Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012 25907
(A) (C)
(D)(B)
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
* für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver-
sammlung der NATO
Anlage 2
Erklärung nach § 31 GO
des Abgeordneten Frank Heinrich (CDU/CSU)
zur namentlichen Abstimmung über den
Entwurf eines Gesetzes zur Aufhebung des
Asylbewerberleistungsgesetzes (Tagesordnungs-
punkt 4 b)
Asylbewerber in Deutschland müssen rechtlich besser
gestellt werden. Das Asylbewerberleistungsgesetz in sei-
ner jetzigen Form wird weder der Lebenswirklichkeit
von Flüchtlingen gerecht, wovon ich mir persönlich ein
Bild bei Begegnungen mit Asylbewerbern machen
konnte, noch den grundlegenden rechtlichen Rahmenbe-
dingungen in der Bundesrepublik, wie das Urteil des
BVG zeigt und die Expertenberichte bestätigen.
Deshalb bedarf es einer gründlichen und bedarfs-
gerechten Überarbeitung des Asylbewerberleistungsge-
setzes bzw. einer grundlegenden gesetzlichen Neurege-
lung. Hier stimme ich in der Sache dem Anliegen der
Anträge zu. Die geforderte Sicherung des menschenwür-
digen Existenzminimums wurde durch Bundesministerin
von der Leyen ausdrücklich begrüßt und wird bereits
umgesetzt. Eine gesetzliche Neuregelung ist im BMI
sowie im BMSFJ in Arbeit. Die hier zu beschließenden
Vorschläge einer bloßen Abschaffung des Gesetzes
dagegen greifen für eine umfassende Gesetzgebung zu
kurz.
Zum Antrag in TOP 4 d der Fraktion der Linken noch
eine grundsätzliche Bemerkung: Das Prinzip der Rechts-
staatlichkeit lässt eine Gesetzgebung aus aktueller und
situativer Betroffenheit nicht zu. Ich begrüße die
erwähnte Demonstration der Asylbewerber und unter-
stütze das Anliegen, die Residenzpflicht zu überdenken.
Dies muss aber einem politischen Konzept folgen und
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Brinkmann
(Hildesheim),
Bernhard
SPD 29.11.2012
Bulmahn, Edelgard SPD 29.11.2012
Canel, Sylvia FDP 29.11.2012
Deligöz, Ekin BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
29.11.2012
Fischer (Göttingen),
Hartwig
CDU/CSU 29.11.2012
Frankenhauser, Herbert CDU/CSU 29.11.2012
Hardt, Jürgen CDU/CSU 29.11.2012*
Dr. Hein, Rosemarie DIE LINKE 29.11.2012
Heinen-Esser, Ursula CDU/CSU 29.11.2012
Hirte, Christian CDU/CSU 29.11.2012*
Humme, Christel SPD 29.11.2012
Kuhn, Fritz BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
29.11.2012
Dr. Lauterbach, Karl SPD 29.11.2012
Mast, Katja SPD 29.11.2012
Maurer, Ulrich DIE LINKE 29.11.2012
Meierhofer, Horst FDP 29.11.2012
Menzner, Dorothée DIE LINKE 29.11.2012
Nink, Manfred SPD 29.11.2012
Pieper, Cornelia FDP 29.11.2012
Ploetz, Yvonne DIE LINKE 29.11.2012
Rachel, Thomas CDU/CSU 29.11.2012
Dr. Ratjen-Damerau,
Christiane
FDP 29.11.2012
Schlecht, Michael DIE LINKE 29.11.2012
Schuster, Marina FDP 29.11.2012
Dr. Schwanholz, Martin SPD 29.11.2012
Simmling, Werner FDP 29.11.2012
Dr. Wadephul, Johann CDU/CSU 29.11.2012
Wellenreuther, Ingo CDU/CSU 29.11.2012
Zypries, Brigitte SPD 29.11.2012
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Anlagen
25908 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012
(A) (C)
(D)(B)
die rechtlichen Auswirkungen nach allen Seiten berück-
sichtigen. Ein spontaner Impuls reicht für ein belastbares
Gesetzgebungsverfahren nicht aus – und genau deswe-
gen werden die Gesetze in den zuständigen Ministerien
zur Zeit überarbeitet.
Persönlich werde ich mich dafür einsetzen, dass Er-
gebnisse zeitnah und konkret vorgelegt werden.
Anlage 3
Erklärung nach § 31 GO
des Abgeordneten Wolfgang Gehrcke (DIE
LINKE) zur Abstimmung über den Antrag auf
Genehmigung zur Durchführung eines Straf-
verfahrens (Zusatztagesordnungspunkt 5 b)
Ich habe den Anträgen auf Genehmigung der Durch-
führung von Strafverfahren gegen meine Kolleginnen
und Kollegen Sevim Dağdelen, Inge Höger, Jan van
Aken und Dr. Diether Dehm nicht zugestimmt.
Dazu will ich erklären:
Erstens. Die Immunität von Abgeordneten gehört
ebenso wie die freie und geheime Wahl, das Rede- und
Stimmrecht und der Schutz der Person zu den elementa-
ren Parlamentsrechten. Die Immunität aufzuheben, sie
besteht konkret und grundsätzlich, bedarf es aus meiner
Sicht drastischer Vorhaltungen. Die Genannten haben
jedoch von ihren Bürgerrechten Gebrauch gemacht. Ihre
Zivilcourage verdient Schutz und Anerkennung, nicht
Verfolgung. Wer die Rechte von Parlamentariern ein-
schränkt, schränkt das Parlament ein und damit die
Volkssouveränität. Deshalb habe ich den Anträgen nicht
zugestimmt.
Zweitens. Art und Weise wie Form und Inhalt von
Protesten und Demonstrationen unterliegen einem be-
ständigen Wandel, so wie auch die Gesellschaft sich
wandelt. Gleichermaßen bleibt das Prinzip der Gewalt-
losigkeit. Denken Sie zum Beispiel an das Mittel der
Blockade. Diese Protestform ist mit den Blockaden in
Mutlangen aufgekommen und danach an vielen anderen
Orten angewandt worden. Heute ist auch diese Protest-
form gesellschaftlich weitgehend akzeptiert, und Verfol-
gungen wurden eingestellt bzw. gar nicht erst eingeleitet.
Unrühmliche Ausnahme ist allerdings die Verfolgung
der Naziblockierer und Naziblockiererinnen von Dres-
den durch die sächsische Staatsanwaltschaft. Auch das
„Schottern“ findet weit mehr gesellschaftliche Akzep-
tanz, als den Behörden dieses Landes lieb ist. Weder die
konkrete, öffentliche Aktion noch die öffentlich geäu-
ßerte Sympathie darf aus meiner Sicht verfolgt werden.
Deshalb habe ich den vorliegenden Anträgen nicht zuge-
stimmt.
Drittens. Auch die Provokation, die Überzeichnung
von Zuständen, ist ein zulässiges Mittel des Protestes,
der Politik und Kunst. Ohne die Provokation gäbe es
heute zum Beispiel keine gesellschaftliche Mehrheit für
eine Energiewende. Da ich für den Ausstieg aus der
Kernenergie bin, kann ich einer Verfolgung von Atom-
kraftgegnerinnen und -gegnern nicht zustimmen.
Anlage 4
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Umsetzung des EuGH-Urteils vom 20. Oktober
2011 in der Rechtssache C-284/09 (Tagesord-
nungspunkt 8)
Dr. h. c. Hans Michelbach (CDU/CSU): Mit der
derzeitigen Behandlung von Streubesitzdividenden ver-
stößt das deutsche Steuerrecht gegen europäische Recht-
sprechung. Es handelt sich um eine Benachteiligung von
ausländischen Kapitalgesellschaften mit Sitz im EU/
EWR-Raum.
Bisher wird eine Abgeltungsteuer auf Dividendenzah-
lungen an ausländische Unternehmen bei einer Beteili-
gung von unter 10 Prozent erhoben. Dabei wird eine Ka-
pitalertragsteuer von 25 Prozent, bei Vorhandensein
eines Doppelbesteuerungsabkommens von 15 Prozent,
einbehalten.
Auch bei inländischen Unternehmen wird die Kapi-
talertragsteuer erhoben; sie wird jedoch mit der Körper-
schaftsteuer verrechnet. So wird eine Mehrfachbesteue-
rung vermieden. Bei ausländischen Unternehmen hat der
Kapitalertragsteuereinbehalt hingegen grundsätzlich ab-
geltende Wirkung.
Der EuGH hat eine Korrektur dieser ungleichen Be-
handlung von inländischen und ausländischen Kapital-
gesellschaften gefordert. Dieser Forderung tragen wir
nun Rechnung. Die Ungleichheit muss beseitigt werden.
Das gehört zur Steuergleichheit und Steuergerechtigkeit.
Hierfür hat die Koalition einen Gesetzentwurf vorge-
legt, der von einer großen Mehrheit der Sachverständi-
gen begrüßt wurde, weil er eine korrekte, förderliche und
gerechte Lösung präsentiert.
Das Grundanliegen des Gesetzentwurfs ist es, die Be-
stimmungen zur Erstattung der Kapitalertragsteuer an
die Vorgaben des EuGH anzupassen. Wir erreichen die
Gleichstellung von ausländischen und inländischen Ka-
pitalgesellschaften dadurch, dass wir die ausländischen
mit der bestehenden Freistellung der inländischen
gleichstellen. So beseitigen wir den europarechtswidri-
gen Zustand auch rückwirkend.
Es ist richtig, dass dies erstens Steuermindereinahmen
bedeutet und zweitens eine rückwirkende Erstattung
deutscher Kapitalertragsteuer an ausländische Kapitalge-
sellschaften mit Sitz im EU/EWR-Raum stattfindet. Der
Steuergesetzgeber kann sich nicht von willkürlichen
Steuermehreinnahmewünschen leiten lassen. Steuerpoli-
tik benötigt auch die Akzeptanz der Wirtschaft.
Natürlich ist die im Gesetzentwurf vorgesehene Er-
stattungsregelung – wie bereits bei unseren österreichi-
schen Nachbarn – an klare Bedingungen geknüpft: Die
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012 25909
(A) (C)
(D)(B)
Erstattung auf Antrag kommt nur dann infrage, wenn die
ausländische Kapitalgesellschaft nachweist, dass die
deutsche Kapitalertragsteuer im Ausland weder ange-
rechnet noch als Betriebsausgabe abgezogen worden ist.
Es wird keine doppelte Entlastung geben.
Wir setzen die Vorgabe des Europäischen Gerichts-
hofs zugunsten der Steuerpflichtigen um, ohne dass
deutschen Unternehmen zusätzliche Steuerlasten aufer-
legt würden – im Gegensatz zu Teilen der Opposition,
die neue Belastungen durch Steuererhöhungen durchset-
zen will. Rot-Grün will die Gleichstellung dadurch
schaffen, dass die inländische Steuerbefreiung aufgeho-
ben wird. Sie müssen doch einsehen, dass deutsche Un-
ternehmen bei dieser Variante erheblich belastet würden!
Gerade junge Unternehmen in der Gründungsphase,
Kleinanleger und vor allem auch Versicherungen wären
betroffen. Junge Unternehmen wie Start-ups sind auf
mehrere Investoren angewiesen. Wenn wir den Streube-
sitz besteuern, dann wird diese Finanzierung erschwert.
Der Vorschlag des Bundesrates würde dem Wirt-
schaftsstandort Deutschland erheblichen Schaden zufü-
gen. Die Steuerpflicht für Streubesitzdividenden würde
zu einer systemwidrigen Mehrfachbesteuerung desselben
Gewinns und damit zu drastischen Steuererhöhungen
führen. Wird der Gewinn über mehrere Beteiligungsstu-
fen ausgeschüttet, entsteht hierdurch ein Kaskadeneffekt.
Das bedeutet, dass mit jeder Ebene, über die ein Gewinn
innerhalb eines Unternehmens weitergereicht wird, auch
die Besteuerungsstufen kulminieren. Bereits bei einer
weiteren Tochterebene und damit zwei Ebenen würde die
Steuerbelastung bei 64 Prozent anstatt bei der Normal-
steuerlast von 49,5 Prozent liegen.
Massiv und ungerechtfertigt getroffen durch den Kas-
kadeneffekt wären insbesondere die Verbundstrukturen
der Sparkassen sowie der Volks- und Raiffeisenbanken –
aufgrund der dezentralen Struktur werden Regional- und
Spitzeninstitute, Dienstleister und andere Verbundunter-
nehmen von einer Vielzahl kleinerer Institute „getragen“,
die somit zwangsläufig nur Minderheitsbeteiligungen
halten –, Venture-Capital- und Private-Equity-Finanzie-
rungen, der deutsche Aktienmarkt – denn es steht zu be-
fürchten, dass sich private und institutionelle Anleger aus
Renditegründen in erheblichem Umfang zurückziehen
könnten; ich denke hier auch an mögliche panische Betei-
ligungsverkäufe –, die betriebliche Altersvorsorge, da
Pensionsverpflichtungen großer Arbeitgeber auch mit
Streubesitzbeteiligungen unterlegt sind. Angesichts der
gerade in der letzten Zeit geführten Debatte über eine aus-
reichende Alterssicherung frage ich mich, wie die Bun-
desländer ernsthaft über eine Aufhebung der Steuerbe-
freiung von Streubesitzdividenden nachdenken können.
Die Einführung einer Schedulenbesteuerung, wie sie
vom Bundesrat vorgeschlagen worden ist, würde die Un-
ternehmensbesteuerung erheblich verkomplizieren, was
im Widerspruch zum Koalitionsvertrag steht. Würde der
Vorschlag der Bundesländermehrheit umgesetzt, könnten
sich Unternehmen entschließen, ihre Hauptniederlassung
aus Deutschland hinaus zu verlegen. So würden dem
deutschen Haushalt zukünftige Steuereinnahmen entge-
hen.
Die Diskriminierung von ausländischen Kapitalge-
sellschaften wollen Teile der Opposition also dadurch
beseitigen, dass zum einen deutsche Unternehmen er-
heblichen Steuermehrbelastungen ausgesetzt werden
und zum anderen der Wirtschaftstandort Deutschland
seine Attraktivität einbüßt. Diese falsche Politik der
Steuererhöhung lehnen wir entschieden ab.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf gelingt es uns,
einen fiskalisch vertretbaren Weg einzuschlagen. So
werden wir den Vorgaben des Europäischen Gerichts-
hofs gerecht, ohne deutschen Unternehmen zusätzliche,
sachlich nicht gerechtfertigte Lasten aufzubürden. Es ist
der richtige Weg, um Investitionen und Unternehmen
nicht aus unserem Land zu vertreiben, sondern sie hier
zu halten. Dieser Grundsatz unserer Steuerpolitik dient
dem Wachstum und den Arbeitsplätzen in Deutschland.
Dr. Mathias Middelberg (CDU/CSU): Mit dem von
den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten
Gesetzentwurf setzen wir Vorgaben aus dem EuGH-
Urteil vom 20. Oktober 2011 in der Rechtssache C-284/09
um.
Der vom EuGH beanstandete unionsrechtswidrige
Zustand wird, auch mit Wirkung für die Vergangenheit,
beseitigt. Die von dem EuGH-Urteil betroffenen auslän-
dischen EU-Körperschaften werden von der Kapitaler-
tragsteuer bei Vorliegen der Voraussetzungen entlastet.
Die Vorgaben des EuGH werden punktgenau umgesetzt.
Eine Erstattung erfolgt allerdings nur, soweit nachgewie-
sen wird, dass die deutsche Kapitalertragsteuer im
Ausland weder angerechnet noch als Betriebsausgabe
abgezogen worden ist oder zukünftig steuerlich berück-
sichtigt werden kann.
Durch die Umsetzung der Formulierungshilfe dürfte
es in den Kassenjahren 2013 und 2014 zu einer Erstat-
tung von Kapitalertragsteuer in einer Größenordnung
von rund 1,5 Milliarden Euro kommen. Darin sind die Er-
stattungen für die Altfälle enthalten. In den darauffol-
genden Jahren wird das Volumen der jährlichen Erstattun-
gen auf eine Größenordnung von bis zu 650 Millionen
Euro pro anno geschätzt. Die Erstattungen belasten zur
Hälfte den Bundeshaushalt.
Die Steuerfreiheit von konzerninternen Dividenden
ist keine Begünstigung von Unternehmen, sondern eine
rein technische Umsetzung des Teileinkünfteverfahrens.
Dieses Teileinkünfteverfahren ist mit der Unternehmen-
steuerreform 2008 von der Großen Koalition eingeführt
worden. Danach soll die Besteuerung von Kapitalgesell-
schaftsgewinnen in einem ersten Schritt bei der Kapital-
gesellschaft und in einem zweiten Schritt als Dividende
erst bei Ausschüttung an den privaten Gesellschafter er-
folgen.
In Beteiligungsketten sollte sichergestellt sein, dass es
bei einer Körperschaftsteuer- und Gewerbesteuerbelas-
tung von zusammen 30 Prozent so lange bleibt, bis der
Gewinn die Ebene der Körperschaft verlässt und an eine
natürliche Person ausgeschüttet wird. Wenn Sie dieses
System der Steuerfreiheit konzerninterner Dividenden
aufmachen, würde das zu einer systemwidrigen Überbe-
25910 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012
(A) (C)
(D)(B)
steuerung führen, da Gewinne bereits vor Ausschüttung
an den Gesellschafter auf der Ebene der Kapitalgesell-
schaft mehrfach besteuert würden.
Bei Ausschüttungen über mehrere Konzernebenen
kann es dabei zu erheblichen Kaskadeneffekten kom-
men. Bisher liegt die Gesamtbelastung bei 49,5 Prozent
Steuern – 30 Prozent auf Ebene der Körperschaft und
29,5 Prozent auf der Ebene privater Gesellschafter –
25 Prozent Abgeltungsteuer plus 5,5 Prozent Soli. Bei
dem Vorschlag des Bundesrates würden die Ausschüt-
tungen konzernintern auf jeder Mutter-Tochter-Stufe im-
mer wieder besteuert. Bei zwei Konzernebenen wären
wir bei 64 Prozent Gesamtbelastung, bei drei Ebenen bei
76 Prozent und bei vier Ebenen bei 83 Prozent. Das Bun-
desratsmodell würde deshalb eine Welle von gesell-
schaftsrechtlichen Umstrukturierungen auslösen.
Die Anhörung hat gezeigt, dass vor allem im Bereich
der Fondsbesteuerung die entstehenden Nachteile ver-
heerend wären: Insbesondere in der betrieblichen Al-
tersvorsorge würden die zusätzlichen Belastungen die
Kapitalerträge mindern und zwangsläufig zu einer Ab-
senkung der betrieblichen Versorgungsleistungen führen.
Von deutschen Unternehmen gegebene Pensionszusa-
gen werden häufig mittels Wertpapieranlagen gedeckt.
Diese Wertpapieranlagen bestehen dabei typischerweise
auch aus Aktien. Aufgrund der vorgebenden und ange-
strebten Risikostreuung werden regelmäßig nur Streube-
sitzbeteiligungen gehalten. Diese langfristige und risiko-
diversifizierte Aktienanlage steigert die Rendite des zur
Deckung der Pensionszusagen dienenden Wertpapier-
portfolios.
Aufgrund der definitiven Vorbelastung wären zudem
Fondsanlagen steuerbefreiter institutioneller Anleger
– Kirchen, Stiftungen, steuerbefreite Pensions- und Un-
terstützungskassen – generell benachteiligt.
Der negative Anreiz von Minderheitsbeteiligungen
unterhalb von 10 Prozent würde auch Start-ups in beson-
derer Weise treffen. Oft werden in diesen Bereichen zur
Festigung der Unternehmensbeziehungen, aber auch zur
Stärkung des Eigenkapitals Beteiligungen von unter
10 Prozent eingegangen. Eine Steuerpflicht der Erträge
aus diesen Beteiligungen würde ein solches Engagement
deutlich unattraktiver machen. Dadurch würden erfolg-
reiche Start-ups in ihren Investitionen ausgebremst.
Um die vom EuGH konstatierte Europarechtswidrig-
keit des derzeitigen Steuerrechts zu bereinigen, muss
zwar die Ungleichbehandlung zwischen einem ausländi-
schen und einem inländischen Anteilseigner beseitigt
werden. Dies darf aber nicht dadurch geschehen, dass
die Inländerbesteuerung verschlechtert wird. Stattdessen
muss Deutschland die Besteuerungssituation ausländi-
scher Anteilseigner verbessern. Dies kann zum Beispiel
dadurch geschehen, dass Deutschland die Kapitalertrag-
steuer erstattet, die die ausschüttende deutsche Gesell-
schaft an das Finanzamt abgeführt hat. In Österreich ist
dieses Modell bereits Gesetz. So sollten wir es jetzt hier
bei uns installieren.
Unternehmensteuerrecht steht zunehmend im interna-
tionalen Wettbewerb. Wir haben im Moment ein gutes,
wettbewerbsfähiges Steuerrecht. Diesen Standortvorteil
sollten wir nicht gefährden – nicht im Interesse von
Unternehmen oder irgendwelchen Managern, sondern
im Interesse der Arbeitsplätze und der Steuereinnahmen,
die wir damit sichern. Das Steuermodell des Bundesrates
würde dem Standort Deutschland massiv schaden. Zahl-
reiche Unternehmen würden ihren Konzernsitz ins euro-
päische Nachbarland verlegen. Solche Sitzverlegungen
sind heute schnell gemacht. Massive Steuerausfälle
wären die Folge. Dann hätten wir wirkliche Steueraus-
fälle, die wir vermeiden, wenn wir den Entwurf dieser
Koalition umsetzen. Deshalb sollten wir diesem Gesetz-
entwurf zustimmen!
Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): Wir beraten
heute in abschließender Lesung den Gesetzentwurf der
Koalitionsfraktionen zur Neuregelung der Besteuerung
von Dividendenausschüttungen auf Unternehmens-
anteile, die sich in Streubesitz befinden. Ich hätte mir ge-
wünscht, dass wir die Beratungen zu diesem Gesetz
heute noch nicht abschließen, da nach unserer Einschät-
zung und der Meinung vieler Sachverständiger wichtige
Fragen nicht geklärt sind. Die Koalitionsfraktionen ha-
ben eine gute Gelegenheit vergeben, im Dialog mit den
anderen Fraktionen und den Bundesländern zu einer Lö-
sung zu kommen, die sowohl den Vorgaben der Ent-
scheidung des Europäischen Gerichtshofs gerecht wird,
als auch den fiskalischen Interessen von Bund und Län-
dern dient.
Da die Sachlage nicht ganz einfach ist, will ich einige
einleitende Bemerkungen zur Erläuterung vorausschicken.
Die Besteuerung von Streubesitzdividenden muss im
Zusammenhang mit dem Körperschaftsteuersystem be-
trachtet werden. Seit dem europarechtlich gebotenen
Systemwechsel mit der Aufgabe des Vollanrechnungs-
verfahrens sind in- und ausländische Beteiligungserträge
bei Körperschaften steuerfrei. Diese Befreiung erfolgt,
da die Steuerbelastung auf der Ebene der Körperschaften
endgültig verbleibt und nicht mehr mit der Steuerschuld
des Anteilseigner verrechnet wird. Ohne diese Befreiung
würde es bei Unternehmensverbünden zu einer Mehr-
fachbesteuerung kommen, wenn ein Gewinn über meh-
rere Stufen von einer Konzerngesellschaft zu einer anderen
Konzerngesellschaft ausgeschüttet wird. Wir sprechen
vom Kaskadeneffekt, der die komplette Dividende bei
wiederholtem Kapitalertragsteuerabzug auf die soge-
nannte Schachteldividende schnell aufzehren würde.
Hier sind also Verschonungen in großem Umfang – mit
guter Begründung – vorgesehen.
Die europäische Mutter-Tochter-Richtlinie schreibt
vor, dass Schachteldividenden, die infolge einer strategi-
schen Beteiligung einer Kapitalgesellschaft an einer an-
deren erzielt werden, vom Steuerabzug ausgenommen
werden müssen. Außerhalb von Konzernverbünden ist
eine solche Steuerbefreiung hingegen nicht gerechtfer-
tigt. Folgerichtig ist bei sogenannten Streubesitzdividen-
den, die durch eine Beteiligung von unter 10 Prozent ge-
kennzeichnet sind und deshalb in Konzernstrukturen
keine Bedeutung haben, eine Besteuerung zulässig. Die
„Lücke“ zwischen Streubesitzbetrachtung und Schach-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012 25911
(A) (C)
(D)(B)
telbeteiligung entsteht leider infolge der EU-Regelungen
in der Mutter-Tochter-Richtlinie – damit ist uns eine an-
dere Definition von Streubesitz oberhalb der 10 Prozent
nicht möglich.
Anlass für den vorliegenden Gesetzentwurf ist die
Beanstandung der in Deutschland bislang geltenden Be-
steuerung von Streubesitzdividenden durch den Europäi-
schen Gerichtshof. Der Kapitalertragsteuerabzug wird
unabhängig von der empfangenden Körperschaft durch-
geführt. Inländische Körperschaften können die einbe-
haltene Kapitalertragsteuer im Rahmen der Körper-
schaftsteuerveranlagung in voller Höhe anrechnen. Bei
ausländischen Körperschaften ohne inländische Be-
triebsstätte hat der Kapitalertragsteuerabzug hingegen
grundsätzlich definitive Wirkung.
Der Europäische Gerichtshof hat in seinem Urteil
vom 20. Oktober 2011 entschieden, dass die Abgel-
tungswirkung der Kapitalertragsteuer bei ausländischen
Körperschaften eine nicht zu rechtfertigende Diskrimi-
nierung und einen Verstoß gegen die Kapitalverkehrs-
freiheit darstellt. Auch die mögliche Anrechnung der
Kapitalertragsteuer im Empfängerland ist nach Ansicht
des Gerichts nicht ausreichend, um die Diskriminierung
zu heilen. Da bei Schachteldividenden an EU-Körper-
schaften nach der Mutter-Tochter-Richtlinie kein Kapi-
talertragsteuerabzug erfolgt, sind von der Problematik
im Ergebnis nur Streubesitzdividenden betroffen. Bezo-
gen auf die unterschiedliche Behandlung von inländi-
schen und ausländischen Wagniskapitalbeteiligungsge-
sellschaften hat der Europäische Gerichtshof, EuGH,
entschieden, dass hier künftig eine Gleichbehandlung
bei der Steuerbelastung der Dividenden erfolgen muss.
Der EuGH lässt dabei allerdings die unterschiedliche
Behandlung der Gewerbesteuer unberücksichtigt.
Derzeit werden zwei Wege diskutiert, wie die unzu-
lässige Diskriminierung beseitigt werden kann:
Erstens. Die CDU/CSU-FDP-Koalition schlägt in ih-
rer Gesetzesinitiative eine Steuerbefreiung auch für aus-
ländische Streubesitzdividenden vor.
Zweitens. Dagegen spreche ich mich – in Überein-
stimmung mit dem Bundesrat – aus Gründen der Steuer-
gerechtigkeit und auch aus fiskalischen Erwägungen für
die Aufhebung der Steuerbefreiung für inländische
Streubesitzdividenden aus. Einer solchen Besteuerung
steht das Problem der Mehrfachbesteuerung in Konzern-
verbünden nicht entgegen, denn Schachteldividenden,
das heißt Beteiligungen oberhalb der 10-Prozent-
Schwelle, bleiben weiterhin steuerfrei. Sie entspricht
vielmehr dem Grundsatz der Besteuerung nach der wirt-
schaftlichen Leistungsfähigkeit. Außerdem würde eine
Steuerbefreiung ausländischer Streubesitzdividenden zu
hohen jährlichen Steuerausfällen führen.
Diese Gründe haben auch andere Länder zu einer Be-
steuerung von Streubesitzdividenden bewogen. Dies ist
zum Beispiel in Belgien, Frankreich, den Niederlanden,
Polen, aber auch in den USA der Fall. Die Steuerfreiheit
von Streubesitzdividenden finden wir hingegen in Eng-
land, Estland, Österreich oder Ungarn.
Mit neuen Belastungen müssen bei diesem zweiten
Vorschlag zur Beseitigung der Steuerbefreiung inlän-
discher Dividendenbezieher vor allem Wagnisbeteili-
gungsgesellschaften rechnen. Dies gilt wohlgemerkt nur
dann, wenn sie nicht schon – wie in vielen Fällen
üblich – eine Beteiligung von über 10 Prozent halten
oder sie über diese Grenze anheben können. Bei Wagnis-
beteiligungsgesellschaften allerdings, die geringere Be-
teiligungen halten, sind im Ergebnis höhere Steuern zu
erwarten. Für diese Fälle müssen wir überlegen, welche
Möglichkeiten es gibt, die wichtige Gründerszene – ins-
besondere in der Internetwirtschaft – zu unterstützen. Ich
komme auf die Auswirkungen auf die Gründerszene spä-
ter noch einmal genauer zurück.
Statt nach einer europarechtskonformen Lösung für
Deutschland zu suchen, die den deutschen Fiskus nicht
belastet – und wir reden über eine Belastung von mehr
als einer halben Milliarde Euro –, haben die Koalitions-
fraktionen bzw. die Bundesregierung eilfertig einen Vor-
schlag vorgelegt, der darauf hinausläuft, die ausländischen
Wagnisbeteiligungen von der Dividendenbesteuerung
freizustellen. Unter Verzicht auf mehr als eine halbe Mil-
liarde Steuereinnahmen wird hier also eine scheinbare
Gleichbehandlung von ausländischen und inländischen
Wagniskapitalbeteiligungsgesellschaften hergestellt –
und dies nur, weil der EuGH die gewerbesteuerliche
Vorbelastung außer Acht lässt.
Hier wäre es Aufgabe der Regierung und der Koali-
tionsfraktionen von CDU/CSU und FDP gewesen, intel-
ligente Lösungen zu suchen, die auf die besonderen Ver-
hältnisse in Deutschland Rücksicht nehmen. Dabei geht
es nicht nur um die Besonderheiten rund um die Grün-
derszene, sondern auch um die Probleme, die sich im
Zusammenhang mit kreditwirtschaftlichen Verbund-
gruppen ergeben.
Zunächst zu den kreditwirtschaftlichen Verbundgrup-
pen: Wollen wir den enormen Steuerausfall von über ei-
ner halben Milliarde Euro vermeiden, ist der Vorschlag
des Bundesrats, die inländischen Wagniskapitalbeteili-
gungsgesellschaften ebenso zu besteuern wie die auslän-
dischen, ein sehr guter Vorschlag. Das hätte allerdings
zur Folge, dass die damit zusammenhängenden Streube-
sitzdividendenregelungen zu einer Doppelbesteuerung
bisher im Verbund erzielter Gewinne führen würden. So-
mit wären kreditwirtschaftliche Verbundsysteme – ich
nenne als Beispiel Sparkassen – gegenüber Konzern-
strukturen benachteiligt. Dies wäre eine Ungerechtig-
keit, die doch einige Fantasie erfordert, um sie zu ver-
meiden.
Es würde sich lohnen, hier einmal nachzuschauen,
wie andere Länder, die sich ebenfalls an der Entschei-
dung des EuGH zu orientieren haben, solche Probleme
lösen. Der Blick nach Frankreich zeigt uns, dass dort
spezielle Ausnahmeregelungen für kreditwirtschaftliche
Verbundgruppen helfen, solche Schwierigkeiten aufzu-
lösen. Dort gibt es etwa Befreiungen für bestimmte
Strukturen, die die erforderliche Mindestbeteiligungs-
grenze von 10 Prozent nicht überschreiten. Ich möchte
als Beispiel die Banken Crédit Agricole, Crédit Mutuel,
Banque Populaire und Caisse d’Epargne nennen. Mit
25912 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012
(A) (C)
(D)(B)
diesem europarechtskonformen Ansatz könnten wir die
besonderen Zusammenhänge in deutschen Verbundgrup-
pen hinsichtlich Haftungsfragen, auch hinsichtlich von
Fragen rund um den Werbeauftritt oder die Gemein-
wohlorientierung, lösen. Auf diesem Weg könnten wir
auch die Beteiligungen der Sparkassen an ihren Ver-
bundunternehmen mit Blick auf die Besteuerung von
Streubesitzdividenden entsprechend berücksichtigen.
Eine ähnliche Aufgabe besteht im Zusammenhang
mit der Gründerszene. Bedenken gegen eine Belastung
von Existenzgründern sind dabei sehr ernst zu nehmen.
Wollen wir den Industriestandort voranbringen, wollen
wir die Innovationsdynamik beschleunigen, haben Exis-
tenzgründer im Umfeld von guter Bildung, guter Arbeit
und guter Forschung eine sehr wichtige Aufgabe. Mit
Blick auf die unsicheren Aussichten vieler Banken fehlt
es sicher an Risikobereitschaft bei der Kreditvergabe an
Existenzgründer, und wir sind froh, wenn diese Lücke
von sogenannten Business Angels oder Wagniskapital-
gesellschaften geschlossen wird. Andererseits sind die
Business Angels nicht nur Angels; ihr erhöhtes Risiko
verbinden sie natürlich mit der Erwartung gewisser Er-
träge, und es stellt sich die Frage, wie wir mit den mög-
lichen Verlusten und Gewinnen aus diesem Engagement
umgehen.
Dabei ist es wesentlich, darauf zu achten, wie diese
Begriffe definiert werden. Selbst in der Anhörung des
Finanzausschusses wurde hier nicht sauber zwischen
Business Angels und Wagniskapitalbeteiligungsgesell-
schaften getrennt. In der Anhörung mussten wir zeitwei-
lig den Eindruck haben, als ob auch private Geldgeber
von dem Thema Streubesitzdividendenbesteuerung be-
troffen wären. Das ist aber nicht der Fall, denn tatsäch-
lich geht es hier nur um Beteiligungen zwischen Ge-
sellschaften und damit um Dividenden, die an
Körperschaften – Aktiengesellschaft, GmbHs etc. –, je-
denfalls Unternehmen, ausbezahlt werden.
Sorgen hinsichtlich der Auswirkungen der Aufhebung
der Steuerbefreiung inländischer Streubesitzdividenden
auf die Gründerszene sind somit nur teilweise begründet,
da die Steuerpflicht nur für Beteiligungserträge von
Körperschaften und nicht für Privatpersonen gilt. Bei
Einkommensteuerpflichtigen, die Streubesitzerträge im
Betriebsvermögen erzielen – Personengesellschaften,
Einzelunternehmer – und bei Veräußerungen von Anteilen
im Privatvermögen, die mindestens 1 Prozent betragen,
gilt das Teileinkünfteverfahren mit einer Steuerpflicht
von 60 Prozent der Erträge. Soweit die sogenannten
Business Angels der Einkommensteuerpflicht unterlie-
gen, sind sie von der Neuregelung nicht betroffen.
Das Drama besteht darin, dass es weder Bundesregie-
rung noch Koalitionsfraktionen für nötig befunden ha-
ben, solche Besonderheiten der Unternehmenslandschaft
in Deutschland bei gleichzeitiger Rücksichtnahme auf
unsere fiskalischen Aufgaben – wir arbeiten immerhin
im Finanzausschuss – zu berücksichtigen.
Wie lohnend wäre es gewesen, wenigstens die nahe-
liegendsten Fragen zu klären, bevor man einfach vor-
schlägt, auf eine halbe Milliarde Euro Steuereinnahmen
von ausländischen Gesellschaften zu verzichten. Mit
Blick auf die Prüfung alternativer Lösungen wäre etwa
die Klärung, ja die Beantwortung folgender Fragen
wichtig gewesen:
In welchen EU-Mitgliedstaaten ergibt sich aus dem
oben genannten Urteil gesetzgeberischer Handlungsbe-
darf, und welche Schlussfolgerungen werden in anderen
Ländern gezogen, um die Europarechtskonformität her-
zustellen?
Welche EU-Mitgliedstaaten verfügen über steuer-
rechtliche Regelungen, die den Vorgaben des Europäi-
schen Gerichtshofs, EuGH, genügen, und wie sind diese
ausgestaltet?
Mit Antworten auf solche einfachen Fragen wären
wir eine guten Schritt weiter.
Zusammenfassend: Mit Blick auf die hohen Steuer-
ausfälle lehnen wir Ihren Entwurf zur vollständigen
Steuerfreistellung aller Dividenden auf Streubesitz ab
und unterstützen die Vorschläge des Bundesrates zur Be-
steuerung der Streubesitzdividenden. Mit unserer Ent-
haltung wollen wir deutlich machen, dass wir mit Blick
auf die oben beschriebenen Probleme für Beteiligungen
an Verbundunternehmen und mit Blick auf die Gründer-
szene nicht davon ausgehen, dass mit der heutigen
Entscheidung der Regierungskoalitionen ein zukunfts-
fähiges Besteuerungsmodell für Streubesitzdividenden
gefunden wurde.
Dr. Daniel Volk (FDP): Der Gesetzentwurf zur Um-
setzung des EuGH-Urteils vom 20. Oktober 2011 in der
Rechtssache C-284/09 klingt zwar nach einem steuer-
technischen Gesetz, aber von diesem Gesetz sind viele
Unternehmen und Bürger in Deutschland betroffen.
Das EuGH-Urteil vom 20. Oktober 2011 stellt die Be-
nachteiligung ausländischer Kapitalgesellschaften mit
Streubesitzbeteiligung an einer deutschen Aktiengesell-
schaft und damit einen Verstoß gegen die Kapitalver-
kehrsfreiheit fest. Dies betrifft alle Beteiligungen unter
10 Prozent, also den sogenannten Streubesitz, und damit
greift die Mutter-Tochter-Richtlinie nicht.
Bisher wurden 25 Prozent Kapitalertragsteuer plus
Soli – bzw. 15 Prozent beim Vorliegen eines DBA – auf
Dividenden an ausländische Unternehmen einbehalten,
wohingegen bei reinen Inlandssachverhalten die Abgel-
tungsteuer mit der Körperschaftsteuer verrechnet werden
konnte.
Da die ausländischen Unternehmen aufgrund ihrer
Nichtveranlagung im Inland nicht möglich war, werden
diese damit schlechtergestellt. Mit dem Gesetz soll die
steuerliche Ungleichbehandlung von Zahlungen aus
Streubesitzdividenden beseitigt werden.
Der vorliegende Gesetzentwurf beseitigt den unions-
rechtswidrigen Zustand. CDU/CSU und FDP streben mit
dem vorliegenden Gesetzentwurf die Erstattung der
Kapitalertragsteuer für ausländische Körperschaften an,
wenn keine Verrechnung im Anteilseignerstaat möglich
ist. Damit wird die Steuerfreiheit der inländischen Streu-
besitzdividenden auch auf Tatbestände mit Auslandsbe-
zug angewandt. Allerdings orientieren wir uns an dem
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012 25913
(A) (C)
(D)(B)
österreichischen Modell, bei dem eine Steuererstattung
nur auf Antrag möglich ist, wenn keine Anrechnung der
Steuer im Ausland zulässig ist.
Wir verhindern damit eine Steuermehrbelastung für
deutsche Unternehmen und kommen unserem Verspre-
chen nach, ohne Steuererhöhung auszukommen. Des
Weiteren ist die bisherige Regelung der Steuerfreistel-
lung sinnvoll und hat sich bewährt. Die Besteuerung der
Streubesitzdividenden ist eine systemwidrige Mehrfach-
besteuerung desselben Gewinns und führt bei mehreren
Beteiligungsstufen zu einem Kaskadeneffekt mit einer
Steuerbelastung in Höhe von 75 Prozent, da sich die
Steuerlast für denselben Gewinn bei der Verschachte-
lung mehrerer Unternehmen immer weiter erhöht. Wei-
terhin käme es zu einer Doppelbesteuerung der ausschüt-
tenden Gesellschaft und der empfangenden Gesellschaft.
Dies ist mit vernünftiger Wirtschafts-, Finanz- oder
Steuerpolitik nicht zu vereinbaren.
Was will die Opposition? Sie will Beteiligungserträge
aus Streubesitz, und zwar Dividenden und Veräuße-
rungsgewinne, auch im Inland steuerpflichtig machen.
Der Vorschlag geht genau ins Gegenteil und würde vor
allem die private und betriebliche Altersversorgung
– Pensionsverpflichtungen sind mit Streubesitzbeteili-
gungen unterlegt – treffen. Ebenso würde die Finanzie-
rung von Start-up-Unternehmen – durch Minderheitsbe-
teiligungen anderer Kapitalgesellschaften – schwieriger,
und es entsteht eine Benachteiligung von Aktieninvesti-
tionen gegenüber anderen Unternehmensfinanzierungen.
Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Der vorliegende Ge-
setzentwurf behandelt eine schwer verständliche steuer-
liche Problematik. Es geht um die steuerliche Behand-
lung von Dividenden zwischen verbundenen Kapital-
gesellschaften, bei denen die Mutter im Ausland und die
Tochter im Inland liegt. Die bisherige steuerrechtliche
Behandlung in diesen Fällen auf deutscher Seite führte
zu einem Vertragsverletzungsverfahren seitens der EU
gegen Deutschland und mündete letztlich in einem Urteil
des Europäischen Gerichtshofes, EuGH, vom 20. Okto-
ber 2011. Der EuGH kritisierte die unterschiedliche steu-
erliche Behandlung von inländischen und ausländischen
Kapitalgesellschaften. Dies verstoße gegen die Kapital-
verkehrsfreiheit. Daher verlangt der EuGH auch die
rückwirkende Erstattung für alle noch nicht bestands-
kräftig veranlagten Fälle.
Da der EuGH die Niederlassungs- und Kapitalver-
kehrsfreiheit über alles stellt, bemängelt er selbstver-
ständlich in seiner Logik zu Recht die Ungleichbehand-
lung von inländischen und ausländischen Kapitalgesell-
schaften. Über den volkswirtschaftlichen Sinn und Nut-
zen solcher Konstruktionen, verschachtelte Beteiligun-
gen von Unternehmen, lässt sich sicher streiten. Aber
auch wenn man das so akzeptiert, gäbe es trotzdem drei
Lösungen.
Bevor ich aber zu diesen kommen, noch einmal kurz,
worum es konkret geht:
Es geht um die steuerliche Behandlung ausgeschütte-
ter Dividenden. Generell gilt, dass Dividenden, die von
einer Kapitalgesellschaft an eine andere ausgeschüttet
werden, auf der Ebene des empfangenden Unternehmens
zu 95 Prozent von der Körperschaftsteuer befreit sind,
§ 8 b Abs. 1 und 5 KStG. Damit soll letztlich eine Mehr-
fachbesteuerung durch die Körperschaftsteuer vermie-
den werden. Jedoch unterliegen diese Dividendenaus-
schüttungen zwischen Kapitalgesellschaften nach § 43
Abs. 1 Satz 3 EStG der Kapitalertragsteuer, allgemein nur
bekannt als Abgeltungsteuer.
Dies stellt für inländische Kapitalgesellschaften keine
endgültige Belastung dar, auch nicht für ausländische
Kapitalgesellschaften, die im Inland über eine Betriebs-
stätte verfügen. Steuerbelastend wirkt es nur für im Aus-
land ansässige Kapitalgesellschaften, die über keine in-
ländische Betriebsstätte verfügen. Beispielsweise wenn
die empfangene Kapitalgesellschaft außerhalb des EU/
EWR-Raums ansässig ist oder wenn sie innerhalb der
EU oder des EWR ansässig ist und ihre Beteiligung an
der die Dividenden auszahlenden inländischen Tochter
unter 10 Prozent liegt.
Nun, welche Lösungsmöglichkeiten gibt es?
Der erste Lösungsvorschlag ist der der Bundesregie-
rung, welcher das Problem übrigens lange bekannt ist.
Bereits im Dezember 2011 befragten wir die Bundesre-
gierung zu dieser Problematik. Es war seit dem Urteil
ausreichend Zeit, hier aktiv zu werden. Nun soll wieder
einmal alles übers Knie gebrochen werden. Nach der
Bundesregierung soll für alle EU/EWR-Kapitalgesell-
schaften die Anrechnung und Erstattung der Abgeltung-
steuer auf inländische Dividenden gewährt werden. Das
kostet allein rückwirkend rund 2 Milliarden Euro und
bedeutet für die kommenden Jahre eine Belastung zwi-
schen 500 und 750 Millionen Euro. Außerdem betrifft
die Regelung nur einen relativ kleinen Kreis von Unter-
nehmen. Das ist für uns die schlechteste aller Lösungen.
Denn mit dieser Regelung wird ein bereits bestehendes
Steuerprivileg ausgebaut.
Unserer Meinung nach gehört die heute bereits beste-
hende körperschaftsteuerliche Befreiung für Kapitalge-
sellschaften prinzipiell auf den Prüfstand, statt sie hier
kritiklos auszubauen. Zwar sehen Sie im Gesetz gewisse
Einschränkungen zur Gewährung der Steuerbefreiung
vor, die gut gemeint sind. Jedoch werden sie in der Pra-
xis sicher nicht wie gedacht funktionieren, da sie durch
ihre Komplexität und Kompliziertheit gestaltungs- und
streitanfällig sind. Das wurde auch in der Anhörung zu
diesem Gesetz deutlich.
Fakt ist damit: Sie ermöglichen mit diesem Gesetz
neue Steuergestaltungsmodelle. Zwar unterliegen inlän-
dische Dividenden, die an private Steuerausländer flie-
ßen, grundsätzlich der Abgeltungsteuer. Zukünftig kann
diese aber durch geschickte Zwischenschaltung einer
ausländischen Kapitalgesellschaft leichter umgangen
werden. Sie schaffen damit weitere Umgehungsmöglich-
keiten.
Der zweite Vorschlag ist der des Bundesrates. Dieser
will die Steuerbefreiung für Kapitalerträge aus Streube-
sitz bis zu einer Beteiligungshöhe von 10 Prozent gene-
rell aufheben. Dies entspräche der Regelung nahezu aller
25914 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012
(A) (C)
(D)(B)
europäischen Staaten, wonach die Steuerfreiheit für Di-
videnden und Veräußerungsgewinne nur bei Überschrei-
ten einer Mindestbeteiligungsquote zu gewähren ist.
Diese Lösung würde bei verschachtelten Beteiligungen
zu einer Mehrfachbesteuerung führen und verringert so-
mit die Attraktivität solcher verschachtelten Beteiligun-
gen.
Die dritte Möglichkeit, die wir Ihnen vorschlagen, ist
die Rückkehr zum Vollanrechnungsverfahren, das heißt,
jede beteiligte Kapitalgesellschaft muss Steuern abfüh-
ren. Eine Mehrfachbesteuerung wird durch Anrechnung
der bereits gezahlten Steuern verhindert. Die Abschaf-
fung der Steuerfreiheit für in- und ausländische Beteili-
gungserträge ist unseres Erachtens längst überfällig.
Die Fraktion Die Linke lehnt den Gesetzentwurf der
Koalitionsfraktionen aus den eben genannten Gründen
ab. Einige Bundesländer kündigten im Übrigen bereits
ihren Widerstand gegen den Vorschlag der Bundesregie-
rung an, sodass wahrscheinlich auch wieder der Vermitt-
lungsausschuss angerufen werden muss; das ist bei Ihren
Finanz- und Steuergesetzen ja derzeit fast die Regel.
Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zu den
Streubesitzdividenden kommt ein Gesetz daher, das uns
in den nächsten beiden Jahren insgesamt 3 Milliarden
Euro kosten wird und danach jährlich mindestens
600 Millionen Euro. Und dieses Geld geht an ausländi-
sche Investoren; da kann auch die notorische Steuersen-
kerpartei FDP nicht argumentieren, dadurch würde ja die
Wirtschaft in Deutschland gestärkt.
Schon aufgrund dieser Einnahmeverluste kann dieses
Gesetz eigentlich nur abgelehnt werden!
In der Anhörung im Finanzausschuss letzte Woche
zum vorliegenden Gesetzentwurf wurden unsere Kritik-
punkte noch einmal deutlich bestätigt: Der Gesetzent-
wurf schafft Anreize zur Steuergestaltung, die Europa-
rechtskonformität steht auf wackligen Füßen, und es
kommt zu Steuerausfällen in Milliardenhöhe.
Ich habe bei der Einbringung des Gesetzes die Hoff-
nung geäußert, dass die Bundesregierung hier noch ein-
mal nachbessert. Der Bundesrat hat eine Alternative auf-
gezeigt, die sicher auch Schwächen hat, aber die letztlich
nicht zu den hohen Einnahmeverlusten führen würde.
Sich hier hinzustellen und den Gesetzentwurf im glei-
chen mangelhaften Zustand zur Abstimmung zu stellen,
wie er auch vor drei Wochen eingebracht wurde, ist
schlicht eine Zumutung.
Und in der Anhörung haben wir ja die deutliche Kri-
tik der Experten vernommen. Wichtigster Kritikpunkt
war, dass das Gesetz neue Anreize zur Steuergestaltung
bietet. Und das ist ganz einfach zu verstehen: Wenn Sie
unterschiedlich hohe Steuerniveaus schaffen, wird ein
Anreiz gesetzt, dorthin zu gehen, wo die Besteuerung am
niedrigsten ist. Das ist die wirklich eklatante Schwäche
dieses Gesetzes: Es stellt ausländische Unternehmen bei
der Besteuerung von Streubesitzdividenden deutlich bes-
ser. Denn ausländische Unternehmen zahlen im Gegen-
satz zu inländischen keine Gewerbesteuer – das ergibt
eine satte Differenz in der Steuerbelastung von 15 Pro-
zent.
Bei so einer großen Differenz ist doch die Steuerge-
staltung vorprogrammiert. Dazu ist ja lediglich das Um-
hängen der Beteiligung auf eine ausländische Holding
erforderlich.
Nun ist versucht worden, da Missbrauchsvorschriften
einzubauen. Aber die Experten warnen: Diese Miss-
brauchsvorschriften könnten sich als stumpfes Schwert
erweisen.
Dieser Gesetzentwurf ist nicht ausgereift.
Dies zeigt sich auch noch an einer weiteren Stelle. In
der Anhörung gab es deutliche Hinweise von Experten,
dass der vorliegende Entwurf nicht europarechtskonform
sein könne. Wegen der sogenannten Drittstaatenwirkung
der Kapitalverkehrsfreiheit müsse womöglich die Steu-
erbefreiung von Streubesitzdividenden auf europäische
Drittstaaten ausgeweitet werden. Das würde dann zu
weiteren Einnahmeverlusten führen.
Diese Nachlässigkeit der Koalition könnte für uns
noch sehr teuer werden, und das ist einfach nicht akzep-
tabel.
Grundsätzlich hätte es bei der Umsetzung des Urteils
des Europäischen Gerichtshofes mehr Spielraum gege-
ben, als uns Schwarz-Gelb hier glauben machen will.
Das Urteil wurde vor über einem Jahr gefällt – in einem
breiten Dialog hätte man Lösungsansätze prüfen müs-
sen, die zumindest zu einer geringeren Belastung für die
öffentlichen Haushalte geführt und nicht so klare An-
reize zur Steuergestaltung gesetzt hätten.
Wir Grüne haben den Vorschlag gemacht, eine Veran-
lagungsoption für ausländische Gesellschaften in
Deutschland zu schaffen. In Deutschland würde die aus-
ländische Gesellschaft mit ihrer Dividende dann wie ein
Inländer zur Körperschaftsteuer und zur Gewerbesteuer
veranlagt. Damit würde der Anreiz zur Steuergestaltung
vermieden. Auch dieser Ansatz birgt Schwächen, aber
ist dieser Vorschlag wirklich sorgfältig geprüft worden?
Es liegt uns hier ein schwarz-gelbes Hauruck-Gesetz
vor, das teuer für den Staat ist, handwerklich schlecht ge-
macht ist und Anreize zu mehr Steuergestaltung setzt.
Wir werden das Gesetz daher ablehnen.
Anlage 5
Zu Protokoll gegebene Rede
zur Beratung des Antrags: 20 Jahre Zeichnung
der Europäischen Charta Regional- oder Min-
derheitensprache (Tagesordnungspunkt 14)
Serkan Tören (FDP): Leve Herr Präsident, leve Fro-
onslüüd un Mannslüüd, wi snackt hier vondoog in dit
hoge Huus een miteenanner wegen de „Europäische
Charta över de Reginol- oder Minnerheitensproken“. De
is vör een poor Doog 20 Johr oolt worrn. Ziel vun de
Charta is de Schuul un de Help vun de Regionol- un
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012 25915
(A) (C)
(D)(B)
Minnerheitensproken. Dit Ziel is wichtig, sünnerlich
wenn man bedinkt, dat jümmer mihr Sproken in de glo-
balisierte Welt verloren goht. Fachlüüd goht dorvon ut,
dat in de tokomen Tiet een Drüttel von de 6 000 Spro-
ken, de vondoog noch snackt warrt, verloren goht.
No 20 Johr vun de Charta is dat nu an de Tiet, eenmol
Bilanz to tehn. Wie süht dat in Düütschland ut. In miene
norddüütsche Heimot hebbt 1984 5,6 Millionen Min-
schen angeben, dat se „goot“ bit „sehr goot“ Platt-
düütsch snacken künnt. Disse Tohl hett sik bit 2007 – dat
is dat Johr von de letzte Erhebung – mihr as halbiert. Mit
disse Halbierung is natürlich ok de Sprook ut den Alldag
vun de Minschen verswunnen. In annere Regionen mit
jümehr Regionol- un Minnerheitensproken warrt dat
nich veel anners utsehn.
Dissen Verlust vun dat Plattdüütsche mutt Inholt bo-
den warrn. Sprook is Heimot un en Teken vun leevte
Alldagskultur. Wenn wi disse leevte Alldagskultur ver-
kümmern loot, verliert wi alltohoop wiet mihr as blots en
Sprook. Dat Hochdüütsche is de Sprook, de uns Düüt-
sche von Flensborg in’n Noorden bit no Füssen in’n Sü-
den verbinnt. De regionolen Sproken goht in de Harten
vun de Minschen un verbinnt se in jümehr Rebeet. Ik
will dat mol so seggen, leve Froonslüüd un Mannslüüd,
de düütsche Standardsprook is as en Antog, scheun ober
en lütt beten stief. Dat Plattdüütsche is as mien leevsten
Pullover: bequeem, villicht ok mol stoppt, ober kommo-
dig. He warmt mien Hart un miene Seel un ik heff em
leev un ik will em ok nich missen.
Wat könnt wi dorför doon, dat de tonehmen Verlust
vun de Regionol- un Minnerheitensproken nich wieder
geiht? Grundsätzlich is Kultur jo Sook vun de Länner. Se
sünd also in eerster Linie in de Plicht. Erfreulicherwies
deit sik hier jo wat. So hebbt all de noorddüütschen
Bundslänner Plattdüütsch in jümehr Lihrpläne inbuut.
Wat wi ober nich vergeten dröfft, sünd de öörtlichen
Verene, de dat Plattdüütsche dagdääglich pleegt. Hier
warrt veel privotes Geld un ok Freetiet investiert.
Disse Insatz bewiest ober ok, dat de Idee, de Regio-
nol- un Minnerheitensproken to retten, keen dösigen In-
fall vun de Kulturpolitiker is.
In miene Heimot, in’n Landkreis Stood, gifft dat to ’n
Bispill den Fördervereen för de Plattdüütsche Sprook
„De Plattdüütschen“. Disse Vereen bringt Plattdüütsch in
den Alldag vun de Minschen trüch. Disse Vereen an-
gascheert sik afsünnerlich öber den Vörsitter Heinz
Mügge, Börgermeester in de Gemeen Düdenbüttel, in
Bildungsprojekten för de Sprookförderung, un disse
Vereen leist dormit enen wichtigen Bidrag för dat Erho-
len von uns kulturellet Gedächtnis. Disse kulturelle, bür-
gerschaftliche Insatz verdeent an disse Steed afsünnerli-
chen Dank.
Leve Kolleginnen un Kollegen, dit is blots een Bispill
dorför, dat de Börgerinnen un Börgers ehr Regionol- un
Minnerheitensprook schützen un wieterhin quickleben-
nig holen wüllt.
Geevt wi jüm de Stütten öber de Parteigrenzen hin-
weg.
Een Verlust von de Sproken bedüüd ok enen Kultur-
verlust, un dat dröfft wi nich toloten.
Anlage 6
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– Entwurf eines Gesetzes zu den Änderungen
vom 10. und 11. Juni 2010 des Römischen
Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs
vom 17. Juli 1998
– Antrag: Universal Periodic Review – Men-
schenrechtslage in Deutschland auf dem
Prüfstand des UN-Menschenrechtsrates
(Tagesordnungspunkte 16 a und b)
Michael Frieser (CDU/CSU): Was bereits viel zu
lange währt, wird nun hoffentlich gut. In dem Gesetzent-
wurf zu den Änderungen vom 10. und 11. Juni 2010 des
Römischen Statuts des Internationalen Gerichtshofs vom
17. Juli 1998 wird nun das Verbrechen der Aggression
definiert. Dies ist ein wesentlicher Schritt, damit in Zu-
kunft die Strafandrohung durch den Internationalen
Strafgerichtshof nicht nur eine leere Drohung ist.
Es freut mich, dass in allen Fraktionen Einigkeit
herrscht, dass es sich bei den Änderungen um einen
Meilenstein des Völkerstrafrechts handelt, den es zu un-
terstützen gilt. Auch wenn es sich bei der Normierung
des Aggressionstatbestandes um einen Kompromiss han-
delt, ist dieser von herausragender Bedeutung, um den
Internationalen Strafgerichtshof als permanentes interna-
tionales Gericht in die Lage zu versetzen, die Verant-
wortlichen zur Rechenschaft ziehen zu können.
Um die Tragweite der geplanten Änderungen des
Römischen Statuts zu erfassen, muss zunächst die histo-
rische Entwicklung, die zu diesen Änderungen führte,
betrachtet werden:
Am 30. September und 1. Oktober 1946 verkündete
das Internationale Militärtribunal in Nürnberg die
Urteile gegen 22 Hauptkriegsverbrecher des Zweiten
Weltkrieges. Das Urteil von Nürnberg stellte einen
Ausgangspunkt für weitere Bemühungen der Staaten-
gemeinschaft um einen internationalen Strafgerichtshof
dar. Nachfolgend bekräftigte die UN-Vollversammlung
ausdrücklich die Rechtsprinzipien, die in Nürnberg zur
Anwendung gekommen waren, als sogenannte Nürnber-
ger Prinzipien. Was in Nürnberg seinen Anfang nahm,
wurde stetig weiterentwickelt.
Bereits 1950 legte die Völkerrechtskommission der
UNO sieben Prinzipien vor, die den Anspruch darauf er-
hoben, dass schwere Verstöße gegen die internationale
Werteordnung geahndet werden. Diese Nürnberger
Prinzipien haben im Römischen Statut des Internationa-
len Gerichtshofs eine Weiterentwicklung erfahren. Das
Statut ist ein völkerrechtlicher Vertrag, der das Völker-
strafrecht kodifiziert, damit in internationalen Beziehun-
gen keine rechtsfreien Räume verbleiben, in denen Men-
25916 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012
(A) (C)
(D)(B)
schen schutzlos den Gräueltaten von Kriegsverbrechern
ausgesetzt sind. Jede Person, die eine Tat begeht, die
nach dem Völkerrecht als Verbrechen bestimmt wurde,
ist dafür verantwortlich und wird der Bestrafung zuge-
führt, auch wenn das nationale Recht keine Strafe für
eine Tat vorsieht.
Um diese Prinzipien durchzusetzen, wurde mit dem
am 1. Juli 2002 in Kraft getretenen Römischen Statut der
Internationale Strafgerichtshof in Den Haag eingerichtet.
Der IStGH will die nationale Strafgerichtsbarkeit der
Staaten nicht ersetzen und ist auch kein letztinstanzli-
ches Rechtsmittelgericht, welches Verfahren der natio-
nalen Strafgerichtsbarkeit überprüfen könnte. Der IStGH
ergänzt vielmehr die innerstaatliche Gerichtsbarkeit bei
der Verfolgung von Völkerrechtsverbrechen, deren Vor-
rang im Statut vielfach verankert ist. Der Internationale
Strafgerichtshof ist damit Ausdruck des gemeinsamen
Wunsches der Staatengemeinschaft, für Frieden und Ge-
rechtigkeit auch außerhalb der nationalen Grenzen ein-
zustehen.
Das erste Urteil sprach der Internationale Straf-
gerichtshof am 14. März 2012 im Verfahren gegen den
früheren kongolesischen Milizenführer Thomas
Lubanga, der wegen der Rekrutierung und des Einsatzes
von Kindersoldaten für schuldig befunden wurde. Er
wurde dafür am 10. Juli 2012 zu einer Freiheitsstrafe
von 14 Jahren verurteilt. Dieses Urteil zeigt, dass die
Nürnberger Prinzipien kein theoretisches Konstrukt sind,
sondern auch in die Praxis umgesetzt werden können.
Doch die Entwicklung des Völkerstrafrechts ist durch
die Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofs
2002 nicht zu einem Abschluss gekommen. Jetzt gilt es,
zu beweisen, dass Deutschland aus seiner dunklen
Vergangenheit gelernt hat und seiner völkerrechtlichen
Verpflichtung nachkommt. Das Völkerstrafrecht muss
zu einem wirksamen Instrument der Friedenssicherung
aufgebaut werden. Bereits die Strafandrohung muss
Aggressoren in ihre Schranken weisen. Dazu ist die
stetige Optimierung und Weiterentwicklung des Völker-
strafrechts notwendig, die mit der vorliegenden Ände-
rung unterstützt werden muss.
Obwohl bereits im ursprünglichen Statut das Verbre-
chen der Aggression als Straftatbestand angelegt gewe-
sen war, hatten sich die Vertragsstaaten auf der Grün-
dungskonferenz weder auf eine Definition des
Verbrechens der Aggression einigen können noch auf die
vorzusehende Rolle des Sicherheitsrates der Vereinten
Nationen. Eine Kodifikation des Tatbestands scheiterte
auch an umstrittenen Fragen wie dem Umfang des
Rechts auf Selbstverteidigung und die Zulässigkeit
humanitärer Intervention. Nach Art. 5 des Statuts, wie es
auf der Konferenz in Rom verabschiedet wurde, besitzt
der Gerichtshof die sachliche Zuständigkeit für das Ver-
brechen der Aggression. Da aber keine Definition der
Aggression beschlossen werden konnte, bleibt die Norm
eine „leere Hülle“, bis eine Definition in das Statut
eingefügt wird. Dies ist angesichts der herausragenden
Bedeutung des Aggressionstatbestands, dessen Zweck es
ist, die Gewaltanwendung als solche auf internationaler
Ebene zu pönalisieren, ein unhaltbarer Zustand.
Vom 31. Mai bis zum 11. Juni 2010 fand in Kampala
die erste Konferenz zur Überprüfung des Römischen
Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs statt, in de-
ren Mittelpunkt die Bemühungen um eine Einigung in
Bezug auf das Verbrechen der Aggression standen. Mit
den Änderungen des Römischen Statuts des Internatio-
nalen Strafgerichtshofs werden nun eine Definition des
Verbrechens der Aggression und die Bedingungen der
Ausübung der Gerichtsbarkeit in das Römische Statut
eingefügt. Auch wird der Einsatz bestimmter Waffen
und Geschosse, deren Verwendung in internationalen
bewaffneten Konflikten bereits ein Kriegsverbrechen
darstellt, auch im nicht internationalen bewaffneten
Konflikt unter Strafe gestellt.
Deutschland war maßgeblich an der Ausarbeitung der
in Kampala gefundenen Einigung beteiligt. Dieser
Einsatz für die Definition des Aggressionstatbestandes
bedurfte nicht des Grünenantrages aus dem Mai 2010,
dessen sie sich so rühmen. Dieser Antrag war weder
Grund noch Unterstützung für die deutschen Anstren-
gungen um eine Einigung. Die Bemühungen mit anderen
gleichgesinnten Staaten für einen möglichst effektiven,
funktionsfähigen, unabhängigen und damit glaubwürdi-
gen Internationalen Strafgerichtshof waren auch vor und
ohne diesen Antrag deutlich sichtbar. Unter anderem ist
Deutschland nach Japan der größte Beitragszahler für
den IStGH und engagiert sich darüber hinaus mit freiwil-
ligen Beiträgen für den sogenannten Opferschutzfonds
und das Zeugenschutzprogramm des Gerichtshofs.
Die Änderungen des Römischen Statuts sind die
Früchte eines langwierigen Prozesses, in dem das Völ-
kerstrafrecht geschaffen und weiter ausgestaltet wird.
Einzelne Staaten sind in mühsamen Verhandlungen
Kompromisse eingegangen, um das gemeinsame höhere
Ziel voranzubringen: ein umfassendes System interna-
tionaler Strafgerichtsbarkeit, die die nationale Straf-
verfolgung wirksam ergänzt.
Natürlich will ich nicht verschweigen, dass noch ein
langer Weg vor uns liegt. 121 von 193 Staaten haben die
Gerichtsbarkeit des Internationalen Strafgerichtshofs an-
erkannt. Wichtige Staaten sind noch nicht Vertragspartei
des IStGH, darunter China, Russland, Indien, Israel und
vor allem die USA. Die USA sorgen sich, dass amerika-
nische Staatsbürger durch das Gericht verurteilt werden
könnten. Die Tatsache, dass sie dennoch fallweise Unter-
stützer sind, wenn auch ohne Mitglied zu sein, zeigt
aber, dass auch sie die Bedeutung des Internationalen
Gerichtshofs nicht verkennen. Die heutigen Änderungen
sind nicht der Abschluss, aber ein bedeutender Schritt zu
einer funktionierenden internationalen Strafgerichts-
barkeit, der unbedingt unterstützt werden muss. Beson-
ders die Normierung des Aggressionstatbestandes ist
von herausragender Bedeutung. Nur durch diese kann
eine wesentliche Lücke der völkerrechtlichen Straf-
barkeit geschlossen werden.
Der nun verabschiedete Tatbestand des Aggressions-
verbrechens stellt einen ausgewogenen Kompromiss dar
und trägt der Tatsache Rechnung, dass dieses Delikt im
Vergleich zu den anderen im Römischen Statut aufge-
führten Verbrechen durch die Kriminalisierung staatli-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012 25917
(A) (C)
(D)(B)
cher Angriffshandlungen und als Führungsverbrechen
einen besonderen Charakter hat. Die individuellen
Tathandlungen wurden fast wörtlich den Vorgaben des
Statuts des Nürnberger Militärgerichtshofs zum „Verbre-
chen gegen den Frieden“ entnommen.
Von einem Verbrechen der Aggression wird ausge-
gangen, wenn eine Person, die tatsächlich in der Lage
ist, das politische oder militärische Handeln eines Staa-
tes zu kontrollieren oder zu lenken, eine Angriffshand-
lung plant, vorbereitet oder ausführt, die ihrer Art, ihrer
Schwere und ihrem Umfang nach eine offenkundige
Verletzung der Charta der Vereinten Nationen darstellt.
Die Formulierung stellt klar, dass es sich um ein soge-
nanntes Führungsverbrechen handelt, das hohe Anforde-
rungen an die individuelle Täterqualität stellt. Es betrifft
nicht die kleinen Befehlsempfänger, sondern zieht die
Täter zur Rechenschaft, die tatsächlich für den Angriff
auf den Frieden verantwortlich sind. Regierungsober-
häupter dürfen nicht über dem Gesetz stehen.
Eine Angriffshandlung stellt jede mit der Charta der
Vereinten Nationen unvereinbare Anwendung von
Waffengewalt durch einen anderen Staat dar, so zum
Beispiel die Invasion des Hoheitsgebiets eines Staates
oder der Angriff auf dieses durch die Streitkräfte eines
anderen Staates. Auch eine militärische Besetzung, die
sich aus einer solchen Invasion ergibt, sowie die Bom-
bardierung oder Beschießung des Hoheitsgebiets sind
umfasst. Neben der Blockade der Häfen oder Küsten ei-
nes Staates ist auch der Einsatz von Streitkräften eines
Staates, die sich mit der Zustimmung eines anderen
Staates in dessen Hoheitsgebiet befinden, unter Verstoß
gegen die in der entsprechenden Einwilligung oder Ver-
einbarung vorgesehenen Bedingungen strafbar. Damit ist
nicht jede völkerrechtswidrige staatliche Gewaltanwen-
dung zugleich ein Aggressionsverbrechen. Rechtlich
umstrittene Einsätze, die im Rahmen humanitärer Inter-
ventionen durchgeführt werden, um das Leid von
Menschen zu lindern und weitere Gewalt zu verhindern,
werden so nicht erfasst. Auch Fälle von nicht hinrei-
chender Intensität sollen gerade nicht berücksichtigt
werden.
Die Ausübung der Gerichtsbarkeit über das Verbre-
chen der Aggression wird in den Änderungen geregelt.
Der Gerichtshof kann seine Gerichtsbarkeit nur über
Verbrechen der Aggression ausüben, die ein Jahr nach
Ratifikation oder Annahme der Änderungen durch
30 Vertragsstaaten begangen werden.
Die weitere wichtige Änderung betrifft die Straf-
barkeit gewisser verbotener Waffen in nichtinternationa-
len bewaffneten Konflikten. Die Verwendung von Gift
oder vergifteten Waffen, die Verwendung erstickender,
giftiger oder gleichartiger Gase sowie aller ähnlichen
Flüssigkeiten, Stoffe oder Vorrichtungen, die Verwen-
dung von Geschossen, die sich im Körper des Menschen
leicht ausdehnen oder flachdrücken ist in internationalen
bewaffneten Konflikten bereits strafbar. Der Zustand,
dass der Einsatz von Giftgasen zwar in internationalen
Konflikten bereits als Kriegsverbrechen geahndet wer-
den kann, Machthaber aber ihr eigenes Volk mit diesen
Waffen konsequenzlos angreifen können, ist unerträg-
lich. Hier kommt es nun zu einer Angleichung, da eine
grundsätzliche Unterscheidung zwischen den Konflikt-
formen auf humanitärvölkerrechtlicher Ebene heute
nicht mehr angemessen ist. Das Leiden und die Verlet-
zungswirkung, die durch diese Waffen ausgelöst werden,
sind verurteilenswert, gleich in welcher Art von Konflikt
sie eingesetzt werden.
Diese Änderungen liegen mir als in Nürnberg direkt
gewähltem Abgeordneten besonders am Herzen. In
Nürnberg entsteht ein Institut für die Durchsetzung der
Nürnberger Prinzipien zum Völkerstrafrecht. Es soll als
Expertenforum dazu beitragen, Frieden mit den Mitteln
des Rechts zu sichern, indem es interdisziplinäre For-
schung betreibt und zielgruppenspezifisches Training zu
völkerstrafrechtlichen Themen sowie Menschenrechts-
bildung anbietet. Ziel der Akademie ist es, die Akzep-
tanz des Völkerstrafrechts und der Nürnberger Prinzi-
pien international zu fördern.
Die Bundesrepublik Deutschland hat an der Ausarbei-
tung des Römischen Statuts aktiv mitgewirkt. Wir
müssen uns weiterhin aktiv dafür einsetzen, dass der In-
ternationale Strafgerichtshof möglichst effektiv arbeiten
kann und breite Unterstützung in der Staatengemein-
schaft findet. Das Gesetz zu den Änderungen vom 10.
und 11. Juni 2010 des Römischen Statuts des Internatio-
nalen Strafgerichtshofs vom 17. Juli 1998 ist dabei ein
wichtiger und wirksamer Schritt, um Verbrechen gegen
den Frieden und die Sicherheit der Menschheit der
Strafbarkeit zuzuführen.
Christoph Strässer (SPD): Offenheit vor allem
auch im Umgang mit eigenen Fehlern und Defiziten ist
ein Überlebensprinzip für jedes politische System. Des-
halb sollten auch wir Deutschen sehr darum bemüht
sein, Kritik aus anderen Ländern offen gegenüberzuste-
hen und sie ernst zu nehmen – egal woher sie kommt.
Dies ist nicht zuletzt der Einsicht geschuldet, dass aus
der eigenen Fehlbarkeit die Notwendigkeit des Dialogs
und der Kooperation folgt.
Genau diese fundamentale Erkenntnis ist der Kern
des UPR-Verfahrens im Menschenrechtsrat der VN, des
wohl wichtigsten und positivsten Ergebnisses aus den
ansonsten ja eher wenig erfolgreich verlaufenden Bemü-
hungen um die Reform der Vereinten Nationen. Alle
Staaten überprüfen ihre menschenrechtliche Praxis zu-
erst selbst, stellen die Ergebnisse vor und stellen sich
dann der Kritik im Menschenrechtsrat – und das rich-
tigerweise ohne Ausnahme und damit eben auf gleicher
Augenhöhe, unabhängig von Wirtschaftskraft und/oder
politischer sowie militärischer Macht. Allein das macht
das UPR-Verfahren so interessant und einmalig. Alle
Länder sind gleich, beraten auf gleicher Augenhöhe und
stellen sich demselben Verfahren. Ein demokratisches
Grundprinzip, das leider in der Struktur der UNO oft un-
erreichbar erscheint und doch so wichtig wäre, ein Ver-
fahren, dass eindrucksvoll die These widerlegt, dass
westliche Staaten und Kulturen das Thema Menschen-
rechte benutzen, um auf diesem Wege hegemoniale
Strukturen auf- und auszubauen.
25918 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012
(A) (C)
(D)(B)
Zur Demokratie gehört, das wissen wir spätestens seit
Kant, auch die öffentliche Auseinandersetzung, die Öf-
fentlichkeit. Deshalb hat auf unser Bestreben hin, die
FDP-Fraktion zugesagt, zu beantragen, dass die heutige
Debatte zum Tag der Menschenrechte an prominenter
Stelle stattfinden soll, wie eigentlich immer in den letz-
ten Jahren um den Internationalen Tag der Menschen-
rechte am 10. Dezember. Nun gehen die Reden zu Proto-
koll. Es ist ein Armutszeugnis für unsere demokratische
Kultur, dass es nicht gelingt, wenigstens einmal im Jahr
in diesem Hause zu einer Zeit über dieses Thema zu de-
battieren, wo zumindest die Chance besteht, öffentlich
wahrgenommen zu werden. Diese Koalition führt zwar
gerne bei jeder Gelegenheit die Menschenrechte im
Munde, schafft es aber noch nicht einmal, einen akzepta-
blen Debattenplatz zu organisieren. Das sagt eigentlich
alles!
Der erste Zyklus der regelmäßigen Überprüfung der
Staaten auf ihre Menschenrechtslage hin, UPR, ist abge-
schlossen. Mit der Vorstellung des Staatenberichts vor
dem UN-Menschenrechtsrat 2009 hat Deutschland sei-
nerzeit durch Selbstkritik zwar einige überzeugt, aber
der schriftliche Bericht der Regierung wurde von vielen
als „zu glatt“ eingeschätzt, weil die offene Benennung
von Problembereichen, die Darstellung von Maßnahmen
zur Verbesserung der Situation, der Bericht über Erfolge,
aber auch selbstkritische Anmerkungen und Aussagen
über Zielsetzungen fehlten. Allerdings präsentierte sich
die Bundesregierung in ihren mündlichen Einlassungen
im UPR sehr viel selbstkritischer. Die Regierungsver-
treter gaben wiederholt zu erkennen, dass – bei dem
unbestritten hohen Standard von Rechtsstaatlichkeit in
Deutschland – gleichwohl ernste menschenrechtliche
Probleme zu bewältigen blieben.
Der Zweite Zyklus wurde nun formal geändert, um
ein besonderes Augenmerk auf die Umsetzung der ak-
zeptierten Empfehlungen aus dem ersten Zyklus richten
zu können. Das macht viel Sinn; denn nur so kann im
weiteren Überprüfungszyklus aufmerksam geschaut wer-
den, wie ein Staat in der Zwischenzeit die akzeptierten
Empfehlungen in die Praxis umgesetzt hat und was da-
rauf aufbauend in den zweiten Bericht Eingang finden
sollte.
Um das Voranschreiten im nationalen Follow-up auch
im Menschenrechtsrat nachvollziehbar zu machen, sind
die Staaten aufgerufen, nach zwei Jahren freiwillig einen
schriftlichen Zwischenbericht – „mid-term report“ – zu
erstellen. Deutschland hat nach seiner Überprüfung kei-
nen solchen Zwischenbericht abgegeben. Das sollte sich
ändern. Es ist, wie sich aus vielen Beispielen ersehen
lässt, eine große Hilfe für das ganze Verfahren, wenn es
einen staatlich initiierten Zwischenbericht gibt, der in
der Mitte des Zyklus vorgelegt wird. Zwischenberichte
zum UPR-Verfahren gehören inzwischen beim Rat zum
guten Ton. Sie wurden vorgelegt unter anderem von
Frankreich, Japan, den Niederlanden, Bahrain, Chile,
Finnland, Ecuador, Kolumbien, Mauritius, Rumänien,
der Ukraine. Deutschland gibt hier kein gutes Beispiel
ab. Diese Forderung vieler NGOs an Deutschland halte
ich für gerechtfertigt.
Im Mai 2013 wird Deutschland zum zweiten Mal
vom UN-Menschenrechtsrat im Rahmen des UPR-Ver-
fahrens auf seine Menschenrechtssituation hin überprüft
werden. Das Forum Menschenrechte und das Deutsche
Institut für Menschenrechte haben dankenswerterweise
ihre Analysen und Empfehlungen bereits abgegeben.
Wir fordern deshalb die Bundesregierung auf, die Sicht
dieser Organisationen ernst zu nehmen und in ihren
Bericht einfließen zu lassen. Deshalb ist es auch zu be-
grüßen, dass Markus Löning, der Menschenrechtsbeauf-
tragte im Auswärtigen Amt, im Namen der Bundesregie-
rung die „Zivilgesellschaft“ zum 5. Dezember zu einer
Anhörung eingeladen hat – spät, aber hoffentlich nicht
zu spät, um berechtigte Anliegen noch aufzunehmen.
Bis zum Februar 2013 läuft die Frist für die Einrei-
chung des Staatenberichts. Im April/Mai ist die 16. Sit-
zung der UPR Working Group mit der Überprüfung
Deutschlands, und circa im September 2013 gibt es die
Stellungnahme Deutschlands zu den Empfehlungen. Im
Oktober 2013 soll schlussendlich der Bericht zur UPR-
Überprüfung Deutschlands in der 17. Sitzung des Men-
schenrechtsrates erörtert werden.
Einer der Hauptkritikpunkte an Deutschland 2009
war die fehlende Bekämpfung von Rassendiskriminie-
rung und Fremdenfeindlichkeit. Wie die Vorfälle um die
Terrorzelle NSU gezeigt haben, waren diese Empfehlun-
gen geradezu prophetisch und wurden leider nicht ernst
genug genommen. Im Gegenteil: Mittel für die nachhal-
tige Bekämpfung dieses braunen Sumpfs wurden ge-
kürzt, Menschen, die sich dort engagierten, wurde unter
der Überschrift „Extremismusklausel“ ein Treuebekennt-
nis zu unserem Grundgesetz abverlangt – absurd gegen-
über denjenigen, die mit ihrer konkreten Arbeit mehr für
die Werte unserer Verfassung tun, als dies in vielen
Sonntagsreden geschieht. Deshalb muss dieser Bereich
im neuen Bericht explizit näher beleuchtet und intensiver
bearbeitet werden. Wir sollten offen ansprechen, dass
wir hier vieles verschlafen haben und es nun besser ma-
chen wollen.
Ein weiterer Punkt, den Kanada und Ägypten seiner-
zeit angesprochen haben und der immer noch problema-
tisch ist, sind die Rechte der Kinder in Deutschland.
Zwar gab es einen wichtigen Fortschritt, weil Deutsch-
land die Vorbehalte gegen die Kinderrechtskonvention
zurückgenommen hat. Aber hinsichtlich der Kinder von
Einwanderern und „Ausländern“ hat sich bisher kaum
etwas verbessert. Besonders prekär ist immer noch die
Situation unbegleiteter minderjähriger Flüchtlingskin-
der. Sie werden immer noch zu oft routinemäßig in be-
lastende, nicht kinderfreundliche Asylverfahren ge-
drängt. Häufig verbleiben die Betroffenen im Status der
Duldung und leben daher in ständiger Furcht vor der
Ausweisung. Auch hier sollten wir die Empfehlungen
ernst nehmen und das im aktuellen Zyklus ansprechen.
Viel besser noch wäre es selbstverständlich, der Kinder-
rechtskonvention entsprechende Gesetze zu schaffen, im
Aufenthaltsrecht wie im Sozialrecht.
Eine weitere wichtige Empfehlung bezog sich auf un-
sere selektive Bildungspolitik, die zu einer strukturellen
Diskriminierung bestimmter Gruppen von Kindern im
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012 25919
(A) (C)
(D)(B)
deutschen Schulsystem führt. Zumeist sind Kinder mit
Migrationshintergrund und Kinder aus sozial schwieri-
gen Verhältnissen betroffen.
Der Menschenrechtsstandard in unserem Land ist
hoch, kein Zweifel. Aber wir können und müssen besser
werden, gerade auch als neu gewähltes Mitglied im
Menschenrechtsrat. Diese Wahl, über die wir uns sehr
freuen, ist nicht nur Erfolg, sondern auch Verpflichtung.
Dies gilt auch – um einen letzten Punkt anzusprechen –
für die Stellung des Deutschen Instituts für Menschen-
rechte. Wegen Untätigkeit der Bundesregierung und eines
offenkundigen Streits innerhalb der Koalition besteht die
Gefahr, dass diese hochangesehene unabhängige Institu-
tion im Herbst dieses Jahres bei der Akkreditierungskon-
ferenz ihren jetzigen A-Status verliert – und das nur,
weil die Mehrheit in diesem Hause sich nicht darauf ver-
ständigen kann, durch eine gesetzliche Grundlage die
Unabhängigkeit der Arbeit des Instituts sicherzustellen.
Das ist ein Armutszeugnis für die deutsche Menschen-
rechtspolitik und ihr Ansehen weltweit. Die SPD-Frak-
tion jedenfalls ist bereit, auch kurzfristig gesetzgebe-
rische Initiativen zu unterstützen, die den Erhalt des
jetzigen Status des Instituts sichern.
Zum Schluss möchte ich noch hervorheben, dass die
SPD-Fraktion, wie schon in der ersten Lesung angekün-
digt, den Gesetzentwurf der Bundesregierung zu den
Änderungen des Römischen Statuts des Internationalen
Strafgerichtshofs vom 10. und 11. Juni 2010 in Kampala
begrüßt. Die Ergebnisse der Konferenz von Kampala
werden den Internationalen Strafgerichtshof langfristig
stärken, was einerseits eine große Verantwortung und
Herausforderung bedeutet, andererseits aber auch eine
große Chance ist. Treten die Regelungen von Kampala
2017 wirklich in Kraft, kann jede Gewaltanwendung ge-
genüber einem anderen Staat vor dem Internationalen
Strafgerichtshof angeklagt werden. Dies wäre ein großer
Schritt in Richtung einer starken und effizienten Ver-
rechtlichung der internationalen Beziehungen. Deshalb
werden wir diesem Gesetz zustimmen.
Marina Schuster (FDP): Am 10. Dezember bege-
hen wir jedes Jahr den Allgemeinen Tag der Menschen-
rechte. Dann jährt sich die Allgemeine Erklärung der
Menschenrechte, eine Errungenschaft unserer Mensch-
heitsgeschichte. Sie gibt uns das vor, für das wir welt-
weit eintreten: den Schutz und die Wahrung der Men-
schenrechte.
Wie könnte es besser passen, dass wir heute in der
zweiten und dritten Lesung die Änderung des Römi-
schen Statuts im deutschen Recht beschließen werden?
Einen Wermutstropfen gibt es dennoch: Leider findet die
Debatte zu später Stunde statt. Jeder weiß, dass wir uns
diese Debattenzeit nicht ausgesucht haben.
Der ehemalige Menschenrechtskommissar der Ver-
einten Nationen, José Ayala Lasso, bringt das Problem
der Straflosigkeit auf den Punkt: Es ist wahrscheinlicher,
dass ein Mensch für die Ermordung eines einzigen Men-
schen verurteilt wird, als dass er für die Ermordung von
100 000 Menschen verurteilt wird.
Während Verbrechen auf kleinster Ebene – und hier
spreche ich noch gar nicht von Mord – meist zügig ver-
folgt werden können, ist es nach wie vor eine große,
langwierige und schwierige Aufgabe, Völkermörder,
Kriegsverbrecher und Verbrecher gegen die Menschlich-
keit zur Rechenschaft zu ziehen.
Mit der Schaffung des Internationalen Strafgerichts-
hofs am 17. Juli 1998 in Rom setzte die internationale
Gemeinschaft ein klares Zeichen, dass sie sich diesem
Missstand entschieden entgegenstellen will. Sicherlich
bleibt die strafrechtliche Verfolgung von Völkermord,
Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Mensch-
lichkeit eine Herausforderung. Sie ist aber eben keine
Utopie mehr. Die Täter grausamster Völkerrechtsverbre-
chen können nicht mehr auf ihre Immunität vertrauen,
sondern müssen grundsätzlich davon ausgehen, dass sie
sich vor einem zentralen, überparteilichen Gericht für ihr
Handeln verantworten müssen.
Die universelle Zuständigkeit des Internationalen
Strafgerichtshofs ist eine bahnbrechende Errungen-
schaft des internationalen Menschenrechtsschutzes. Die
Verfolgung von Völkerrechtsverbrechen und der Kampf
gegen die Straflosigkeit knüpfen an das Vermächtnis der
Nürnberger und Tokioter Prozesse an. Seit den 1990er-
und 2000er-Jahren führen die Ad-hoc-Tribunale für das
ehemalige Jugoslawien, für Ruanda, Sierra Leone und
Kambodscha diesen Leitgedanken fort.
Dieser Leitgedanke hat bisher seinen Höhepunkt in
der Überprüfungskonferenz von Kampala gefunden, bei
der eine große Lücke im Völkerstrafrecht geschlossen
wurde. Die Definition des Tatbestandes der Aggression
bedeutet einen historischen Durchbruch. Ich wiederhole
es gerne: Es handelt sich hier um einen Meilenstein im
Kampf gegen die Straflosigkeit.
Es ist dem Einsatz der deutschen Delegation in Kam-
pala zu verdanken, dass Deutschland seine Konferenz-
ziele erfolgreich durchsetzen konnte, auch gegen kriti-
sche Stimmen aus Frankreich und Großbritannien.
Wir Liberalen haben uns dafür starkgemacht, dass
diese wichtige Lücke im Völkerstrafrecht geschlossen
wird. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf haben wir
ein Ziel des Koalitionsvertrages Wort für Wort umge-
setzt. Das ist ein großer Erfolg! Die Förderung und Wah-
rung der Menschenrechte ist ein ureigener liberaler
Grundgedanke. Von Beginn dieser Wahlperiode an hat
sich die FDP dafür eingesetzt, dass Deutschland im welt-
weiten Menschenrechtsschutz nicht nur gegenüber sei-
nen internationalen Partnern eine glaubwürdige Position
vertritt, sondern auch eine Vorbildrolle übernimmt.
Deutschland ratifiziert als einer der ersten Staaten die
Änderungen des Römischen Statuts, die in Kampala be-
schlossen wurden. Nun gilt es, dass bis Ende 2015 min-
destens 30 Staaten das erweiterte Römische Statut ratifi-
zieren. Nur dann treten die Änderungen auch bereits
2017 in Kraft. Liechtenstein und das Global Institute for
the Prevention of Aggression leisten hier wertvolle Ar-
beit. Unter ihrer Federführung wurde beispielsweise ein
Handbuch erstellt, das Staaten bei der Implementierung
25920 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012
(A) (C)
(D)(B)
und Ratifizierung der Änderungen von Kampala unter-
stützt.
Die Position Deutschlands im Kampf gegen die Straf-
losigkeit hat sich seit den Nürnberger Prozessen rich-
tungsweisend und grundlegend gewandelt. Während die
Rechtsprechung des Nürnberger Tribunals noch auf Ab-
lehnung stieß, gestaltet Deutschland heute nicht nur die
Ausformung universeller Normen aktiv mit, sondern
nimmt in vielen Bereichen eine Vorreiterrolle ein.
Seit Mai 2011 läuft vor dem Oberlandesgericht Stutt-
gart ein Prozess gegen Ignace Murwanashyaka, den ehe-
maligen Präsidenten der ruandischen Rebellenbewegung
FDLR, und gegen seinen Stellvertreter Straton Musoni.
Murwanashyaka und Musoni wird als Vorgesetzten der
FDLR eine direkte Verantwortung für deren Aktivitäten
und die Völkerrechtsverbrechen im Kongo vorgeworfen.
Dieser Prozess in Stuttgart ist der erste seiner Art. Das
Pilotverfahren wird unter dem Völkerstrafgesetzbuch
geführt, welches das Römische Statut in deutsches Recht
überträgt. Unter dem „Weltrechtsprinzip“ des deutschen
Völkerstrafgesetzbuches engagiert sich Deutschland hier
im Sinne einer komplementären Arbeitsteilung mit dem
Internationalen Strafgerichtshof. Der Grundsatz der
Komplementarität sieht vor, dass die strafrechtliche Ver-
folgung von Völkerrechtsverbrechen auch durch die
Mitgliedstaaten des Römischen Statuts erfolgen kann.
Wir können bereits heute auf eine erfolgreiche Men-
schenrechtsbilanz in dieser Legislaturperiode zurückbli-
cken. Lassen Sie mich exemplarisch einige Beispiele ge-
ben:
Unter dem Vorsitz Deutschlands hat der Sicherheitsrat
der Vereinten Nationen im Juli 2011 eine Resolution
zum Schutz von Kindern in bewaffneten Konflikten ver-
abschiedet. Die Ächtung von Angriffen auf Krankenhäu-
ser und Schulen durch die internationale Gemeinschaft
wurde damit institutionalisiert. Dieses Engagement hat
Deutschland im September noch einmal gefestigt und
eine zweite Resolution eingebracht, die den Schutzme-
chanismus und die Arbeit der VN-Sonderbeauftragten
für Kinder und bewaffnete Konflikte, Leila Zerrougui,
noch weiter stärkt.
Ein weiteres wichtiges Thema für uns ist der Schutz
des Menschenrechtes auf Wasser, für das wir uns mit
verschiedenen Maßnahmen einsetzen. Die VN-Resolu-
tion „Menschenrecht auf sauberes Trinkwasser und Sa-
nitärversorgung“ sowie die deutsch-spanische Initiative
im Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen haben wir
hier im Bundestag mit mehreren Anträgen flankiert.
Durch meine Arbeit als Mitglied der Parlamentari-
schen Versammlung des Europarates weiß ich aus eige-
ner Erfahrung, wie wichtig regionale Menschenrechts-
schutzsysteme sind. Auf der Konferenz zur Reform des
Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte in
Brighton konnte sich Deutschland erfolgreich gegen die
Vorschläge Großbritanniens durchsetzen, die eine drasti-
sche Beschneidung der Kompetenzen des Gerichts be-
deutet hätten. Die Ergebnisse von Brighton müssen nun
schnell umgesetzt werden, damit der EGMR die Heraus-
forderungen einer stetig wachsenden Zahl an Gesuchen
bewältigen kann.
Die Wahl Deutschlands in den Menschenrechtsrat der
Vereinten Nationen bestätigt unseren Menschenrechts-
kurs. Sie zeigt die Anerkennung und das Vertrauen in
unser menschenrechtspolitisches Engagement. Gleich-
zeitig ist die Wahl Ansporn und Verpflichtung.
Am 5. Dezember findet die öffentliche Anhörung
zum Menschenrechtsbericht der Bundesregierung statt.
Nächstes Jahr im April durchläuft Deutschland die „Uni-
versal Periodic Review“ des Menschenrechtsrates der
Vereinten Nationen. Im Vierjahresrhythmus müssen sich
die Mitgliedstaaten einer Überprüfung ihrer Menschen-
rechtslage stellen. Die Bundesregierung bezieht hierbei
die Zivilgesellschaft mit ein und diskutiert den Entwurf
des Menschenrechtsberichtes, den sie in Genf vorlegen
wird, im Vorfeld.
Die Wahrung und Förderung der Menschenrechte ist
Voraussetzung einer demokratischen, wirtschaftlichen
und kulturellen Entwicklung jedes Landes. Wir sind uns
unserer Verantwortung im eigenen Land und für den men-
schenrechtlichen Fortschritt unserer Partner bewusst.
Deutschland ist – und bleibt – ein wichtiger Akteur im in-
ternationalen Menschenrechtsschutz.
Jan van Aken (DIE LINKE): Meine Fraktion wird
dem heute vorliegenden Gesetzentwurf zustimmen.
Mit dem Gesetz wird das veränderte Römische Statut
des Internationalen Strafgerichtshofes ratifiziert. Konkret
geht es um die Aufnahme der Aggression, also eines An-
griffskrieges, in den Katalog der Verbrechen, die vom In-
ternationalen Strafgerichtshof geahndet werden können.
Die internationale Verankerung eines Straftatbestands
der Aggression wird seit den Nürnberger Prozessen ge-
fordert. Dass es nach langen und durchaus kontroversen
Diskussionen gelungen ist, sich auf eine Definition des
Aggressionsverbrechens zu einigen und damit einen
Straftatbestand zu schaffen, ist ohne Zweifel ein Erfolg,
allerdings, wie so oft bei Kompromissen, ein Erfolg mit
bitterem Beigeschmack. So konnte nicht durchgesetzt
werden, dass schon die Vorbereitung und Planung eines
unter den Begriff der Aggression fallenden Angriffs ein
Strafverfahren auslösen können. Ein Angriff muss be-
reits erfolgt sein, um vom Internationalen Strafgerichts-
hof – nachträglich – geahndet zu werden. Ebenfalls
konnte nicht durchgesetzt werden, dass der Straftat-
bestand der Aggression auch für Nichtvertragsstaaten
Anwendung findet. Zu ihnen gehören unter anderem die
USA, Russland und China. Ebenso schwer wiegt, dass
die Abhängigkeit vom Sicherheitsrat der Vereinten Na-
tionen bestehen bleibt, dass der Strafgerichtshof also
nicht von sich aus, unabhängig vom UN-Sicherheitsrat,
tätig werden kann.
Gerade mit Blick auf den völkerrechtswidrigen Krieg
gegen Irak ist bedauerlich, dass nur zukünftige Aggres-
sionsverbrechen verfolgt werden können, also frühestens
im Jahr 2017 und ein Jahr nachdem mindestens 30 Staa-
ten die Änderungen ratifiziert haben.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012 25921
(A) (C)
(D)(B)
Nun ist es, wie es ist. Die Änderung des Römischen
Statuts spiegelt den Minimalkonsens wider. Mehr war
auf der Überprüfungskonferenz 2010 im ugandischen
Kampala nicht zu erreichen. Aber es spricht doch gar
nichts dagegen, dass Deutschland bei der nationalen
Umsetzung einen Schritt weitergeht – über den heute
vorliegenden Gesetzentwurf hinaus.
In Art. 26 des Grundgesetzes heißt es: „Handlungen,
die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen wer-
den, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stö-
ren, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vor-
zubereiten, sind verfassungswidrig. Sie sind unter Strafe
zu stellen.“ Bislang wurde in der deutschen Rechtspre-
chung lediglich die Vorbereitung eines Angriffskrieges
als strafrechtlich relevant interpretiert, geregelt in § 80
des Strafgesetzbuches. Das Grundgesetz betrachtet aber
alle Handlungen, die friedenstörend sind, als verfas-
sungswidrig. In diesem Sinne müssen die direkte und in-
direkte Beteiligung an der Durchführung von Angriffs-
kriegen ebenso wie deren Planung und Vorbereitung
unter Strafe gestellt werden.
Um nur ein Beispiel zu nennen: Wenn ein Land, sa-
gen wir: die USA, ein anderes Land, sagen wir: Irak,
völkerrechtswidrig überfällt, dann darf Deutschland das
nicht direkt oder indirekt unterstützen, sagen wir: durch
BND-Agenten oder durch Überfluggenehmigungen.
Wenn eine Bundesregierung, sagen wir: die rot-grüne
Regierung von 2003, das unterstützt, muss sie sich straf-
bar machen. Die Linke will deshalb eine rechtliche Klar-
stellung auch im Strafgesetzbuch, also eine Präzisierung
von § 80 Strafgesetzbuch. Eine entsprechende parlamen-
tarische Initiative werden wir demnächst hier vorlegen.
Es kann doch nicht sein, dass Deutschland militärisch
mit Staaten kooperiert, die sich vorbehalten, Angriffs-
kriege zu führen.
Wir erwarten deshalb von Ihnen, dass Sie dafür sor-
gen, dass kein Land – auch nicht die USA – jemals wie-
der Stützpunkte in Deutschland oder deutsche Logistik
für Angriffskriege nutzen kann. Wir erwarten aber auch,
dass Sie den politischen Druck auf die drei ständigen
Mitglieder des Sicherheitsrates USA, Russland und
China erhöhen, den Internationalen Strafgerichtshof end-
lich anzuerkennen und sich seiner Gerichtsbarkeit zu un-
terwerfen.
Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschland
keine Waffen mehr exportieren sollte. Von Deutschland
soll nie wieder Krieg ausgehen, auch nicht in Form von
Waffenlieferungen, die Kriegsführung anderswo mög-
lich machen.
Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Am
10. Dezember werden wir den Tag der Menschenrechte
feiern. Vor 64 Jahren haben die Vereinten Nationen an
diesem Tag die Menschenrechte im internationalen
Recht verankert. Bis heute ist die Allgemeine Erklärung
der Menschenrechte das Wertegerüst der internationalen
Gemeinschaft aller inzwischen 193 Staaten der Verein-
ten Nationen.
Menschen streben nach einem Leben in Würde, sozia-
ler Sicherheit und Frieden. Wie keine andere Institution
verkörpern die Vereinten Nationen dieses Streben. Die
Vereinten Nationen besitzen inzwischen wichtige Mittel,
um weltweit die Einhaltung der Menschenrechte zu
überwachen und ihre Missachtung, wo dies möglich ist,
zu ahnden.
Da ist natürlich zu allererst der Internationale Strafge-
richtshof, den die Vereinten Nationen 2002 ins Leben
gerufen haben. Es ist erfreulich, dass wir den Gesetzent-
wurf zur Stärkung des Internationalen Strafgerichtshofes
gemeinsam und hoffentlich einstimmig verabschieden
werden. Die eigentliche Arbeit steht mit der Umsetzung
in die nationale Rechtsordnung noch aus.
Ich möchte mich heute aber noch auf ein anderes
wichtiges Instrument beziehen, das den Menschen-
rechtsschutz weltweit zum Ziel hat: das Verfahren des
Universal Periodic Review. Es ist im Gegensatz zum
scharfen Schwert des Gerichts eher eine Soft Power. Das
UPR-Verfahren wurde im März 2006 durch die Resolu-
tion 60/251 ins Leben gerufen. Beim Wandel von der
VN-Menschenrechtskommission zum Menschenrechts-
rat war es die wichtigste Weiterentwicklung; der Rat ist
insgesamt ein Fortschritt gegenüber der vorherigen
Kommission.
Früher wurde nur eine kleine Auswahl an Staaten ge-
prüft, heute müssen sich alle prüfen lassen. Alle Staaten
sind dem Verfahren gleichermaßen unterworfen. Neben
den Staaten selbst und VN-Expertenteams aus anderen
Mitgliedstaaten wird auch die Zivilgesellschaft des zu
prüfenden Staates in die Berichterstattung mit einbezo-
gen. Daraus entsteht dann ein umfassender Bericht, der
konkrete Maßnahmen empfiehlt, wie der Mitgliedstaat
die Menschenrechte besser schützen, achten und ge-
währleisten kann.
Daraus ergeben sich zwei Chancen: erstens, dass die
zivilgesellschaftlichen Akteure in den Mitgliedstaaten
besser miteinander kommunizieren, weil sie sich für den
gemeinsamen Bericht vernetzen müssen; zweitens, dass
die Regierungen – auch die Bundesregierung – weniger
politisch voreingenommen berichten, indem sie die „Zi-
vilgesellschaft stärker als bisher“ einbeziehen, wie dies
die SPD fordert. Wir wollen, dass die Zivilgesellschaft
systematisch und im Vorfeld mit einbezogen wird, sei es
durch Anhörungen in den Ausschüssen des Deutschen
Bundestages, sei es durch regelmäßige und verbindliche
Konsultationen.
Die größte Glaubwürdigkeit im weltweiten Bemühen
um eine bessere Menschenrechtslage haben die Staaten,
die sich auch um die Menschenrechte in ihrem eigenen
Land kümmern. Will man Menschenrechtsverletzungen
anderer Staaten kritisieren, dann muss man selbst ver-
bindlich, gar vorbildlich sein. Wir können nicht Staaten
wie den Iran oder China kritisieren, wenn wir Vorwürfe
ignorieren, Deutschland messe mit zweierlei Maß – „dou-
ble standards“ – und sei voreingenommen.
Zweierlei Maß, das mindert den Schutz der Men-
schenrechte; Guantánamo hat es gezeigt. Deutschland
soll bei Kritik an Missständen im Lande so viel Dialog-
25922 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012
(A) (C)
(D)(B)
bereitschaft und Engagement zeigen, wie wir es von an-
deren Ländern wünschen. Was also hat die Bundesregie-
rung getan, nachdem Deutschland zuletzt 2009 im UPR-
Verfahren untersucht wurde?
Der UPR-Bericht über Deutschland setzt Schwer-
punkte in der Asyl- und Integrationspolitik, beim Schutz
vor Folter, beim Kampf gegen Fremdenfeindlichkeit und
Rassismus und beim Schutz vor Diskriminierung. Dji-
bouti fordert zum Beispiel, dass Deutschland eine unab-
hängige Institution schafft, die Beschwerden über Poli-
zeigewalt untersucht. Bedauerlicherweise hat die
Bundesregierung diese Forderung zurückgewiesen. Die
Bunderepublik hat 34 von 44 Empfehlungen des UPR-
Berichtes von 2009 akzeptiert. Die SPD fordert zwar
dazu auf, hinsichtlich der akzeptierten Empfehlungen
detailliert die Umsetzungsschritte sowie die Erfolge und
Probleme in diesem Prozess zu erläutern – das ist
richtig –, ich finde aber, darüber hinaus müsste die Bun-
desregierung erklären, warum zehn Empfehlungen nicht
umgesetzt wurden.
Das Zusatzprotokoll des Paktes über soziale, wirt-
schaftliche und kulturelle Rechte, der WSK-Pakt, muss
endlich ratifiziert werden. Das wurde bereits 2009 kriti-
siert. 2013 wird es immer noch bemängelt – zu Recht –,
nicht nur von uns Grünen, auch vom Deutschen Institut
für Menschenrechte, DIMR.
Die Bundesregierung muss sämtliche Empfehlungen
ernst nehmen, sonst schwächt sie das Verfahren. Andere
Staaten könnten sich daran ein schlechtes Beispiel neh-
men. Im schlimmsten Falle werden einzelne unilateral
aus dem Staatenüberprüfungsverfahren aussteigen, wie
es Israel angedroht hat. Die Folgen für die Glaubwürdig-
keit des Verfahrens wären verheerend.
Doch der Umgang mit den VN-Empfehlung ist symp-
tomatisch für ein tiefergehendes Problem: das schwache
Engagement Deutschlands in den VN allgemein. Wir
Grüne wollen, dass Deutschland über die VN globale
Verantwortung übernimmt und sich in den VN weit akti-
ver, engagierter und wirkungsvoller für Frieden und
Menschenrechte einsetzt.
Die VN sind nur so stark, wie ihre Mitgliedstaaten sie
machen. Dies gilt besonders für den Schutz der Men-
schenrechte. Nur wenn alle 193 ihren Beitrag leisten und
einige vorbildlich sind, werden wir Fortschritte machen. –
Dass Deutschland in den VN-Menschenrechtsrat wieder-
gewählt worden ist, hat alle Mitglieder dieses Hauses ge-
freut. Der Bundesaußenminister sprach von einem „Ver-
trauensbeweis für Deutschland“. Doch für dieses
Vertrauen muss sich Deutschland als würdig erweisen.
Der nächste Zyklus 2013 des UPR-Überprüfungsverfah-
rens bietet sich dazu an. Wir erwarten von der Bundesre-
gierung, dass sie das Überprüfungsverfahren im Men-
schenrechtsrat aktiv und glaubwürdig begleitet.
Anlage 7
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Energiewende im
Gebäudebestand sozial gerecht, umweltfreund-
lich, wirtschaftlich und zukunftsweisend umset-
zen (Tagesordnungspunkt 17)
Volkmar Vogel (Kleinsaara) (CDU/CSU): Klima-
schutz, Energiewende und Effizienzsteigerung sind zen-
trale Punkte der politischen Agenda in den kommenden
Jahren. Wir müssen die Weichen für die Energiewende
so stellen, dass sowohl wirtschaftliche als auch soziale
Aspekte einfließen. Die christlich-liberale Koalition
fährt mit Augenmaß und wirtschaftlichem Sachverstand.
Die Energiewende braucht eine breite Zustimmung in
der Bevölkerung. Auch dafür arbeiten wir als christlich-
liberale Koalition.
Der vorliegende Antrag der Grünen lässt das entwe-
der vermissen oder beschreibt Maßnahmen, die wir be-
reits umsetzen. Die Grünen wollen mit ihrer Regelungs-
wut ideologische Forderungen zulasten von Mietern,
Vermietern und Eigenheimbesitzern durchsetzen.
Sie fordern mehr Transparenz und wollen an der Aus-
gestaltung des Energieausweises herumfuhrwerken. Da-
für haben wir schon sehr gute und strenge Regeln. Schon
jetzt muss der Verkäufer auf Verlangen bei einem Eigen-
tümerwechsel den Energieausweis parat haben. Sie wol-
len den Energieausweis nun ab 2018 für alle Eigentümer
zur Pflicht machen und koppeln dies an eine Zwangsbe-
ratung. Das ist doch nur eine Arbeitsbeschaffungsmaß-
nahme für Energieberater und Bürokraten. Wir haben
hier bereits strikte Regeln, und die genügen.
Die Grünen sollten daran denken, dass das auch je-
mand kontrollieren muss. Dabei fordern Sie in dem An-
trag den Abbau von Kontrolldefiziten, und gleichzeitig
schaffen Sie mehr Kontrollbedarf. Das zeigt doch deut-
lich, in welche Richtung Ihr Antrag geht: Bevormun-
dung von Bürgern. Statt mehr Transparenz und Energie-
einsparung stehen unter dem Strich komplizierte
Kontrollmechanismen und mehr Bürokratie.
Bündnis 90/Die Grünen fordern einen Energiespar-
fonds von 3 Milliarden Euro jährlich. Das klingt beim
ersten Hören gut. Jedoch scheinen Sie bei den Haus-
haltsverhandlungen nicht dabei gewesen zu sein. Wir ha-
ben große Anstrengungen unternommen, um die Mittel,
die wir bereits bereitstellen, weiterhin bereitzustellen.
Wir haben die Programme für die energetische Sanie-
rung fortgeschrieben. 1,5 Milliarden Euro aus dem Ener-
gie- und Klimafonds stehen nicht nur für 2012, sondern
auch für 2013 und 2014 wieder für die CO2-Gebäudesa-
nierung zur Verfügung. Das ist Planungssicherheit.
Sie fordern mehr und mehr Geld, das Sie in einem
Fonds von den kleinen Leuten einsammeln wollen. Las-
sen Sie es bei den Hausbesitzern, damit die in ihr Ei-
gentum investieren können. Die von SPD und Grünen
regierten Länder lehnen Sonderabschreibungen für ener-
getische Sanierungen ab. Auch das würde vielen Priva-
ten helfen, die energetische Sanierung voranzutreiben.
Wirken Sie auf Ihre Kollegen in den Ländern ein, damit
wir hier endlich zu einem positiven Ergebnis kommen.
Im vorliegenden Antrag fordern die Grünen Mindest-
anteile für erneuerbare Energien, die gesetzlich festge-
legt sind und regelmäßig angehoben werden sollen. Was
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012 25923
(A) (C)
(D)(B)
sagen Sie dem Hausbesitzer, der diese Erzeugungsart
nicht wirtschaftlich nutzen kann? Was sagen Sie ihm,
wenn er sich das nicht leisten kann? All dies sind Fra-
gen, die Sie in Ihrem Antrag nicht beantworten.
Der Antrag der Grünen zeigt eines deutlich: Die Grü-
nen sind nicht nah am Menschen dran. Die Grünen wol-
len ideologische Ziele über die Köpfe der Bürger in un-
serem Land hinweg umsetzen. Sie denken nicht an die
sozialen Folgen. Es hilft nicht, wenn im Antrag hier und
da das Wort „sozial“ eingestreut wird. Genaue Angaben
zur Ausgestaltung des Marktanreizprogrammes und zur
Umgestaltung des Wohngeldes zu einem Klimawohn-
geld machen Sie nicht. Es bleibt bei vagen Hinweisen.
Eine sachliche Fundierung bleiben Sie hier schuldig.
Lassen Sie mich noch auf einen Detailpunkt einge-
hen: Die Grünen fordern, dass ab dem Jahr 2015 neue
Ölheizungen durch Erneuerbare-Energien-Anlagen er-
setzt werden. Wir halten an unserem Grundsatz fest, dass
die Akteure selbst die für sie geeigneten Technologien
auswählen.
Wir haben als CDU/CSU mit dem Energiekonzept im
Herbst 2010 die Ziele klar formuliert und werden sie in
der christlich-liberalen Koalition umsetzen. Wir wollen
maßvoll fordern und zielgerichtet fördern. Die Einhal-
tung des Wirtschaftlichkeitsgebotes sorgt für soziale Ge-
rechtigkeit. Technologieoffenheit in der Anwendung
sorgt für Wirtschaftlichkeit.
Wir wissen, dass unsere Ziele 20 Prozent weniger Pri-
märenergie bis 2020 und 80 Prozent weniger bis 2050
sehr anspruchsvoll sind. Menschen aber mit überzoge-
nen Maßnahmen zu verprellen und damit die gesamtge-
sellschaftliche Akzeptanz für die Energiewende zu ge-
fährden, ist nicht unser Weg. Wir werden die Bürger vor
den überzogenen Forderungen der Grünen schützen.
Ideologische Bevormundung von oben lehnen wir ab.
Daher ist dieser Antrag für uns nicht tragbar. Wir lehnen
ihn ab!
Karl Holmeier (CDU/CSU): Ich denke, wir sind uns
unter den Baupolitikern aller Fraktionen weitgehend ei-
nig, dass die energetische Modernisierung des Gebäude-
bestandes in der Wohnungs- und Städtebaupolitik
oberste Priorität haben muss. Denn das Einsparpotenzial
ist hier enorm. Der zur Debatte stehende Antrag betont
insofern auch zu Recht, dass rund 40 Prozent des gesam-
ten Energieverbrauchs in Deutschland auf das Heizen
und Kühlen von Gebäuden entfällt. Dies müssen wir
dringend ändern. Daher auch mein ständiger Appell:
Energie, die gar nicht erst verbraucht wird, ist immer
noch die beste; denn sie braucht erst gar nicht erzeugt zu
werden. Wir sind uns sicherlich auch darüber einig, dass
wir hier vor gewaltigen Herausforderungen stehen.
Wo wir uns aber ganz offensichtlich nicht einig sind,
ist der Weg, auf dem das gemeinsame Ziel einer signifi-
kanten Steigerung der Energieeffizienz im Gebäude-
bestand erreichen wollen. Der Weg, den die christlich-
liberale Koalition eingeschlagen hat, ist realistisch.
Der Weg, den die Grünen beschreiten wollen und den
sie mit dem vorliegenden Antrag untermauern, führt hin-
gegen in die Irre. Sie wollen eine sozial gerechte und zu-
gleich wirtschaftliche Bestandssanierung – und dies bei
einer drastischen Verschärfung der Modernisierungs-
standards. Hierzu fordern sie natürlich auch wesentlich
mehr Geld aus dem Bundeshaushalt, obwohl ihnen an
anderer Stelle die Haushaltskonsolidierung nicht schnell
genug vorankommt. Meine sehr verehrten Kollegen von
den Grünen, es ist zwar bald Weihnachten; davon sollten
Sie sich aber nicht irritieren lassen. Wir sind hier im
Deutschen Bundestag und nicht bei „Wünsch dir was“.
Daher zurück zur Realität: Aus meiner und der Sicht
meiner Fraktion müssen sich die Maßnahmen zur Steige-
rung der Gebäudeeffizienz an drei wesentlichen Krite-
rien orientieren:
Erstens. Sie müssen vom Bundeshaushalt finanzierbar
sein, ohne die nachfolgenden Generationen zu belasten.
Zweitens. Sie dürfen die Menschen nicht überfordern,
das heißt die Standards dürfen nicht zu hoch sein, und es
darf keinen Sanierungszwang geben. Unsere Maxime
lautet: Anreiz statt Zwang! Denn wir wollen die Bürge-
rinnen und Bürger bei den Sanierungsmaßnahmen mit-
nehmen.
Und drittens müssen die Maßnahmen so angelegt
sein, dass die Häuslebauer, Hauseigentümer und Mieter
in der Lage sind, sich die Modernisierung auch leisten zu
können.
Das Energiekonzept der Bundesregierung und die da-
rauf aufbauenden Maßnahmen folgen diesem Dreiklang.
Darüber hinaus entwickelt Bundesbauminister Dr. Peter
Ramsauer zurzeit einen Sanierungsfahrplan für den Ge-
bäudebestand, der sich ebenfalls an diesen Kriterien
orientiert.
Außerdem kommt man auch nicht umhin, die bereits
auf den Weg gebrachten Maßnahmen der christlich-
liberalen Koalition anzuerkennen. Was haben wir bisher
erreicht?
Erstens. Wir haben beschlossen, das erfolgreiche
CO2-Gebäudesanierungsprogramm trotz schwieriger
Haushaltslage von 2012 bis 2014 jeweils mit einem Pro-
grammvolumen in Höhe von 1,5 Milliarden Euro fortzu-
setzen. Mit diesem Geld werden zinsverbilligte Kredite
sowie Zuschüsse für die energetische Gebäudesanierung
durch die bundeseigene Kreditanstalt für Wiederaufbau,
KfW, bereitgestellt. Die Höhe der Investitionszuschüsse
der KfW wurde mit Wirkung vom 1. Januar 2012 auf bis
zu 20 Prozent der Investitionssumme erhöht. Auch der
Zuschuss für Einzelmaßnahmen ist von 5 Prozent auf
7,5 Prozent gestiegen.
Dieses Programm ist eine klima- und wirtschaftspoli-
tische Erfolgsgeschichte. Seit dem Jahr 2007 wurden da-
mit über 1 400 Gebäude der sozialen und kommunalen
Infrastruktur saniert. Jährlich wurden bis zu 300 000 Ar-
beitsplätze im Mittelstand und Handwerk gesichert. Der
Förderhebel öffentlicher Mittel zu privaten Investitionen
beträgt hier durchschnittlich 1 : 12. Damit ist das CO2-
Programm ein echter Wirtschaftsmotor. Unser Ziel ist es
25924 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012
(A) (C)
(D)(B)
daher, dieses Programm kontinuierlich weiterzuentwi-
ckeln und gegebenfalls auch den Ersatzneubau für Ge-
bäude der sozialen und kommunalen Infrastruktur zu er-
gänzen.
Zweitens. Darüber hinaus gibt es seit Januar ein neues
KfW-Programm „Energetische Stadtsanierung“, für das
der Bund 2012 rund 70 Millionen Euro und 2013 sogar
100 Millionen Euro zur Verfügung stellt. Damit werden
Maßnahmen zum Quartiersmanagement für die Steige-
rung der Energieeffizienz vor allem in Altquartieren ge-
fördert.
Drittens: Außerdem haben wir als christlich-liberale
Koalition im Deutschen Bundestag ein Gesetz zur steu-
erlichen Förderung der energetischen Gebäudesanie-
rung beschlossen. Hier sind es jedoch die rot-grünen
Bundesländer, die sich aus der Verantwortung stehlen.
Wenn es Ihnen, liebe Kollegen von den Grünen, mit der
Gebäudesanierung wirklich ernst wäre, würden Sie auch
dort Flagge zeigen und dem Gesetz zustimmen. Statt-
dessen zeigen Sie nur mit dem Finger auf den Bund und
wollen ausschließlich ihn die Lasten für die Energie-
wende im Gebäudebereich tragen lassen. Verantwor-
tungsvolle Politik und Glaubwürdigkeit sehen anders
aus!
Viertens. Auch im Bereich des Mietrechts fördert die
christlich-liberale Koalition die energetische Gebäude-
sanierung. Mit unserem Entwurf für ein Mietrechtsände-
rungsgesetz sorgen wir dafür, dass das Mietrecht unter
Wahrung seines sozialen Charakters für energetische
Sanierungen investitionsfreundlicher wird. So sollen
beispielsweise Mieter künftig für eine Zeit von drei
Monaten energetische Modernisierungsmaßnahmen dul-
den müssen, ohne die Miete mindern zu können. Außer-
dem werden wir mit dem Gesetz Contracting-Modelle
im Mietwohnungsbereich ermöglichen.
Insgesamt sind wir also mit unseren Maßnahmen auf
einem sehr guten Weg zur Schaffung eines klimaneutra-
len Gebäudebestandes – und zwar ohne Zwang, ohne
starre und unrealistische Zielvorgaben sowie mit Augen-
maß und mit Rücksicht auf die nachfolgenden Genera-
tionen.
Der Antrag der Grünen erfüllt diese Kriterien leider
nicht. Er ist ein unseriöses Sammelsurium von Wunsch-
maßnahmen ohne Bezug zur Realität.
Michael Groß (SPD): Die Schlagzeilen zum Thema
Wohnen in den letzten Wochen spiegeln eindeutig die
Ängste vieler Menschen wider: Aufruhr am Rhein oder
drastische Mieterhöhungen in Neuperlach. Die Mieten
steigen in Wachstumsregionen und zumindest die soge-
nannte zweite Miete in ganz Deutschland. Eine Rentne-
rin berichtet von zwei Mieterhöhungen in den Jahren
2008 und 2012 um jeweils 20 Prozent. Mietsteigerungen
in Ballungszentren von 7 bis 10 Prozent sind keine Selten-
heit, auch weil zumindest in Ballungsräumen zu wenige
Wohnungen am Markt sind. Massiv steigende Stromkos-
ten werden aktuell umgesetzt und weiterhin prognosti-
ziert, aber auch für die Wärmeerzeugung benötigte Ener-
gie wird teurer.
„Stadtluft macht arm“ war in den letzten Wochen zu
lesen. Legt man die Einkommensentwicklung der letzten
zehn Jahre und den „Reichtums- und Armutsbericht“ der
Bundesregierung in seiner nicht zensierten Fassung zu-
grunde, sind inzwischen viele nicht mehr in der Lage,
neben den Kosten für das Wohnen und die Mobilität
große Sprünge zu machen. Circa 30 bis 50 Prozent des
zur Verfügung stehenden Haushaltseinkommens müssen
durchschnittlich für das Wohnen aufgebracht werden,
15 Prozent für die Mobilität bei Fahrten zur Arbeit, zur
Schule oder zu Freunden und in die Vereine.
Nachhaltiges politisches Handeln hat den Gleich-
klang von sozialen, ökonomischen und ökologischen
Zielsetzungen zur Grundlage. Gesellschaftliche Verwer-
fungen und ökologischer Nachholbedarf werden nicht
allein über Wohnungsbaupolitik, Städtebauförderung
und das Mietrecht zu korrigieren sein. Aber wir müssen
soziale Trennung und Klimasegregation verhindern.
Das Mietrecht ist auf keinen Fall der Hebel, um Kli-
maschutzziele zu erreichen. Das Mietrecht muss in sei-
ner sozialen Funktion erhalten bleiben. Das Mietrecht ist
der Ort, um eine soziale Balance zwischen Vermietern
und Mietern sicherzustellen.
Investoren müssen dennoch ebenso motiviert wie der
Mieter vor überhöhten Mieten und Mietsteigerungen ge-
schützt werden. Die SPD-Fraktion hat dazu einen eige-
nen Antrag vorgelegt. Wichtig ist, dass bei energetischen
Gebäudesanierungen der Mieter Energieeinsparungen tat-
sächlich feststellt und erst dann auch eine erhöhte Miete
gerechtfertigt ist.
Auf der Grundlage aller vorliegenden Berechnungs-
modelle wird der Mieter allerdings nie so viel Heiz- und
Nebenkosten einsparen können, wie ihn eine Mieter-
höhung gegebenenfalls mehr belasten wird. Im Rahmen
einer durchschnittlichen Mietdauer von sieben Jahren
und bei durchschnittlichen Investitionskosten im durch-
schnittlichen Wohnungsbestand wird sich eine größere
Investition für den Mieter nicht amortisieren. Eine Voll-
sanierung einer 60-Quadratmeter-Wohnung in einem in
den 60er-Jahren gebauten Haus bedeutet eine Mietstei-
gerung von 2,50 Euro pro Quadratmeter und damit eine
um 150 Euro höhere Miete im Monat. Dem steht eine
Energiekosteneinsparung von etwa 40 Euro gegenüber.
Um diese große Differenz abzufedern, sind verläss-
liche und planbare Förderprogramme des Bundes erfor-
derlich. Die Mieter müssen vor zu hohen Kosten ge-
schützt werden. Das Wohngeld ist anzupassen und der
Heizkostenzuschuss wieder einzuführen. Auch diejeni-
gen, die über wenig Einkommen verfügen oder von
Transferleistungen leben müssen, dürfen nicht in energe-
tisch unsanierte Quartiere verdrängt und müssen für das
eigene Energiesparen belohnt werden.
Gleichzeitig brauchen Vermieter und Investoren An-
reize, um die oft nicht wirtschaftlichen Investitionen zu
tätigen und sich daran zu beteiligen, Energieeffizienz
und CO2-Reduzierung voranzutreiben. Daher fordern
wir das energetische Gebäudesanierungsprogramm mit
2 Milliarden Euro im Haushalt fest zu verankern – ver-
lässlich und planbar!
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012 25925
(A) (C)
(D)(B)
Eine weitere Verschärfung des Ordnungsrechts im
Rahmen der Novellierung der Energieeinsparverordnung
2009 für den Bestand lehnt die SPD-Fraktion ab. Bereits
jetzt sind Wohnungswirtschaft, Eigentümer und Mieter
mit der Erfüllung der Anforderungen durch die beste-
henden Standards im Bestand an die wirtschaftliche und
finanzielle Belastungsgrenze gekommen. Vor diesem Hin-
tergrund weise ich darauf hin, dass es auf einen ganz-
heitlichen, technologieoffenen und quartiersbezogenen
Ansatz ankommt. Das Ziel kann nicht heißen, das letzte
Quäntchen aus den Gebäuden herauspressen, um für viel
Geld noch ein Minimum an CO2-Einsparung zu generie-
ren. Es ist wesentlich sinnvoller, die effizientesten Maß-
nahmen mit der Versorgung durch regenerative Energien
zu kombinieren.
Grundsätzlich stellen sich Fragen an die Datengrund-
lagen und die Technologien. Die theoretisch berechneten
Verbräuche für Häuser und Wohnungen vor den Sanie-
rungen sind höher als der tatsächliche Verbrauch. Aus-
wertungen nach der energetischen Sanierung ergaben im
Gegenzug, dass der tatsächliche Verbrauch höher war als
der vorher rechnerisch kalkulierte Bedarf.
Es richten sich außerdem noch offene Fragen an die
Baustoffe hinsichtlich des ökologischen Fußabdrucks in
Bezug auf Herstellung, Transport, Recycling, Brandge-
fahren und Gesundheitsgefährdung. Es muss mehr Geld
in die Forschung und städtebauliche Entwicklung inves-
tiert werden, damit zielsicher, effizient und effektiv saniert
werden kann. In einzelnen Städten liegen Erkenntnisse
vor, dass bereits durch die Optimierung vorhandener
Technik und kleinerer Maßnahmen 30 Prozent Energie-
einsparung zu erreichen sind.
Insgesamt müssen die Kommunen im Bereich der
Stadtentwicklung und im Wohnungsbau unterstützt wer-
den, um quartiersbezogene Ansätze gemeinsam mit an-
deren wichtigen Akteuren vor Ort umzusetzen. Viele
Städten und Gemeinden sind schon sehr weit. Sie wissen
am besten über den Wohnungsbestand und die Leis-
tungsfähigkeit der Vermieter und Mieter Bescheid. Sie
müssen und können sich umsetzbare Ziele setzen. Neben
der Energieeinsparung geht es aber auch um das soziale
Leben, den altersgerechten Umbau, Barrierearmut und
Inklusion. Jeder Euro kann nur einmal ausgegeben wer-
den, und Immobilien und ihr Umfeld müssen aus wirt-
schaftlichen Gesichtspunkten umfassend entwickelt wer-
den. Deshalb wollen wir die energetische Stadtsanierung
in die Städtebauförderung integrieren und diejenigen be-
lohnen, die sich auf einen abgestimmten, realistischen
Pfad einlassen. Einen großen Beitrag zur Energieeffi-
zienz und CO2-Reduzierung kann und muss darüber hi-
naus die dezentrale Energiegewinnung, -speicherung und
-versorgung leisten.
Wohnen ist Daseinsvorsorge. Die Menschen wollen
bezahlbar wohnen und in den Städten und Gemeinden
gut leben. Das ist die Aufgabe, der sich die SPD-Bun-
destagsfraktion stellt. Wir werden ein Leitprogramm
„Soziale Stadt“ mit einer wesentlich verbesserte Mittel-
ausstattung und einem vernünftigen ressortübergreifen-
den Ansatz weiterentwickeln sowie die Städtebauförde-
rung mit mindestens 700 Millionen Euro verlässlich
finanzieren und das Programm „Altersgerecht Um-
bauen“ wieder in den Bundeshaushalt integrieren. Die
Bezuschussungskomponente für diese Maßnahmen muss
hier wieder enthalten sein. Die zweckgebundene soziale
Wohnraumförderung ist auf dem jetzigen Niveau zu ver-
stetigen und als Kompensationszahlung des Bundes bis
2019 fortzuführen.
Sebastian Körber (FDP): Die heutige Debatte ver-
danken wir einem langen Antrag der Grünen zur Ener-
giewende im Gebäudebereich, von dem die Grünen
selbst salbungsvoll im Titel behaupten, er wäre „sozial
gerecht, umweltfreundlich, wirtschaftlich und zukunfts-
weisend“.
Sie behaupten darin unter anderem: „In allen Berei-
chen gibt es gravierende Defizite und falsche Weichen-
stellungen durch die Bundesregierung“. Also, liebe Kol-
legen der Grünen, die einzigen Defizite befinden sich in
Ihrer ideologischen Wahrnehmung und vor allem in Ih-
rem Gedächtnis. Die Wahrheit ist: Wir stehen heute hier,
weil diese Regierung nicht wie Sie nur geredet, sondern
gehandelt hat, weil Schwarz-Gelb die Energiewende ein-
geleitet hat und nicht Sie – und daran haben Sie bei den
Grünen auch bis heute zu kämpfen.
In dieser andauernden Sinnkrise ist Ihr Ansatz, um die
Energiewende im Gebäudebereich „zukunftsweisend
umzusetzen“, lediglich immer mehr Geld, Bürokratie
und Überwachung. Das ist nicht „zukunftsweisend“,
sondern selbst für grüne Verhältnisse mehr als rück-
schrittlich.
Besonders lächerlich wird es, wenn Sie am Anfang
zunächst der Bundesregierung fehlendes Handeln und
fehlende Konzepte vorwerfen und dann im Zuge des An-
trags seitenweise auf die zahlreichen Initiativen dieser
Regierung im Gebäudebereich kleinlaut eingehen und
daran rumnörgeln. Wer hat also gehandelt und auch die
Energiewende im Gebäudebereich voran-getrieben?
Diese schwarz-gelbe Koalition!
Sie wollen sich vor den Wahlen schnell den Mantel
der bürgerlichen Mitte umhängen; in Wirklichkeit täu-
schen Sie die Menschen: Sie sind nicht bürgerlich; Sie
wollen den Einstieg in den ökologischen Überwachungs-
staat – kaum ein Absatz in Ihrem Antrag ohne die Zu-
sätze „verpflichtend“, „verbindlich“, „vorschreiben“,
„Verschärfung“, „Kontrolle“, – und das lehnen wir ent-
schieden ab.
Aber der Gipfel ist: Sie betreiben die dreisteste,
schlimmste Blockadepolitik im Bundesrat seit Lafontaine/
Schröder in den 90er-Jahren – im Bundestag immer mehr
fordern und im Bundesrat alles blockieren! Und Sie wa-
gen es, sich hier treuherzig hinzustellen und in diesen
Antrag zu schreiben: „Hinzu kommt, dass die Verhand-
lungen über den Steuerbonus für energetische Gebäude-
sanierungen von der Bundesregierung ausgebremst und
verzögert werden.“ Das ist ja geradezu grotesk. Wem wol-
len Sie denn das ernsthaft erzählen? Sie wissen es natür-
lich selbst besser.
Seit einem Jahr blockieren Sie zusammen mit der SPD,
vorneweg Herr Kretschmann und Frau Kraft – die SPD-
25926 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012
(A) (C)
(D)(B)
„Reserve-Kanzlerkandidatin“ der Herzen, falls Herrn
Steinbrück die Luft endgültig ausgeht. Da weiß Deutsch-
land, was ihm blüht, wenn nächstes Jahr Rot-Grün regie-
ren sollte.
Sie nehmen mit Ihrer Blockade alle Eigentümer und
Hausbesitzer in Deutschland in steuerpolitische „Geisel-
haft“. Ich fordere alle Hausbesitzer und Eigentümer auf,
Protestschreiben und Protest-E-Mails an Rot-Grün zu
schicken – insbesondere an Frau Kraft in Düsseldorf und
Herrn Kretschmann in Stuttgart – dessen grüner Infra-
strukturminister Hermann laut Bild gerade 200 000 Euro
in Teekücheninfrastruktur investiert; das zeigt, wie „gut“
Sie mit Steuergeld umgehen können.
Konzentrieren wir uns also auf die Fakten und nicht
auf grüne Wunschträume:
Auch in den Jahren 2013 und 2014 werden im Ener-
gie- und Klimafonds Programmmittel von jährlich
1,5 Milliarden Euro für das CO2-Gebäudesanierungspro-
gramm zur Verfügung stehen. Mit dem erfolgreichen
CO2-Gebäudesanierungsprogramm unterstützt die Bun-
desregierung bereits die Kommunen finanziell bei der
Finanzierung von energetischen Sanierungsmaßnahmen
bei Gebäuden der kommunalen Infrastruktur.
Zusätzlich werden mit dem von uns initiierten KfW-
Programm „Energetische Stadtsanierung“ umfassende
Maßnahmen mit Blick auf die Energieeffizienz und die
Infrastruktur im Quartier angestoßen. Wir wollen so er-
neuerbaren Energien breitere Einsatzmöglichkeiten in
innerstädtischen Altbauquartieren bieten, weitere Inves-
torengruppen in den Sanierungsprozess einbeziehen so-
wie Energieeinsparung und Baukultur besser in Einklang
bringen. Wieder so ein Fall: Sie lamentieren, wir würden
nichts tun; ja, wer hat es denn eingeführt? Union und
FDP!
Übrigens: Alle Vorschläge zur Begrenzung des
Mietanstiegs, die ich von Ihnen höre, gehen einseitig zu-
lasten des Vermieters und sind ungeeignet, Mietsteige-
rungen zu vermeiden und bezahlbaren Wohnraum zu er-
halten. Vielmehr besteht die Gefahr der Verstetigung von
Wohnraumknappheiten, wenn sich die Investitionsbedin-
gungen für den Mietwohnungsbau verschlechtern. Der
beste Mieterschutz ist, für ausreichend bezahlbaren
Wohnraum zu sorgen.
Wir müssen die energetische Modernisierung des Ge-
bäudebestandes stärker vorantreiben – aber nicht mit der
„Zwangskeule“, sondern nach dem Motto „Unterstützen
statt überfordern“. Die steuerliche Förderung von ener-
getischen Modernisierungsmaßnahmen im Gebäudebe-
stand ist zwingend. Wir werden Ihnen das so lange hier
vorhalten, bis Sie Ihre Blockade aufgeben. Der Gebäu-
debereich wird entscheidend zum Gelingen der Energie-
wende beitragen. Union und FDP setzen – im Gegensatz
zu den Grünen – die richtigen Rahmenbedingungen
durch Planungssicherheit für gewerbliche Investoren
und private Haushalte.
Heidrun Bluhm (DIE LINKE): Der verantwortungs-
volle Umgang mit unserer Umwelt, dem Klima und mit
den begrenzten Ressourcen der Erde ist unsere Pflicht
und unsere Schuldigkeit gegenüber unseren Kindern,
Enkeln und deren Kindern. Er ist zugleich eine hoch-
aktuelle, dringende Tagesaufgabe, weil schon viel zu
viel Zeit ungenutzt verstrichen ist und die Zeichen der
„menschgemachten“ Klimakatastrophe unübersehbar ge-
worden sind.
Die Linke bekennt sich programmatisch zu den inter-
nationalen Klimaschutzzielen und fordert von der Bun-
desregierung, ihre verbalen Verpflichtungen mit aktivem
politischem Handeln dauerhaft und verlässlich zu unter-
setzen. Wir unterstützen parlamentarische Initiativen,
die die Erreichung der international vereinbarten Klima-
ziele fördern wollen, wie der hier vorliegende Antrag
von Bündnis 90/Die GRÜNEN.
Wir sagen aber auch: Ohne breite Akzeptanz in der
Bevölkerung, ohne soziale Gerechtigkeit sind solche
parlamentarischen Aktionen nicht tragfähig und werden
daher unwirksam bleiben. Der Antrag führt zwar die
Worte „sozial gerecht“ im Titel, wenn man ihn sich aber
genauer anschaut, scheint das doch eher ein Feigenblatt
zu sein in einem Wust von technischen, ordnungsrecht-
lichen Forderungen und Regelungsvorschlägen. So rich-
tig und berechtigt die Forderungen in ihrer Zielsetzung
auch sein mögen, sie werden unerfüllbar bleiben, wenn sie
den Betroffenen – das sind in diesem Falle 81 Millionen
Bewohnerinnen und Bewohner der Bundesrepublik –
von „oben“ übergestülpt werden, ohne dass die sozialen
Interessen aller Beteiligten ausgewogen berücksichtigt
werden.
Um es konkret zu machen: In keinem anderen Be-
reich sind die Wohnkosten so schmerzhaft gestiegen wie
bei den Kosten für Heizung, Strom und warmes Wasser.
Die energiepolitische Wende ist daher schlicht auch not-
wendig, um den Anteil der Wohnkosten an den Haus-
haltseinkommen überhaupt noch schultern zu können
– übrigens nicht nur der Mieterinnen und Mieter, son-
dern auch sehr vieler Eigenheimbesitzer, für die ihr
Häuschen aus der gedachten Altersvorsorge zu einem
Armutsrisiko wird.
Umsonst ist die Energiewende im Gebäudebestand
nicht zu haben. Das wissen und akzeptieren wir. Wir ak-
zeptieren daher auch, dass neben dem Staat und den
Wohnungseigentümern auch die Mieterinnen und Mieter,
die das wirtschaftlich tragen können, an den Kosten der
Klimainvestitionen zu beteiligen sind. Um es mit dem
DMB auszudrücken: „Die Mehrzahl der Mieter ist nicht
arm. Aber die Menschen in den unteren Einkommens-
gruppen sind fast ausschließlich Mieterinnen und Mieter.“
Die Folgerung aus dieser These darf aber nicht sein –
wie man das gelegentlich aus der anderen Richtung der
Wohnungswirtschaft hört –, dass man einen gewissen
Teil unsanierten und damit angeblich preiswerten Wohn-
raums für diesen Bevölkerungsteil vorhalten müsse. Die
Forderung, man solle nicht „preiswerten Wohnraum
wegsanieren“ ist nicht nur zynisch, sie ist auch wirt-
schafts- und erst recht sozialpolitisch völlig inakzepta-
bel.
In den energetisch unsanierten Gebäuden wohnen die
meisten Menschen mit niedrigen Einkommen. Wenn die
Heiz- und Warmwasserkosten dort aufgrund steigender
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012 25927
(A) (C)
(D)(B)
Energiepreise das Niveau der Nettokaltmieten erreichen,
dann sind es die Einkommensschwächsten, die die
höchsten Rechnungen für eine unterlassene energetische
Ertüchtigung zahlen müssen. Die energetische Wende
kann nicht gelingen, wenn Menschen auf diese Weise
ausgegrenzt werden oder wenn die Kosten von Moderni-
sierungsmaßnahmen zu Armutsrisiken oder zu sozialer
Spaltung in den Städten und Wohnquartieren führen. Ge-
rade deshalb müssen alle Maßnahmen für einen konse-
quenten Klimaschutz sehr ernsthaft mit flankierenden
sozialen Maßnahmen verbunden werden. Die energeti-
schen Sanierungsmaßnahmen sind in dem notwendigen
und rechtsverbindlich vorgegebenen Rahmen ohne mas-
sive staatliche Beteiligung völlig undenkbar.
Schon deshalb müssen Fördermaßnahmen nicht allein
an ihrem finanziellen Umfang bemessen werden, son-
dern an ihren Wirkungen. Staatliche Förderung energeti-
scher Sanierung muss in erster Linie an den erzielten
Energieeinsparungseffekten orientiert sein, nicht an den
Investitionskosten. Das heißt: Besonders effiziente ener-
getische Sanierung muss auch besonders intensiv geför-
dert werden. Die Forderung nach der Wirtschaftlichkeit
energetischer Sanierungsmaßnahmen muss für beide
Seiten, für Vermieter und Mieter, gelten. Das heißt, vor-
rangig solche Maßnahmen zu fördern, die die beste Kos-
ten-Nutzen-Relation nachweisen.
Warmmietenneutralität ist in der Regel nicht ohne öf-
fentliche Förderung möglich. Das heißt: Was der Mieter
bei der durch die Modernisierungsumlage steigenden
Kaltmiete nicht aus Energiekostenersparnis „erwirt-
schaften“ kann, muss durch öffentliche Förderung aufge-
fangen werden. Wir unterstützen deshalb auch die – in
diesem vorgelegten Antrag enthaltene – Forderung des
Deutschen Mieterbundes nach Einführung eines „Klima-
wohngeldes“, also einer zusätzlichen Kategorie im
Wohngeld, die es berücksichtigt, wenn aufgrund einer
energetischen Sanierung die Miete höher ist als ohne
diese Sanierungsmaßnahme.
Unterm Strich: Politik kann genaue Gesetze, Verord-
nungen, Durchführungsbestimmungen, Regeln und Aus-
nahmebestimmungen erlassen. Aber bei allem gilt: Jedes
mit Gesetzen, Verordnungen usw. fixierte Ziel wird nur
erreicht werden, wenn ihm eine adäquate Finanzausstat-
tung zugrunde gelegt wird. Vermieter werden ihre Inves-
titionsentscheidungen nicht von internationalen Klima-
schutzzielen abhängig machen, sondern von der zu
erzielenden Rendite an ihrem konkreten Investitions-
standort. Mindestens aber wollen sie nicht draufzahlen.
Mieter haben nicht plötzlich mehr Einkommen zur Ver-
fügung, weil eine neue Energieeinsparverordnung in
Kraft tritt. Nur die Politik, der Staat, kein anderer Betei-
ligter kann diesen Interessenkonflikt wenn schon nicht
auflösen, dann doch wenigstens ausgleichen. Dazu muss
er aber zuallererst die soziale Dimension des Klima-
schutzes im Auge haben und darf Förderung nicht nach
Kassenlage, an Umfragewerten oder an Lobbyinteressen
ausrichten. Wenn die finanzielle Ausstattung der Förder-
programme einschließlich des EKF sich an den selbstge-
steckten Klimaschutzzielen orientiert und der Einsatz
der Fördermittel sich ausschließlich am Grad der erziel-
ten Steigerung der Energieeffizienz ausrichtet, dann
kann – und das muss es auch unter Klimaschutzerforder-
nissen – Wohnen in Deutschland auf Dauer bezahlbar
bleiben.
Daniela Wagner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Deutschland hat sich international verpflichtet, den Aus-
stoß von Klimagasen hierzulande um mindestens 40 Pro-
zent bis 2020 und um 95 Prozent bis 2050 zu senken.
Dennoch ist die Bundesregierung anscheinend in einem
Winterschlaf gefangen. Ausreichende Förderung der
energetischen Gebäudesanierung? Steuerliche Förderung
der energetischen Gebäudesanierung? Mietrechtsnovelle?
Baugesetzbuchnovelle? Soziale Wohnraumförderung?
Städtebauförderung? Fehlanzeige! Zielführende Politik
sieht so nicht aus.
In der Summe führen die Defizite und Fehlsteuerun-
gen bei der Gebäudesanierung dazu, dass Deutschland
das EU-Einsparziel von 20 Prozent bis 2020 weit verfeh-
len wird. Die Bundesregierung hat nach Brüssel gemel-
det, dass bis 2020 der Energieverbrauch gegenüber 2008
um lediglich 12,8 Prozent gesenkt werden könne. Damit
fällt Deutschland deutlich hinter Länder wie Frankreich
oder Spanien zurück.
In ihrem eigenen Energiekonzept hat die Bundesre-
gierung eine Senkung um 20 Prozent des Primärenergie-
verbrauchs für den gleichen Zeitraum beschlossen. Eine
Gesamtstrategie für die Energiewende im Gebäude-
bereich ist dringend notwendig, sollen die Klimaschutz-
ziele erreicht, die ökonomischen Potenziale erschlossen
und die Sozialverträglichkeit gesichert werden. Die Bun-
desregierung muss endlich eine konsistente Strategie für
die sozialverträgliche Sanierung des Gebäudebestands
mit dem Ziel eines klimaneutralen Gebäudebestands bis
2050 entwickeln und konsequent verfolgen, wenn sie die
Klimaziele erreichen will.
Wir Grüne haben ein Maßnahmenpaket mit mehreren
Aktionsbereichen vorgeschlagen. Im ersten Aktionsbe-
reich ist dringend mehr Transparenz hinsichtlich des
energetischen Standards von Gebäuden und Wohnungen
herzustellen. Wir Grüne schlagen daher vor, die Energie-
ausweise für Gebäude zu vereinheitlichen und auf den
Bedarfsausweis zu beschränken, der den Energiebedarf
des Gebäudes unabhängig vom Nutzerverhalten dar-
stellt. Der Bedarfsausweis ist in seiner heutigen Form
konzeptionell zu überarbeiten, zu erweitern und verbrau-
cherfreundlicher und aussagekräftiger zu gestalten. Dazu
sollte er auf sicheren, nachvollziehbaren und überprüf-
baren Berechnungen basieren und zum Beispiel um die
Angabe des Energieverbrauchs der letzten Verbrauchs-
abrechnungen ergänzt werden.
Der Bedarfsausweis sollte verpflichtend an eine Vor-
Ort-Energieberatung geknüpft sowie um einen individu-
ellen Modernisierungsfahrplan mit konkreten Moderni-
sierungsempfehlungen für die Eigentümer ergänzt wer-
den. Dieser Ausweis sollte bei Immobilieninseraten,
Eigentümerwechsel, EnEV-relevanten Sanierungen so-
wie zur Beantragung von Fördergeldern verpflichtend
vorgeschrieben werden. Es sollte verbindlich vorge-
schrieben werden, dass der Ausweis ab 2015 bei neuen
25928 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012
(A) (C)
(D)(B)
Vermietungen und ab 2018 für alle Gebäude an Mieter
ausgehändigt werden muss.
Für die schrittweise Einführung des neuen Bedarfs-
ausweises sollten entsprechend Fördermittel bereitge-
stellt werden, wobei diejenigen, die früh aktiv werden,
besonders von der Unterstützung profitieren sollen.
Wir fordern die Bundesregierung auf, die mithilfe der
Bedarfsausweise ermittelten energetischen Kennzahlen
unter Wahrung datenschutzrechtlicher Bestimmungen in
einer Datenbank zu sammeln, um sukzessive den ener-
getischen Zustand des Gebäudebestands zu erfassen und
ein Monitoring zu ermöglichen. Diese Datenbank kann
auch von Kommunen genutzt werden, etwa um Moder-
nisierungsmaßnahmen zu planen oder ökologische Miet-
spiegel, die den energetischen Zustand der Gebäude ent-
halten, zu erstellen.
Im zweiten Aktionsbereich sollten die Mindeststan-
dards für die energetische Modernisierung angehoben
werden. Der derzeit gültige Energiestandard von 90 bis
100 Kilowattstunden Energiebedarf für Wärme und
Kühlung, Kilowattstunden pro Quadtratmeter und Jahr,
soll bei Sanierung bis 2020 schrittweise auf 70 Kilowatt-
stunden angehoben werden – 7-Liter-Haus.
Bevor Sie jetzt wieder mit Zwangssanierung kom-
men: Dieser Standard muss nur eingehalten werden
– wie bereits heute in EnEG und EnEV vorgesehen –,
wenn überhaupt saniert wird und die Sanierung wirt-
schaftlich darstellbar ist. Die Umstellung auf erneuer-
bare Energien bei der Einhaltung der Mindeststandards
sollte mit Energieeffizienzmaßnahmen gekoppelt wer-
den. Maßnahmen der energetischen Quartierssanierung
sind leichter anzuerkennen, sofern diese mit Energieeffi-
zienzmaßnahmen am einzelnen Gebäude einhergehen.
Hinsichtlich des Erhalts von Baukultur sagen wir,
dass Ausnahmeregeln für denkmalgeschützte Gebäude
sowie für städtebaulich oder architektonisch besonders
erhaltenswerte Gebäude weiterhin vorzusehen sind.
Soweit es ihre städtebauliche Bedeutung zulässt, sol-
len bei der Sanierung ökologische Ziele berücksichtigt
werden; Ausnahmetatbestände für Bestandsgebäude, die
nicht unter Denkmalschutz stehen oder als baukulturell
erhaltenswerte Gebäude gelten, wollen wir auf den Prüf-
stand stellen.
Klar ist: Die Verschärfung der EnEV-Standards ist mit
der gleichzeitigen Bereitstellung ausreichender Förder-
mittel zu flankieren, um einen Modernisierungsstau zu
vermeiden. Auch ist mittelfristig die Wirtschaftlichkeits-
definition im Energieeinsparungsgesetz, EnEG, zu über-
arbeiten, sodass die Anforderungen der EU-Gebäude-
richtlinie zur Berechnung kostenoptimaler Niveaus
berücksichtigt werden.
Im dritten Aktionsbereich ist akut die Förderung des
Energiesparens und der Effizienz neu auszurichten. Wir
Grünen wollen die finanzielle Ausstattung der Förder-
programme zur Gebäudemodernisierung auf 2 Milliar-
den Euro per anno anheben, auf diesem Niveau versteti-
gen und wieder in den Bundeshaushalt überführen. Die
unsichere Finanzierung der CO2-Gebäudesanierungspro-
gramme der KfW über den Energie- und Klimafonds
bringen uns nicht weiter.
Weiterhin ist ein neuer Energiesparfonds mit einem
Finanzvolumen von 3 Milliarden Euro jährlich aufzule-
gen sowie zu einer zielgerichteten und dauerhaften Effi-
zienzinitiative auszubauen.
Der Fonds soll dazu beitragen, den Strom- und Wär-
meverbrauch zu senken und folgende Förderprogramme
umfassen: Energieberatung und Informationen verbes-
sern und die Erstellung von Energiebedarfsausweisen für
jedes Wohngebäude fördern; energetische Modernisie-
rung insbesondere in Wohnquartieren mit hohem Anteil
einkommensschwacher und investitionsschwacher Haus-
halte erhöhen; Stromeffizienz besonders sparsamer
strombetriebener Geräte fördern, insbesondere in ein-
kommensschwachen Haushalten; weitere Fondsmittel
sollen für die Modernisierung öffentlicher Gebäude so-
wie für die Einführung eines Klimawohngeldes zur Ver-
fügung stehen, mit dem soziale Härten im Zuge der Mo-
dernisierung verhindert werden. Zusätzlich ist eine
steuerliche Förderung der energetischen Modernisierung
so auszugestalten, dass sie sozial gerecht ist, einen zu-
sätzlichen Modernisierungsanreiz für selbstnutzende Ei-
gentümerinnen und Eigentümer darstellt, den Klimazie-
len gerecht wird und die bestehenden CO2-Gebäude-
modernisierungsprogramme der KfW sowie den grünen
Energiesparfonds ergänzt.
Auch sollte sich die Bundesregierung dafür einzuset-
zen, dass auch zukünftig aus dem Europäischen Fonds
für regionale Entwicklung, EFRE, die Steigerung von
Energieeffizienz und erneuerbaren Energien im Woh-
nungsbestand förderfähig bleibt und die Begrenzung der
Höchstsumme von 4 Prozent der nationalen EFRE-Mit-
tel in eine Mindestsumme umgewandelt wird.
Der vierte Aktionsbereich zielt darauf, endlich die
Nutzung erneuerbarer Wärme voranzutreiben. Hierzu
sollte die Bundesregierung das EEWärmeG über Neu-
bauten hinaus auf den Gebäudebestand sowie auf öffent-
liche Gebäude ausweiten. Die gesetzliche Verpflichtung
zum Einsatz erneuerbarer Energien muss entsprechend
beim Neubau sowie bei Modernisierungen und Aus-
tausch bestehender Heizungsanlagen greifen.
In den gesetzlichen Standard für den Einsatz erneuer-
barer Energien ist ein Deckungsanteil von 20 Prozent bei
Neubauten und 10 Prozent bei Bestandsbauten am jährli-
chen Wärmebedarf festzuschreiben. Der Standard wird
entsprechend der Marktentwicklung regelmäßig angeho-
ben. Dazu ist im Gesetz alle fünf Jahre eine Steigerung
um 10 Prozent bei Neubauten und 5 Prozent bei Altbau-
ten vorzusehen;
Es sollten jene Gebäude von der gesetzlichen Pflicht
befreit werden, die die jeweils gültigen Bestimmungen
der Energieeinsparverordnung um mindestens 50 Pro-
zent übererfüllen, sowie sporadisch genutzte Gebäude
und Gebäude mit einer Nutzfläche von unter 50 Quadrat-
metern.
In dem Gesetz sollte die maximale CO2-Reduktion in
den Mittelpunkt gestellt werden und deshalb eine Ver-
drängung neuer Ölheizungen ab dem Jahr 2015 durch
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012 25929
(A) (C)
(D)(B)
Erneuerbare-Energien-Anlagen als Ziel gesetzt werden.
Dies ist bei der Ausgestaltung der Förderrichtlinien zu
beachten.
Die Erschwernisse einkommensschwacher Haushalte
und investitionsschwacher Eigentümerinnen und Eigen-
tümer sind in dem Marktanreizprogramm für erneuerbare
Energien, MAP, stärker zu berücksichtigen.
Begleitend zum EEWärmeG sollte die Förderung der
saisonalen Wärmespeicherung und des Ausbaus der Wär-
menetze mit besonderem Augenmerk auf Nahwärmenetze
ausgedehnt werden. Auch ist parallel zum EEWärmeG
das Mietrecht so zu ergänzen, dass die Umstellung auf er-
neuerbare Wärme mit Maßnahmen zur Effizienzsteige-
rung einhergeht.
Im fünften Aktionsbereich sollten die energetische
Sanierung des Gebäudebestands wohnungspolitisch und
mietrechtlich unterstützt sowie die soziale Entmischung
in unseren Städten aufgehalten werden. Daher sollte die
Bundesregierung im Rahmen der aktuellen Mietrechts-
novelle die Modernisierungsumlage auf 9 Prozent absen-
ken und auf die energetische Modernisierung sowie den
altersgerechten bzw. barrierefreien Umbau konzentrie-
ren.
Die Bundesregierung sollte zusätzlich die Aufnahme
der energetischen Gebäudebeschaffenheit in die ortsübli-
che Vergleichsmiete stärker unterstützen. Wichtig wäre
es, festzulegen, dass durch energetische Modernisierun-
gen Primär- und Endenergie eingespart wird, damit
Mieterhöhungen durch Heizkostenersparnisse refinan-
ziert werden können. Ergänzend hierzu sollten energeti-
sche Modernisierungen gegenüber anderen Modernisie-
rungsmaßnahmen bei den Duldungsbestimmungen privi-
legiert werden.
Weiterhin wäre es zielführend, das Bürgerliche Ge-
setzbuch, Mietrecht, Baugesetzbuch und Wirtschafts-
strafgesetzbuch entsprechend den Anträgen auf den
Drucksachen 17/7983 und 17/10120 zu ändern und wei-
terzuentwickeln.
Den Ländern ist endlich ein ernsthaftes und annehm-
bares Angebot zu unterbreiten, das eine Verstetigung der
Finanzhilfen nach Art. 143 c des Grundgesetzes für die
soziale Wohnraumförderung bis zum 31. Dezember
2019 zweckgebunden vorsieht.
Sie haben den Heizkostenzuschuss im Wohngeld ab-
geschafft. Das wäre nur sinnvoll gewesen, wenn Sie ihn
schrittweise in einen Klimazuschuss als Bestandteil des
Wohngeldes weiterentwickelt hätten.
Das Wohngeld ist endlich bedarfsgerecht weiterzu-
führen und zu einem Klimawohngeld weiterzuentwi-
ckeln. Im Rahmen des Klimawohngeldes wird ein Kli-
mazuschuss für energetisch sanierte Wohnungen
eingeführt, um einkommensschwache Haushalte zu un-
terstützen. Der § 5 des Wirtschaftsstrafgesetzes, WiStG,
sollte so ausgestaltet werden, dass er auf die bezirks- und
quartiersspezifischen Entwicklungen der Kommunen
stärker eingeht und die Wesentlichkeitsgrenze abgrenzt.
Ergänzend hierzu sind die §§ 142 und 144 – Sanie-
rungssatzung – sowie 172 – Erhaltungssatzung – des
Baugesetzbuchs, BauGB, dahin gehend zu ergänzen,
dass bei der Ausweisung von Sanierungs- und Milieu-
schutzgebieten die Möglichkeit von Mietobergrenzen
wieder zugelassen werden können.
Herr Bundesbauminister, wachen Sie endlich aus Ih-
rem bau- und wohnungspolitischen Winterschlaf auf!
Schützen Sie Mieterinnen und Mieter vor steigenden Ne-
ben- und Heizkosten sowie daraus folgender Energiear-
mut. Bewahren Sie Immobilienbesitzerinnen und Immo-
bilienbesitzer vor einer langfristigen kalten Enteignung
ihrer unsanierten Gebäude über steigende Energiepreise.
Anlage 8
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfah-
rens und zur Stärkung der Gläubigerrechte (Ta-
gesordnungspunkt 18)
Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU): Das
Insolvenzrecht beschäftigt uns in dieser Wahlperiode als
Daueraufgabe. Nach dem ESUG, das in den vergangenen
Monaten den ersten Praxistest durchlaufen hat, haben
wir kürzlich die Entfristung der Regelung zum Über-
schuldungsbegriff beschlossen, um den Unternehmen an
dieser Stelle die nötige Rechtssicherheit für die Zukunft
zu geben.
Mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Ver-
kürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens und zur
Stärkung der Gläubigerrechte greifen wir nun ein Projekt
aus dem Koalitionsvertrag auf. Eine Vereinbarung über
eine schnellere Möglichkeit zur privaten Entschuldung
findet sich hier, allerdings im Kapitel über die Wirt-
schaftspolitik. Für uns als federführende Rechtspolitiker
war das zunächst einmal überraschend. Das Anliegen,
Unternehmen im Fall des Scheiterns ihrer Geschäftsidee
einen schnelleren Fresh Start zu ermöglichen, ist aber
auch für die Rechtspolitiker sicher nachvollziehbar. Wir
haben alle ein Interesse daran, dass immer wieder Men-
schen mit guten Geschäftsideen ein Wagnis eingehen,
auch wenn ein Teil von ihnen mit dieser Geschäftsidee
scheitert. Es ist gut, wenn sie die Chance erhalten, in an-
gemessener Zeit wieder wirtschaftlich handlungsfähig
zu werden und etwas Neues zu beginnen.
Nun legt die Bundesregierung einen Gesetzentwurf
vor, der sich über diese ursprüngliche Intention hinaus
nicht nur auf Unternehmer, sondern auf alle privaten
Schuldner erstreckt. Auch das ist plausibel; denn in der
Tat ist eine verfassungsmäßig haltbare Abgrenzung zwi-
schen den einen und anderen Schuldnern sehr problema-
tisch. Wir wissen außerdem, dass auch unter den priva-
ten Schuldnern vielfach schicksalhafte Entwicklungen
wie Arbeitslosigkeit Ursache der Überschuldung sind;
oft auch Trennung und Scheidung – das möchte ich zwar
nicht per se als „schicksalhaft“ bezeichnen. Es zeigt sich
aber, dass die Probleme zumeist nicht in einem allzu
leichtfertigen Umgang mit Geld liegen, sondern andere,
oft einmalige Ursachen im Lebensverlauf haben. Oft ge-
25930 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012
(A) (C)
(D)(B)
hen dem Antrag auf ein privates Insolvenzverfahren und
Restschuldbefreiung bereits Jahre voraus, in denen der
Schuldner und gegebenenfalls auch seine Familie sich
wegen der Schulden sehr stark einschränken müssen –
mit allen Begleiterscheinungen für die Lebensgestal-
tung, aber auch Ausweichreaktionen in Richtung
Schwarzarbeit. Es ist deshalb ein richtiger Ansatz, wenn
durch eine angemessene Regelung zur Restschuldbefrei-
ung eine Perspektive für einen Neuanfang geschaffen
wird.
Es gibt aber auch die andere Seite: Der Grundsatz
„pacta sunt servanda“ hat ebenfalls eine hohe Bedeutung
und verlangt grundsätzlich, dass eingegangene Ver-
pflichtungen zu erfüllen sind. Beides muss gegeneinan-
der abgewogen werden. Die Bundesregierung schlägt
uns hier eine Verkürzung der Wohlverhaltensperiode auf
drei Jahre vor, wenn im Insolvenzverfahren zumindest
25 Prozent der Schulden beglichen werden, auf fünf
Jahre, wenn zumindest die Verfahrenskosten gedeckt
werden. Die bereits vorliegenden Stellungnahmen zei-
gen: Das ist den einen nicht weitreichend genug, den an-
deren geht der damit verbundene Einschnitt in die Posi-
tion der Gläubiger schon zu weit. Hier muss man gut
überlegen, ob diese Hürde für alle Fälle sachgerecht ist,
oder ob es weitere Möglichkeiten der Differenzierung
geben sollte – etwa dort, wo auch der redliche Schuldner
bei bestem Willen eine solche Quote nicht erfüllen kann
oder wo auf der anderen Seite ein beschleunigtes „Frei-
kaufen“ von leichtsinnig aufgehäuften Konsumschulden
mit 25 Prozent allzu einfach erscheint.
Der Ansatz, mit einer bestimmten Mindestquote einen
Anreiz zu setzen, der zu einem frühzeitigen Insolvenzan-
trag und unter Umständen auch zu überobligatorischen
Bemühungen um die Erfüllung einer solchen Quote
führt, die weit über den heute durchschnittlich erzielten
Quoten liegt, erscheint jedenfalls zunächst einmal plau-
sibel, und wir werden das konstruktiv prüfen.
Das Gesetzgebungsverfahren greift weitere wichtige
Punkte zur Verbesserung des Restschuldverfahrens auf.
Eine wichtige Stärkung der Gläubigerrechte liegt darin,
dass Anträge auf Versagung der Restschuldbefreiung
künftig nicht mehr nur im Schlusstermin geltend ge-
macht werden können. Entscheidend ist, dass sie bis da-
hin zumindest schriftlich vorliegen müssen; bei später
bekanntwerdenden Gründen ist auch die nachträgliche
Geltendmachung noch möglich. Ärgerliche Fälle, in de-
nen auch unredliche Schuldner Restschuldbefreiung er-
langen konnten, weil die Gläubiger den Aufwand der
Antragstellung im Schlusstermin scheuten, sind damit
für die Zukunft ausgeschlossen. Eine Stärkung der Er-
werbsobliegenheiten des Schuldners im Insolvenzver-
fahren und seiner Auskunfts- und Mitwirkungspflichten
erscheinen ebenfalls gerecht und sinnvoll und stärken
die Rechte der Gläubiger.
Erklärtes Ziel des Gesetzentwurfs ist außerdem die
Stärkung des außergerichtlichen Einigungsversuchs.
Hier leisten die Schuldnerberatungsstellen oft eine sehr
gute Arbeit, in der neben der Klärung der persönlichen
Finanzlage auch viel Lebenshilfe geboten wird. Die
Schuldnerberatungsstellen weisen allerdings darauf hin,
dass das Ziel einer Stärkung der außergerichtlichen Eini-
gung durch den Wegfall der gerichtlichen Zustimmungs-
ersetzung aus ihrer Sicht gefährdet erscheint. Dies und
die weiteren Vorschläge der sogenannten Stephan-Kom-
mission sollten wir in den anstehenden Beratungen
nochmals im Detail prüfen.
Noch offen ist aus meiner Sicht die Regelung der
funktionellen Zuständigkeit. Ursprünglich war im Refe-
rentenentwurf die Übertragung der Verbraucherinsol-
venz auf die Rechtspfleger vorgesehen, auch als Aus-
gleich zur Übertragung von Zuständigkeiten auf den
Richter im ESUG. Dies ist im nun vorliegenden Regie-
rungsentwurf geändert, ohne dass uns das Ministerium
dazu eine vertiefte Begründung liefert.
Der Gesetzentwurf greift weitere Aspekte auf, die zu-
sammen mit den genannten Änderungen dazu beitragen
können, Gerechtigkeit und Akzeptanz des Insolvenz-
und Restschuldbefreiungsverfahrens im privaten Bereich
zu verbessern. In den anstehenden Beratungen wird es
unsere Aufgabe sein, für Schuldner und Gläubiger zu
praktikablen Regelungen zu kommen, die einen ange-
messenen Ausgleich zwischen den widerstreitenden In-
teressen ermöglichen.
Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): Nachdem
wir im vergangenen Jahr die erste Stufe der Insolvenz-
rechtsreform – das Gesetz zur weiteren Erleichterung
von Unternehmen – erfolgreich abgeschlossen haben,
sprechen wir heute über die zweite Stufe der umfassen-
den Reform durch die christlich-liberale Koalition.
Auch wenn der Schwerpunkt der letzten Stufe bei den
Unternehmen und deren Erhalt im Falle einer Schieflage
lag und der Schwerpunkt nunmehr bei den Verbrauche-
rinnen und Verbrauchern liegt, gilt es auch in diesem Ge-
setzgebungsverfahren, wieder einen angemessenen Aus-
gleich zwischen den widerstreitenden Interessen zu
finden. Denn auch im Verbraucherinsolvenzverfahren
gibt es Gläubiger, die ein berechtigtes Interesse daran
haben, dass ihre ausstehenden Forderungen beglichen
werden, und Schuldner, die nicht mehr alle ihre einge-
gangenen Verbindlichkeiten bedienen können und daher
auf eine zweite Chance setzen.
Das geltende Recht enthält bereits einen Weg hin zu
dieser zweiten Chance, zur Restschuldbefreiung. Dieser
ist allerdings nicht nur im europäischen Vergleich ver-
hältnismäßig lang, sondern auch in vielen Fällen nicht
zielführend gewesen, da die ausstehenden Forderungen
aufgrund fehlender Anreize für den Schuldner nicht be-
glichen wurden.
Der vorliegende Gesetzentwurf greift diese Fehlent-
wicklung auf und sieht vor, die Dauer des Restschuldbe-
freiungsverfahrens von sechs auf drei Jahre zu halbieren.
Allerdings setzt dies voraus, dass die betroffenen Ver-
braucherinnen und Verbraucher einen Teil ihrer Schul-
den begleichen, genauer gesagt: 25 Prozent, sowie die
dazugehörigen Verfahrenskosten.
Gelingt es dem Schuldner nicht, die Mindestbefriedi-
gungsquote zu erreichen, so kann er zumindest, sofern er
die Verfahrenskosten begleicht, die Wohlverhaltensperi-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012 25931
(A) (C)
(D)(B)
ode auf fünf Jahre verkürzen. Kann der Schuldner nicht
einmal diese Kosten aufbringen, bleibt es bei der derzei-
tigen Restschuldbefreiungsdauer von sechs Jahren. Da-
mit wird deutlich, dass es auch in Zukunft nicht darum
gehen kann, sich einen „schlanken Fuß“ zu machen. Wer
eine Vielzahl von Verbindlichkeiten eingeht und diese
dann nicht mehr begleichen kann, muss bereit sein, hier-
für einzustehen. Ist er nicht dazu bereit, seine angehäuf-
ten Verbindlichkeiten zumindest ansatzweise abzutra-
gen, hat er auch weiterhin die Konsequenzen hierfür zu
tragen und das Restschuldbefreiungsverfahren in vollem
Umfang zu durchlaufen. Schließlich ist und bleibt ein
solches Verhalten kontraproduktiv für alle Beteiligten
und darf durch den Gesetzgeber nicht auch noch unter-
stützt werden. Dies gilt es auch im weiteren parlamenta-
rischen Verfahren nochmals deutlich herauszustellen.
Das parlamentarische Verfahren sollte aus meiner
Sicht aber auch dafür genutzt werden, an der einen oder
anderen Stelle noch Veränderungen am Gesetzentwurf
zu prüfen. Der Gesetzentwurf enthält zwar bereits einige
Änderungen, die für eine höhere Effektivität bei der Um-
setzung der gesetzlichen Vorgaben sorgen sollen. So soll
beispielsweise zukünftig der außergerichtliche Eini-
gungsversuch wegfallen, wenn dieser offensichtlich aus-
sichtslos ist. Allerdings sehe ich durchaus auch noch
Potenzial für weitere Verfahrensverbesserungen. So hat
der Bundesrat in seiner Stellungnahme vom 21. Septem-
ber 2012 angeregt, eine Länderöffnungsklausel in das
Gesetz mit aufzunehmen. Die Landesregierungen sollen
ermächtigt werden, das Verbraucherinsolvenzverfahren
auf Rechtspfleger zu übertragen. Auch der erste Refe-
rentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz sah
eine Übertragung der Zuständigkeit für das Verbrau-
cherinsolvenzverfahren auf die Rechtspfleger vor.
Dem Rechtspfleger obliegen im Verbraucherinsol-
venz- und im Restschuldbefreiungsverfahren bereits
heute umfangreiche Aufgaben. Im Laufe des Verfahrens
kommt es allerdings zu Zuständigkeitswechseln zwi-
schen dem Rechtspfleger und dem Richter. Diese könn-
ten durch eine entsprechende Ermächtigungsnorm für
die Länder behoben werden. Damit könnte man auch
den unterschiedlichen personalwirtschaftlichen Belan-
gen der einzelnen Länder Rechnung tragen. Zudem ist
ausschließlich die funktionale Zuständigkeit betroffen,
sodass ein mögliches Auseinanderfallen in den Ländern
nicht weiter ins Gewicht fallen sollte.
Auch wenn der Ausgleich widerstreitender Interessen
nicht immer einfach ist, bietet der heute von der christ-
lich-liberalen Koalition eingebrachte Gesetzentwurf
hierfür bereits eine sehr gute Grundlage. Dennoch soll-
ten wir das anstehende parlamentarische Verfahren dafür
nutzen, ihn an der einen oder anderen Stelle noch zu ver-
bessern.
Sonja Steffen (SPD): Mit der Einführung der Insol-
venzordnung im Jahr 1999 haben wir auch für natürliche
Personen einen Weg aus den Schulden eröffnet. Die
Überschuldung der privaten Haushalte ist immer noch
ein großes Problem. Mittlerweile melden jedes Jahr
mehr als 100 000 Privatpersonen Insolvenz an. Die soge-
nannte Verbraucherinsolvenz ermöglicht es, dass per Ge-
richtsbeschluss alle Restschulden erlassen werden, wenn
der Überschuldete sich über mindestens sechs Jahre hin-
weg an strenge Regeln hält. Diese Zeit bezeichnet man
als „Wohlverhaltensperiode“ oder „Wohlverhaltens-
phase“.
Der nun vorliegende Gesetzentwurf sieht vor, dass
der Schuldner die Wohlverhaltensperiode von sechs auf
drei Jahre verkürzen kann. Der Neustart in eine schul-
denfreie Zukunft soll also wesentlich schneller möglich
sein. Allerdings nur unter einer Bedingung: Der Schuld-
ner muss innerhalb dieser drei Jahre mindestens ein
Viertel seiner Schulden abgetragen und die Verfahrens-
kosten beglichen haben.
Die 25-Prozent-Quote, die bei Hinzurechnung der
Verfahrenskosten auf circa 30 Prozent steigen wird, ist
wissenschaftlich nicht hinterlegt. In den Zeiten vor der
Insolvenzordnung gab es eine sogenannte Vergleichs-
quote von 35 Prozent, die nur in jedem 500. Insolvenz-
verfahren erreicht werden konnte.
Die geplante Neuregelung kann daher nur eine Er-
leichterung für die Fälle sein, in denen eine Erbschaft
oder Hilfe aus der Verwandtschaft eintritt; denn es ist
nicht davon auszugehen, dass die Zahl der Insolvenz-
schuldner mit Restvermögen in der Zwischenzeit gestie-
gen ist. Nach Einschätzung der gerichtlichen Praxis und
der Schuldnerberater wird der Großteil der Schuldner
auch bei Ausschöpfung aller Arbeitsmöglichkeiten und
eventuell vorhandener Drittmittel nicht in der Lage sein,
die von Ihnen aufgestellten Tilgungsforderungen zu er-
füllen. Es ist daher zu befürchten, dass mit der 25-Pro-
zent-Regelung eine neue Zweiklassengesellschaft der In-
solvenzschuldner geschaffen wird.
Es muss außerdem verhindert werden, dass durch die-
ses sogenannte Anreizsystem Missbrauch hervorgerufen
wird, zum Beispiel durch die Zunahme von Schwarzar-
beit. Es kann Ziel der Schuldner werden, rechtzeitig vor
der Insolvenz die nötige Summe beiseitezuschaffen.
Aber auch auf legalem Wege wird dazu eingeladen, bei
knappen finanziellen Mitteln, die für die Begleichung
der Quote noch reichen, vor der Insolvenz weitere
Schulden zu machen, in dem Wissen, dass die Gesamt-
schulden durch die Insolvenz um 75 Prozent reduziert
werden und bereits nach drei Jahren ein Neustart erfol-
gen kann.
Zu Recht haben daher zum Beispiel viele Handwerks-
betriebe die Sorge, dass sie zukünftig in noch größerem
Umfang auf ihren Forderungen sitzen bleiben werden.
Dennoch ist eine verkürzte Verfahrensdauer nicht per
se abzulehnen. Der Gesetzentwurf bietet die Chance, in
die Diskussion über die Verfahrenslänge einzusteigen.
Hier ist zu fragen und zu untersuchen, welche Dauer für
ein Leben unter dem staatlichen Zwang der Insolvenz
angemessen ist, welche Anreize tatsächlich notwendig
sind und wie ein vernünftiger Ausgleich zwischen den
Interessen von Schuldnern und Gläubigern geschaffen
werden kann.
Über die Verkürzung der Restschuldbefreiung hinaus
will das Bundesjustizministerium mit dieser Reform den
25932 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012
(A) (C)
(D)(B)
außergerichtlichen Einigungsversuch stärken. Überra-
schenderweise sieht der Regierungsentwurf im Gegen-
satz zum Referentenentwurf hierfür vor, „das mittlerweile
weitgehend bedeutungslose gerichtliche Schuldenberei-
nigungsplanverfahren abzuschaffen und stattdessen auch
in den Verbraucherinsolvenzverfahren das bewährte In-
strument des Insolvenzplans zuzulassen“.
Mit diesem Vorhaben stoßen Sie nicht nur bei den
Schuldnerberatern und Verbraucherschützern auf mas-
sive Kritik; auch der Bundesrat hat hier erhebliche Zwei-
fel angemeldet.
Darüber hinaus soll bei offensichtlicher Aussichtslo-
sigkeit künftig kein außergerichtlicher Einigungsversuch
mehr unternommen werden müssen. Der Gesetzentwurf
sieht für die aussichtslosen Fälle eine starre Definition
vor: Ein Fall ist von vornherein aussichtslos, wenn die
Gläubiger nur eine Befriedigungsquote von 5 Prozent
oder darunter zu erwarten haben oder der Schuldner 20
oder mehr Gläubiger hat.
Eine derart formale Vorgabe kann dazu führen, dass
Schuldner automatisch in ein langwieriges Entschul-
dungsverfahren geführt werden, obwohl die Aussicht auf
eine außergerichtliche Einigung bestanden hätte. Laut
Aussage der Verbraucherverbände lag bisher die außer-
gerichtliche Einigungsquote bei 15 bis 20 Prozent. Dies
ist auch der professionellen und umfassenden persönli-
chen Beratungen durch die Schuldnerberatungen zu ver-
danken.
Wir müssen aufpassen, dass wir bei dem Versuch, den
außergerichtlichen Einigungsversuch zu stärken, nicht
letztlich genau das Gegenteil erreichen und dabei Türen
nicht auf-, sondern zugeschlagen werden. Insbesondere
dürfen hier nicht nur die Interessen der öffentlichen
Haushalte im Vordergrund stehen.
Die Schuldner- und Insolvenzberatungsstellen leisten
mit ihren teilweise sehr begrenzten Ressourcen eine sehr
wichtige und gute Arbeit. Diese zu stärken und finanziell
besser abzusichern, sollte eines unserer Ziele in diesem
Gesetzgebungsverfahren sein.
Als letzten Punkt möchte ich begrüßen, dass im Ge-
setzentwurf Regelungen zum Schutz von Mitgliedern
von Wohnungsgenossenschaften aufgenommen wurden.
Zu dieser Problematik haben den Bundestag bereits viele
Petitionen von Betroffenen erreicht. Wie die Regelung
im Einzelnen ausgestaltet wird, werden wir sicher im
Ausschuss noch diskutieren müssen. Aber ich denke, wir
sind uns zumindest darin einig, dass der Verlust der
Wohnung durch ein Verbraucherinsolvenzverfahren eine
nicht zumutbare Härte darstellt.
Insgesamt ist festzustellen, dass wir noch ein ganzes
Stück Arbeit vor uns haben. Aber ich freue mich auf die
sicherlich konstruktiven Beratungen im Rechtsaus-
schuss.
Richard Pitterle (DIE LINKE): Der vorgelegte Ge-
setzentwurf zur Verkürzung des Restschuldbefreiungs-
verfahrens und zur Stärkung der Gläubigerrechte zeigt
eines sehr deutlich: Dieser Bundesregierung fehlt das so-
ziale Bewusstsein.
Entsprechend Ihrem Koalitionsvertrag und der Be-
gründung Ihres Gesetzentwurfs hatten Sie ursprünglich
nur gescheiterte Selbstständige zu einer Befreiung von
ihren Schulden verhelfen wollen. Nachdem Sie gemerkt
hatten, dass Sie eine Beschränkung nur auf diesen Perso-
nenkreis aus Gründen der Gleichbehandlung rechtlich
niemals hätten halten konnten, haben Sie den Kreis for-
mell erweitert. Und so liest sich auch Ihr Entwurf.
Der Vorschlag, Schuldner, die bereits voll erwerbstä-
tig sind, durch Aufnahme von Zusatzjobs zu einer Erhö-
hung ihres Einkommens zu bewegen, geht genauso an
der Lebenswirklichkeit vorbei wie die Aufforderung, die
Verwandten anzupumpen. Denn dadurch verringern sich
keine Schulden, nur die Gläubiger werden ausgetauscht.
Auch die genannten Quoten sind unrealistisch: Wenn
mindestens 25 Prozent der Schulden bezahlt sind, kann
nach drei Jahren die Befreiung von den restlichen Schul-
den erfolgen. Zwar gibt es keine belastbaren Daten über
die tatsächlich erzielten Befriedigungsquoten, doch häu-
fig wird ein Wert von unter 10 Prozent genannt, wie die
Regierung selbst schreibt. Wenn also nach sechs Jahren
im Durchschnitt nur 10 Prozent aller Forderungen zu-
rückgezahlt werden konnten, ist es nicht nachvollzieh-
bar, wie die Bundesregierung dazu kommt, dass jemand
zukünftig innerhalb von nur drei Jahren mindestens
25 Prozent zahlen können soll, um von seinen restlichen
Schulden befreit zu werden.
Darüber hinaus sehen wir bei dem außergerichtlichen
Einigungsversuch noch erheblichen Nachbearbeitungs-
bedarf. Er wird durch die Streichung des noch im Refe-
rentenentwurf vorgesehenen gerichtlichen Zustimmungs-
ersetzungsverfahrens erheblich geschwächt. Denn dann
könnte beispielsweise bereits eine Minderheit der Gläu-
biger eine außergerichtliche Einigung verhindern.
Große Bedenken haben wir ferner bei der beabsichtig-
ten erheblichen Ausdehnung der von der Restschuldbe-
freiung ausgenommenen Forderungen – § 302 Nr. 1 InsO.
Damit würde für viele Schuldner de facto die Möglichkeit
der Restschuldbefreiung aufgehoben. Beispielsweise er-
gehen häufig Unterhaltstitel, obwohl das betroffene El-
ternteil finanziell nicht leistungsfähig ist. Doch das wurde
nicht geprüft. Der Titel ist aber in der Welt. Nach Jahren
kann ein Schuldner aber kaum mehr belegen, dass er trotz
des Unterhaltstitels finanziell leistungsunfähig gewesen
war. In diesen Fällen würden sich während der Wohlver-
haltensphase mangels leistbarer Unterhaltszahlungen
weiter erhebliche Schulden aufbauen, sodass für den Be-
troffenen eine Befreiung von all seinen Schulden nicht in
Sicht käme.
Ähnlich wäre es bei der beabsichtigten Bevorzugung
der Steuerforderungen. Damit wird wieder das Fis-
kusprivileg eingeführt, also der Vorrang staatlicher An-
sprüche gegenüber privaten, das aus guten Gründen vor
einigen Jahren gestrichen wurde. Steuerschuldnern
bliebe in der Praxis kaum noch Vermögen, um die For-
derungen bei ihren nichtstaatlichen Gläubigern zu be-
friedigen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012 25933
(A) (C)
(D)(B)
Der Bundesregierung fehlt der Blick zu den weniger
Begüterten in diesem Land. Ihr geht es nur um ge-
scheiterte Selbstständige, die – so haben Sie es in der
Gesetzesbegründung ja auch geschrieben – der Koali-
tionsvertrag bei der Verkürzung der Dauer des Rest-
schuldbefreiungsverfahrens besonders im Blick hat.
Diese Personengruppe ist häufig in der Lage, durch eine
neue, oft gut bezahlte Tätigkeit in relativ kurzer Frist ei-
nen Teil ihrer Schulden zurückzuzahlen. Für sie lohnt es
sich, 25 Prozent der Forderungen zu zahlen, um die rest-
lichen 75 Prozent nach drei Jahren loszuwerden. Hier
lädt die Quote zum Missbrauch ein. Davon werden be-
sonders die Kleingläubiger wie Handwerker, Einzel-
händler oder kleine Dienstleister betroffen sein, deren
Forderungen nicht extra besichert sind. Damit Sie mich
nicht missverstehen: Auch gescheiterte Selbstständige
verdienen unseren Schutz, aber eben nicht nur sie.
Bei der Restschuldbefreiung geht es um den Aus-
gleich der widerstreitenden Interessen: denen der Gläubi-
ger an einer Rückzahlung möglichst vieler Forderungen
und denen des Schuldners an einer möglichst schnellen
Befreiung von seinen Schulden. In der Tat ist die allge-
mein als lang empfundene Wohlverhaltensperiode von
derzeit sechs Jahren bis zur Befreiung von den restlichen
Schulden zu reformieren. Doch das Ergebnis sollte für
alle Schuldnerinnen und Schuldner erreichbar sein, nicht
nur für die Klientel der FDP.
Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Die Zahl der Verbraucherinsolvenzen ist in den letzten
zehn Jahren kontinuierlich gestiegen. Weit mehr als
100 000 Menschen melden pro Jahr mittlerweile in
Deutschland Privatinsolvenz an. Die Gründe für eine
private Insolvenz sind vielfältig. Oftmals sind sie sehr
persönlich und hängen mit einer Krankheit, Arbeitslo-
sigkeit oder einer Ehescheidung zusammen.
Die Privatinsolvenz stellt die betroffenen Menschen
für viele Jahre vor unüberwindbare Hindernisse. Für
Menschen, die in Privatinsolvenz gehen müssen, ist
schon die Suche nach einer Mietwohnung fast ein Ding
der Unmöglichkeit. Die Teilnahme am gesellschaftli-
chen Leben ist für diese Menschen deutlich erschwert.
Klar ist auch, dass sie nicht erst mit dem Antrag auf Pri-
vatinsolvenz Einschränkungen im täglichen Leben hin-
nehmen müssen. Der Weg bis dahin ist häufig schon für
viele Jahre mit Problemen finanzieller Art gepflastert.
Die Privatinsolvenz ist immer nur der letzte Schritt.
Sechs Jahre lang dauert nach derzeitiger Rechtslage
die sogenannte Wohlverhaltensphase. Doch auch nach
Ablauf dieser sechs Jahre können Menschen, die sich in
der Privatinsolvenz befinden, nicht wieder uneinge-
schränkt am Wirtschaftsleben teilnehmen. Weitere drei
Jahre dauert es, bis der Eintrag bei der Schufa gelöscht
wird.
Dass Menschen so viele Jahre ihres Lebens solch weit-
gehenden Einschränkungen unterworfen sind, lässt sich
nicht rechtfertigen. Daher ist der Ansatz des Gesetzent-
wurfs richtig, die Wohlverhaltensphase im Verbrau-
cherinsolvenzverfahren zu verkürzen. Der Gesetzentwurf
sieht die Möglichkeit vor, die Dauer des Restschuldbe-
freiungsverfahrens von sechs Jahre auf drei Jahre zu hal-
bieren. Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass die
Schuldnerin oder der Schuldner während dieses Zeit-
raums eine Mindestquote von 25 Prozent der bestehenden
Schulden erfüllt und vorab die Kosten des Verfahrens be-
gleicht. Wenn der Schuldner oder die Schuldnerin nur die
Verfahrenskosten begleicht, soll sich das Restschuldbe-
freiungsverfahren zumindest auf fünf Jahre verkürzen.
Ansonsten bleibt es bei den bisherigen sechs Jahren.
Darüber, ob die Schaffung eines Anreizsystems für
eine schnelle Begleichung der Schulden sachgerecht ist,
lässt sich diskutieren.
Wie ein Schuldner oder eine Schuldnerin es allerdings
bewerkstelligen soll, die vorgesehene Quote von 25 Pro-
zent und die Verfahrenskosten innerhalb von drei Jahren
zu befriedigen, ist mir ein Rätsel. Im Ergebnis werden
nur wenige Schuldnerinnen und Schuldner von den Neu-
regelungen profitieren. Ein wirtschaftlicher Neustart
wird für die allermeisten wohl wie bisher erst nach fast
zehn Jahren möglich sein. Da stelle ich mir ernsthaft die
Frage, ob wir hier nicht einen Luxusgesetzentwurf für
Schuldner mit vermögenden Verwandten vor uns haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein weiteres Anlie-
gen des Entwurfs ist es, den außergerichtlichen Eini-
gungsversuch entscheidend zu stärken. Im Regierungs-
entwurf ist hierzu zu lesen, dass beim außergerichtlichen
Einigungsversuch hohe Erfolgsquoten zu verzeichnen
seien und dass außergerichtliche Einigungen der bessere
Weg einer Entschuldung seien. Sie entlasteten die Insol-
venzgerichte und führten so zu Einspareffekten in den
Justizhaushalten der Länder. Außerdem ermöglichten
außergerichtliche Einigungen eine einfachere, schnel-
lere, kostensparendere und dem Einzelfall angemesse-
nere Bewältigung der Insolvenzsituation.
Eine umfassende Stärkung des außergerichtlichen Ei-
nigungsversuchs wäre auch aus unserer Sicht richtig,
wünschenswert und erfreulich gewesen. Vorschläge
hierzu gab es genug. Leider stärkt der Gesetzentwurf den
außergerichtlichen Einigungsversuch aber nicht ausrei-
chend. Die Vorgaben zur Entbehrlichkeit des Einigungs-
versuchs bringen die Gefahr mit sich, dass keine Einzel-
betrachtung des konkreten Sachverhalts erfolgt.
Dieser Gesetzentwurf ist noch nicht ausgereift. Im
weiteren Verfahren werden wir Grünen uns dafür einset-
zen, einerseits Schuldnerinnen und Schuldnern mehr und
bessere Hilfestellungen zukommen zu lassen und ande-
rerseits auch Gläubigerinnen und Gläubiger nicht unan-
gemessen zu benachteiligen.
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundes-
ministerin der Justiz: Vor 20 Jahren, am 3. Juni 1992,
wurde dem Bundestag erstmals ein Entschuldungsver-
fahren für natürliche Personen vorgestellt. Menschen,
die unverschuldet, etwa aufgrund persönlicher Schick-
salsschläge, in finanzielle Not geraten sind, sollten die
Chance für einen Neuanfang erhalten.
In den nachfolgenden Jahren zeigten sich auf der
einen Seite die große Akzeptanz, die das Restschuldbe-
freiungsverfahren bei den Bürgern erfahren hat, aber auf
25934 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012
(A) (C)
(D)(B)
der anderen Seite auch verfahrensrechtliche Hemmnisse
für einen effektiven Neustart. Die hierzu eingeleiteten
Reformvorhaben konnten in der vergangenen Legislatur-
periode nicht umgesetzt werden.
Mit dem heute vorgestellten Entwurf wollen wir die
bestehenden verfahrensrechtlichen Hürden nun abbauen
und verschuldeten Personen unter Berücksichtigung der
berechtigten Belange der Gläubiger eine faire Chance
für einen Neuanfang einräumen.
Ein erster Schwerpunkt dieses Gesetzentwurfes ist die
Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens. Der
Entwurf eröffnet für alle Schuldner ein schnelles Ent-
schuldungsverfahren, wenn sie besondere Anstrengun-
gen unternehmen.
Die derzeitige Laufzeit der Restschuldbefreiung von
sechs Jahren soll daher künftig auf drei Jahre abgekürzt
werden können, wenn der Schuldner innerhalb dieses
Zeitraums sowohl die Verfahrenskosten als auch 25 Pro-
zent der Forderungen der Insolvenzgläubiger erfüllt hat.
Der Entwurf belässt es jedoch nicht dabei. Er lässt al-
ternativ das Insolvenzplanverfahren in allen Insolvenz-
verfahren, also auch im Verbraucherinsolvenzverfahren,
zu. Dieses bewährte Instrument ermöglicht es künftig je-
dem Schuldner, in Einvernehmen mit seinen Gläubigern
flexibel und schnell zu einer Entschuldung zu gelangen.
Ein weiterer Schwerpunkt des Entwurfs ist eine Ver-
besserung der Position der Gläubiger. Quasi als Gegen-
leistung für eine schnelle Entschuldung wird bei einer
vorzeitigen Restschuldbefreiung eine Mindestbefriedi-
gung der Gläubiger gefordert.
Bislang können Gläubiger trotz der langen Wohlver-
haltensphase leer ausgehen, da es sich für den Schuldner
nicht lohnt, sich besonders anzustrengen. Ein solcher
Anreiz wird erstmals mit der Mindestquote gesetzt. Die-
ses System kann aber nur funktionieren, wenn bei der
Festsetzung der Mindestquote einerseits die Interessen
der Gläubiger im Blick behalten werden, sodass die
Quote zu einer fühlbaren Gläubigerbefriedigung bei-
trägt. Andererseits darf sie auch nicht unerreichbar hoch
sein. Wir sind nach gründlicher Prüfung der Ansicht,
dass die im Entwurf gewählte Quote von 25 Prozent
diese Kriterien erfüllt.
Eine weitere Neuerung findet sich in der Gestaltung
des Verbraucherinsolvenzverfahrens, das nun deutlich
verschlankt wird. Ineffektive Bestandteile wie das ge-
richtliche Schuldenbereinigungsplanverfahren, das nicht
einmal in 2 Prozent der Fälle genutzt wird, werden ge-
strichen.
Der Zwang zu einem außergerichtlichen Planverfah-
ren entfällt, wenn eine Einigung mit den Gläubigern of-
fensichtlich aussichtslos ist. Die in diesem Bereich über-
aus wichtige Tätigkeit von Schuldnerberatungsstellen soll
dagegen ausgebaut werden. Künftig sollen sie auch im
gerichtlichen Verfahren den Schuldner begleiten und
dort ihre bewährte Arbeit fortsetzen können.
Lassen Sie mich zum Schluss noch auf einen weiteren
wichtigen Regelungsgegenstand eingehen: die Verbesse-
rung des Schutzes insolventer Nutzer von Genossen-
schaftswohnungen vor Wohnungsverlust.
Unser Ziel, dem Schuldner eine neue Chance für ei-
nen wirtschaftlichen Neuanfang zu ermöglichen, erfor-
dert auch, dass er als Nutzer einer Genossenschaftswoh-
nung ähnlich wie der Wohnungsmieter nach Möglichkeit
seine Wohnung behalten kann. Nach bislang geltendem
Recht muss der Insolvenzverwalter das Geschäftsgut-
haben des Genossenschaftsmieters verwerten. Dieser
verliert dadurch seine Mitgliedschaft, was wiederum die
Genossenschaft meist zur Kündigung des Nutzungsver-
hältnisses zwingt, weil die Genossenschaftswohnungen
in erster Linie für die Nutzung durch Mitglieder be-
stimmt sind.
Künftig soll die Kündigung der Mitgliedschaft daher
ausgeschlossen sein, wenn das Geschäftsguthaben be-
stimmte Grenzen nicht übersteigt. Eine solche Begren-
zung ist notwendig, damit nicht auch Anteile geschützt
werden, die den Charakter einer Kapitalanlage haben.
Dieses wichtige Gesetz sollte alsbald verabschiedet
werden – die deutsche Wirtschaft und der gescheiterte
Verbraucher verdienen eine effektive und schnelle Ent-
schuldung und damit eine echte zweite Chance.
Anlage 9
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– Antrag: Negativbilanz nach zwei Jahren im
UN-Sicherheitsrat
– Beschlussempfehlung und Bericht zu dem
Antrag: Deutschland im VN-Sicherheitsrat
– Impulse für Frieden und Abrüstung
Beschlussempfehlung und Bericht zu den An-
trägen:
– Die internationale Schutzverantwortung
weiterentwickeln
– Schutzverantwortung weiterentwickeln und
wirksam umsetzen
(Tagesordnungspunkte 20 a bis 20 c)
Jürgen Klimke (CDU/CSU): Die Mitgliedschaft
Deutschlands in den letzten zwei Jahren im UN-Sicher-
heitsrat ist ohne Frage eine Erfolgsgeschichte. Niemals
zuvor konnte eine deutsche Regierung umfassendere
neue Schwerpunkte und Impulse in das Gremium
einbringen.
Zudem haben wir unsere Präsidentschaft im Sicher-
heitsrat der Vereinten Nationen erfolgreich genutzt und
gute Ergebnisse insbesondere im Bereich des Schutzes
von Kindern in Kriegsgebieten sowie im Klimaschutz
erzielt. Endlich haben wir Instrumente im Rahmen der
UN entwickeln können, die Kinder vor Gewalt und
Misshandlung besonders schützen. Dies gilt vor allem in
kriegerischen Auseinandersetzungen. Auf Initiative der
Bundesregierung wurde daher am 12. Juli 2011 die
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012 25935
(A) (C)
(D)(B)
Sicherheitsratsresolution zum stärkeren Schutz von
Kindern in Kriegen und bewaffneten Konflikten verab-
schiedet. Damit ist einstimmig beschlossen worden,
gezielte Angriffe auf Schulen und Krankenhäuser inter-
national zu ächten und den Schutz von Kindern vor
Missbrauch als Soldaten zu verstärken.
Fortschritte konnten außerdem im Bereich des Klima-
schutzes erzielt werden. Unter deutscher Präsidentschaft
wurde das Thema Klimawandel und dessen mögliche
Auswirkungen auf den Weltfrieden im Sicherheitsrat
diskutiert und wurde eine einstimmige Erklärung ver-
abschiedet. Im Zuge dessen ist UN-Generalsekretär Ban
Ki-moon gefordert, in seinen Berichten künftig Klimaas-
pekte aufzunehmen. Erstmals wird damit in einer Erklä-
rung, die von allen 15 Mitgliedern des Sicherheitsrates
abgestimmt wurde, die Bedeutung des Klimawandels im
Zusammenhang mit Frieden und internationaler Sicher-
heit unterstrichen.
Als 194. Mitglied wurde am 14. Juli 2011 der Südsu-
dan als souveräner Staat anerkannt und als vollwertiges
Mitglied in die Staatengemeinschaft aufgenommen. Da-
mit konnte während der deutschen Ratspräsidentschaft
erfolgreich der Fokus auf den afrikanischen Kontinent
und die dortigen Herausforderungen gelegt werden.
Bereits am 8. Juli 2011 hat der Deutsche Bundestag
den Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte im Rah-
men der Friedensmission der Vereinten Nationen im
Südsudan (UNMISS) gebilligt. Damit wurde der Bedeu-
tung, die der neugegründete Staat in den Friedensbemü-
hungen in Nordostafrika einnimmt, Rechnung getragen.
Deutschland hat mit der erfolgreichen Präsidentschaft
im UN-Sicherheitsrat gezeigt, dass es seine internatio-
nale Verantwortung mit großem Engagement ausübt und
weltweit zur Lösung von Konflikten beiträgt.
Ich sehe also die von der Opposition beschriebene
Negativbilanz in keinster Weise. Ihr Antrag ist eher der
klare Ausdruck von schlechtem politischen Stil, da die
Opposition die Würdigung der von mir eben angespro-
chenen Entwicklungen in ihren Anträgen verschweigt.
Noch viel unverständlicher für mich ist, dass die Op-
position die fehlenden Friedensinitiativen der Bundes-
regierung kritisiert. Ich erinnere mich, dass unter der
Präsidentschaft Schröders und Fischers im Sicherheitsrat
der Irakkrieg verabschiedet wurde. Wo war dort Ihre
Friedenspolitik? Ich erinnere mich, dass die Opposition
in Libyen in den Krieg ziehen wollte. Wo war dort Ihre
Friedenspolitik?
Nein, Deutschland hat unter unserer Regierung seinen
Beitrag zum Frieden, erstmals auch im Sicherheitsrat,
umfangreich geleistet. Wir können uns sicher sein, dass
die von uns geschaffenen Instrumente die jetzt abzu-
schließende Mitgliedschaft überdauern werden.
Natürlich ist es unerfreulich, dass die von uns ange-
strebte Weiterentwicklung des Sicherheitsrates an den
Vetokräften gescheitert ist. Trotzdem müssen wir weiter
an einer modernen UN-Sicherheitsagentur arbeiten. Der
Sicherheitsrat ist aus unserer Sicht in seiner heutigen
Zusammensetzung überholt. Dies erleben wir nicht
zuletzt in seiner Entscheidungsunfähigkeit beim Thema
Syrien.
Auch wenn Deutschland erst einmal aus dem Sicher-
heitsrat ausscheiden wird, stehen wir vor weiteren
Herausforderungen, die unsere Gestaltungsmacht erfor-
dern. Die Post-MDG-Ära beginnt, und die CDU/CSU-
Fraktion sieht die Ausgestaltung als eine der zentralen
Herausforderungen der UN im nächsten Jahr an. Klar ist,
dass die Welt sich seit der Jahrtausendwende dramatisch
weitergedreht hat. Der beginnende Klimawandel zeigt
uns drastisch die Begrenztheit unseres Lebensmodells
und die globalen Verflechtungen. Unser Wirtschafts- und
Lebensmodell als solches ist weder nachhaltig noch zu-
kunftsfähig, noch entwicklungskonform, wenn wir mit
„Entwicklung“ meinen, dass die, die Opfer unseres bis-
herigen Treibens geworden sind, auch nur ansatzweise
noch Rechte auf ein menschenwürdiges Leben verwirk-
lichen sollen.
Hinzu kommt, dass sich das Nord-Süd-Paradigma
langsam auflöst. Deutlich wird das zum Beispiel an der
G 20 oder den BRIC-Ländern, die nach vorne drängen.
Noch weniger als früher können wir nur die Nord-Süd-
Brille aufsetzen, sondern müssen eher von einer Arm-
Reich-Dimension ausgehen. Das heißt zum einen, noch
stärker als bisher gemeinsame Verantwortung sehen, und
zum anderen, noch stärker als bisher nicht nur die Regie-
rungsebene denken und sehen, sondern von der Perspek-
tive derjenigen her denken, die schon heute und erst
recht in Zukunft von den negativen Folgen einer
falschen Politik und eines falschen Wirtschaftens betrof-
fen sind. Hier geht es darum, wie Schwellenländer oder
Mitteleinkommensländer, in denen die meisten Armen
leben, ins Boot geholt werden, und auch um die Verant-
wortung und Vorbildfunktion des Nordens. Diese Punkte
werden von den bisherigen MDGs nicht berücksichtigt.
Für die mögliche Post-2015-Agenda ist es aber un-
bedingt notwendig, sich diesen komplexen Herausforde-
rungen zu stellen und über das Denken der bisherigen
MDGs hinauszugehen. Dies ist unser Ziel und unser
Schwerpunkt für die Arbeit Deutschlands bei der UN.
Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU): Nächsten Monat
gehen für Deutschland zwei außenpolitisch sehr erfolg-
reiche Jahre als nichtständiges Mitglied des Sicherheits-
rats der Vereinten Nationen zu Ende.
Wie Außenminister Westerwelle in seiner Rede vor
der UN-Vollversammlung im September betonte, sind
wir bereit, noch mehr Verantwortung zu übernehmen.
Dementsprechend streben wir eine neue Kandidatur als
nichtständiges Mitglied für den Sicherheitsrat für die
Jahre 2019/2020 an. Außerdem werden wir unsere Be-
mühungen um einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat
weiter vorantreiben. Dieses Ziel haben wir in unserem
Koalitionsvertrag festgeschrieben, und daran werden wir
auch festhalten.
Von einer „Negativbilanz nach zwei Jahren im UN-
Sicherheitsrat“, wie von der Opposition behauptet, kann
nicht die Rede sein. Im Gegenteil: Wir haben eine ganze
25936 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012
(A) (C)
(D)(B)
Reihe von Initiativen angestoßen und vieles erreicht. Im
Folgenden möchte ich mich auf die meines Erachtens
wichtigsten Errungenschaften konzentrieren.
Vor dem Hintergrund der Umbrüche in der arabischen
Welt war Deutschland im Sicherheitsrat sehr engagiert,
um eine möglichst breite Unterstützung für einen friedli-
chen Wandel zur Demokratie durch die internationale
Staatengemeinschaft zu erreichen. So haben wir uns bei-
spielsweise sehr früh dafür eingesetzt, dass sich der Si-
cherheitsrat der Krise im Jemen angenommen hat und
dass die internationale Staatengemeinschaft mit der ers-
ten Sicherheitsratsresolution zu Jemen überhaupt mit ei-
ner gemeinsamen Stimme gesprochen hat. Des Weiteren
haben wir dazu beigetragen, Befassungen des Sicher-
heitsrates zu Syrien und Libyen überhaupt erst möglich
zu machen. Seither haben wir uns in den Vereinten Na-
tionen aktiv für ein Ende der Gewalt in Syrien einge-
setzt.
Ferner hatte sich Außenminister Westerwelle wäh-
rend des deutschen Vorsitzes des Sicherheitsrats im Sep-
tember als Unterstützung des arabischen Frühlings auf
seine Fahnen geschrieben, die Arabische Liga aufzuwer-
ten, nachdem diese in vielen arabischen Ländern zu ei-
nem wichtigen Akteur und Partner der UNO geworden
war.
Auch im Bereich der Afghanistan-Politik hat das
deutsche Engagement im Sicherheitsrat einiges voran-
getrieben. So wurde unter deutschem Vorsitz der Aus-
schuss für die Al-Qaida-/Taliban-Sanktionen in jeweils
einen Ausschuss für die Taliban und einen für al-Qaida
geteilt – mit weitreichender Signalwirkung sowohl für
die Bekämpfung des internationalen Terrorismus als
auch für die afghanische Innenpolitik.
Ein weiterer Themenkomplex, bei dem Deutschland
einen großen Erfolg verbuchen konnte, war der Schutz
von Kindern in bewaffneten Konflikten. Da Deutschland
den Vorsitz der Arbeitsgruppe „Kinder und bewaffnete
Konflikte“ innehatte, kam uns eine besondere Verant-
wortung bei der Verhandlung und der Annahme einer
entsprechenden Resolution zu, durch die gezielte An-
griffe gegen Schulen und Hospitäler völkerrechtlich ge-
ächtet werden.
Ferner konnte Deutschland erstmals das Thema „Si-
cherheitspolitische Auswirkungen des Klimawandels“
auf die Agenda des Sicherheitsrats bringen. In der vom
Sicherheitsrat einstimmig angenommenen Erklärung
wurde festgehalten, dass der Klimawandel eine poten-
zielle Bedrohung für den Weltfrieden und die internatio-
nale Sicherheit ist. In Zukunft wird der Generalsekretär
somit in seinen Berichten den Aspekt des Klimawandels
mitberücksichtigen müssen – auch ein Erfolg für unser
Anliegen, die Präventionsmechanismen von Krisen zu
stärken.
Lassen Sie mich abschließend noch kurz auf die inter-
nationale Schutzverantwortung zu sprechen kommen.
Diese ist mit den Resolutionen des UN-Sicherheitsrats
zu Libyen zum ersten Mal als Begründung für Schutz-
maßnahmen nach Kapitel VII der UN-Charta herangezo-
gen worden und hat somit einen erfolgreichen Eingang
in die Praxis des Sicherheitsrats gefunden. Als Mitglied
der „Freundesgruppe der Schutzverantwortung“ hat
Deutschland von Beginn an die konzeptionelle Ausge-
staltung der internationalen Schutzverantwortung geför-
dert, sei es durch Förderung eines einheitlichen EU-
Standpunkts oder auch durch einen engen Austausch mit
dem UN-Sonderberater für die Schutzverantwortung.
Besonders wichtig war und ist uns dabei die Stärkung
der präventiven Aspekte, um ein Eingreifen mit militäri-
schen Mitteln gar nicht erst nötig zu machen.
Insofern haben wir uns, was Syrien anbelangt, seit
Ausbruch der Gewalt kontinuierlich für ein entschiede-
nes Vorgehen des Sicherheitsrats eingesetzt, vor allen
Dingen um den Schutz von Zivilisten zu verbessern und
um gegen massive Menschenrechtsverletzungen vorzu-
gehen. Auch wenn diese Bemühungen bislang noch
nicht erfolgreich waren, so werden wir weiterhin den
UN-Sicherheitsrat als Gremium nutzen, um die Interes-
sengegensätze mit Russland und China gezielt anzuspre-
chen.
Sie sehen also: Die Bilanz nach zwei Jahren im UN-
Sicherheitsrat ist alles andere als „negativ“; sie ist viel-
mehr beeindruckend!
Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD): Ich bedaure es
außerordentlich, dass ich gezwungen bin, diese Rede zu
Protokoll zu geben. Ich selbst würde auch, wie vorgese-
hen, um 1 Uhr oder 2 Uhr in der Nacht im Plenum spre-
chen; aber das Thema „Zwei Jahre Bilanz der deutschen
Mitgliedschaft im UN-Sicherheitsrat“ würde eine Kern-
zeit dringend erfordern.
Welch hehre Erklärungen gab die Bundesregierung zu
Beginn ihrer zweijährigen Mitgliedschaft im obersten
UN-Gremium, im UN-Sicherheitsrat, im Jahre 2011 ab.
Sie wolle sich gemeinsam mit internationalen Partnern
in so wichtigen Bereichen wie der Sicherheitsratsreform,
dem Schutz der Menschenrechte, der Rüstungskontrolle
und dem Nahostfriedensprozess engagieren.
Kurz vor dem Ausscheiden Deutschlands aus dem
UN-Sicherheitsrat muss man sich über das unterhalten,
was die Bundesregierung als nichtständiges Mitglied im
UN-Sicherheitsrat bewirkt hat – oder eben auch nicht.
So ist aus ihren vollmundigen Ankündigungen, neuen
Schwung bei der Reform des Sicherheitsrats erreichen
zu wollen, nichts geworden. Weder gibt es eine grundle-
gende Reform des UN-Sicherheitsrates, die der Realität
des 21. Jahrhunderts entspricht, noch hat es die Bundes-
regierung erreicht, einen ständigen Sitz im UN-Sicher-
heitsrat für Deutschland mit anderen Partnern zusammen
durchzusetzen.
Es ist schön, dass Deutschland wieder Mitglied im
UN-Menschenrechtsrat geworden ist; das kann aber das
Versagen der Bundesregierung in der anderen Frage
nicht ausgleichen. Die Länder Afrikas, Lateinamerikas
und Asiens fordern schon seit langem eine bessere Re-
präsentation ihrer Kontinente, und dem müssen wir
Nachdruck verleihen. Die Reform des UN-Sicherheits-
rats bleibt eine zentrale Forderung, und sie muss auch
die schrittweise Überwindung des Vetorechts der ständi-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012 25937
(A) (C)
(D)(B)
gen Ratsmitglieder zum Inhalt haben. Die unerträgliche
Situation, die sich durch die Blockadehaltung von UN-
Sicherheitsrats-Mitgliedern in Bezug auf Syrien gezeigt
hat, macht das deutlich. Es ist völlig inakzeptabel, dass
der UN-Sicherheitsrat dabei zur Handlungsunfähigkeit
gepresst wurde und noch wird.
Wie steht es um die Legitimation eines UN-Sicher-
heitsrates, wenn fünf Staaten mit ihrem Veto sich als
Mitglieder „erster Klasse“ gerieren und die UN blockie-
ren können, obwohl es dringend einer gemeinschaftli-
chen Aktion bedürfte? Jetzt werden Staaten wie Argenti-
nien, Ruanda und Südkorea Deutschland in den
Sicherheitsrat nachfolgen.
Insgesamt ist das Verhalten der Bundesregierung im
UN-Sicherheitsrat eher von Einzelentscheidungen und
nicht von einer Gesamtstrategie internationaler Politik
geprägt. Das schwerste Versagen der Bundesregierung
hat sich bei der Abstimmung über die Resolution 1973,
der Errichtung einer Flugverbotszone über Libyen, ge-
zeigt. Mit dieser Sicherheitsratsresolution übernahm die
internationale Gemeinschaft zum ersten Mal in einer
UN-Resolution die Schutzverantwortung für die Zivilbe-
völkerung in Libyen. Tausende Libyer verdanken dieser
Resolution ihr Leben, da es galt, sie vor Muammar al-
Gaddafi und den Gewalttaten seiner Gefolgsleute zu
schützen. Und wie agierte die Bundesregierung in dieser
Frage? Sie enthielt sich – und stellte sich damit gegen
Partnerländer wie die USA, Frankreich, Großbritannien
und Portugal. Wir alle wissen, wie dramatisch sich diese
Enthaltung auf das Ansehen der Bundesregierung in der
Welt ausgeübt hat. Ich sage: Notwendig wäre die klare
Zustimmung gewesen, verbunden mit einem Monito-
ring-Mechanismus, der die NATO-Mission überwachen
sollte und dem UN-Sicherheitsrat jeweils aktuell berich-
tet hätte und eine Überdehnung des Mandates hätte ver-
hindern können.
Aber noch schwerer wiegt: Bei dem Schutz von Men-
schenrechten darf es keine Enthaltung geben! Denn die
Norm der Internationalen Schutzverantwortung, die Res-
ponsibility to Protect, wurde von der internationalen Ge-
meinschaft im Jahr 2005 auf dem Weltgipfel verabschie-
det, damit sich massive Menschenrechtsverletzungen
wie in Ruanda und Srebrenica niemals wiederholen.
Staaten haben demnach die Verantwortung, ihre Bevöl-
kerung vor Völkermord, Kriegsverbrechen, systemati-
scher Gewalt gegen Minderheiten und Verbrechen gegen
die Menschlichkeit zu schützen. Können oder wollen sie
dies nicht leisten, geht die Verantwortung auf die inter-
nationale Staatengemeinschaft über, die als letztes Mittel
Schutzmaßnahmen nach Kap. VII der UN-Charta ergrei-
fen kann.
Die Diskussion um die Schutzverantwortung wird
von Kritikern gern auf das militärische Element ver-
kürzt. Die Schutzverantwortung wurde dabei als ganz-
heitlicher Ansatz mit drei Säulen konzipiert: der Respon-
sibility to Prevent, der Responsibility to React und der
Responsibility to Rebuild. Der Schwerpunkt liegt dabei
auf der Vorbeugung vor schweren und systematischen
Menschenrechtsverletzungen. Um die Entscheidung für
oder gegen einen militärischen Einsatz nachvollziehbar
und überprüfbarer zu machen, müssen Leitkriterien aus-
gearbeitet werden, wie sie von der Internationalen Kom-
mission zur Intervention und Staatensouveränität im Jahr
2001 bereits formuliert wurden. Demnach soll ein mili-
tärischer Einsatz nach dem Ernst der Bedrohung, der
Redlichkeit der Motive, der Anwendung als letztes Mit-
tel, der Verhältnismäßigkeit der Mittel und der Ange-
messenheit der Folgen abgewogen werden.
Ich möchte an dieser Stelle die Forderungen aufgrei-
fen, wie sie in unserem Antrag und ähnlich auch im An-
trag von Bündnis 90/Die Grünen, den wir nachdrücklich
unterstützen, formuliert wurden: Die Bundesregierung
muss für die Norm der internationalen Schutzverantwor-
tung aktiv werben und darf nicht bloß Lippenkenntnisse
abgeben. Sie muss dazu beitragen, dass ein nationales
und regionales Frühwarnsystem für Menschenrechtsver-
letzungen etabliert wird, indem bestehende Strukturen
verbessert und regionale und subregionale Akteure bes-
ser eingebunden werden. Und sie muss sich für die Aus-
arbeitung von Leitkriterien, vergleichbar denen der In-
ternationalen Kommission zur Intervention und Staaten-
souveränität, starkmachen, die bei UN-mandatierten mi-
litärischen Einsätzen zum Schutz vor massiven und sys-
tematischen Menschenrechtsverletzungen herangezogen
werden können. Zudem muss sie sich für einen Monito-
ring-Mechanismus bei UN-Mandaten im Rahmen der
Schutzverantwortung einsetzen, der beispielsweise eine
zeitliche Begrenzung von Mandaten und klar bestimmte
Berichtspflichten vorsieht.
Die Weiterentwicklung der Internationalen Schutz-
verantwortung hängt entscheidend vom Willen und En-
gagement der Nationalstaaten ab. Hier muss die Bundes-
regierung endlich durch Taten in Erscheinung treten!
Der Antrag der palästinensischen Autonomiebehörde
im UN-Sicherheitsrat, als vollwertiges Mitglied aufge-
nommen zu werden, wurde durch die Androhung eines
US-Vetos im Jahr 2011 praktisch zum Erliegen gebracht.
Die Bundesregierung hatte sich mit ihren Äußerungen
auf die Seite derer gestellt, die einen solchen Antrag
nicht wünschen. Bei der Abstimmung zur Aufnahme Pa-
lästinas als Mitglied in die UNESCO stimmte sie sogar
mit Nein. Nun hat Präsident Abbas den Antrag in der
UN-Generalversammlung gestellt, als Staat mit Be-
obachterstatus – „non-member observer state“ – aner-
kannt und somit im Status aufgewertet zu werden. Ich
möchte das zum Anlass nehmen, das zu wiederholen,
was ich bereits öffentlich geäußert habe. Das Anliegen
der Palästinenser muss auch im Interesse Israels unter-
stützt werden!
Wie Weltbank und der Internationale Währungsfonds
bezeugen, hat die palästinensische Autonomiebehörde
alle Voraussetzungen für ihre Staatlichkeit geschaffen.
Die enormen Preissteigerungen und sozialen Unruhen in
der Westbank einerseits und die jüngste feindselige Aus-
einandersetzung zwischen der Hamas und Israel anderer-
seits haben die palästinensische Autonomiebehörde in
ihrem Ansehen bei der eigenen Bevölkerung massiv ge-
schwächt. Die Hamas geht aus all dem gestärkt hervor.
Angesichts dieser Situation halte ich die Weichenstel-
lung, mit der die Bundesregierung sich heute in der UN-
25938 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012
(A) (C)
(D)(B)
Generalversammlung zu dem Antrag auf Aufwertung
des Status von Palästina verhalten hat, für falsch. Es
muss doch im Interesse der Europäischen Union und der
internationalen Staatengemeinschaft sein, diejenigen zu
stärken, die den multilateralen, friedlichen Weg über die
Vereinten Nationen wählen, zumal eine große Zahl euro-
päischer Regierungen für die Aufwertung stimmt.
Die Schlussfolgerung muss sein, dem Antrag der pa-
lästinensischen Autonomiebehörde zuzustimmen. Eine
Aufwertung des palästinensischen UN-Status kann den
Weg für einen neuen Nahost-Friedensprozess bereiten.
Ein Nein hingegen würde von den Palästinensern als
Nein zu ihrem Recht auf Selbstbestimmung gewertet.
Es braucht einen neuen Anlauf für einen wirklichen
Friedensprozess, der die gesamte palästinensische Be-
völkerung umschließt, damit endlich die Gewalt und der
jahrzehntelange Konflikt im Sinne der Zwei-Staaten-Lö-
sung beendet werden können.
Angesichts der weitreichenden Umwälzungen in den
arabischen Ländern muss doch jedem klar sein: Ohne
eine derartige Lösung wird es immer möglich sein, dass
Frustrationen, die aus inneren Konflikten in manchen
arabischen Ländern resultieren, in Aggressionen gegen-
über Israel gewendet werden können. Deshalb ist es ge-
rade aus deutscher Verantwortung für Israel notwendig,
eine klare Unterstützung zu dem Antrag von Präsident
Abbas zu zeigen und deutlich ein Signal zur Rettung der
Zwei-Staaten-Lösung zu geben. Besonders inakzeptabel
finde ich es, wenn es europäische Länder gibt, die ihre
Zustimmung zu dem Palästina-Antrag an die Forderung
knüpfen, es müsse einen Verzicht auf ein mögliches An-
rufen des Internationalen Strafgerichtshofes zu Protokoll
geben. Eine derartige Forderung fällt in ihrer Grundhal-
tung auf diese Staaten selbst zurück.
Abschließend: Wir drängen darauf, dass der geplante
Waffenhandelsvertrag, der nach langwierigen Verhand-
lungen im Jahr 2012 nicht zustande gekommen ist, er-
neut in der UN-Generalversammlung im Frühjahr 2013
auf die Tagesordnung gesetzt wird. Die Bundesregierung
muss darauf drängen, dass weiter verhandelt wird. Es
braucht dringend völkerrechtlich verbindliche Standards
für den Import, Export und Transfer von konventionellen
Waffen, um weitere regionale Aufrüstungswettläufe und
die Destabilisierung weiterer Regionen zu verhindern.
Bijan Djir-Sarai (FDP): Am Ende der letzten Sicher-
heitsratssitzung, die Außenminister Westerwelle leitete,
ergriff der Generalsekretär der Arabischen Liga, Nabil
al-Arabi, entgegen dem Protokoll das Wort. Er sagte fol-
gende zwei Sätze: „Ich sage mehr als Dankeschön. Ich
sage vielen, vielen Dank.“
Diese Worte könnten als Antwort auf den Antrag der
Opposition eigentlich genügen. Der Generalsekretär
dankt Deutschland für sein Engagement im Sicherheits-
rat. Zuvor schon sagte der marokkanische Außenminis-
ter zu Herrn Westerwelle auf Deutsch „Danke schön“.
Anscheinend sind die Gesandten des Auslands alles an-
dere als enttäuscht vom deutschen Vorsitz im Sicher-
heitsrat der Vereinten Nationen, und zwar zu Recht. Ich
werde Ihnen jetzt auch erläutern, warum.
Hier einmal eine knappe Bilanz: Während unseres
Vorsitzes hat Deutschland Initiativen zum Klimaschutz
und zur globalen Abrüstung geleitet. Wir haben eine Re-
solution zum Schutz von Kindern in bewaffneten Gebie-
ten eingebracht.
Das syrische Regime wurde weiter politisch isoliert,
und Deutschland hat aktiv die Friedensbemühungen im
Nahen Osten unterstützt.
Wir haben eine stärkere Zusammenarbeit zwischen
den Vereinten Nationen und der Arabischen Liga durch-
gesetzt.
Es wirkt schon realitätsfremd, wenn man der Bundes-
regierung vorwirft, nicht genug für den Nahen Osten zu
tun, wenn gleichzeitig Außenminister Westerwelle vor
Ort Friedensverhandlungen zwischen Israel und der Ha-
mas führt.
Genauso wirklichkeitsfremd ist die Klage, Deutsch-
land habe bei einer Sicherheitsratsreform versagt. Natür-
lich: Wir haben während unseres Vorsitzes keine Neu-
strukturierung der Vereinten Nationen erreicht. Leider
auch nicht den Weltfrieden. Aber wie es sogar in dem
Antrag steht, wird solch eine Reform auch nicht im Si-
cherheitsrat entschieden, sondern sie benötigt eine Un-
terstützung von zwei Dritteln der 193 UN-Mitgliedstaa-
ten. Und wie alle politischen Entscheidungsträger in
diesem Saal wissen sollten, haben einige Staaten über-
haupt kein Interesse, die verkrusteten Strukturen aufzu-
brechen.
Nichtsdestotrotz hat Dr. Guido Westerwelle ein Au-
ßenministertreffen mit Indien, Brasilien und Japan orga-
nisiert, um diesen Status quo zu ändern. Leider geht
solch eine Revolution nicht blitzartig, auch wenn ich da-
mit unsere werten Kollegen der Opposition nun enttäu-
schen muss. Wir verfolgen das langfristige Ziel, ständi-
ges Mitglied im UN-Sicherheitsrat zu werden. An dieser
Prämisse hat sich nichts geändert. Wir haben daran gear-
beitet, wir werden daran weiterarbeiten.
Das Vertrauen in die deutsche Außenpolitik und deren
friedensstiftenden Einfluss auf die internationalen Bezie-
hungen ist groß. Und es wurde durch unseren Vorsitz im
Sicherheitsrat noch verstärkt. Als Beweis der internatio-
nalen Zustimmung zum Kurs der Bundesregierung
wurde Deutschland vor wenigen Tagen in den UN-Men-
schenrechtsrat gewählt – gegen Kandidaten wie Schwe-
den. Das ist aller Ehren wert.
Die zwei Jahre im Sicherheitsrat und der deutsche
Vorsitz sind eine Erfolgsgeschichte dieser Bundesregie-
rung. Wo die Opposition hier eine Negativbilanz er-
kennt, ist mir fraglich. Daher wird die FDP-Fraktion die-
sen Antrag ablehnen.
Heike Hänsel (DIE LINKE): Heute stimmt die
Generalversammlung der Vereinten Nationen über den
Antrag Palästinas auf Status eines Beobachterstaates bei
der UN ab. Dies ist eine historisch wichtige Chance für
den gesamten Nahen Osten. Mit der angekündigten
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012 25939
(A) (C)
(D)(B)
Enthaltung Deutschlands gegen die große Mehrheit der
UN-Mitgliedstaaten, darunter auch EU-Länder wie
Frankreich, Spanien, Schweden, Portugal, hat sich die
Bundesregierung deutlich isoliert, auch in Europa.
Zumal die Bundesregierung sogar versucht hat, die EU-
Mitgliedstaaten von ihrem Ja abzuhalten. Die Aufnahme
Palästinas als Beobachterstaat ist ein wichtiger Schritt,
um eine Zweistaatenlösung überhaupt am Leben zu
erhalten, denn in den von Israel besetzten Gebieten wer-
den tagtäglich Fakten geschaffen durch immer neue
Siedlungen, Vertreibungen und einseitige Grenzziehun-
gen. Wir brauchen endlich ein Ende der Besatzung in der
Westbank, die Aufhebung der Gaza-Blockade und eine
Zwei-Staaten-Lösung! Die Bundesregierung verpasst am
heutigen Tag diese historische Chance, und sie schwächt
die palästinensischen Kräfte, die sich für eine Verhand-
lungslösung aussprechen, die die Bundesregierung nach
eigenen Angaben ja eigentlich unterstützen will. Das ist
kontraproduktiv!
Wir ziehen heute gleichzeitig Bilanz über fast zwei
Jahre Mitgliedschaft im UN-Sicherheitsrat. Und da zeigt
sich, dass es die Bundesregierung in vielerlei Hinsicht
verpasst hat, Friedensinitiativen zu befördern. Trotz
Vorsitz in der Afghanistan-Arbeitsgruppe für das
UNAMA-Mandat hat die Bundesregierung keine umfas-
sende Friedensinitiative in der Region entwickelt; die
Afghanistan-Konferenz im Dezember 2011 war ein
Misserfolg, Pakistan nahm nicht daran teil, und die
Zivilgesellschaft war nur symbolisch einbezogen. Sie
verlässt sich stattdessen lieber weiterhin auf ihre be-
währte Zusammenarbeit mit afghanischen Warlords und
der korrupten Karzai-Regierung.
Im Falle des syrischen Bürgerkrieges hat UN-Sonder-
vermittler Lakhdar Brahimi ein schwieriges Mandat
übernommen, nachdem sein Vorgänger Kofi Annan be-
reits einen Sechs-Punkte-Plan für eine Verhandlungs-
lösung des Konflikts vorgelegt hat. Dieser ist unter ande-
rem daran gescheitert, dass Frankreich, die Türkei,
Saudi-Arabien, Katar, die USA und andere Staaten ein-
seitig auf Regime-Change setzen und die Rebellen aktiv
unterstützen. Auch die Bundesregierung hat nicht zual-
lererst das Ende der Gewalt von beiden Seiten im Blick,
sondern unterstützt die Forderung nach einem Regime-
Change von außen. Das manifestiert sich unter anderem
in dem von der Bundesregierung mitfinanzierten Projekt
„The Day after“. Frieden gibt es aber nur mit einem Dia-
log, der alle Konfliktparteien mit einbezieht und zu ei-
nem Interessenausgleich führt. Die UN-Charta und das
Völkerrecht müssen oberste Priorität haben!
Die Bundesregierung torpediert nun die schwierigen
Bemühungen Brahimis um eine Verhandlungslösung im
Syrien-Konflikt mit der geplanten Stationierung von
Patriot-Raketen in der Türkei und setzt einseitig auf die
militärische Eskalation durch die NATO. Eine solche
Politik schwächt die UNO und fördert die Kriegsgefahr,
nicht den Frieden. Wir brauchen eine Außenpolitik, die
auf zivile und gerechte Konfliktlösungen setzt und die
Vereinten Nationen in ihrer Rolle stärkt, statt sie durch
NATO-Militärinterventionen zu marginalisieren.
Hier ist auch der größte Unterschied zwischen den
Positionen der SPD, der Grünen und unserer Fraktion:
Zwar stellen Sie in den hier vorliegenden Anträgen fest,
dass militärisches Eingreifen Konflikte nicht löst und
letztes Mittel der Politik sein sollte. Aber in Wirklichkeit
scheint die militärische Option immer mehr als erstes
Mittel zu gelten. Denn für SPD und Grüne war die
schwarz-gelbe Koalition beim Libyen-Krieg zu zöger-
lich; die Enthaltung im Sicherheitsrat, die wir in dem
Fall deutlich begrüßt haben, wurde von Rot-Grün scharf
kritisiert. Wäre es nach Ihnen gegangen, dann wäre die
Bundeswehr an den wochenlangen Luftbombardierun-
gen Libyens beteiligt gewesen, die bis zu 50 000 Men-
schen das Leben gekostet haben. Wo bleiben denn da
Ihre friedlichen Konfliktlösungsstrategien?
Die Bundesregierung weist als politischen Erfolg un-
ter anderem die Verabschiedung einer Resolution für die
Bekämpfung der Rekrutierung von Kindersoldaten auf.
Durch die neue Resolution sollten die Angreifer von
Schulen und Krankenhäusern aber nicht nur geächtet,
sondern auch mit Sanktionen belegt werden. Beispiels-
weise könnten Konten gesperrt oder Reiseverbote ver-
hängt werden. „Diese Resolution ist nicht nur politisches
Papier, sondern hat handfeste Konsequenzen“, sagte
Außenminister Westerwelle. Mit keinem Wort und kei-
ner politischen Konsequenz ging die Bundesregierung
allerdings auf das Problem der Rüstungsexporte, speziell
von Kleinwaffen, ein, die ja weltweit von Konflikt zu
Konflikt weiterverkauft werden und womit die meisten
Kindersoldaten gezwungen werden, zu kämpfen. Und
darunter sind eben häufig auch deutsche Kleinwaffen,
zum Beispiel Gewehre von Heckler & Koch. Solange sie
Rüstungsexporte in Milliardenumfang selbst für Kon-
fliktregionen genehmigen, sogar Lizenzen für eigene
Waffenproduktion bewilligen, ist dieser Kampf gegen
Kindersoldaten wenig glaubhaft!
Die Linke ist für eine Reform und Demokratisierung
der Vereinten Nationen: Die Struktur des UN-Sicher-
heitsrats als bedeutendstem Entscheidungsgremium
spiegelt alte Machtverhältnisse wider. Der Sicherheitsrat
muss zugunsten der Länder Asiens, Afrikas und Latein-
amerikas erweitert werden, und die UN-Vollversamm-
lung muss die zentrale Rolle spielen. In diesem Kontext
muss auch das Vetorecht neu diskutiert werden. Die
Bundesregierung setzt sich in den stockenden Verhand-
lungen darüber zu einseitig für einen Sitz Deutschlands
im UN-Sicherheitsrat ein. Die Weltorganisation muss
finanziell gestärkt, entsprechend ihrer Funktion politisch
respektiert und zu einer handlungsfähigen Instanz zur
Lösung internationaler Probleme ausgebaut werden, um
weltweit Frieden und Entwicklung unter den neuen
politischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen des
21. Jahrhunderts tatsächlich fördern und sichern zu
können.
Parallel zu einer Demokratisierung der UNO sollte
der Wirtschafts- und Sozialrat (ECOSOC) zu einer
gleichwertigen Instanz für wirtschaftliche und soziale
Gerechtigkeit aufgewertet werden, beispielsweise über
die Festlegung von sozialen und ökologischen Normen
für transnationale Unternehmen und generellen Rechten
25940 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012
(A) (C)
(D)(B)
und Pflichten von privaten Unternehmen. Hier fehlen ei-
gene Initiativen der Bundesregierung völlig.
Die Grünen stellen in ihrem Antrag die Umsetzung
von „Responsibility to Protect“, R2P, als zentrale
Herausforderung für einen wirksamen Menschenrechts-
schutz im 21. Jahrhundert dar. Zwar verstehen die
Grünen – wie die SPD – die Schutzverantwortung aus-
drücklich nicht in erster Linie als militärische Aufgabe,
aber diese Option müsse eingesetzt werden, wenn alle
anderen R2P-Instrumente ausgeschöpft seien. Die Grü-
nen fordern zwar die Verbesserung der Präventions-
mechanismen von R2P und das genaue Festlegen von
Kriterien für militärisches Eingreifen und dessen Länge,
aber dass der Krieg dem Schutz der Zivilbevölkerung
dienen soll, ist zynisch. Mit dem Vorwand des Schutzes
von Menschenrechten werden bereits Militärinterventio-
nen geführt. Der Verweis auf die Schutzverantwortung
liefert der internationalen Gemeinschaft nur weitere
Gelegenheiten für Angriffskriege. Die Linke lehnt mili-
tärische Interventionen unter dem Vorwand des Schutzes
der Menschenrechte und der Zivilbevölkerung konse-
quent ab.
Wir fordern stattdessen, dass die „Friedenskommis-
sion zur Unterstützung von Staaten nach bewaffneten
Konflikten“ in eine umfassende Friedenskommission
erweitert wird, die nicht nur die Nachsorge, sondern
auch konkrete Schritte zur Konfliktvorbeugung und
nichtmilitärischer Konfliktlösung einschließlich präven-
tiver Diplomatie zum Gegenstand ihrer Tätigkeit hat.
Wir wenden uns strikt gegen die weitere Militarisierung
der Vereinten Nationen, die bereits jetzt das Dreifache
des UN-Haushalts für „Friedensmissionen“ ausgeben,
während die humanitäre Hilfe, Armutsbekämpfung,
Klimaschutz und zivile Konfliktlösungen unterfinanziert
sind. Wir brauchen demokratisch reformierte Vereinte
Nationen und die Auflösung aller Militärbündnisse.
Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Wir ziehen heute Bilanz aus zwei Jahren
Deutschland im UN-Sicherheitsrat. Diese Bilanz ist, das
will ich gleich vorabschicken, schlicht enttäuschend. So
erfolgreich die Bewerbung um einen nichtständigen Sitz
im Sicherheitsrat vor fast zwei Jahren war, umso erfolg-
loser war leider das Wirken Deutschlands in der wich-
tigsten Schaltstelle für Frieden und Sicherheit in der
Welt. Für diese Bundesregierung zählte wieder einmal
mehr die Verpackung und nicht der Inhalt. Das Dabei-
sein war für sie wichtiger, als zu gestalten. Ziellos und
ohne strategische Ausrichtung wurde das deutsche
Mandat begonnen. Sie sind geradezu auf die Weltbühne
am East River gestolpert. Deshalb verwundert es mich
nicht, dass Deutschland kaum Akzente setzen konnte in
Sachen UN-Reformen, nicht in Abrüstungsfragen und
nicht in Sachen Nahostkrise.
Keine Ideen haben, das ist die eine Sache. Das ist
schlimm genug. Etwas ganz anderes ist es aber, wenn die
Bundesregierung dann auch noch beim Krisenmanage-
ment wie in Libyen völlig versagt und ganz nebenbei das
Prinzip der Schutzverantwortung, zu dem sich auch
Deutschland 2005 auf dem Weltgipfel ausdrücklich ver-
pflichtet hatte, missachtet. Es ist schlicht ein Skandal,
dass ausgerechnet Deutschland sich im Sicherheitsrat
gegen das Votum der Arabischen Liga bei der Frage ei-
ner Intervention enthalten hat. Deutschland hat immer
auch eine besondere historische Verantwortung, Men-
schen vor Völkermord und schwersten Menschenrechts-
verbrechen zu schützen. Dass ausgerechnet Deutschland
den vielen in Bengasi eingekesselten Menschen, die in
Todesangst auf das Massaker warteten, nicht ohne Wenn
und Aber beistand und sich stattdessen an die Seite der
ewigen Blockierer Russland und China stellte, war poli-
tisch falsch und hat uns schweren Schaden zugefügt.
Herr Westerwelle, die Bundesregierung hat sich bei
Libyen schlicht aus der Verantwortung gestohlen.
Selbst aus dieser offensichtlichen Fehlentscheidung
haben Sie leider nichts gelernt. Statt nach Libyen die
Schutzverantwortung zur Priorität zu machen, sind Sie
einfach nur in die nächste Krise in Syrien gestolpert.
Auch hier schwimmen Sie wieder nur mit und reden in
„Freundesgruppen“, anstatt zu handeln. Noch immer
warten wir auf eine selbstbewusste Krisendiplomatie
und Initiativen zur Überwindung der russischen und chi-
nesischen Blockade im Sicherheitsrat, und noch immer
riegeln Sie die Grenzen Deutschlands für die syrischen
Flüchtlinge ab, anstatt ihnen bei uns hier Schutz zu ge-
währen. Das Mindeste, Herr Westerwelle, wäre doch,
dass Sie denjenigen syrischen Flüchtlingen ein Visum
gewähren, die bei ihren hier lebenden Familienangehöri-
gen unterkommen wollen und könnten. Das wäre we-
nigstens eine kleine humanitäre Geste. Noch nicht ein-
mal die sind Sie bereit zu gewähren.
Libyen und Syrien haben viele Fragen aufgeworfen,
die an die Grundfesten der UNO rühren: wie wir zum
Schutz von Menschen künftig Blockaden im Sicherheits-
rat und den Missbrauch von Mandaten von Menschen
verhindern können. Dennoch hat die Bundesregierung
im Sicherheitstrat keine Lösung dieser zentralen Fragen
vorangetrieben, die für die Ausbuchstabierung der
Schutzverantwortung so wichtig sind. Nein, es waren
wieder andere: Brasilien mit seiner Initiative „Responsi-
bility while protecting“ und wir, die Opposition im Bun-
destag. Wir haben die Anträge zur Schutzverantwortung
vorgelegt, und wir Grüne haben die Experten zu einer
Konferenz eingeladen, um nach Lösungswegen zu
suchen. Sie haben offensichtlich noch immer nicht
begriffen, dass die Schutzverantwortung die menschen-
rechtspolitische Herausforderung des 21. Jahrhunderts
ist.
Wir schon. Wir haben verstanden, dass wir im Sicher-
heitsrat dringend Initiativen brauchen, wie wir bei Völ-
kermord, Kriegsverbrechen, ethnischen Säuberungen
und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, also bei
schwersten Menschenrechtsverbrechen, Blockaden im
Sicherheitsrat überwinden können. Wir bringen die Idee,
die VN-Generalversammlung mehr in die Verantwor-
tung zu nehmen im Sinne des „Uniting for Peace“. Und
wir haben verstanden, dass wir dazu auch klare Leitplan-
ken für Mandate brauchen. Dazu müssen wir die
Vorschläge der Expertengruppe Kofi Annans weiterent-
wickeln, das heißt etwa, auch enge zeitliche Beschrän-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012 25941
(A) (C)
(D)(B)
kungen und regelmäßige Überprüfungen von Mandaten
voranzutreiben.
Wir haben verstanden, dass es in Fragen schwerster
Menschenrechtsverbrechen in erster Linie darum gehen
muss, die vorbeugende Schutzverantwortung, die „Res-
ponsibility to prevent“, in die Köpfe der Verantwortli-
chen im Sicherheitsrat hineinzubekommen, um rechtzei-
tig zu handeln, bevor Gewalt und Chaos regieren. Wir
sollten Kofi Annans Vermächtnis nach Ruanda ernst
nehmen und intensiv an einer zivilen und präventiven
Schutzverantwortung arbeiten, um das Morden von mor-
gen durch eine kluge Politik der Prävention von heute zu
verhindern. Dazu brauchen wir in der Außenpolitik end-
lich wieder eine neue Kultur der zivilen Krisenpräven-
tion, wenn wir wieder als Zivilmacht ernst genommen
werden wollen.
Auch das hat diese Bundesregierung offensichtlich
nicht verstanden. Sie entwickelt nicht etwa den Aktions-
plan zivile Krisenprävention weiter und ergänzt ihn,
etwa durch wichtige neue Instrumente zur politischen
Vermittlung in Konflikten und Krisen, nein, stattdessen
hat sie ihn einfach in die „Ablage P“, also in den Papier-
korb, geschoben. Wichtige Institutionen wie das ZIF
baut sie nicht aus, obwohl es immer mehr Aufgaben zu
erfüllen hat. Und schließlich kürzt die Bundesregierung
jetzt wieder die Mittel der zivilen Krisenprävention im
Auswärtigen Amt und wartet ab, bis der Unterausschuss
„Zivile Krisenprävention“ ihr Ideen auf den Tisch legt.
Wir schlagen dagegen den Aufbau ziviler Präven-
tionsinstrumente, wie Pools für Mediations-, Polizei-,
Verwaltungs- und Rechtsexperten vor. Wir wollen die
Frühwarnung und Reaktionsfähigkeit in Sachen Schutz-
verantwortung stärken durch die Einrichtung nationaler
Kontaktstellen, sogenannter Focal Points, und wir
wollen die Einrichtung eines Beirates zur Verhütung von
Massenverbrechen. Da sind uns die Amerikaner mit ih-
rem Mass Atrocity Prevention Board schon weit voraus.
Liebe Bundesregierung, ich appelliere an Sie: Lassen
Sie sich gerade in Sachen Schutzverantwortung nicht
weiter nur treiben, sondern treiben Sie selbst etwas
voran. Unser Antrag sollte Ihnen dazu Ansporn sein und
Inspiration geben. Ich bitte deshalb hier im Parlament
um eine breite Unterstützung.
Anlage 10
Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung:
– Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der In-
nenentwicklung in den Städten und Gemein-
den und weiteren Fortentwicklung des Städ-
tebaurechts
– Antrag: Baugesetzbuch wirklich novellieren
Beschlussempfehlung und Bericht zu den An-
trägen:
– Barrierefreie Mobilität und barrierefreies
Wohnen – Voraussetzungen für Teilhabe
und Gleichberechtigung
– Barrierefreies Bauen im Baugesetzbuch ver-
bindlich regeln
– Barrieren abbauen – Mobilität und Wohnen
für alle
(Tagesordnungspunkte 21 a bis 21 c)
Peter Götz (CDU/CSU): Mit dem Gesetzentwurf zur
Stärkung der Innenentwicklung in den Städten und Ge-
meinden und zur weiteren Fortentwicklung des Städte-
baurechts wollen wir sowohl das Baugesetzbuch als
auch die Baunutzungsverordnung ändern. Im Juni ver-
gangenen Jahres haben wir in einem ersten Schritt zur
Beschleunigung der Energiewende die notwendigen An-
passungen im Baugesetzbuch vorgenommen.
Mit dem jetzt vorliegenden zweiten Teil wollen wir
uns im Wesentlichen auf die Stärkung der Innenentwick-
lung in den Städten und Gemeinden konzentrieren:
Wir wollen, dass in Zukunft die städtebauliche Ent-
wicklung noch stärker als bisher durch Maßnahmen der
Innenentwicklung erfolgt. Die Umwandlung landwirt-
schaftlich oder als Wald genutzter Fläche muss künftig
besonders begründet werden. Wir wollen es durch eine
Änderung der Baunutzungsverordnung den Kommunen
erleichtern, in ihren Bebauungsplänen eine gewollte
städtebauliche Verdichtung vorzusehen. Wir erleichtern
den Kommunen die Steuerung der Ansiedlung von Ein-
zelhandelsbetrieben.
Ein weiterer Komplex sind Maßnahmen, die zu einer
geordneten Entwicklung im Außenbereich des ländli-
chen Raums beitragen sollen. Wir wissen, dass die bäu-
erliche Landwirtschaft zu den tragenden Säulen der wirt-
schaftlichen Entwicklung im ländlichen Raum gehört.
Ihre bestehenden Entwicklungsmöglichkeiten dürfen
nicht beeinträchtigt werden. Allerdings sind durch die
Ansiedlung von großen Tierhaltungsanlagen in den letz-
ten Jahren zunehmend Fragen aufgeworfen worden, ob
die Standorte städtebaulich verträglich sind oder der Ent-
wicklung der Gemeinden entgegenstehen.
Wir haben uns deshalb die Frage gestellt, wie die Ge-
meinden trotz der privilegierten Zulässigkeit dieser Tier-
haltungsanlagen im Außenbereich die Instrumente der
Bauleitplanung zum Einsatz bringen können. Dabei geht
es vor allem um die industrielle Intensivtierhaltung, die
teilweise Ausmaße angenommen hat, die zu einer nach-
haltigen Beeinträchtigung der Umwelt sowie der Le-
bensqualität führen kann. Nur für diesen Bereich und
nicht für den normalen landwirtschaftlichen Betrieb
brauchen die Kommunen wirkungsvolle Steuerungs-
möglichkeiten, die wir mit diesem Gesetz vorschlagen.
Ich werde in den parlamentarischen Beratungen auf
diese Unterscheidung großen Wert legen. Eine pauschale
Verdammung landwirtschaftlicher Vorhaben im Außen-
bereich tragen wir nicht mit.
Zur Unterstützung des Strukturwandels in der Land-
wirtschaft schlägt die Bundesregierung außerdem vor,
den Begünstigungstatbestand für ehemals landwirt-
schaftlich genutzte Gebäude maßvoll zu erweitern.
25942 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012
(A) (C)
(D)(B)
Ein dritter Punkt sind jene Regelungsvorschläge, die
darauf abzielen, konkrete Vorhaben in den Städten und
Gemeinden durch aktives Handeln zu unterstützen. Dazu
zähle ich insbesondere die Erweiterung des gemeindli-
chen Vorkaufsrechts zugunsten eines Dritten. Diese
Regelung wird zur Verfahrensvereinfachung und Verfah-
rensbeschleunigung beitragen. Gemeinden und Investo-
ren werden dadurch außerdem entlastet.
Ein weiteres stadtentwicklungspolitisches Problem,
das dem Ziel einer qualitätsvollen Innenentwicklung der
Städte und Gemeinden widerspricht, greifen wir mit die-
sem Gesetz ebenfalls auf:
In den letzten Jahren prägen zunehmend verwahr-
loste, nicht mehr wirtschaftlich nutzbare Gebäude das
Bild vieler Städte, teilweise auch der Innenstädte. Solche
„Schrottimmobilien“ stellen aufgrund ihrer negativen
Ausstrahlung auf die Umgebung für viele Kommunen
eine große Herausforderung dar. Nicht selten werden
solche Immobilien als Spekulationsobjekte gehalten, die
nach und nach dem Verfall preisgegeben sind. Struktur-
schwache Regionen, die mit wirtschaftlich bedingten
Bevölkerungsverlusten und auch mit den Folgen des de-
mografischen Wandels kämpfen, sind davon besonders
betroffen. Dies gilt sowohl für die Großstädte als auch
für Gemeinden im ländlichen Raum.
Erlauben Sie mir noch den Hinweis darauf, dass die
Bundesregierung dem Wunsch nach einem verbesserten
Vorschlag für die rechtliche Unterstützung des energie-
effizienten und klimaneutralen Quartiersumbaus nachge-
kommen ist. Wir wollen energieeffiziente Lösungen, die
einerseits dem Klimaschutz Rechnung tragen, die aber
auch wirtschaftlich sind und von den Haus- und Grund-
stückseigentümern angenommen werden. Ordnungspoli-
tische Zwänge sind der falsche Weg. Auch wollen wir
durch eine Änderung des Städtebaurechts eine verbes-
serte Steuerung von Vergnügungsstätten ermöglichen
und für die Anwendung städtebaulicher Verträge klar-
stellende Regelungen aufnehmen. Wir haben einen guten
Gesetzentwurf.
Der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme zum Ge-
setzentwurf einige interessante Punkte angesprochen,
die wir in den Beratungen diskutieren werden.
Im Bau- und Planungsrecht ist es eine gute und be-
währte Tradition, im Vorfeld der parlamentarischen Be-
ratungen zusammen mit ausgewählten Kommunen im
Planspiel gesetzliche Auswirkungen zu testen. Die Er-
gebnisse des Planspiels und der vereinbarten Sachver-
ständigenanhörung fließen in unsere Entscheidungs-
findung ein. Ich bin optimistisch, dass wir diesen
Gesetzentwurf, so wie seine Vorgänger, im guten und of-
fenen Gedankenaustausch beraten. Es wird für mich
nach mehr als 20 Jahren wohl das letzte parlamentari-
sche Verfahren zur Änderung des Baugesetzbuches sein.
Mein persönlicher Wunsch ist es, dass wir es auch dieses
Mal wieder quer durch alle Fraktionen schaffen, zu ei-
nem breiten Konsens über die wesentlichen Änderungen
des Baugesetzbuches zu kommen.
Planungssicherheit für einen längeren Zeitraum ist
gerade im Baubereich für alle Akteure in den Rathäu-
sern, aber auch für Investoren ein nicht zu unterschät-
zendes hohes Gut. Deshalb sind Deutscher Bundestag
und Bundesrat gut beraten, beim Baugesetzbuch und der
Baunutzungsverordnung möglichst mit großer Mehrheit
an einem Strang zu ziehen. Das erfordert Kompromisse
in der Sache. Lassen Sie uns darüber reden. Ich wünsche
uns fruchtbare Beratungen.
Volkmar Vogel (Kleinsaara) (CDU/CSU): Heute
machen wir einen wichtigen Schritt in Richtung der not-
wendigen Novelle des Bau- und Planungsrechts.
Das deutsche Baugesetzbuch ist seit Jahrzehnten ein
bewährtes und verlässliches Planungsinstrument. Das
Baugesetzbuch und die Bauordnungen der Länder haben
mit dafür gesorgt, den enormen Nachholbedarf bei Infra-
struktur und Siedlungsbau in Ostdeutschland zu stem-
men. Dank gemeinsamer Anstrengungen des Bundes,
der Länder und Kommunen ist es uns gelungen, die
durch Plan- und Mangelwirtschaft verursachten Defizite
zu beheben.
Geänderte Lebensumstände und neue gewerbliche
Strukturen erfordern eine Anpassung im Bebauungs-
recht. Mit den demografischen Veränderungen und wei-
teren Flächeninanspruchnahmen wächst die Forderung
aus den Kommunen an den Gesetzgeber. Der Schutz
landwirtschaftlicher Flächen vor weiterer Inanspruch-
nahme durch Siedlung und Verkehr hat für die christlich-
liberalen Koalitionspartner große Priorität. Wir haben
auch Verständnis für den Unmut der Landwirte, wenn
wertvolle Böden für Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen
geopfert werden. Wir verstehen die Kritik, wenn mehr
und mehr Fläche im Außenbereich versiegelt wird. Wir
nehmen Beschwerden der Bevölkerung über Belastun-
gen durch Agrargewerbebetriebe vor der Haustür ernst.
Wir sehen die Schwierigkeit, dass bei weiterer Sied-
lungsausdehnung die Innenstädte zusehends strukturell
verarmen.
Deswegen haben wir im Koalitionsvertrag die Stär-
kung der Innenentwicklung zur Reduktion der Flächen-
inanspruchnahme als Ziel unserer Regierungspolitik fest-
gehalten. Der vorliegende Regierungsentwurf zur
Novelle des Baugesetzbuches setzt klare Signale für eine
nachhaltige Flächennutzung und zukunftsgerechte Stadt-
entwicklung. Der Regierungsentwurf zielt unmissver-
ständlich auf eine Stärkung der Innenentwicklung in
Städten und Gemeinden. Die Kommunen sollen mehr Ge-
staltungsfreiraum durch bessere Unterstützung bei der
städtebaulichen Entwicklung erhalten. Anstatt mehr Flä-
che im Außenbereich zu nutzen, sollen Baulücken ge-
schlossen, Brachen genutzt und leer stehende Gebäude
durch Modernisierung attraktiver werden.
Die christlich-liberale Koalition steht zur Privilegie-
rung landwirtschaftlicher Betriebe im Außenbereich. Wir
wollen keine neuen Planungsinstrumente schaffen, son-
dern vorhandene anwenden. Demografische Veränderun-
gen und neue Methoden der Landwirtschaft erfordern vor
allem praxistaugliche Regelungen. Bei Agrargewerbebe-
trieben halten wir die Umweltverträglichkeitsprüfung
deshalb für ein geeignetes Instrument der Kommunen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012 25943
(A) (C)
(D)(B)
Das Baugesetzbuch und die Bauordnungen der Län-
der berühren in Verbindung mit der Baunutzungsverord-
nung alle Bereiche des Lebens und der Wirtschaft. Des-
halb sollten wir uns hier im Hause einig sein, einen
möglichst breiten Konsens zwischen den Fraktionen ge-
meinsam mit den Bundesländern zu finden.
Die Menschen stellen neue Ansprüche an das Woh-
nen. Dem müssen wir als Gesetzgeber folgen. Barriere-
freiheit, aber auch Barrierearmut im Gebäude werden
zusehends wichtige Themen. Die Belange von älteren
Menschen und Menschen mit Behinderungen finden im
Baugesetzbuch bereits Berücksichtigung. Wie ich bereits
sagte, liegt die Ausgestaltung in der Zuständigkeit der
Länder und der jeweiligen Bauordnungen. Das Bauge-
setzbuch eröffnet dazu in § 1 die notwendigen Rechts-
grundlagen. Die Bauordnungen der Länder können dazu
weitere Regelungen treffen.
Auch der Aktionsplan der Bunderegierung zur Um-
setzung der Behindertenrechtskonvention sowie die För-
dermittel der Kreditanstalt für Wiederaufbau zum alters-
gerechten Umbau zielen in dieselbe Richtung. Auch der
jüngst erzielte Kompromiss im Personenbeförderungs-
gesetz zeigt, dass wir gemeinsam erfolgreich an einer
sukzessiven Entwicklung hin zu mehr barrierefreien An-
geboten arbeiten können.
Aus diesen Gründen können wir den Anträgen der
Opposition nicht folgen. Ich werbe um Zustimmung zum
vorgelegten Regierungsentwurf.
Hans-Joachim Hacker (SPD): Die Weihnachtszeit
ist ja bekanntlich die Zeit der Geschenke. Heute erfüllt
uns Herr Minister Ramsauer auch endlich einen Wunsch
und legt die lang erwartete Novelle zum Bauplanungs-
recht vor. Der Entwurf für ein Gesetz zur Stärkung der
Innenentwicklung in den Städten und Gemeinden und
weiteren Fortentwicklung des Städtebaurechts hat fast
ein Jahr benötigt, um vom Referentenentwurf zum Kabi-
nettsentwurf zu reifen.
Bedenkt man, dass die Novellierung des Baupla-
nungsrechts ursprünglich einmal 2011 abgeschlossen
sein sollte und jetzt erst weit in 2013 in Kraft treten
kann, ist die tatsächliche Verzögerung noch viel erhebli-
cher.
Für die durch die Energiewende notwendige Aufsplit-
tung der Novelle kann ich die Bundesregierung nicht kri-
tisieren. Das war wegen des Atomausstiegs richtig, und
wir haben das auch im Konsens durchgezogen. Aller-
dings hätte der zweite, ebenso wichtige Teil der Novelle
längst umgesetzt werden müssen. Hier muss sich die
Bundesregierung sehr wohl den Vorwurf gefallen lassen,
wegen hausgemachter Probleme bei der Abstimmung
zwischen den Ressorts unnötig Zeit verschwendet zu ha-
ben.
Es kann doch nicht sein, dass ein Streit zwischen dem
Minister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung und sei-
ner Kollegin aus dem Landwirtschaftsministerium die
Novellierung des BauGB für Monate auf Eis legt. Und
das auch noch wegen eines ganz zentralen Punkts des
Entwurfs, der baurechtlichen Privilegierung der Inten-
sivtierhaltungsanlagen. Und es ist noch verwunderlicher,
dass am Ende sogar noch die unbedeutende Frage der
baurechtlichen Einordnung von Kleintierzucht zu weite-
ren wochenlangen Verzögerungen führte. Wir sind von
der schwarz-gelben Koalition in Bezug auf Tierverglei-
che ja schon einiges gewohnt – die Wildsäue und der
Frosch lassen grüßen. Es erstaunt mich aber dennoch,
dass der Bundesregierung eine Regelung für Rassegeflü-
gelzucht in der Baunutzungsverordnung offenkundig so
wichtig ist, dass sie die überfällige Weiterentwicklung
des Bauplanungsrechtes dafür auf die lange Bank ge-
schoben hat.
Mit dem Gesetz zur Stärkung der Innenentwicklung
in den Städten und Gemeinden und weiteren Fortent-
wicklung des Städtebaurechts muss der Gesetzgeber eine
Antwort auf Trends und Entwicklungen geben, die die
Städtebaupolitik in den letzten Jahren maßgeblich be-
stimmen. Diesen Ansatz unterstützt die SPD-Bundes-
tagsfraktion ausdrücklich.
Die demografische Entwicklung mit der Veränderung
der Altersstruktur einerseits und dem Rückgang der Be-
völkerung andererseits, die zudem auch noch regional
sehr unterschiedlich ausfällt, hat erhebliche Auswirkun-
gen auf die Entwicklung der Städte und Gemeinden. Das
gilt es zu gestalten.
Wir erleben derzeit, wie uns die damit verbundenen
Probleme förmlich schon auf den Nägeln brennen. Der
Zuzug von Menschen in die Städte und Ballungsgebiete
führt zu Wohnraumverknappung und steigenden Mieten.
Die Verdichtung des Innenbereichs, die sich in Zukunft
noch weiter verstärken wird, macht eine Anpassung der
bauplanungsrechtlichen Grundlagen unumgänglich. Üb-
rigens auch da, wo wir die gegenteilige Entwicklung ha-
ben. Auch in den Schrumpfungsregionen müssen Pro-
zesse gestaltet werden, müssen Kommunen zusätzliche
Steuerungsinstrumente erhalten, um mit den Folgen die-
ser Schrumpfungsprozesse umgehen zu können. Die
Verdichtung, etwa durch Erschließung von Freiflächen
oder Möglichkeiten zur Aufstockung von Gebäuden in
den Städten, und die Entwertung, etwa durch Leerstand
oder durch Schrottimmobilien – das sind zwei Seiten
derselben Medaille.
Dazu gehören auch der Klimaschutz und die Gestal-
tung der städtebaulichen Folgen der klimatischen Verän-
derungen. Steigende Energiepreise und die damit ver-
bundenen höheren Transportkosten führen zum Wegzug
von Pendlern aus den Speckgürteln in die Innenstädte.
Dort muss dann aber im Gegenzug auch die energetische
Ausstattung der Wohnquartiere so sein, dass die wegfal-
lenden Pendelkosten nicht anschließend durch die hohen
Energiekosten schlecht gedämmter Wohnhäuser wieder
aufgefressen werden. Das gilt aber auch für die Mieten,
die durch überzogene energetische Maßnahmen und de-
ren Kostenfolgen nicht noch weiter klettern dürfen.
Zur Stärkung des Innenbereichs gehört es auch, die
Infrastruktur auf die mit der Verdichtung zusammenhän-
genden Entwicklungen einzustellen und dabei auch die
Aspekte des Klimaschutzes mit zu berücksichtigen –
zum Beispiel durch zentrale Versorgungseinrichtungen,
25944 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012
(A) (C)
(D)(B)
die unnötige Wege und unnötigen CO2-Ausstoß vermei-
den.
Und letztlich ergibt sich durch den Schwerpunkt der
Innenentwicklung auch die Option, den Außenbereich
stärker als bislang zu schützen. Verdichtete Innenstädte
brauchen mehr denn je den Ausgleich durch die zu
schützende sprichwörtliche „grüne Wiese“ im Außenbe-
reich, die eben mehr ist als nur eine Fläche zur Ansied-
lung von Einkaufszentren.
Das sind – in groben Zügen – die Anforderungen an
die Novelle des Bauplanungsrechtes, die mit dem Ge-
setzentwurf im Großen und Ganzen auch umgesetzt wer-
den sollen.
Der Entwurf des Gesetzes, mit dem in Zukunft so-
wohl SPD- als auch unionsgeführte Kommunen – ja so-
gar Städte mit grünen Bürgermeistern – umgehen müs-
sen, ist ja auch nicht im Elfenbeinturm des BMVBS
entstanden. Er ist Ergebnis eines langen Dialogprozes-
ses, in den die maßgeblichen kommunalen Akteure im
Rahmen der Berliner Gespräche eingebunden waren.
Herausgekommen ist ein Gesetzentwurf, mit dem die
Koalition im Wesentlichen ihren Koalitionsvertrag abar-
beitet und über die dort vereinbarten Punkte hinaus nur
noch notwendig gewordene Anpassungen an die Recht-
sprechung und an geändertes EU-Recht sowie Folgeän-
derungen durch vorangegangene Änderungen in Fachge-
setzen umsetzt. Lediglich mit den Regelungen zur
Intensivtierhaltung und zu Vergnügungsstätten bzw.
Spielhallen wird weiterer politischer Regelungsbedarf
aufgegriffen.
Einen großen Wurf kann man diese Novelle also nicht
gerade nennen, eher Dienst nach Vorschrift – aber mehr
war von dieser Koalition auch nicht zu erwarten. Der
Umstand, dass dieser Punkt heute hätte um Mitternacht
debattiert werden sollen und nicht in der Kernzeit,
spricht ja Bände.
Im Ergebnis präsentiert sich der Gesetzentwurf also
als „Novelle light“. Eine revolutionäre Weiterentwick-
lung des Bauplanungsrechts erfolgt nicht. Bereits die
Formulierungen des Koalitionsvertrages hatten ja, wie
gesagt, keine großen gestalterischen Absichten erkennen
lassen. Auch bei der Vorbereitung des Gesetzentwurfs
durch die Berliner Gespräche hat das BMVBS eher
bremsend als reformbegeistert gewirkt. Konkretere
Maßnahmen zum Bauen im Außenbereich etwa oder zur
Minimierung des Flächenverbrauchs waren ausdrücklich
nicht gewünscht bzw. wurden gar als „Investitions-
hemmnis“ bezeichnet.
Die von dieser doch sehr eindeutigen politischen Vor-
gabe geprägten Vorschläge und Empfehlungen der Ex-
perten wurden im weiteren Verlauf vom BMVBS auch
nur in Teilen in den Entwurf aufgenommen. Weiterge-
hende Regelungen wurden zudem währen der koalitions-
internen Abstimmung weichgespült oder ganz fallen ge-
lassen.
Gleichwohl: Die Städte und Gemeinden warten hän-
deringend auf die im Gesetz enthaltenen baurechtlichen
Regelungen für ihre durch Zuzug und Wohnungsmangel
geprägten Innenstädte. Sie brauchen verbesserte Durch-
griffsmöglichkeiten im Umgang mit Schrottimmobilien,
sie brauchen Regelungen zur Einschränkung der
Flächeninanspruchnahme und zum Schutz des Außenbe-
reichs. Die baurechtliche Zulässigkeit von Kinderbetreu-
ungseinrichtungen in Wohngebieten ist ein ebenso wich-
tiges Anliegen. Die SPD könnte daher auch diese nicht
in allen Teilen zufriedenstellende Novelle mittragen,
wenn die Bundesregierung den Entwurf in entscheiden-
den Punkten nachbessert.
Dazu gehören aus Sicht der SPD ganz klar Änderun-
gen bei der nur halbherzig vorgenommenen Einschrän-
kung der baurechtlichen Privilegierung der Intensivtier-
haltung. Die Privilegierung der Tierhaltung muss nach
Auffassung der SPD im Baurecht künftig schon bei Er-
reichen des jeweils unteren Schwellenwertes im Gesetz
über die Umweltverträglichkeitsprüfung entfallen – und
zwar ohne eine unnötige Vorprüfung und ohne zwischen
landwirtschaftlicher und gewerblicher Tierhaltung zu
unterscheiden. Wir wollen, dass die kommunalen Steue-
rungsmöglichkeiten deutlich verbessert werden, damit
die zuständigen Stellen endlich die Probleme vor Ort lö-
sen können. Die schwarz-gelbe Bundesregierung löst
mit ihrer Novelle in der vorliegenden Fassung keines der
drängenden Probleme im Bereich der Tierhaltung.
Auch die im Entwurf enthaltenen Instrumente für
Kommunen, gegen Schrottimmobilien vorzugehen, sind
in der vorliegenden Form ein stumpfes Schwert. Es fehlt
vor allem der politische Wille, Eigentümer dieser
Schandflecken an den Kosten für deren Beseitigung zu
beteiligen. Das ist ein zentraler Punkt, bei dem aus unse-
rer Sicht der Entwurf nicht so die Ausschussberatung
verlassen darf, wie er hineingeht.
Ich will hier als weiteren Punkt die im Baugesetzbuch
vorgesehenen Änderungen zum Schutz des Außenbe-
reichs nennen, die sich im Wesentlichen auf gut klin-
gende Sätze in § 1 und 1 a beschränken, ohne aber in der
Praxis nennenswerte Auswirkungen zu haben. Im Ge-
genteil, kuriose Einzelregelungen wie zum Beispiel die
geplante Neufassung des § 35 Abs. 4 – Stichworte: Um-
nutzung und Neubau von Höfen im Außenbereich – lau-
fen sogar auf das Gegenteil hinaus und unterlaufen die
Intention des Gesetzentwurfes.
Hier gilt es also, in der weiteren Beratung unter Ab-
wägung der Belange der Kommunen und unter Vermei-
dung allzu großer bürokratischer Auflagen Regelungen
zu finden, die den Schutz des Außenbereichs und die Er-
reichung des 30-Hektar-Ziels tatsächlich sicherstellen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfrak-
tion, die kommenden Ausschussberatungen werden zei-
gen, wie ernst Sie es mit der Stärkung der Innenentwick-
lung der Städte und Gemeinden wirklich meinen.
Petra Müller (Aachen) (FDP): Mit dem Gesetz zur
Stärkung der Innenentwicklung in Städten und Gemein-
den und zur weiteren Fortentwicklung des Städtebau-
rechts erfüllen CDU/CSU und FDP ihren Koalitionsver-
trag weiterhin zielbewusst, konzentriert und erfolgreich.
Mit dem hier vorgelegten Gesetzentwurf wollen wir zu-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012 25945
(A) (C)
(D)(B)
gleich wesentliche Ziele einer zukunftsgerichteten und
an den sich verändernden Lebensbedingungen ausge-
richteten Stadtentwicklung und Raumplanung erreichen.
Es ist dabei Ziel der FDP, den Menschen in Deutschland
ein qualitativ hochwertiges, modernes und nachhaltiges
Lebensumfeld zu schaffen. Die Ziele des Klimaschutzes
und die notwendigen Schritte zur erfolgreichen Gestal-
tung der Energiewende haben wir immer fest im Blick.
Diesen Anforderungen wird das vorgelegte Gesetz
gerecht: Mit einer Vielzahl von Maßnahmen in einer
Vielzahl von Bereichen werden wir mit der Gesetzesvor-
lage das Leben der Menschen erleichtern und verbes-
sern, die kommunale Selbstverwaltung weiter stärken
und zugleich die Ziele der nationalen Nachhaltigkeits-
strategie konsequent verfolgen. So wird die Innenent-
wicklung der Städte und Gemeinden in der städtebauli-
chen Entwicklung weiterhin vorrangig erfolgen. Die
Reduzierung der Flächeninanspruchnahme ist im Koali-
tionsvertrag vereinbart und wir setzen dieses Vorhaben
mit diesem Gesetz fort. Sollten darüber hinaus zukünftig
landwirtschaftlich oder als Wald genutzte Flächen einer
Umnutzung zugeführt werden, so bedarf dies künftig ei-
ner ausdrücklichen Begründung. So erhöhen wir die
Schwelle der Neubebauung und fördern die Entwicklung
eines bewussten Umgangs mit Freiflächen und Raum.
Den Kommunen wird es im Zusammenhang mit der
Innenentwicklung erstens erleichtert, in ihren Bebau-
ungsplänen eine gewollte städtebauliche Verdichtung
vorzusehen. Darüber hinaus wird mit diesem Gesetz
zweitens durch die Schaffung einer neuen Darstellungs-
möglichkeit im Flächennutzungsplan der Schutz zentra-
ler Versorgungsbereiche nachdrücklich gestärkt werden.
Und drittens erhalten die Kommunen Erleichterungen
beim gesetzlichen Vorkaufsrecht der Gemeinden. All das
wird den Kommunen einen neuen, einen wirkungsvollen
Handlungsspielraum geben, die Städte und Gemeinden
lebenswerter und wohnlicher zu gestalten und dabei die
Umwelt und Natur zu schützen und zu erhalten.
Mit dem Gesetz schaffen wir aber auch für den Ein-
zelnen, für den Bürger sofort oder kurzfristig wirksame
und wahrnehmbare Verbesserungen: So werden Kinder-
tagesstätten zukünftig in einer den Bedürfnissen der Be-
wohner angemessenen Größe auch in reinen Wohngebie-
ten allgemein zulässig sein. Wir unterstützen damit
Eltern, wir verbessern die Vereinbarkeit von Familie und
Beruf durch kurze Wege und die Ermöglichung von Be-
treuungsplätzen. Bereits im letzten Jahr hat die christ-
lich-liberale Koalition klargestellt, dass Kinderlärm
keine schädliche Umwelteinwirkung darstellt; jetzt wer-
den wir das Recht der Kinder auf eine in ihr Lebensum-
feld integrierte Außer-Haus-Betreuung weiter stärken.
Nur zwei weitere Punkte aus dem Gesetz darf ich an-
sprechen, die in der Bevölkerung berechtigterweise im-
mer große Aufmerksamkeit und Resonanz finden und
die dezidiertes Interesse liberaler Stadtentwicklungspoli-
tik sind: Zur Steuerung der Ansiedlung von Vergnü-
gungsstätten wird es zukünftig eine klarstellende Rege-
lung geben. Gewerbliche Tierhaltungsanlagen sollen im
Außenbereich nur dann privilegiert sein, wenn sie keine
Pflicht zur Umweltverträglichkeitsprüfung haben. Damit
regeln wir sensible Bereiche der Baugesetzgebung nun
endlich zum Wohle der Menschen und unter Berücksich-
tigung auch berechtigter wirtschaftlicher Interessen.
Ich darf an dieser Stelle ausdrücklich darauf hinwei-
sen, dass die Landwirte von diesen Regelungen nicht be-
troffen sind, sondern ausschließlich und gewollt die ge-
werbliche Tierhaltung. Insofern kann ich die Aufregung
mancher Landwirte nicht nachvollziehen. Letztlich
bleibt es aber immer die Eigenverantwortung der betrof-
fenen Kommune, dass für ihre Region „Beste“ zu ent-
scheiden.
Mit der Vorlage dieses Gesetzes beweist die Koalition
ihre politische Handlungsfähigkeit und setzt einen weite-
ren wichtigen Stein auf dem Weg zu einer erfolgreichen
und lebensnahen Politik für Bürgerinnen und Bürger, für
Deutschland.
Alexander Süßmair (DIE LINKE): Wir debattieren
heute in erster Lesung den Entwurf eines Gesetzes zur
Stärkung der Innenentwicklung in den Städten und Ge-
meinden und weiteren Fortentwicklung des Städtebau-
rechts. Das Hauptanliegen des Gesetzentwurfs ist klar.
Die Linke teilt die Forderungen nach Stärkung der
Innenstädte und Ortskerne. Natürlich wenden wir uns
gegen weitere Flächenversiegelung durch Zersiedelung.
Da sind wir uns in diesem Hause wohl alle einig, und es
wird allerhöchste Zeit, dass den Sonntagsreden der
Bundesregierung auch Taten folgen: Der Flächen-
verbrauch muss aus umwelt- und agrarpolitischen Grün-
den dringend gestoppt werden.
Der vorliegende Gesetzentwurf krankt aber an zwei
Punkten:
Erster Punkt. Es fehlt das klare Bekenntnis, die 2009
beschlossene UN-Behindertenrechtskonvention auch
beim Städtebau umzusetzen. Wir brauchen ein Grund-
recht auf Barrierefreiheit. Das nützt nicht nur Menschen
mit Behinderungen, sondern allen, die im Alltag behin-
dert werden: Kindern, Alten, dem Vater mit dem Kinder-
wagen, der Frau mit dem Lastrad. Die Linke hat dazu ei-
nen Antrag eingebracht, den wir hier in dritter Lesung
debattieren und dann abstimmen werden. Wir unterstüt-
zen aber ebenso die Anträge von SPD und Bündnis 90/
Die Grünen zur Barrierefreiheit. Die Oppositionsfraktio-
nen sind sich hier, abgesehen von Nuancen, ziemlich
einig. Im Gesetzentwurf der Regierung kommt die Bar-
rierefreiheit allerdings überhaupt nicht vor. Das kann
doch wohl nicht ihr Ernst sein? Hier müssen Sie drin-
gend nachbessern!
Zweiter Punkt. Ihre Änderung des § 35 Baugesetz-
buch geht in die falsche Richtung. In diesem Paragrafen
geht es um die Privilegierung landwirtschaftlicher Ge-
bäude im Außenbereich. Nun sollen auch gewerbliche
Tierhalter davon profitieren, solange die Stallanlagen
nicht unter die Umweltverträglichkeitsprüfung fallen.
Das klingt kompliziert. Sagen wir es deutlicher: Die
Bundesregierung will jetzt sogar die Intensivtierhaltung
besser behandeln als bisher. Das geht gar nicht und ist
ein Schlag ins Gesicht der Bürgerinnen und Bürger in
25946 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012
(A) (C)
(D)(B)
den Regionen, die heute schon von einer extremen
Konzentration der Intensivtierhaltung betroffen sind.
Die Linke spricht sich generell für die Beibehaltung
des Landwirtschaftsprivilegs im Baurecht aus. Die Linke
hält es aber für unumgänglich, mehrere „Verträglich-
keitskriterien“ für derartige Anlagen zu formulieren und
gesetzlich zu regeln. Die Umweltverträglichkeitsprüfung
allein reicht aber als Kriterium nicht aus. Viehdichte und
Bodenverhältnisse einer Region müssen ebenso eine
Rolle spielen wie Bevölkerungsdichte und die soziale
Struktur.
Auf der Ebene der Bundesländer sollten Eignungska-
taster potenzieller Tierhaltungsstandorte entwickelt wer-
den. Diese könnten im Rahmen der Raumordnung in den
Regional- oder Landesplanungen berücksichtigt werden.
Ein wesentlicher Vorteil läge darin, dass sich sowohl die
Akteure als auch die Bevölkerung der Region frühzeitig
auf mögliche Investitionsvorhaben einstellen und sie mit
beeinflussen können. Unterschiedliche Standortbedin-
gungen fänden damit zudem Berücksichtigung.
Der klassische Naturkreislauf Boden–Pflanze–Tier–
Boden muss auch in Hinblick auf die Neuansiedlung von
Tierhaltungsanlagen Beachtung finden. Er ist Ausdruck
regionaler Stoffkreisläufe, die im Gegensatz zum globa-
len Umschlag von Stoffen und Energie zum Schutz der
Umwelt und des Klimas beitragen können. Somit kann
auch dem Anspruch, Transportaufwendungen so weit
wie möglich zu minimieren, Rechnung getragen werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, ge-
statten Sie mir diese Bemerkung: Es geht um regionale
Stoffkreisläufe, nicht zwingend um innerbetriebliche.
Abgesehen davon können betriebliche Flächen weit ver-
teilt sein. Ihre Forderung, dass 50 Prozent des Futters
aus dem eigenen Betrieb stammt, hört sich vielleicht gut
an, ist aber derzeit realitätsfern und greift zu kurz. Futter
muss aus der Region kommen, Gülle muss in ihr verblei-
ben. Die Größe der Region ist von geografischen und
kulturellen Faktoren abhängig und daher verschieden.
Darum geht es aber nicht vorrangig. Es geht vielmehr
darum, dass wir mittelfristig in der Lage sein müssen,
unsere Futtermittel selbst anzubauen. Wir müssen
Schluss machen mit dem Import von Soja, das in ande-
ren Teilen der Welt unter katastrophalen sozialen und
ökologischen Bedingungen produziert wird!
Sie sehen, das Landwirtschaftsprivileg in § 35 Bauge-
setzbuch ist ein komplexes Thema. Das Baugesetz allein
kann die Frage nicht lösen, wie wir von der Intensivtier-
haltung zu einer tiergerechten nachhaltigen Nutztierhal-
tung kommen können.
Bettina Herlitzius (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Es ist ärgerlich, dass dieses wichtige Thema zu so später
Stunde aufgesetzt werden sollte, bewusst in Kauf neh-
mend, dass dann keine politische Debatte mehr stattfin-
det, sondern alle Reden zu Protokoll gegeben werden.
Dabei hat die Regierung die Novellierung des Bauge-
setzbuches bewusst verschleppt und verzögert. Seit ei-
nem Jahr warten wir auf Ihren Gesetzesvorschlag. Nun
legen Sie ihn vor. Und was macht die Koalition? Sie ver-
bannt die Debatte in die Nachtzeit, damit keiner etwas
merkt.
Dabei sind die Probleme der Menschen in unseren
Städten und Gemeinden drängend. Kein Tag vergeht,
ohne dass die Medien über steigende Mieten, viel zu
hohe Nebenkosten, Verdrängung von Mietern aus ihren
Vierteln, über Flächenfraß und über die unzumutbaren
Zustände in den Immobilienbeständen der Hedge-Fonds,
der sogenannten Heuschrecken, berichten. Aber anstatt
zu handeln, legen Sie ein Gesetz vor, das nur ein baupo-
litisches Trostpflaster für die Kommunen ist.
Es ist schon bemerkenswert, wie viele Regelungen
man in einem Gesetz unterbringen kann, ohne wirklich
etwas zu bewegen. Sie gehen wirklich jedes aktuelle
Thema an und schaffen dabei keine neuen Handlungs-
spielräume für die Gemeinden. Einzig positiv sind die
Änderungen bei den Spielhallen, die zwei Jahre nach un-
serem Antrag zu dem Thema endlich angepackt werden.
Aber nun zu der ganzen Reihe von Themen, die nur
scheinbar anpackt werden.
Herr Minister Ramsauer, unser Ankündigungsminis-
ter, hat groß von Maßnahmen gegen die Intensivtierhal-
tung gesprochen. Doch die Änderungen werden nichts
an der aktuellen Praxis bewirken. Ein Betrieb mit
84 999 Hühnern fällt offensichtlich in Ramsauers Bild
einer bäuerlichen Landwirtschaft.
Auch für die energetische Sanierung von Quartieren
gibt es ein Placebo. § 136 des Baugesetzbuchs wird ge-
ändert, aber nicht in der von Fachleuten geforderten Fas-
sung, sondern in einer abgeschwächten Variante, die in
der Praxis ohne Auswirkung bleiben wird. Dabei wäre es
so wichtig, Quartierssanierungen voranzubringen und
dem neuen KfW-Programm zur Stadtsanierung einen si-
cheren Rahmen zu geben.
Ein weiteres Thema, in dem Sie Tätigkeit vortäu-
schen, sind die Schrottimmobilien. Ihre redaktionelle
Änderung in § 179 erweitert die Handlungsspielräume
der Gemeinden nur unwesentlich. Solange die Gemein-
den allein auf den Kosten sitzenbleiben, kann der Kampf
gegen Schrottimmobilien nicht gelingen. Mit unserem
Antrag schlagen wir ein Konzept vor, dass auch die Ver-
ursacher in die Pflicht nimmt, ohne ihnen unzumutbare
Lasten aufzubürden. Wenn Sie schon unserem Antrag
dazu nicht folgen wollen, dann greifen Sie doch wenigs-
tens die Initiative der Länder im Bundesrat auf.
Die großen Worte zum U3-Kindergartenausbau sind
ohne Substanz. Für Kindertagesstätten in reinen Wohn-
gebieten wollen Sie die Hürden im Baurecht nicht ganz
aufheben. Damit steht ihr Handeln wieder einmal im Ge-
gensatz zur ihren Reden. Hier können Sie ganz konkret
mit einem Bundesgesetz etwas für den Kitaausbau tun;
doch Sie verweigern sich.
Besonders ärgerlich ist Ihr Verständnis von Innenent-
wicklung. In der Novelle zur Innenentwicklung eine Re-
gelung unterzubringen, bei der der Abriss von Scheunen
zugunsten von Ferienwohnungen begünstigt wird, ist
einmalig. Das ist Klientelpolitik und führt zu weiterer
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012 25947
(A) (C)
(D)(B)
Zersiedlung. Das ist das Gegenteil von Innenentwick-
lung.
Stadtentwicklungspolitik wird auf der Ebene der Ge-
meinden gemacht. Wir im Bundestag haben die Auf-
gabe, den Werkzeugkasten zu geben. Wir stellen den Ge-
meinden die Instrumente zur Verfügung, die Sie im
Rahmen der Planungshoheit nutzen können. Für die an-
stehenden Herausforderungen, wie den demografischen
Wandel und den Klimawandel, stehen wir den Gemein-
den gegenüber in der Verantwortung. Folgen Sie einfach
unserem Antrag, den Stellungnahmen der Verbände oder
dem Beschluss des Bundesrates. Liebe Koalitionsfrak-
tionen, lassen Sie sich nicht mit der „Placebonovelle“
aus dem Hause Ramsauer abspeisen. Nutzen Sie das par-
lamentarische Verfahren, um die zahlreichen guten Ideen
aufzugreifen.
Anlage 11
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines … Gesetzes
zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes (Ta-
gesordnungspunkt 29)
Ansgar Heveling (CDU/CSU): Einen wesentlichen
Markstein auf dem Weg zur Freiheit der Wissenschaft
markierte im 16. und 17. Jahrhundert der Disput über die
Frage, ob sich die Sonne um die Erde oder die Erde um
die Sonne drehe. Den machtvollen religiös motivierten
Gegnern der Gedanken von Kopernikus und Galilei
diente vor allem eine Stelle aus dem Alten Testament als
schlagender Beweis. In Josua 10,12–14 heißt es: „Sonne,
stehe still zu Gibeon.“ Und: „Die Sonne blieb stehen
mitten am Himmel und beeilte sich nicht unterzugehen.“
Heute wissen wir es – dank des Freiheitsdrangs der
Wissenschaften – eigentlich besser, wie es sich mit dem
Lauf der Himmelskörper verhält. Der Gesetzgeber in-
dessen meint bisweilen – so auch heute –, Sonnenauf-
und -untergang immer noch beeinflussen zu können.
Denn eigentlich war § 52 a des Urheberrechtsgesetzes
2003 – als erste Urheberrechtsvorschrift in Deutschland
überhaupt – mit einer sogenannten sunset provision, ei-
ner Sonnenuntergangsregelung, sprich Befristung, verse-
hen worden. Ursprünglich sollte die Schrankenregelung
Ende 2006 auslaufen. Heute schickt sich der Gesetzge-
ber nun an, den Sonnenuntergang bereits zum dritten
Mal zu verschieben. Diesmal bis zum 31. Dezember
2014.
Zugegebenermaßen: Klarheit und eitel Sonnenschein
werden damit nicht wirklich geschaffen. Vielmehr wird
gezwungenermaßen ein Schwebezustand perpetuiert.
Angesichts der Zeitabläufe eine Notwendigkeit – mir
fällt dazu eine Vokabel aus dem Lateinunterricht ein, die
mir aus endlosen Cäsar-Übersetzungsstunden ins Ge-
dächtnis eingebrannt ist: necessitate coactus, durch die
Notwendigkeit gezwungen. So steht der Gesetzgeber,
sprich: das Parlament, nämlich zurzeit da.
Wir, die christlich-liberale Koalition, haben uns als
Fraktionen aus der Mitte des Parlaments daher entschie-
den, § 52 a des Urheberrechtsgesetzes ein weiteres Mal
für zwei Jahre zu verlängern. Damit verbinden wir das
Ziel, diese Zeit zu nutzen, eine einheitliche Wissen-
schaftsschranke zu formulieren.
Das setzt zum einen voraus, dass in dieser Zeit end-
lich auch valide Daten zur Inanspruchnahme von § 52 a
Urheberrechtsgesetz vorgelegt werden. Der dritte Eva-
luierungsbericht des Bundesjustizministeriums hat keine
weiteren Erkenntnisse gegenüber dem zweiten und dem
ersten Bericht gebracht. Das ist misslich, zumal es offen-
sichtlich die mangelnde Bereitschaft der im Obligo ste-
henden Beteiligten ist, die notwendigen Daten zu erhe-
ben und bereitzustellen.
Zum anderen – und auch damit verknüpft – ist die Be-
reitschaft zur Zahlung einer angemessenen Vergütung
als Conditio sine qua non. Während es im Schulbereich
hier außer kleineren Problemen bei den Gesamtverträgen
keine wirklichen Schwierigkeiten gibt, ist im Wissen-
schaftsbereich dieser Punkt von maßgeblicher Bedeutung
und hoch streitbehaftet. Hier werden wir als Gesetzgeber
in den nächsten Jahren ganz genau hinzuschauen haben.
Es wird für die künftige Gestaltung einer einheitlichen
Wissenschaftsschranke von entscheidender Bedeutung
sein, wie die angemessene Vergütung gehandhabt wird.
Wir rechnen zudem ja damit, dass die Rechtsprechung in
den nächsten zwei Jahren entsprechende Hinweise geben
wird.
Die weitere Entwicklung bei diesen Faktoren wird
maßgeblichen Einfluss auf die weiteren Überlegungen
zur Schaffung einer einheitlichen Wissenschaftsschranke
haben. Dessen sollten sich insbesondere die Wissen-
schaftsorganisationen ganz dringend bewusst sein.
Denn auch die zukünftige Regelung einer einheit-
lichen Wissenschaftsschranke wird nicht losgelöst und
nach Tagesform der Politik erfolgen. Sie muss sich in die
bestehende Systematik des Urheberrechts einfügen. Und
deren Ausgangspunkt ist Art. 14 unseres Grundgesetzes,
der das Eigentum garantiert. Schranken dieses Eigen-
tumsrechts, also Freiheiten des Nutzers, lassen sich da
nur als allgemeinwohlorientierte Ausnahmen begründen.
Das ist aber der Maßstab, an dem sich das Handeln de-
rer, die eine Schranke in Anspruch nehmen wollen, mes-
sen lassen muss. Haushalterische Zwänge und das Ziel
der Kosteneinsparung sind jedenfalls keine legitimen
Allgemeinwohlbelange, die eine Schrankenregelung zu
rechtfertigen vermögen.
Natürlich darf nicht verschwiegen werden, dass es auf
der Seite der Rechteinhaber auch Akteure gibt, die den
Schutz des Eigentums dazu benutzen, illusorische Preis-
vorstellungen realisieren zu wollen. Das ist bedauerlich,
denn es schadet dem berechtigten Anliegen der ungleich
größeren Zahl an Verlagen und Verlegern, die bei ihrer
Preisgestaltung wie selbstverständlich dem Prinzip des
ehrbaren Kaufmanns verpflichtet sind. Gerade für die
hiesige deutsche mittelständisch geprägte Verlagsland-
schaft gilt dies in besonderem Maße.
25948 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012
(A) (C)
(D)(B)
Den Lauf der Zeit kann und will auch der Gesetzge-
ber nicht aufhalten. Es ist unsere Aufgabe, die Zeiten zu
gestalten. Das bloße Hinausschieben einer Befristung ist
dabei eigentlich noch kein Mittel, das von Gestaltungs-
kraft zeugt. Daher verbinden wir damit den Auftrag an
uns selbst und an die Bundesregierung, die gewonnene
Zeit zu nutzen, die widerstreitenden Interessen in einer
eindeutigen Schrankenregelung zum Ausgleich zu brin-
gen. Ein bloßes Auslaufen der gesetzlichen Regelung
hätte dem ebenso wenig gedient wie eine dauerhafte Ent-
fristung.
Thomas Silberhorn (CDU/CSU): Bildung, Wissen-
schaft und Forschung sind der Schlüssel, um unserem
Land auch in Zukunft im internationalen Wettbewerb ei-
nen Spitzenplatz zu sichern. Deshalb haben wir uns die
„Bildungsrepublik“ Deutschland zum Ziel gesetzt. Da-
mit Forschung und Lehre Spitzenleistungen erzielen
können, brauchen sie uneingeschränkten Zugang zu vor-
handenem Wissen. Auch die Qualität des Unterrichts an
Schulen und Hochschulen hängt maßgeblich von den zur
Lehre und Ausbildung verwendeten Materialien ab.
Um den Zugang von Forschung und Lehre zu beste-
hendem Wissen zu erleichtern, haben wir im Rahmen
des sogenannten ersten Korbs der Novellierung des Ur-
heberrechts im Jahr 2003 den § 52 a ins Urheberrechts-
gesetz eingeführt. Dieser § 52 a Urheberrechtsgesetz ge-
währleistet, dass urheberrechtlich geschützte Werke für
einen bestimmten, abgegrenzten Personenkreis in
Schule, Hochschule und Forschung öffentlich zugäng-
lich gemacht werden dürfen. Damit ist etwa das Kopie-
ren von geschützten Werken geringen Umfangs oder von
Werkteilen sowie das Einscannen und Einstellen ins Int-
ranet der jeweiligen Einrichtung zu Unterrichts- oder
Forschungszwecken möglich. Die Urheber erhalten da-
für nach § 52 a Abs. 4 Urheberrechtsgesetz eine ange-
messene Vergütung.
Die Norm wurde seit ihrer Einführung mehrfach be-
fristet und würde nun zum 31. Dezember 2012 auslau-
fen. Daran kann aber aus den vorgenannten Gründen
niemand ein ernsthaftes Interesse haben. Festzuhalten ist
allerdings auch, dass in den vergangenen neun Jahren ei-
nige Defizite des § 52 a Urheberrechtsgesetz zutage ge-
treten sind. Sowohl die Praxistauglichkeit als auch die
vertragliche Umsetzung in Kooperation mit einer Ver-
wertungsgesellschaft werfen Fragen auf. Mit einer simp-
len Entfristung der Regelung wäre es daher nicht getan.
Unbestimmte Rechtsbegriffe wie die öffentliche Zu-
gänglichmachung von veröffentlichten „kleinen Teilen“
eines Werkes oder von Werken „geringen Umfangs“ füh-
ren zu Rechtsunsicherheit aufseiten der Nutzer wie auf-
seiten der Rechteinhaber bzw. der Verlage. Zwar soll der
kopierte Teil eines Werkes jedenfalls dann als klein an-
zusehen sein, wenn dieser im Vergleich zum Gesamt-
werk so unbedeutend ist, dass er das Werk nicht ersetzen
kann, aber allgemeingültige, konkret quantifizierbare
Vorgaben existieren nicht. Auch der Versuch von Recht-
sprechung und Lehre, diese unbestimmten Rechtsbe-
griffe durch eine prozentuale Angabe für einen Werkteil
zu konkretisieren, hat bislang keinen einheitlichen Be-
wertungsmaßstab hervorgebracht. So schwankt die Defi-
nition eines „kleinen Teils“ derzeit zwischen etwa 10
und 20 Prozent des Gesamtwerks.
Darüber hinaus hat die Gestattung der Veröffentli-
chung „zur Veranschaulichung im Unterricht“ zu einer
unterschiedlichen Auslegung geführt. So wird geltend
gemacht, dass damit die Zugänglichmachung nur inner-
halb der zeitlichen und räumlichen Grenzen des Unter-
richts erlaubt sei. Das Oberlandesgericht Stuttgart stellte
hierzu hingegen klar, dass der Vorschrift vielmehr das
Verständnis zugrunde liege, dass auch die Vor- und
Nachbereitung von Hausarbeiten mit erfasst sein solle.
Um die Zahlung einer angemessenen Vergütung zu si-
chern, schließen die Länder Verträge mit den Verwer-
tungsgesellschaften. Bei den Verhandlungen für den
Hochschulbereich konnte bisher allerdings keine Eini-
gung mit der Verwertungsgesellschaft Wort erzielt wer-
den, die einen wesentlichen Anteil bei den Nutzungen
nach § 52 a Urheberrechtsgesetz im Hochschulbereich
hat. Die VG Wort hat daher, nachdem sie im Jahr 2005
aus den Vertragsverhandlungen ausgestiegen war, 2009
Klage beim Oberlandesgericht München gegen die Län-
der erhoben. Dieser Rechtsstreit ist bis heute anhängig.
Derzeit läuft auf Betreiben der Länder und der VG Wort
ein Revisionsverfahren beim Bundesgerichtshof.
Dass wir ein bildungs- und wissenschaftsfreundliches
Urheberrecht benötigen, steht außer Zweifel. Als CDU/
CSU-Bundestagsfraktion haben wir uns dazu in unserem
Positionspapier zum Urheberrecht in der digitalen Ge-
sellschaft deutlich bekannt. Ziel unserer Bemühungen
muss es sein, die in den §§ 52 a ff. Urheberrechtsgesetz
etablierten Schranken des Urheberrechts zugunsten von
Schule, Studium, Wissenschaft und Forschung zu einer
einheitlichen, praktikablen und rechtssicheren Bil-
dungs- und Wissenschaftsklausel weiterzuentwickeln.
Sicherlich ist die wiederholte Befristung des § 52 a
Urheberrechtsgesetz nicht der Weisheit letzter Schluss.
Es besteht jedoch kein Anlass zur Eile. Eine dauerhafte
Entfristung, ohne die angesprochenen Defizite anzuge-
hen, wäre die deutlich schlechtere Lösung. Die letztma-
lige Befristung um zwei weitere Jahre gibt Unterricht
und Forschung die nötige Sicherheit, über den 31. De-
zember 2012 hinaus ihre Informationsquellen gemäß
§ 52 a Urheberrechtsgesetz weiter nutzen zu können.
Zugleich ermöglicht uns diese Befristung, die BGH-Ent-
scheidung im Rechtsstreit mit der VG Wort abzuwarten
und die daraus zu ziehenden Erkenntnisse in eine auf
Dauer angelegte gesetzliche Regelung einfließen zu las-
sen.
Im Rahmen dieser Überlegungen sollten wir uns dann
auch stärker den Fragen der OpenAccess-Veröffentli-
chungen sowie der Verankerung eines verbindlichen
Zweitveröffentlichungsrechts bei wissenschaftlichen
Beiträgen und öffentlich geförderten Forschungsprojek-
ten widmen. Für den Erhalt und die Weiterentwicklung
des Bildungs- und Wissenschaftsstandorts Deutschland
bleibt ein modernes, praxistaugliches Urheberrecht un-
verzichtbar.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012 25949
(A) (C)
(D)(B)
Marianne Schieder (Schwandorf) (SPD): Was in
aller Welt muss noch passieren, damit die Bundesregie-
rung endlich vernünftig handelt und ihren ureigenen
Aufgaben nachkommt? Selbst bei einem so eindeutigen
Thema wie der Verlängerung des § 52 a des Urheber-
rechtsgesetzes schafft sie es nicht, mit Vernunft und Au-
genmaß zu handeln. Statt den Paragrafen unbefristet
weiter gelten zu lassen, soll eine erneute Befristung be-
schlossen werden.
Selbst der Bundesrat hat sich in seiner Sitzung am
12. Oktober 2012 für eine Entfristung des § 52 a des
Urheberrechts ausgesprochen; siehe Bundesratsdruck-
sache 514/12 (Beschluss), Seite 4. Der Beschluss im Kul-
turausschuss des Bundesrates am 24. September 2012
fiel im Übrigen einstimmig, also 16 : 0 aus. Die große
Mehrheit der Akteure in Forschung und Lehre ist eben-
falls für eine Entfristung. Nur die Bundesregierung und
ihre Koalition haben das noch nicht erkannt. Was will
man dazu noch sagen?!
Vor rund neun Jahren, am 10. September 2003, wurde
der § 52 a ins Urheberrechtsgesetz eingeführt. Zunächst
befristet bis zum 31. Dezember 2006. Danach folgten
Befristungen bis Ende 2008 und schließlich bis zum
31. Dezember 2012, die aktuell noch gelten. In der Zwi-
schenzeit gab es auch schon drei Evaluierungen.
Jetzt verweigert die Bundesregierung eine dauerhafte
Regelung mit dem Verweis auf noch ausstehende Ge-
richtsurteile. So sieht doch kein verantwortungsvolles
gesetzgeberisches Handeln aus! Der Vorschlag der Bun-
desregierung provoziert nichts weiter als beschränkte
Rechtssicherheit und Beschäftigungsmaßnahmen für die
öffentliche Verwaltung, Ministerien und den nächsten
Bundestag. Von den zusätzlichen Kosten durch dieses
Wiedervorlageprinzip will ich gar nicht reden.
Erschwerend kommt hinzu, dass die Bundesregierung
ihren Gesetzentwurf kurz vor Schluss auf den Weg
bringt. Erhält er heute nicht die notwendige Mehrheit,
droht uns ab 1. Januar 2013 ein Fiasko für den gesamten
Bildungsbetrieb in Deutschland.
Kein Lehrer bzw. keine Lehrerin wäre mehr in der
Lage, Auszüge einzelner Werke als Kopie an Schülerin-
nen und Schüler zu verteilen. Semesterapparate, wie sie
an deutschen Hochschulen derzeit üblich sind, würde es
von einem auf den anderen Tag nicht mehr geben. Alter-
nativen wären entweder illegale Kopien oder zusätzliche
Kosten für Schülerinnen und Schüler bzw. Studierende,
weil sie sich die erforderlichen Auszüge im Original
kaufen müssen.
Um diese untragbare Situation zu verhindern und den
Lehrenden an Schulen und Hochschulen zumindest für
die nächsten beiden Jahre Rechtssicherheit zu gewähren,
werden wir von der SPD dem vorliegenden Gesetzent-
wurf der Koalition zustimmen. Ich halte aber ausdrück-
lich fest, dass die Zustimmung nur geschieht, um den
Wegfall des § 52 a und die damit verbundenen Probleme
um jeden Preis zu verhindern. In keinem Fall heißen wir
damit die Untätigkeit bzw. Unentschlossenheit der Bun-
desregierung gut. Daher möchte ich es nicht unterlassen,
gerade bei den Kolleginnen und Kollegen von CDU/
CSU und FDP nochmals für unseren Entwurf eines Ge-
setzes zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes werben.
Sorgen sie mit dafür, dass dieser Entwurf eine Mehrheit
im Deutschen Bundestag bekommt. Damit hätten wir
dauerhafte Rechtssicherheit und würden für die Zukunft
unnötige Arbeit und zusätzliche Kosten ersparen.
Mit der Streichung des § 137 des Urheberrechtsgeset-
zes würde der § 52 a des Urheberrechtsgesetzes dauer-
haft entfristet. Der Wortlaut des § 52 a wird beibehalten.
Mit wenigen Worten könnten wir eine vernünftige und
vor allem dauerhafte Lösung auf den Weg bringen.
Abschließend möchte ich es aber nicht versäumen,
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der schwarz-gelben
Koalition, auf eine ihrer Vereinbarungen im Koalitions-
vertrag aus dem Jahr 2009 hinzuweisen: „Das Urheber-
recht hat in der modernden Medien- und Informations-
gesellschaft eine Schlüsselfunktion. Wir werden das
Urheberrecht deshalb entschlossen weiterentwickeln ...“,
heißt es dort auf Seite 103. Dass Sie unter entschlossener
Weiterentwicklung lediglich eine erneute Befristung mit
der Aussicht auf weitere Evaluationen verstehen, zeigt
auf alarmierende Weise, wie schlecht dieses Land derzeit
regiert wird.
Drei Jahre hatten Sie Zeit, eine umfassende Urheber-
rechtsreform auf den Weg zu bringen. Das Ergebnis hin-
gegen ist nicht einmal mangelhaft. Es gibt schlichtweg
keines. Das Schlimme ist, dass dies nicht nur beim Urhe-
berrecht zu diagnostizieren ist. Es ist auch in vielen an-
deren Bereichen der Fall. Somit können wir in der ver-
bleibenden Legislaturperiode nur noch darauf achten,
dass keine weiteren Missstände und Schieflagen entste-
hen. Unter diesem Aspekt bekommen Sie diesmal für ein
Gesetzesvorhaben meine Stimme. Ansonsten werde ich
mich mit aller Kraft darum bemühen, dass dieses Land
im Herbst nächsten Jahres eine bessere Regierung be-
kommt.
René Röspel (SPD): Als wir vor genau drei Wochen
anlässlich der ersten Lesung zum vorliegenden Gesetz-
entwurf der Koalitionsfraktionen die ersten Reden zu
diesem Thema zu Protokoll gegeben haben, habe ich in
einem kurzen Exkurs auf die besondere Funktion der in
§ 52 a Urheberrecht garantierten Wissenschaftsschranke
hingewiesen. Daher soll in der nun folgenden Ausfüh-
rung nicht noch einmal darauf eingegangen werden, wel-
che bedeutende Rolle eine Wissenschaftsschranke für
Bildung, Wissenschaft und Forschung in Deutschland
einnimmt.
Vielmehr möchte ich zunächst einige Äußerungen
von Kollegen der Koalitionsfraktionen aufgreifen, an-
hand derer ich die Defizite in der Argumentation deut-
lich machen möchte.
Zunächst möchte ich auf die in der Rede des Kollegen
Heveling geäußerte These eingehen, nach der mittels ei-
ner weiteren Befristung des § 52 a Urheberrechtsgesetz
die Voraussetzung dafür geschaffen sei, dass es eine dau-
erhafte und einheitliche Wissenschaftsschranke im deut-
schen Urheberrecht geben könne. Dies scheint mir doch
eine etwas abwegige Argumentation zu sein – nicht nur
25950 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012
(A) (C)
(D)(B)
vor dem Hintergrund, dass die Koalitionsfraktionen sich
im vorliegenden Fall explizit gegen eine Entfristung zu-
gunsten einer weiteren Befristung aussprechen. Dieses
Vorgehen mit einem laufenden Gerichtsverfahren zu be-
gründen, scheint umso bizarrer: Denn Recht wird nach
geltender Rechtslage gesprochen. Das Verfahren wäre
mit einer Entfristung des § 52 a Urheberrechtsgesetz ab
dem 1. Januar 2013 nicht gefährdet. Ich möchte – wie in
meiner ersten Rede bereits erwähnt – darauf hinweisen,
dass diese Koalition und Bundesregierung von den Wäh-
lerinnen und Wählern einen Gesetzgebungsauftrag er-
halten hat. Den gilt es anzunehmen und die hiermit ver-
bundene Arbeit nicht auf den Bundesgerichtshof
abzuwälzen!
Weiterhin möchte ich noch auf die Äußerung des Kol-
legen Heveling hinsichtlich der Evaluierung des Bundes-
ministeriums der Justiz eingehen. Hier wird der Ein-
druck erweckt, dass das Ministerium im Rahmen seiner
Evaluationen – es waren insgesamt drei an der Zahl –
sich stets gegen eine Entfristung ausgesprochen habe.
Dem ist entschieden zu widersprechen! An dieser Stelle
sei explizit die zweite Evaluierung des Justizministeri-
ums vom 30. April 2008 zitiert: „Die Evaluierung hat
keine Ergebnisse erbracht, welche die Entscheidung des
Gesetzgebers bei Einführung der Norm als korrekturbe-
dürftig erscheinen lassen. Folglich sollte die Befristung
in § 137 k UrhG entfallen.“
Die Darstellung der Koalitionsfraktionen, dass eine
Befristung derzeit alternativlos sei, ist schlichtweg
falsch. Vielmehr möchte ich an dieser Stelle erneut für
eine Entfristung des § 52 a Urheberrechtsgesetz – wie in
unserem Gesetzentwurf gefordert – werben.
Wie in der bisherigen Debatte deutlich wurde, scheint
sich zumindest zwischen den Wissenschaftspolitikern
fraktionsübergreifend die Erkenntnis verfestigt zu haben,
dass es im Sinne von Bildung, Wissenschaft und For-
schung in Deutschland ist, eine umfassende Wissen-
schaftsschranke im Urheberrechtsgesetz zu verankern.
Die Erarbeitung einer solchen umfassenden Wissen-
schaftsschranke ist in der Tat keine triviale Aufgabe.
Ihre Bearbeitung hat sorgfältig, gründlich und nicht un-
ter Zeitdruck zu erfolgen. Vor diesem Hintergrund wäre
es wichtig, wenigstens die bestehende, spezifische Wis-
senschaftsschranke in § 52 a Urheberrechtsgesetz zu ent-
fristen. Damit wäre zum einen den Betroffenen in den
Bildungs- und Wissenschaftseinrichtungen die in dieser
Frage dringend notwendige Rechtssicherheit geboten;
zum anderen ließe sich auf diese Weise ohne unnötigen
Zeitdruck eine Norm ins Urheberrecht inkorporieren, die
den Belangen von Bildung und Wissenschaft in all ihren
Facetten gerecht wird. Doch anstatt diese komfortable
Lösung zu präferieren, die im Übrigen mit dem anhängi-
gen Gerichtsverfahren beim BGH in keiner Weise in
Konflikt stünde, entscheiden sich die Koalitionsfraktio-
nen für die unsauberste aller Lösungen: eine erneute Be-
fristung um zwei Jahre. Auf diese Weise wird nicht nur
den Betroffenen eine dauerhafte Rechtssicherheit ver-
wehrt, sondern auch unnötiger Zeitdruck aufgebaut, der
dem weiteren Verfahren sicherlich nicht dienlich ist.
Als wäre diese Taktik allein nicht schon genug der
Zumutung für die Betroffenen in Bildung und Wissen-
schaft, bleiben die Regierungskoalitionen nicht nur in ih-
rer Handlungsunfähigkeit, sondern auch in ihrer Visions-
losigkeit verhaftet. Zwar plädieren die Kollegen der
Koalitionsfraktionen dafür, eine umfassende Wissen-
schaftsschranke im Urheberrecht zu verankern. Allein
die Frage, wie eine solche Schranke gesetzgeberisch
auszugestalten ist, lassen sie unbeantwortet. Ironischer-
weise wird etwa im Diskussionspapier der Unions-
fraktion zum „Urheberrecht in der digitalen Gesell-
schaft“ lediglich darauf verwiesen, dass die in § 52 a
Urheberrechtsgesetz kodifizierte Wissenschaftsschranke
ausgiebig zu evaluieren und zu überarbeiten sei. Der
Vorschlag der Union besteht demnach darin, das durch
das BMJ bereits dreimal durchgeführte Verfahren ein
weiteres Mal zu wiederholen. Ein wirklicher Gestal-
tungsanspruch wird hingegen nicht erkennbar. Man be-
kommt den Eindruck, dass die schwach-gelbe Koalition
solche Entscheidungen lieber der im Herbst 2013 ge-
wählten neuen Bundesregierung übertragen möchte.
Abschließend möchte ich noch darauf eingehen, wa-
rum die SPD-Bundestagsfraktion im vorliegenden Fall
dem Gesetzentwurf zustimmen wird, obwohl wir mit un-
serem Gesetzentwurf eine bessere Lösung vorschlagen.
Aufgrund der fahrlässigen Verzögerung der Koalitions-
fraktionen ist nun eine Situation eingetreten, die erhebli-
chen Handlungsdruck und eine für die Betroffenen fast
unerträgliche Situation herbeigeführt hat: Denn der Um-
stand, dass der § 52 a Urheberrechtsgesetz zum Ende des
Jahres ausläuft, gepaart mit der Untätigkeit der Regie-
rungsfraktionen in dieser Frage, hat dazu geführt, dass
den Betroffenen in den Bildungs- und Wissenschaftsein-
richtungen massive Rechtsunsicherheit droht. Diese gilt
es aber unter allen Umständen abzuwenden. Nur deshalb
unterstützen wir das kleinere Übel einer weiteren Befris-
tung. Eine Solidarität, die diese Regierung eigentlich
nicht verdient hat, wohl aber die Betroffenen in Bildung
und Wissenschaft.
Stephan Thomae (FDP): Das Urheberrecht und die
Frage nach seiner Reformbedürftigkeit sind Themen, die
uns in den vergangenen Monaten und Jahren am meisten
beschäftigt haben und auch in Zukunft immer weiter
beschäftigen werden. Viele Stimmen, die das geltende
Urheberrecht für veraltet halten, argumentieren damit,
dass neu entstehende Kreativität immer darauf angewie-
sen ist, an Informationen zu gelangen. Es sei ein über-
kommener Ansatz, denjenigen, der eine Idee zuerst ent-
wickelt hat, stärker zu schützen als Dritte, die die Idee
aufgreifen und weiterentwickeln wollen. Unabhängig
davon, wie man zu dieser Frage steht, ist für die FDP-
Bundestagsfraktion eins klar: Urheber sollen auch in
Zukunft die Möglichkeit haben, für ihre Werke und In-
halte eine angemessene Vergütung zu erhalten. Die FDP
bekennt sich zu einem starken und modernen Urheber-
recht.
Es ist gleichzeitig völlig richtig, dass Kreativität auf
Inspiration und Input von außen angewiesen ist. Wer
nicht mit fremden Ansichten und Inhalten in Kontakt
kommt, wird nur schwer die Anregungen und das Wis-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012 25951
(A) (C)
(D)(B)
sen erhalten, die als Grundlage für eigene Gedanken und
Ideen unerlässlich sind. Daher bekennt sich die FDP
auch dazu, dass das Urheberrecht nicht ohne Schranken
auskommen kann.
Es ist Aufgabe der Politik, beide Belange, den Schutz
geistigen Eigentums und den Zugang zu Inhalten und
Informationen, so auszugestalten, dass die Interessen der
Beteiligten zu einem angemessenen Ausgleich gebracht
werden.
Zu diesem Zweck hat der deutsche Gesetzgeber durch
das erste Gesetz zur Regelung des Urheberrechts in der
Informationsgesellschaft vom 10. September 2003 den
§ 52 a in das deutsche Urheberrecht eingefügt. Nach
dieser Vorschrift ist es zulässig, kleine Teile eines Wer-
kes, Werke geringen Umfangs und einzelne Beiträge aus
Zeitschriften oder Zeitungen zur Veranschaulichung im
Unterricht an Schulen, Hochschulen und weiteren
Einrichtungen einem bestimmt abgegrenzten Kreis von
Personen öffentlich zugänglich zu machen. Faktisch sol-
len die Schulen und Hochschulen also die genannten
Werke und Werkteile ihren Schülern und Studenten im
Intranet der jeweiligen Einrichtung zugänglich machen
dürfen. Voraussetzungen hierfür sind, dass dies zu
Unterrichts- oder Forschungszwecken geschieht, die
Maßnahmen zu dem jeweiligen Zweck geboten und zur
Verfolgung nicht kommerzieller Zwecke gerechtfertigt
sind.
Der Einführung von § 52 a Urheberrechtsgesetz ging
eine große Debatte voraus. Die Verlage befürchteten, un-
term Strich für die Bildung von Schülern und Studenten
aufkommen zu müssen. Dies hatte zur Folge, dass
§ 137 k Urheberrechtsgesetz eingeführt wurde, der die
Wirkung des § 52 a Urheberrechtsgesetz zunächst bis
zum 31. Dezember 2006 befristete. Bis zum Ablauf die-
ses Datums sollten die Auswirkungen der Norm auf die
Praxis anhand einer Evaluierung ermittelt werden. Da
eine abschließende Beurteilung bislang nicht möglich
war, wurde die Befristung bislang zweimal verlängert.
Stand heute würde die Regelung des § 52 a Urheber-
rechtsgesetz am 31. Dezember 2012 auslaufen, wenn der
Deutsche Bundestag vorher nicht anders entscheidet.
Im Großen und Ganzen hat sich § 52 a Urheberrechts-
gesetz bewährt. Für den Bereich der Schulen haben die
Bundesländer mit allen Verwertungsgesellschaften
Gesamtverträge geschlossen, in denen die Nutzungs-
bedingungen für die genannten Werke geregelt sind.
Ähnliches gilt für die Nutzung an Hochschulen. Auch
hier wurden mit nur einer Ausnahme zwischen den Län-
dern und den Verwertungsgesellschaften Gesamtverträge
geschlossen. Einzige Ausnahme ist die VG Wort, die
zurzeit noch mit der Kultusministerkonferenz über die
Höhe und die Berechnungsweise der angemessenen
Vergütung verhandelt. Hierzu ist ein Verfahren vor dem
Bundesgerichtshof anhängig. In diesem wird zusätzlich
über die Reichweite der sogenannten Wissenschafts-
schranke entschieden werden.
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie die
Zukunft von § 52 a Urheberrechtsgesetz aussehen soll.
Eine Entscheidung des Bundesgerichtshofes wird erst
für 2013, also nicht vor dem bislang vorgesehenen Aus-
laufen von § 52 a Urheberrechtsgesetz, erwartet. Eine
Entfristung der Norm bereits zum jetzigen Zeitpunkt,
wie es die SPD fordert, wäre daher verfrüht. Das Urteil
des Bundesgerichtshofes sollte vielmehr abgewartet und
anhand dessen geprüft werden, ob der rechtliche
Rahmen bereits jetzt ausreicht, um die Interessen von
Urhebern und Bildungsanstalten in Einklang zu bringen,
oder ob hier gesetzgeberisch nachgebessert werden
muss. Daher lehnt die FDP-Bundestagsfraktion den
Antrag der SPD ab.
Die Bundestagsfraktionen von CDU/CSU und FDP
schlagen stattdessen eine nochmalige Verlängerung der
Befristung von § 52 a Urheberrechtsgesetz bis zum
31. Dezember 2014 vor. Parallel dazu fordern wir die
Bundesregierung auf, bis spätestens sechs Monate vor
Ablauf der erneuten Befristung einen Gesetzentwurf zu
erarbeiten, mit dem die Norm in eine dauerhafte Urhe-
berrechtsschranke überführt werden kann. Dabei soll der
Wissenschaft der digitale Zugang zu wissenschaftlichen
Publikationen durch eine Wissenschaftsschranke für den
Fall gesichert werden, dass die Verlage keine Onlinean-
gebote zu angemessenen Bedingungen bereitstellen.
Diese Lösung wird den berechtigten Interessen aller
Beteiligten gerecht. Wir sind damit auf einem guten
Weg, in absehbarer Zeit einen endgültigen Schlussstrich
unter die Frage der Zukunft von § 52 a Urheberrechts-
gesetz zu ziehen und Rechtssicherheit für alle Parteien
zu schaffen.
Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Liebe Freunde der
Wissenschaft, § 52 a des Urheberrechtsgesetzes regelt
die Zugänglichmachung von kleinen Teilen urheber-
rechtlich geschützter Werke im Intranet von Hochschu-
len. Die hauptsächliche praktische Anwendung ist der
elektronische Semesterapparat, in dem die Lehrenden
ihren Studierenden Aufsätze und Textauszüge oder an-
dere Quellen zur Verfügung stellen.
Der § 52 a wurde 2003 eingeführt und seither immer
wieder befristet verlängert. Warum diese Befristungen?
Weil die Wissenschaftsverlage gegen den Paragrafen
lobbyieren. Sie halten Hochschullehrer für Raubkopie-
rer. Sie glauben, sie würden viel mehr Bücher verkaufen,
wenn an Hochschulen nicht so viel kopiert würde. Sie
fordern die Abschaffung des Paragrafen.
Die Verleger beklagen, dass die Hochschulen oder
besser die zuständigen Bundesländer für die Nutzung der
Werke in elektronischen Semesterapparaten nichts zah-
len. Allerdings haben die Bundesländer für die Nutzung
beispielsweise von Bild- oder Tonmaterial sehr wohl
Verträge geschlossen und bezahlen auch Nutzungs-
gebühren.
Die Wissenschaftsverlage aber verlangen das 240-
Fache dessen, was andere als angemessene Vergütung
akzeptiert haben. Und sie wollen, dass alle Dozenten an
allen Hochschulen für jedes Seminar neu jedes einzelne
Buch auflisten sollen, aus dem sie ein paar Seiten für
ihre Studierenden kopieren. Dabei sollen sie folgende
Angaben machen: Name und Anschrift der Hochschule,
Titel des Seminars, Zeitraum des Seminars, Teilnehmer-
zahl des Seminars, Name und Mailadresse des Dozenten,
25952 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012
(A) (C)
(D)(B)
die Titel des Buches und des Aufsatzes, ISBN-Nummer,
Anzahl der kopierten Seiten, Verlag, Erscheinungsort,
Erscheinungsjahr, Anzahl der Autoren. Sie können sich
denken, wie lange es dauert, ein solches Formular aus-
zufüllen.
Und dann hat auch noch das Oberlandesgericht Stutt-
gart verfügt, dass diese elektronischen Semesterapparate
nicht ausgedruckt oder heruntergeladen werden dürfen,
sondern nur am Bildschirm zu lesen sind.
Ich stelle mir wissenschaftliches Arbeiten anders vor.
Ich glaube, das Urheberrecht sollte die Verbreitung von
Wissen erleichtern und nicht behindern.
Jetzt hoffen die Verlage, dass auch der Bundes-
gerichtshof den § 52 a so restriktiv auslegt wie die Ober-
landesgerichte zuvor. Dann wäre der Paragraf sozusagen
vor Gericht totgemacht. In der Folge müssten Hochschu-
len einzeln privatwirtschaftliche Lizenzverträge mit den
Verlagen abschließen, wenn sie modernes wissenschaft-
liches Arbeiten weiter ermöglichen wollen. Das wird
richtig teuer für die Bundesländer. Die Regierungskoali-
tion riskiert mit ihrer hier zur Debatte stehenden zögerli-
chen Fristverlängerung des § 52 a, die klammen Kassen
der Bundesländer weiter zu strapazieren. Oder das Ende
moderner Wissensvermittlung an unseren Hochschulen.
Der § 52 a muss nicht befristet verlängert werden,
sondern sein Anwendungsbereich muss so ausgeweitet
werden, dass die Hochschulen tatsächlich etwas davon
haben. Er muss Teil einer allgemeinen Wissenschafts-
schranke werden, wie sie die Linke und unzählige Wis-
senschaftsverbände immer wieder gefordert haben.
Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der
Gesetzentwurf, den die Regierungskoalition uns heute
zur erneuten Befristung der Regelungen für Bildung und
Wissenschaft im § 52 a des Urheberrechtsgesetzes vor-
legt, ist wieder einmal eine Kleinstmaßnahme und Not-
operation in allerletzter Minute. Statt im Interesse von
Bildung und Wissenschaft für Rechtsklarheit und
Rechtssicherheit zu sorgen, hangeln Sie sich mit der jetzt
schon dritten Befristungsregelung nur von einem Provi-
sorium zum nächsten.
Dabei verpassen Sie nebenbei auch noch die Chance,
endlich klarzustellen, dass die Norm des § 52 a Urheber-
rechtsgesetz nicht nur für den Einsatz urheberrechtlich
geschützter Texte im Unterricht gelten soll, sondern für
alle Zwecke des Unterrichts. Die Ursache dafür, dass Sie
sich nicht haben durchringen können, die Befristung in
§ 52 a Urheberrechtsgesetz endlich aufzuheben, ist wie-
der einmal eher im bedauernswerten Zustand der Regie-
rungskoalition zu suchen als in rationalen Gründen.
Denn die Entfristung des § 52 a Urheberrechtsgesetz
wird ja nicht nur seit Jahren von der Opposition und von
Experten und Fachleuten aus dem Wissenschafts- und
Bibliothekenbereich gefordert. Eine Entfristung verlangt
auch der Bundesrat unter Beteiligung von CDU-geführ-
ten Landesregierungen.
Eine Befristung einer gesetzlichen Regelung mag ja
manchmal sinnvoll sein, wenn man Neuland betritt und
erst einmal Erfahrungen sammeln will. Aber wir wissen
doch längst, dass eine Regelung, die es ermöglicht, urhe-
berrechtlich geschützte Texte gegen Vergütung für Un-
terrichtszwecke einzusetzen, vollkommen unverzichtbar
ist.
Mag sich denn hier irgendjemand ernsthaft vorstellen,
der § 52 a Urheberrechtsgesetz werde irgendwann ein-
fach ersatzlos auslaufen und alle Hochschulen müssten
ihre Intranets für die Lehre abstellen? Das ist doch ein
absurder Gedanke! Deshalb ist die Warterei, wann und
ob die Mehrheitsfraktionen in diesem Haus diesmal kurz
vor Weihnachten gerade wieder einmal knapp die Kurve
kriegen, eine für Sie zunehmend peinliche Veranstal-
tung.
Noch nicht abgeschlossene Fragen hinsichtlich einer
angemessenen Vergütung an die VG Wort werden dem-
nächst einer gerichtlichen Klärung zugeführt. Das kann
für Ihre Zögerlichkeit also nicht herhalten. Die Evalua-
tion des § 52 a Urheberrechtsgesetz durch ihr eigenes
Justizministerium hat aber längst ergeben, dass die dau-
ernde Befristung nicht nur überflüssig, sondern auch
schädlich ist. Denn sie behindert und verzögert wichtige
Investitionen in die digitale Infrastruktur von Hochschu-
len und Bibliotheken. Niemand investiert Millionen auf
der Basis einer unsicheren Rechtsgrundlage.
Umso bedauerlicher ist es, dass diese Regierung nicht
die Kraft findet, endlich den immer wieder versproche-
nen dritten Korb zum Urheberrecht mit den notwendigen
Schrankenregelungen für Bildung und Wissenschaft vor
Ende der Legislaturperiode vorzulegen. Denn es gibt
eine ganze Reihe von ungelösten Problemen und Rechts-
unsicherheiten, die dem zeitgemäßen Arbeiten im Bil-
dungs- und Wissenschaftsbereich entgegenstehen und
wo transparente, rechtssichere und faire Regelungen
überfällig sind. Dazu gehören Probleme der Langzeitar-
chivierung und der Digitalisierungskompetenzen von Bi-
bliotheken, die Regelungen über elektronische Lese-
plätze und die Ausleihe von E-Books. Die Regelungen
zum elektronischen Kopienversand haben sich als nicht
praktikabel herausgestellt.
Es ist schlicht ein Unding, wenn heutzutage wissen-
schaftliche Hilfskräfte von Dahlem nach Mitte geschickt
werden, weil von dort aus ein vorhandener Zeitschriften-
aufsatz nicht zeitnah per elektronischer Fernleihe ver-
schickt werden kann. Das ist aber leider Berliner Wissen-
schaftsalltag. Genauso ist es Alltag, dass Menschen im
Wissenschaftsbereich ganztägige Lehrgänge zu einzelnen
Gesetzesnormen besuchen, weil keine Rechtssicherheit
herrscht, was mit Texten, Forschungsdaten und anderen
Digitalisaten gemacht werden darf. Dabei liegen konkrete
Gesetzestextvorschläge zum Beispiel von der Allianz der
deutschen Wissenschaftsorganisationen längst vor.
Das gilt auch für die Umsetzung der Forderung nach
einem unabdingbaren Zweitveröffentlichungsrecht für
wissenschaftliche Autorinnen und Autoren, damit Publi-
kationen, die aus öffentlich finanzierter Forschung ent-
stehen, nach einer angemessenen Frist auch öffentlich
frei zugänglich gemacht werden können und zum Bei-
spiel von staatlichen Bibliotheken und Hochschulen
nicht noch einmal bezahlt werden müssen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012 25953
(A) (C)
(D)(B)
Diese Forderung wurde auch von der Internet-Enquete
des Bundestages einstimmig unterstützt und im aktuellen
Bericht aufgenommen. Ich weiß, dass dies ohne die er-
folgreichen Überzeugungsarbeiten der dort beteiligten
Kolleginnen und Kollegen der Regierungskoalition ge-
genüber Ihren Rechtspolitikern nicht möglich geworden
wäre. Das verdient auch ausdrücklich der positiven Wür-
digung, aber ein großer Schritt für FDP und CDU/CSU ist
eben noch kein großer Schritt für die Menschheit, wenn
daraus keine Handlungen erwachsen.
Das gilt übrigens auch für die Empfehlung der En-
quete, eine allgemeine zusammengeführte Schrankenre-
gelung im Urheberrecht für Bildung und Wissenschaft
zu prüfen. Auch für eine solche Regelung gibt es längst
einen ausgearbeiteten Vorschlag der Allianz. Aber wenn
Sie bei dieser Prüfung so zögerlich ans Werk gehen wie
beim § 52 a Urheberrechtsgesetz, wird die Prüfung wohl
noch bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag dauern, von der
Umsetzung ganz zu schweigen.
Meine Damen und Herren von der Regierung, über-
winden Sie endlich Ihre chronifizierte Mut- und Tatenlo-
sigkeit. Sie wird den Anforderungen einer modernen
Wissensgesellschaft nicht gerecht.
Anlage 12
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Strafbarkeit der gewerbsmäßigen Förderung
der Selbsttötung (Tagesordnungspunkt 40)
Ansgar Heveling (CDU/CSU): Weniger als zwei
Monate vor seinem eigenen Tod schrieb Franz Kardinal
König, der beliebte Alterzbischof von Wien sowie sei-
nerzeit wesentlicher Denker und Lenker des Zweiten Va-
tikanischen Konzils, im Januar 2004 in einem Brief an
den österreichischen Verfassungskonvent zu Fragen der
Sterbehilfe: „Menschen sollen an der Hand eines ande-
ren Menschen sterben und nicht durch die Hand eines
anderen Menschen.“ Damit hat Kardinal König jenseits
aller juristischen Kategorien sehr griffig und unmissver-
ständlich auf den Punkt gebracht, wo die ethische Grenz-
linie im Umgang mit dem Sterben für die Gesellschaft
liegt.
Die Unantastbarkeit der Würde des Menschen ist ein
fundamentales Gebot unserer Verfassung. Sie zu achten
und zu schützen, ist Aufgabe aller staatlichen Gewalt.
Dessen sollten wir uns sehr deutlich bewusst sein. Es
mögen unabhängige Begründungswurzeln sein. Den-
noch – in diesem Verständnis sind sich das christliche
und das humanistische Menschenbild im Übrigen einig –:
Bei beiden steht der einzelne Mensch im Mittelpunkt.
Seine Würde ist es, um die es geht.
Natürlich hat der autonome Wunsch des Einzelnen,
über sein Leben zu entscheiden, Respekt verdient. Auf
die Gesellschaft als Ganzes bezogen stellt sich demge-
genüber schon die Frage: Wie ist es um die Würde des
Menschen im Sterben bestellt, dass dem Einzelnen über-
haupt der Wunsch entsteht, seinem Leben ein Ende zu
setzen? Kardinal König spricht in diesem Zusammen-
hang von einer „Kultur des Lebens“, um die es gehe und
zu der auch eine „Kultur des Sterbens“ gehöre. Dabei
formuliert er es so: „Das Leben des Menschen ist mehr
als eine beliebige biologische Tatsache unter anderen.“
Auch dessen sollten wir uns als Richtschnur bewusst
sein.
Das Strafrecht kann dabei zwangsläufig nicht das
erste Mittel sein, ethischen Aufträgen an die Gesell-
schaft gerecht zu werden. Behutsamkeit, Verständnis für
die körperlichen und psychischen Veränderungen, die
etwa das Alter mit sich bringt, Sensibilität – alles das
kann nicht der Staatsanwalt bescheren. Aber das Straf-
recht ist gefordert, wo es darum geht, den besonderen
Schutz der Würde des Menschen durchzusetzen, gegen
Entwicklungen vorzugehen, die diesem Schutz zuwider-
laufen.
Selbsttötung ist in Deutschland straflos. Damit trägt
unsere Strafrechtsordnung trotz der Schutzverpflichtung
gegenüber der Würde des Menschen der individuellen
Letztentscheidung des Einzelnen Rechnung. Systema-
tisch sind deshalb auch Beihilfehandlungen straflos, so-
lange es keine gesetzliche Regelung gibt. Lange Zeit be-
stand hierzu auch kaum ein Anlass. Die Frage nach
strafrechtlicher Verantwortung stellte sich im Wesentli-
chen in Einzelfällen mit besonderen Konstellationen, die
allesamt Ausdruck innerer Konflikte im zwischen-
menschlichen Nahbereich sind.
Davon haben wir uns indessen mittlerweile weit ent-
fernt. Aus dem individuellen Konflikt ist durch das Auf-
treten von Sterbehilfevereinen die Diskussion um ein
Dienstleistungsangebot geworden. Es geht um All-
inclusive-Pakete für den Tod. Das ist eine Entwicklung,
der wir nicht tatenlos zusehen dürfen. Wir beraten daher
heute in erster Lesung den Entwurf eines Gesetzes zur
Strafbarkeit der gewerbsmäßigen Förderung der Selbst-
tötung, dessen Ziel es ist, eine Korrektur dort vorzuneh-
men, wo eine kommerzialisierte Suizidhilfe Menschen
dazu verleiten kann, sich das Leben zu nehmen. Bereits
im Koalitionsvertrag hatte die christlich-liberale Koali-
tion vereinbart, dagegen vorzugehen. Um den Schutz des
Lebens am Lebensende zu gewährleisten, wollen wir
„Geschäften mit dem Tod“ sichtbar und nachhaltig die
Grundlage entziehen und damit der organisierten Suizid-
beihilfe entgegenwirken.
Wie der Gesetzentwurf festhält, nehmen auch in
Deutschland die Fälle zu, in denen Personen auftreten,
deren Anliegen es ist, einer Vielzahl von Menschen in
Form einer entgeltlichen Dienstleistung eine schnelle
und effiziente Möglichkeit für einen Suizid anzubieten.
Dies geschieht beispielsweise durch das Verschaffen ei-
nes tödlich wirkenden Mittels und das Anbieten einer
Räumlichkeit, in der das Gift durch die suizidwillige
Person eingenommen werden kann. Zu denken ist aber
auch an Fälle, in denen von Deutschland aus die Gele-
genheit vermittelt wird, im Ausland die für eine Selbst-
tötung notwendigen Mittel und Räumlichkeiten zu erhal-
ten. Im Vordergrund solcher Handlungen steht dabei
nicht ein Beratungsangebot mit primär lebensbejahenden
Perspektiven, sondern die rasche und sichere Abwick-
25954 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012
(A) (C)
(D)(B)
lung des Selbsttötungsentschlusses, um damit Geld zu
verdienen. Diese Kommerzialisierung stellt eine qualita-
tive Änderung in der Praxis der Sterbehilfe dar. Sie lässt
befürchten, dass die Hilfe zum Suizid als eine normale
Dienstleistung angesehen wird und sich Menschen zur
Selbsttötung verleiten lassen, die dies ohne ein solches
Angebot nicht tun würden.
Ich will nicht verhehlen, dass sich auch mir die Frage
stellt, ob die Begrenzung auf eine „gewerbsmäßige För-
derung“ ausreicht, um das Vorgehen der Sterbehilfeorga-
nisationen zu unterbinden. Wir müssen daher in der wei-
teren Beratung genau überlegen, inwieweit die
vorgesehene gesetzliche Regelung dazu Raum lässt,
durch kleinere organisatorische und strukturelle Verän-
derungen das „Geschäftsmodell Tod“ ohne Strafrechts-
androhung aufrechtzuerhalten und inwieweit dadurch
die Gefahr besteht, dass sich diese Organisationen ge-
rade darauf berufen können, dass ihr Tun strafrechtlich
nicht verboten ist. So lässt ein Verein, der den Dienstleis-
tungstod anbietet, auf seiner Homepage unter „Häufig
gestellte Fragen“ darauf hinweisen – ich zitiere –: „Be-
steht nicht die Gefahr, dass der Verein verboten wird? –
Das Bundesjustizministerium hat im April 2012 den
,Entwurf eines Gesetzes zur Strafbarkeit der gewerbsmä-
ßigen Förderung der Selbsttötung‘ auf den gesetzgeberi-
schen Weg gebracht. Es ist damit zu rechnen, dass Bun-
destag und Bundesrat … ein solches Gesetz verab-
schieden. Unser Verein ist nicht betroffen, da wir den
Mitgliedern Suizidbegleitung nicht gegen Honorar, also
nicht gewerbsmäßig, anbieten.“ Das Verbot der gewerbs-
mäßigen Förderung der Selbsttötung ist aber in jedem
Falle ein erster, wichtiger Schritt, um der organisierten
Suizidbeihilfe entgegenzutreten. Erstmals wird damit
eine Form der Suizidbeihilfe überhaupt unter Strafe ge-
stellt. Das ist gegenüber dem jetzigen Rechtszustand be-
reits ein Fortschritt.
Wir als Parlament haben einen klaren Verfassungsauf-
trag. Es ist auch unsere Aufgabe, die Würde des Men-
schen zu schützen. Diesem umfassenden Schutzauftrag
müssen wir sorgfältig gerecht werden. Gerade die Rege-
lung von Lebenssachverhalten, die sich mit dem Beginn
und dem Ende des Lebens befassen, bedarf dabei einer
besonderen Sensibilität. Das sind die Punkte, an denen,
um nochmals Kardinal König zu zitieren, „das Leben in
besonderer Weise gefährdet, ja ‚zerbrechlich‘ ist, wo die
Gefahr droht, dass der Mensch ganz über den Menschen
verfügt“. Dort liegt unser besonderer Schutzauftrag.
Dort geht es nicht mehr um den Vorrang individueller
Selbstbestimmung, sondern um das ethische Fundament
einer ganzen Gesellschaft. Folgen wir der Maxime
„Menschen sollen an der Hand eines anderen Menschen
sterben und nicht durch die Hand eines anderen Men-
schen“.
Norbert Geis (CDU/CSU): Mit dem Sterben und
dem Tod ist es eine merkwürdige Sache. Für gewöhnlich
leben wir so dahin, als ob es immer so weiterginge und
als ob es selbstverständlich sei, dass wir da sind.
Manchmal allerdings tritt der Tod mitten in unser Le-
ben. Wir sind erschüttert, wenn ein naher Angehöriger
stirbt. Wir begreifen kaum, dass der Mensch, den wir gut
gekannt haben, der uns vielleicht sogar sehr lieb war,
plötzlich nichts mehr sagt und schweigend daliegt.
Nichts ist mehr revidierbar, nichts kann mehr vorange-
bracht werden. Das Leben, mit all seinen Begegnungen,
mit allen Beziehungen, mit allen Vorhaben und Ideen,
mit seinen Hoffnungen und Niederungen findet mit dem
Tod unwiederbringlich sein Ende. Der Tod ist der Ernst-
fall schlechthin.
Unser Leben ist auf den Tod ausgerichtet, unser Le-
benswille lebt aber gegen den Tod. Gerade angesichts
des Todes erfahren wir, welche Bedeutung das Leben für
uns hat, das wir leben dürfen.
Deshalb ist es so unbegreiflich, dass sich jemand das
Leben selbst nimmt. Wir sind sprachlos und finden keine
Worte, fragen uns, ob wir seine Not nicht erkannt oder
sie übergangen haben, die ihn dazu getrieben hat, sich
selbst das Leben zu nehmen.
Gegen solche Vorwürfe an uns selbst wenden wir aber
schnell ein und beruhigen uns damit, dass der Betroffene
ja schließlich aus freiem Willen gehandelt habe. Er habe
sich frei entschlossen, seinem Leben ein Ende zu ma-
chen, reden wir uns ein.
Diese Autonomie, die die heutigen Menschen gerne
für sich fordern, spielt gerade in unserer Zeit, in der wir
so großen Wert auf Individualität legen, eine entschei-
dende Rolle. Die freie Selbstbestimmung und damit das
Recht, seinem Leben dann ein Ende zu setzen, wenn
man es für richtig hält, gilt dem heutigen Menschen als
Teil seiner Würde, als Ausfluss seiner Autonomie, deren
Beachtung er von den anderen einfordert.
Mit dieser Autonomie ist es aber oft nicht weit her. In
90 Prozent der Suizide ist die Ursache eine schwere De-
pression, die geheilt werden kann, wenn sie rechtzeitig
erkannt wird.
Wer annimmt, die Autonomie sei das höchste Gut, das
der Staat zu achten habe, irrt. Nicht der Schutz der Auto-
nomie ist oberstes verfassungsrechtliches Gebot, sondern
oberstes Gebot ist der Schutz des Lebens. Das ist der al-
lererste Auftrag des Staates. Ist das Leben genommen,
gibt es auch keine Autonomie und keine Würde mehr.
Mit dem Tod gehen alle Rechte unter, auch die Autono-
mie des Menschen.
Folglich hat also der Staat vor allem den Auftrag, das
Leben des Menschen zu schützen, unter Umständen
auch gegen seinen Willen. Der Staat kann deshalb die
Selbsttötung nicht billigen. Sie steht nicht im Einklang
mit unserer Rechtsordnung. Es gibt ein Recht auf Leben,
aber kein Recht auf Selbsttötung. Richtig ist, dass die
Selbsttötung nicht bestraft wird. Dies hat aber einen rein
praktischen Grund. Der, der sich selbst umgebracht hat,
kann nicht mehr bestraft werden. Der, dessen Suizid
misslungen ist, der also nur versucht hat, sich selbst zu
töten, wird deshalb nicht bestraft, weil der Staat davon
ausgeht, dass er mit sich selbst Schwierigkeiten genug
hat und insofern gestraft genug ist. Weil aber der Selbst-
tod nicht strafbar ist, sind nach dem bei uns geltenden
Prinzip der Akzessorietät auch die Beihilfe und die An-
stiftung nicht strafbar.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012 25955
(A) (C)
(D)(B)
Dieser Grundsatz der Akzessorietät in unserem Straf-
recht scheint mir jedoch bei der Beihilfe zum Suizid
höchst fraglich, vor allem dann, wenn diese Beihilfe ver-
werflich ist. Derjenige, der den anderen auf dessen drin-
gende Bitte hin tötet, wird nach § 216 StGB wegen Tö-
tung auf Verlangen bestraft. Sein Verhalten ist hoch-
verwerflich und deshalb strafwürdig. Dahingegen wird
derjenige, der wissentlich und willentlich dem anderen
die Pistole in die Hand gibt, damit er sich selbst tötet,
nicht bestraft. Dies ist ein Widerspruch, der schwer zu
erklären ist. In beiden Fällen wollen die Handelnden den
Tod des Betroffenen herbeiführen. Es ist nicht nachvoll-
ziehbar, dass die eine Handlung strafwürdig ist, die
Strafwürdigkeit der anderen Handlung aber abgelehnt
wird. Als Begründung für die Entscheidung wird die
Tatherrschaft desjenigen angegeben, der den anderen
tötet. Das erscheint mir zu wenig.
Andere Länder stellen die Beihilfe zum Selbsttod un-
ter Strafe, so Österreich, Italien, England, Irland, Portu-
gal, Spanien und Polen. In diesen Ländern gilt die Bei-
hilfe als verwerflich und strafwürdig. Diese Einsicht
müsste auch in Deutschland Geltung haben. Die Beihilfe
ist schon allein deshalb verwerflich und strafwürdig,
weil dadurch das Leben eines anderen vernichtet wird.
Das überragende Rechtsgut Leben wird durch die Bei-
hilfe missachtet. Darin liegt der Grund der Strafbarkeit.
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung bleibt aber
dabei, dass die Beihilfe nicht strafbar ist. Der Grundsatz
der Akzessorietät der Beihilfe zu einer Tat soll also auch
beim Suizid gewahrt bleiben. Dies bleibt unverständlich
und ist auch nicht logisch.
Bei der geplanten Bestrafung der gewerbsmäßigen
Beihilfe wird dieser Grundsatz allerdings nicht eingehal-
ten. Das Dienstleistungsangebot der gewerblichen Bei-
hilfe ist moralisch in einem solchen Maß verwerflich,
dass der Staat an einer Bestrafung nicht vorbeikommt.
Das kann aber nicht nur für die gewerbsmäßige Bei-
hilfe gelten. Wir haben auch den Fall, dass Einzelperso-
nen oder organisierte Personengruppen ein solches
„Dienstleistungsangebot“ propagieren. Für diese Ange-
bote, die nachweislich ohne gewerblichen Hintergrund
betrieben werden, wird auch öffentlich geworben. Ein
solches Verhalten ist ebenfalls verwerflich und ist des-
halb, wie die gewerbliche Beihilfe, unter Strafe zu stel-
len.
Hinzu kommen muss aber auch der Fall, dass ein ein-
zelner „Helfer“ die Selbsttötungsabsicht eines anderen
aus völlig eigennützigen Motiven hervorruft. Er stiftet
den Betroffenen zur Selbsttötung an. Ohne diese Anstif-
tung kommt der Betroffene vielleicht gar nicht zu dem
Entschluss, sich selbst zu töten. Solche „Helfer“ handeln
nicht selten aus Eigennutz. Dies kann im ganz nahen
Verwandtschaftsverhältnis oder Freundeskreis der Fall
sein, wenn zum Beispiel die Pflege des alten Menschen
zur unerträglichen Last geworden ist oder aber wenn
diese „Helfer“ durch den Tod des Betroffenen auf eine
große Erbschaft hoffen dürfen. Dieses Verhalten ist min-
destens genauso verwerflich wie die gewerbliche Bei-
hilfe. Deshalb ist auch ein solches Verhalten unter Strafe
zu stellen.
Aus all diesen Gründen ist der Gesetzentwurf der
Bundesregierung im parlamentarischen Verfahren zu
überprüfen und zu ergänzen. Wichtig allerdings er-
scheint mir die Ausweitung der Hilfe. Gerade die unmit-
telbare Nachbarschaft ist insbesondere aufgefordert, mit
älteren Menschen, bei denen die Suizidrate am höchsten
ist, in Kontakt zu bleiben, ihnen mit kleinen Diensten bei
der Bewältigung des Alltages zu helfen. Aufmerksam-
keit, Freundlichkeit und Entgegenkommen können hel-
fen, damit sich der Gedanke an die Selbsttötung bei dem
Nächsten gar nicht erst festsetzt.
Dr. Edgar Franke (SPD): In der Schweiz wird die
Beihilfe zum Suizid durch Laien oder durch Ärzte nicht
strafrechtlich verfolgt. Hier dürfen Suizidhilfe-Organisa-
tionen mit Namen Exit oder Dignitas den vom Sterbe-
wunsch Erfüllten eine Infusion mit tödlichem Gift anle-
gen und so lange anwesend bleiben, bis der Tod eintritt.
Der Sterbewillige muss diese allerdings selbst auslösen.
Im Jahr 2011 sind 411 Menschen mithilfe von Exit
aus dem Leben geschieden. Dies berichtet Bernhard
Sutter, der Vizepräsident von Exit (Deutsche Schweiz),
dem Evangelischen Pressedienst, epd, veröffentlicht am
14. Juni des Jahres. Nach Angaben von Exit sind rund 30
Prozent der Sterbewilligen „nicht todkrank“.
In der kanadischen Provinz Ontario ist der assistierte
Suizid übrigens ebenfalls erlaubt; dort lässt man den Pa-
tienten jedoch mit dem Gift allein, was in 50 Prozent der
Fälle dazu führt, dass dieser sich doch nicht tötet.
Der vorliegende Gesetzentwurf zur Strafbarkeit der
gewerbsmäßigen Förderung der Selbsttötung wendet
sich im Kern gegen private Suzidhilfe-Organisationen
wie Exit und Dignitas, denen eine gewerbs- oder zumin-
dest geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung unter-
stellt wird.
Die Selbsttötung und die Teilnahme sind in Deutsch-
land nicht strafbar. Straffrei sind auch der gerechtfertigte
Behandlungsabbruch – passive Sterbehilfe – und die so-
genannte indirekte Sterbehilfe. Mit Strafe bedroht ist da-
gegen die Tötung auf Verlangen, § 216 StGB. Der vor-
liegende Gesetzentwurf schlägt die Schaffung eines
neuen Straftatbestandes im Strafgesetzbuch vor, der die
gewerbsmäßige Förderung der Selbsttötung unter Strafe
stellt.
Der gewerbsmäßigen, also der auf Gewinnerzielung
ausgerichteten Förderung der Selbsttötung soll demnach
durch ein strafrechtliches Verbot entgegengewirkt wer-
den. Dazu soll ein neuer Straftatbestand, der § 217
StGB-E, geschaffen werden. Im Wortlaut: „Wer absicht-
lich und gewerbsmäßig einem anderen die Gelegenheit
zur Selbsttötung gewährt, verschafft oder vermittelt,
wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geld-
strafe bestraft.“
Gewerbsmäßig handelt nach der Rechtsprechung des
BGH, wer in der Absicht handelt, sich durch wiederholte
Tatbegehung eine fortlaufende Einnahmequelle zu ver-
schaffen, wobei die Tätigkeit von der Absicht getragen
werden muss, Gewinn zu erzielen.
25956 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012
(A) (C)
(D)(B)
Den Suizidhilfe-Organisationen wird vorgeworfen,
mit dem Leid verzweifelter Menschen Geschäfte zu ma-
chen. Ob eine Gewinnerzielungsabsicht festgestellt wer-
den kann, ist nicht sicher. Exit hat nach eigener Zählung
rund 80 000 Mitglieder. Nach eigenen Angaben streben
sie die gesicherte Finanzierung ihrer Aktivitäten an.
In dem Gesetzentwurf sagen Sie, eine gesetzliche Re-
gelung zur Strafbarkeit der Förderung der Sterbehilfe sei
längst fällig. Ist es nicht vielmehr notwendig, die Sicht
darauf zu richten, dass nicht nur die gewerbsmäßige,
sondern auch die organisierte Förderung der Sterbehilfe
als strafwürdiges Verhalten angesehen werden sollte?
Die Abgrenzung einer gewerbsmäßigen zur organisier-
ten Förderung der Sterbehilfe wird im Einzelfall sich
nämlich eher schwierig gestalten.
Das Entscheidende ist jedoch: Weder die Urteilsfähig-
keit noch die genaue Krankengeschichte müssen oder
können von den Laienhelfern geprüft werden. So werden
gerade bei psychischen Erkrankungen oder psychischen
Ausnahmezuständen die nötige therapeutische Erfah-
rung und fachliche Voraussetzungen weitgehend fehlen.
Das ist untragbar und betrifft mehr oder weniger die or-
ganisierte Förderung der Sterbehilfe.
So fordert die Bundesärztekammer, dann nicht nur die
gewerbliche Suizidbeihilfe, sondern jegliche organisierte
Sterbehilfe zu verbieten.
Eugen Brysch, Vorstand der Patientenschutzorganisa-
tion Deutsche Hospiz Stiftung, will, dass das konzeptio-
nelle Vorgehen der Sterbehilfeorganisationen verhindert
wird. Er drängt damit ebenfalls zum Verbot der organi-
sierten Sterbehilfe.
Meine Kollegin Sabine Bätzing-Lichtenthäler hat in
ihrer veröffentlichten Stellungnahme recht: Wo ein kom-
merzielles Interesse ist, gibt es auch Interessen, den Ge-
winn zu maximieren. Diesbezüglich ist der Gesetzent-
wurf der Bundesregierung richtig. Er ist aber nicht
weitgehend genug. Denn auch die organisierte Sterbe-
hilfe, die nicht kommerziell arbeitet, ist falsch. Eine Or-
ganisation, die den Tod in einem bürokratischen Ver-
fahren zuweist, passt nicht zu einer individuellen
Entscheidung. Eine solche Organisation wird allein
durch ihre Existenz Entscheidungen beeinflussen und
wahrscheinlich auch in Gesprächen Einfluss nehmen. –
Sie hat recht; dies spricht gegen die organisierte Sterbe-
hilfe.
Die Entscheidung für eine Selbsttötung kann doch
sinnvoll nur im Einzelfall durch den Betroffenen mit-
hilfe seiner Angehörigen und mit Beratung durch einen
Arzt, möglichst mit therapeutischen Erfahrungen, erfol-
gen.
Hier haben Sie Ihren ursprünglichen Entwurf nach
Protesten der Ärzteschaft entschärft. Der vorliegende
Entwurf sieht nur noch vor, dass Angehörige oder andere
nahestehende Personen einem Sterbenskranken straffrei
Beihilfe leisten dürfen.
Die Bundesärztekammer versucht, über berufsrechtli-
che Regelungen und Regelungen der Berufsordnung sich
zu entziehen. Und auch der Bundesverband privater An-
bieter sozialer Dienste betont, dass Pflegekräfte den
Menschen beim Leben helfen wollen, aber nicht beim
Suizid.
Der Begriff „nahestehende Personen“ ist allerdings
eher unbestimmt und erlaubt, dass auch Ärzte und Pfle-
gekräfte gemeint sein können. Aber der Kollege Spahn
bemerkt zu Recht, dass es nicht sein kann, dass in solch
einem „Nebensatz“ die Sterbehilfe durch nahestehende
Ärzte und Pflegekräfte straffrei gestellt werden sollte.
Hier werden Sie also nachbessern und erklären müssen,
ob Sie in einem weiteren Gesetzentwurf die Rolle der
Ärzte und Pflegekräfte neu ausrichten und die Sterbe-
hilfe – unter gewissen Voraussetzungen – durch diese
Berufsgruppen straffrei stellen wollen.
Generell haben wir das Selbstbestimmungsrecht der
Patientinnen und Patienten mehr zu achten. Dafür muss
auch Klarheit über die Verbindlichkeit und die Reich-
weite von Patientenverfügungen herrschen. Wie schaf-
fen wir die erforderliche Rechtssicherheit für alle Betei-
ligten auch bei der passiven und indirekten Sterbehilfe
sowie der Beihilfe zur Selbsttötung?
Gesetzliche Regelungen zur Stärkung des Selbstbe-
stimmungsrechts von Patienten können aber nur ein
Baustein sein, um Menschen einen würdigen Umgang
mit Leiden und Sterben zu ermöglichen. Wichtig ist der
weitere Ausbau des Hospizwesens und der Palliativme-
dizin. Schon meine Kollegin Brigitte Zypries hatte in ih-
rer Zeit als Bundesjustizministerin die Vorstellung, dass
dann auch die Diskussion über aktive Sterbehilfe in den
Hintergrund treten würde.
Es geht letztlich darum, die Patientenautonomie auch
am Lebensende zu stärken und menschenwürdige Bedin-
gungen für Kranke und Sterbende zu schaffen.
Kathrin Senger-Schäfer (DIE LINKE): Wie die
Menschen im Land diskutiert auch die Linksfraktion das
Thema Sterbehilfe insgesamt kontrovers. Auch nach der
geplanten Anhörung im Rechtsausschuss zum Inhalt des
Gesetzentwurfs und zur abschließenden Lesung im Bun-
destag ist keine einhellige Fraktionsmeinung der Linken
zu erwarten. Wie sollte es auch anders sein? Schließlich
sind doch die Fragen, welche sich dem Thema Sterbe-
hilfe widmen, nicht nur ethisch bzw. moralisch hochsen-
sibel und differenziert zu betrachten, sondern bergen
auch jede Menge Missverständnisse.
Allein die Begrifflichkeiten wie „aktive Selbsthilfe“
und „passive Sterbehilfe“ oder auch „Beihilfe zur Selbst-
tötung“ bzw. „assistierter Suizid“ werden häufig nicht
eindeutig angewandt, abgesehen davon, dass sehr unter-
schiedliche – auch medizinische – Vorgehensweisen in
der Nähe des Lebensendes häufig als Sterbehilfe be-
zeichnet und missverstanden werden.
Insofern sei mir der Hinweis erlaubt, dass meine Hal-
tung nicht den Standpunkt meiner Fraktion in ihrer Ge-
samtheit wiedergibt, sondern vielmehr meine persönli-
che Meinung zum Thema beinhaltet, die maßgeblich
durch meine pflege- und gesundheitspolitische Arbeit
geprägt ist.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012 25957
(A) (C)
(D)(B)
Insofern plädiere ich mit Nachdruck dafür, dass alle
Abgeordneten des Deutschen Bundestages frei und al-
lein ihrem Gewissen verpflichtet und nach gründlicher
persönlicher Abwägung zum Gesetzentwurf ihre Ent-
scheidung fällen können und gegebenenfalls mittels
fraktionsunabhängiger parlamentarischer Initiativen die
Debatte befruchten.
Meine Position ist es, sich ausdrücklich und entschie-
den gegen jede Form der aktiven Sterbehilfe und jegli-
cher Form der organisierten Beihilfe zur Selbsttötung
auszusprechen. Menschen, die aussichtslos erkrankt
sind, dürfen weder sich selbst überlassen bleiben, noch
einer organisierten oder gar kommerzialisierten Sterbe-
hilfe oder Beihilfe zur Selbsttötung ausgeliefert werden,
die teilweise dilettantisch von Nichtärzten durchgeführt
wird und die ohne jegliches Empfinden für die Sorgfalts-
pflicht Sterbewillige in ungeeigneten Räumlichkeiten
oder gar auf Parkplätzen unwiederbringlich ihrem
Schicksal überlässt. Weder von Ärzten noch von Pflege-
personal noch von privaten Organisationen sollte eine
aktive Unterstützung von Selbsttötungen angeboten oder
ausgeübt werden.
Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung
greift das Verbot der gewerblichen Beihilfe zur Selbsttö-
tung auf und geht somit in die richtige Richtung. Einmal
abgesehen davon, dass der Gesetzentwurf in der Begrün-
dung mit ungenauen Formulierungen hantiert – denn es
geht hier um Beihilfe zur Selbsttötung, was etwas ande-
res ist als Sterbehilfe, – greift er aber insoweit zu kurz,
als eben nicht ausdrücklich jegliche Form der organisier-
ten Beihilfe zur Selbsttötung unter Strafe gestellt wird,
sondern nur die gewerbsmäßige Form.
Jedoch ist eine Grenze in der Praxis nicht haarscharf
zu ziehen, die strafrechtliche Ahndung daher äußerst
schwierig, und sind Umgehungstatbestände faktisch vor-
programmiert. Es reicht deshalb nicht aus, dass mit dem
Gesetzentwurf eine nichtgewerbsmäßige Beihilfe zur
Selbsttötung dann straffrei bleibt, wenn der- oder dieje-
nige, welche die Beihilfe leisteten, eine Angehörige oder
ein Angehöriger oder eine nahestehende Person ist.
Vor diesem Hintergrund ist anzumerken – und findet
sich auch in der Begründung des Gesetzentwurfs –, dass
Studien mehrfach gezeigt haben, dass ein kausaler Zu-
sammenhang zwischen der Zulassung von kommerziali-
sierter Beihilfe zur Selbsttötung und einem Anstieg ent-
sprechender Selbsttötungen zwar nicht bewiesen ist, aber
dennoch vermutet werden kann. Das allein rechtfertigt
ein Verbot. Nachvollziehbar ist aber nicht, diesen Zusam-
menhang allein für die kommerzialisierte Beihilfe zur
Selbsttötung zu vermuten. Die Vermutung muss auch für
jede andere Form der organisierten Beihilfe zur Selbsttö-
tung gelten bzw. sie kann nicht ausgeschlossen werden
und rechtfertigt insofern ebenfalls ein Verbot.
Fakt ist, dass beispielsweise in den Niederlanden
nicht nur Menschen durch die Einwirkung Dritter star-
ben, die danach verlangt hatten, sondern jedes Jahr auch
einige Hundert, die nicht darum gebeten hatten. Nach
ärztlicher Einschätzung konnte keine Besserung ihres
Zustandes mehr erzielt werden bzw. wurden medizini-
sche Maßnahmen für sinnlos erachtet, wurde ihre Le-
bensqualität als gering eingeschätzt oder hatten ihre An-
gehörigen darum gebeten.
Menschen wollen sterben, weil sie einsam sind, keine
Hilfen bekommen, ihren Angehörigen nicht zur Last fal-
len wollen, Schmerzen haben. Dies sind alles Problem-
felder, auf die spezifisch und wirksam reagiert werden
könnte, die aber in den Hintergrund gerückt sind. Be-
zeichnend ist in diesem Zusammenhang, dass der Aus-
bau der palliativmedizinischen Versorgung nur schlep-
pend vorankommt.
Es muss darauf hingewiesen werden, dass Menschen
mit unheilbaren Krankheiten ein Recht auf die bestmög-
liche Versorgung haben. Es muss gewährleistet sein,
dass für sie bis zum Lebensende alles getan wird, damit
sie selbstbestimmt und in Würde bis zum Ende leben
können. Eine gute palliativmedizinische Versorgung und
die dazugehörige Pflege und Betreuung sind deshalb
wichtige Bausteine, um dieses Ziel zu verwirklichen.
Die palliativmedizinische Versorgung als Teil eines
umfassenden Palliative-Care-Konzepts leistet hier Her-
vorragendes, ebenso wie die Hospizeinrichtungen.
Bei der palliativmedizinischen Versorgung geht es um
die aktive, ganzheitliche Behandlung von Patienten mit
einer voranschreitenden, weit fortgeschrittenen Erkran-
kung und einer begrenzten Lebenserwartung in dem Ab-
schnitt, in der die Erkrankung nicht mehr auf eine kura-
tive – also heilende – Behandlung anspricht und die
Beherrschung von Schmerzen, anderen Krankheitsbe-
schwerden, von psychologischen, sozialen und spirituel-
len Problemen höchste Priorität besitzt.
Die Palliativmedizin ist fester Bestandteil der hiesi-
gen medizinischen Versorgung. Gerade in Hinblick auf
die Diskussion zum Thema ist von größter Bedeutung,
dass Palliativmedizin das Ziel hat, todkranke Menschen
in ihrer Ganzheitlichkeit zu betreuen. Das bedeutet, die
Leiden umfassend zu lindern und dabei die Würde und
Eigenständigkeit des Menschen zu achten.
Hier zeigt sich der entscheidende Unterschied zur
Sterbehilfe bzw. zur Beihilfe zur Selbsttötung, der darin
liegt, dass bei der palliativmedizinischen bzw. Palliative-
Care-Versorgung nicht der Leidende, sondern die Symp-
tome des Leids wie Schmerz und Einsamkeit beseitigt
werden. Die Palliative-Care-Versorgung macht Sterbe-
hilfe und die Beihilfe zur Selbsttötung dadurch weitge-
hend überflüssig.
Auch die verkürzte Sicht, welche die palliativmedizi-
nische Versorgung auf die Gabe von Schmerzmitteln re-
duziert und diese dann womöglich in die Nähe einer wie
auch immer gelagerten Form der Sterbehilfe oder auch
Beihilfe zur Selbsttötung rückt, ist irreführend. Deshalb
bin ich der Meinung, dass wir den Ausbau und die Sicher-
stellung der palliativmedizinischen und Hospizversor-
gung gerade im Zusammenhang mit der heutigen Debatte
nicht aus den Augen verlieren dürfen. Es muss vielmehr
Aufgabe des Gesundheitssystems sein, ungeachtet jegli-
cher Marktmechanismen die Gesundheit jedes Einzelnen
zu erhalten, Leiden zu verhindern, Schmerzen zu lindern,
Menschen am Lebensende zu begleiten sowie beizuste-
hen und nicht ihr Leben aktiv zu beenden. Notwendig
25958 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012
(A) (C)
(D)(B)
sind eine flächendeckende palliativmedizinische bzw.
Palliative-Care-Versorgung und auch eine breitere Finan-
zierung der Pflegeversicherung und ein entsprechender
Ausbau ihrer Leistungen. Daneben muss die Hospizbe-
wegung dringend weiter strukturell, finanziell und medial
unterstützt werden, damit auch hier eine flächendeckende
Versorgung – die nachweislich nicht gegeben ist – ge-
währleistet werden kann.
Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Seit
Jahren wird in der Gesellschaft darüber diskutiert, ob
Menschen ihrem Leben freiwillig und selbstverantwort-
lich ein Ende setzen dürfen und ob es erlaubt oder gar
geboten sei, den hierzu Entschlossenen dabei zu assistie-
ren. Der Freitod steht nicht unter Strafe, auch die Bei-
hilfe dazu – selbstverständlich – nicht. Es wäre sinnvoll,
gesetzlich klarzustellen, dass straflose Beihilfe zum Sui-
zid nicht durch die Hintertür wegen unterlassener Hilfe-
leistung verfolgt werden kann. Leider legt die Bundesre-
gierung hierzu keinen Gesetzentwurf vor. Stattdessen
beschäftigen wir uns mit einem Vorschlag zur Strafbar-
keit der gewerbsmäßigen Förderung der Selbsttötung.
Der vorliegende Gesetzentwurf scheitert bereits an
der Darstellung der Lebenssachverhalte, die unter Strafe
gestellt werden sollen. Ich zitiere aus der Begründung:
„In Deutschland nehmen die Fälle zu, in denen Personen
auftreten, deren Anliegen es ist, einer Vielzahl von Men-
schen in Form einer entgeltlichen Dienstleistung eine
schnelle und effiziente Möglichkeit für einen Suizid an-
zubieten. ... Im Vordergrund solcher Handlungen steht
dabei nicht ein Beratungsangebot mit primär lebensbeja-
henden Perspektiven, sondern die rasche und sichere
Abwicklung des Selbsttötungsentschlusses, um damit
Geld zu verdienen.“
Ich hätte erwartet, dass nunmehr einige Beispiele fol-
gen, von Menschen oder Organisationen, auf die diese
Beschreibung zutrifft. Aber weit gefehlt, nicht ein einzi-
ges konkretes Beispiel wird von der Regierung benannt.
Ich will konkreter werden und die Fälle ansprechen,
über die seit Jahren in der Öffentlichkeit kontrovers dis-
kutiert wird:
Es sind dies erstens die schweizerischen Vereine Exit
und Dignitas und ihr deutscher Ableger Dignitate und
zweitens die namensgleichen schweizerischen und deut-
schen Vereine Sterbehilfe Deutschland e. V., hinter de-
nen der frühere Hamburger Justizsenator Dr. Kusch und
seine Gefolgsleute stehen.
Man muss diese Vereine und die für sie handelnden
Personen nicht mögen, aber eines ist klar: Gerade diesen
Personen wird nicht nachzuweisen sein, dass bei ihren
Suizidhilfeangeboten das Geldverdienen im Vorder-
grund steht und dass sie deshalb ihr Beratungsangebot
nicht vorrangig auf lebensbejahende Perspektiven aus-
richten. Ein Blick auf die im Internet nachlesbaren An-
gebote und die veröffentlichten Satzungen reicht hierfür
aus.
Auch der Hinweis auf die angeblich steigende Zahl
von Suizidfällen in den Niederlanden, Belgien und der
Schweiz halten schon einer oberflächlichen Überprüfung
nicht stand. In den Niederlanden und in Belgien ist seit
2001/2002 die aktive Strebehilfe unter bestimmten Be-
dingungen nicht strafbar. In Deutschland ist sie aber
strafbar, und zwar als Tötung auf Verlangen. Dies will
auch niemand ändern. Um uns von den Niederlanden
und Belgien abzusetzen, bedarf es deshalb des vorgeleg-
ten neuen Strafgesetzes gar nicht.
Und in der Schweiz ist die Suizidhilfe strafbar, wenn
sie aus „selbstsüchtigen Beweggründen“ geschieht. Dies
entspricht in etwa der vorgeschlagenen Gewerblichkeit;
jedenfalls sind altruistische Motivationen straflos. Im
Ergebnis würde der vorliegende Entwurf eine ähnliche
Rechtslage wie in der Schweiz schaffen, obwohl die Be-
gründung die Lage in der Schweiz gerade als einen
Grund für den vorgelegten Entwurf benennt. Bezeich-
nend ist in diesem Zusammenhang, dass die in der
Schweiz legal tätigen Vereine als „quasi gewerbsmäßig
auftretende Sterbehilfeorganisationen“ bezeichnet wer-
den. So verschwimmt immer mehr, welche Personen ei-
gentlich von der Strafbarkeit mit dem neuen Recht er-
fasst werden sollen.
Nur am Rande sei angemerkt, dass wir die Auffas-
sung der Bunderegierung teilen, dass der Versuch, jegli-
che – auch nicht gewerbsmäßige – organisierte Sterbe-
hilfe zu verbieten, an verfassungsrechtliche Schranken
stoßen würde. Was einem Einzelnen erlaubt ist, kann ei-
nem Verein nicht verboten werden.
Trotz also der ins Auge springenden Schwächen des
vorgelegten Gesetzentwurfs gibt es Hinweise auf Vorge-
hensweisen bei der Suizidhilfe, die strafwürdig sein
könnten.
Wir gehen von der Freiheit zur Selbstbestimmung
aus. Diese beinhaltet auch die Freiheit, seinem Leben ein
Ende zu setzen. Wir wollen solche Entscheidungen nicht
fördern, wir wollen niemanden hierzu anstiften oder ver-
leiten, aber wir achten und respektieren auch diese Ent-
scheidung, wenn sie frei von Einflüssen Dritter und au-
tonom getroffen wird. Deshalb ist weder der Suizid noch
die Beihilfe hierzu unter Strafe gestellt.
Der Staat ist aber – was völlig unbestritten ist – auf
den Schutz menschlichen Lebens verpflichtet. Diese
Schutzpflicht ist nicht vorrangig und nicht ausschließlich
mit dem Mittel des Strafrechts zu erfüllen. Vor allem an-
deren müssen wir mehr tun, um den Menschen die Angst
vor unerträglichen Schmerzen und vor einem qualvollen
Tod zu nehmen. Dazu gehört, die Palliativmedizin und
die Hospizbewegung zu stärken und deren Angebote als
Alternative zum Suizid bekannt zu machen.
Zum staatlichen Schutzauftrag gehört aber auch, die
Entscheidung, seinem Leben ein Ende zu setzen, von or-
ganisierter Fremdbestimmung und Beeinflussung frei zu
halten. Sollte hier eine evidente und eklatante Schutzlü-
cke bestehen, ist diese zu schließen.
Was sagt nun der Regierungsentwurf hierzu? Wir le-
sen: „Diese Kommerzialisierung“ – der Sterbehilfe –
„stellt eine qualitative Änderung in der Praxis der Ster-
behilfe dar. Sie lässt befürchten, dass die Hilfe zum Sui-
zid als eine normale Dienstleistung angesehen wird und
sich Menschen zur Selbsttötung verleiten lassen, die dies
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012 25959
(A) (C)
(D)(B)
ohne ein solches Angebot nicht tun würden.“ Der Ent-
wurf schlägt deshalb vor, „die gewerbsmäßige Förde-
rung der Selbsttötung unter Strafe zu stellen“.
Die Förderung von Suiziden – insbesondere dadurch,
dass Menschen, die noch gar nicht zur Beendigung ihres
Lebens entschlossen sind, die über Schmerzlinderung
am Lebensende, über die Angebote der Hospize, über
die Abfassung entsprechender Patientenverfügungen
nicht aufgeklärt sind, verleitet werden, Suizid zu bege-
hen – kann das Rechtsgut Leben in einer Art und Weise
verletzen, dass an einen strafrechtlichen Schutz gegen
solche Verletzungen zu denken wäre.
Untersuchungen, die darüber Aufschluss geben könn-
ten, ob es wirklich Tendenzen zu einer so verstandenen
Kommerzialisierung des Suizids gibt, bleiben im Ge-
setzentwurf unerwähnt. Ja, noch schlimmer, wir müssen
lesen, dass die Bundesregierung solche Untersuchungen
gar nicht kennt.
Wenn man aber die Aussagen im Gesetzentwurf zur
Grundlage neuen Strafrechts machen will, dann muss
gerade das Element der Fremdbestimmung, das Verlei-
ten zur Selbsttötung, auch im Straftatbestand als das ent-
scheidende Merkmal der Straftat auftauchen. Nicht die
Verschaffung der Gelegenheit zum Suizid an sich, nicht
die Erstattung von Kosten, die dabei entstehen, nicht die
Entlohnung der bei der Suizidhilfe eingesetzte Arbeits-
zeit und Energie, ja nicht einmal die Motivation an sich,
sich damit eine Einnahmequelle zu verschaffen, ist straf-
würdig, sondern – wenn überhaupt – im Kern die Verlei-
tung noch unentschlossener oder mangelhaft informier-
ter Menschen zur Selbsttötung und die dadurch bewirkte
Förderung des Suizids.
Die Thematik der Strafbarkeit bestimmter Formen der
Beihilfe zum Suizid ist eine ernsthafte und überaus
schwierige. Ich bitte die Koalition mit Nachdruck, hier
mit Gründlichkeit vor Schnelligkeit vorzugehen. Es gibt
keinen Grund zur Hast und Oberflächlichkeit. Der vor-
liegende Entwurf muss gründlich nach dem sogenannten
Struck’schen Gesetz bearbeitet werden. Er darf den Bun-
destag nicht in der Form und nicht mit der Begründung
verlassen, wie er in den Bundestag eingebracht worden
ist.
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundes-
ministerin der Justiz: Ein breiter gesellschaftlicher
Konsens über Umfang und Inhalt einer Regulierung zur
in ethischer, moralischer und juristischer Hinsicht äu-
ßerst komplexen Frage der Suizidhilfe wird sich kaum
erreichen lassen.
Einerseits wird die Forderung nach generellen
Verbotsregelungen erhoben, andererseits sehen viele
Menschen ihr Selbstbestimmungsrecht nur dann ge-
wahrt, wenn sie auch die uneingeschränkte Möglichkeit
haben, Hilfe zur Selbsttötung in Anspruch zu nehmen.
Verzweifelte Betroffene in großer seelischer oder kör-
perlicher Not benötigen vor allem menschliche Zuwen-
dung und eine medizinische Versorgung, die eine lebens-
bejahende Einstellung erleichtert und die ihnen bei
Schmerzen die bestmögliche palliativmedizinische
Behandlung zukommen lässt.
Leider können aber weder Unterstützung noch mo-
derne Palliativmedizin alle Schmerzen lindern; auch
weiterhin werden Menschen die Entscheidung zur Been-
digung ihres Lebens treffen. Wir müssen uns als Gesetz-
geber deshalb immer wieder fragen, welche rechtlichen
Rahmenbedingungen wir in diesem sensiblen und
schwierigen Bereich vorgeben wollen.
Ausgangspunkt ist die grundsätzliche Straffreiheit der
Suizidhilfe im deutschen Recht, da auch die Selbsttötung
bekanntlich nicht strafbar ist. Es geht in der derzeitigen
Diskussion also allein um die Frage, inwieweit Suizid-
hilfe erstmals unter Strafe gestellt werden soll. Der Ent-
wurf der Bundesregierung sieht dies nun für die Fälle
vor, in denen Suizidhilfe gewerbsmäßig angeboten wird.
Dort, wo sie kommerzialisiert wird, und wo sie sich zu
einer Art „normaler Dienstleistung“ entwickeln kann,
bestünde nämlich die Gefahr, dass sich vielleicht noch
unentschlossene Menschen zum Suizid verleiten lassen
oder dass bei den Suizidhelfern die Gewinnerzielung ei-
gentliches Motiv des Handelns wird.
Die Gewerbsmäßigkeit ist ein klares rechtliches
Abgrenzungskriterium. Einer Kriminalisierung jeder or-
ganisierten, konkret von Vereinen gewährten Suizidhilfe
stünden dagegen auch verfassungsrechtliche Bedenken
entgegen. Aufgrund der in Art. 9 GG garantierten Verei-
nigungsfreiheit kann dem Verein nämlich grundsätzlich
nicht verboten werden, was dem Einzelnen gestattet ist.
Ähnlich schwer ließe sich für die sogenannte ge-
schäftsmäßige – also für die lediglich auf Wiederholung
angelegte und ohne Gewinnabsicht durchgeführte –
Suizidhilfe begründen, weshalb ein an sich erlaubtes
Verhalten allein dadurch strafbar sein sollte, dass es wie-
derholt wird.
Nach dem Entwurf der Bundesregierung soll die
Suizidhilfe deshalb nur dann unter Strafe gestellt wer-
den, wenn sie gewerbsmäßig, also aus kommerziellen
Gründen angeboten wird.
Dort, wo Suizidhilfe in einer emotional schwierigen
Konfliktsituation im Familienkreis und aus rein altruisti-
schen Gründen gewährt wird, soll dagegen bewusst nicht
gesetzlich eingegriffen werden; in diesen intimen
zwischenmenschlichen Beziehungen muss sich der Staat
auch zukünftig zurückzuhalten. Der Gesetzentwurf stellt
daher sicher, dass Angehörige und etwa langjährige und
sehr enge Freunde von der Strafbarkeit ausgenommen
werden, wenn sie an der Tat des Suizidhelfers lediglich
teilnehmen, ohne selbst gewerbsmäßig zu handeln. Dies
wird also weiterhin straffrei bleiben – wie es das Straf-
gesetzbuch ja bereits jetzt vorsieht. Es geht dabei über-
haupt nicht – auch das möchte ich noch einmal betonen
– um den Beruf, den die Angehörigen oder engen
Freunde ausüben.
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung trifft eine
maßvolle Wertentscheidung in dem sehr sensiblen
Bereich der Sterbehilfe.
25960 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012
(A) (C)
(D)(B)
Anlage 13
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Zweiten Ge-
setzes zur Änderung des Einführungsgesetzes
zum Strafgesetzbuch (Zusatztagesordnungs-
punkt 9)
Ansgar Heveling (CDU/CSU): Das Recht der
Sicherungsverwahrung beschäftigt seit Ende der 1990er-
Jahre fortwährend den Gesetzgeber und die Rechtspre-
chung. Das ist einerseits aus der Interessenlage der
Betroffenen nachzuvollziehen, die, was ihr gutes Recht
ist, jedwedes Rechtsmittel und sämtliche Instanzen nut-
zen bis hin zu Bundesverfassungsgericht und Europäi-
schem Gerichtshof für Menschenrechte. Andererseits ist
es aus dem Blickwinkel des Gesetzgebers zur Dauerauf-
gabe geworden, die Entscheidungen der Rechtsprechung
im Hinblick auf den durch den Gesetzgeber wahrzuneh-
menden Schutzauftrag gegenüber der Bevölkerung in
entsprechende gesetzliche Regelungen zu übersetzen.
Mit dem Therapie- und Unterbringungsgesetz, ThUG,
hat die christlich-liberale Koalition zusammen mit der
SPD-Fraktion eine gesetzliche Lösung für eine große
Zahl von Fällen geschaffen, bei denen aufgrund der
Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte vom Dezember 2009, rechtskräftig ge-
worden im Mai 2010, sowie nachfolgend des Bundes-
verfassungsgerichts im Mai 2011 eine Unterbringung
nicht mehr auf der Grundlage des Rechts der Siche-
rungsverwahrung erfolgen konnte. Außerdem ist der
Deutsche Bundestag vor wenigen Wochen erst durch die
Neuregelung des Rechts der Sicherungsverwahrung im
Hinblick auf die Beachtung des Abstandsgebotes dem
Auftrag des Bundesverfassungsgerichts aus seiner Ent-
scheidung von Mai 2011 nachgekommen.
Wir nehmen den Schutzauftrag gegenüber der Bevöl-
kerung ernst und haben die entsprechenden gesetzlichen
Regelungen zügig auf den Weg gebracht. Aufgrund der
zeitlichen Lücke zwischen der Entscheidung des Euro-
päischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Dezember
2009, dass die Sicherungsverwahrung vom Verbot der
Rückwirkung nach Art. 7 der Europäischen Konvention
zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten,
EMRK, erfasst sei, und der Entscheidung des Bundes-
verfassungsgerichts im Mai 2011, dass trotz des Rück-
wirkungsgebots in einigen Fällen besonders hochgradi-
ger Gefährlichkeit eine Freiheitsentziehung weiterhin
möglich sei, ist es allerdings in wenigen Einzelfällen
möglich, dass eine Regelungslücke besteht.
Es geht hierbei um Fälle, in denen ein Antrag auf An-
ordnung einer solchen Sicherungsverwahrung vor dem
4. Mai 2011 ausschließlich deshalb abgelehnt wurde,
weil das zuständige Revisionsgericht dies aufgrund der
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte, EGMR, namentlich aufgrund der am
10. Mai 2010 bestandskräftig gewordenen Entscheidung
des EGMR vom 17. Dezember 2009 – Nr. 19359/04 –,
wegen Verstoßes gegen das Rückwirkungsverbot von
Art. 7 der Europäischen Konvention zum Schutz der
Menschenrechte und Grundfreiheiten, EMRK, für zwin-
gend ansah, unabhängig von sonstigen Kriterien wie
insbesondere dem Grad der Gefährlichkeit des Täters,
vergleiche namentlich BGH, Beschluss vom 12. Mai
2010, 4 StR 577/09.
Diese Konstellation konnte dadurch entstehen, dass
bis zum obengenannten Urteil des Bundesverfassungs-
gerichts vom 4. Mai 2011 noch nicht abschließend
geklärt war, ob die Vorgaben der EMRK und der
Rechtsprechung des EGMR den nationalen Gerichten
von vornherein jede rückwirkend verschärfende Rechts-
anwendung im Recht der Sicherungsverwahrung aus-
schlossen oder dies – unter erhöhten Voraussetzungen –
doch noch möglich war.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Änderung
des Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch, EGStGB,
soll diese Lücke nun rasch geschlossen werden, um
keine Schutzlücke entstehen zu lassen. So bedauerlich es
einerseits ist, dass dies nun in einem eigenen Gesetz-
gebungsverfahren geschehen muss und eine Regelung
nicht schon mit dem vor einigen Wochen verabschiede-
ten Gesetz zur Neuregelung der Sicherungsverwahrung
erfolgte, so wichtig ist es andererseits, dass wir dieses
Gesetzgebungsverfahren nun zügig durchführen. Hier
gilt mein Dank allen Fraktionen, die sich konstruktiv in
das Verfahren einbringen.
Abschließend möchte ich, da dies in der vorbereiten-
den Diskussion bereits Erwähnung gefunden hat, darauf
hinweisen, dass eine Regelung der nachträglichen Siche-
rungsverwahrung die mit dem vorliegenden Gesetz-
entwurf zu erfassenden Fälle nicht umfasst hätte. Ohne
Frage: Wir hätten uns im Gesetzgebungsverfahren zur
Neuordnung der Sicherungsverwahrung als CDU/CSU-
Fraktion auch für die Zukunft die Möglichkeit der nach-
träglichen Sicherungsverwahrung gewünscht. Dies ist
nach wie vor nicht geregelt. Die Fälle, die Grundlage
dieses heute beratenen Gesetzentwurfs sind, wären aber
– ich betone dies noch einmal – von der nachträglichen
Sicherungsverwahrung nicht erfasst. Lassen Sie uns nun
aber mit dem vorliegenden Gesetz die entstandene
Lücke schnell schließen.
Norbert Geis (CDU/CSU): Der vorliegende Gesetz-
entwurf hat seinen Grund vor allem darin, dass der
EGMR und das Bundesverfassungsgericht das Recht der
Sicherungsverwahrung für verfassungs- und konven-
tionswidrig erklärt haben. Genauer gesagt, hat der EGMR
die Sicherungsverwahrung, SV, als Strafe qualifiziert,
für die auch das Rückwirkungsverbot Anwendung fin-
det.
Die SV war zunächst auf zehn Jahre begrenzt. Diese
zeitliche Begrenzung der SV wurde jedoch später aufge-
hoben. Bis zu dem Urteil des EGMR war es möglich,
dass ein Gericht auf entsprechenden Antrag hin die zu-
nächst auf zehn Jahre befristete SV eines gefährlichen
Täters nachträglich aufheben und verlängern konnte. Da
diese Regelung vor dem EGMR keinen Bestand hatte,
war die Folge, dass alle Täter, deren SV über die Zehn-
jahresfrist hinaus verlängert worden war, nun freigelas-
sen werden mussten.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012 25961
(A) (C)
(D)(B)
Dann hat der Bundestag mit dem Gesetz zur Thera-
pierung und Unterbringung psychisch gestörter Gewalt-
täter eine neue gesetzliche Regelung geschaffen, um sol-
che Täter dann doch noch in Therapieunterbringung
halten zu können.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil
vom 4. Mai 2011 festgestellt, dass die SV keine Strafe
ist. Die nachträgliche SV bleibt also zulässig, wenn
durch Freilassung des Täters von einer konkreten hoch-
gradigen Gefährdung der Öffentlichkeit durch schwerste
Gewalt oder Sexualverbrechen auszugehen ist und wenn
bei dem Täter eine psychische Störung im Sinne des
ThUG vorliegt. Im Juli 2012 stellte aber der BGH fest,
dass das ThUG nach dem derzeitigen Wortlaut nicht auf
Personen anwendbar ist, die nur vorläufig gemäß § 275 a
StPO, alte Fassung, nicht aber endgültig in der nachträg-
lichen SV untergebracht sind. Für diese Fälle, so der
BGH, war keine Unterbringung nach dem ThUG mög-
lich. Deshalb kam der Wunsch aus dem Bundesrat, diese
Sicherheitslücke zu schließen.
Der Deutsche Bundestag hat am 8. November 2012
das Gesetz zur bundesrechtlichen Umsetzung des Ab-
standsgebotes im Recht der SV beschlossen. Allerdings
wurde der Wunsch der Länder, durch eine Erweiterung
des ThUG die Sicherheitslücke zu schließen, nicht er-
füllt. Die Regierung war der Auffassung, dass dies nicht
notwendig sei. Dagegen hat sich der Bundesrat gewehrt.
Er wollte veranlassen, dass der Vermittlungsausschuss
angerufen wird. Deshalb gab die Bundesregierung eine
Protokollerklärung ab, in der sie zusichert, dass diese
oben bezeichnete besondere Problematik im Rahmen ei-
ner Übergangsregelung zu lösen sei. Dazu, so heißt es in
der Protokollerklärung, werde die Bundesregierung dem
Deutschen Bundestag eine Ergänzung von Art. 316 e
EGStGB vorschlagen.
Die Koalition hat diesen Gedanken, der in der Proto-
kollerklärung zum Ausdruck gekommen ist, aufgenom-
men und hat nunmehr das vorliegende Gesetz ausgear-
beitet und vorgelegt, um damit die erwähnte
Sicherheitslücke zu schließen.
Mit der vorgesehenen Übergangsregelung im
EGStGB wird also der Anwendungsbereich des Thera-
pieunterbringungsgesetzes, ThUG, nachträglich ergänzt.
Das ThUG soll zukünftig auch für die besonderen Fälle
anwendbar sein, in denen der Täter zwar noch nicht oder
nur vorläufig in der SV untergebracht ist, gegen den aber
bereits im ersten Rechtszug die SV angeordnet worden
war. In einem solchen speziellen Fall hatte der BGH mit
Urteil vom Mai 2010 auf die Revision hin das erstinstanz-
liche Urteil aufgehoben, weil die Norm, auf die die An-
ordnung gestützt worden war (§ 66 Abs. 3 StGB, alte
Fassung), zum Tatzeitpunkt noch nicht in Kraft war.
Deshalb, so der BGH, konnte die Anordnung nicht
rechtskräftig erfolgen. Der BGH stützte sich dabei auf
die Entscheidung des EGMR vom 17. Dezember 2009.
Allerdings lag zum Zeitpunkt des Urteils des BGH noch
nicht das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom
4. Mai 2011 vor, das die nachträgliche SV für zulässig
erklärt, wenn eine konkrete, hochgradige Gefahr
schwerster Gewalt- oder Sexualverbrechen besteht und
wenn bei dem Täter eine psychische Störung im Sinne
des ThUG vorliegt. Folglich wäre das damalige Urteil
des BGH nicht ergangen, wenn zum Zeitpunkt der Ent-
scheidung das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes
schon vorgelegen hätte.
Die Rechtskraft der Entscheidung über die Ableh-
nung der Anordnung der SV ist also deshalb entstanden,
weil die Grundsätze des Urteils des Verfassungsgerichtes
vom 4. Mai 2011 noch nicht vorlagen und daher nicht
berücksichtigt werden konnten. Daraus geht nämlich
hervor, dass trotz des Rückwirkungsverbotes eine An-
ordnung der nachträglichen SV unter bestimmten Um-
ständen eben doch erfolgen kann.
Der BGH führt nun in seinem Urteil vom Juli 2012
aus, dass das ThUG nach seinem derzeitigen Wortlaut
nicht auf Personen anwendbar ist, die nur vorläufig ge-
mäß § 275 a StPO, alte Fassung, und nicht endgültig in
der nachträglichen SV untergebracht waren.
Der Gesetzentwurf will nun diese Lücke schließen.
Die Regelung sieht vor, dass § 1 ThUG auch dann an-
wendbar ist, wenn der Betroffene noch nicht rechtskräf-
tig in der SV untergebracht war, gegen ihn aber bereits
SV im ersten Rechtszug angeordnet worden war, eine
Revisionsentscheidung vor dem 4. Mai 2011 (Entschei-
dung des BVerfG) ergangen ist, in dieser Revisionsent-
scheidung festgestellt wurde, dass die nachträgliche SV
allein wegen eines Verbotes der rückwirkenden Ver-
schärfung im Recht die SV nicht rechtswirksam ange-
ordnet werden konnte, sodass es auf die Gefährlichkeit
des Täters gar nicht mehr ankam.
Dieser Gesetzentwurf der Koalition schließt eine
zwar kleine, aber sehr wohl existierende Regelungslücke
im Anwendungsbereich des ThUG, die ein hohes Risiko
darstellt. Die Entscheidung des Bundesgerichtshofes
vom 12. Juli 2012 hat gezeigt, dass aufgrund der zeitli-
chen Abfolge zwischen dem Inkrafttreten des ThUG am
1. Januar 2011 und der Entscheidung des Bundesverfas-
sungsgerichtes vom 4. Mai 2011 sowie den vorhergegan-
genen Urteilen des EGMR in den Jahren 2009 und 2010
ein „anwendungsfreier Bereich“ für hochgefährliche
Straftäter entstanden ist.
Diese Gesetzeslücke wird durch den vorliegenden
Gesetzentwurf geschlossen. Ein Gericht kann nun die
Unterbringung von solchen hochgradig gefährlichen
Personen, die aufgrund dieser Gesetzeslücke trotz ihres
hohen Rückfallrisikos hätten freigelassen werden müs-
sen, in einer geeigneten geschlossenen Einrichtung an-
ordnen. Die Anordnung setzt voraus, dass der Täter ge-
mäß § 1 Abs. 1 ThUG an einer psychischen Störung
leidet. Zudem muss eine Gesamtwürdigung der Persön-
lichkeit, des Vorlebens und der Lebensverhältnisse des
Täters ergeben, dass infolge der psychischen Störung mit
hoher Wahrscheinlichkeit das Leben, die körperliche
Unversehrtheit, die persönliche Freiheit oder die se-
xuelle Selbstbestimmung einer anderen Person erheblich
beeinträchtigt werden könnte. Ebenfalls muss die Unter-
bringung in der SV aus den zuvor genannten Gründen
zum Schutz der Allgemeinheit notwendig sein.
25962 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012
(A) (C)
(D)(B)
Burkhard Lischka (SPD): Steter Tropfen höhlt den
Stein. Zumindest im Bereich der Sicherungsverwahrung
sind unsere mahnenden Rufe gehört worden – wenn
auch nur teilweise und in letzter Minute. Seit der Ent-
scheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Siche-
rungsverwahrung vom Mai 2011 haben sowohl die SPD-
Bundestagsfraktion als auch die Länder immer wieder
auf die Notwendigkeit einer möglichen nachträglichen
Therapieunterbringung gefährlicher Gewalt- und Sexual-
straftäter hingewiesen. Die Anhörung des Rechtsaus-
schusses hat unsere Forderung eindrücklich bestätigt.
Die von den Sachverständigen zur Illustrierung genann-
ten Beispiele aus der gerichtlichen Praxis gingen wahr-
lich unter die Haut.
Die Bundesjustizministerin hat sich jedoch aus nicht
nachvollziehbaren Gründen bis zuletzt gesträubt, die
nachträgliche Therapieunterbringung zu ermöglichen.
Und die Union? Sie hat sich zähneknirschend wider bes-
seres Wissen der Koalitionsdisziplin gebeugt.
Mulmig wurde der Koalition, als kurz vor dem längst
überfälligen Abschluss der parlamentarischen Beratun-
gen des Regierungsentwurfs ein BGH-Beschluss publik
wurde, nach dem ein hochgefährlicher Sexualstraftäter
im Saarland hätte entlassen werden müssen, da der Ge-
setzesvorschlag keine Handhabe zu seiner Unterbrin-
gung bietet. Aber auch hier endete das Koalitionsgezerre
wie in den vielen Monaten zuvor: Es wurde viel debat-
tiert, aber ohne Ergebnis.
Erst im Bundesrat ist die Bundesregierung dem Druck
der Länder gewichen und hat per Protokollerklärung
eine teilweise Nachbesserung zugesichert. Anstatt diese
jedoch mit offenem Visier zu präsentieren, versteckte die
Koalition die Änderung zunächst verschämt als Anhang
im Bilanzrechtsänderungsgesetz. Zu peinlich war ihr
wohl das Eingeständnis, bereits wenige Wochen nach
Verabschiedung ihres Gesetzes zur Neuregelung der Si-
cherungsverwahrung die ersten Nachbesserungen vor-
nehmen zu müssen.
Aber jetzt ist die – hoffentlich – letzte Schleife ge-
dreht; die Koalition hat die Nachbesserung in Form eines
eigenen Gesetzentwurfs präsentiert. Wir begrüßen dies
im Ergebnis, da diese Regelung ein Mehr an Schutz be-
wirkt. Es bleibt die Frage: Warum nicht gleich so? Und
es bleibt die Forderung nach Ermöglichung einer nach-
träglichen Therapieunterbringung, denn diese ist mit
dem Änderungsantrag noch nicht realisiert. Die Bundes-
justizministerin tut dies lapidar mit der Bemerkung „Die
Wirkung der nachträglichen Therapieunterbringung wird
überschätzt“ ab. Wir können nur hoffen, dass ihr dieser
Kommentar nicht noch um die Ohren fliegt.
Christian Ahrendt (FDP): Der Gesetzentwurf dient
der Umsetzung einer Protokollerklärung, die im Zuge
des Abschlusses der Reform der Sicherungsverwahrung
vor dem Bundesrat abzugeben war. Die Länder befürch-
teten aufgrund eines Einzelfalls aus dem Saarland das
Bestehen einer Schutzlücke. Mit diesem Gesetz soll dem
Anliegen der Länder nun Rechnung getragen werden,
auch wenn davon auszugehen ist, dass es derzeit tatsäch-
lich keine weiteren Anwendungsfälle für die vorgeschla-
gene Änderung gibt.
Im Saarland gibt es den einzigen Fall, in dem die vor-
geschlagene Änderung des Therapieunterbringungsge-
setzes, ThUG, virulent wurde. Dieser Einzelfall beruht
auf dem Umstand, dass der Bundesgerichtshof, BGH, im
Mai 2010 unmittelbar nach der Rechtskraft der Entschei-
dung des Europäischen Gerichtshofs für Menschen-
rechte, EGMR, vom Dezember 2009 eine Anordnung
der nachträglichen Sicherungsverwahrung abgelehnt
hatte. Kernpunkt der Entscheidung des EGMR war, dass
rückwirkende gesetzliche Verschärfungen der Siche-
rungsverwahrung nicht zulässig waren. Folglich könnte
dies grundsätzlich zur Entlassung von Untergebrachten
führen. Erst am 4. Mai 2011 hat das Bundesverfassungs-
gericht in seinem Urteil schließlich entschieden, die An-
ordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung mit
entsprechenden Maßnahmen doch zuzulassen. Bis dahin
war noch nicht abschließend geklärt, ob die Vorgaben
der EMRK und der Rechtsprechung des EGMR den na-
tionalen Gerichten von vorneherein jede rückwirkend
verschärfende Rechtsanwendung im Recht der Siche-
rungsverwahrung ausschlossen oder dies unter erhöhten
Voraussetzungen noch möglich war.
Vom Anwendungsbereich des Therapieunterbringungs-
gesetzes sind daher ebenfalls solche in diesen Zeitraum
fallende Fälle nicht erfasst, in denen gegen einen hoch-
gradig gefährlichen Betroffenen zwar noch keine Siche-
rungsverwahrung vollstreckt wurde, diese aber bereits in
erster Instanz angeordnet und in der Revisionsinstanz we-
gen der Entscheidung des Europäischen Gerichtshof für
Menschenrechte, EGMR, aufgehoben wurde. Denn nach
§ 1 Abs. 1 ThUG kann die Therapieunterbringung nur ge-
gen Betroffene angeordnet werden, die sich in Siche-
rungsverwahrung befinden oder bereits befunden haben.
Für diese sehr beschränkte Fallkonstellation soll im
Wege einer Übergangsregelung der Anwendungsbereich
des Therapieunterbringungsgesetzes insofern durch ei-
nen neuen Abs. 4 in Art. 316 e des Einführungsgesetzes
zum Strafgesetzbuch, EGStGB, erweitert werden.
Halina Wawzyniak (DIE LINKE): Wir erleben ge-
rade ein Kuriosum. Eine Rede zu Protokoll, ohne dass
zum Zeitpunkt des Schreibens dieser Rede der zu bere-
dende Gesetzentwurf überhaupt eine Drucksachennum-
mer hat bzw. vorliegt. Was ist passiert? Der Bundesrat
hat in der vergangenen Woche das Gesetz zur Regelung
des Abstandsgebotes im Recht der Sicherungsverwah-
rung beschlossen. Die Linke lehnt dieses Gesetz ab, hat
aber erfreut zur Kenntnis genommen, dass CDU und
SPD sich mit ihrer Forderung nach Einführung der nach-
träglichen Therapieunterbringung nicht durchsetzen
konnten.
Dem Rechtsausschuss am Mittwoch dieser Woche lag
nun ein Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen zum
MicroBilG vor, mit welchem das Einführungsgesetz
zum Strafgesetzbuch geändert werden sollte. In diesem
Antrag – Ausschussdrucksache 17(6)219 – hieß es: „§ 1
des Therapieunterbringungsgesetzes vom 22. Dezember
2010 (BGBl. I S. 2300, 2305) ist unter den dortigen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012 25963
(A) (C)
(D)(B)
sonstigen Voraussetzungen auch dann anzuwenden,
wenn der Betroffene noch nicht in Sicherungsverwah-
rung untergebracht, gegen ihn aber bereits Sicherungs-
verwahrung im ersten Rechtszug angeordnet war und
aufgrund einer vor dem 4. Mai 2011 ergangenen Revi-
sionsentscheidung festgestellt wurde, dass die Siche-
rungsverwahrung ausschließlich deshalb nicht rechts-
kräftig angeordnet werden konnte, weil ein zu
berücksichtigendes Verbot rückwirkender Verschärfun-
gen im Recht der Sicherungsverwahrung dem entgegen-
stand, ohne dass es dabei auf den Grad der Gefährlich-
keit des Betroffenen für die Allgemeinheit angekommen
wäre.“
Es wird sofort deutlich, dass diese Änderung nichts
mit dem eigentlichen Gesetz, um das es im Ausschuss
ging, zu tun hat. Die Linke hatte deshalb angekündigt,
im Rechtsausschuss eine Abstimmung darüber herbeizu-
führen, ob der nach § 62 Abs. 1 Satz 2 Geschäftsord-
nung notwendige unmittelbare Sachzusammenhang ge-
geben ist. Die Koalitionsfraktionen haben daraufhin
diesen Änderungsantrag zurückgezogen. Das ist die ein-
zig richtige Entscheidung gewesen, auch wenn so die
Welt nie erfahren wird, worin der angeblich unmittelbare
Zusammenhang zum MicroBilG besteht, und wir heute
über einen Gesetzentwurf reden, der zum Zeitpunkt der
Erstellung der Rede noch nicht vorliegt.
Es steht zu vermuten, dass die noch unbekannte
Drucksache, über die wir reden, dem Änderungsantrag
im Rechtsausschuss entspricht. Mit der – zumindest im
Rechtsausschuss vorgelegten – Änderung an § 1 Thera-
pieunterbringungsgesetz wird der Anwendungsbereich
des Therapieunterbringungsgesetzes erweitert und so die
rückwirkende Verschärfung im Recht der Sicherungs-
verwahrung perpetuiert. Mit diesem Gesetzentwurf soll
ein Mensch, gegen den die Sicherungsverwahrung
erstinstanzlich angeordnet wurde, bei dem die ent-
sprechende Entscheidung aber nicht rechtskräftig gewor-
den ist und der sich deshalb derzeit nicht in Sicherungs-
verwahrung befindet, nunmehr nach dem
Therapieunterbringungsgesetz in einer „geeigneten ge-
schlossenen Einrichtung“ untergebracht werden.
Dies lehnen wir als Umgehung des Urteils des Euro-
päischen Gerichtshofs für Menschenrechte aus dem
Dezember 2009 ab. Die richtige Konsequenz aus dem
Urteil, die nachträgliche Sicherungsverwahrung, unab-
hängig von einer neuen Betitelung als Therapieunter-
bringung, für Alt- und Neufälle abzuschaffen, wird so
umgangen. Wir halten das Therapieunterbringungs-
gesetz außerdem für verfassungswidrig. Es versieht
menschenrechtlich problematisch bisher nicht als psy-
chisch krank befundene Menschen nun mit dem unbe-
stimmten Begriff „psychisch gestört“, und zwar allein
mit dem Ziel, sie weiterhin der Freiheit berauben zu kön-
nen. Neben dieser unzulässigen Umetikettierung ergeben
sich kompetenzrechtliche Bedenken. Diese Änderung
wird von uns daher abgelehnt.
Es kommt aber noch ein weiteres Problem hinzu. Im
Rechtsausschuss wurde den Abgeordneten erklärt, dass
die Regelung notwendig sei, weil im Bundesrat – ver-
gleiche Protokoll der Bundesratssitzung vom 17. De-
zember 2010, Seite 538 – eine Erklärung des Saarlandes
zu Protokoll gegeben wurde. Darin heißt es: „… geht das
Saarland bezüglich des Anwendungsbereiches des § 1
des Gesetzes zur Therapierung und Unterbringung psy-
chisch gestörter Gewalttäter davon aus, dass die Fälle
noch fortdauernder oder bereits beendeter Freiheitsent-
ziehung der verurteilten Personen in Vollzug eines
Unterbringungsbefehls gemäß § 275 a der Strafprozess-
ordnung vom Anwendungsbereich mit umfasst sind.“ Da
dies – wie auch bereits der Bundesgerichtshof feststellte
– nicht der Fall zu sein scheint, wurde wohl die vorlie-
gende neue Regelung verfasst. Im Rechtsausschuss
wurde ausdrücklich erwähnt, dass die angedachte Geset-
zesänderung einen derzeit bekannten Fall betreffe.
Mithin würde nach derzeitigem Kenntnisstand der
Bundesregierung die Gesetzesänderung konkret bei ei-
ner Person zur Anwendung kommen. Angesichts dessen
liegt dieser Vorschlag trotz abstrakt-genereller Formulie-
rung ziemlich nah an einem unzulässigen Einzelfall-
gesetz.
Die Linke hat bereits das Therapieunterbringungs-
gesetz abgelehnt; einer Verschlechterung eines schlech-
ten Gesetzes können wir unmöglich zustimmen. Das Ge-
setzgebungsverfahren ist darüber hinaus intransparent,
sodass auch aus demokratietheoretischen Gründen eine
Zustimmung unmöglich ist.
Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mit
dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Änderung des
Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch soll wieder
einmal eine angebliche Lücke im Recht der Sicherungs-
verwahrung geschlossen werden. Gleichzeitig erfüllt die
Bundesregierung damit eine Zusage gegenüber dem
Bundesrat. Der Wunsch der Länder Hamburg und
Bayern, der Bundesrat möge in der Beratung über das
Gesetz zur Reform der Ausgestaltung der Sicherungs-
verwahrung den Vermittlungsausschuss anrufen, fand im
Bundesrat keine Mehrheit – vielleicht auch, weil die
Bundesregierung sich zu der Vorlage verpflichtete, über
die wir heute zu diskutieren haben.
Wir Grüne haben die Reform des Rechts der Siche-
rungsverwahrung, obwohl die von uns eingebrachten ge-
wichtigen Änderungsanträge von der Koalition leider
abgelehnt worden sind, im Grundsatz befürwortet. Denn
mit der Reform werden wichtige Urteile des Europäi-
schen Gerichtshofs für Menschenrechte und des Bundes-
verfassungsgerichts umgesetzt. So wird die nachträgli-
che Sicherungsverwahrung – wenigstens für zukünftige
Fälle – abgeschafft, und für den Vollzug gelten endlich
die menschenrechtlich notwendigen Vorgaben. Auch wir
wollen, dass die Gesetzgebung endlich zu einem
Abschluss kommt und die Länder auf gesicherter Grund-
lage an die Ausgestaltung des Vollzugs der Sicherungs-
verwahrung gehen können. Aus diesem Grund stellen
wir uns nicht gegen die Erfüllung des im Bundesrat ge-
gebenen Versprechens durch die Bundesregierung.
Andererseits sind wir in der Sache entschieden ande-
rer Auffassung. Wir haben schon bei der Reform im
Jahre 2010 dafür geworben, mit dem Grundsatz des
Rückwirkungsverbots Ernst zu machen, und, aus der
25964 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012
(A) (C)
(D)(B)
Sicht der Betroffenen, Verschlechterungen der Rechts-
lage nur und ausschließlich für die Zukunft wirken zu
lassen. Das galt und gilt sowohl für den Wegfall der
Zehnjahresfrist, für den Wegfall von Vergünstigungen
für Verurteilte in der früheren DDR als auch für diejeni-
gen, die von den Verschärfungen des Rechts der Siche-
rungsverwahrung bei Begehung von Sexualdelikten be-
troffen waren. Die gegenteilige Auffassung, die sich bis
in die heutige Vorlage zur Änderung des Einführungs-
gesetzes zum Strafgesetzbuch durchzieht, glaubt, jede
auftauchende angebliche Schutzlücke durch Nachbesse-
rungen und Sonderregelungen schließen zu müssen. Wer
dieser Logik erliegt, für den gibt es auf der Rutschbahn
vom Rechtsstaat zum präventiven Sicherheits- und
Überwachungsstaat kein Halten. Das Recht der Siche-
rungsverwahrung kodifiziert Grenzen, jenseits derer eine
Sicherungsverwahrung nicht infrage kommt, egal wie
gefährlich der jeweilige Rechtsbrecher auch sein mag.
Ein Mindestmaß an Rechtsstaatlichkeit und Streben nach
absoluter Sicherheit vertragen sich nicht. Die andau-
ernde Ausweitung der Sicherungsverwahrung in den
Jahren ab Anfang 1998, an der alle Regierungen beteiligt
waren und die gerade in den Reihen der Union besonders
laut und aggressiv gefordert wurde, hat dazu geführt,
dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte
Deutschland Nachhilfe in Rechtsstaatlichkeit und der
Beachtung von Menschenrechten erteilen musste.
Auch das ThUG, das Therapieunterbringungsgesetz,
ist ein solcher Ausdruck fortwährenden Schutz-
lückenschließens. Jeder noch so kleine Türspalt, den die
Urteile des Bundesverfassungsgerichts öffnen, wird ge-
nutzt, um die Sicherungsverwahrung auszuweiten. Das
Gericht hat das ThUG bisher noch nicht an den Normen
des Grundgesetzes geprüft – 2 BvR 2365/09, Anmer-
kung 173! Wenn nicht das Bundesverfassungsgericht,
dann wird der schon mehrfach erwähnte Europäische
Gerichtshof für Menschenrechte dem ThUG vielleicht
den Garaus machen. Die für das ThUG zentrale neue
Begrifflichkeit einer psychischen Störung wird von den
meisten psychiatrischen Praktikern wie Sachverständi-
gen als eine völlig amorphe und untaugliche Kategorie
menschlicher Persönlichkeitsstrukturen bezeichnet, die
lediglich dazu dient, mit ihrer Hilfe zukünftig angeblich
hochgefährliche Straftäter zu identifizieren. In einem
Antrag der SPD hierzu wird mehr als 50 Prozent der
heutigen Gefängnispopulation in Deutschland als „psy-
chisch gestört“ bezeichnet.
Das Bundesverfassungsgericht hat es zwar nicht für
schlichtweg verfassungswidrig angesehen, mit dem Be-
griff der „psychischen Störung“ im Rahmen von kurzen
Übergangsregelungen zu arbeiten, aber muss der Gesetz-
geber zu jedem Mittel greifen, das gerade so dem Ver-
dikt der Verfassungswidrigkeit entkommen ist?
Da wir Grünen schon seit Jahren die Abschaffung des
ThUG fordern, können wir der jetzt vorgelegten weite-
ren – wenn auch kleinen und in sich folgerichtigen –
Ausweitung des ThUG nicht zustimmen. Weil wir aber
der Gesamtreform des Rechts der Sicherungsverwah-
rung nicht im Wege stehen wollen, werden wir uns in der
Abstimmung enthalten.
211. Sitzung
Inhaltsverzeichnis
ZP 2 Energiewirtschaftsrecht – Offshore-Stromerzeugung
TOP 4, ZP 3 Asylbewerberleistungsrecht
TOP 51, ZP 4 Überweisungen im vereinfachten Verfahren
TOP 52, ZP 5 Abschließende Beratungen ohne Aussprache
TOP 5 Wahl zum Beirat der Stiftung Datenschutz
ZP 6 Aktuelle Stunde zu Gutscheinen für Haushaltshilfen
TOP 3 Raumentwicklungspolitik
TOP 7 Wasser- und Schifffahrtsverwaltung
TOP 6 Patientenrechte
TOP 9, ZP 7 Verteilung der Kosten der Energiewende
TOP 8 Umsetzung EuGH-Urteil -freier Kapitalverkehr-
TOP 11 UN-Klimakonferenz in Doha
TOP 10 Bundeswehreinsatz (Operation Active Endeavour)
TOP 13, ZP 8 Weltgesundheitspolitik
TOP 12 Reduzierung von Schienenverkehrslärm
TOP 24 Kapitalgesellschaften mit kommunaler Beteiligung
TOP 14 EU-Charta der Regional- und Minderheitensprachen
TOP 17 Umsetzung der Energiewende im Gebäudebestand
TOP 16 Statut des Internationalen Strafgerichtshofes
TOP 18 Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens
TOP 20 Deutschland im UN-Sicherheitsrat
TOP 19 Urheberrecht (Presseerzeugnisse im Internet)
TOP 22 Forschung zum Thema Rechtsextremismus
TOP 21 Fortentwicklung des Städtebaurechts
TOP 32 Kennzeichnungspflicht für Bundespolizei
ZP 9 Therapieunterbringung
TOP 26 Steuertransparenz bei multinationalen Unternehmen
TOP 25 Agrarmarktrechtliche Bestimmungen
TOP 28 Leid der „Trostfrauen“
TOP 29 Urheberrecht (Nutzung für Unterrichtszwecke)
TOP 30 Schiffsunfallvorsorge am Fehmarnbelt
TOP 31 Kleinstkapitalgesellschaften-Bilanzrecht
TOP 41 Bedingungen für Promovierende
TOP 33 Kindertagesbetreuung
TOP 34 Freiwilligendienst „Weltwärts“
TOP 35 Ökologische Baustoffe
TOP 36 Schutz der Afrikanischen Elefanten
TOP 37 Arbeitsbedingungen von Hausangestellten
TOP 38 Barrierefreies Filmangebot
TOP 39 Taubblindheit
TOP 40 Gewerbsmäßige Förderung der Selbsttötung
TOP 44 Sportförderung
TOP 43 Israelisch-palästinensischer Konflikt
Anlagen