluntary Partnership Agreements – VPA,
die wichtigen Herkunftsländer von Tropenholz zu einer
besseren Überwachung und nachhaltigen Waldwirt-
schaft zu führen.

Darauf aufbauend hat die EU mit der Holzhandels-
verordnung (EU) Nr. 995/2010 diejenigen europäi-
schen Marktteilnehmer verpflichtet, die innerhalb der
EU Holz oder Holzprodukte erstmalig in Verkehr brin-
gen, bestimmte Sorgfaltspflichten einzuhalten. Diese
Vorschrift gilt für Holz und Holzprodukte im Sinne ih-
res Anhangs unabhängig von ihrer Herkunft und ver-
bietet die Vermarktung von illegal eingeschlagenem
Holz. Dazu gehören unter anderem Informations-
pflichten zur Art und Herkunft des Holzes sowie Ver-
fahren zur Einschätzung und Reduzierung des Risikos,
dass das Holz aus illegalem Einschlag stammen
könnte.

Deshalb begrüßen wir den Aufbau des Kompetenz-
zentrums Holzherkünfte am Thünen-Institut für Holz-
forschung, das bessere Methoden zur Holzartenbe-
stimmung und Identifikation von Holzherkünften
entwickelt. Mit solch modernen und flexiblen Metho-
den können Falschdeklarationen im Holzhandel
schneller aufgedeckt und geahndet werden als bisher.

Die Umsetzung der europäischen Vorgaben erfolgt
in Deutschland über das Holzhandelssicherungsge-
setz. Die jetzt in Kraft tretenden Durchführungsbestim-
mungen machen eine Ergänzung des Gesetzes notwen-
dig. Dabei müssen insbesondere die Aufgaben und
Eingriffsbefugnisse der zuständigen Behörden wie
Kontrollmaßnahmen und die Beschlagnahmung von
Holz, bei dem der begründete Verdacht auf einen Ver-
stoß gegen geltendes EU-Recht besteht, geregelt wer-
den.

Die Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernäh-
rung, BLE, soll für die nationale Durchführung der
Maßnahmen zuständig sein, soweit der Import von
Holz oder Holzprodukten aus einem Drittstaat, das
erstmalige Inverkehrbringen im EU-Binnenmarkt so-
wie die Einfuhr aus einem anderen Mitgliedstaat der
Europäischen Union betroffen sind. Für die Kontrolle
der inländischen Waldbesitzer nach Art. 10 der Ver-
ordnung sind die jeweiligen nach Landesrecht zustän-
digen Behörden verantwortlich.

Die FDP hat sich bei den parlamentarischen Bera-
tungen vor allem dafür eingesetzt, die notwendige Bü-
rokratie, die zwangsläufig entstehen wird, auf das ab-
solut notwendige Maß zu beschränken. Es war uns
ebenso wie unserem Koalitionspartner besonders
wichtig, die Leistungen der nachhaltig wirtschaften-
den deutschen Waldbesitzer anzuerkennen.

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Christen Happach-Kasan


(A) (C)



(D)(B)


Dass die heimische Waldwirtschaft fast vollständig
mit den Nachhaltigkeitssiegeln PEFC oder FSC zerti-
fiziert und teilweise sogar mit beiden Siegeln ausge-
zeichnet ist, macht dies deutlich. Darüber hinaus un-
terliegen unsere Waldbesitzer dem Bundeswaldgesetz
und den Landeswaldgesetzen sowie den Naturschutz-
bestimmungen. Ein illegaler Holzeinschlag kommt da-
mit in Deutschland praktisch nicht vor. Dennoch lässt
das unmittelbar geltende EU-Recht keine pauschale
Befreiung der Waldbesitzer zu, auch wenn die Länder
dies gefordert hatten.

Wir haben daher die Grenzen der Strafwürdigkeit
im Gesetz so angepasst, dass nur Fälle von besonderer
Schwere darunterfallen. Dies dient dem Schutz unserer
Waldbesitzer ebenso wie der Vermeidung von unnöti-
gen Strafverfahren und der Entlastung von Justiz und
Kontrollbehörden.

Dem Zweck der Bürokratievermeidung dienen auch
die beiden Forderungen aus unserem Entschließungs-
antrag. Erstens wollen wir klarstellen, dass die für die
Kontrolle wichtigen Nachweisdokumente auch in elek-
tronischer Form vorgehalten und an die Behörde über-
sendet werden können. Zum Zweiten stellt die EU-Ver-
ordnung neue und weitergehende Ansprüche an die
Kontrollbehörden der Länder hinsichtlich der heimi-
schen Waldbesitzer. Um einerseits die Anforderungen
der EU zu erfüllen und andererseits den Umfang von
Kontrollen dem Risiko anzupassen sowie bundesweit
einheitliche Kontrollen sicherzustellen, haben wir die
Bundesregierung aufgefordert, zusammen mit den
Ländern schnellstmöglich eine Allgemeine Verwal-
tungsvorschrift hierfür zu erarbeiten.


Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1722232200

Der Handel mit Holz und Holzprodukten ist ein in-

ternationaler Markt. Leider tummeln sich auf ihm viel
zu viele schwarze Schafe. Sie lassen Holz in Schutz-
gebieten einschlagen und bringen dieses illegale Holz
gewinnbringend an die Kundschaft, zum Beispiel in
der EU. Illegaler Holzeinschlag ist ein weltweit ver-
breitetes Problem von großer Bedeutung. Um den ille-
galen Holzeinschlag aktiv zu bekämpfen, beschloss die
EU im Jahr 2003 den FLEGT-Aktionsplan. FLEGT
steht für: Forest Law Enforcement, Governance and
Trade. Diesem unterstützenswerten Vorhaben der EU
folgten zwei Verordnungen, die jeweils in nationales
Recht umzusetzen sind. Der aktuell vorliegende Ge-
setzentwurf der Bundesregierung ist die zweite Umset-
zung in deutsches Recht und wird ab März 2013 gelten.
Wer dann Holz oder Holzprodukte auf den EU-Markt
bringt, muss deren legale Quelle nachweisen.

Die Linke tritt für eine nachhaltige, also soziale,
ökologische und wirtschaftliche Forstwirtschaft ein.
Dazu gehört, dass sie selbstverständlich nur in Gebie-
ten erfolgen darf, die für Holznutzung ausgewiesen
sind. Nationalparke und andere Juwelen der Artenviel-
falt müssen tabu sein. Wir haben uns damals vehement
für die FLEGT-Verordnung eingesetzt. Die teilweise
von der Forstwirtschaft vorgebrachte Kritik an der

Verordnung konnten wir nicht nachvollziehen. Schließ-
lich muss es im Interesse der Forstleute sein, Holz aus
illegalen – nicht zu verwechseln mit „nicht nachhalti-
gen“ – Quellen vom Markt zu verbannen. Wichtig ist
nun, dass alle EU-Mitgliedstaaten die Verordnung
konsequent umsetzen.

Bis Dienstagnachmittag dieser Woche hätte frau
meinen können, dass dieses Gesetzesvorhaben zwi-
schen allen Beteiligten völlig unstrittig ist. Doch leider
zerstörte ein Änderungsantrag der Koalitionsfraktio-
nen diesen Kompromiss. Union und FDP verwässern
damit erneut einen vernünftigen Gesetzentwurf aus
dem Hause Aigner. Die Bundesregierung betonte in ih-
rer Reaktion auf Forderungen des Bundesrates die
hohe Bedeutung der Straftatbestände, welche im ur-
sprünglichen Gesetzentwurf aufgeführt waren. Diese
seien erforderlich und würden auch von den meisten
anderen Mitgliedstaaten mit einem hohen Waldanteil
eingeführt. Durch den Änderungsantrag der Koalition
sollen nun viel weniger Tatbestände strafbar sein und
viel mehr Vergehen nur als Ordnungswidrigkeit bewer-
tet werden. Das widerspricht dem Geist der FLEGT-
Verordnung. Anstatt dass die Bundesrepublik Deutsch-
land nun mit gutem Beispiel vorangeht, bleibt eine ver-
wässerte nationale Umsetzung übrig. Das ist nicht zu-
friedenstellend. Ordnungswidrigkeiten sind nicht
wirklich abschreckend, finde ich. Die Wirksamkeit des
Gesetzes sollte möglichst schnell überprüft und dann
gegebenenfalls nachgebessert werden.

Was mich sehr verwundert, ist der Umstand, dass
die grüne Fraktion dem Gesetzentwurf trotz dieser
Verwässerung ihre Zustimmung gibt. Obwohl sie – wie
auch die SPD und die Linke – den Änderungsantrag
abgelehnt hat, der aber mit Koalitionsmehrheit ange-
nommen wurde. Will man sich „Jamaika-Koalitions-
Gedankenspiele“ mit einer Allianz aus CDU/CSU-
FDP-Grüne offenhalten und nimmt es dafür mit dem
Waldschutz dann doch nicht ganz so genau?

Das novellierte Holzhandelssicherungsgesetz wird
insbesondere die Aufgaben und Eingriffsbefugnisse
der zuständigen Behörden regeln, beispielsweise über
Kontrollmaßnahmen und Beschlagnahmung von Holz,
bei dem der begründete Verdacht auf einen Verstoß
gegen geltendes EU-Recht besteht. Darüber hinaus
werden der Datenaustausch der beteiligten Behörden
sowie Straf- und Bußgeldvorschriften geregelt, Letz-
tere eben nun leider in einer „Light-Version“, obwohl
die Bundesregierung betont hat, dass der Straftat-
bestand erforderlich ist und nicht durch zu viele Ord-
nungswidrigkeitsbestände aufgeweicht werden sollte.
Die Linksfraktion hat den Änderungsantrag abgelehnt
und wird sich beim nun aufgeweichten Gesetzentwurf
enthalten.

Spannend wird sein, ob die einkalkulierten 50 000
Euro für verdachtsunabhängige Untersuchungen aus-
reichen werden. Da der Gesetzentwurf im Ausschuss
nicht debattiert wurde, konnten wir uns nicht dazu aus-
tauschen, ob dieses Budget ausreicht und wie viele
Kontrollen damit finanziert werden können.

Zu Protokoll gegebene Reden






(A) (C)



(D)(B)



Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722232300

Bündnis 90/Die Grünen begrüßen, dass die Bundes-

regierung diesen Gesetzentwurf pflichtgemäß vorge-
legt hat. Denn er setzt die Holzhandelsverordnung der
EU um, die endlich das EU-Verbot für den Import von
und den Handel mit illegal geschlagenem Holz bringt.
Ein großer Erfolg für unseren beharrlichen grünen
Einsatz für dieses Verbot! Denn sowohl die schwarz-
rote als auch die schwarz-gelbe Bundesregierung ha-
ben sich bei diesem Thema in keiner Weise mit Ruhm
bekleckert. Schwarz-Rot und Umweltminister Gabriel
mussten zum Jagen getragen werden – Schwarz-Gelb
und Agrarministerin Aigner wollten das Importverbot
gemeinsam mit dem Agrarministerrat eigentlich gar
nicht haben. Aber da das EU-Parlament mitentschei-
den durfte, konnte das Importverbot für illegales Holz
endlich durchgesetzt werden. Wie gesagt, ein Riesener-
folg für grüne Politik.

Kritisch ist, dass die Koalition per Änderungsan-
trag die Strafbarkeit auf Fälle eingeschränkt hat, in
denen große Vermögensvorteile erzielt wurden oder
beharrliche Wiederholungen erfolgten. Das finden wir
falsch; denn wenn Vorsatz vorliegt, dann sollte der Im-
port von illegalem Holz auch dann strafbewehrt sein,
wenn damit nur geringe Gewinne erzielt wurden oder
es sich nicht um beharrliche Wiederholungstäter han-
delt. Die Befürchtung, kleine Fische müssten dann
gleich ins Gefängnis, ist unbegründet. Es ist abwegig,
anzunehmen, Gerichte würden in minderschweren
Fällen gleich zur Höchststrafe von einem Jahr greifen.
In diesen Fällen werden sie die ebenfalls vorgesehenen
Geldstrafen verhängen.

Wir haben uns aber entschlossen, dem Gesetz trotz
dieser Abschwächung zuzustimmen, denn die Umset-
zung der EU-Holzhandelsverordnung bleibt trotzdem
richtig und notwendig und ein Fortschritt für den in-
ternationalen Waldschutz.

Bei diesem Erfolg wollen wir Grüne aber keines-
wegs stehen bleiben, denn das war erst ein Etappen-
sieg für den internationalen Waldschutz. Wir setzen
uns vielmehr dafür ein, die EU-Holzhandelsverord-
nung dahin gehend zu erweitern, dass nur Holz und
Holzerzeugnisse, die aus nachhaltig bewirtschafteten
Wäldern stammen, in der EU in Verkehr gebracht wer-
den dürfen. Dazu muss die EU-Kommission einen ent-
sprechenden Vorschlag zur Ergänzung der EU-Holz-
handelsverordnung vorlegen. Damit schließen wir uns
übrigens einer Forderung des Europäischen Parla-
ments an, das diese Forderung am 11. Mai 2011 in sei-
ner Entschließung zum Grünbuch der Kommission
über Waldschutz und Waldinformation erhoben hat.

Auch offiziell legales Holz kann aus Raubbau stam-
men. So vergeben einzelne Urwaldländer entspre-
chend ihren nationalen Forstgesetzen Lizenzen zur
Rodung großer Urwaldflächen, ohne die geringsten
Sozial- und Umweltstandards anzulegen. Hierdurch
werden nicht nur Ökosysteme, sondern auch Lebens-
räume von Menschen zerstört. Es kann mit Fug und

Recht von Raubbau gesprochen werden. Um das zu
verhindern, müssten importierte Hölzer und Holzpro-
dukte zukünftig nur noch aus nachweislich nachhaltig
bewirtschafteten Wäldern stammen. Die Nachhaltig-
keit muss kontrolliert und glaubwürdig zertifiziert wer-
den. Das Holz aus den fragwürdigen „legalen“ Kahl-
schlägen dürfte dann nicht mehr importiert werden.
Das wäre ein wichtiger zusätzlicher Beitrag, um den
nach wie vor erschreckend großen Waldverlust von
jährlich 13 Millionen Hektar eindämmen zu können.

Keines der heutigen Zertifizierungssysteme ist per-
fekt. Einige sind besser, andere schlechter. Darüber, ob
die Zertifizierungsstandards hinreichend streng sind
oder eventuell gar zu anspruchsvoll, lässt sich immer
streiten und diskutieren. Naturgemäß entwickeln sich
im Wettbewerb stehende Systeme immer weiter. So
werden auch diese Standards regelmäßig fortentwi-
ckelt. Wichtig ist, dass seitens der Politik die richtigen
Ziele formuliert und zielgerichtete Maßnahmen ergrif-
fen werden.

Den Zertifizierungsansatz insgesamt aufgrund von
Missbrauchsfällen infrage zu stellen, hilft nicht weiter.
Denn Standards müssen kontrolliert und glaubwürdig
bescheinigt werden. Das bietet die Zertifizierung. Wer
keinerlei Anforderungen an die Art und Weise der
Holzproduktion über die Legalität hinaus stellt, wird
weiterhin Holz aus Raubbau erwerben. Das wäre dann
die völlig kontraproduktive Folge der scheinbar radi-
kalökologischen Haltung, die Zertifizierungssysteme
ablehnt und grundsätzlich infrage stellt.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1722232400

Wir kommen damit zur Abstimmung.

Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12400, den
Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache
17/12033 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen und der Grünen gegen die Stimmen
der SPD bei Enthaltung der Linken angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie zu-
vor angenommen.

Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/12400 empfiehlt der Ausschuss, eine
Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent-
haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men des Hauses bei Enthaltung der Grünen
angenommen.





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


Tagesordnungspunkte 28 a und b:

a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Gesetzes zur Entflechtung von Ge-
meinschaftsaufgaben und Finanzhilfen

– Drucksache 17/12296 –
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss (f)
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin
Kunert, Sabine Leidig, Dr. Kirsten Tackmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Eine ausreichende Finanzierung des öffentli-
chen Nahverkehrs gewährleisten

– Drucksache 17/12376 –
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss (f)
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)
Innenausschuss
Finanzausschuss
Federführung strittig

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Punkt zu Protokoll zu geben.1) – Sie sind damit
einverstanden.

Tagesordnungspunkt 28 a: Interfraktionell wird Über-
weisung der Vorlage auf Drucksache 17/12296 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Tagesordnungspunkt 28 b: Die Vorlage auf Drucksa-
che 17/12376 soll ebenfalls an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden. Jedoch ist
wieder einmal die Federführung strittig. Die Fraktionen
von CDU/CSU und FDP wünschen Federführung beim
Haushaltsausschuss, die Linke wünscht Federführung
beim Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung.

Ich lasse zuerst über den Vorschlag der Linken ab-
stimmen, also Federführung beim Verkehrsausschuss.
Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Überweisungs-
vorschlag ist mit den Stimmen der Regierungskoalition
und der SPD gegen die Stimmen der Linken bei Enthal-
tung der Grünen abgelehnt.

Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen von CDU/CSU und FDP abstimmen, also Fe-
derführung beim Haushaltsausschuss. Wer stimmt für
diesen Vorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-
gen? – Dieser Überweisungsvorschlag ist mit den Stim-
men der beiden Regierungsfraktionen und der SPD ge-

gen die Stimmen der Linken bei Enthaltung der Grünen
angenommen.

Tagesordnungspunkt 29:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Neuorganisation der bundesunmittelbaren
Unfallkassen, zur Änderung des Sozialge-
richtsgesetzes und zur Änderung anderer Gesetze

(BUK-Neuorganisationsgesetz – BUK-NOG)


– Drucksache 17/12297 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Rechtsausschuss
Ausschuss für Kultur und Medien

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.


Dr. Johann Wadephul (CDU):
Rede ID: ID1722232500

Wir diskutieren heute über ein Gesetzespaket aus

dem Bereich des Sozialgesetzbuchs mit ganz unter-
schiedlichen Zielsetzungen. Der erste Teil behandelt
Umstrukturierungen auf dem Gebiet der Unfallversi-
cherungsträger. Im zweiten Teil sollen Änderungen im
Sozialgerichtsgesetz erfolgen, die der Entlastung der
Sozialgerichtsbarkeit dienen. Und schließlich als
dritte Komponente enthält das Gesetz Änderungen für
das Dritte und Vierte Sozialgesetzbuch zur bedarfsge-
rechten Ausstellung von Arbeitsbescheinigungen.

Ich möchte zunächst auf die Regelungen hinsicht-
lich der Unfallversicherungsträger zu sprechen kom-
men. Dazu müssen wir den Blick noch einmal auf ein
bereits verabschiedetes Gesetz werfen, das als Vorgän-
gerregelung wichtige Elemente für das aktuelle Ge-
setzgebungsvorhaben enthält.

Im Oktober 2008 haben wir das Unfallversiche-
rungsmodernisierungsgesetz verabschiedet, dessen
Ziel es war, die Anzahl der Träger bei den Berufsge-
nossenschaften und bei den Unfallkassen zu reduzie-
ren. Im Zuge dessen verblieben von den ursprünglich
23 Trägern bei den Berufsgenossenschaften noch
neun. Erreicht wurde dieses Ziel bereits zum 1. Januar
2011 durch entsprechende Beschlussfassungen der
Selbstverwaltung. Der Organisationsumbau ist damit
also im gewerblichem Bereich abgeschlossen.

Zugleich enthielt das Unfallversicherungsmoderni-
sierungsgesetz die Vorgabe, auch die Zahl der bun-
desunmittelbaren Unfallversicherungsträger von ur-
sprünglich drei auf einen Träger zu verringern. Die
Selbstverwaltungen der Unfallkassen sollten hierzu ein
Konzept zur Neuorganisation erarbeiten. Diesen Auf-
trag nahmen die Selbstverwaltungen selbstverständ-
lich gewissenhaft wahr und legten einen soliden und
durchdachten Vorschlag hierfür vor. Danach fusioniert
die Unfallkasse des Bundes mit der Eisenbahn-Unfall-
kasse. Der dritte bundesunmittelbare Träger, die Un-
fallkasse Post und Telekom, fusioniert mit der Berufs-
genossenschaft für Transport und Verkehrswirtschaft. 1) Anlage 11





Dr. Johann Wadephul


(A) (C)



(D)(B)


Diese Neuorganisation soll nun in dem Gesetz zur
Neuorganisation der bundesunmittelbaren Unfallkas-
sen, zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und zur
Änderung anderer Gesetze – dem sogenannten BUK-
Neuorganisationsgesetz oder kurz BUK-NOG – gere-
gelt werden. Die bereits durch das Unfallversiche-
rungsmodernisierungsgesetz begonnene Straffung und
Modernisierung der gesetzlichen Unfallversicherung
soll mit dem BUK-NOG nun weitergeführt und abge-
schlossen werden. Eine gesetzliche Grundlage ist hier-
bei erforderlich – im Gegensatz zu den gewerblichen
Berufsgenossenschaften –, da die Unfallkassen per
Gesetz errichtet wurden. Änderungen sind somit eben-
falls nur auf gesetzlicher Grundlage möglich.

Der künftige neue und einzige bundesunmittelbare
Unfallversicherungsträger, die Unfallversicherung
Bund und Bahn, soll zum 1. Januar 2015 errichtet wer-
den. Die Eisenbahn-Unfallkasse und die Unfallkasse
des Bundes gehen vollständig in dem neuen Träger
auf.

Die neue Berufsgenossenschaft für Transportwirt-
schaft, Post-Logistik und Telekommunikation geht aus
einem gewerblichen Träger – der Berufsgenossen-
schaft für Transport und Verkehrswirtschaft – und ei-
nem öffentlichen Träger – der Unfallkasse Post und
Telekom – hervor. Der neue gewerbliche Träger soll
seine Tätigkeit offiziell zum 1. Januar 2016 aufneh-
men. Aufgrund der besonderen Situation der unter-
schiedlichen Vorgänger-Trägerformen wird die neue
Berufsgenossenschaft stufenweise am Lastenausgleich
der gewerblichen Berufsgenossenschaften teilnehmen
und nicht gleich zu Beginn zu 100 Prozent. Ebenfalls
dieser besonderen Konstellation geschuldet sind ei-
nige Sonderregelungen, da der neue Träger übertra-
gene staatliche Aufgaben der Unfallkasse Post und Te-
lekom wahrnehmen wird.

Um nun zum zweiten Abschnitt des Gesetzespakets
zu kommen, möchte ich die geplanten Änderungen im
Dritten und Vierten Buch Sozialgesetzbuch kurz erläu-
tern.

Zum einen geht es darum, die gesetzliche Verpflich-
tung des Arbeitgebers zur Ausstellung einer Arbeits-
bescheinigung zu beschränken. Bisher muss ein
Arbeitgeber stets bei Beendigung eines sozialversiche-
rungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses dem
scheidenden Arbeitnehmer eine solche Arbeitsbeschei-
nigung ausstellen. Dies ist jedoch in solchen Fällen
nicht von Bedeutung, in denen der Arbeitnehmer un-
mittelbar im Anschluss an das alte Beschäftigungsver-
hältnis ein neues beginnt. Es ist auch dann entbehr-
lich, wenn der Arbeitnehmer, aus welchen Gründen
auch immer, kein Arbeitslosengeld beantragt. In der
Tat belegen Zahlen, dass im Jahr 2011 circa 7,8 Mil-
lionen sozialversicherungspflichtige Beschäftigungs-
verhältnisse beendet wurden, aber lediglich 2,5 Millio-
nen Anträge auf Arbeitslosengeld gestellt wurden. Das
heißt also, dass inzwischen nur ein Drittel der Perso-
nen nach Beendigung ihres Beschäftigungsverhältnis-

ses Arbeitslosengeld in Anspruch nehmen müssen be-
ziehungsweise wollen.

Es wäre folglich eine enorme bürokratische und fi-
nanzielle Entlastung für Arbeitgeber, die Pflicht zur
Ausstellung der Arbeitsbescheinigungen auf solche
Fälle zu begrenzen, in denen dies von den Arbeitneh-
mern oder von der Bundesagentur für Arbeit gefordert
wird.

Im gleichen Schritt soll auch eine elektronische
Übermittlung der Arbeitsbescheinigung sowie der Ne-
beneinkommensbescheinigung mit ins Gesetz aufge-
nommen werden. Die Arbeitgeber sollen darüber hi-
naus ermächtigt werden, die Bescheinigungen direkt
an die Bundesagentur für Arbeit zu übermitteln. Ein
explizit hierfür ausgestaltetes Widerspruchsrecht zu-
gunsten der Arbeitnehmer schützt deren datenschutz-
rechtliche Interessen.

Eine weitere Erwähnung verdient die geplante
Regelung im Vierten Buch Sozialgesetzbuch, wonach
künftig klargestellt werden soll, dass die Rentenversi-
cherungsträger die Meldepflichten der Arbeitgeber
nach dem Künstlersozialversicherungsgesetz im Vier-
Jahres-Rhythmus zu überprüfen haben. Damit soll ei-
nerseits eine größere Abgabeehrlichkeit und -gerech-
tigkeit unter den Arbeitgebern bewirkt werden. Ande-
rerseits soll auf diese Weise verhindert werden, dass
die Einnahmen der Künstlersozialversicherung weiter
rückläufig sind und der Abgabesatz dadurch steigt.
Wir wollen vielmehr einen Beitrag zur Stabilisierung
der Künstlersozialversicherung leisten.

Schließlich sollen die neuen Regelungen im Sozial-
gerichtsgesetz nicht unerwähnt bleiben. Auf Vorschlag
der Justizministerkonferenz (kurz JUMIKO) wurden
folgende Punkte aufgegriffen: So sollen die Listen der
ehrenamtlichen Richter harmonisiert werden, und die
Statthaftigkeit von Beschwerden soll übersichtlicher
und klarer geregelt werden. Darüber hinaus soll künf-
tig eine Beschwerde gegen Beschlüsse des Sozialge-
richts über die Ablehnung von Sachverständigen aus-
geschlossen werden. Und zu guter Letzt ist geplant,
den Personenkreis für das Amt der ehrenamtlichen
Richter um den Bereich der privaten Wirtschaft zu er-
weitern.

Insgesamt halte ich diesen Gesetzentwurf, der heute
in erster Lesung in den Bundestag eingebracht wird,
für ausgewogen und auf eine moderne, effiziente und
entbürokratisierte Verwaltung ausgerichtet.


Max Straubinger (CSU):
Rede ID: ID1722232600

Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird die Orga-

nisationsstruktur der gesetzlichen Unfallversicherung
weiter gestrafft und modernisiert. Die Zahl der ge-
werblichen Berufsgenossenschaften wurde bereits
durch das Gesetz zur Modernisierung der Unfallversi-
cherung aus dem Jahr 2008 von 23 Trägern auf 9 re-
duziert. Nunmehr werden die Unfallkasse des Bundes
und die Eisenbahn-Unfallkasse zum 1. Januar 2015 in
die neu errichtete, bundesunmittelbare Unfallkasse

Zu Protokoll gegebene Reden





Max Straubinger


(A) (C)



(D)(B)


Unfallversicherung Bund und Bahn eingegliedert. Au-
ßerdem wird die Unfallkasse Post und Telekom zum
1. Januar 2016 mit der Berufsgenossenschaft für
Transport und Verkehrswirtschaft zusammengeschlos-
sen. Durch diese Fusion entsteht die gewerbliche Be-
rufsgenossenschaft Verkehrswirtschaft Post-Logistik
Telekommunikation. Als bundesunmittelbarer Unfallver-
sicherungsträger der öffentlichen Hand verbleibt also
nur die Unfallversicherung Bund und Bahn.

Wie bei vorherigen Organisationsreformen wurde
den Selbstverwaltungsorganen der beteiligten Unfall-
versicherungsträger Gelegenheit gegeben, Vorschläge
zu den für die Organisationsreform notwendigen ge-
setzlichen Regelungen zu machen. Im Gesetzentwurf
sind die Vorschläge der Selbstverwaltungen weitge-
hend berücksichtigt worden.

Es besteht die berechtigte Erwartungshaltung, den
Prozess der Straffung und Modernisierung, der bei den
gewerblichen Berufsgenossenschaften erfolgreich um-
gesetzt wurde, jetzt auch zügig im Bereich der bun-
desunmittelbaren Unfallkassen nachzuvollziehen. Das
Organisationsgesetz soll deshalb noch in dieser Legis-
laturperiode verabschiedet werden. Mit der heutigen
Einbringung schaffen wir die Voraussetzungen für eine
zügige parlamentarische Verabschiedung des Gesetz-
entwurfs.

Daneben enthält der Entwurf weitere Änderungen:
So werden zur Entlastung und zur Effizienzsteigerung
in der Sozialgerichtsbarkeit Vorschläge zum Sozial-
prozessrecht aus dem im Juni 2012 beschlossenen Be-
richt der 83. Konferenz der Justizministerinnen und
Justizminister und aus der Praxis, die zu höherer
Rechtssicherheit und zur Verfahrensvereinfachung bei-
tragen, aufgegriffen.

Durch Änderungen im Arbeitsschutzgesetz wird
klargestellt, dass sich die Gefährdungsbeurteilung
auch auf psychische Belastungen bei der Arbeit be-
zieht und der Gesundheitsbegriff neben der physischen
auch die psychische Gesundheit der Beschäftigten um-
fasst. Damit soll das Bewusstsein der Arbeitgeber für
psychische Belastungen bei der Arbeit geschärft wer-
den.

Zur Entbürokratisierung und zur Verwaltungsver-
einfachung enthält der Gesetzentwurf zudem Änderun-
gen im SGB III und SGB IV. So wird die Arbeitsbe-
scheinigung bei Beendigung eines Beschäftigungsver-
hältnisses künftig nur noch dann ausgestellt werden,
wenn der betroffene Arbeitnehmer oder die Bundes-
agentur für Arbeit es verlangt. Darüber hinaus soll Ar-
beitgebern die Möglichkeit eröffnet werden, die von
ihnen zu erstellenden Bescheinigungen auf elektro-
nischem Wege an die Bundesagentur für Arbeit zu über-
mitteln.

Der Bundesrat hat am 1. Februar 2013 Stellung
zum Gesetzentwurf genommen. Der Kernbereich des
Entwurfs, die Neuorganisation der Unfallkassen, ist
hiervon nicht betroffen. Die Bundesregierung hat in
ihrer Gegenäußerung die Vorschläge der Länder über-

wiegend abgelehnt. Diese Fragen werden damit im
Zentrum der parlamentarischen Debatte stehen.

Ich möchte hier und heute eine Forderung der Län-
der herausgreifen, und zwar die Berücksichtigung der
demografischen Entwicklung bei der Festsetzung der
Aufwendungen für Rehabilitationsleistungen, die An-
passung des sogenannten Reha-Budgets. Ich habe
große Sympathie für diese Forderung, über die in der
Sache auch kein Dissens besteht. Allerdings ist dieser
Regelungsgegenstand Teil des Rentenpakets, über das
die Koalition derzeit intensiv berät. Der Koalitions-
ausschuss hat hierzu am 31. Januar 2013 eine Arbeits-
gruppe auf der Ebene der Fraktionsspitzen eingesetzt.
Das zeigt: Die christlich-liberale Koalition strebt an,
noch in dieser Legislaturperiode ein großes Rentenpa-
ket zu verabschieden. Vor diesem Hintergrund schließe
ich die Herauslösung einer Teilregelung aus heutiger
Sicht aus.


Silvia Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1722232700

Die gesetzliche Unfallversicherung ist ein zentrales

Instrument des Sozialstaates, um Unfälle und Krank-
heiten im betrieblichen Umfeld zu verhindern und zu
entschädigen. Damit ist sie Ausdruck des präventiven
und inklusiven Gedankens im sozialen Recht und als
Zweig der Sozialversicherung zentraler Pfeiler einer
solidarischen Gesellschaft.

Der vorliegende Gesetzentwurf will die Neuorgani-
sation und Vereinheitlichung der bundesunmittelbaren
Kassen erreichen, kommt dabei aber bei zahlreichen
Einzelregelungen an die Grenzen des Sinnvollen.

Der Bundesrat hat der Bundesregierung hier ein
entsprechendes Zeugnis ausgestellt und Änderungs-
vorschläge zu dem Gesetzentwurf der Bundesregie-
rung aufgeführt, die wir in vollem Umfang teilen. Es
wird vom Bundesrat unter anderem richtig festgestellt,
dass die beabsichtigte Regelung in § 28 p Abs. 1 SGB
IV zur Überprüfung der Arbeitgeber durch die Träger
der gesetzlichen Rentenversicherung im Hinblick auf
die Künstlersozialabgabe unverhältnismäßig sein
könnte.

Der Aufwand wird von der gesetzlichen Renten-
versicherung gänzlich anders beurteilt als von der
Bundesregierung. Während die Experten der Renten-
versicherung hier circa 50 Millionen Euro an zusätzli-
chem finanziellen Aufwand beziffern, geht die Bundes-
regierung von „nur“ 500 000 Euro Mehrkosten aus.
Dies ist schon verwunderlich, da nach allgemeiner
Auffassung die Einbeziehung der Bundesbehörden in
sie betreffende fachliche Fragen doch zu der gründli-
chen Vorbereitung eines Gesetzentwurfes gehört. Die
Bundesregierung sollte also dem Votum des Bundes-
rates folgen und nachträglich auf eine entsprechende
Änderung im parlamentarischen Verfahren hinwirken.

Auch hat der Bundesrat wichtige Hinweise und
konkrete Änderungsvorschläge im Bereich der Mitver-
sicherung von Kindern in vorschulischen Sprachkur-
sen, der Pflicht zur betrieblichen Dokumentation der

Zu Protokoll gegebene Reden





Silvia Schmidt (Eisleben)



(A) (C)



(D)(B)


Gefährdungsbeurteilung oder zur Durchsetzung von
Anordnungen des Arbeitsschutzes gegenüber Bauher-
ren unterbreitet.

Ich empfehle der Bundesregierung, diese Änderun-
gen ernsthaft zu prüfen und gegebenenfalls Änderun-
gen herbeizuführen.

Einen wichtigen Punkt des Bundesrates möchte ich
hier noch einmal aufgreifen. Es handelt sich um die
Forderung, zwei Regelungen aus dem Recht der
gesetzlichen Rentenversicherung in das Gesetz aufzu-
nehmen, die sonst in dieser Legislaturperiode mögli-
cherweise nicht mehr verabschiedet werden.

Zum einen geht es um die neutrale Beratung der
Rentenversicherungsträger über die Altersvorsorge-
möglichkeiten der Versicherten. Wir sollten hier weg
von der Auseinandersetzung über Begrifflichkeiten hin
zu einer sachorientierten Lösung kommen.

Es nützt niemandem, wenn die Bundesregierung
einen Beschluss des Bundesrates zurückweist, weil
man mit dem Begriff der „Beratung“ Haftungsrisiken
verbindet, um danach postwendend durch das zustän-
dige Bundesministerium eine Formulierung zu wählen,
deren Inhalt vergleichbar ist. Das lässt den Schluss zu,
dass es hier nicht um die Sache geht, sondern auf dem
Rücken der Versicherten taktische Spielchen getrieben
werden sollen.

Gleiches gilt für die demografiegerechte Regelung
des § 220 SGB VI, in dem die verfügbaren Mittel der
Rentenversicherung für die Teilhabe am Arbeitsleben
behinderter Menschen in den kommenden Jahren
festgeschrieben sind. Es liegen dazu bereits seit über
einem Jahr die Vorschläge auf dem Tisch, aber diese
Regierung schafft es nicht, in dieser für unsere Zukunft
so wichtigen Frage aktiv zu werden.

Ich meine, diese Regierung tut gut daran, dies zu
unterlassen und eine Rentenreform auf den Weg zu
bringen oder die hier vorgeschlagenen Regelungen
– wie vom Bundesrat richtigerweise dargestellt – in
den Gesetzentwurf zu übernehmen. Zeit wurde lang
genug vertan, die Legislaturperiode ist nahezu vorbei,
es muss jetzt endlich gehandelt werden.


Miriam Gruß (FDP):
Rede ID: ID1722232800

Die gesetzliche Neuordnung der bundesunmittelba-

ren Unfallkassen erfolgt in Umsetzung des Unfallver-
sicherungsmodernisierungsgesetzes, UVMG, aus dem
Jahr 2008. Das UVMG gibt vor, die Anzahl der bun-
desunmittelbaren Unfallversicherungsträger der öf-
fentlichen Hand auf eine Unfallkasse zu reduzieren.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird der einge-
leitete Prozess der Straffung und Modernisierung der
gesetzlichen Unfallversicherung fortgesetzt.

Ein wesentlicher Baustein der Neuorganisation ist
die Reduzierung der Trägerzahl. Die Zielvorgabe des
UVMG, die Zahl der gewerblichen Berufsgenossen-
schaften durch Fusionen von 23 Trägern auf 9 zu re-
duzieren, wurde zum 1. Januar 2011 umgesetzt.

Im Bereich der bundesunmittelbaren Unfallversi-
cherungsträger der öffentlichen Hand – Unfallkasse
des Bundes, Eisenbahn-Unfallkasse, Unfallkasse Post
und Telekom – setzt das UVMG die Zielvorgabe, die
Trägerzahl von drei auf eine Unfallkasse zu reduzie-
ren. Dies geschieht nun durch das vorliegende Gesetz:
Mit der Errichtung der Unfallversicherung Bund und
Bahn durch eine Fusion der Unfallkasse des Bundes
mit der Eisenbahn-Unfallkasse zum 1. Januar 2015 be-
steht nun künftig nur noch eine bundesunmittelbare
Unfallkasse der öffentlichen Hand.

Darüber hinaus hat sich die FDP immer für eine
saubere Zuordnung der Unternehmen zu den jeweili-
gen Trägern ausgesprochen. Die FDP hat die Inten-
tion des vorliegenden Gesetzes seit jeher unterstützt
und bereits 2007 gefordert. Im FDP-Antrag auf Bun-
destagsdrucksache 16/6645 – „Mehr Wettbewerb und
Kapitaldeckung in der Unfallversicherung“ – vom
10. Oktober 2007 heißt es: „Unternehmen mit Beteili-
gung der öffentlichen Hand, die im Wettbewerb mit
privaten Unternehmen stehen, wie beispielsweise die
Post oder Telekom, sollen nicht weiter bei den öffentli-
chen Unfallkassen versichert sein und dadurch gegen-
über privaten Konkurrenten wirtschaftliche Vorteile
erhalten. Sie sind daher künftig bei den Berufsgenos-
senschaften für Berufskrankheiten und privaten Anbie-
tern für Arbeitsunfälle zu versichern.“

Die FDP-Fraktion begrüßt deshalb auch die jetzt
erreichte Lösung bei den gewerblichen Trägern. So
wird auch die Unfallkasse Post und Telekom mit der
BG für Transport und Verkehrswirtschaft zum 1. Ja-
nuar 2016 zur BG Verkehrswirtschaft Post-Logistik-
Telekommunikation verschmolzen. Sie geht also in ei-
ner gewerblichen BG auf.

Diese Lösung geht weitgehend auf einen gemeinsa-
men Vorschlag der Selbstverwaltungen der Unfall-
kasse Post und Telekom und der Berufsgenossenschaft
für Transport und Verkehrswirtschaft zurück. Man
sieht, dass der Koalition die Einbeziehung der Selbst-
verwaltungen sehr wichtig war. Dort, wo den gewerb-
lichen Berufsgenossenschaften Gestaltungsmöglich-
keiten bei Fusionen eröffnet werden, werden die Vor-
schläge der Selbstverwaltungen übernommen – zum
Beispiel die Bezeichnungen der fusionierten Träger
und die Fusionszeitpunkte.

Standortfragen werden künftig der Eigenverantwor-
tung der neuen Träger überlassen. Übergangsregelun-
gen insbesondere in den Bereichen Haushalt, Selbst-
verwaltung, Geschäftsführung und Personal berück-
sichtigen einerseits die besonderen Interessen der Be-
teiligten, gewährleisten andererseits aber auch die so-
fortige Arbeitsfähigkeit der neuen Unfallversiche-
rungsträger. Im Übrigen werden die im Vierten und
Siebten Buch Sozialgesetzbuch festgelegten Grund-
strukturen für Vereinigungen von Unfallversicherungs-
trägern zugrunde gelegt.

Zu Protokoll gegebene Reden





Miriam Gruß


(A) (C)



(D)(B)


Die FDP begrüßt, dass die Modernisierung und
Straffung der gesetzlichen Unfallversicherung mit die-
sem Gesetz ein großes Stück vorangekommen sind.

Der Gesetzentwurf enthält außerdem eine Reihe von
weiteren sozialrechtlichen Regelungen, die nicht die
Neuorganisation der bundesunmittelbaren Unfallkas-
sen betreffen und die aufgrund ihrer Vielzahl an dieser
Stelle nicht alle Erwähnung finden können. Eine Rege-
lung möchte ich jedoch ansprechen, weil wir uns als
Liberale ganz besonders darüber freuen – haben wir
doch in dieser Koalition dafür gesorgt, dass das Büro-
kratie- und Datenmonster ELENA eingestellt wurde.

Mit diesem Gesetzentwurf haben wir für den Be-
reich der Übermittlung von Arbeitsbescheinigungen
bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses an die Bun-
desagentur für Arbeit, BA, eine Nachfolgeregelung ge-
schaffen, die die elektronische Übermittlung von Da-
ten erlaubt und allen von der FDP geforderten Krite-
rien genügt:

Erstens ist die elektronische Datenmeldung für den
Arbeitgeber freiwillig. Damit können gerade kleine
Unternehmen auch weiterhin den herkömmlichen Weg
der Papierform wählen. Außerdem kann der Arbeit-
nehmer widersprechen, wenn er dies nicht wünscht.

Zweitens erfolgt die Meldung dezentral und medien-
bruchfrei an die BA und nicht an eine zentrale Sam-
melstelle, wie dies bei ELENA vorgesehen war.

Schließlich erfolgt die Datenübermittlung anlassbe-
zogen, das heißt nur, wenn die BA oder der Arbeitneh-
mer die Arbeitsbescheinigung verlangen. Dies gilt üb-
rigens nicht nur für die Übermittlung auf elektro-
nischem Wege, sondern auch auf dem herkömmlichen
Weg, also in Papierform. Bislang muss die Arbeitsbe-
scheinigung bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses
stets ausgestellt werden, auch wenn diese anschlie-
ßend gar nicht benötigt wird, zum Beispiel weil der Ar-
beitnehmer keinen Antrag auf Arbeitslosengeld stellt,
weil er schon eine neue Arbeitsstelle hat. So werden
aktuell noch rund zwei Drittel der Bescheinigungen
ohne weitere Verwendung ausgestellt.

Diese Neuregelung ist der beste Beweis, dass sich
hartnäckiger Einsatz für die Sache lohnt und vieles,
was angeblich rechtlich oder faktisch nicht möglich
sein sollte, machbar ist – wenn der Wille da ist!

Schließlich möchte ich zwei Regelungen im Gesetz-
entwurf ansprechen, die aus meiner Sicht noch einer
Klärung bedürfen. Es geht zum einen um die vorgese-
henen Betriebsprüfungen zur Künstlersozialabgabe
durch die Rentenversicherung. Hier sieht der Gesetz-
entwurf vor, dass die Prüfungen in Zukunft mindestens
alle vier Jahre erfolgen sollen. Der Punkt ist stark um-
stritten, insbesondere wegen des zusätzlichen Kosten-
aufwands, und auch der Bundesrat hat Einwände ge-
gen die Regelung erhoben. Wir wollen nun gemeinsam
mit dem Koalitionspartner darüber beraten, ob an die-
sem Punkt Abhilfe geboten ist.

Ein weiterer Punkt, der noch zu klären ist, betrifft
die vorgesehene Neuregelung zur Betriebsprüfung der
Unfallversicherungen. Hier hatte es in der Ressortab-
stimmung im Vergleich zur Formulierung im Referen-
tenentwurf eine Veränderung gegeben, welche die Prü-
fungstätigkeit der Unfallversicherung in Bezug auf
Schwarzarbeit oder illegale Beschäftigung betrifft.
Auch hierüber wollen wir das Gespräch mit dem Ko-
alitionspartner aufnehmen, um den Bedarf für eine Än-
derung des Gesetzentwurfs zu erörtern.


Matthias W. Birkwald (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1722232900

Die Organisation der Unfallversicherung ist seit

2008 deutlich gestrafft worden. Mit dem „Unfallver-
sicherungsmodernisierungsgesetz“ wurde eine deutliche
Reduzierung der gewerblichen Berufsgenossenschaf-
ten von 23 auf 9 festgeschrieben. Zudem sollten die
bundesunmittelbaren Unfallversicherungsträger der
öffentlichen Hand auf einen Träger beschränkt wer-
den. Die Selbstverwaltungen der Unfallkassen sind be-
auftragt worden, ein entsprechendes Konzept zu erar-
beiten.

Nach den Vorschlägen der Selbstverwaltungen fusio-
niert nun die Unfallkasse des Bundes mit der Eisen-
bahn-Unfallkasse. Die Unfallkasse Post und Telekom
fusioniert mit der Berufsgenossenschaft für Transport
und Verkehrswirtschaft. Der vorliegende Gesetzent-
wurf schafft nunmehr für diese Vereinigungen die not-
wendige rechtliche Grundlage.

So werden im Bereich des Sozialgerichtsgesetzes
Teile der Anregungen der 83. Justizministerkonferenz
zur Entlastung der Sozialgerichte umgesetzt.

Im Bereich des Arbeitsschutzes stellt die Bundesre-
gierung klar, dass der Gesundheitsbegriff sowohl die
physische als auch die psychische Gesundheit umfasst.
Die Linke begrüßt diese Änderungen ausdrücklich.

Schließlich werden Arbeitgeberinnen und Arbeitge-
ber insofern entlastet, als zukünftig nicht mehr bei jeder
Beendigung eines Beschäftigungsverhältnisses eine
Arbeitsbescheinigung auszustellen ist. Das soll künftig
nur noch auf Wunsch der Arbeitnehmerin oder des Ar-
beitnehmers oder der Agentur für Arbeit geschehen.
Im Verhältnis zur Agentur wird den Arbeitgeberinnen
und Arbeitgebern ermöglicht, direkt Bescheinigungen
auf elektronischem Wege an die Bundesagentur für Ar-
beit zu schicken.

In dem Gesetz findet sich eine Regelung zur Prüfung
der Künstlersozialabgabe. Der Gesetzentwurf sieht
vor, dass die Deutsche Rentenversicherung die Ver-
pflichtung im Rahmen der herkömmlichen Arbeitge-
berprüfung turnusmäßig (alle vier Jahre) mit prüft.
Während die Bundesregierung hier Verwaltungskosten
von rund 500 000 Euro unterstellt, sieht die Deutsche
Rentenversicherung Bund ein Missverhältnis von Prü-
fungsaufwand und Ertrag. Denn sie unterstellt Kosten
in Höhe von 50 Millionen Euro. Diesen Bedenken der
Deutschen Rentenversicherung hat sich der Bundesrat
angeschlossen. Wir LINKEN wollen auch, dass die Ab-

Zu Protokoll gegebene Reden





Matthias W. Birkwald


(A) (C)



(D)(B)


gabe korrekt erfasst, abgeführt und regelmäßig geprüft
wird.

Die Organisationsreform in der Unfallversicherung
ist durch das einschlägige Gesetz von 2008 beschlos-
sen worden. Die nunmehr rechtlich abzusichernden
Vorschläge der Selbstverwaltungen werden von unse-
rer Seite nicht kritisiert.

Die Linke begrüßt die Klarstellung, dass im Arbeits-
und Gesundheitsschutz sowohl physische als auch psy-
chische Belastungen abgedeckt sind. Damit sollte der
Weg zu einer Anti-Stress-Verordnung geebnet sein.

Über das begrenzte Prüfrecht der Berufsgenossen-
schaften müssen wir noch diskutieren. Diese dürfen
nunmehr lediglich in Ausnahmefällen noch selbst prü-
fen, ob die Betriebe den zutreffenden Beitrag zahlen.
Dies macht die Rentenversicherung zwar im Prinzip,
wendet dabei aber nicht immer ausreichende Maß-
stäbe an. Hier bietet sich eine flexiblere Regelung an,
die den Berufsgenossenschaften bei Vorliegen von Ver-
dachtsmomenten ein eigenständiges Prüfrecht zuge-
steht.


Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722233000

Mit dem Gesetzentwurf sollen die Unfallkassen des

Bundes auf einen Träger reduziert werden. Entspre-
chend den Vorschlägen der Selbstverwaltungen fusio-
niert die Unfallkasse des Bundes mit der Eisenbahn-
Unfallkasse zum 1. Januar 2015. Die Unfallkasse Post
und Telekom fusioniert mit der gewerblichen Berufsge-
nossenschaft für Transport und Verkehrswirtschaft
zum 1. Januar 2016. Diese Vereinigungen bedürfen
einer gesetzlichen Grundlage, die mit dem Gesetzent-
wurf geschaffen werden soll. Die Umsetzung der Ziel-
vorgaben des Unfallversicherungsmodernisierungsge-
setzes wird damit auf Bundesebene abgeschlossen.

Für die Übergangszeit bis zu den nächsten Sozial-
wahlen werden mit dem Gesetzentwurf die notwendi-
gen Übergangsregelungen, insbesondere zu den Berei-
chen Selbstverwaltung, Geschäftsführung, Personal
und Haushalt, getroffen.

Die Straffung der Organisation in der Unfallversi-
cherung wurde von unserer Fraktion in der Vergan-
genheit immer unterstützt.

Darüber hinaus hält der vorliegende Gesetzentwurf
weitere Regelungen vor. So wird etwa in Art. 11 neu
geregelt, dass der Arbeitgeber Arbeitsbescheinigun-
gen nur auf Verlangen des Arbeitnehmers ausstellen
muss (und nicht in jedem Fall). Das scheint uns eine
sinnvolle Maßnahme zur Entbürokratisierung. Zudem
wird ermöglicht, Arbeitsbescheinigungen elektronisch
an die Bundesagentur für Arbeit, BA, weiterzuleiten.
Hier liegt vielleicht der einzige Haken: Der Arbeitneh-
mer muss der elektronischen Übermittlung nicht zuvor
zustimmen. Er hat lediglich ein Widerspruchsrecht, auf
das der Arbeitgeber in allgemeiner Form hinweisen

(das könnte zum Beispiel zeitlich versetzt schon zu Beginn des Arbeitsverhältnisses erfolgen)

könnte also zur Regel werden, dass die Arbeitgeber Ar-

beitsbescheinigungen routinemäßig elektronisch an
die BA übermitteln, ohne dass der Arbeitnehmer da-
rauf faktisch Einfluss hat, weil er nicht zustimmen

(und sein Widerspruchsrecht längst schon vergessen hat)

tarischen Auseinandersetzung aufgreifen.

Im vorliegenden Gesetzentwurf sind ferner zwei Än-
derungen im Arbeitsschutzgesetz geplant. So wird
durch zwei Änderungen klargestellt, dass sich die Ge-
fährdungsbeurteilung auch auf psychische Belastun-
gen bei der Arbeit bezieht und der Gesundheitsbegriff
neben der physischen auch die psychische Gesundheit
der Beschäftigten umfasst. Diese Klarstellung wird
von unserer Fraktion begrüßt.

In Art. 7 Nr. 11 lit. b BUK-NOG werden des Weite-
ren die Rechtsmittel gegen ablehnende Prozesskosten-
hilfe-Beschlüsse neu gefasst. Bisher ist die Beschwerde
ausgeschlossen, wenn die Ablehnung ausschließlich
auf die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse
gestützt wird (§ 172 Abs. 3 Nr. 2 SGG). Zukünftig soll
kein Rechtsmittel gegeben sein, wenn die Ablehnung
auf die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse
gestützt wird (§ 172 Abs. 3 Nr. 2 a neu SGG), das
Hauptsacheverfahren der Berufungszulassung bedarf

(§ 172 Abs. 3 Nr. 2 b neu SGG) oder die Rechtssache


(§ 172 Abs. 3 Nr. 2 c neu SGG)


Hierdurch werden im Ergebnis unserer Einschät-
zung nach die Rechtsschutzmöglichkeiten gegen die
Ablehnung von Prozesskostenhilfe, PKH, beschnitten.
Soweit das Beschwerdeverfahren ausgeschlossen oder
eingeschränkt wird, fehlt es an validem Zahlenmate-
rial, welche weiteren Verfahrenszahlen vermieden
werden sollen. Es fehlt bisher an einem Nachweis, dass
diese Einschränkung tatsächlich zur Beschleunigung
von Verfahren geführt hat.

In der Begründung des Gesetzentwurfs heißt es
hierzu:

„In Buchstabe b wird geregelt, dass Beschwerden
gegen die Ablehnung von Prozesskostenhilfe ausge-
schlossen sind, wenn in der Hauptsache der in § 144
Abs. 1 SGG geregelte Berufungsstreitwert nicht er-
reicht wird. Derzeit ist in der Rechtsprechung umstrit-
ten, ob in diesen Fällen die Beschwerde gegen
Prozesskostenhilfe-Entscheidungen zulässig ist. Die
Landessozialgerichte entscheiden hier nicht einheit-
lich. Der Ausschluss der Beschwerde in diesen Fällen
ist sachgerecht. Der Rechtsschutz gegen die Ableh-
nung von Prozesskostenhilfe reicht zukünftig nicht wei-
ter als der Rechtsschutz im Hauptsacheverfahren. Eine
unangemessene Beeinträchtigung der Interessen der
Rechtsuchenden ist damit nicht verbunden. Im Rahmen
der Prüfung der Erfolgsaussichten der Hauptsache
wird das Gericht auch berücksichtigen, ob gegebenen-
falls die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat
oder beabsichtigt ist, von obergerichtlicher Rechtspre-
chung abzuweichen, und in diesen Fällen Prozesskos-

Zu Protokoll gegebene Reden





Markus Kurth


(A) (C)



(D)(B)


tenhilfe gewähren, sofern die übrigen Voraussetzungen
gegeben sind.“

Dass der Ausschluss der Beschwerde wirklich sach-
gerecht ist, ist eine Einschätzung der Bundesregie-
rung, die wir kritisch sehen. Auch diesen Punkt werden
wir in der parlamentarischen Auseinandersetzung in
den Ausschüssen kritisch hinterfragen.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1722233100

Interfraktionell wird Überweisung dieses Gesetzent-

wurfs auf Drucksache 17/12297 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann
haben wir die Überweisung so beschlossen.

Tagesordnungspunkt 30:

Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes zur Umsetzung der Amtshilferichtlinie
sowie zur Änderung steuerlicher Vorschriften

(Amtshilferichtlinie-Umsetzungsgesetz – AmtshilfeRLUmsG)


– Drucksache 17/12375 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO

Interfraktionell ist vorgeschlagen, die Reden zu Pro-
tokoll zu geben.1) – Sie sind einverstanden.

Dann kommen wir zur Überweisung. Der Vorschlag
lautet, den Gesetzentwurf auf Drucksache 17/12375 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. – Es gibt keine anderweitigen Vorschläge.
Dann haben wir das so beschlossen.

Tagesordnungspunkt 31:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förde-
rung der elektronischen Verwaltung sowie zur
Änderung weiterer Vorschriften

– Drucksache 17/11473 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, sind die Re-
den zu Protokoll genommen.


Clemens Binninger (CDU):
Rede ID: ID1722233200

Wir alle leben in einer digital vernetzten Gesell-

schaft. Diese durchdringt fast alle unsere Lebensbe-
reiche. Die uns umgebende Informationstechnologie
entwickelt sich rasant weiter. Dabei eröffnen sich
großartige Chancen, aber auch reale Herausforderun-
gen, die wir beantworten müssen. Um die digitalen
Umbildungen nachhaltig erfolgreich zu gestalten, hat
die Bundesregierung eine Hightech-Strategie entwi-
ckelt. Diese bildet einen bedeutenden Baustein, um
Deutschland an die Spitzenposition der wichtigsten
Zukunftsmärkte zu führen. Einen wichtigen Teil dieser
Strategie stellt das E-Government-Gesetz dar.

An die Verwaltung der Behörden werden im Zuge
dieser modernen Veränderungen und Entwicklungen
natürlich entsprechende neue und moderne Erwartun-
gen, wie etwa die Erhöhung der Servicequalität und
Wertschöpfung, gestellt. Diese gilt es von der Politik zu
beantworten. Deutschland besitzt eine gut struktu-
rierte und funktionierende Verwaltung. Der Alltag der
Bürgerinnen und Bürger verlagert sich allerdings zu-
nehmend in den virtuellen Raum des Internets. Ange-
sichts dessen wird es für sie zunehmend schwer ver-
ständlich, wenn sie bei Kontakt mit den Behörden
meist auf die herkömmliche Papierform hingewiesen
werden. Die Bürgerinnen und Bürger wünschen sich
bei den öffentlichen Verwaltungen nutzerfreundliche,
effizientere, einfachere, schnellere und rechtsverbind-
liche Angebote und Zugänge. Die Verwaltung kann
dem nur gerecht werden, wenn sie sich an diese Erwar-
tungshaltungen anpasst.

Den Wünschen der Bürgerinnen und Bürger sowie
den Forderungen der Verwaltung werden wir mit dem
E-Government-Gesetz nun gerecht. Wir ermöglichen
damit die elektronische Abwicklung von Geschäftspro-
zessen der öffentlichen Verwaltung und Regierung und
leisten einen wichtigen Beitrag für eine moderne Ver-
waltung.

Wir schaffen durch das Gesetz Voraussetzungen
für orts- und zeitunabhängige Verwaltungsdienste in
Bund, Ländern und Kommunen. Denn der Zugang zum
Internet ist heute zu einem wirtschaftlichen Standort-
faktor sowie zentral für die Lebensqualität für viele
Menschen geworden. Das Gesetz trägt dieser neuen
Lebenswirklichkeit in hohem Maße Rechnung.

Vor allem schaffen wir Rechtssicherheit bei der
elektronischen Kommunikation. Denn ohne diese
Rechtssicherheit kann eine Verwaltungsmodernisie-
rung nicht gelingen. Offene Fragen bei der Rechtssi-
cherheit führen zu Verunsicherungen von Bürgern und
Verwaltungsmitarbeitern. Diese Risikofaktoren besei-
tigen wir mit diesem Gesetz.

Das zentrale Element des E-Government-Gesetzes
ist der Schriftformersatz. Er stellt die Onlineausweis-
funktion des neuen elektronischen Personalausweises
und De-Mail zur Identifizierung der Unterschrift
gleich. De-Mail fungiert dabei als gesetzlicher Stan-
dard für sichere, vertrauliche und vor allem nachweis-1) Anlage 12





Clemens Binninger


(A) (C)



(D)(B)


bare Kommunikationseinrichtung im Internet. Eine
absenderbestätigte De-Mail würde also als unter-
schrieben gelten, ebenso ein Webformular, wenn sich
Nutzer mit elektronischem Ausweis identifizieren.

Bei der Gestaltung des Gesetzes haben wir darauf
geachtet, dass infolge des sogenannten Konnexitäts-
prinzips die Haushalte der Kommunen nicht allein be-
lastet werden. Bei einer anfallenden Aufgabenübertra-
gung durch die Länder, die zu einer Mehrbelastung
führen würde, muss das Land entsprechend gleichzei-
tig für finanziellen Ausgleich der Kommunen sorgen.
Kostenträchtige Regelungen des E-Government-Ge-
setzes gelten nur für den Bund.

Zudem ist der Gesetzgeber den Forderungen nach-
gekommen, das E-Government-Gesetz technikoffen zu
gestalten. Jede Art des elektronischen Zugangs ist er-

(entsprechend sichere)

Gesetz mit aufgenommen werden. Auch dieser Schritt
beweist, wie zukunftsträchtig das Gesetz wirklich ist.

Durch eine konsequente Nutzung, vom Anfang bis
zum Schluss, vom Antrag bis zum Bescheid wird das
E-Government Ressourcen schonen, Arbeitsschritte
erleichtern, mehr Transparenz und mehr Bürgernähe
erzeugen. E-Government wird die Komplexität der
Verwaltungsvorgänge spürbar reduzieren. Durch stär-
kere Beteiligungsmöglichkeiten erreichen wir auch
eine gesteigerte Akzeptanz der Bürgerinnen und Bür-
ger für Verwaltungsentscheidungen.

Das Einsparpotenzial von E-Government übersteigt
die anfallenden Investitionskosten um ein Vielfaches.
Dabei profitieren vor allem auch kleine und mittlere
Unternehmen vom Webangebot der Verwaltungen. Für
Unternehmen wird es einfacher werden, Genehmigun-
gen oder Berichte mit Behörden auszutauschen.

Das E-Government-Gesetz verhilft zu mehr Effekti-
vität und spürbarem Bürokratieabbau. Dieses Gesetz
könnte international als Vorbild dienen.


Gerold Reichenbach (SPD):
Rede ID: ID1722233300

Die elektronische Datenverarbeitung und die elek-

tronische Kommunikation nehmen weltweit zu. Sie
umfassen immer weitere Lebensbereiche und vollzie-
hen sich rasant. Immer mehr Daten werden elektro-
nisch verarbeitet, also gespeichert, analysiert, genutzt,
weitergegeben etc.

Dieser Herausforderung muss sich auch die öffent-
liche Verwaltung stellen; denn in ihr liegen immense
Chancen: Chancen für mehr Effektivität, mehr Bürger-
freundlichkeit und mehr Transparenz. Aber in ihr
liegen auch Risiken, die bedacht und die angegangen
werden müssen: Risiken etwa für den Datenschutz,
Risiken aber auch im Hinblick auf eine digitale
Spaltung der Gesellschaft; denn auch in Deutschland
haben zwar – schon – 75 Prozent einen Internetzu-
gang, die weiteren 25 Prozent aber eben bisher nicht.

Und genau deshalb muss die öffentlich-rechtliche
Verwaltungstätigkeit auch auf dem – ich nenne das mal –
alten Weg noch funktionieren. Darum wird der elektro-
nische Weg für lange Zeit nicht nur der einzige Weg
sein, den insbesondere Behörden bzw. Kommunen vor-
halten müssen. Oft ist auch eine manuelle Datenverar-
beitung erforderlich.

Wir begrüßen ausdrücklich das Anliegen, die Mög-
lichkeiten der elektronischen Verwaltung und des elek-
tronischen Behördenverkehrs voranzutreiben und für
die Aufgabenverwaltung des Bundes eine Vereinheitli-
chung anzustreben und die elektronische Kommunika-
tion für den Bürger mit der Verwaltung zu erleichtern –
frei von Medienbrüchen. Aber Sie stellen gerade die
Kommunen – dort, wo sie in Ausführung von Bundes-
gesetzen tätig werden und das Gesetz unmittelbar um-
setzen müssen – vor gewaltige Herausforderungen –
und das, ohne sich über die Kostenbelastung, die Sie
ihnen damit aufbürden, das geben Sie in der Gesetzes-
begründung offen zu, nur im Entferntesten im Klaren
zu sein – von der Frage, wer dies finanzieren soll, ganz
zu schweigen.

Das halten wir für unverantwortlich, insbesondere
wenn man bedenkt, dass der Bereich der Aufgabenver-
waltung durch die Kommunen immer umfangreicher
wird. Gleichzeitig erwartet der Bürger zu Recht, dass
sie transparenter, serviceorientierter, schneller und
kostengünstiger arbeiten. Neben E-Government treten
die Herausforderungen von Open Data bzw. Open
Government.

Die Anpassung an die digitale Welt belastet die glei-
chen kommunalen Haushalte, die ohnehin schon
erheblich durch die Umsetzung der Kinderbetreuung
beschwert sind und denen Sie die mögliche finanzielle
Unterstützung für den notwendigen Ausbau der Be-
treuungsinfrastruktur durch Ihr unsinniges Betreu-
ungsgeld entziehen.

Auch wenn durch die digitale Verwaltung Effizienz-
gewinne zu erwarten sind, so müssen aber erst einmal
Gelder dafür bereitgestellt werden. Gleiches gilt für
die technische Infrastruktur und die Schulung von
Mitarbeitern. Angesichts der Haushaltskonsolidie-
rungszwänge der Kommunen, die jeden Cent dreimal
umdrehen müssen, ist das keine einfache Aufgabe.

Umso zynischer erweist es sich dann, dass Sie in der
Gesetzesbegründung formulieren: „Grundsätzlich ist
eine Abschätzung der Umsetzung des Gesetzes und der
damit verbundenen Kosten- und Entlastungswirkun-
gen mit Unsicherheiten belastet.“ Ich frage mich, was
Sie einem Gemeindekämmerer sagen würden, der
Ihnen seinen Haushalt mit diesem lapidaren Satz
vorlegen würde! Hier bedarf es erheblicher Nachbes-
serungen.

Wir und die Gemeinden bzw. Kommunen brauchen
konkrete Zahlen hinsichtlich der Kosten für die
Zugangseröffnung bzw. Umstellung. Die ungenauen
Angaben im Gesetzentwurf bemängelt auch der Bun-
desrat in seiner Stellungnahme zu Recht. Pauschale

Zu Protokoll gegebene Reden





Gerold Reichenbach


(A) (C)



(D)(B)


Verweise, dass dies nicht so einfach möglich sei, helfen
da wenig.

Aber das ist nicht der einzige Punkt bei dem vorge-
legten Gesetzentwurf, der schon beim ersten Blick er-
hebliche Mängel und Veränderungsbedarfe offenkun-
dig werden lässt. Genauso unverfroren wie bei der
Frage der finanziellen Folgekosten für die Gemeinden
geht der Gesetzentwurf mit dem sensiblen Bereich des
Schutzes personenbezogener Daten um. Da wird ein-
fach das, was nicht mehr passt, per Gesetzesdefinition
passend gemacht.

Wir und eine beachtliche Zahl von Sachverständi-
gen, die Verbraucherschutzorganisationen sowie kriti-
sche Stimmen aus der Netzgemeinde haben bei der
Beratung zum De-Mail-Gesetz aus Datenschutzgrün-
den immer wieder die End-zu-End-Verschlüsselung
gefordert. Sie haben diese Forderungen in den Wind
geschlagen und sind den Wünschen der Anbieterlobby
gefolgt, die sich die Kosten dafür sparen wollten, und
nun stellen Sie fest, dass die von Ihnen im De-Mail-
Gesetz im Interesse der Diensteanbieter herunter-
geschraubten Sicherheitsstandards nicht die Voraus-
setzungen nach dem Bundesdatenschutzgesetz und
dem Sozialgesetzbuch nach einer verschlüsselten
Übermittlung von sensiblen Daten erfüllen.

Statt das De-Mail-Gesetz entsprechend den dort ge-
forderten Sicherheitsstandards nachzubessern, defi-
nieren Sie die bei den Anbietern stattfindende Ent-
schlüsselung und Wiederverschlüsselung und die
damit entstehende potenzielle Sicherheitslücke einfach
per Gesetz weg. Mit anderen Worten: Die vom Bundes-
datenschutzgesetz geforderte Zugriffs- und Weiterga-
bekontrolle wird schlicht und einfach ausgehebelt,
weil sie der Wirtschaft nicht in den Kram passt. Die so-
genannte Bürgerrechtspartei FDP lässt grüßen!

Damit erweisen Sie den Anbietern und der Wirt-
schaft, etwa der Versicherungswirtschaft, aber auch
dem Voranbringen des elektronischen Behördenver-
kehrs einen Bärendienst!

Warum hat denn De-Mail nicht das Echo gefunden,
das vor drei Jahren prognostiziert wurde? Das liegt
eben nicht nur am mangelnden Angebot, sondern ge-
rade auch an der fehlenden Sicherheitsgarantie.

Das ist ja auch für niemanden nachvollziehbar! Die
Regierung wird nicht müde, die wachsenden Gefahren
der Cyberkriminalität zu thematisieren. Fast täglich
erfahren die Bürger weltweit von neuen Hackerangrif-
fen auf Datenbanken und Datenmissbrauch, und
gleichzeitig schraubt die gleiche Regierung Sicher-
heitsstandards für den elektronischen Daten- und
Dokumentenverkehr herunter, dem der Bürger jetzt
seine sensiblen persönlichen Daten, von Behörden-
schreiben bis zu Steuer- und Gesundheitsdaten, anver-
trauen soll.

Sie machen bei diesem Gesetzentwurf wieder den
Fehler, aus Gründen der Kostenersparnis und Erleich-
terung für die Wirtschaft Datenschutz und Datensi-

cherheit hintanzustellen. Die Dienste müssen aber
nicht nur Akzeptanz bei der Wirtschaft finden, die
damit Kosten einsparen und Gewinn machen will,
sondern auch bei den Bürgern und Verbrauchern, die
sie nutzen sollen. Weder Signaturgesetz noch De-Mail-
Gesetz haben da bisher wirklich Akzeptanz gefunden,
und auch die Nutzung des elektronischen Personalaus-
weises hält sich bisher in sehr überschaubaren Gren-
zen.

Aber auch an anderer Stelle nehmen Sie es mit dem
Datenschutz nicht so genau. So fehlt es zum Beispiel
an einer Löschpflicht von elektronisch veröffentlichten
Amtsblättern, die auch personenbezogene Daten ent-
halten können. Der Bundesrat hat darauf ausdrücklich
hingewiesen.

Die Frage, wie die grenzüberschreitende Kommuni-
kation mit deutschen Behörden zu regeln ist, bleibt
weitgehend unbearbeitet – und das angesichts der
Tatsache, dass in Europa der Gedanke des Single
Point of Contact, also der einheitlichen Ansprech-
stelle, immer mehr Eingang in die europäische Gesetz-
gebung findet.

Damit ein erfolgreiches E-Government stattfinden
kann, müssen wir uns Gedanken darüber machen, wie
wir die bereits vorhandenen elektronischen Möglich-
keiten integrieren, gemeinsame Sicherheitsstandards
setzen und – auch europaweit – gebräuchlich machen.
Es stellt sich letztlich also auch die Frage, ob De-Mail
und E-Perso als Möglichkeiten für eine rechtssichere
behördliche Kommunikation – insbesondere im Hin-
blick auf E-Government in Europa – ausreichen.

Alleine die Liste der bisher genannten erheblichen
Mängel, denen sich im Detail noch weitere anfügen
ließen, machen deutlich, dass es noch eine Menge an
Fragen und Nachbesserungsbedarf an diesem von der
Bundesregierung vorgelegten Gesetzentwurf gibt.
Damit dieser Gesetzentwurf nicht in die Liste erfolg-
loser E-Government-Lösungen Aufnahme findet,
bedarf es noch grundlegender Überarbeitung.

Trotz der relativ langen Vorlaufzeit macht der Ge-
setzentwurf eher den Eindruck eines Schnellschusses.
Wir sollten durch gründliche Beratung und umfangrei-
che Veränderung dafür sorgen, dass er nicht ein
Schnellschuss in den Ofen wird. Damit wäre weder
dem Bürger noch der Wirtschaft noch den Behörden
und ihren Mitarbeitern gedient.


Manuel Höferlin (FDP):
Rede ID: ID1722233400

Die Modernisierung unserer Verwaltung ist eine

Herausforderung. Der demografische Wandel macht
den Einsatz von Zukunftstechnologien erforderlich,
damit sich die Bürgerinnen und Bürger auch in Zu-
kunft effektiv am politischen und gesellschaftlichen Le-
ben beteiligen können.

Vor diesem Hintergrund steht der von der Bundesre-
gierung eingebrachte Gesetzentwurf zum E-Govern-
ment-Gesetz. Die christlich-liberale Koalition möchte
mit diesem Gesetzentwurf eine Motornorm für die

Zu Protokoll gegebene Reden





Manuel Höferlin


(A) (C)



(D)(B)


Stärkung der elektronischen Verwaltung in Deutsch-
land einführen, das heißt, wir möchten mit diesem Ge-
setz die Grundlage für die Anwendung elektronischer
Verwaltungsakte schaffen.

Aus liberaler Sicht ist es dabei zentral, dass die
Kommunikation, wie auch schon beim De-Mail-Ge-
setz, rechtsverbindlich und einfach nutzbar für mög-
lichst viele Bürgerinnen und Bürger ist. Nur so schaf-
fen wir eine effektive und transparente elektronische
Verwaltung für Deutschland. Dabei müssen wir insbe-
sondere die Lehren aus dem Signaturgesetz ziehen und
beim E-Government-Gesetz darauf achten, dass die
angebotenen Technologien nicht nur sicher und rechts-
verbindlich, sondern auch nutzbar für die Bürgerinnen
und Bürger sind und vor allem von diesen akzeptiert
werden.

Wir werden darauf achten, dass wir nicht nur Ver-
waltungsleistungen elektronisch anbieten. Wir werden
auch sicherstellen, dass sie elektronisch bezahlbar
sind. Denn ein E-Government-Gesetz würde nur wenig
helfen, wenn hinterher doch noch ein Gang zum Amt
erforderlich wäre, um zu bezahlen.

Damit hört es noch nicht auf. Mit dem E-Govern-
ment-Gesetz möchte die christlich-liberale Koalition
auch die Möglichkeiten schaffen, Verwaltungsakte zu-
künftig komplett elektronisch abzuwickeln. Die Einfüh-
rung einer elektronischen Akte für die Bundesverwal-
tung ist dafür ebenso erforderlich. Sie spart der
Verwaltung Papier und Aufbewahrungsraum für Ak-
ten. Am wichtigsten ist: Die elektronische Akte ermög-
licht digitale Kommunikation auch über Grenzen ver-
schiedener Endgeräte hinweg.

Der IT-Planungsrat wurde mit diesem Gesetz von
der christlich-liberalen Koalition beauftragt, gemein-
same Standards für digitale Kommunikation und elek-
tronische Verwaltung zu definieren. Das E-Govern-
ment-Gesetz bietet viel Einsparpotenzial – nicht nur
für die Bürgerinnen und Bürger, sondern auch für die
Verwaltung.

Wie Sie sehen, verbessert E-Government nicht nur
die Effizienz der Verwaltung und ist bürgerfreundlich,
sondern es spart auch wichtige Steuergelder und er-
leichtert allen Menschen das Leben.

Mehr noch: E-Government ist ein Muss! Denn auch
wenn wir mit dem E-Government-Gesetz jetzt die
Motornorm für die Bundesbehörden geben, so wird es
noch eine Weile dauern, bis Länder und vor allem
Kommunen nachziehen. Darum müssen wir dieses Ge-
setz auch möglichst schnell einführen.

Schon jetzt erleben wir, dass Verwaltungseinheiten
zusammengelegt werden, dass Verwaltungsniederlas-
sungen geschlossen werden, dass Verwaltungsdienst-
leistungen in der Fläche nicht mehr so verfügbar sind,
wie sie es noch vor einigen Jahrzehnten waren. Vor
dem Hintergrund des demografischen Wandels stellt
dies ein Problem dar; denn immer mehr, vor allem äl-
tere Menschen bekommen so Schwierigkeiten, mit der

Verwaltung in direktem Kontakt zu bleiben. Hier ist
E-Government ein sinnvoller Weg zu zukunftsfähiger
Verwaltung.

Ich sehe den Beratungen zu diesem Gesetzentwurf
mit großer Spannung entgegen.


Jan Korte (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1722233500

Wir reden hier heute über das von der Bundesregie-

rung vorgelegte Gesetz zur Förderung der elektroni-
schen Verwaltung, dessen Ziel es sein soll, durch den
Abbau bundesrechtlicher Hindernisse die elektroni-
sche Kommunikation der Bürgerinnen und Bürger mit
der Verwaltung zu erleichtern. Mit dem Gesetzentwurf
soll die Vereinbarung aus dem Koalitionsvertrag zwi-
schen CDU, CSU und FDP, wonach die Koalition
„E-Government weiter fördern und dazu, wo und so-
weit notwendig, rechtliche Regelungen anpassen

(E-Government-Gesetz)“ wollte, eingelöst werden. Be-

sonderes Augenmerk wollte Schwarz-Gelb dabei „auf
die Schaffung der Voraussetzungen für sichere Kom-
munikation zwischen Bürgerinnen und Bürgern sowie
Unternehmen setzen“. So weit, so vielversprechend, so
spät in der Legislatur.

Richtig ist, dass E-Government großes Potenzial für
gemeinwohlorientierte öffentliche Dienste birgt. Es
kann neue Möglichkeiten der Partizipation von Bürge-
rinnen und Bürgern befördern. E-Government kann
aber auch, wenn die Rahmenbedingungen nicht stim-
men, das Gegenteil bewirken: soziale Ausgrenzung,
Entdemokratisierung, Datenschutzprobleme, Bürokra-
tisierung und enorme Kosten. Und man muss an dieser
Stelle auch noch einmal in Erinnerung rufen, dass viele
E-Government-Großprojekte der letzten Jahre kra-
chend an der eigenen Gigantomanie und der sozialen
Schieflage gescheitert sind: Der elektronische Entgelt-
nachweis ELENA hat Millionen verschlungen, bevor
das Projekt eingestampft wurde. Die neue Gesund-
heitskarte ist datenschutzrechtlich bedenklich, hat in
der Nutzung bislang keinerlei Vorteile, birgt jede
Menge Konfliktstoff zwischen Kassen, Ärzten und Pa-
tienten. Der neue elektronische Personalausweis ist
teuer, bringt ebenfalls Datenschutzprobleme mit sich,
und seine Notwendigkeit ist bis heute nicht erwiesen.

Es gibt also jede Menge gute Gründe, sich Ihren
Gesetzentwurf genauer anzusehen und nicht jede Ver-
heißung sofort als bare Münze anzunehmen. Und wenn
man sich diese Mühe macht, dann kommt man zu dem
Ergebnis, dass es Ihnen hier offenbar darum geht, ei-
nige gescheiterte E-Government-Großprojekte der
letzten Jahre mit einem noch größenwahnsinnigeren
Gesetz nachträglich zu legitimieren, ja zu toppen.

Eine ganze Reihe toter Projekte soll so wiederbelebt
werden: Der neue Personalausweis hat beispielsweise
bislang keinerlei Zusatznutzen, weil für die Nutzung
der eID-Funktion extra Lesegeräte benötigt werden,
die zu Recht niemand kauft, weil sie unsicher oder
teuer sind und es kaum Anwendungsmöglichkeiten da-
für gibt. Damit das Projekt nicht für gescheitert erklärt
zu werden braucht, soll nun offensichtlich wenigstens

Zu Protokoll gegebene Reden





Jan Korte


(A) (C)



(D)(B)


in der Kommunikation mit der Verwaltung ein Anwen-
dungsfall dafür geschaffen werden. Gleiches gilt für
die elektronische Gesundheitskarte. Auch die bringt
Patientinnen und Patienten bislang keinen Zusatznut-
zen, soll jetzt aber in der Kommunikation mit der
Krankenkasse zum Identitätsnachweis genutzt werden.
Dito bei De-Mail: Kaum jemand nutzt De-Mail, wa-
rum auch? Und jetzt soll über die Verwaltung ein
künstlicher Markt dafür geschaffen werden. Bei der
Entwicklung all dieser Projekte ist extrem viel Geld
zum Fenster hinausgeworfen worden. Das soll jetzt
verschleiert werden, indem man noch mal ordentlich
Geld hinterherschmeißt.

Wir haben es hier also mit einer Art von Zombie-
politik zu tun, bei der die Linke jedenfalls nicht mitma-
chen wird.

Sie wollen mit dem Gesetzentwurf die elektronische
Kommunikation mit der Verwaltung erleichtern. Das
klingt ebenfalls erst einmal gut. Das Problem dabei: In
zahlreichen Fällen gilt zur rechtlichen Absicherung
von Verwaltungsentscheidungen ein Schriftformerfor-
dernis, also ein Schreiben mit Unterschrift, das man
auf elektronischem Wege nur erfüllen kann, indem man
die sogenannte qualifizierte elektronische Signatur,
qes benutzt. Die Bundesregierung begründete aller-
dings vor gar nicht allzu langer Zeit das Scheitern von
ELENA mit der „fehlenden Verbreitung der qualifi-
zierten elektronischen Signatur“ und vertrat die Mei-
nung, dass der hohe Sicherheitsstandard, der „daten-
schutzrechtlich zwingend geboten war“, sich „auch in
absehbarer Zeit nicht flächendeckend verbreiten“
würde.

Jetzt wollen Sie in den entsprechenden Einzelgeset-
zen einführen, dass ersatzweise auch De-Mail oder die
eID des neuen Personalausweises reichen soll. Das
klingt elegant, ist nur eben nicht gerade sicherer. Denn
gerade deshalb war das De-Mail-Gesetz von Anfang
an umstritten. Die vermeintlich „sichere“ Mail, so
stellte sich heraus, ist gar nicht sicher, weil sie auf dem
Weg vom Absender zum Empfänger „umgeschlüsselt“
wird. Der Internetprovider macht die verschlüsselte
Mail also kurz auf und klebt sie wieder zu, bevor er sie
weitersendet. Das ist keine Ende-zu-Ende-Verschlüs-
selung und entspricht daher nicht dem Signaturgesetz.
Bis heute ist es also nicht möglich, rechtssicher über
De-Mail-Adressen zu kommunizieren – jedenfalls
nicht, wenn das Rechtsgeschäft die Schriftform
voraussetzt.

Darauf mit einer faktischen Absenkung der Sicher-
heitsanforderungen zu reagieren, indem Sie bestim-
men, dass in zahlreichen Fällen, in denen bislang ein
Schriftformerfordernis gilt, zukünftig auch die beiden
erwähnten alternativen Verfahren zugelassen sein sol-
len, ist ein Taschenspielertrick.

Mag sein, dass das Schriftformerfordernis nicht
mehr überall zeitgemäß ist, wo es vorgeschrieben ist.
Dann soll man das überprüfen und gegebenenfalls ab-
schaffen. Stattdessen aber einfach andere, weniger si-

chere Verfahren zuzulassen, ist keine Lösung, sondern
schlechte Politik.

Und so werden aus Mindestkriterien für eine ver-
trauliche Kommunikation, für die qualifizierte elektro-
nische Signatur also, jetzt nur noch „rechtliche
Hindernisse für den Einsatz elektronischer Kommuni-
kation zwischen Behörden sowie Bürgerinnen und
Bürgern und der Wirtschaft“.

Und jetzt sollen in einer Vielzahl von Einzelgesetzen
die zu Hindernissen gewordenen Sicherheitsprobleme
weggeräumt werden: „Ein wesentliches Hindernis für
E-Government-Angebote der öffentlichen Verwaltung
besteht darin, dass als elektronisches Äquivalent der
Schriftform allein die qeS zugelassen ist. Im Gegensatz
zum Zivilrecht gibt es in öffentlich-rechtlichen Normen
eine große Anzahl (mehrere Tausend) von gesetzlichen
Schriftformerfordernissen.“ Und so geht es rund: Ver-
waltungsverfahrensgesetz, Sozialgesetzbuch, Abgaben-
ordnung, Passgesetz, Personalausweisgesetz, Gesetz
über Umweltverträglichkeitsprüfung, Umweltschutz-
protokoll-Ausführungsgesetz, Aufenthaltsgesetz, Bun-
desstatistikgesetz, Rechtsdienstleistungsgesetz, Satelli-
tendatensicherheitsgesetz, Gesetz zur vorläufigen
Regelung des Rechts der Industrie- und Handelskam-
mern, Gewerbeordnung, Handwerksordnung, Spreng-
stoffgesetz, Berufsbildungsgesetz, Berufsqualifika-
tionsfeststellungsgesetz, Straßenverkehrsgesetz etc.
pp. Überall gibt es irgendwo ein lästiges Schriftfor-
merfordernis, das man kippen und durch De-Mail er-
setzen möchte.

Fakt ist: Die qeS kann man in der Kommunikation
mit Verwaltungen und Behörden oft gar nicht nutzen,
weil diese in der Lage sein müssten, Dokumente zu ent-
schlüsseln, die ihnen verschlüsselt zugestellt werden.
Das ist in aller Regel derzeit nicht der Fall. Insofern
gibt es überhaupt keinen Anreiz, die qeS zu benutzen.
Auch dafür, die eID-Funktion zu benutzen, gibt es kei-
nerlei Anreiz, weil es keine Anwendungen dafür gibt.
Das Fazit der Stiftung Warentest aus einem Test vom
April 2011 fiel jedenfalls eindeutig aus: „Viel zu testen
gibt’s gar nicht. Nur 18 Stellen im Internet finden Sie,
an denen der neue Personalausweis gefragt ist, ohne
dabei gleich weitgehende Verpflichtungen eingehen zu
müssen. Ein Teil davon ist nur für registrierte Kunden
oder einen sonst geschlossenen Kreis von Benutzern
gedacht.“

Wenn man darüber nachdenkt, die Anforderungen
zu senken, stellt sich auch die Frage nach der Beweis-
last. Wenn man zukünftig neben der Schriftform bzw.
qeS andere, weniger sichere Verfahren zulässt, darf
dies nicht zulasten der Rechtssicherheit der Bürgerin-
nen und Bürger gehen. Es müsste entsprechend in al-
len Fällen, in denen dies droht, eine Beweislastumkehr
zugunsten der schwächeren Partei eingeführt werden.
Aber darüber verlieren Sie keine Silbe.

Nun noch ein Wort zu Ihren Kosten-Nutzen-Kalku-
lationen: Acht Minuten Zeitersparnis jährlich pro Per-
son bei der Behördenkommunikation stehen Kosten

Zu Protokoll gegebene Reden





Jan Korte


(A) (C)



(D)(B)


von jährlich circa 50 Millionen in den nächsten drei
Jahren und insgesamt mehr als 500 Millionen ab 2017
für die nächsten 30 Jahre gegenüber. Man kommt also
auf insgesamt 650 Millionen in 30 Jahren. Das sind
21,6 Millionen im Jahr bzw. 2,7 Millionen pro Minute
bzw. bei 81,726 Millionen Bundesbürgern etwa
265,11 Euro pro Bürger im Jahr. Die Kosten für die
Länder und Kommunen sind darin allerdings noch
nicht enthalten. Wäre es nicht sinnvoller, man würde
jedem Bürger für die nächsten 30 Jahre jährlich
265 Euro schenken, statt dieses Geld für acht Minuten
Zeitersparnis auszugeben?

Nicht erst seit Stuttgart 21 oder dem Berliner Flug-
hafen wissen wir, dass Berechnungen von Großprojek-
ten total unsicher sind. Die Regierung weiß nicht, wie
viel es kosten wird, wedelt aber mit hohen Einsparun-
gen. In immer neuen Formulierungen im Gesetz wird
betont, dass das überhaupt nicht voraussehbar ist.
Hier ein paar Zitate:

Es entstehen „Kosten, die aufgrund der unter-
schiedlichen Gestaltung der jeweiligen Verfahren der-
zeit noch nicht konkret beziffert werden können.“ …
„Die Kosten lassen sich derzeit noch nicht konkret
beziffern, denn hierfür wäre es erforderlich, dass jede
betroffene Behörde zunächst den bereits erreichten
Umsetzungsstand erhebt.“ … „Zudem ist wegen des
langen Umsetzungszeitraums zu berücksichtigen, dass
aufgrund der Fortentwicklung der Informations- und
Kommunikationstechnologie teilweise andere Pro-
dukte zum Einsatz kommen werden als die heute auf
dem Markt verfügbaren. Über deren Leistungsvermö-
gen und Preis kann heute noch nichts bekannt sein.“

Das heißt: Die Kosten können beliebig in die Höhe
steigen, die Einsparungen ins Nichts fallen. „Grund-
sätzlich ist eine Abschätzung der Umsetzung des Ge-
setzes und der damit verbundenen Kosten- und Entlas-
tungswirkungen mit Unsicherheiten behaftet.“

Fazit: Man kann Kosten einfach nicht realistisch
über 30 Jahre kalkulieren, und erst recht nicht im Be-
reich der elektronischen Kommunikation. Was heute
eingeführt wird, ist in 30 Jahren mit Sicherheit schon
wieder veraltet.

Nutzen bringen diese ganzen Großprojekte in erster
Linie der Industrie. Mich würde in diesem Zusammen-
hang einmal interessieren, welche Unternehmen und
Beraterfirmen bei der Erstellung dieses Gesetzentwur-
fes beteiligt waren. Sagen Sie dazu doch einmal etwas.
Wenn man sich die Großprojekte der letzten Jahre an-
schaut, stolpert man nämlich auffallend oft über die-
selben Namen der daran Beteiligten. Oder finden Sie
es nicht bemerkenswert, dass das ELENA-Nachfolge-
projekt OMS über ein Projektbüro gesteuert wird, das
bei der Informationstechnischen Servicestelle der Ge-
setzlichen Krankenversicherung GmbH, ITSG GmbH,
angesiedelt ist? Der Geschäftsführer der ITSG GmbH
war auch Gründungsgeschäftsführer der Gematik
GmbH, einer Gesellschaft der Krankenkassen und

Ärzteverbände, die für die Einführung der elektroni-
schen Gesundheitskarte zuständig ist.

Die Linke befürwortet E-Government-Projekte, die
nicht auf die Profitinteressen der IT-Industrie, sondern
auf die Belange der Bürgerinnen und Bürger ausge-
richtet sind. Deshalb müssen realistische Wirtschaft-
lichkeitsberechnungen vorgenommen werden. Alle be-
troffenen Ebenen, also Bund, Länder und Kommunen,
müssen in die Gestaltung der neuen technischen Ab-
läufe eng einbezogen werden. Die Vorteile technischer
Neuerungen sind in Relation zum Nutzen für die Bür-
gerinnen und Bürger zu setzen, aber auch zu den Fol-
gekosten für Hardware, Software und vermehrten Per-
sonalaufwand. Und eines muss jedem klar sein: Eine
technisch hochgerüstete Verwaltung ist nicht zwangs-
läufig eine bürgernähere Verwaltung.

Die Linke begrüßt Projekte, die zu einer größeren
Partizipation der Bürgerinnen und Bürger an politi-
schen Prozessen beitragen. Der Schlüssel zu mehr di-
rekter Demokratie liegt in einer größeren Transparenz
der politischen Prozesse und Verfahrensweisen sowie
des Verwaltungshandelns.

Schauen wir uns deshalb einmal an, wie Sie in § 12
Open Data regeln wollen:

Anstatt den Informationszugang zu erleichtern, in-
dem die auf verschiedene Gesetze aufgeteilten Rege-
lungen zum Informationszugang einheitlich gestaltet
und erweitert werden, verharren Sie im Unverbindli-
chen. Eine Verknüpfung von Open Data mit einem
Rechtsanspruch der Bürgerinnen und Bürger auf In-
formationszugang wird von Ihnen peinlich vermieden.
Eine Veröffentlichungspflicht ist offensichtlich in Ihren
Augen das Schlimmste, was einer deutschen Behörde
passieren könnte. Dass Verwaltungsdaten nicht so hei-
ßen, weil sie der Verwaltung gehören, sondern weil
diese sie verwaltet, hat sich noch nicht bis zu Ihnen
rumgesprochen. Allen Sonntagsreden von Transparenz
und Offenheit zum Trotz befinden Sie sich mental eher
in einem Rollback, bei dem einer neugierigen Öffent-
lichkeit die Rechte beschnitten und nicht erweitert
werden sollen. Erst gestern musste Ihnen das Bundes-
verwaltungsgericht erklären, dass die Verfassung auch
Bundesbehörden nicht von Auskunftsersuchen der
Presse ausnimmt. Dass Sie sich aber überhaupt auf
den Standpunkt stellen, Bundesbehörden seien gegen-
über der Öffentlichkeit nicht zur Transparenz ver-
pflichtet, zeigt, wie viel Arbeit noch vor uns liegt, bis
bei Bund und Behörden endlich der Geist der Freiheit
das obrigkeitsstaatliche Denken aus den Amtsstuben
vertreibt!

Auch GovData, dem Open-Data-Vorzeigeprojekt
der Bundesregierung, das schon 2010 auf dem IT-Gip-
fel in Dresden angekündigt wurde, strich man konse-
quenterweise das „Open“ aus dem Namen. Eine Veröf-
fentlichungspflicht besteht, wie gesagt, nirgends.
Behörden und Verwaltungen bleibt es überlassen, ob
und welches Datenmaterial sie öffentlich zur Verfü-
gung stellen. Und wenn sie Daten zur Verfügung stel-

Zu Protokoll gegebene Reden





Jan Korte


(A) (C)



(D)(B)


len, dann dürfen die Bürgerinnen und Bürger diese nur
eingeschränkt weiterverwenden. Das hat mit Open
Data nichts zu tun, mit Transparenz auch nicht. Und es
schafft vor allem Rechtsunsicherheit.

Und statt jetzt einmal mehr par Ordre du Mufti zahl-
reiche Behörden und Verwaltungen zur Einführung
von Verfahren zu zwingen, deren Kosten nicht beziffer-
bar und deren Nutzen unbelegt ist, sollte man lieber
gezielte Pilotprojekte in einzelnen Bereichen durchfüh-
ren. Wenn sie sich dort bewähren, könnte man sie in
anderen Bereichen einführen. Falls nicht, könnte man
zur Abwechslung einmal aus den Fehlern lernen. Das
erscheint mir jedenfalls sinnvoller, als jetzt Vorschrif-
ten zu machen, die noch in 30 Jahren gültig sein sollen,
was angesichts der technischen Entwicklung vollkom-
men illusorisch ist.

Um zum Schluss zu kommen: Viel deutet auf Ihre
nächste Investitionsruine hin. Dem können wir auch
kurz vor dem Ende der Legislatur nicht einfach zustim-
men.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Eine Bundesregierung, die in diesen IT-revolutionä-
ren Zeiten so storchbeinig und langsam wie bei Gov-
Data voranschreitet, hat ein Problem. Zu Recht sind
die Freundinnen und Freunde von Open Data sauer,
dass die vormals als „opendata“ geplante Plattform
nur „GovData“ heißt. Und verständlicherweise är-
gern sie sich, dass die eingestellten Daten nicht belie-
big verwendbar sein werden, weil kein allgemeines
Lizenzierungssystem geschaffen wurde. Meine These
lautet, der Namenswechsel bei diesem wichtigen Open-
Government-Projekt ist nicht zufällig, sondern klares
Zeichen für die problematische Gesamthaltung der
Bundesregierung in diesem Politikfeld. Sie markiert
damit, insoweit durchaus offen, ihre Prioritäten. Ihr
geht es eben um die schlichte Effektivierung von Ab-
läufen, wo es uns um eine neue Verwaltungskultur und
die Geltung der Grundrechte geht. Und deshalb liegt
uns heute auch kein Entwurf für ein Open-Govern-
ment-Gesetz vor, sondern eben nur ein E-Government-
Gesetz.

Doch nirgendwo scheinen Anspruch, durchaus auch
legitime Erwartungen der Akteure und die Wirklichkeit
weiter auseinanderzulaufen als beim E-Government
des Bundes. Viel Zeit ist verstrichen, doch die Bundes-
verwaltung scheint elektronisch weiter der Zeit hinter-
herzuhinken. Das ergibt selbst ein nur flüchtiger Ver-
gleich mit anderen europäischen Staaten. Doch wollen
wir es uns mit einer solch kritischen Einschätzung
nicht zu leicht machen. Die Umstellung der Verwal-
tung in Bund, Ländern und Kommunen stellt ein
Riesenprojekt dar. Akzeptanzprobleme bei der Verwal-
tung, hierarchiegeprägte Selbstwahrnehmungen, wenig
ressortübergreifendes Verständnis, mangelnde Übung
und Bereitschaft zur Kooperation und viele andere
Faktoren wirken zusammen.

Und natürlich hängt die zögerliche Entwicklung
auch mit den Abstimmungserfordernissen der födera-
len Struktur zusammen. Der Bundesrat hat deutlich
kritisch Stellung bezogen. Schon die Anforderung ei-
ner Harmonisierung der E-Justice-Initiative des Bun-
desrates mit dem heute vorgelegten Entwurf dürfte er-
hebliche Probleme bereiten. Die Zukunft des uns heute
vorgelegten Gesetzentwurfs kann deshalb als durchaus
unsicher bezeichnet werden, sollte die Bundesregie-
rung sich nicht noch ganz erheblich bewegen.

Um deshalb eines vorneweg klarzustellen: Über die
Notwendigkeit der Transformation unserer Verwaltun-
gen in das 21. Jahrhundert der Informations- und Kom-
munikationstechnologien kann es keinen Streit geben.
Nur eine entsprechend modernisierte Bürokratie wird
zukünftig genauso effektiv in der Lage sein, ihren ge-
meinwohlbezogenen Aufgaben nachzukommen. Doch
sollte ebenfalls die Suggestion vermieden werden, die
Technologie ziehe alles Weitere schon von selbst nach
sich. Eine entsprechende digitale Verwaltungskultur
benötigt weitere, oft zeitaufwendige Schritte. Die be-
troffenen Beschäftigten müssen mitgenommen werden.
Ein Beispiel hierfür stellen die Informationsfreiheits-
gesetze dar, die weiterhin auf zum Teil erhebliche Wi-
derstände aus den Verwaltungen selbst stoßen.

Aus grüner Sicht bedeutet E-Government nicht
mehr und nicht weniger als eine mit technischen Mit-
teln unterstützte Weiterentwicklung des Staates und
der Verwaltung hin zu mehr Offenheit und Transpa-
renz, aber auch und zugleich hin zu mehr Datenschutz
und Datensicherheit. Wir wollen Open Government,
und zwar ohne die Schaffung neuer Hindernisse oder
gar Nachteile.

Barrierefreiheit und das Multikanalprinzip zuguns-
ten derjenigen, die nicht online gehen wollen oder kön-
nen, sind deshalb für uns selbstverständlich. Doch es
geht nicht nur um den Umgang mit Daten und Informa-
tionen. Die Informationstechnologie zeigt Möglichkei-
ten der Partizipation, der Beteiligung von Bürgerinnen
und Bürgern auf, mit denen nicht nur die Akzeptanz,
sondern auch die inhaltliche Richtigkeit von Entschei-
dungsprozessen verbessert und tragfähig gemacht wer-
den kann.

Und schließlich: Die Anforderungen an die Erreich-
barkeit und Zugänglichkeit der Verwaltung durch die
Bürgerinnen und Bürger haben sich grundlegend ver-
ändert. Hier besteht eine Chance für die Verwaltung,
ihr staubiges Image abzulegen und Bürgerfreundlich-
keit lebendig werden zu lassen. Zugleich geht es um
ernstzunehmende Verbesserungen, Einsparung von öf-
fentlichen Geldern, aber auch von Lebenszeit – statt
des Wartens auf Godot in grauen, verrauchten Amts-
stuben die Hoffnung auf rasche Abwicklung über das
Internet. Wer in der Wirtschaft wesentliche Abläufe,
Vertragsabschlüsse und laufende Kommunikationen
nahezu vollständig und abschließend online bewälti-
gen kann, erwartet zu Recht vergleichbare Standards
von seiner Verwaltung. Doch kostet das nicht nur viel
Geld, sondern es müssen komplexe Rahmenbedingun-

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Konstantin von Notz


(A) (C)



(D)(B)


gen der bestehenden Verwaltung, nicht zuletzt der
wichtige rechtsstaatliche Rahmen, entsprechend ange-
passt und umgestellt werden, und zwar so, dass die
Modernisierung nicht auf Kosten und zulasten der
Rechte der Bürgerinnen und Bürger geht.

Erlauben Sie mir, konkret zum vorgelegten Gesetz-
entwurf und aus der langen Reihe der damit aufgewor-
fenen Probleme einige für uns Grüne zentrale Pro-
bleme herauszugreifen. Im Kern geht es um gesetzliche
Vorgaben zur Ermöglichung eines Zugangs zur öffent-
lichen Verwaltung. Ganz konkret sind nach dem Multi-
kanalprinzip mehrere Zugänge gleichzeitig zu eröff-
nen, aber auch die Übermittlung von Dokumenten
muss ermöglicht werden, De-Mail-Dienste sind anzu-
bieten, und die Nutzung des neuen Personalausweises
und seiner Funktionalitäten ist zu akzeptieren. Die Be-
hörden haben über sich im Web zu informieren, die in
Verwaltungsverfahren zu erbringenden Nachweise
müssen auch elektronisch erbracht werden können,
und für die Bundesverwaltung wird die elektronische
Aktenführung dem Grundsatz nach zum Standard. All
das ist zu begrüßen, bringt für die Bürgerinnen und
Bürger Erleichterungen und bedeutet einen wichtigen
ersten Schritt.

In seinem Anwendungsbereich eher weit gehalten,
wird nicht nur die Bundesverwaltung erfasst, sondern
werden auch Behörden der Länder erfasst, soweit diese
Bundesrecht als eigene Angelegenheit oder im Auftrag
des Bundes ausführen. Hier wird es schwierig: Es er-
scheint durchaus offen, in welchem Verhältnis kollidie-
rende Länderbestimmungen, etwa das in Schleswig-
Holstein bestehende E-Government-Gesetz, zum heute
vorgelegten Entwurf stehen.

Wie bereits betont, teilen wir das Grundanliegen des
Entwurfs. Wir respektieren und anerkennen die außer-
ordentlich aufwendigen Vorarbeiten für dieses Groß-
vorhaben. Im Gegensatz zur Bundesregierung bezwei-
feln wir allerdings, dass der Entwurf sich durch einen
ganzheitlichen Ansatz auszeichnet. Vielmehr kommen
zentrale Ziele des legislativen Umgangs mit E-Govern-
ment, darunter der Datenschutz, aber auch Open Data,
Open Source und Informationsfreiheit, im Gesetz selbst
zu kurz. Hier wurde die Chance vertan, die engen
Verbindungen und Überschneidungen der Themen im
E-Government aufzuzeigen und mit einem integrativen
Ansatz ein bürgerfreundliches Gesetz zu schreiben.

Stattdessen scheint die Bundesregierung peinlich
genau den Eindruck vermeiden zu wollen, diese The-
men hätten im engeren Sinne etwas miteinander zu tun.
Das zeigt sich schon an den Überschriften. Da heißt es
„Akteneinsicht“ statt „Informationsfreiheit“ oder
„Bereitstellen von Daten“ statt „Open Data“. Und
auch was sich dahinter jeweils verbirgt, ist nicht
akzeptabel. In der betreffenden Vorschrift zur Aktenein-
sicht werden ausschließlich die Wege der Einsichtsge-
währung aufgezählt. Da aber im Informationsfreiheits-
gesetz ein durchaus voraussetzungsloser Anspruch der
Bürger statuiert wird, bei dem auch die Wahl der Art

des Zugangs freigestellt wird, entsteht hier unnötige
Unklarheit.

Noch misslicher erscheint die Fassung zum Bereit-
stellen von Daten in § 12 des Entwurfs: Einerseits wird
die Maschinenlesbarkeit bei der Bereitstellung von
Daten zum Grundsatz erhoben. Andererseits wird
gleich eingeschränkt, dass es sich dabei nur um kom-
merziell interessante Daten handeln dürfe. Nicht gere-
gelt wird, ob überhaupt und in welchem Umfang Daten
in öffentlich zugänglichen Netzen zur Verfügung zu
stellen sind. Überhaupt wird jede Konkretisierung auf
den Verordnungsweg verwiesen – mit der Folge, dass
hier die Chance zur Schaffung von einheitlichen Stan-
dards auch bei der wichtigen Frage der Lizenzierung
verpasst wird.

Aus der Sicht des Datenschutzes ist die fehlende In-
tegration von konkretisierenden Bestimmungen nicht
nur misslich, sondern ein fachlicher Mangel des Ge-
setzes. Denn ohne einen hinreichend konkreten be-
reichsspezifisch ansetzenden Regelungsansatz entsteht
allenfalls neue Rechtsunsicherheit, es werden aber
nicht die aufgeworfenen Probleme gelöst. Eine der
drängendsten Fragen dabei lautet etwa, wie es mit der
Speicherung und dem elektronischen Austausch von
datenschutzrechtlich besonders sensitiven Daten – zum
Beispiel Steuer- und Gesundheitsdaten – steht. In kei-
ner Weise wurde die neuere Rechtsprechung des Bun-
desverfassungsgerichts, insbesondere das Urteil zur
Vorratsdatenspeicherung und zum Grundrecht auf Ver-
traulichkeit und Integrität informationstechnischer
Systeme, reflektiert. Die dort gemachten Vorgaben be-
sonders zur Datensicherheit betreffen eine in die rück-
kanalfähige Kommunikation voll einsteigende Verwal-
tung in hohem Maße. Der bislang vorliegende Entwurf
trifft jedoch keine differenzierenden Regelungen und
ist insoweit unzureichend.

Schließlich erlauben Sie mir noch wenige Worte zu
De-Mail und zum neuen Personalausweis. Wie Sie wis-
sen, bin ich bei diesen IT-Großprojekten nach wie vor
skeptisch, ob sie überhaupt jemals die in sie gesetzten
Hoffnungen erfüllen werden. Und die bislang vorgeleg-
ten Zahlen und Entwicklungen stützen meine Beden-
ken. Viel zu wenige Bürgerinnen und Bürger nutzen die
mit dem Personalausweis unnötigerweise verbundenen
Funktionalitäten, weil es die Angebote schlicht nicht
gibt. Ob die öffentliche Verwaltung es rausreißen
kann – man wird sehen.

Bei der De-Mail aber ist die Zukunft noch unsiche-
rer. Denn noch ist das Projekt immer noch nicht richtig
losgegangen. Und trotzdem wird De-Mail in diesem
Entwurf zum wichtigen Kanal des Zugangs zu Behör-
den gemacht. Sie steht damit gleichberechtigt neben
der qualifizierten digitalen Signatur, obwohl sie keine
Ende-zu-Ende-Verschlüsselung bieten kann. Es kann
aber keinen Zweifel geben, dass für bestimmte Verwal-
tungsverfahren genau dieser Sicherheitsstandard und
kein anderer zu fordern ist – Stichwort wieder: sensi-
tive Daten. Bedauerlicherweise kann ich dem Gesetz

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Konstantin von Notz


(A) (C)



(D)(B)


keine hinreichende Aufmerksamkeit für diese Proble-
matik entnehmen.

Lassen Sie es mich vorsichtig so zusammenfassen:
Die IT-Strategie der Bundesregierung, insbesondere
die Trias aus De-Mail, neuem Personalausweis und
nun dem E-Government-Gesetz, soll aus Sicht der
Bundesregierung mehr Sicherheit für die Bürgerinnen
und Bürger bringen. Doch kein einziges dieser Pro-
jekte ist je abgehoben; das ist schon ein wenig potem-
kinsch. Gleichzeitig verweigert sie weiterhin konse-
quent diese Sicherheit in Bezug auf den Datenschutz,
aber auch im Hinblick auf Vertrauen durch Transpa-
renz. Hier fehlt es ganz offenkundig an einem ganzheit-
lichen Ansatz, wie es aus der Sache heraus erforder-
lich wäre. Deshalb kann uns der heute vorgelegte
Entwurf nicht überzeugen.

D
Dr. Ole Schröder (CDU):
Rede ID: ID1722233600


Eine Bestandsaufnahme bei Bund, Ländern und
Gemeinden zeigt, dass derzeit ein Flickenteppich an
E-Government-Angeboten entstanden ist, der hier und
da exzellente Lösungen enthält, insgesamt aber zu we-
nig die Bedürfnisse der Bürger und Unternehmen nach
verlässlichen Standards und auch das Bedürfnis der
Verwaltung nach Interoperabilität berücksichtigt.

In einer Zeit und einer Gesellschaft, in der die In-
formationstechnologien zunehmend alle Lebensberei-
che durchdringen, kann und darf die Verwaltung nicht
länger außerhalb dieser Entwicklung stehen. Eine leis-
tungsfähige Verwaltung ist auch eine Voraussetzung
für die Sicherung des Wirtschaftstandorts Deutsch-
land. Wir vergeben uns enorme Chancen, wenn wir
jetzt nicht die Möglichkeiten der IT für die Verwaltung
nutzen.

E-Government bedeutet dabei nicht nur die Abwe-
senheit von Papier, sondern bietet die Möglichkeit,
Verwaltungsprozesse neu zu konzipieren und zu opti-
mieren. Damit können erhebliche Ressourceneinspa-
rungen verbunden sein.

E-Government ist ein Instrument, um die Verwal-
tung bürgerfreundlicher und gleichzeitig kostengünsti-
ger zu machen. Die Bürgerinnen und Bürger erhalten
durch das E-Government-Gesetz einen besseren
Service. Damit werden durchgängig medienbruchfreie
elektronische Verwaltungsverfahren orts- und zeitun-
abhängig angeboten. Auch die Wirtschaft und die
Verwaltung selbst werden von diesen Verfahren profi-
tieren. Diesen Zielen ist das E-Government-Gesetz
verpflichtet.

Mit dem E-Government-Gesetz stellen wir zusätzli-
che sichere technische Verfahren bereit, um die hand-
schriftliche Unterschrift zu ersetzen. Dadurch wird es
möglich, fast alle Verwaltungsverfahren auch online
abwickeln zu können. Die qualifizierte Signatur hat
sich als zu kompliziert herausgestellt. Es wird durch
das E-Government-Gesetz beispielsweise möglich, auf
der Internetseite einer Verwaltung mit dem elektroni-

schen Personalausweis Anträge zu stellen, und dies
auch in den Fällen, in denen ein Gesetz Schriftform,
das heißt eigentlich eine eigenhändige Unterschrift
vorsieht.

Weiterer Schwerpunkt des Gesetzentwurfs ist die
Implementierung von sogenannten Motornormen, die
ebenenübergreifend den Ausbau von E-Government-
Lösungen fördern. Als Mindestanforderungen werden
der elektronische Zugang zur Verwaltung, elektronisch
abrufbare Behördeninformationen, elektronische Be-
zahlsysteme, elektronische Nachweise, die Nutzung
elektronischer Formulare und elektronische Publika-
tionen auf den Weg gebracht. Für die Bundesbehörden
schreiben wir die elektronische Aktenführung und die
Nutzung von elektronischer Identifikation und De-Mail
fest.

Dem Gesetzentwurf ist eine intensive Abstimmung
und Beratung mit Vertretern der Verbände, der Wirt-
schaft und der Länder vorangegangen, und das jetzt
vorliegende Ergebnis wird nicht nur von allen Seiten
mitgetragen, nein, es wird gefordert, dass das Gesetz
jetzt zügig kommt.

Wir befinden uns auf der Zielgeraden dieser Legis-
laturperiode und haben jetzt die Chance, diesem für
die Bürgerinnen und Bürger, aber auch die Wirtschaft
unseres Landes so wichtigen Vorhaben zur Geltung zu
verhelfen.

Die bereits jetzt aufgewendeten IT-Ausgaben von
Bund und Ländern können gebündelt, kanalisiert und
Synergieeffekte besser genutzt werden.

Das E-Government-Gesetz stellt auch einen wichti-
gen Beitrag zur Demografiestrategie der Bundesregie-
rung dar. Wir wissen, wenn wir mit einer schrumpfen-
den Bevölkerungsanzahl und älteren Bevölkerung
unsere Wirtschaftskraft und unseren Wohlstand halten
wollen, benötigen wir Innovationen. Das schließt auch
Innovationen in der Verwaltung ein.

Vom Fachkräftemangel wird zunehmend auch die
Verwaltung betroffen sein. In ländlichen Regionen wird
es immer schwieriger werden, die Präsenz der Verwal-
tung in der Fläche aufrechtzuerhalten. Zur Erbringung
von Verwaltungsdienstleistungen in hoher Qualität be-
nötigen wir deshalb E-Government-Anwendungen, zum
Beispiel, um mobile Bürgerbüros möglich zu machen.

Nutzen wir die breite gesellschaftliche Unterstüt-
zung für das Thema E-Government und nehmen wir
die Forderungen aus der Wirtschaft ernst; zeigen wir,
dass wir verstanden haben, dass Verwaltung sich an
den Bedürfnissen der Bürgerinnen und Bürger orien-
tieren und die Bedarfslagen der Wirtschaft berücksich-
tigen muss. Bekennen wir uns jetzt gemeinsam zu dieser
Verantwortung und legen wir mit dem E-Government-
Gesetz den Grundstein für einen Transformations-
prozess.

Der Gesetzentwurf zeigt einen Weg auf, wie sich die
Verwaltung von morgen oder übermorgen vor dem
Hintergrund des demografischen Wandels und des

Zu Protokoll gegebene Reden





Parl. Staatssekretär Dr. Ole Schröder


(A) (C)



(D)(B)


anhaltenden Strukturwandels zur digitalen Welt entwi-
ckeln soll. Das E-Government-Gesetz schafft auf allen
Ebenen die Möglichkeit, Verwaltung neu zu denken
und zu organisieren. Investitionen in E-Government
sind dabei Investitionen in die Zukunft – je früher,
desto besser.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1722233700

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-

wurfs auf Drucksache 17/11473 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Dann haben wir so beschlossen.

Tagesordnungspunkt 32:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem In-
ternationalen Übereinkommen von Nairobi
von 2007 über die Beseitigung von Wracks

– Drucksache 17/12343 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)
Rechtsausschuss

Interfraktionell ist vorgeschlagen, die Reden zu Pro-
tokoll zu geben.1) – Sie sind damit einverstanden.

Der Gesetzentwurf auf Drucksache 17/12343 soll an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse über-
wiesen werden. – Es gibt dazu keine anderweitigen Vor-
schläge. Dann haben wir so beschlossen.

Ich rufe Zusatzpunkt 7 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang
Börnsen (Bönstrup), Marco Wanderwitz, Johannes
Selle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Claudia

Winterstein, Burkhardt Müller-Sönksen, Reiner
Deutschmann, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP

Originäre Kinderfilme aus Deutschland stär-
ker fördern

– Drucksache 17/12381 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss

Vorgeschlagen ist, die Reden zu Protokoll zu ge-
ben.2) – Sie sind einverstanden.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/12381 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind damit ein-
verstanden. Dann haben wir so beschlossen.

Damit, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind wir am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 22. Februar 2013,
9 Uhr, ein.


(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Was machen wir jetzt, Herr Präsident?)


Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen noch
einen heiteren Abend und eine gute Nachtruhe.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Ja, das wünschen wir auch!)