Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012 25907
        (A) (C)
        (D)(B)
        Anlagen zum Stenografischen Bericht
        Anlage 1
        Liste der entschuldigten Abgeordneten
        * für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver-
        sammlung der NATO
        Anlage 2
        Erklärung nach § 31 GO
        des Abgeordneten Frank Heinrich (CDU/CSU)
        zur namentlichen Abstimmung über den
        Entwurf eines Gesetzes zur Aufhebung des
        Asylbewerberleistungsgesetzes (Tagesordnungs-
        punkt 4 b)
        Asylbewerber in Deutschland müssen rechtlich besser
        gestellt werden. Das Asylbewerberleistungsgesetz in sei-
        ner jetzigen Form wird weder der Lebenswirklichkeit
        von Flüchtlingen gerecht, wovon ich mir persönlich ein
        Bild bei Begegnungen mit Asylbewerbern machen
        konnte, noch den grundlegenden rechtlichen Rahmenbe-
        dingungen in der Bundesrepublik, wie das Urteil des
        BVG zeigt und die Expertenberichte bestätigen.
        Deshalb bedarf es einer gründlichen und bedarfs-
        gerechten Überarbeitung des Asylbewerberleistungsge-
        setzes bzw. einer grundlegenden gesetzlichen Neurege-
        lung. Hier stimme ich in der Sache dem Anliegen der
        Anträge zu. Die geforderte Sicherung des menschenwür-
        digen Existenzminimums wurde durch Bundesministerin
        von der Leyen ausdrücklich begrüßt und wird bereits
        umgesetzt. Eine gesetzliche Neuregelung ist im BMI
        sowie im BMSFJ in Arbeit. Die hier zu beschließenden
        Vorschläge einer bloßen Abschaffung des Gesetzes
        dagegen greifen für eine umfassende Gesetzgebung zu
        kurz.
        Zum Antrag in TOP 4 d der Fraktion der Linken noch
        eine grundsätzliche Bemerkung: Das Prinzip der Rechts-
        staatlichkeit lässt eine Gesetzgebung aus aktueller und
        situativer Betroffenheit nicht zu. Ich begrüße die
        erwähnte Demonstration der Asylbewerber und unter-
        stütze das Anliegen, die Residenzpflicht zu überdenken.
        Dies muss aber einem politischen Konzept folgen und
        
        Abgeordnete(r)
        entschuldigt bis
        einschließlich
        Brinkmann
        (Hildesheim),
        Bernhard
        SPD 29.11.2012
        Bulmahn, Edelgard SPD 29.11.2012
        Canel, Sylvia FDP 29.11.2012
        Deligöz, Ekin BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        29.11.2012
        Fischer (Göttingen),
        Hartwig
        CDU/CSU 29.11.2012
        Frankenhauser, Herbert CDU/CSU 29.11.2012
        Hardt, Jürgen CDU/CSU 29.11.2012*
        Dr. Hein, Rosemarie DIE LINKE 29.11.2012
        Heinen-Esser, Ursula CDU/CSU 29.11.2012
        Hirte, Christian CDU/CSU 29.11.2012*
        Humme, Christel SPD 29.11.2012
        Kuhn, Fritz BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        29.11.2012
        Dr. Lauterbach, Karl SPD 29.11.2012
        Mast, Katja SPD 29.11.2012
        Maurer, Ulrich DIE LINKE 29.11.2012
        Meierhofer, Horst FDP 29.11.2012
        Menzner, Dorothée DIE LINKE 29.11.2012
        Nink, Manfred SPD 29.11.2012
        Pieper, Cornelia FDP 29.11.2012
        Ploetz, Yvonne DIE LINKE 29.11.2012
        Rachel, Thomas CDU/CSU 29.11.2012
        Dr. Ratjen-Damerau,
        Christiane
        FDP 29.11.2012
        Schlecht, Michael DIE LINKE 29.11.2012
        Schuster, Marina FDP 29.11.2012
        Dr. Schwanholz, Martin SPD 29.11.2012
        Simmling, Werner FDP 29.11.2012
        Dr. Wadephul, Johann CDU/CSU 29.11.2012
        Wellenreuther, Ingo CDU/CSU 29.11.2012
        Zypries, Brigitte SPD 29.11.2012
        
        Abgeordnete(r)
        entschuldigt bis
        einschließlich
        Anlagen
        25908 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012
        (A) (C)
        (D)(B)
        die rechtlichen Auswirkungen nach allen Seiten berück-
        sichtigen. Ein spontaner Impuls reicht für ein belastbares
        Gesetzgebungsverfahren nicht aus – und genau deswe-
        gen werden die Gesetze in den zuständigen Ministerien
        zur Zeit überarbeitet.
        Persönlich werde ich mich dafür einsetzen, dass Er-
        gebnisse zeitnah und konkret vorgelegt werden.
        Anlage 3
        Erklärung nach § 31 GO
        des Abgeordneten Wolfgang Gehrcke (DIE
        LINKE) zur Abstimmung über den Antrag auf
        Genehmigung zur Durchführung eines Straf-
        verfahrens (Zusatztagesordnungspunkt 5 b)
        Ich habe den Anträgen auf Genehmigung der Durch-
        führung von Strafverfahren gegen meine Kolleginnen
        und Kollegen Sevim Dağdelen, Inge Höger, Jan van
        Aken und Dr. Diether Dehm nicht zugestimmt.
        Dazu will ich erklären:
        Erstens. Die Immunität von Abgeordneten gehört
        ebenso wie die freie und geheime Wahl, das Rede- und
        Stimmrecht und der Schutz der Person zu den elementa-
        ren Parlamentsrechten. Die Immunität aufzuheben, sie
        besteht konkret und grundsätzlich, bedarf es aus meiner
        Sicht drastischer Vorhaltungen. Die Genannten haben
        jedoch von ihren Bürgerrechten Gebrauch gemacht. Ihre
        Zivilcourage verdient Schutz und Anerkennung, nicht
        Verfolgung. Wer die Rechte von Parlamentariern ein-
        schränkt, schränkt das Parlament ein und damit die
        Volkssouveränität. Deshalb habe ich den Anträgen nicht
        zugestimmt.
        Zweitens. Art und Weise wie Form und Inhalt von
        Protesten und Demonstrationen unterliegen einem be-
        ständigen Wandel, so wie auch die Gesellschaft sich
        wandelt. Gleichermaßen bleibt das Prinzip der Gewalt-
        losigkeit. Denken Sie zum Beispiel an das Mittel der
        Blockade. Diese Protestform ist mit den Blockaden in
        Mutlangen aufgekommen und danach an vielen anderen
        Orten angewandt worden. Heute ist auch diese Protest-
        form gesellschaftlich weitgehend akzeptiert, und Verfol-
        gungen wurden eingestellt bzw. gar nicht erst eingeleitet.
        Unrühmliche Ausnahme ist allerdings die Verfolgung
        der Naziblockierer und Naziblockiererinnen von Dres-
        den durch die sächsische Staatsanwaltschaft. Auch das
        „Schottern“ findet weit mehr gesellschaftliche Akzep-
        tanz, als den Behörden dieses Landes lieb ist. Weder die
        konkrete, öffentliche Aktion noch die öffentlich geäu-
        ßerte Sympathie darf aus meiner Sicht verfolgt werden.
        Deshalb habe ich den vorliegenden Anträgen nicht zuge-
        stimmt.
        Drittens. Auch die Provokation, die Überzeichnung
        von Zuständen, ist ein zulässiges Mittel des Protestes,
        der Politik und Kunst. Ohne die Provokation gäbe es
        heute zum Beispiel keine gesellschaftliche Mehrheit für
        eine Energiewende. Da ich für den Ausstieg aus der
        Kernenergie bin, kann ich einer Verfolgung von Atom-
        kraftgegnerinnen und -gegnern nicht zustimmen.
        Anlage 4
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
        Umsetzung des EuGH-Urteils vom 20. Oktober
        2011 in der Rechtssache C-284/09 (Tagesord-
        nungspunkt 8)
        Dr. h. c. Hans Michelbach (CDU/CSU): Mit der
        derzeitigen Behandlung von Streubesitzdividenden ver-
        stößt das deutsche Steuerrecht gegen europäische Recht-
        sprechung. Es handelt sich um eine Benachteiligung von
        ausländischen Kapitalgesellschaften mit Sitz im EU/
        EWR-Raum.
        Bisher wird eine Abgeltungsteuer auf Dividendenzah-
        lungen an ausländische Unternehmen bei einer Beteili-
        gung von unter 10 Prozent erhoben. Dabei wird eine Ka-
        pitalertragsteuer von 25 Prozent, bei Vorhandensein
        eines Doppelbesteuerungsabkommens von 15 Prozent,
        einbehalten.
        Auch bei inländischen Unternehmen wird die Kapi-
        talertragsteuer erhoben; sie wird jedoch mit der Körper-
        schaftsteuer verrechnet. So wird eine Mehrfachbesteue-
        rung vermieden. Bei ausländischen Unternehmen hat der
        Kapitalertragsteuereinbehalt hingegen grundsätzlich ab-
        geltende Wirkung.
        Der EuGH hat eine Korrektur dieser ungleichen Be-
        handlung von inländischen und ausländischen Kapital-
        gesellschaften gefordert. Dieser Forderung tragen wir
        nun Rechnung. Die Ungleichheit muss beseitigt werden.
        Das gehört zur Steuergleichheit und Steuergerechtigkeit.
        Hierfür hat die Koalition einen Gesetzentwurf vorge-
        legt, der von einer großen Mehrheit der Sachverständi-
        gen begrüßt wurde, weil er eine korrekte, förderliche und
        gerechte Lösung präsentiert.
        Das Grundanliegen des Gesetzentwurfs ist es, die Be-
        stimmungen zur Erstattung der Kapitalertragsteuer an
        die Vorgaben des EuGH anzupassen. Wir erreichen die
        Gleichstellung von ausländischen und inländischen Ka-
        pitalgesellschaften dadurch, dass wir die ausländischen
        mit der bestehenden Freistellung der inländischen
        gleichstellen. So beseitigen wir den europarechtswidri-
        gen Zustand auch rückwirkend.
        Es ist richtig, dass dies erstens Steuermindereinahmen
        bedeutet und zweitens eine rückwirkende Erstattung
        deutscher Kapitalertragsteuer an ausländische Kapitalge-
        sellschaften mit Sitz im EU/EWR-Raum stattfindet. Der
        Steuergesetzgeber kann sich nicht von willkürlichen
        Steuermehreinnahmewünschen leiten lassen. Steuerpoli-
        tik benötigt auch die Akzeptanz der Wirtschaft.
        Natürlich ist die im Gesetzentwurf vorgesehene Er-
        stattungsregelung – wie bereits bei unseren österreichi-
        schen Nachbarn – an klare Bedingungen geknüpft: Die
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012 25909
        (A) (C)
        (D)(B)
        Erstattung auf Antrag kommt nur dann infrage, wenn die
        ausländische Kapitalgesellschaft nachweist, dass die
        deutsche Kapitalertragsteuer im Ausland weder ange-
        rechnet noch als Betriebsausgabe abgezogen worden ist.
        Es wird keine doppelte Entlastung geben.
        Wir setzen die Vorgabe des Europäischen Gerichts-
        hofs zugunsten der Steuerpflichtigen um, ohne dass
        deutschen Unternehmen zusätzliche Steuerlasten aufer-
        legt würden – im Gegensatz zu Teilen der Opposition,
        die neue Belastungen durch Steuererhöhungen durchset-
        zen will. Rot-Grün will die Gleichstellung dadurch
        schaffen, dass die inländische Steuerbefreiung aufgeho-
        ben wird. Sie müssen doch einsehen, dass deutsche Un-
        ternehmen bei dieser Variante erheblich belastet würden!
        Gerade junge Unternehmen in der Gründungsphase,
        Kleinanleger und vor allem auch Versicherungen wären
        betroffen. Junge Unternehmen wie Start-ups sind auf
        mehrere Investoren angewiesen. Wenn wir den Streube-
        sitz besteuern, dann wird diese Finanzierung erschwert.
        Der Vorschlag des Bundesrates würde dem Wirt-
        schaftsstandort Deutschland erheblichen Schaden zufü-
        gen. Die Steuerpflicht für Streubesitzdividenden würde
        zu einer systemwidrigen Mehrfachbesteuerung desselben
        Gewinns und damit zu drastischen Steuererhöhungen
        führen. Wird der Gewinn über mehrere Beteiligungsstu-
        fen ausgeschüttet, entsteht hierdurch ein Kaskadeneffekt.
        Das bedeutet, dass mit jeder Ebene, über die ein Gewinn
        innerhalb eines Unternehmens weitergereicht wird, auch
        die Besteuerungsstufen kulminieren. Bereits bei einer
        weiteren Tochterebene und damit zwei Ebenen würde die
        Steuerbelastung bei 64 Prozent anstatt bei der Normal-
        steuerlast von 49,5 Prozent liegen.
        Massiv und ungerechtfertigt getroffen durch den Kas-
        kadeneffekt wären insbesondere die Verbundstrukturen
        der Sparkassen sowie der Volks- und Raiffeisenbanken –
        aufgrund der dezentralen Struktur werden Regional- und
        Spitzeninstitute, Dienstleister und andere Verbundunter-
        nehmen von einer Vielzahl kleinerer Institute „getragen“,
        die somit zwangsläufig nur Minderheitsbeteiligungen
        halten –, Venture-Capital- und Private-Equity-Finanzie-
        rungen, der deutsche Aktienmarkt – denn es steht zu be-
        fürchten, dass sich private und institutionelle Anleger aus
        Renditegründen in erheblichem Umfang zurückziehen
        könnten; ich denke hier auch an mögliche panische Betei-
        ligungsverkäufe –, die betriebliche Altersvorsorge, da
        Pensionsverpflichtungen großer Arbeitgeber auch mit
        Streubesitzbeteiligungen unterlegt sind. Angesichts der
        gerade in der letzten Zeit geführten Debatte über eine aus-
        reichende Alterssicherung frage ich mich, wie die Bun-
        desländer ernsthaft über eine Aufhebung der Steuerbe-
        freiung von Streubesitzdividenden nachdenken können.
        Die Einführung einer Schedulenbesteuerung, wie sie
        vom Bundesrat vorgeschlagen worden ist, würde die Un-
        ternehmensbesteuerung erheblich verkomplizieren, was
        im Widerspruch zum Koalitionsvertrag steht. Würde der
        Vorschlag der Bundesländermehrheit umgesetzt, könnten
        sich Unternehmen entschließen, ihre Hauptniederlassung
        aus Deutschland hinaus zu verlegen. So würden dem
        deutschen Haushalt zukünftige Steuereinnahmen entge-
        hen.
        Die Diskriminierung von ausländischen Kapitalge-
        sellschaften wollen Teile der Opposition also dadurch
        beseitigen, dass zum einen deutsche Unternehmen er-
        heblichen Steuermehrbelastungen ausgesetzt werden
        und zum anderen der Wirtschaftstandort Deutschland
        seine Attraktivität einbüßt. Diese falsche Politik der
        Steuererhöhung lehnen wir entschieden ab.
        Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf gelingt es uns,
        einen fiskalisch vertretbaren Weg einzuschlagen. So
        werden wir den Vorgaben des Europäischen Gerichts-
        hofs gerecht, ohne deutschen Unternehmen zusätzliche,
        sachlich nicht gerechtfertigte Lasten aufzubürden. Es ist
        der richtige Weg, um Investitionen und Unternehmen
        nicht aus unserem Land zu vertreiben, sondern sie hier
        zu halten. Dieser Grundsatz unserer Steuerpolitik dient
        dem Wachstum und den Arbeitsplätzen in Deutschland.
        Dr. Mathias Middelberg (CDU/CSU): Mit dem von
        den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten
        Gesetzentwurf setzen wir Vorgaben aus dem EuGH-
        Urteil vom 20. Oktober 2011 in der Rechtssache C-284/09
        um.
        Der vom EuGH beanstandete unionsrechtswidrige
        Zustand wird, auch mit Wirkung für die Vergangenheit,
        beseitigt. Die von dem EuGH-Urteil betroffenen auslän-
        dischen EU-Körperschaften werden von der Kapitaler-
        tragsteuer bei Vorliegen der Voraussetzungen entlastet.
        Die Vorgaben des EuGH werden punktgenau umgesetzt.
        Eine Erstattung erfolgt allerdings nur, soweit nachgewie-
        sen wird, dass die deutsche Kapitalertragsteuer im
        Ausland weder angerechnet noch als Betriebsausgabe
        abgezogen worden ist oder zukünftig steuerlich berück-
        sichtigt werden kann.
        Durch die Umsetzung der Formulierungshilfe dürfte
        es in den Kassenjahren 2013 und 2014 zu einer Erstat-
        tung von Kapitalertragsteuer in einer Größenordnung
        von rund 1,5 Milliarden Euro kommen. Darin sind die Er-
        stattungen für die Altfälle enthalten. In den darauffol-
        genden Jahren wird das Volumen der jährlichen Erstattun-
        gen auf eine Größenordnung von bis zu 650 Millionen
        Euro pro anno geschätzt. Die Erstattungen belasten zur
        Hälfte den Bundeshaushalt.
        Die Steuerfreiheit von konzerninternen Dividenden
        ist keine Begünstigung von Unternehmen, sondern eine
        rein technische Umsetzung des Teileinkünfteverfahrens.
        Dieses Teileinkünfteverfahren ist mit der Unternehmen-
        steuerreform 2008 von der Großen Koalition eingeführt
        worden. Danach soll die Besteuerung von Kapitalgesell-
        schaftsgewinnen in einem ersten Schritt bei der Kapital-
        gesellschaft und in einem zweiten Schritt als Dividende
        erst bei Ausschüttung an den privaten Gesellschafter er-
        folgen.
        In Beteiligungsketten sollte sichergestellt sein, dass es
        bei einer Körperschaftsteuer- und Gewerbesteuerbelas-
        tung von zusammen 30 Prozent so lange bleibt, bis der
        Gewinn die Ebene der Körperschaft verlässt und an eine
        natürliche Person ausgeschüttet wird. Wenn Sie dieses
        System der Steuerfreiheit konzerninterner Dividenden
        aufmachen, würde das zu einer systemwidrigen Überbe-
        25910 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012
        (A) (C)
        (D)(B)
        steuerung führen, da Gewinne bereits vor Ausschüttung
        an den Gesellschafter auf der Ebene der Kapitalgesell-
        schaft mehrfach besteuert würden.
        Bei Ausschüttungen über mehrere Konzernebenen
        kann es dabei zu erheblichen Kaskadeneffekten kom-
        men. Bisher liegt die Gesamtbelastung bei 49,5 Prozent
        Steuern – 30 Prozent auf Ebene der Körperschaft und
        29,5 Prozent auf der Ebene privater Gesellschafter –
        25 Prozent Abgeltungsteuer plus 5,5 Prozent Soli. Bei
        dem Vorschlag des Bundesrates würden die Ausschüt-
        tungen konzernintern auf jeder Mutter-Tochter-Stufe im-
        mer wieder besteuert. Bei zwei Konzernebenen wären
        wir bei 64 Prozent Gesamtbelastung, bei drei Ebenen bei
        76 Prozent und bei vier Ebenen bei 83 Prozent. Das Bun-
        desratsmodell würde deshalb eine Welle von gesell-
        schaftsrechtlichen Umstrukturierungen auslösen.
        Die Anhörung hat gezeigt, dass vor allem im Bereich
        der Fondsbesteuerung die entstehenden Nachteile ver-
        heerend wären: Insbesondere in der betrieblichen Al-
        tersvorsorge würden die zusätzlichen Belastungen die
        Kapitalerträge mindern und zwangsläufig zu einer Ab-
        senkung der betrieblichen Versorgungsleistungen führen.
        Von deutschen Unternehmen gegebene Pensionszusa-
        gen werden häufig mittels Wertpapieranlagen gedeckt.
        Diese Wertpapieranlagen bestehen dabei typischerweise
        auch aus Aktien. Aufgrund der vorgebenden und ange-
        strebten Risikostreuung werden regelmäßig nur Streube-
        sitzbeteiligungen gehalten. Diese langfristige und risiko-
        diversifizierte Aktienanlage steigert die Rendite des zur
        Deckung der Pensionszusagen dienenden Wertpapier-
        portfolios.
        Aufgrund der definitiven Vorbelastung wären zudem
        Fondsanlagen steuerbefreiter institutioneller Anleger
        – Kirchen, Stiftungen, steuerbefreite Pensions- und Un-
        terstützungskassen – generell benachteiligt.
        Der negative Anreiz von Minderheitsbeteiligungen
        unterhalb von 10 Prozent würde auch Start-ups in beson-
        derer Weise treffen. Oft werden in diesen Bereichen zur
        Festigung der Unternehmensbeziehungen, aber auch zur
        Stärkung des Eigenkapitals Beteiligungen von unter
        10 Prozent eingegangen. Eine Steuerpflicht der Erträge
        aus diesen Beteiligungen würde ein solches Engagement
        deutlich unattraktiver machen. Dadurch würden erfolg-
        reiche Start-ups in ihren Investitionen ausgebremst.
        Um die vom EuGH konstatierte Europarechtswidrig-
        keit des derzeitigen Steuerrechts zu bereinigen, muss
        zwar die Ungleichbehandlung zwischen einem ausländi-
        schen und einem inländischen Anteilseigner beseitigt
        werden. Dies darf aber nicht dadurch geschehen, dass
        die Inländerbesteuerung verschlechtert wird. Stattdessen
        muss Deutschland die Besteuerungssituation ausländi-
        scher Anteilseigner verbessern. Dies kann zum Beispiel
        dadurch geschehen, dass Deutschland die Kapitalertrag-
        steuer erstattet, die die ausschüttende deutsche Gesell-
        schaft an das Finanzamt abgeführt hat. In Österreich ist
        dieses Modell bereits Gesetz. So sollten wir es jetzt hier
        bei uns installieren.
        Unternehmensteuerrecht steht zunehmend im interna-
        tionalen Wettbewerb. Wir haben im Moment ein gutes,
        wettbewerbsfähiges Steuerrecht. Diesen Standortvorteil
        sollten wir nicht gefährden – nicht im Interesse von
        Unternehmen oder irgendwelchen Managern, sondern
        im Interesse der Arbeitsplätze und der Steuereinnahmen,
        die wir damit sichern. Das Steuermodell des Bundesrates
        würde dem Standort Deutschland massiv schaden. Zahl-
        reiche Unternehmen würden ihren Konzernsitz ins euro-
        päische Nachbarland verlegen. Solche Sitzverlegungen
        sind heute schnell gemacht. Massive Steuerausfälle
        wären die Folge. Dann hätten wir wirkliche Steueraus-
        fälle, die wir vermeiden, wenn wir den Entwurf dieser
        Koalition umsetzen. Deshalb sollten wir diesem Gesetz-
        entwurf zustimmen!
        Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): Wir beraten
        heute in abschließender Lesung den Gesetzentwurf der
        Koalitionsfraktionen zur Neuregelung der Besteuerung
        von Dividendenausschüttungen auf Unternehmens-
        anteile, die sich in Streubesitz befinden. Ich hätte mir ge-
        wünscht, dass wir die Beratungen zu diesem Gesetz
        heute noch nicht abschließen, da nach unserer Einschät-
        zung und der Meinung vieler Sachverständiger wichtige
        Fragen nicht geklärt sind. Die Koalitionsfraktionen ha-
        ben eine gute Gelegenheit vergeben, im Dialog mit den
        anderen Fraktionen und den Bundesländern zu einer Lö-
        sung zu kommen, die sowohl den Vorgaben der Ent-
        scheidung des Europäischen Gerichtshofs gerecht wird,
        als auch den fiskalischen Interessen von Bund und Län-
        dern dient.
        Da die Sachlage nicht ganz einfach ist, will ich einige
        einleitende Bemerkungen zur Erläuterung vorausschicken.
        Die Besteuerung von Streubesitzdividenden muss im
        Zusammenhang mit dem Körperschaftsteuersystem be-
        trachtet werden. Seit dem europarechtlich gebotenen
        Systemwechsel mit der Aufgabe des Vollanrechnungs-
        verfahrens sind in- und ausländische Beteiligungserträge
        bei Körperschaften steuerfrei. Diese Befreiung erfolgt,
        da die Steuerbelastung auf der Ebene der Körperschaften
        endgültig verbleibt und nicht mehr mit der Steuerschuld
        des Anteilseigner verrechnet wird. Ohne diese Befreiung
        würde es bei Unternehmensverbünden zu einer Mehr-
        fachbesteuerung kommen, wenn ein Gewinn über meh-
        rere Stufen von einer Konzerngesellschaft zu einer anderen
        Konzerngesellschaft ausgeschüttet wird. Wir sprechen
        vom Kaskadeneffekt, der die komplette Dividende bei
        wiederholtem Kapitalertragsteuerabzug auf die soge-
        nannte Schachteldividende schnell aufzehren würde.
        Hier sind also Verschonungen in großem Umfang – mit
        guter Begründung – vorgesehen.
        Die europäische Mutter-Tochter-Richtlinie schreibt
        vor, dass Schachteldividenden, die infolge einer strategi-
        schen Beteiligung einer Kapitalgesellschaft an einer an-
        deren erzielt werden, vom Steuerabzug ausgenommen
        werden müssen. Außerhalb von Konzernverbünden ist
        eine solche Steuerbefreiung hingegen nicht gerechtfer-
        tigt. Folgerichtig ist bei sogenannten Streubesitzdividen-
        den, die durch eine Beteiligung von unter 10 Prozent ge-
        kennzeichnet sind und deshalb in Konzernstrukturen
        keine Bedeutung haben, eine Besteuerung zulässig. Die
        „Lücke“ zwischen Streubesitzbetrachtung und Schach-
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012 25911
        (A) (C)
        (D)(B)
        telbeteiligung entsteht leider infolge der EU-Regelungen
        in der Mutter-Tochter-Richtlinie – damit ist uns eine an-
        dere Definition von Streubesitz oberhalb der 10 Prozent
        nicht möglich.
        Anlass für den vorliegenden Gesetzentwurf ist die
        Beanstandung der in Deutschland bislang geltenden Be-
        steuerung von Streubesitzdividenden durch den Europäi-
        schen Gerichtshof. Der Kapitalertragsteuerabzug wird
        unabhängig von der empfangenden Körperschaft durch-
        geführt. Inländische Körperschaften können die einbe-
        haltene Kapitalertragsteuer im Rahmen der Körper-
        schaftsteuerveranlagung in voller Höhe anrechnen. Bei
        ausländischen Körperschaften ohne inländische Be-
        triebsstätte hat der Kapitalertragsteuerabzug hingegen
        grundsätzlich definitive Wirkung.
        Der Europäische Gerichtshof hat in seinem Urteil
        vom 20. Oktober 2011 entschieden, dass die Abgel-
        tungswirkung der Kapitalertragsteuer bei ausländischen
        Körperschaften eine nicht zu rechtfertigende Diskrimi-
        nierung und einen Verstoß gegen die Kapitalverkehrs-
        freiheit darstellt. Auch die mögliche Anrechnung der
        Kapitalertragsteuer im Empfängerland ist nach Ansicht
        des Gerichts nicht ausreichend, um die Diskriminierung
        zu heilen. Da bei Schachteldividenden an EU-Körper-
        schaften nach der Mutter-Tochter-Richtlinie kein Kapi-
        talertragsteuerabzug erfolgt, sind von der Problematik
        im Ergebnis nur Streubesitzdividenden betroffen. Bezo-
        gen auf die unterschiedliche Behandlung von inländi-
        schen und ausländischen Wagniskapitalbeteiligungsge-
        sellschaften hat der Europäische Gerichtshof, EuGH,
        entschieden, dass hier künftig eine Gleichbehandlung
        bei der Steuerbelastung der Dividenden erfolgen muss.
        Der EuGH lässt dabei allerdings die unterschiedliche
        Behandlung der Gewerbesteuer unberücksichtigt.
        Derzeit werden zwei Wege diskutiert, wie die unzu-
        lässige Diskriminierung beseitigt werden kann:
        Erstens. Die CDU/CSU-FDP-Koalition schlägt in ih-
        rer Gesetzesinitiative eine Steuerbefreiung auch für aus-
        ländische Streubesitzdividenden vor.
        Zweitens. Dagegen spreche ich mich – in Überein-
        stimmung mit dem Bundesrat – aus Gründen der Steuer-
        gerechtigkeit und auch aus fiskalischen Erwägungen für
        die Aufhebung der Steuerbefreiung für inländische
        Streubesitzdividenden aus. Einer solchen Besteuerung
        steht das Problem der Mehrfachbesteuerung in Konzern-
        verbünden nicht entgegen, denn Schachteldividenden,
        das heißt Beteiligungen oberhalb der 10-Prozent-
        Schwelle, bleiben weiterhin steuerfrei. Sie entspricht
        vielmehr dem Grundsatz der Besteuerung nach der wirt-
        schaftlichen Leistungsfähigkeit. Außerdem würde eine
        Steuerbefreiung ausländischer Streubesitzdividenden zu
        hohen jährlichen Steuerausfällen führen.
        Diese Gründe haben auch andere Länder zu einer Be-
        steuerung von Streubesitzdividenden bewogen. Dies ist
        zum Beispiel in Belgien, Frankreich, den Niederlanden,
        Polen, aber auch in den USA der Fall. Die Steuerfreiheit
        von Streubesitzdividenden finden wir hingegen in Eng-
        land, Estland, Österreich oder Ungarn.
        Mit neuen Belastungen müssen bei diesem zweiten
        Vorschlag zur Beseitigung der Steuerbefreiung inlän-
        discher Dividendenbezieher vor allem Wagnisbeteili-
        gungsgesellschaften rechnen. Dies gilt wohlgemerkt nur
        dann, wenn sie nicht schon – wie in vielen Fällen
        üblich – eine Beteiligung von über 10 Prozent halten
        oder sie über diese Grenze anheben können. Bei Wagnis-
        beteiligungsgesellschaften allerdings, die geringere Be-
        teiligungen halten, sind im Ergebnis höhere Steuern zu
        erwarten. Für diese Fälle müssen wir überlegen, welche
        Möglichkeiten es gibt, die wichtige Gründerszene – ins-
        besondere in der Internetwirtschaft – zu unterstützen. Ich
        komme auf die Auswirkungen auf die Gründerszene spä-
        ter noch einmal genauer zurück.
        Statt nach einer europarechtskonformen Lösung für
        Deutschland zu suchen, die den deutschen Fiskus nicht
        belastet – und wir reden über eine Belastung von mehr
        als einer halben Milliarde Euro –, haben die Koalitions-
        fraktionen bzw. die Bundesregierung eilfertig einen Vor-
        schlag vorgelegt, der darauf hinausläuft, die ausländischen
        Wagnisbeteiligungen von der Dividendenbesteuerung
        freizustellen. Unter Verzicht auf mehr als eine halbe Mil-
        liarde Steuereinnahmen wird hier also eine scheinbare
        Gleichbehandlung von ausländischen und inländischen
        Wagniskapitalbeteiligungsgesellschaften hergestellt –
        und dies nur, weil der EuGH die gewerbesteuerliche
        Vorbelastung außer Acht lässt.
        Hier wäre es Aufgabe der Regierung und der Koali-
        tionsfraktionen von CDU/CSU und FDP gewesen, intel-
        ligente Lösungen zu suchen, die auf die besonderen Ver-
        hältnisse in Deutschland Rücksicht nehmen. Dabei geht
        es nicht nur um die Besonderheiten rund um die Grün-
        derszene, sondern auch um die Probleme, die sich im
        Zusammenhang mit kreditwirtschaftlichen Verbund-
        gruppen ergeben.
        Zunächst zu den kreditwirtschaftlichen Verbundgrup-
        pen: Wollen wir den enormen Steuerausfall von über ei-
        ner halben Milliarde Euro vermeiden, ist der Vorschlag
        des Bundesrats, die inländischen Wagniskapitalbeteili-
        gungsgesellschaften ebenso zu besteuern wie die auslän-
        dischen, ein sehr guter Vorschlag. Das hätte allerdings
        zur Folge, dass die damit zusammenhängenden Streube-
        sitzdividendenregelungen zu einer Doppelbesteuerung
        bisher im Verbund erzielter Gewinne führen würden. So-
        mit wären kreditwirtschaftliche Verbundsysteme – ich
        nenne als Beispiel Sparkassen – gegenüber Konzern-
        strukturen benachteiligt. Dies wäre eine Ungerechtig-
        keit, die doch einige Fantasie erfordert, um sie zu ver-
        meiden.
        Es würde sich lohnen, hier einmal nachzuschauen,
        wie andere Länder, die sich ebenfalls an der Entschei-
        dung des EuGH zu orientieren haben, solche Probleme
        lösen. Der Blick nach Frankreich zeigt uns, dass dort
        spezielle Ausnahmeregelungen für kreditwirtschaftliche
        Verbundgruppen helfen, solche Schwierigkeiten aufzu-
        lösen. Dort gibt es etwa Befreiungen für bestimmte
        Strukturen, die die erforderliche Mindestbeteiligungs-
        grenze von 10 Prozent nicht überschreiten. Ich möchte
        als Beispiel die Banken Crédit Agricole, Crédit Mutuel,
        Banque Populaire und Caisse d’Epargne nennen. Mit
        25912 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012
        (A) (C)
        (D)(B)
        diesem europarechtskonformen Ansatz könnten wir die
        besonderen Zusammenhänge in deutschen Verbundgrup-
        pen hinsichtlich Haftungsfragen, auch hinsichtlich von
        Fragen rund um den Werbeauftritt oder die Gemein-
        wohlorientierung, lösen. Auf diesem Weg könnten wir
        auch die Beteiligungen der Sparkassen an ihren Ver-
        bundunternehmen mit Blick auf die Besteuerung von
        Streubesitzdividenden entsprechend berücksichtigen.
        Eine ähnliche Aufgabe besteht im Zusammenhang
        mit der Gründerszene. Bedenken gegen eine Belastung
        von Existenzgründern sind dabei sehr ernst zu nehmen.
        Wollen wir den Industriestandort voranbringen, wollen
        wir die Innovationsdynamik beschleunigen, haben Exis-
        tenzgründer im Umfeld von guter Bildung, guter Arbeit
        und guter Forschung eine sehr wichtige Aufgabe. Mit
        Blick auf die unsicheren Aussichten vieler Banken fehlt
        es sicher an Risikobereitschaft bei der Kreditvergabe an
        Existenzgründer, und wir sind froh, wenn diese Lücke
        von sogenannten Business Angels oder Wagniskapital-
        gesellschaften geschlossen wird. Andererseits sind die
        Business Angels nicht nur Angels; ihr erhöhtes Risiko
        verbinden sie natürlich mit der Erwartung gewisser Er-
        träge, und es stellt sich die Frage, wie wir mit den mög-
        lichen Verlusten und Gewinnen aus diesem Engagement
        umgehen.
        Dabei ist es wesentlich, darauf zu achten, wie diese
        Begriffe definiert werden. Selbst in der Anhörung des
        Finanzausschusses wurde hier nicht sauber zwischen
        Business Angels und Wagniskapitalbeteiligungsgesell-
        schaften getrennt. In der Anhörung mussten wir zeitwei-
        lig den Eindruck haben, als ob auch private Geldgeber
        von dem Thema Streubesitzdividendenbesteuerung be-
        troffen wären. Das ist aber nicht der Fall, denn tatsäch-
        lich geht es hier nur um Beteiligungen zwischen Ge-
        sellschaften und damit um Dividenden, die an
        Körperschaften – Aktiengesellschaft, GmbHs etc. –, je-
        denfalls Unternehmen, ausbezahlt werden.
        Sorgen hinsichtlich der Auswirkungen der Aufhebung
        der Steuerbefreiung inländischer Streubesitzdividenden
        auf die Gründerszene sind somit nur teilweise begründet,
        da die Steuerpflicht nur für Beteiligungserträge von
        Körperschaften und nicht für Privatpersonen gilt. Bei
        Einkommensteuerpflichtigen, die Streubesitzerträge im
        Betriebsvermögen erzielen – Personengesellschaften,
        Einzelunternehmer – und bei Veräußerungen von Anteilen
        im Privatvermögen, die mindestens 1 Prozent betragen,
        gilt das Teileinkünfteverfahren mit einer Steuerpflicht
        von 60 Prozent der Erträge. Soweit die sogenannten
        Business Angels der Einkommensteuerpflicht unterlie-
        gen, sind sie von der Neuregelung nicht betroffen.
        Das Drama besteht darin, dass es weder Bundesregie-
        rung noch Koalitionsfraktionen für nötig befunden ha-
        ben, solche Besonderheiten der Unternehmenslandschaft
        in Deutschland bei gleichzeitiger Rücksichtnahme auf
        unsere fiskalischen Aufgaben – wir arbeiten immerhin
        im Finanzausschuss – zu berücksichtigen.
        Wie lohnend wäre es gewesen, wenigstens die nahe-
        liegendsten Fragen zu klären, bevor man einfach vor-
        schlägt, auf eine halbe Milliarde Euro Steuereinnahmen
        von ausländischen Gesellschaften zu verzichten. Mit
        Blick auf die Prüfung alternativer Lösungen wäre etwa
        die Klärung, ja die Beantwortung folgender Fragen
        wichtig gewesen:
        In welchen EU-Mitgliedstaaten ergibt sich aus dem
        oben genannten Urteil gesetzgeberischer Handlungsbe-
        darf, und welche Schlussfolgerungen werden in anderen
        Ländern gezogen, um die Europarechtskonformität her-
        zustellen?
        Welche EU-Mitgliedstaaten verfügen über steuer-
        rechtliche Regelungen, die den Vorgaben des Europäi-
        schen Gerichtshofs, EuGH, genügen, und wie sind diese
        ausgestaltet?
        Mit Antworten auf solche einfachen Fragen wären
        wir eine guten Schritt weiter.
        Zusammenfassend: Mit Blick auf die hohen Steuer-
        ausfälle lehnen wir Ihren Entwurf zur vollständigen
        Steuerfreistellung aller Dividenden auf Streubesitz ab
        und unterstützen die Vorschläge des Bundesrates zur Be-
        steuerung der Streubesitzdividenden. Mit unserer Ent-
        haltung wollen wir deutlich machen, dass wir mit Blick
        auf die oben beschriebenen Probleme für Beteiligungen
        an Verbundunternehmen und mit Blick auf die Gründer-
        szene nicht davon ausgehen, dass mit der heutigen
        Entscheidung der Regierungskoalitionen ein zukunfts-
        fähiges Besteuerungsmodell für Streubesitzdividenden
        gefunden wurde.
        Dr. Daniel Volk (FDP): Der Gesetzentwurf zur Um-
        setzung des EuGH-Urteils vom 20. Oktober 2011 in der
        Rechtssache C-284/09 klingt zwar nach einem steuer-
        technischen Gesetz, aber von diesem Gesetz sind viele
        Unternehmen und Bürger in Deutschland betroffen.
        Das EuGH-Urteil vom 20. Oktober 2011 stellt die Be-
        nachteiligung ausländischer Kapitalgesellschaften mit
        Streubesitzbeteiligung an einer deutschen Aktiengesell-
        schaft und damit einen Verstoß gegen die Kapitalver-
        kehrsfreiheit fest. Dies betrifft alle Beteiligungen unter
        10 Prozent, also den sogenannten Streubesitz, und damit
        greift die Mutter-Tochter-Richtlinie nicht.
        Bisher wurden 25 Prozent Kapitalertragsteuer plus
        Soli – bzw. 15 Prozent beim Vorliegen eines DBA – auf
        Dividenden an ausländische Unternehmen einbehalten,
        wohingegen bei reinen Inlandssachverhalten die Abgel-
        tungsteuer mit der Körperschaftsteuer verrechnet werden
        konnte.
        Da die ausländischen Unternehmen aufgrund ihrer
        Nichtveranlagung im Inland nicht möglich war, werden
        diese damit schlechtergestellt. Mit dem Gesetz soll die
        steuerliche Ungleichbehandlung von Zahlungen aus
        Streubesitzdividenden beseitigt werden.
        Der vorliegende Gesetzentwurf beseitigt den unions-
        rechtswidrigen Zustand. CDU/CSU und FDP streben mit
        dem vorliegenden Gesetzentwurf die Erstattung der
        Kapitalertragsteuer für ausländische Körperschaften an,
        wenn keine Verrechnung im Anteilseignerstaat möglich
        ist. Damit wird die Steuerfreiheit der inländischen Streu-
        besitzdividenden auch auf Tatbestände mit Auslandsbe-
        zug angewandt. Allerdings orientieren wir uns an dem
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012 25913
        (A) (C)
        (D)(B)
        österreichischen Modell, bei dem eine Steuererstattung
        nur auf Antrag möglich ist, wenn keine Anrechnung der
        Steuer im Ausland zulässig ist.
        Wir verhindern damit eine Steuermehrbelastung für
        deutsche Unternehmen und kommen unserem Verspre-
        chen nach, ohne Steuererhöhung auszukommen. Des
        Weiteren ist die bisherige Regelung der Steuerfreistel-
        lung sinnvoll und hat sich bewährt. Die Besteuerung der
        Streubesitzdividenden ist eine systemwidrige Mehrfach-
        besteuerung desselben Gewinns und führt bei mehreren
        Beteiligungsstufen zu einem Kaskadeneffekt mit einer
        Steuerbelastung in Höhe von 75 Prozent, da sich die
        Steuerlast für denselben Gewinn bei der Verschachte-
        lung mehrerer Unternehmen immer weiter erhöht. Wei-
        terhin käme es zu einer Doppelbesteuerung der ausschüt-
        tenden Gesellschaft und der empfangenden Gesellschaft.
        Dies ist mit vernünftiger Wirtschafts-, Finanz- oder
        Steuerpolitik nicht zu vereinbaren.
        Was will die Opposition? Sie will Beteiligungserträge
        aus Streubesitz, und zwar Dividenden und Veräuße-
        rungsgewinne, auch im Inland steuerpflichtig machen.
        Der Vorschlag geht genau ins Gegenteil und würde vor
        allem die private und betriebliche Altersversorgung
        – Pensionsverpflichtungen sind mit Streubesitzbeteili-
        gungen unterlegt – treffen. Ebenso würde die Finanzie-
        rung von Start-up-Unternehmen – durch Minderheitsbe-
        teiligungen anderer Kapitalgesellschaften – schwieriger,
        und es entsteht eine Benachteiligung von Aktieninvesti-
        tionen gegenüber anderen Unternehmensfinanzierungen.
        Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Der vorliegende Ge-
        setzentwurf behandelt eine schwer verständliche steuer-
        liche Problematik. Es geht um die steuerliche Behand-
        lung von Dividenden zwischen verbundenen Kapital-
        gesellschaften, bei denen die Mutter im Ausland und die
        Tochter im Inland liegt. Die bisherige steuerrechtliche
        Behandlung in diesen Fällen auf deutscher Seite führte
        zu einem Vertragsverletzungsverfahren seitens der EU
        gegen Deutschland und mündete letztlich in einem Urteil
        des Europäischen Gerichtshofes, EuGH, vom 20. Okto-
        ber 2011. Der EuGH kritisierte die unterschiedliche steu-
        erliche Behandlung von inländischen und ausländischen
        Kapitalgesellschaften. Dies verstoße gegen die Kapital-
        verkehrsfreiheit. Daher verlangt der EuGH auch die
        rückwirkende Erstattung für alle noch nicht bestands-
        kräftig veranlagten Fälle.
        Da der EuGH die Niederlassungs- und Kapitalver-
        kehrsfreiheit über alles stellt, bemängelt er selbstver-
        ständlich in seiner Logik zu Recht die Ungleichbehand-
        lung von inländischen und ausländischen Kapitalgesell-
        schaften. Über den volkswirtschaftlichen Sinn und Nut-
        zen solcher Konstruktionen, verschachtelte Beteiligun-
        gen von Unternehmen, lässt sich sicher streiten. Aber
        auch wenn man das so akzeptiert, gäbe es trotzdem drei
        Lösungen.
        Bevor ich aber zu diesen kommen, noch einmal kurz,
        worum es konkret geht:
        Es geht um die steuerliche Behandlung ausgeschütte-
        ter Dividenden. Generell gilt, dass Dividenden, die von
        einer Kapitalgesellschaft an eine andere ausgeschüttet
        werden, auf der Ebene des empfangenden Unternehmens
        zu 95 Prozent von der Körperschaftsteuer befreit sind,
        § 8 b Abs. 1 und 5 KStG. Damit soll letztlich eine Mehr-
        fachbesteuerung durch die Körperschaftsteuer vermie-
        den werden. Jedoch unterliegen diese Dividendenaus-
        schüttungen zwischen Kapitalgesellschaften nach § 43
        Abs. 1 Satz 3 EStG der Kapitalertragsteuer, allgemein nur
        bekannt als Abgeltungsteuer.
        Dies stellt für inländische Kapitalgesellschaften keine
        endgültige Belastung dar, auch nicht für ausländische
        Kapitalgesellschaften, die im Inland über eine Betriebs-
        stätte verfügen. Steuerbelastend wirkt es nur für im Aus-
        land ansässige Kapitalgesellschaften, die über keine in-
        ländische Betriebsstätte verfügen. Beispielsweise wenn
        die empfangene Kapitalgesellschaft außerhalb des EU/
        EWR-Raums ansässig ist oder wenn sie innerhalb der
        EU oder des EWR ansässig ist und ihre Beteiligung an
        der die Dividenden auszahlenden inländischen Tochter
        unter 10 Prozent liegt.
        Nun, welche Lösungsmöglichkeiten gibt es?
        Der erste Lösungsvorschlag ist der der Bundesregie-
        rung, welcher das Problem übrigens lange bekannt ist.
        Bereits im Dezember 2011 befragten wir die Bundesre-
        gierung zu dieser Problematik. Es war seit dem Urteil
        ausreichend Zeit, hier aktiv zu werden. Nun soll wieder
        einmal alles übers Knie gebrochen werden. Nach der
        Bundesregierung soll für alle EU/EWR-Kapitalgesell-
        schaften die Anrechnung und Erstattung der Abgeltung-
        steuer auf inländische Dividenden gewährt werden. Das
        kostet allein rückwirkend rund 2 Milliarden Euro und
        bedeutet für die kommenden Jahre eine Belastung zwi-
        schen 500 und 750 Millionen Euro. Außerdem betrifft
        die Regelung nur einen relativ kleinen Kreis von Unter-
        nehmen. Das ist für uns die schlechteste aller Lösungen.
        Denn mit dieser Regelung wird ein bereits bestehendes
        Steuerprivileg ausgebaut.
        Unserer Meinung nach gehört die heute bereits beste-
        hende körperschaftsteuerliche Befreiung für Kapitalge-
        sellschaften prinzipiell auf den Prüfstand, statt sie hier
        kritiklos auszubauen. Zwar sehen Sie im Gesetz gewisse
        Einschränkungen zur Gewährung der Steuerbefreiung
        vor, die gut gemeint sind. Jedoch werden sie in der Pra-
        xis sicher nicht wie gedacht funktionieren, da sie durch
        ihre Komplexität und Kompliziertheit gestaltungs- und
        streitanfällig sind. Das wurde auch in der Anhörung zu
        diesem Gesetz deutlich.
        Fakt ist damit: Sie ermöglichen mit diesem Gesetz
        neue Steuergestaltungsmodelle. Zwar unterliegen inlän-
        dische Dividenden, die an private Steuerausländer flie-
        ßen, grundsätzlich der Abgeltungsteuer. Zukünftig kann
        diese aber durch geschickte Zwischenschaltung einer
        ausländischen Kapitalgesellschaft leichter umgangen
        werden. Sie schaffen damit weitere Umgehungsmöglich-
        keiten.
        Der zweite Vorschlag ist der des Bundesrates. Dieser
        will die Steuerbefreiung für Kapitalerträge aus Streube-
        sitz bis zu einer Beteiligungshöhe von 10 Prozent gene-
        rell aufheben. Dies entspräche der Regelung nahezu aller
        25914 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012
        (A) (C)
        (D)(B)
        europäischen Staaten, wonach die Steuerfreiheit für Di-
        videnden und Veräußerungsgewinne nur bei Überschrei-
        ten einer Mindestbeteiligungsquote zu gewähren ist.
        Diese Lösung würde bei verschachtelten Beteiligungen
        zu einer Mehrfachbesteuerung führen und verringert so-
        mit die Attraktivität solcher verschachtelten Beteiligun-
        gen.
        Die dritte Möglichkeit, die wir Ihnen vorschlagen, ist
        die Rückkehr zum Vollanrechnungsverfahren, das heißt,
        jede beteiligte Kapitalgesellschaft muss Steuern abfüh-
        ren. Eine Mehrfachbesteuerung wird durch Anrechnung
        der bereits gezahlten Steuern verhindert. Die Abschaf-
        fung der Steuerfreiheit für in- und ausländische Beteili-
        gungserträge ist unseres Erachtens längst überfällig.
        Die Fraktion Die Linke lehnt den Gesetzentwurf der
        Koalitionsfraktionen aus den eben genannten Gründen
        ab. Einige Bundesländer kündigten im Übrigen bereits
        ihren Widerstand gegen den Vorschlag der Bundesregie-
        rung an, sodass wahrscheinlich auch wieder der Vermitt-
        lungsausschuss angerufen werden muss; das ist bei Ihren
        Finanz- und Steuergesetzen ja derzeit fast die Regel.
        Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
        NEN): Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zu den
        Streubesitzdividenden kommt ein Gesetz daher, das uns
        in den nächsten beiden Jahren insgesamt 3 Milliarden
        Euro kosten wird und danach jährlich mindestens
        600 Millionen Euro. Und dieses Geld geht an ausländi-
        sche Investoren; da kann auch die notorische Steuersen-
        kerpartei FDP nicht argumentieren, dadurch würde ja die
        Wirtschaft in Deutschland gestärkt.
        Schon aufgrund dieser Einnahmeverluste kann dieses
        Gesetz eigentlich nur abgelehnt werden!
        In der Anhörung im Finanzausschuss letzte Woche
        zum vorliegenden Gesetzentwurf wurden unsere Kritik-
        punkte noch einmal deutlich bestätigt: Der Gesetzent-
        wurf schafft Anreize zur Steuergestaltung, die Europa-
        rechtskonformität steht auf wackligen Füßen, und es
        kommt zu Steuerausfällen in Milliardenhöhe.
        Ich habe bei der Einbringung des Gesetzes die Hoff-
        nung geäußert, dass die Bundesregierung hier noch ein-
        mal nachbessert. Der Bundesrat hat eine Alternative auf-
        gezeigt, die sicher auch Schwächen hat, aber die letztlich
        nicht zu den hohen Einnahmeverlusten führen würde.
        Sich hier hinzustellen und den Gesetzentwurf im glei-
        chen mangelhaften Zustand zur Abstimmung zu stellen,
        wie er auch vor drei Wochen eingebracht wurde, ist
        schlicht eine Zumutung.
        Und in der Anhörung haben wir ja die deutliche Kri-
        tik der Experten vernommen. Wichtigster Kritikpunkt
        war, dass das Gesetz neue Anreize zur Steuergestaltung
        bietet. Und das ist ganz einfach zu verstehen: Wenn Sie
        unterschiedlich hohe Steuerniveaus schaffen, wird ein
        Anreiz gesetzt, dorthin zu gehen, wo die Besteuerung am
        niedrigsten ist. Das ist die wirklich eklatante Schwäche
        dieses Gesetzes: Es stellt ausländische Unternehmen bei
        der Besteuerung von Streubesitzdividenden deutlich bes-
        ser. Denn ausländische Unternehmen zahlen im Gegen-
        satz zu inländischen keine Gewerbesteuer – das ergibt
        eine satte Differenz in der Steuerbelastung von 15 Pro-
        zent.
        Bei so einer großen Differenz ist doch die Steuerge-
        staltung vorprogrammiert. Dazu ist ja lediglich das Um-
        hängen der Beteiligung auf eine ausländische Holding
        erforderlich.
        Nun ist versucht worden, da Missbrauchsvorschriften
        einzubauen. Aber die Experten warnen: Diese Miss-
        brauchsvorschriften könnten sich als stumpfes Schwert
        erweisen.
        Dieser Gesetzentwurf ist nicht ausgereift.
        Dies zeigt sich auch noch an einer weiteren Stelle. In
        der Anhörung gab es deutliche Hinweise von Experten,
        dass der vorliegende Entwurf nicht europarechtskonform
        sein könne. Wegen der sogenannten Drittstaatenwirkung
        der Kapitalverkehrsfreiheit müsse womöglich die Steu-
        erbefreiung von Streubesitzdividenden auf europäische
        Drittstaaten ausgeweitet werden. Das würde dann zu
        weiteren Einnahmeverlusten führen.
        Diese Nachlässigkeit der Koalition könnte für uns
        noch sehr teuer werden, und das ist einfach nicht akzep-
        tabel.
        Grundsätzlich hätte es bei der Umsetzung des Urteils
        des Europäischen Gerichtshofes mehr Spielraum gege-
        ben, als uns Schwarz-Gelb hier glauben machen will.
        Das Urteil wurde vor über einem Jahr gefällt – in einem
        breiten Dialog hätte man Lösungsansätze prüfen müs-
        sen, die zumindest zu einer geringeren Belastung für die
        öffentlichen Haushalte geführt und nicht so klare An-
        reize zur Steuergestaltung gesetzt hätten.
        Wir Grüne haben den Vorschlag gemacht, eine Veran-
        lagungsoption für ausländische Gesellschaften in
        Deutschland zu schaffen. In Deutschland würde die aus-
        ländische Gesellschaft mit ihrer Dividende dann wie ein
        Inländer zur Körperschaftsteuer und zur Gewerbesteuer
        veranlagt. Damit würde der Anreiz zur Steuergestaltung
        vermieden. Auch dieser Ansatz birgt Schwächen, aber
        ist dieser Vorschlag wirklich sorgfältig geprüft worden?
        Es liegt uns hier ein schwarz-gelbes Hauruck-Gesetz
        vor, das teuer für den Staat ist, handwerklich schlecht ge-
        macht ist und Anreize zu mehr Steuergestaltung setzt.
        Wir werden das Gesetz daher ablehnen.
        Anlage 5
        Zu Protokoll gegebene Rede
        zur Beratung des Antrags: 20 Jahre Zeichnung
        der Europäischen Charta Regional- oder Min-
        derheitensprache (Tagesordnungspunkt 14)
        Serkan Tören (FDP): Leve Herr Präsident, leve Fro-
        onslüüd un Mannslüüd, wi snackt hier vondoog in dit
        hoge Huus een miteenanner wegen de „Europäische
        Charta över de Reginol- oder Minnerheitensproken“. De
        is vör een poor Doog 20 Johr oolt worrn. Ziel vun de
        Charta is de Schuul un de Help vun de Regionol- un
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012 25915
        (A) (C)
        (D)(B)
        Minnerheitensproken. Dit Ziel is wichtig, sünnerlich
        wenn man bedinkt, dat jümmer mihr Sproken in de glo-
        balisierte Welt verloren goht. Fachlüüd goht dorvon ut,
        dat in de tokomen Tiet een Drüttel von de 6 000 Spro-
        ken, de vondoog noch snackt warrt, verloren goht.
        No 20 Johr vun de Charta is dat nu an de Tiet, eenmol
        Bilanz to tehn. Wie süht dat in Düütschland ut. In miene
        norddüütsche Heimot hebbt 1984 5,6 Millionen Min-
        schen angeben, dat se „goot“ bit „sehr goot“ Platt-
        düütsch snacken künnt. Disse Tohl hett sik bit 2007 – dat
        is dat Johr von de letzte Erhebung – mihr as halbiert. Mit
        disse Halbierung is natürlich ok de Sprook ut den Alldag
        vun de Minschen verswunnen. In annere Regionen mit
        jümehr Regionol- un Minnerheitensproken warrt dat
        nich veel anners utsehn.
        Dissen Verlust vun dat Plattdüütsche mutt Inholt bo-
        den warrn. Sprook is Heimot un en Teken vun leevte
        Alldagskultur. Wenn wi disse leevte Alldagskultur ver-
        kümmern loot, verliert wi alltohoop wiet mihr as blots en
        Sprook. Dat Hochdüütsche is de Sprook, de uns Düüt-
        sche von Flensborg in’n Noorden bit no Füssen in’n Sü-
        den verbinnt. De regionolen Sproken goht in de Harten
        vun de Minschen un verbinnt se in jümehr Rebeet. Ik
        will dat mol so seggen, leve Froonslüüd un Mannslüüd,
        de düütsche Standardsprook is as en Antog, scheun ober
        en lütt beten stief. Dat Plattdüütsche is as mien leevsten
        Pullover: bequeem, villicht ok mol stoppt, ober kommo-
        dig. He warmt mien Hart un miene Seel un ik heff em
        leev un ik will em ok nich missen.
        Wat könnt wi dorför doon, dat de tonehmen Verlust
        vun de Regionol- un Minnerheitensproken nich wieder
        geiht? Grundsätzlich is Kultur jo Sook vun de Länner. Se
        sünd also in eerster Linie in de Plicht. Erfreulicherwies
        deit sik hier jo wat. So hebbt all de noorddüütschen
        Bundslänner Plattdüütsch in jümehr Lihrpläne inbuut.
        Wat wi ober nich vergeten dröfft, sünd de öörtlichen
        Verene, de dat Plattdüütsche dagdääglich pleegt. Hier
        warrt veel privotes Geld un ok Freetiet investiert.
        Disse Insatz bewiest ober ok, dat de Idee, de Regio-
        nol- un Minnerheitensproken to retten, keen dösigen In-
        fall vun de Kulturpolitiker is.
        In miene Heimot, in’n Landkreis Stood, gifft dat to ’n
        Bispill den Fördervereen för de Plattdüütsche Sprook
        „De Plattdüütschen“. Disse Vereen bringt Plattdüütsch in
        den Alldag vun de Minschen trüch. Disse Vereen an-
        gascheert sik afsünnerlich öber den Vörsitter Heinz
        Mügge, Börgermeester in de Gemeen Düdenbüttel, in
        Bildungsprojekten för de Sprookförderung, un disse
        Vereen leist dormit enen wichtigen Bidrag för dat Erho-
        len von uns kulturellet Gedächtnis. Disse kulturelle, bür-
        gerschaftliche Insatz verdeent an disse Steed afsünnerli-
        chen Dank.
        Leve Kolleginnen un Kollegen, dit is blots een Bispill
        dorför, dat de Börgerinnen un Börgers ehr Regionol- un
        Minnerheitensprook schützen un wieterhin quickleben-
        nig holen wüllt.
        Geevt wi jüm de Stütten öber de Parteigrenzen hin-
        weg.
        Een Verlust von de Sproken bedüüd ok enen Kultur-
        verlust, un dat dröfft wi nich toloten.
        Anlage 6
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung:
        – Entwurf eines Gesetzes zu den Änderungen
        vom 10. und 11. Juni 2010 des Römischen
        Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs
        vom 17. Juli 1998
        – Antrag: Universal Periodic Review – Men-
        schenrechtslage in Deutschland auf dem
        Prüfstand des UN-Menschenrechtsrates
        (Tagesordnungspunkte 16 a und b)
        Michael Frieser (CDU/CSU): Was bereits viel zu
        lange währt, wird nun hoffentlich gut. In dem Gesetzent-
        wurf zu den Änderungen vom 10. und 11. Juni 2010 des
        Römischen Statuts des Internationalen Gerichtshofs vom
        17. Juli 1998 wird nun das Verbrechen der Aggression
        definiert. Dies ist ein wesentlicher Schritt, damit in Zu-
        kunft die Strafandrohung durch den Internationalen
        Strafgerichtshof nicht nur eine leere Drohung ist.
        Es freut mich, dass in allen Fraktionen Einigkeit
        herrscht, dass es sich bei den Änderungen um einen
        Meilenstein des Völkerstrafrechts handelt, den es zu un-
        terstützen gilt. Auch wenn es sich bei der Normierung
        des Aggressionstatbestandes um einen Kompromiss han-
        delt, ist dieser von herausragender Bedeutung, um den
        Internationalen Strafgerichtshof als permanentes interna-
        tionales Gericht in die Lage zu versetzen, die Verant-
        wortlichen zur Rechenschaft ziehen zu können.
        Um die Tragweite der geplanten Änderungen des
        Römischen Statuts zu erfassen, muss zunächst die histo-
        rische Entwicklung, die zu diesen Änderungen führte,
        betrachtet werden:
        Am 30. September und 1. Oktober 1946 verkündete
        das Internationale Militärtribunal in Nürnberg die
        Urteile gegen 22 Hauptkriegsverbrecher des Zweiten
        Weltkrieges. Das Urteil von Nürnberg stellte einen
        Ausgangspunkt für weitere Bemühungen der Staaten-
        gemeinschaft um einen internationalen Strafgerichtshof
        dar. Nachfolgend bekräftigte die UN-Vollversammlung
        ausdrücklich die Rechtsprinzipien, die in Nürnberg zur
        Anwendung gekommen waren, als sogenannte Nürnber-
        ger Prinzipien. Was in Nürnberg seinen Anfang nahm,
        wurde stetig weiterentwickelt.
        Bereits 1950 legte die Völkerrechtskommission der
        UNO sieben Prinzipien vor, die den Anspruch darauf er-
        hoben, dass schwere Verstöße gegen die internationale
        Werteordnung geahndet werden. Diese Nürnberger
        Prinzipien haben im Römischen Statut des Internationa-
        len Gerichtshofs eine Weiterentwicklung erfahren. Das
        Statut ist ein völkerrechtlicher Vertrag, der das Völker-
        strafrecht kodifiziert, damit in internationalen Beziehun-
        gen keine rechtsfreien Räume verbleiben, in denen Men-
        25916 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012
        (A) (C)
        (D)(B)
        schen schutzlos den Gräueltaten von Kriegsverbrechern
        ausgesetzt sind. Jede Person, die eine Tat begeht, die
        nach dem Völkerrecht als Verbrechen bestimmt wurde,
        ist dafür verantwortlich und wird der Bestrafung zuge-
        führt, auch wenn das nationale Recht keine Strafe für
        eine Tat vorsieht.
        Um diese Prinzipien durchzusetzen, wurde mit dem
        am 1. Juli 2002 in Kraft getretenen Römischen Statut der
        Internationale Strafgerichtshof in Den Haag eingerichtet.
        Der IStGH will die nationale Strafgerichtsbarkeit der
        Staaten nicht ersetzen und ist auch kein letztinstanzli-
        ches Rechtsmittelgericht, welches Verfahren der natio-
        nalen Strafgerichtsbarkeit überprüfen könnte. Der IStGH
        ergänzt vielmehr die innerstaatliche Gerichtsbarkeit bei
        der Verfolgung von Völkerrechtsverbrechen, deren Vor-
        rang im Statut vielfach verankert ist. Der Internationale
        Strafgerichtshof ist damit Ausdruck des gemeinsamen
        Wunsches der Staatengemeinschaft, für Frieden und Ge-
        rechtigkeit auch außerhalb der nationalen Grenzen ein-
        zustehen.
        Das erste Urteil sprach der Internationale Straf-
        gerichtshof am 14. März 2012 im Verfahren gegen den
        früheren kongolesischen Milizenführer Thomas
        Lubanga, der wegen der Rekrutierung und des Einsatzes
        von Kindersoldaten für schuldig befunden wurde. Er
        wurde dafür am 10. Juli 2012 zu einer Freiheitsstrafe
        von 14 Jahren verurteilt. Dieses Urteil zeigt, dass die
        Nürnberger Prinzipien kein theoretisches Konstrukt sind,
        sondern auch in die Praxis umgesetzt werden können.
        Doch die Entwicklung des Völkerstrafrechts ist durch
        die Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofs
        2002 nicht zu einem Abschluss gekommen. Jetzt gilt es,
        zu beweisen, dass Deutschland aus seiner dunklen
        Vergangenheit gelernt hat und seiner völkerrechtlichen
        Verpflichtung nachkommt. Das Völkerstrafrecht muss
        zu einem wirksamen Instrument der Friedenssicherung
        aufgebaut werden. Bereits die Strafandrohung muss
        Aggressoren in ihre Schranken weisen. Dazu ist die
        stetige Optimierung und Weiterentwicklung des Völker-
        strafrechts notwendig, die mit der vorliegenden Ände-
        rung unterstützt werden muss.
        Obwohl bereits im ursprünglichen Statut das Verbre-
        chen der Aggression als Straftatbestand angelegt gewe-
        sen war, hatten sich die Vertragsstaaten auf der Grün-
        dungskonferenz weder auf eine Definition des
        Verbrechens der Aggression einigen können noch auf die
        vorzusehende Rolle des Sicherheitsrates der Vereinten
        Nationen. Eine Kodifikation des Tatbestands scheiterte
        auch an umstrittenen Fragen wie dem Umfang des
        Rechts auf Selbstverteidigung und die Zulässigkeit
        humanitärer Intervention. Nach Art. 5 des Statuts, wie es
        auf der Konferenz in Rom verabschiedet wurde, besitzt
        der Gerichtshof die sachliche Zuständigkeit für das Ver-
        brechen der Aggression. Da aber keine Definition der
        Aggression beschlossen werden konnte, bleibt die Norm
        eine „leere Hülle“, bis eine Definition in das Statut
        eingefügt wird. Dies ist angesichts der herausragenden
        Bedeutung des Aggressionstatbestands, dessen Zweck es
        ist, die Gewaltanwendung als solche auf internationaler
        Ebene zu pönalisieren, ein unhaltbarer Zustand.
        Vom 31. Mai bis zum 11. Juni 2010 fand in Kampala
        die erste Konferenz zur Überprüfung des Römischen
        Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs statt, in de-
        ren Mittelpunkt die Bemühungen um eine Einigung in
        Bezug auf das Verbrechen der Aggression standen. Mit
        den Änderungen des Römischen Statuts des Internatio-
        nalen Strafgerichtshofs werden nun eine Definition des
        Verbrechens der Aggression und die Bedingungen der
        Ausübung der Gerichtsbarkeit in das Römische Statut
        eingefügt. Auch wird der Einsatz bestimmter Waffen
        und Geschosse, deren Verwendung in internationalen
        bewaffneten Konflikten bereits ein Kriegsverbrechen
        darstellt, auch im nicht internationalen bewaffneten
        Konflikt unter Strafe gestellt.
        Deutschland war maßgeblich an der Ausarbeitung der
        in Kampala gefundenen Einigung beteiligt. Dieser
        Einsatz für die Definition des Aggressionstatbestandes
        bedurfte nicht des Grünenantrages aus dem Mai 2010,
        dessen sie sich so rühmen. Dieser Antrag war weder
        Grund noch Unterstützung für die deutschen Anstren-
        gungen um eine Einigung. Die Bemühungen mit anderen
        gleichgesinnten Staaten für einen möglichst effektiven,
        funktionsfähigen, unabhängigen und damit glaubwürdi-
        gen Internationalen Strafgerichtshof waren auch vor und
        ohne diesen Antrag deutlich sichtbar. Unter anderem ist
        Deutschland nach Japan der größte Beitragszahler für
        den IStGH und engagiert sich darüber hinaus mit freiwil-
        ligen Beiträgen für den sogenannten Opferschutzfonds
        und das Zeugenschutzprogramm des Gerichtshofs.
        Die Änderungen des Römischen Statuts sind die
        Früchte eines langwierigen Prozesses, in dem das Völ-
        kerstrafrecht geschaffen und weiter ausgestaltet wird.
        Einzelne Staaten sind in mühsamen Verhandlungen
        Kompromisse eingegangen, um das gemeinsame höhere
        Ziel voranzubringen: ein umfassendes System interna-
        tionaler Strafgerichtsbarkeit, die die nationale Straf-
        verfolgung wirksam ergänzt.
        Natürlich will ich nicht verschweigen, dass noch ein
        langer Weg vor uns liegt. 121 von 193 Staaten haben die
        Gerichtsbarkeit des Internationalen Strafgerichtshofs an-
        erkannt. Wichtige Staaten sind noch nicht Vertragspartei
        des IStGH, darunter China, Russland, Indien, Israel und
        vor allem die USA. Die USA sorgen sich, dass amerika-
        nische Staatsbürger durch das Gericht verurteilt werden
        könnten. Die Tatsache, dass sie dennoch fallweise Unter-
        stützer sind, wenn auch ohne Mitglied zu sein, zeigt
        aber, dass auch sie die Bedeutung des Internationalen
        Gerichtshofs nicht verkennen. Die heutigen Änderungen
        sind nicht der Abschluss, aber ein bedeutender Schritt zu
        einer funktionierenden internationalen Strafgerichts-
        barkeit, der unbedingt unterstützt werden muss. Beson-
        ders die Normierung des Aggressionstatbestandes ist
        von herausragender Bedeutung. Nur durch diese kann
        eine wesentliche Lücke der völkerrechtlichen Straf-
        barkeit geschlossen werden.
        Der nun verabschiedete Tatbestand des Aggressions-
        verbrechens stellt einen ausgewogenen Kompromiss dar
        und trägt der Tatsache Rechnung, dass dieses Delikt im
        Vergleich zu den anderen im Römischen Statut aufge-
        führten Verbrechen durch die Kriminalisierung staatli-
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012 25917
        (A) (C)
        (D)(B)
        cher Angriffshandlungen und als Führungsverbrechen
        einen besonderen Charakter hat. Die individuellen
        Tathandlungen wurden fast wörtlich den Vorgaben des
        Statuts des Nürnberger Militärgerichtshofs zum „Verbre-
        chen gegen den Frieden“ entnommen.
        Von einem Verbrechen der Aggression wird ausge-
        gangen, wenn eine Person, die tatsächlich in der Lage
        ist, das politische oder militärische Handeln eines Staa-
        tes zu kontrollieren oder zu lenken, eine Angriffshand-
        lung plant, vorbereitet oder ausführt, die ihrer Art, ihrer
        Schwere und ihrem Umfang nach eine offenkundige
        Verletzung der Charta der Vereinten Nationen darstellt.
        Die Formulierung stellt klar, dass es sich um ein soge-
        nanntes Führungsverbrechen handelt, das hohe Anforde-
        rungen an die individuelle Täterqualität stellt. Es betrifft
        nicht die kleinen Befehlsempfänger, sondern zieht die
        Täter zur Rechenschaft, die tatsächlich für den Angriff
        auf den Frieden verantwortlich sind. Regierungsober-
        häupter dürfen nicht über dem Gesetz stehen.
        Eine Angriffshandlung stellt jede mit der Charta der
        Vereinten Nationen unvereinbare Anwendung von
        Waffengewalt durch einen anderen Staat dar, so zum
        Beispiel die Invasion des Hoheitsgebiets eines Staates
        oder der Angriff auf dieses durch die Streitkräfte eines
        anderen Staates. Auch eine militärische Besetzung, die
        sich aus einer solchen Invasion ergibt, sowie die Bom-
        bardierung oder Beschießung des Hoheitsgebiets sind
        umfasst. Neben der Blockade der Häfen oder Küsten ei-
        nes Staates ist auch der Einsatz von Streitkräften eines
        Staates, die sich mit der Zustimmung eines anderen
        Staates in dessen Hoheitsgebiet befinden, unter Verstoß
        gegen die in der entsprechenden Einwilligung oder Ver-
        einbarung vorgesehenen Bedingungen strafbar. Damit ist
        nicht jede völkerrechtswidrige staatliche Gewaltanwen-
        dung zugleich ein Aggressionsverbrechen. Rechtlich
        umstrittene Einsätze, die im Rahmen humanitärer Inter-
        ventionen durchgeführt werden, um das Leid von
        Menschen zu lindern und weitere Gewalt zu verhindern,
        werden so nicht erfasst. Auch Fälle von nicht hinrei-
        chender Intensität sollen gerade nicht berücksichtigt
        werden.
        Die Ausübung der Gerichtsbarkeit über das Verbre-
        chen der Aggression wird in den Änderungen geregelt.
        Der Gerichtshof kann seine Gerichtsbarkeit nur über
        Verbrechen der Aggression ausüben, die ein Jahr nach
        Ratifikation oder Annahme der Änderungen durch
        30 Vertragsstaaten begangen werden.
        Die weitere wichtige Änderung betrifft die Straf-
        barkeit gewisser verbotener Waffen in nichtinternationa-
        len bewaffneten Konflikten. Die Verwendung von Gift
        oder vergifteten Waffen, die Verwendung erstickender,
        giftiger oder gleichartiger Gase sowie aller ähnlichen
        Flüssigkeiten, Stoffe oder Vorrichtungen, die Verwen-
        dung von Geschossen, die sich im Körper des Menschen
        leicht ausdehnen oder flachdrücken ist in internationalen
        bewaffneten Konflikten bereits strafbar. Der Zustand,
        dass der Einsatz von Giftgasen zwar in internationalen
        Konflikten bereits als Kriegsverbrechen geahndet wer-
        den kann, Machthaber aber ihr eigenes Volk mit diesen
        Waffen konsequenzlos angreifen können, ist unerträg-
        lich. Hier kommt es nun zu einer Angleichung, da eine
        grundsätzliche Unterscheidung zwischen den Konflikt-
        formen auf humanitärvölkerrechtlicher Ebene heute
        nicht mehr angemessen ist. Das Leiden und die Verlet-
        zungswirkung, die durch diese Waffen ausgelöst werden,
        sind verurteilenswert, gleich in welcher Art von Konflikt
        sie eingesetzt werden.
        Diese Änderungen liegen mir als in Nürnberg direkt
        gewähltem Abgeordneten besonders am Herzen. In
        Nürnberg entsteht ein Institut für die Durchsetzung der
        Nürnberger Prinzipien zum Völkerstrafrecht. Es soll als
        Expertenforum dazu beitragen, Frieden mit den Mitteln
        des Rechts zu sichern, indem es interdisziplinäre For-
        schung betreibt und zielgruppenspezifisches Training zu
        völkerstrafrechtlichen Themen sowie Menschenrechts-
        bildung anbietet. Ziel der Akademie ist es, die Akzep-
        tanz des Völkerstrafrechts und der Nürnberger Prinzi-
        pien international zu fördern.
        Die Bundesrepublik Deutschland hat an der Ausarbei-
        tung des Römischen Statuts aktiv mitgewirkt. Wir
        müssen uns weiterhin aktiv dafür einsetzen, dass der In-
        ternationale Strafgerichtshof möglichst effektiv arbeiten
        kann und breite Unterstützung in der Staatengemein-
        schaft findet. Das Gesetz zu den Änderungen vom 10.
        und 11. Juni 2010 des Römischen Statuts des Internatio-
        nalen Strafgerichtshofs vom 17. Juli 1998 ist dabei ein
        wichtiger und wirksamer Schritt, um Verbrechen gegen
        den Frieden und die Sicherheit der Menschheit der
        Strafbarkeit zuzuführen.
        Christoph Strässer (SPD): Offenheit vor allem
        auch im Umgang mit eigenen Fehlern und Defiziten ist
        ein Überlebensprinzip für jedes politische System. Des-
        halb sollten auch wir Deutschen sehr darum bemüht
        sein, Kritik aus anderen Ländern offen gegenüberzuste-
        hen und sie ernst zu nehmen – egal woher sie kommt.
        Dies ist nicht zuletzt der Einsicht geschuldet, dass aus
        der eigenen Fehlbarkeit die Notwendigkeit des Dialogs
        und der Kooperation folgt.
        Genau diese fundamentale Erkenntnis ist der Kern
        des UPR-Verfahrens im Menschenrechtsrat der VN, des
        wohl wichtigsten und positivsten Ergebnisses aus den
        ansonsten ja eher wenig erfolgreich verlaufenden Bemü-
        hungen um die Reform der Vereinten Nationen. Alle
        Staaten überprüfen ihre menschenrechtliche Praxis zu-
        erst selbst, stellen die Ergebnisse vor und stellen sich
        dann der Kritik im Menschenrechtsrat – und das rich-
        tigerweise ohne Ausnahme und damit eben auf gleicher
        Augenhöhe, unabhängig von Wirtschaftskraft und/oder
        politischer sowie militärischer Macht. Allein das macht
        das UPR-Verfahren so interessant und einmalig. Alle
        Länder sind gleich, beraten auf gleicher Augenhöhe und
        stellen sich demselben Verfahren. Ein demokratisches
        Grundprinzip, das leider in der Struktur der UNO oft un-
        erreichbar erscheint und doch so wichtig wäre, ein Ver-
        fahren, dass eindrucksvoll die These widerlegt, dass
        westliche Staaten und Kulturen das Thema Menschen-
        rechte benutzen, um auf diesem Wege hegemoniale
        Strukturen auf- und auszubauen.
        25918 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012
        (A) (C)
        (D)(B)
        Zur Demokratie gehört, das wissen wir spätestens seit
        Kant, auch die öffentliche Auseinandersetzung, die Öf-
        fentlichkeit. Deshalb hat auf unser Bestreben hin, die
        FDP-Fraktion zugesagt, zu beantragen, dass die heutige
        Debatte zum Tag der Menschenrechte an prominenter
        Stelle stattfinden soll, wie eigentlich immer in den letz-
        ten Jahren um den Internationalen Tag der Menschen-
        rechte am 10. Dezember. Nun gehen die Reden zu Proto-
        koll. Es ist ein Armutszeugnis für unsere demokratische
        Kultur, dass es nicht gelingt, wenigstens einmal im Jahr
        in diesem Hause zu einer Zeit über dieses Thema zu de-
        battieren, wo zumindest die Chance besteht, öffentlich
        wahrgenommen zu werden. Diese Koalition führt zwar
        gerne bei jeder Gelegenheit die Menschenrechte im
        Munde, schafft es aber noch nicht einmal, einen akzepta-
        blen Debattenplatz zu organisieren. Das sagt eigentlich
        alles!
        Der erste Zyklus der regelmäßigen Überprüfung der
        Staaten auf ihre Menschenrechtslage hin, UPR, ist abge-
        schlossen. Mit der Vorstellung des Staatenberichts vor
        dem UN-Menschenrechtsrat 2009 hat Deutschland sei-
        nerzeit durch Selbstkritik zwar einige überzeugt, aber
        der schriftliche Bericht der Regierung wurde von vielen
        als „zu glatt“ eingeschätzt, weil die offene Benennung
        von Problembereichen, die Darstellung von Maßnahmen
        zur Verbesserung der Situation, der Bericht über Erfolge,
        aber auch selbstkritische Anmerkungen und Aussagen
        über Zielsetzungen fehlten. Allerdings präsentierte sich
        die Bundesregierung in ihren mündlichen Einlassungen
        im UPR sehr viel selbstkritischer. Die Regierungsver-
        treter gaben wiederholt zu erkennen, dass – bei dem
        unbestritten hohen Standard von Rechtsstaatlichkeit in
        Deutschland – gleichwohl ernste menschenrechtliche
        Probleme zu bewältigen blieben.
        Der Zweite Zyklus wurde nun formal geändert, um
        ein besonderes Augenmerk auf die Umsetzung der ak-
        zeptierten Empfehlungen aus dem ersten Zyklus richten
        zu können. Das macht viel Sinn; denn nur so kann im
        weiteren Überprüfungszyklus aufmerksam geschaut wer-
        den, wie ein Staat in der Zwischenzeit die akzeptierten
        Empfehlungen in die Praxis umgesetzt hat und was da-
        rauf aufbauend in den zweiten Bericht Eingang finden
        sollte.
        Um das Voranschreiten im nationalen Follow-up auch
        im Menschenrechtsrat nachvollziehbar zu machen, sind
        die Staaten aufgerufen, nach zwei Jahren freiwillig einen
        schriftlichen Zwischenbericht – „mid-term report“ – zu
        erstellen. Deutschland hat nach seiner Überprüfung kei-
        nen solchen Zwischenbericht abgegeben. Das sollte sich
        ändern. Es ist, wie sich aus vielen Beispielen ersehen
        lässt, eine große Hilfe für das ganze Verfahren, wenn es
        einen staatlich initiierten Zwischenbericht gibt, der in
        der Mitte des Zyklus vorgelegt wird. Zwischenberichte
        zum UPR-Verfahren gehören inzwischen beim Rat zum
        guten Ton. Sie wurden vorgelegt unter anderem von
        Frankreich, Japan, den Niederlanden, Bahrain, Chile,
        Finnland, Ecuador, Kolumbien, Mauritius, Rumänien,
        der Ukraine. Deutschland gibt hier kein gutes Beispiel
        ab. Diese Forderung vieler NGOs an Deutschland halte
        ich für gerechtfertigt.
        Im Mai 2013 wird Deutschland zum zweiten Mal
        vom UN-Menschenrechtsrat im Rahmen des UPR-Ver-
        fahrens auf seine Menschenrechtssituation hin überprüft
        werden. Das Forum Menschenrechte und das Deutsche
        Institut für Menschenrechte haben dankenswerterweise
        ihre Analysen und Empfehlungen bereits abgegeben.
        Wir fordern deshalb die Bundesregierung auf, die Sicht
        dieser Organisationen ernst zu nehmen und in ihren
        Bericht einfließen zu lassen. Deshalb ist es auch zu be-
        grüßen, dass Markus Löning, der Menschenrechtsbeauf-
        tragte im Auswärtigen Amt, im Namen der Bundesregie-
        rung die „Zivilgesellschaft“ zum 5. Dezember zu einer
        Anhörung eingeladen hat – spät, aber hoffentlich nicht
        zu spät, um berechtigte Anliegen noch aufzunehmen.
        Bis zum Februar 2013 läuft die Frist für die Einrei-
        chung des Staatenberichts. Im April/Mai ist die 16. Sit-
        zung der UPR Working Group mit der Überprüfung
        Deutschlands, und circa im September 2013 gibt es die
        Stellungnahme Deutschlands zu den Empfehlungen. Im
        Oktober 2013 soll schlussendlich der Bericht zur UPR-
        Überprüfung Deutschlands in der 17. Sitzung des Men-
        schenrechtsrates erörtert werden.
        Einer der Hauptkritikpunkte an Deutschland 2009
        war die fehlende Bekämpfung von Rassendiskriminie-
        rung und Fremdenfeindlichkeit. Wie die Vorfälle um die
        Terrorzelle NSU gezeigt haben, waren diese Empfehlun-
        gen geradezu prophetisch und wurden leider nicht ernst
        genug genommen. Im Gegenteil: Mittel für die nachhal-
        tige Bekämpfung dieses braunen Sumpfs wurden ge-
        kürzt, Menschen, die sich dort engagierten, wurde unter
        der Überschrift „Extremismusklausel“ ein Treuebekennt-
        nis zu unserem Grundgesetz abverlangt – absurd gegen-
        über denjenigen, die mit ihrer konkreten Arbeit mehr für
        die Werte unserer Verfassung tun, als dies in vielen
        Sonntagsreden geschieht. Deshalb muss dieser Bereich
        im neuen Bericht explizit näher beleuchtet und intensiver
        bearbeitet werden. Wir sollten offen ansprechen, dass
        wir hier vieles verschlafen haben und es nun besser ma-
        chen wollen.
        Ein weiterer Punkt, den Kanada und Ägypten seiner-
        zeit angesprochen haben und der immer noch problema-
        tisch ist, sind die Rechte der Kinder in Deutschland.
        Zwar gab es einen wichtigen Fortschritt, weil Deutsch-
        land die Vorbehalte gegen die Kinderrechtskonvention
        zurückgenommen hat. Aber hinsichtlich der Kinder von
        Einwanderern und „Ausländern“ hat sich bisher kaum
        etwas verbessert. Besonders prekär ist immer noch die
        Situation unbegleiteter minderjähriger Flüchtlingskin-
        der. Sie werden immer noch zu oft routinemäßig in be-
        lastende, nicht kinderfreundliche Asylverfahren ge-
        drängt. Häufig verbleiben die Betroffenen im Status der
        Duldung und leben daher in ständiger Furcht vor der
        Ausweisung. Auch hier sollten wir die Empfehlungen
        ernst nehmen und das im aktuellen Zyklus ansprechen.
        Viel besser noch wäre es selbstverständlich, der Kinder-
        rechtskonvention entsprechende Gesetze zu schaffen, im
        Aufenthaltsrecht wie im Sozialrecht.
        Eine weitere wichtige Empfehlung bezog sich auf un-
        sere selektive Bildungspolitik, die zu einer strukturellen
        Diskriminierung bestimmter Gruppen von Kindern im
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012 25919
        (A) (C)
        (D)(B)
        deutschen Schulsystem führt. Zumeist sind Kinder mit
        Migrationshintergrund und Kinder aus sozial schwieri-
        gen Verhältnissen betroffen.
        Der Menschenrechtsstandard in unserem Land ist
        hoch, kein Zweifel. Aber wir können und müssen besser
        werden, gerade auch als neu gewähltes Mitglied im
        Menschenrechtsrat. Diese Wahl, über die wir uns sehr
        freuen, ist nicht nur Erfolg, sondern auch Verpflichtung.
        Dies gilt auch – um einen letzten Punkt anzusprechen –
        für die Stellung des Deutschen Instituts für Menschen-
        rechte. Wegen Untätigkeit der Bundesregierung und eines
        offenkundigen Streits innerhalb der Koalition besteht die
        Gefahr, dass diese hochangesehene unabhängige Institu-
        tion im Herbst dieses Jahres bei der Akkreditierungskon-
        ferenz ihren jetzigen A-Status verliert – und das nur,
        weil die Mehrheit in diesem Hause sich nicht darauf ver-
        ständigen kann, durch eine gesetzliche Grundlage die
        Unabhängigkeit der Arbeit des Instituts sicherzustellen.
        Das ist ein Armutszeugnis für die deutsche Menschen-
        rechtspolitik und ihr Ansehen weltweit. Die SPD-Frak-
        tion jedenfalls ist bereit, auch kurzfristig gesetzgebe-
        rische Initiativen zu unterstützen, die den Erhalt des
        jetzigen Status des Instituts sichern.
        Zum Schluss möchte ich noch hervorheben, dass die
        SPD-Fraktion, wie schon in der ersten Lesung angekün-
        digt, den Gesetzentwurf der Bundesregierung zu den
        Änderungen des Römischen Statuts des Internationalen
        Strafgerichtshofs vom 10. und 11. Juni 2010 in Kampala
        begrüßt. Die Ergebnisse der Konferenz von Kampala
        werden den Internationalen Strafgerichtshof langfristig
        stärken, was einerseits eine große Verantwortung und
        Herausforderung bedeutet, andererseits aber auch eine
        große Chance ist. Treten die Regelungen von Kampala
        2017 wirklich in Kraft, kann jede Gewaltanwendung ge-
        genüber einem anderen Staat vor dem Internationalen
        Strafgerichtshof angeklagt werden. Dies wäre ein großer
        Schritt in Richtung einer starken und effizienten Ver-
        rechtlichung der internationalen Beziehungen. Deshalb
        werden wir diesem Gesetz zustimmen.
        Marina Schuster (FDP): Am 10. Dezember bege-
        hen wir jedes Jahr den Allgemeinen Tag der Menschen-
        rechte. Dann jährt sich die Allgemeine Erklärung der
        Menschenrechte, eine Errungenschaft unserer Mensch-
        heitsgeschichte. Sie gibt uns das vor, für das wir welt-
        weit eintreten: den Schutz und die Wahrung der Men-
        schenrechte.
        Wie könnte es besser passen, dass wir heute in der
        zweiten und dritten Lesung die Änderung des Römi-
        schen Statuts im deutschen Recht beschließen werden?
        Einen Wermutstropfen gibt es dennoch: Leider findet die
        Debatte zu später Stunde statt. Jeder weiß, dass wir uns
        diese Debattenzeit nicht ausgesucht haben.
        Der ehemalige Menschenrechtskommissar der Ver-
        einten Nationen, José Ayala Lasso, bringt das Problem
        der Straflosigkeit auf den Punkt: Es ist wahrscheinlicher,
        dass ein Mensch für die Ermordung eines einzigen Men-
        schen verurteilt wird, als dass er für die Ermordung von
        100 000 Menschen verurteilt wird.
        Während Verbrechen auf kleinster Ebene – und hier
        spreche ich noch gar nicht von Mord – meist zügig ver-
        folgt werden können, ist es nach wie vor eine große,
        langwierige und schwierige Aufgabe, Völkermörder,
        Kriegsverbrecher und Verbrecher gegen die Menschlich-
        keit zur Rechenschaft zu ziehen.
        Mit der Schaffung des Internationalen Strafgerichts-
        hofs am 17. Juli 1998 in Rom setzte die internationale
        Gemeinschaft ein klares Zeichen, dass sie sich diesem
        Missstand entschieden entgegenstellen will. Sicherlich
        bleibt die strafrechtliche Verfolgung von Völkermord,
        Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Mensch-
        lichkeit eine Herausforderung. Sie ist aber eben keine
        Utopie mehr. Die Täter grausamster Völkerrechtsverbre-
        chen können nicht mehr auf ihre Immunität vertrauen,
        sondern müssen grundsätzlich davon ausgehen, dass sie
        sich vor einem zentralen, überparteilichen Gericht für ihr
        Handeln verantworten müssen.
        Die universelle Zuständigkeit des Internationalen
        Strafgerichtshofs ist eine bahnbrechende Errungen-
        schaft des internationalen Menschenrechtsschutzes. Die
        Verfolgung von Völkerrechtsverbrechen und der Kampf
        gegen die Straflosigkeit knüpfen an das Vermächtnis der
        Nürnberger und Tokioter Prozesse an. Seit den 1990er-
        und 2000er-Jahren führen die Ad-hoc-Tribunale für das
        ehemalige Jugoslawien, für Ruanda, Sierra Leone und
        Kambodscha diesen Leitgedanken fort.
        Dieser Leitgedanke hat bisher seinen Höhepunkt in
        der Überprüfungskonferenz von Kampala gefunden, bei
        der eine große Lücke im Völkerstrafrecht geschlossen
        wurde. Die Definition des Tatbestandes der Aggression
        bedeutet einen historischen Durchbruch. Ich wiederhole
        es gerne: Es handelt sich hier um einen Meilenstein im
        Kampf gegen die Straflosigkeit.
        Es ist dem Einsatz der deutschen Delegation in Kam-
        pala zu verdanken, dass Deutschland seine Konferenz-
        ziele erfolgreich durchsetzen konnte, auch gegen kriti-
        sche Stimmen aus Frankreich und Großbritannien.
        Wir Liberalen haben uns dafür starkgemacht, dass
        diese wichtige Lücke im Völkerstrafrecht geschlossen
        wird. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf haben wir
        ein Ziel des Koalitionsvertrages Wort für Wort umge-
        setzt. Das ist ein großer Erfolg! Die Förderung und Wah-
        rung der Menschenrechte ist ein ureigener liberaler
        Grundgedanke. Von Beginn dieser Wahlperiode an hat
        sich die FDP dafür eingesetzt, dass Deutschland im welt-
        weiten Menschenrechtsschutz nicht nur gegenüber sei-
        nen internationalen Partnern eine glaubwürdige Position
        vertritt, sondern auch eine Vorbildrolle übernimmt.
        Deutschland ratifiziert als einer der ersten Staaten die
        Änderungen des Römischen Statuts, die in Kampala be-
        schlossen wurden. Nun gilt es, dass bis Ende 2015 min-
        destens 30 Staaten das erweiterte Römische Statut ratifi-
        zieren. Nur dann treten die Änderungen auch bereits
        2017 in Kraft. Liechtenstein und das Global Institute for
        the Prevention of Aggression leisten hier wertvolle Ar-
        beit. Unter ihrer Federführung wurde beispielsweise ein
        Handbuch erstellt, das Staaten bei der Implementierung
        25920 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012
        (A) (C)
        (D)(B)
        und Ratifizierung der Änderungen von Kampala unter-
        stützt.
        Die Position Deutschlands im Kampf gegen die Straf-
        losigkeit hat sich seit den Nürnberger Prozessen rich-
        tungsweisend und grundlegend gewandelt. Während die
        Rechtsprechung des Nürnberger Tribunals noch auf Ab-
        lehnung stieß, gestaltet Deutschland heute nicht nur die
        Ausformung universeller Normen aktiv mit, sondern
        nimmt in vielen Bereichen eine Vorreiterrolle ein.
        Seit Mai 2011 läuft vor dem Oberlandesgericht Stutt-
        gart ein Prozess gegen Ignace Murwanashyaka, den ehe-
        maligen Präsidenten der ruandischen Rebellenbewegung
        FDLR, und gegen seinen Stellvertreter Straton Musoni.
        Murwanashyaka und Musoni wird als Vorgesetzten der
        FDLR eine direkte Verantwortung für deren Aktivitäten
        und die Völkerrechtsverbrechen im Kongo vorgeworfen.
        Dieser Prozess in Stuttgart ist der erste seiner Art. Das
        Pilotverfahren wird unter dem Völkerstrafgesetzbuch
        geführt, welches das Römische Statut in deutsches Recht
        überträgt. Unter dem „Weltrechtsprinzip“ des deutschen
        Völkerstrafgesetzbuches engagiert sich Deutschland hier
        im Sinne einer komplementären Arbeitsteilung mit dem
        Internationalen Strafgerichtshof. Der Grundsatz der
        Komplementarität sieht vor, dass die strafrechtliche Ver-
        folgung von Völkerrechtsverbrechen auch durch die
        Mitgliedstaaten des Römischen Statuts erfolgen kann.
        Wir können bereits heute auf eine erfolgreiche Men-
        schenrechtsbilanz in dieser Legislaturperiode zurückbli-
        cken. Lassen Sie mich exemplarisch einige Beispiele ge-
        ben:
        Unter dem Vorsitz Deutschlands hat der Sicherheitsrat
        der Vereinten Nationen im Juli 2011 eine Resolution
        zum Schutz von Kindern in bewaffneten Konflikten ver-
        abschiedet. Die Ächtung von Angriffen auf Krankenhäu-
        ser und Schulen durch die internationale Gemeinschaft
        wurde damit institutionalisiert. Dieses Engagement hat
        Deutschland im September noch einmal gefestigt und
        eine zweite Resolution eingebracht, die den Schutzme-
        chanismus und die Arbeit der VN-Sonderbeauftragten
        für Kinder und bewaffnete Konflikte, Leila Zerrougui,
        noch weiter stärkt.
        Ein weiteres wichtiges Thema für uns ist der Schutz
        des Menschenrechtes auf Wasser, für das wir uns mit
        verschiedenen Maßnahmen einsetzen. Die VN-Resolu-
        tion „Menschenrecht auf sauberes Trinkwasser und Sa-
        nitärversorgung“ sowie die deutsch-spanische Initiative
        im Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen haben wir
        hier im Bundestag mit mehreren Anträgen flankiert.
        Durch meine Arbeit als Mitglied der Parlamentari-
        schen Versammlung des Europarates weiß ich aus eige-
        ner Erfahrung, wie wichtig regionale Menschenrechts-
        schutzsysteme sind. Auf der Konferenz zur Reform des
        Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte in
        Brighton konnte sich Deutschland erfolgreich gegen die
        Vorschläge Großbritanniens durchsetzen, die eine drasti-
        sche Beschneidung der Kompetenzen des Gerichts be-
        deutet hätten. Die Ergebnisse von Brighton müssen nun
        schnell umgesetzt werden, damit der EGMR die Heraus-
        forderungen einer stetig wachsenden Zahl an Gesuchen
        bewältigen kann.
        Die Wahl Deutschlands in den Menschenrechtsrat der
        Vereinten Nationen bestätigt unseren Menschenrechts-
        kurs. Sie zeigt die Anerkennung und das Vertrauen in
        unser menschenrechtspolitisches Engagement. Gleich-
        zeitig ist die Wahl Ansporn und Verpflichtung.
        Am 5. Dezember findet die öffentliche Anhörung
        zum Menschenrechtsbericht der Bundesregierung statt.
        Nächstes Jahr im April durchläuft Deutschland die „Uni-
        versal Periodic Review“ des Menschenrechtsrates der
        Vereinten Nationen. Im Vierjahresrhythmus müssen sich
        die Mitgliedstaaten einer Überprüfung ihrer Menschen-
        rechtslage stellen. Die Bundesregierung bezieht hierbei
        die Zivilgesellschaft mit ein und diskutiert den Entwurf
        des Menschenrechtsberichtes, den sie in Genf vorlegen
        wird, im Vorfeld.
        Die Wahrung und Förderung der Menschenrechte ist
        Voraussetzung einer demokratischen, wirtschaftlichen
        und kulturellen Entwicklung jedes Landes. Wir sind uns
        unserer Verantwortung im eigenen Land und für den men-
        schenrechtlichen Fortschritt unserer Partner bewusst.
        Deutschland ist – und bleibt – ein wichtiger Akteur im in-
        ternationalen Menschenrechtsschutz.
        Jan van Aken (DIE LINKE): Meine Fraktion wird
        dem heute vorliegenden Gesetzentwurf zustimmen.
        Mit dem Gesetz wird das veränderte Römische Statut
        des Internationalen Strafgerichtshofes ratifiziert. Konkret
        geht es um die Aufnahme der Aggression, also eines An-
        griffskrieges, in den Katalog der Verbrechen, die vom In-
        ternationalen Strafgerichtshof geahndet werden können.
        Die internationale Verankerung eines Straftatbestands
        der Aggression wird seit den Nürnberger Prozessen ge-
        fordert. Dass es nach langen und durchaus kontroversen
        Diskussionen gelungen ist, sich auf eine Definition des
        Aggressionsverbrechens zu einigen und damit einen
        Straftatbestand zu schaffen, ist ohne Zweifel ein Erfolg,
        allerdings, wie so oft bei Kompromissen, ein Erfolg mit
        bitterem Beigeschmack. So konnte nicht durchgesetzt
        werden, dass schon die Vorbereitung und Planung eines
        unter den Begriff der Aggression fallenden Angriffs ein
        Strafverfahren auslösen können. Ein Angriff muss be-
        reits erfolgt sein, um vom Internationalen Strafgerichts-
        hof – nachträglich – geahndet zu werden. Ebenfalls
        konnte nicht durchgesetzt werden, dass der Straftat-
        bestand der Aggression auch für Nichtvertragsstaaten
        Anwendung findet. Zu ihnen gehören unter anderem die
        USA, Russland und China. Ebenso schwer wiegt, dass
        die Abhängigkeit vom Sicherheitsrat der Vereinten Na-
        tionen bestehen bleibt, dass der Strafgerichtshof also
        nicht von sich aus, unabhängig vom UN-Sicherheitsrat,
        tätig werden kann.
        Gerade mit Blick auf den völkerrechtswidrigen Krieg
        gegen Irak ist bedauerlich, dass nur zukünftige Aggres-
        sionsverbrechen verfolgt werden können, also frühestens
        im Jahr 2017 und ein Jahr nachdem mindestens 30 Staa-
        ten die Änderungen ratifiziert haben.
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012 25921
        (A) (C)
        (D)(B)
        Nun ist es, wie es ist. Die Änderung des Römischen
        Statuts spiegelt den Minimalkonsens wider. Mehr war
        auf der Überprüfungskonferenz 2010 im ugandischen
        Kampala nicht zu erreichen. Aber es spricht doch gar
        nichts dagegen, dass Deutschland bei der nationalen
        Umsetzung einen Schritt weitergeht – über den heute
        vorliegenden Gesetzentwurf hinaus.
        In Art. 26 des Grundgesetzes heißt es: „Handlungen,
        die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen wer-
        den, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stö-
        ren, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vor-
        zubereiten, sind verfassungswidrig. Sie sind unter Strafe
        zu stellen.“ Bislang wurde in der deutschen Rechtspre-
        chung lediglich die Vorbereitung eines Angriffskrieges
        als strafrechtlich relevant interpretiert, geregelt in § 80
        des Strafgesetzbuches. Das Grundgesetz betrachtet aber
        alle Handlungen, die friedenstörend sind, als verfas-
        sungswidrig. In diesem Sinne müssen die direkte und in-
        direkte Beteiligung an der Durchführung von Angriffs-
        kriegen ebenso wie deren Planung und Vorbereitung
        unter Strafe gestellt werden.
        Um nur ein Beispiel zu nennen: Wenn ein Land, sa-
        gen wir: die USA, ein anderes Land, sagen wir: Irak,
        völkerrechtswidrig überfällt, dann darf Deutschland das
        nicht direkt oder indirekt unterstützen, sagen wir: durch
        BND-Agenten oder durch Überfluggenehmigungen.
        Wenn eine Bundesregierung, sagen wir: die rot-grüne
        Regierung von 2003, das unterstützt, muss sie sich straf-
        bar machen. Die Linke will deshalb eine rechtliche Klar-
        stellung auch im Strafgesetzbuch, also eine Präzisierung
        von § 80 Strafgesetzbuch. Eine entsprechende parlamen-
        tarische Initiative werden wir demnächst hier vorlegen.
        Es kann doch nicht sein, dass Deutschland militärisch
        mit Staaten kooperiert, die sich vorbehalten, Angriffs-
        kriege zu führen.
        Wir erwarten deshalb von Ihnen, dass Sie dafür sor-
        gen, dass kein Land – auch nicht die USA – jemals wie-
        der Stützpunkte in Deutschland oder deutsche Logistik
        für Angriffskriege nutzen kann. Wir erwarten aber auch,
        dass Sie den politischen Druck auf die drei ständigen
        Mitglieder des Sicherheitsrates USA, Russland und
        China erhöhen, den Internationalen Strafgerichtshof end-
        lich anzuerkennen und sich seiner Gerichtsbarkeit zu un-
        terwerfen.
        Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschland
        keine Waffen mehr exportieren sollte. Von Deutschland
        soll nie wieder Krieg ausgehen, auch nicht in Form von
        Waffenlieferungen, die Kriegsführung anderswo mög-
        lich machen.
        Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Am
        10. Dezember werden wir den Tag der Menschenrechte
        feiern. Vor 64 Jahren haben die Vereinten Nationen an
        diesem Tag die Menschenrechte im internationalen
        Recht verankert. Bis heute ist die Allgemeine Erklärung
        der Menschenrechte das Wertegerüst der internationalen
        Gemeinschaft aller inzwischen 193 Staaten der Verein-
        ten Nationen.
        Menschen streben nach einem Leben in Würde, sozia-
        ler Sicherheit und Frieden. Wie keine andere Institution
        verkörpern die Vereinten Nationen dieses Streben. Die
        Vereinten Nationen besitzen inzwischen wichtige Mittel,
        um weltweit die Einhaltung der Menschenrechte zu
        überwachen und ihre Missachtung, wo dies möglich ist,
        zu ahnden.
        Da ist natürlich zu allererst der Internationale Strafge-
        richtshof, den die Vereinten Nationen 2002 ins Leben
        gerufen haben. Es ist erfreulich, dass wir den Gesetzent-
        wurf zur Stärkung des Internationalen Strafgerichtshofes
        gemeinsam und hoffentlich einstimmig verabschieden
        werden. Die eigentliche Arbeit steht mit der Umsetzung
        in die nationale Rechtsordnung noch aus.
        Ich möchte mich heute aber noch auf ein anderes
        wichtiges Instrument beziehen, das den Menschen-
        rechtsschutz weltweit zum Ziel hat: das Verfahren des
        Universal Periodic Review. Es ist im Gegensatz zum
        scharfen Schwert des Gerichts eher eine Soft Power. Das
        UPR-Verfahren wurde im März 2006 durch die Resolu-
        tion 60/251 ins Leben gerufen. Beim Wandel von der
        VN-Menschenrechtskommission zum Menschenrechts-
        rat war es die wichtigste Weiterentwicklung; der Rat ist
        insgesamt ein Fortschritt gegenüber der vorherigen
        Kommission.
        Früher wurde nur eine kleine Auswahl an Staaten ge-
        prüft, heute müssen sich alle prüfen lassen. Alle Staaten
        sind dem Verfahren gleichermaßen unterworfen. Neben
        den Staaten selbst und VN-Expertenteams aus anderen
        Mitgliedstaaten wird auch die Zivilgesellschaft des zu
        prüfenden Staates in die Berichterstattung mit einbezo-
        gen. Daraus entsteht dann ein umfassender Bericht, der
        konkrete Maßnahmen empfiehlt, wie der Mitgliedstaat
        die Menschenrechte besser schützen, achten und ge-
        währleisten kann.
        Daraus ergeben sich zwei Chancen: erstens, dass die
        zivilgesellschaftlichen Akteure in den Mitgliedstaaten
        besser miteinander kommunizieren, weil sie sich für den
        gemeinsamen Bericht vernetzen müssen; zweitens, dass
        die Regierungen – auch die Bundesregierung – weniger
        politisch voreingenommen berichten, indem sie die „Zi-
        vilgesellschaft stärker als bisher“ einbeziehen, wie dies
        die SPD fordert. Wir wollen, dass die Zivilgesellschaft
        systematisch und im Vorfeld mit einbezogen wird, sei es
        durch Anhörungen in den Ausschüssen des Deutschen
        Bundestages, sei es durch regelmäßige und verbindliche
        Konsultationen.
        Die größte Glaubwürdigkeit im weltweiten Bemühen
        um eine bessere Menschenrechtslage haben die Staaten,
        die sich auch um die Menschenrechte in ihrem eigenen
        Land kümmern. Will man Menschenrechtsverletzungen
        anderer Staaten kritisieren, dann muss man selbst ver-
        bindlich, gar vorbildlich sein. Wir können nicht Staaten
        wie den Iran oder China kritisieren, wenn wir Vorwürfe
        ignorieren, Deutschland messe mit zweierlei Maß – „dou-
        ble standards“ – und sei voreingenommen.
        Zweierlei Maß, das mindert den Schutz der Men-
        schenrechte; Guantánamo hat es gezeigt. Deutschland
        soll bei Kritik an Missständen im Lande so viel Dialog-
        25922 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012
        (A) (C)
        (D)(B)
        bereitschaft und Engagement zeigen, wie wir es von an-
        deren Ländern wünschen. Was also hat die Bundesregie-
        rung getan, nachdem Deutschland zuletzt 2009 im UPR-
        Verfahren untersucht wurde?
        Der UPR-Bericht über Deutschland setzt Schwer-
        punkte in der Asyl- und Integrationspolitik, beim Schutz
        vor Folter, beim Kampf gegen Fremdenfeindlichkeit und
        Rassismus und beim Schutz vor Diskriminierung. Dji-
        bouti fordert zum Beispiel, dass Deutschland eine unab-
        hängige Institution schafft, die Beschwerden über Poli-
        zeigewalt untersucht. Bedauerlicherweise hat die
        Bundesregierung diese Forderung zurückgewiesen. Die
        Bunderepublik hat 34 von 44 Empfehlungen des UPR-
        Berichtes von 2009 akzeptiert. Die SPD fordert zwar
        dazu auf, hinsichtlich der akzeptierten Empfehlungen
        detailliert die Umsetzungsschritte sowie die Erfolge und
        Probleme in diesem Prozess zu erläutern – das ist
        richtig –, ich finde aber, darüber hinaus müsste die Bun-
        desregierung erklären, warum zehn Empfehlungen nicht
        umgesetzt wurden.
        Das Zusatzprotokoll des Paktes über soziale, wirt-
        schaftliche und kulturelle Rechte, der WSK-Pakt, muss
        endlich ratifiziert werden. Das wurde bereits 2009 kriti-
        siert. 2013 wird es immer noch bemängelt – zu Recht –,
        nicht nur von uns Grünen, auch vom Deutschen Institut
        für Menschenrechte, DIMR.
        Die Bundesregierung muss sämtliche Empfehlungen
        ernst nehmen, sonst schwächt sie das Verfahren. Andere
        Staaten könnten sich daran ein schlechtes Beispiel neh-
        men. Im schlimmsten Falle werden einzelne unilateral
        aus dem Staatenüberprüfungsverfahren aussteigen, wie
        es Israel angedroht hat. Die Folgen für die Glaubwürdig-
        keit des Verfahrens wären verheerend.
        Doch der Umgang mit den VN-Empfehlung ist symp-
        tomatisch für ein tiefergehendes Problem: das schwache
        Engagement Deutschlands in den VN allgemein. Wir
        Grüne wollen, dass Deutschland über die VN globale
        Verantwortung übernimmt und sich in den VN weit akti-
        ver, engagierter und wirkungsvoller für Frieden und
        Menschenrechte einsetzt.
        Die VN sind nur so stark, wie ihre Mitgliedstaaten sie
        machen. Dies gilt besonders für den Schutz der Men-
        schenrechte. Nur wenn alle 193 ihren Beitrag leisten und
        einige vorbildlich sind, werden wir Fortschritte machen. –
        Dass Deutschland in den VN-Menschenrechtsrat wieder-
        gewählt worden ist, hat alle Mitglieder dieses Hauses ge-
        freut. Der Bundesaußenminister sprach von einem „Ver-
        trauensbeweis für Deutschland“. Doch für dieses
        Vertrauen muss sich Deutschland als würdig erweisen.
        Der nächste Zyklus 2013 des UPR-Überprüfungsverfah-
        rens bietet sich dazu an. Wir erwarten von der Bundesre-
        gierung, dass sie das Überprüfungsverfahren im Men-
        schenrechtsrat aktiv und glaubwürdig begleitet.
        Anlage 7
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Antrags: Energiewende im
        Gebäudebestand sozial gerecht, umweltfreund-
        lich, wirtschaftlich und zukunftsweisend umset-
        zen (Tagesordnungspunkt 17)
        Volkmar Vogel (Kleinsaara) (CDU/CSU): Klima-
        schutz, Energiewende und Effizienzsteigerung sind zen-
        trale Punkte der politischen Agenda in den kommenden
        Jahren. Wir müssen die Weichen für die Energiewende
        so stellen, dass sowohl wirtschaftliche als auch soziale
        Aspekte einfließen. Die christlich-liberale Koalition
        fährt mit Augenmaß und wirtschaftlichem Sachverstand.
        Die Energiewende braucht eine breite Zustimmung in
        der Bevölkerung. Auch dafür arbeiten wir als christlich-
        liberale Koalition.
        Der vorliegende Antrag der Grünen lässt das entwe-
        der vermissen oder beschreibt Maßnahmen, die wir be-
        reits umsetzen. Die Grünen wollen mit ihrer Regelungs-
        wut ideologische Forderungen zulasten von Mietern,
        Vermietern und Eigenheimbesitzern durchsetzen.
        Sie fordern mehr Transparenz und wollen an der Aus-
        gestaltung des Energieausweises herumfuhrwerken. Da-
        für haben wir schon sehr gute und strenge Regeln. Schon
        jetzt muss der Verkäufer auf Verlangen bei einem Eigen-
        tümerwechsel den Energieausweis parat haben. Sie wol-
        len den Energieausweis nun ab 2018 für alle Eigentümer
        zur Pflicht machen und koppeln dies an eine Zwangsbe-
        ratung. Das ist doch nur eine Arbeitsbeschaffungsmaß-
        nahme für Energieberater und Bürokraten. Wir haben
        hier bereits strikte Regeln, und die genügen.
        Die Grünen sollten daran denken, dass das auch je-
        mand kontrollieren muss. Dabei fordern Sie in dem An-
        trag den Abbau von Kontrolldefiziten, und gleichzeitig
        schaffen Sie mehr Kontrollbedarf. Das zeigt doch deut-
        lich, in welche Richtung Ihr Antrag geht: Bevormun-
        dung von Bürgern. Statt mehr Transparenz und Energie-
        einsparung stehen unter dem Strich komplizierte
        Kontrollmechanismen und mehr Bürokratie.
        Bündnis 90/Die Grünen fordern einen Energiespar-
        fonds von 3 Milliarden Euro jährlich. Das klingt beim
        ersten Hören gut. Jedoch scheinen Sie bei den Haus-
        haltsverhandlungen nicht dabei gewesen zu sein. Wir ha-
        ben große Anstrengungen unternommen, um die Mittel,
        die wir bereits bereitstellen, weiterhin bereitzustellen.
        Wir haben die Programme für die energetische Sanie-
        rung fortgeschrieben. 1,5 Milliarden Euro aus dem Ener-
        gie- und Klimafonds stehen nicht nur für 2012, sondern
        auch für 2013 und 2014 wieder für die CO2-Gebäudesa-
        nierung zur Verfügung. Das ist Planungssicherheit.
        Sie fordern mehr und mehr Geld, das Sie in einem
        Fonds von den kleinen Leuten einsammeln wollen. Las-
        sen Sie es bei den Hausbesitzern, damit die in ihr Ei-
        gentum investieren können. Die von SPD und Grünen
        regierten Länder lehnen Sonderabschreibungen für ener-
        getische Sanierungen ab. Auch das würde vielen Priva-
        ten helfen, die energetische Sanierung voranzutreiben.
        Wirken Sie auf Ihre Kollegen in den Ländern ein, damit
        wir hier endlich zu einem positiven Ergebnis kommen.
        Im vorliegenden Antrag fordern die Grünen Mindest-
        anteile für erneuerbare Energien, die gesetzlich festge-
        legt sind und regelmäßig angehoben werden sollen. Was
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012 25923
        (A) (C)
        (D)(B)
        sagen Sie dem Hausbesitzer, der diese Erzeugungsart
        nicht wirtschaftlich nutzen kann? Was sagen Sie ihm,
        wenn er sich das nicht leisten kann? All dies sind Fra-
        gen, die Sie in Ihrem Antrag nicht beantworten.
        Der Antrag der Grünen zeigt eines deutlich: Die Grü-
        nen sind nicht nah am Menschen dran. Die Grünen wol-
        len ideologische Ziele über die Köpfe der Bürger in un-
        serem Land hinweg umsetzen. Sie denken nicht an die
        sozialen Folgen. Es hilft nicht, wenn im Antrag hier und
        da das Wort „sozial“ eingestreut wird. Genaue Angaben
        zur Ausgestaltung des Marktanreizprogrammes und zur
        Umgestaltung des Wohngeldes zu einem Klimawohn-
        geld machen Sie nicht. Es bleibt bei vagen Hinweisen.
        Eine sachliche Fundierung bleiben Sie hier schuldig.
        Lassen Sie mich noch auf einen Detailpunkt einge-
        hen: Die Grünen fordern, dass ab dem Jahr 2015 neue
        Ölheizungen durch Erneuerbare-Energien-Anlagen er-
        setzt werden. Wir halten an unserem Grundsatz fest, dass
        die Akteure selbst die für sie geeigneten Technologien
        auswählen.
        Wir haben als CDU/CSU mit dem Energiekonzept im
        Herbst 2010 die Ziele klar formuliert und werden sie in
        der christlich-liberalen Koalition umsetzen. Wir wollen
        maßvoll fordern und zielgerichtet fördern. Die Einhal-
        tung des Wirtschaftlichkeitsgebotes sorgt für soziale Ge-
        rechtigkeit. Technologieoffenheit in der Anwendung
        sorgt für Wirtschaftlichkeit.
        Wir wissen, dass unsere Ziele 20 Prozent weniger Pri-
        märenergie bis 2020 und 80 Prozent weniger bis 2050
        sehr anspruchsvoll sind. Menschen aber mit überzoge-
        nen Maßnahmen zu verprellen und damit die gesamtge-
        sellschaftliche Akzeptanz für die Energiewende zu ge-
        fährden, ist nicht unser Weg. Wir werden die Bürger vor
        den überzogenen Forderungen der Grünen schützen.
        Ideologische Bevormundung von oben lehnen wir ab.
        Daher ist dieser Antrag für uns nicht tragbar. Wir lehnen
        ihn ab!
        Karl Holmeier (CDU/CSU): Ich denke, wir sind uns
        unter den Baupolitikern aller Fraktionen weitgehend ei-
        nig, dass die energetische Modernisierung des Gebäude-
        bestandes in der Wohnungs- und Städtebaupolitik
        oberste Priorität haben muss. Denn das Einsparpotenzial
        ist hier enorm. Der zur Debatte stehende Antrag betont
        insofern auch zu Recht, dass rund 40 Prozent des gesam-
        ten Energieverbrauchs in Deutschland auf das Heizen
        und Kühlen von Gebäuden entfällt. Dies müssen wir
        dringend ändern. Daher auch mein ständiger Appell:
        Energie, die gar nicht erst verbraucht wird, ist immer
        noch die beste; denn sie braucht erst gar nicht erzeugt zu
        werden. Wir sind uns sicherlich auch darüber einig, dass
        wir hier vor gewaltigen Herausforderungen stehen.
        Wo wir uns aber ganz offensichtlich nicht einig sind,
        ist der Weg, auf dem das gemeinsame Ziel einer signifi-
        kanten Steigerung der Energieeffizienz im Gebäude-
        bestand erreichen wollen. Der Weg, den die christlich-
        liberale Koalition eingeschlagen hat, ist realistisch.
        Der Weg, den die Grünen beschreiten wollen und den
        sie mit dem vorliegenden Antrag untermauern, führt hin-
        gegen in die Irre. Sie wollen eine sozial gerechte und zu-
        gleich wirtschaftliche Bestandssanierung – und dies bei
        einer drastischen Verschärfung der Modernisierungs-
        standards. Hierzu fordern sie natürlich auch wesentlich
        mehr Geld aus dem Bundeshaushalt, obwohl ihnen an
        anderer Stelle die Haushaltskonsolidierung nicht schnell
        genug vorankommt. Meine sehr verehrten Kollegen von
        den Grünen, es ist zwar bald Weihnachten; davon sollten
        Sie sich aber nicht irritieren lassen. Wir sind hier im
        Deutschen Bundestag und nicht bei „Wünsch dir was“.
        Daher zurück zur Realität: Aus meiner und der Sicht
        meiner Fraktion müssen sich die Maßnahmen zur Steige-
        rung der Gebäudeeffizienz an drei wesentlichen Krite-
        rien orientieren:
        Erstens. Sie müssen vom Bundeshaushalt finanzierbar
        sein, ohne die nachfolgenden Generationen zu belasten.
        Zweitens. Sie dürfen die Menschen nicht überfordern,
        das heißt die Standards dürfen nicht zu hoch sein, und es
        darf keinen Sanierungszwang geben. Unsere Maxime
        lautet: Anreiz statt Zwang! Denn wir wollen die Bürge-
        rinnen und Bürger bei den Sanierungsmaßnahmen mit-
        nehmen.
        Und drittens müssen die Maßnahmen so angelegt
        sein, dass die Häuslebauer, Hauseigentümer und Mieter
        in der Lage sind, sich die Modernisierung auch leisten zu
        können.
        Das Energiekonzept der Bundesregierung und die da-
        rauf aufbauenden Maßnahmen folgen diesem Dreiklang.
        Darüber hinaus entwickelt Bundesbauminister Dr. Peter
        Ramsauer zurzeit einen Sanierungsfahrplan für den Ge-
        bäudebestand, der sich ebenfalls an diesen Kriterien
        orientiert.
        Außerdem kommt man auch nicht umhin, die bereits
        auf den Weg gebrachten Maßnahmen der christlich-
        liberalen Koalition anzuerkennen. Was haben wir bisher
        erreicht?
        Erstens. Wir haben beschlossen, das erfolgreiche
        CO2-Gebäudesanierungsprogramm trotz schwieriger
        Haushaltslage von 2012 bis 2014 jeweils mit einem Pro-
        grammvolumen in Höhe von 1,5 Milliarden Euro fortzu-
        setzen. Mit diesem Geld werden zinsverbilligte Kredite
        sowie Zuschüsse für die energetische Gebäudesanierung
        durch die bundeseigene Kreditanstalt für Wiederaufbau,
        KfW, bereitgestellt. Die Höhe der Investitionszuschüsse
        der KfW wurde mit Wirkung vom 1. Januar 2012 auf bis
        zu 20 Prozent der Investitionssumme erhöht. Auch der
        Zuschuss für Einzelmaßnahmen ist von 5 Prozent auf
        7,5 Prozent gestiegen.
        Dieses Programm ist eine klima- und wirtschaftspoli-
        tische Erfolgsgeschichte. Seit dem Jahr 2007 wurden da-
        mit über 1 400 Gebäude der sozialen und kommunalen
        Infrastruktur saniert. Jährlich wurden bis zu 300 000 Ar-
        beitsplätze im Mittelstand und Handwerk gesichert. Der
        Förderhebel öffentlicher Mittel zu privaten Investitionen
        beträgt hier durchschnittlich 1 : 12. Damit ist das CO2-
        Programm ein echter Wirtschaftsmotor. Unser Ziel ist es
        25924 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012
        (A) (C)
        (D)(B)
        daher, dieses Programm kontinuierlich weiterzuentwi-
        ckeln und gegebenfalls auch den Ersatzneubau für Ge-
        bäude der sozialen und kommunalen Infrastruktur zu er-
        gänzen.
        Zweitens. Darüber hinaus gibt es seit Januar ein neues
        KfW-Programm „Energetische Stadtsanierung“, für das
        der Bund 2012 rund 70 Millionen Euro und 2013 sogar
        100 Millionen Euro zur Verfügung stellt. Damit werden
        Maßnahmen zum Quartiersmanagement für die Steige-
        rung der Energieeffizienz vor allem in Altquartieren ge-
        fördert.
        Drittens: Außerdem haben wir als christlich-liberale
        Koalition im Deutschen Bundestag ein Gesetz zur steu-
        erlichen Förderung der energetischen Gebäudesanie-
        rung beschlossen. Hier sind es jedoch die rot-grünen
        Bundesländer, die sich aus der Verantwortung stehlen.
        Wenn es Ihnen, liebe Kollegen von den Grünen, mit der
        Gebäudesanierung wirklich ernst wäre, würden Sie auch
        dort Flagge zeigen und dem Gesetz zustimmen. Statt-
        dessen zeigen Sie nur mit dem Finger auf den Bund und
        wollen ausschließlich ihn die Lasten für die Energie-
        wende im Gebäudebereich tragen lassen. Verantwor-
        tungsvolle Politik und Glaubwürdigkeit sehen anders
        aus!
        Viertens. Auch im Bereich des Mietrechts fördert die
        christlich-liberale Koalition die energetische Gebäude-
        sanierung. Mit unserem Entwurf für ein Mietrechtsände-
        rungsgesetz sorgen wir dafür, dass das Mietrecht unter
        Wahrung seines sozialen Charakters für energetische
        Sanierungen investitionsfreundlicher wird. So sollen
        beispielsweise Mieter künftig für eine Zeit von drei
        Monaten energetische Modernisierungsmaßnahmen dul-
        den müssen, ohne die Miete mindern zu können. Außer-
        dem werden wir mit dem Gesetz Contracting-Modelle
        im Mietwohnungsbereich ermöglichen.
        Insgesamt sind wir also mit unseren Maßnahmen auf
        einem sehr guten Weg zur Schaffung eines klimaneutra-
        len Gebäudebestandes – und zwar ohne Zwang, ohne
        starre und unrealistische Zielvorgaben sowie mit Augen-
        maß und mit Rücksicht auf die nachfolgenden Genera-
        tionen.
        Der Antrag der Grünen erfüllt diese Kriterien leider
        nicht. Er ist ein unseriöses Sammelsurium von Wunsch-
        maßnahmen ohne Bezug zur Realität.
        Michael Groß (SPD): Die Schlagzeilen zum Thema
        Wohnen in den letzten Wochen spiegeln eindeutig die
        Ängste vieler Menschen wider: Aufruhr am Rhein oder
        drastische Mieterhöhungen in Neuperlach. Die Mieten
        steigen in Wachstumsregionen und zumindest die soge-
        nannte zweite Miete in ganz Deutschland. Eine Rentne-
        rin berichtet von zwei Mieterhöhungen in den Jahren
        2008 und 2012 um jeweils 20 Prozent. Mietsteigerungen
        in Ballungszentren von 7 bis 10 Prozent sind keine Selten-
        heit, auch weil zumindest in Ballungsräumen zu wenige
        Wohnungen am Markt sind. Massiv steigende Stromkos-
        ten werden aktuell umgesetzt und weiterhin prognosti-
        ziert, aber auch für die Wärmeerzeugung benötigte Ener-
        gie wird teurer.
        „Stadtluft macht arm“ war in den letzten Wochen zu
        lesen. Legt man die Einkommensentwicklung der letzten
        zehn Jahre und den „Reichtums- und Armutsbericht“ der
        Bundesregierung in seiner nicht zensierten Fassung zu-
        grunde, sind inzwischen viele nicht mehr in der Lage,
        neben den Kosten für das Wohnen und die Mobilität
        große Sprünge zu machen. Circa 30 bis 50 Prozent des
        zur Verfügung stehenden Haushaltseinkommens müssen
        durchschnittlich für das Wohnen aufgebracht werden,
        15 Prozent für die Mobilität bei Fahrten zur Arbeit, zur
        Schule oder zu Freunden und in die Vereine.
        Nachhaltiges politisches Handeln hat den Gleich-
        klang von sozialen, ökonomischen und ökologischen
        Zielsetzungen zur Grundlage. Gesellschaftliche Verwer-
        fungen und ökologischer Nachholbedarf werden nicht
        allein über Wohnungsbaupolitik, Städtebauförderung
        und das Mietrecht zu korrigieren sein. Aber wir müssen
        soziale Trennung und Klimasegregation verhindern.
        Das Mietrecht ist auf keinen Fall der Hebel, um Kli-
        maschutzziele zu erreichen. Das Mietrecht muss in sei-
        ner sozialen Funktion erhalten bleiben. Das Mietrecht ist
        der Ort, um eine soziale Balance zwischen Vermietern
        und Mietern sicherzustellen.
        Investoren müssen dennoch ebenso motiviert wie der
        Mieter vor überhöhten Mieten und Mietsteigerungen ge-
        schützt werden. Die SPD-Fraktion hat dazu einen eige-
        nen Antrag vorgelegt. Wichtig ist, dass bei energetischen
        Gebäudesanierungen der Mieter Energieeinsparungen tat-
        sächlich feststellt und erst dann auch eine erhöhte Miete
        gerechtfertigt ist.
        Auf der Grundlage aller vorliegenden Berechnungs-
        modelle wird der Mieter allerdings nie so viel Heiz- und
        Nebenkosten einsparen können, wie ihn eine Mieter-
        höhung gegebenenfalls mehr belasten wird. Im Rahmen
        einer durchschnittlichen Mietdauer von sieben Jahren
        und bei durchschnittlichen Investitionskosten im durch-
        schnittlichen Wohnungsbestand wird sich eine größere
        Investition für den Mieter nicht amortisieren. Eine Voll-
        sanierung einer 60-Quadratmeter-Wohnung in einem in
        den 60er-Jahren gebauten Haus bedeutet eine Mietstei-
        gerung von 2,50 Euro pro Quadratmeter und damit eine
        um 150 Euro höhere Miete im Monat. Dem steht eine
        Energiekosteneinsparung von etwa 40 Euro gegenüber.
        Um diese große Differenz abzufedern, sind verläss-
        liche und planbare Förderprogramme des Bundes erfor-
        derlich. Die Mieter müssen vor zu hohen Kosten ge-
        schützt werden. Das Wohngeld ist anzupassen und der
        Heizkostenzuschuss wieder einzuführen. Auch diejeni-
        gen, die über wenig Einkommen verfügen oder von
        Transferleistungen leben müssen, dürfen nicht in energe-
        tisch unsanierte Quartiere verdrängt und müssen für das
        eigene Energiesparen belohnt werden.
        Gleichzeitig brauchen Vermieter und Investoren An-
        reize, um die oft nicht wirtschaftlichen Investitionen zu
        tätigen und sich daran zu beteiligen, Energieeffizienz
        und CO2-Reduzierung voranzutreiben. Daher fordern
        wir das energetische Gebäudesanierungsprogramm mit
        2 Milliarden Euro im Haushalt fest zu verankern – ver-
        lässlich und planbar!
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012 25925
        (A) (C)
        (D)(B)
        Eine weitere Verschärfung des Ordnungsrechts im
        Rahmen der Novellierung der Energieeinsparverordnung
        2009 für den Bestand lehnt die SPD-Fraktion ab. Bereits
        jetzt sind Wohnungswirtschaft, Eigentümer und Mieter
        mit der Erfüllung der Anforderungen durch die beste-
        henden Standards im Bestand an die wirtschaftliche und
        finanzielle Belastungsgrenze gekommen. Vor diesem Hin-
        tergrund weise ich darauf hin, dass es auf einen ganz-
        heitlichen, technologieoffenen und quartiersbezogenen
        Ansatz ankommt. Das Ziel kann nicht heißen, das letzte
        Quäntchen aus den Gebäuden herauspressen, um für viel
        Geld noch ein Minimum an CO2-Einsparung zu generie-
        ren. Es ist wesentlich sinnvoller, die effizientesten Maß-
        nahmen mit der Versorgung durch regenerative Energien
        zu kombinieren.
        Grundsätzlich stellen sich Fragen an die Datengrund-
        lagen und die Technologien. Die theoretisch berechneten
        Verbräuche für Häuser und Wohnungen vor den Sanie-
        rungen sind höher als der tatsächliche Verbrauch. Aus-
        wertungen nach der energetischen Sanierung ergaben im
        Gegenzug, dass der tatsächliche Verbrauch höher war als
        der vorher rechnerisch kalkulierte Bedarf.
        Es richten sich außerdem noch offene Fragen an die
        Baustoffe hinsichtlich des ökologischen Fußabdrucks in
        Bezug auf Herstellung, Transport, Recycling, Brandge-
        fahren und Gesundheitsgefährdung. Es muss mehr Geld
        in die Forschung und städtebauliche Entwicklung inves-
        tiert werden, damit zielsicher, effizient und effektiv saniert
        werden kann. In einzelnen Städten liegen Erkenntnisse
        vor, dass bereits durch die Optimierung vorhandener
        Technik und kleinerer Maßnahmen 30 Prozent Energie-
        einsparung zu erreichen sind.
        Insgesamt müssen die Kommunen im Bereich der
        Stadtentwicklung und im Wohnungsbau unterstützt wer-
        den, um quartiersbezogene Ansätze gemeinsam mit an-
        deren wichtigen Akteuren vor Ort umzusetzen. Viele
        Städten und Gemeinden sind schon sehr weit. Sie wissen
        am besten über den Wohnungsbestand und die Leis-
        tungsfähigkeit der Vermieter und Mieter Bescheid. Sie
        müssen und können sich umsetzbare Ziele setzen. Neben
        der Energieeinsparung geht es aber auch um das soziale
        Leben, den altersgerechten Umbau, Barrierearmut und
        Inklusion. Jeder Euro kann nur einmal ausgegeben wer-
        den, und Immobilien und ihr Umfeld müssen aus wirt-
        schaftlichen Gesichtspunkten umfassend entwickelt wer-
        den. Deshalb wollen wir die energetische Stadtsanierung
        in die Städtebauförderung integrieren und diejenigen be-
        lohnen, die sich auf einen abgestimmten, realistischen
        Pfad einlassen. Einen großen Beitrag zur Energieeffi-
        zienz und CO2-Reduzierung kann und muss darüber hi-
        naus die dezentrale Energiegewinnung, -speicherung und
        -versorgung leisten.
        Wohnen ist Daseinsvorsorge. Die Menschen wollen
        bezahlbar wohnen und in den Städten und Gemeinden
        gut leben. Das ist die Aufgabe, der sich die SPD-Bun-
        destagsfraktion stellt. Wir werden ein Leitprogramm
        „Soziale Stadt“ mit einer wesentlich verbesserte Mittel-
        ausstattung und einem vernünftigen ressortübergreifen-
        den Ansatz weiterentwickeln sowie die Städtebauförde-
        rung mit mindestens 700 Millionen Euro verlässlich
        finanzieren und das Programm „Altersgerecht Um-
        bauen“ wieder in den Bundeshaushalt integrieren. Die
        Bezuschussungskomponente für diese Maßnahmen muss
        hier wieder enthalten sein. Die zweckgebundene soziale
        Wohnraumförderung ist auf dem jetzigen Niveau zu ver-
        stetigen und als Kompensationszahlung des Bundes bis
        2019 fortzuführen.
        Sebastian Körber (FDP): Die heutige Debatte ver-
        danken wir einem langen Antrag der Grünen zur Ener-
        giewende im Gebäudebereich, von dem die Grünen
        selbst salbungsvoll im Titel behaupten, er wäre „sozial
        gerecht, umweltfreundlich, wirtschaftlich und zukunfts-
        weisend“.
        Sie behaupten darin unter anderem: „In allen Berei-
        chen gibt es gravierende Defizite und falsche Weichen-
        stellungen durch die Bundesregierung“. Also, liebe Kol-
        legen der Grünen, die einzigen Defizite befinden sich in
        Ihrer ideologischen Wahrnehmung und vor allem in Ih-
        rem Gedächtnis. Die Wahrheit ist: Wir stehen heute hier,
        weil diese Regierung nicht wie Sie nur geredet, sondern
        gehandelt hat, weil Schwarz-Gelb die Energiewende ein-
        geleitet hat und nicht Sie – und daran haben Sie bei den
        Grünen auch bis heute zu kämpfen.
        In dieser andauernden Sinnkrise ist Ihr Ansatz, um die
        Energiewende im Gebäudebereich „zukunftsweisend
        umzusetzen“, lediglich immer mehr Geld, Bürokratie
        und Überwachung. Das ist nicht „zukunftsweisend“,
        sondern selbst für grüne Verhältnisse mehr als rück-
        schrittlich.
        Besonders lächerlich wird es, wenn Sie am Anfang
        zunächst der Bundesregierung fehlendes Handeln und
        fehlende Konzepte vorwerfen und dann im Zuge des An-
        trags seitenweise auf die zahlreichen Initiativen dieser
        Regierung im Gebäudebereich kleinlaut eingehen und
        daran rumnörgeln. Wer hat also gehandelt und auch die
        Energiewende im Gebäudebereich voran-getrieben?
        Diese schwarz-gelbe Koalition!
        Sie wollen sich vor den Wahlen schnell den Mantel
        der bürgerlichen Mitte umhängen; in Wirklichkeit täu-
        schen Sie die Menschen: Sie sind nicht bürgerlich; Sie
        wollen den Einstieg in den ökologischen Überwachungs-
        staat – kaum ein Absatz in Ihrem Antrag ohne die Zu-
        sätze „verpflichtend“, „verbindlich“, „vorschreiben“,
        „Verschärfung“, „Kontrolle“, – und das lehnen wir ent-
        schieden ab.
        Aber der Gipfel ist: Sie betreiben die dreisteste,
        schlimmste Blockadepolitik im Bundesrat seit Lafontaine/
        Schröder in den 90er-Jahren – im Bundestag immer mehr
        fordern und im Bundesrat alles blockieren! Und Sie wa-
        gen es, sich hier treuherzig hinzustellen und in diesen
        Antrag zu schreiben: „Hinzu kommt, dass die Verhand-
        lungen über den Steuerbonus für energetische Gebäude-
        sanierungen von der Bundesregierung ausgebremst und
        verzögert werden.“ Das ist ja geradezu grotesk. Wem wol-
        len Sie denn das ernsthaft erzählen? Sie wissen es natür-
        lich selbst besser.
        Seit einem Jahr blockieren Sie zusammen mit der SPD,
        vorneweg Herr Kretschmann und Frau Kraft – die SPD-
        25926 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012
        (A) (C)
        (D)(B)
        „Reserve-Kanzlerkandidatin“ der Herzen, falls Herrn
        Steinbrück die Luft endgültig ausgeht. Da weiß Deutsch-
        land, was ihm blüht, wenn nächstes Jahr Rot-Grün regie-
        ren sollte.
        Sie nehmen mit Ihrer Blockade alle Eigentümer und
        Hausbesitzer in Deutschland in steuerpolitische „Geisel-
        haft“. Ich fordere alle Hausbesitzer und Eigentümer auf,
        Protestschreiben und Protest-E-Mails an Rot-Grün zu
        schicken – insbesondere an Frau Kraft in Düsseldorf und
        Herrn Kretschmann in Stuttgart – dessen grüner Infra-
        strukturminister Hermann laut Bild gerade 200 000 Euro
        in Teekücheninfrastruktur investiert; das zeigt, wie „gut“
        Sie mit Steuergeld umgehen können.
        Konzentrieren wir uns also auf die Fakten und nicht
        auf grüne Wunschträume:
        Auch in den Jahren 2013 und 2014 werden im Ener-
        gie- und Klimafonds Programmmittel von jährlich
        1,5 Milliarden Euro für das CO2-Gebäudesanierungspro-
        gramm zur Verfügung stehen. Mit dem erfolgreichen
        CO2-Gebäudesanierungsprogramm unterstützt die Bun-
        desregierung bereits die Kommunen finanziell bei der
        Finanzierung von energetischen Sanierungsmaßnahmen
        bei Gebäuden der kommunalen Infrastruktur.
        Zusätzlich werden mit dem von uns initiierten KfW-
        Programm „Energetische Stadtsanierung“ umfassende
        Maßnahmen mit Blick auf die Energieeffizienz und die
        Infrastruktur im Quartier angestoßen. Wir wollen so er-
        neuerbaren Energien breitere Einsatzmöglichkeiten in
        innerstädtischen Altbauquartieren bieten, weitere Inves-
        torengruppen in den Sanierungsprozess einbeziehen so-
        wie Energieeinsparung und Baukultur besser in Einklang
        bringen. Wieder so ein Fall: Sie lamentieren, wir würden
        nichts tun; ja, wer hat es denn eingeführt? Union und
        FDP!
        Übrigens: Alle Vorschläge zur Begrenzung des
        Mietanstiegs, die ich von Ihnen höre, gehen einseitig zu-
        lasten des Vermieters und sind ungeeignet, Mietsteige-
        rungen zu vermeiden und bezahlbaren Wohnraum zu er-
        halten. Vielmehr besteht die Gefahr der Verstetigung von
        Wohnraumknappheiten, wenn sich die Investitionsbedin-
        gungen für den Mietwohnungsbau verschlechtern. Der
        beste Mieterschutz ist, für ausreichend bezahlbaren
        Wohnraum zu sorgen.
        Wir müssen die energetische Modernisierung des Ge-
        bäudebestandes stärker vorantreiben – aber nicht mit der
        „Zwangskeule“, sondern nach dem Motto „Unterstützen
        statt überfordern“. Die steuerliche Förderung von ener-
        getischen Modernisierungsmaßnahmen im Gebäudebe-
        stand ist zwingend. Wir werden Ihnen das so lange hier
        vorhalten, bis Sie Ihre Blockade aufgeben. Der Gebäu-
        debereich wird entscheidend zum Gelingen der Energie-
        wende beitragen. Union und FDP setzen – im Gegensatz
        zu den Grünen – die richtigen Rahmenbedingungen
        durch Planungssicherheit für gewerbliche Investoren
        und private Haushalte.
        Heidrun Bluhm (DIE LINKE): Der verantwortungs-
        volle Umgang mit unserer Umwelt, dem Klima und mit
        den begrenzten Ressourcen der Erde ist unsere Pflicht
        und unsere Schuldigkeit gegenüber unseren Kindern,
        Enkeln und deren Kindern. Er ist zugleich eine hoch-
        aktuelle, dringende Tagesaufgabe, weil schon viel zu
        viel Zeit ungenutzt verstrichen ist und die Zeichen der
        „menschgemachten“ Klimakatastrophe unübersehbar ge-
        worden sind.
        Die Linke bekennt sich programmatisch zu den inter-
        nationalen Klimaschutzzielen und fordert von der Bun-
        desregierung, ihre verbalen Verpflichtungen mit aktivem
        politischem Handeln dauerhaft und verlässlich zu unter-
        setzen. Wir unterstützen parlamentarische Initiativen,
        die die Erreichung der international vereinbarten Klima-
        ziele fördern wollen, wie der hier vorliegende Antrag
        von Bündnis 90/Die GRÜNEN.
        Wir sagen aber auch: Ohne breite Akzeptanz in der
        Bevölkerung, ohne soziale Gerechtigkeit sind solche
        parlamentarischen Aktionen nicht tragfähig und werden
        daher unwirksam bleiben. Der Antrag führt zwar die
        Worte „sozial gerecht“ im Titel, wenn man ihn sich aber
        genauer anschaut, scheint das doch eher ein Feigenblatt
        zu sein in einem Wust von technischen, ordnungsrecht-
        lichen Forderungen und Regelungsvorschlägen. So rich-
        tig und berechtigt die Forderungen in ihrer Zielsetzung
        auch sein mögen, sie werden unerfüllbar bleiben, wenn sie
        den Betroffenen – das sind in diesem Falle 81 Millionen
        Bewohnerinnen und Bewohner der Bundesrepublik –
        von „oben“ übergestülpt werden, ohne dass die sozialen
        Interessen aller Beteiligten ausgewogen berücksichtigt
        werden.
        Um es konkret zu machen: In keinem anderen Be-
        reich sind die Wohnkosten so schmerzhaft gestiegen wie
        bei den Kosten für Heizung, Strom und warmes Wasser.
        Die energiepolitische Wende ist daher schlicht auch not-
        wendig, um den Anteil der Wohnkosten an den Haus-
        haltseinkommen überhaupt noch schultern zu können
        – übrigens nicht nur der Mieterinnen und Mieter, son-
        dern auch sehr vieler Eigenheimbesitzer, für die ihr
        Häuschen aus der gedachten Altersvorsorge zu einem
        Armutsrisiko wird.
        Umsonst ist die Energiewende im Gebäudebestand
        nicht zu haben. Das wissen und akzeptieren wir. Wir ak-
        zeptieren daher auch, dass neben dem Staat und den
        Wohnungseigentümern auch die Mieterinnen und Mieter,
        die das wirtschaftlich tragen können, an den Kosten der
        Klimainvestitionen zu beteiligen sind. Um es mit dem
        DMB auszudrücken: „Die Mehrzahl der Mieter ist nicht
        arm. Aber die Menschen in den unteren Einkommens-
        gruppen sind fast ausschließlich Mieterinnen und Mieter.“
        Die Folgerung aus dieser These darf aber nicht sein –
        wie man das gelegentlich aus der anderen Richtung der
        Wohnungswirtschaft hört –, dass man einen gewissen
        Teil unsanierten und damit angeblich preiswerten Wohn-
        raums für diesen Bevölkerungsteil vorhalten müsse. Die
        Forderung, man solle nicht „preiswerten Wohnraum
        wegsanieren“ ist nicht nur zynisch, sie ist auch wirt-
        schafts- und erst recht sozialpolitisch völlig inakzepta-
        bel.
        In den energetisch unsanierten Gebäuden wohnen die
        meisten Menschen mit niedrigen Einkommen. Wenn die
        Heiz- und Warmwasserkosten dort aufgrund steigender
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012 25927
        (A) (C)
        (D)(B)
        Energiepreise das Niveau der Nettokaltmieten erreichen,
        dann sind es die Einkommensschwächsten, die die
        höchsten Rechnungen für eine unterlassene energetische
        Ertüchtigung zahlen müssen. Die energetische Wende
        kann nicht gelingen, wenn Menschen auf diese Weise
        ausgegrenzt werden oder wenn die Kosten von Moderni-
        sierungsmaßnahmen zu Armutsrisiken oder zu sozialer
        Spaltung in den Städten und Wohnquartieren führen. Ge-
        rade deshalb müssen alle Maßnahmen für einen konse-
        quenten Klimaschutz sehr ernsthaft mit flankierenden
        sozialen Maßnahmen verbunden werden. Die energeti-
        schen Sanierungsmaßnahmen sind in dem notwendigen
        und rechtsverbindlich vorgegebenen Rahmen ohne mas-
        sive staatliche Beteiligung völlig undenkbar.
        Schon deshalb müssen Fördermaßnahmen nicht allein
        an ihrem finanziellen Umfang bemessen werden, son-
        dern an ihren Wirkungen. Staatliche Förderung energeti-
        scher Sanierung muss in erster Linie an den erzielten
        Energieeinsparungseffekten orientiert sein, nicht an den
        Investitionskosten. Das heißt: Besonders effiziente ener-
        getische Sanierung muss auch besonders intensiv geför-
        dert werden. Die Forderung nach der Wirtschaftlichkeit
        energetischer Sanierungsmaßnahmen muss für beide
        Seiten, für Vermieter und Mieter, gelten. Das heißt, vor-
        rangig solche Maßnahmen zu fördern, die die beste Kos-
        ten-Nutzen-Relation nachweisen.
        Warmmietenneutralität ist in der Regel nicht ohne öf-
        fentliche Förderung möglich. Das heißt: Was der Mieter
        bei der durch die Modernisierungsumlage steigenden
        Kaltmiete nicht aus Energiekostenersparnis „erwirt-
        schaften“ kann, muss durch öffentliche Förderung aufge-
        fangen werden. Wir unterstützen deshalb auch die – in
        diesem vorgelegten Antrag enthaltene – Forderung des
        Deutschen Mieterbundes nach Einführung eines „Klima-
        wohngeldes“, also einer zusätzlichen Kategorie im
        Wohngeld, die es berücksichtigt, wenn aufgrund einer
        energetischen Sanierung die Miete höher ist als ohne
        diese Sanierungsmaßnahme.
        Unterm Strich: Politik kann genaue Gesetze, Verord-
        nungen, Durchführungsbestimmungen, Regeln und Aus-
        nahmebestimmungen erlassen. Aber bei allem gilt: Jedes
        mit Gesetzen, Verordnungen usw. fixierte Ziel wird nur
        erreicht werden, wenn ihm eine adäquate Finanzausstat-
        tung zugrunde gelegt wird. Vermieter werden ihre Inves-
        titionsentscheidungen nicht von internationalen Klima-
        schutzzielen abhängig machen, sondern von der zu
        erzielenden Rendite an ihrem konkreten Investitions-
        standort. Mindestens aber wollen sie nicht draufzahlen.
        Mieter haben nicht plötzlich mehr Einkommen zur Ver-
        fügung, weil eine neue Energieeinsparverordnung in
        Kraft tritt. Nur die Politik, der Staat, kein anderer Betei-
        ligter kann diesen Interessenkonflikt wenn schon nicht
        auflösen, dann doch wenigstens ausgleichen. Dazu muss
        er aber zuallererst die soziale Dimension des Klima-
        schutzes im Auge haben und darf Förderung nicht nach
        Kassenlage, an Umfragewerten oder an Lobbyinteressen
        ausrichten. Wenn die finanzielle Ausstattung der Förder-
        programme einschließlich des EKF sich an den selbstge-
        steckten Klimaschutzzielen orientiert und der Einsatz
        der Fördermittel sich ausschließlich am Grad der erziel-
        ten Steigerung der Energieeffizienz ausrichtet, dann
        kann – und das muss es auch unter Klimaschutzerforder-
        nissen – Wohnen in Deutschland auf Dauer bezahlbar
        bleiben.
        Daniela Wagner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        Deutschland hat sich international verpflichtet, den Aus-
        stoß von Klimagasen hierzulande um mindestens 40 Pro-
        zent bis 2020 und um 95 Prozent bis 2050 zu senken.
        Dennoch ist die Bundesregierung anscheinend in einem
        Winterschlaf gefangen. Ausreichende Förderung der
        energetischen Gebäudesanierung? Steuerliche Förderung
        der energetischen Gebäudesanierung? Mietrechtsnovelle?
        Baugesetzbuchnovelle? Soziale Wohnraumförderung?
        Städtebauförderung? Fehlanzeige! Zielführende Politik
        sieht so nicht aus.
        In der Summe führen die Defizite und Fehlsteuerun-
        gen bei der Gebäudesanierung dazu, dass Deutschland
        das EU-Einsparziel von 20 Prozent bis 2020 weit verfeh-
        len wird. Die Bundesregierung hat nach Brüssel gemel-
        det, dass bis 2020 der Energieverbrauch gegenüber 2008
        um lediglich 12,8 Prozent gesenkt werden könne. Damit
        fällt Deutschland deutlich hinter Länder wie Frankreich
        oder Spanien zurück.
        In ihrem eigenen Energiekonzept hat die Bundesre-
        gierung eine Senkung um 20 Prozent des Primärenergie-
        verbrauchs für den gleichen Zeitraum beschlossen. Eine
        Gesamtstrategie für die Energiewende im Gebäude-
        bereich ist dringend notwendig, sollen die Klimaschutz-
        ziele erreicht, die ökonomischen Potenziale erschlossen
        und die Sozialverträglichkeit gesichert werden. Die Bun-
        desregierung muss endlich eine konsistente Strategie für
        die sozialverträgliche Sanierung des Gebäudebestands
        mit dem Ziel eines klimaneutralen Gebäudebestands bis
        2050 entwickeln und konsequent verfolgen, wenn sie die
        Klimaziele erreichen will.
        Wir Grüne haben ein Maßnahmenpaket mit mehreren
        Aktionsbereichen vorgeschlagen. Im ersten Aktionsbe-
        reich ist dringend mehr Transparenz hinsichtlich des
        energetischen Standards von Gebäuden und Wohnungen
        herzustellen. Wir Grüne schlagen daher vor, die Energie-
        ausweise für Gebäude zu vereinheitlichen und auf den
        Bedarfsausweis zu beschränken, der den Energiebedarf
        des Gebäudes unabhängig vom Nutzerverhalten dar-
        stellt. Der Bedarfsausweis ist in seiner heutigen Form
        konzeptionell zu überarbeiten, zu erweitern und verbrau-
        cherfreundlicher und aussagekräftiger zu gestalten. Dazu
        sollte er auf sicheren, nachvollziehbaren und überprüf-
        baren Berechnungen basieren und zum Beispiel um die
        Angabe des Energieverbrauchs der letzten Verbrauchs-
        abrechnungen ergänzt werden.
        Der Bedarfsausweis sollte verpflichtend an eine Vor-
        Ort-Energieberatung geknüpft sowie um einen individu-
        ellen Modernisierungsfahrplan mit konkreten Moderni-
        sierungsempfehlungen für die Eigentümer ergänzt wer-
        den. Dieser Ausweis sollte bei Immobilieninseraten,
        Eigentümerwechsel, EnEV-relevanten Sanierungen so-
        wie zur Beantragung von Fördergeldern verpflichtend
        vorgeschrieben werden. Es sollte verbindlich vorge-
        schrieben werden, dass der Ausweis ab 2015 bei neuen
        25928 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012
        (A) (C)
        (D)(B)
        Vermietungen und ab 2018 für alle Gebäude an Mieter
        ausgehändigt werden muss.
        Für die schrittweise Einführung des neuen Bedarfs-
        ausweises sollten entsprechend Fördermittel bereitge-
        stellt werden, wobei diejenigen, die früh aktiv werden,
        besonders von der Unterstützung profitieren sollen.
        Wir fordern die Bundesregierung auf, die mithilfe der
        Bedarfsausweise ermittelten energetischen Kennzahlen
        unter Wahrung datenschutzrechtlicher Bestimmungen in
        einer Datenbank zu sammeln, um sukzessive den ener-
        getischen Zustand des Gebäudebestands zu erfassen und
        ein Monitoring zu ermöglichen. Diese Datenbank kann
        auch von Kommunen genutzt werden, etwa um Moder-
        nisierungsmaßnahmen zu planen oder ökologische Miet-
        spiegel, die den energetischen Zustand der Gebäude ent-
        halten, zu erstellen.
        Im zweiten Aktionsbereich sollten die Mindeststan-
        dards für die energetische Modernisierung angehoben
        werden. Der derzeit gültige Energiestandard von 90 bis
        100 Kilowattstunden Energiebedarf für Wärme und
        Kühlung, Kilowattstunden pro Quadtratmeter und Jahr,
        soll bei Sanierung bis 2020 schrittweise auf 70 Kilowatt-
        stunden angehoben werden – 7-Liter-Haus.
        Bevor Sie jetzt wieder mit Zwangssanierung kom-
        men: Dieser Standard muss nur eingehalten werden
        – wie bereits heute in EnEG und EnEV vorgesehen –,
        wenn überhaupt saniert wird und die Sanierung wirt-
        schaftlich darstellbar ist. Die Umstellung auf erneuer-
        bare Energien bei der Einhaltung der Mindeststandards
        sollte mit Energieeffizienzmaßnahmen gekoppelt wer-
        den. Maßnahmen der energetischen Quartierssanierung
        sind leichter anzuerkennen, sofern diese mit Energieeffi-
        zienzmaßnahmen am einzelnen Gebäude einhergehen.
        Hinsichtlich des Erhalts von Baukultur sagen wir,
        dass Ausnahmeregeln für denkmalgeschützte Gebäude
        sowie für städtebaulich oder architektonisch besonders
        erhaltenswerte Gebäude weiterhin vorzusehen sind.
        Soweit es ihre städtebauliche Bedeutung zulässt, sol-
        len bei der Sanierung ökologische Ziele berücksichtigt
        werden; Ausnahmetatbestände für Bestandsgebäude, die
        nicht unter Denkmalschutz stehen oder als baukulturell
        erhaltenswerte Gebäude gelten, wollen wir auf den Prüf-
        stand stellen.
        Klar ist: Die Verschärfung der EnEV-Standards ist mit
        der gleichzeitigen Bereitstellung ausreichender Förder-
        mittel zu flankieren, um einen Modernisierungsstau zu
        vermeiden. Auch ist mittelfristig die Wirtschaftlichkeits-
        definition im Energieeinsparungsgesetz, EnEG, zu über-
        arbeiten, sodass die Anforderungen der EU-Gebäude-
        richtlinie zur Berechnung kostenoptimaler Niveaus
        berücksichtigt werden.
        Im dritten Aktionsbereich ist akut die Förderung des
        Energiesparens und der Effizienz neu auszurichten. Wir
        Grünen wollen die finanzielle Ausstattung der Förder-
        programme zur Gebäudemodernisierung auf 2 Milliar-
        den Euro per anno anheben, auf diesem Niveau versteti-
        gen und wieder in den Bundeshaushalt überführen. Die
        unsichere Finanzierung der CO2-Gebäudesanierungspro-
        gramme der KfW über den Energie- und Klimafonds
        bringen uns nicht weiter.
        Weiterhin ist ein neuer Energiesparfonds mit einem
        Finanzvolumen von 3 Milliarden Euro jährlich aufzule-
        gen sowie zu einer zielgerichteten und dauerhaften Effi-
        zienzinitiative auszubauen.
        Der Fonds soll dazu beitragen, den Strom- und Wär-
        meverbrauch zu senken und folgende Förderprogramme
        umfassen: Energieberatung und Informationen verbes-
        sern und die Erstellung von Energiebedarfsausweisen für
        jedes Wohngebäude fördern; energetische Modernisie-
        rung insbesondere in Wohnquartieren mit hohem Anteil
        einkommensschwacher und investitionsschwacher Haus-
        halte erhöhen; Stromeffizienz besonders sparsamer
        strombetriebener Geräte fördern, insbesondere in ein-
        kommensschwachen Haushalten; weitere Fondsmittel
        sollen für die Modernisierung öffentlicher Gebäude so-
        wie für die Einführung eines Klimawohngeldes zur Ver-
        fügung stehen, mit dem soziale Härten im Zuge der Mo-
        dernisierung verhindert werden. Zusätzlich ist eine
        steuerliche Förderung der energetischen Modernisierung
        so auszugestalten, dass sie sozial gerecht ist, einen zu-
        sätzlichen Modernisierungsanreiz für selbstnutzende Ei-
        gentümerinnen und Eigentümer darstellt, den Klimazie-
        len gerecht wird und die bestehenden CO2-Gebäude-
        modernisierungsprogramme der KfW sowie den grünen
        Energiesparfonds ergänzt.
        Auch sollte sich die Bundesregierung dafür einzuset-
        zen, dass auch zukünftig aus dem Europäischen Fonds
        für regionale Entwicklung, EFRE, die Steigerung von
        Energieeffizienz und erneuerbaren Energien im Woh-
        nungsbestand förderfähig bleibt und die Begrenzung der
        Höchstsumme von 4 Prozent der nationalen EFRE-Mit-
        tel in eine Mindestsumme umgewandelt wird.
        Der vierte Aktionsbereich zielt darauf, endlich die
        Nutzung erneuerbarer Wärme voranzutreiben. Hierzu
        sollte die Bundesregierung das EEWärmeG über Neu-
        bauten hinaus auf den Gebäudebestand sowie auf öffent-
        liche Gebäude ausweiten. Die gesetzliche Verpflichtung
        zum Einsatz erneuerbarer Energien muss entsprechend
        beim Neubau sowie bei Modernisierungen und Aus-
        tausch bestehender Heizungsanlagen greifen.
        In den gesetzlichen Standard für den Einsatz erneuer-
        barer Energien ist ein Deckungsanteil von 20 Prozent bei
        Neubauten und 10 Prozent bei Bestandsbauten am jährli-
        chen Wärmebedarf festzuschreiben. Der Standard wird
        entsprechend der Marktentwicklung regelmäßig angeho-
        ben. Dazu ist im Gesetz alle fünf Jahre eine Steigerung
        um 10 Prozent bei Neubauten und 5 Prozent bei Altbau-
        ten vorzusehen;
        Es sollten jene Gebäude von der gesetzlichen Pflicht
        befreit werden, die die jeweils gültigen Bestimmungen
        der Energieeinsparverordnung um mindestens 50 Pro-
        zent übererfüllen, sowie sporadisch genutzte Gebäude
        und Gebäude mit einer Nutzfläche von unter 50 Quadrat-
        metern.
        In dem Gesetz sollte die maximale CO2-Reduktion in
        den Mittelpunkt gestellt werden und deshalb eine Ver-
        drängung neuer Ölheizungen ab dem Jahr 2015 durch
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012 25929
        (A) (C)
        (D)(B)
        Erneuerbare-Energien-Anlagen als Ziel gesetzt werden.
        Dies ist bei der Ausgestaltung der Förderrichtlinien zu
        beachten.
        Die Erschwernisse einkommensschwacher Haushalte
        und investitionsschwacher Eigentümerinnen und Eigen-
        tümer sind in dem Marktanreizprogramm für erneuerbare
        Energien, MAP, stärker zu berücksichtigen.
        Begleitend zum EEWärmeG sollte die Förderung der
        saisonalen Wärmespeicherung und des Ausbaus der Wär-
        menetze mit besonderem Augenmerk auf Nahwärmenetze
        ausgedehnt werden. Auch ist parallel zum EEWärmeG
        das Mietrecht so zu ergänzen, dass die Umstellung auf er-
        neuerbare Wärme mit Maßnahmen zur Effizienzsteige-
        rung einhergeht.
        Im fünften Aktionsbereich sollten die energetische
        Sanierung des Gebäudebestands wohnungspolitisch und
        mietrechtlich unterstützt sowie die soziale Entmischung
        in unseren Städten aufgehalten werden. Daher sollte die
        Bundesregierung im Rahmen der aktuellen Mietrechts-
        novelle die Modernisierungsumlage auf 9 Prozent absen-
        ken und auf die energetische Modernisierung sowie den
        altersgerechten bzw. barrierefreien Umbau konzentrie-
        ren.
        Die Bundesregierung sollte zusätzlich die Aufnahme
        der energetischen Gebäudebeschaffenheit in die ortsübli-
        che Vergleichsmiete stärker unterstützen. Wichtig wäre
        es, festzulegen, dass durch energetische Modernisierun-
        gen Primär- und Endenergie eingespart wird, damit
        Mieterhöhungen durch Heizkostenersparnisse refinan-
        ziert werden können. Ergänzend hierzu sollten energeti-
        sche Modernisierungen gegenüber anderen Modernisie-
        rungsmaßnahmen bei den Duldungsbestimmungen privi-
        legiert werden.
        Weiterhin wäre es zielführend, das Bürgerliche Ge-
        setzbuch, Mietrecht, Baugesetzbuch und Wirtschafts-
        strafgesetzbuch entsprechend den Anträgen auf den
        Drucksachen 17/7983 und 17/10120 zu ändern und wei-
        terzuentwickeln.
        Den Ländern ist endlich ein ernsthaftes und annehm-
        bares Angebot zu unterbreiten, das eine Verstetigung der
        Finanzhilfen nach Art. 143 c des Grundgesetzes für die
        soziale Wohnraumförderung bis zum 31. Dezember
        2019 zweckgebunden vorsieht.
        Sie haben den Heizkostenzuschuss im Wohngeld ab-
        geschafft. Das wäre nur sinnvoll gewesen, wenn Sie ihn
        schrittweise in einen Klimazuschuss als Bestandteil des
        Wohngeldes weiterentwickelt hätten.
        Das Wohngeld ist endlich bedarfsgerecht weiterzu-
        führen und zu einem Klimawohngeld weiterzuentwi-
        ckeln. Im Rahmen des Klimawohngeldes wird ein Kli-
        mazuschuss für energetisch sanierte Wohnungen
        eingeführt, um einkommensschwache Haushalte zu un-
        terstützen. Der § 5 des Wirtschaftsstrafgesetzes, WiStG,
        sollte so ausgestaltet werden, dass er auf die bezirks- und
        quartiersspezifischen Entwicklungen der Kommunen
        stärker eingeht und die Wesentlichkeitsgrenze abgrenzt.
        Ergänzend hierzu sind die §§ 142 und 144 – Sanie-
        rungssatzung – sowie 172 – Erhaltungssatzung – des
        Baugesetzbuchs, BauGB, dahin gehend zu ergänzen,
        dass bei der Ausweisung von Sanierungs- und Milieu-
        schutzgebieten die Möglichkeit von Mietobergrenzen
        wieder zugelassen werden können.
        Herr Bundesbauminister, wachen Sie endlich aus Ih-
        rem bau- und wohnungspolitischen Winterschlaf auf!
        Schützen Sie Mieterinnen und Mieter vor steigenden Ne-
        ben- und Heizkosten sowie daraus folgender Energiear-
        mut. Bewahren Sie Immobilienbesitzerinnen und Immo-
        bilienbesitzer vor einer langfristigen kalten Enteignung
        ihrer unsanierten Gebäude über steigende Energiepreise.
        Anlage 8
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
        Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfah-
        rens und zur Stärkung der Gläubigerrechte (Ta-
        gesordnungspunkt 18)
        Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU): Das
        Insolvenzrecht beschäftigt uns in dieser Wahlperiode als
        Daueraufgabe. Nach dem ESUG, das in den vergangenen
        Monaten den ersten Praxistest durchlaufen hat, haben
        wir kürzlich die Entfristung der Regelung zum Über-
        schuldungsbegriff beschlossen, um den Unternehmen an
        dieser Stelle die nötige Rechtssicherheit für die Zukunft
        zu geben.
        Mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Ver-
        kürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens und zur
        Stärkung der Gläubigerrechte greifen wir nun ein Projekt
        aus dem Koalitionsvertrag auf. Eine Vereinbarung über
        eine schnellere Möglichkeit zur privaten Entschuldung
        findet sich hier, allerdings im Kapitel über die Wirt-
        schaftspolitik. Für uns als federführende Rechtspolitiker
        war das zunächst einmal überraschend. Das Anliegen,
        Unternehmen im Fall des Scheiterns ihrer Geschäftsidee
        einen schnelleren Fresh Start zu ermöglichen, ist aber
        auch für die Rechtspolitiker sicher nachvollziehbar. Wir
        haben alle ein Interesse daran, dass immer wieder Men-
        schen mit guten Geschäftsideen ein Wagnis eingehen,
        auch wenn ein Teil von ihnen mit dieser Geschäftsidee
        scheitert. Es ist gut, wenn sie die Chance erhalten, in an-
        gemessener Zeit wieder wirtschaftlich handlungsfähig
        zu werden und etwas Neues zu beginnen.
        Nun legt die Bundesregierung einen Gesetzentwurf
        vor, der sich über diese ursprüngliche Intention hinaus
        nicht nur auf Unternehmer, sondern auf alle privaten
        Schuldner erstreckt. Auch das ist plausibel; denn in der
        Tat ist eine verfassungsmäßig haltbare Abgrenzung zwi-
        schen den einen und anderen Schuldnern sehr problema-
        tisch. Wir wissen außerdem, dass auch unter den priva-
        ten Schuldnern vielfach schicksalhafte Entwicklungen
        wie Arbeitslosigkeit Ursache der Überschuldung sind;
        oft auch Trennung und Scheidung – das möchte ich zwar
        nicht per se als „schicksalhaft“ bezeichnen. Es zeigt sich
        aber, dass die Probleme zumeist nicht in einem allzu
        leichtfertigen Umgang mit Geld liegen, sondern andere,
        oft einmalige Ursachen im Lebensverlauf haben. Oft ge-
        25930 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012
        (A) (C)
        (D)(B)
        hen dem Antrag auf ein privates Insolvenzverfahren und
        Restschuldbefreiung bereits Jahre voraus, in denen der
        Schuldner und gegebenenfalls auch seine Familie sich
        wegen der Schulden sehr stark einschränken müssen –
        mit allen Begleiterscheinungen für die Lebensgestal-
        tung, aber auch Ausweichreaktionen in Richtung
        Schwarzarbeit. Es ist deshalb ein richtiger Ansatz, wenn
        durch eine angemessene Regelung zur Restschuldbefrei-
        ung eine Perspektive für einen Neuanfang geschaffen
        wird.
        Es gibt aber auch die andere Seite: Der Grundsatz
        „pacta sunt servanda“ hat ebenfalls eine hohe Bedeutung
        und verlangt grundsätzlich, dass eingegangene Ver-
        pflichtungen zu erfüllen sind. Beides muss gegeneinan-
        der abgewogen werden. Die Bundesregierung schlägt
        uns hier eine Verkürzung der Wohlverhaltensperiode auf
        drei Jahre vor, wenn im Insolvenzverfahren zumindest
        25 Prozent der Schulden beglichen werden, auf fünf
        Jahre, wenn zumindest die Verfahrenskosten gedeckt
        werden. Die bereits vorliegenden Stellungnahmen zei-
        gen: Das ist den einen nicht weitreichend genug, den an-
        deren geht der damit verbundene Einschnitt in die Posi-
        tion der Gläubiger schon zu weit. Hier muss man gut
        überlegen, ob diese Hürde für alle Fälle sachgerecht ist,
        oder ob es weitere Möglichkeiten der Differenzierung
        geben sollte – etwa dort, wo auch der redliche Schuldner
        bei bestem Willen eine solche Quote nicht erfüllen kann
        oder wo auf der anderen Seite ein beschleunigtes „Frei-
        kaufen“ von leichtsinnig aufgehäuften Konsumschulden
        mit 25 Prozent allzu einfach erscheint.
        Der Ansatz, mit einer bestimmten Mindestquote einen
        Anreiz zu setzen, der zu einem frühzeitigen Insolvenzan-
        trag und unter Umständen auch zu überobligatorischen
        Bemühungen um die Erfüllung einer solchen Quote
        führt, die weit über den heute durchschnittlich erzielten
        Quoten liegt, erscheint jedenfalls zunächst einmal plau-
        sibel, und wir werden das konstruktiv prüfen.
        Das Gesetzgebungsverfahren greift weitere wichtige
        Punkte zur Verbesserung des Restschuldverfahrens auf.
        Eine wichtige Stärkung der Gläubigerrechte liegt darin,
        dass Anträge auf Versagung der Restschuldbefreiung
        künftig nicht mehr nur im Schlusstermin geltend ge-
        macht werden können. Entscheidend ist, dass sie bis da-
        hin zumindest schriftlich vorliegen müssen; bei später
        bekanntwerdenden Gründen ist auch die nachträgliche
        Geltendmachung noch möglich. Ärgerliche Fälle, in de-
        nen auch unredliche Schuldner Restschuldbefreiung er-
        langen konnten, weil die Gläubiger den Aufwand der
        Antragstellung im Schlusstermin scheuten, sind damit
        für die Zukunft ausgeschlossen. Eine Stärkung der Er-
        werbsobliegenheiten des Schuldners im Insolvenzver-
        fahren und seiner Auskunfts- und Mitwirkungspflichten
        erscheinen ebenfalls gerecht und sinnvoll und stärken
        die Rechte der Gläubiger.
        Erklärtes Ziel des Gesetzentwurfs ist außerdem die
        Stärkung des außergerichtlichen Einigungsversuchs.
        Hier leisten die Schuldnerberatungsstellen oft eine sehr
        gute Arbeit, in der neben der Klärung der persönlichen
        Finanzlage auch viel Lebenshilfe geboten wird. Die
        Schuldnerberatungsstellen weisen allerdings darauf hin,
        dass das Ziel einer Stärkung der außergerichtlichen Eini-
        gung durch den Wegfall der gerichtlichen Zustimmungs-
        ersetzung aus ihrer Sicht gefährdet erscheint. Dies und
        die weiteren Vorschläge der sogenannten Stephan-Kom-
        mission sollten wir in den anstehenden Beratungen
        nochmals im Detail prüfen.
        Noch offen ist aus meiner Sicht die Regelung der
        funktionellen Zuständigkeit. Ursprünglich war im Refe-
        rentenentwurf die Übertragung der Verbraucherinsol-
        venz auf die Rechtspfleger vorgesehen, auch als Aus-
        gleich zur Übertragung von Zuständigkeiten auf den
        Richter im ESUG. Dies ist im nun vorliegenden Regie-
        rungsentwurf geändert, ohne dass uns das Ministerium
        dazu eine vertiefte Begründung liefert.
        Der Gesetzentwurf greift weitere Aspekte auf, die zu-
        sammen mit den genannten Änderungen dazu beitragen
        können, Gerechtigkeit und Akzeptanz des Insolvenz-
        und Restschuldbefreiungsverfahrens im privaten Bereich
        zu verbessern. In den anstehenden Beratungen wird es
        unsere Aufgabe sein, für Schuldner und Gläubiger zu
        praktikablen Regelungen zu kommen, die einen ange-
        messenen Ausgleich zwischen den widerstreitenden In-
        teressen ermöglichen.
        Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): Nachdem
        wir im vergangenen Jahr die erste Stufe der Insolvenz-
        rechtsreform – das Gesetz zur weiteren Erleichterung
        von Unternehmen – erfolgreich abgeschlossen haben,
        sprechen wir heute über die zweite Stufe der umfassen-
        den Reform durch die christlich-liberale Koalition.
        Auch wenn der Schwerpunkt der letzten Stufe bei den
        Unternehmen und deren Erhalt im Falle einer Schieflage
        lag und der Schwerpunkt nunmehr bei den Verbrauche-
        rinnen und Verbrauchern liegt, gilt es auch in diesem Ge-
        setzgebungsverfahren, wieder einen angemessenen Aus-
        gleich zwischen den widerstreitenden Interessen zu
        finden. Denn auch im Verbraucherinsolvenzverfahren
        gibt es Gläubiger, die ein berechtigtes Interesse daran
        haben, dass ihre ausstehenden Forderungen beglichen
        werden, und Schuldner, die nicht mehr alle ihre einge-
        gangenen Verbindlichkeiten bedienen können und daher
        auf eine zweite Chance setzen.
        Das geltende Recht enthält bereits einen Weg hin zu
        dieser zweiten Chance, zur Restschuldbefreiung. Dieser
        ist allerdings nicht nur im europäischen Vergleich ver-
        hältnismäßig lang, sondern auch in vielen Fällen nicht
        zielführend gewesen, da die ausstehenden Forderungen
        aufgrund fehlender Anreize für den Schuldner nicht be-
        glichen wurden.
        Der vorliegende Gesetzentwurf greift diese Fehlent-
        wicklung auf und sieht vor, die Dauer des Restschuldbe-
        freiungsverfahrens von sechs auf drei Jahre zu halbieren.
        Allerdings setzt dies voraus, dass die betroffenen Ver-
        braucherinnen und Verbraucher einen Teil ihrer Schul-
        den begleichen, genauer gesagt: 25 Prozent, sowie die
        dazugehörigen Verfahrenskosten.
        Gelingt es dem Schuldner nicht, die Mindestbefriedi-
        gungsquote zu erreichen, so kann er zumindest, sofern er
        die Verfahrenskosten begleicht, die Wohlverhaltensperi-
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012 25931
        (A) (C)
        (D)(B)
        ode auf fünf Jahre verkürzen. Kann der Schuldner nicht
        einmal diese Kosten aufbringen, bleibt es bei der derzei-
        tigen Restschuldbefreiungsdauer von sechs Jahren. Da-
        mit wird deutlich, dass es auch in Zukunft nicht darum
        gehen kann, sich einen „schlanken Fuß“ zu machen. Wer
        eine Vielzahl von Verbindlichkeiten eingeht und diese
        dann nicht mehr begleichen kann, muss bereit sein, hier-
        für einzustehen. Ist er nicht dazu bereit, seine angehäuf-
        ten Verbindlichkeiten zumindest ansatzweise abzutra-
        gen, hat er auch weiterhin die Konsequenzen hierfür zu
        tragen und das Restschuldbefreiungsverfahren in vollem
        Umfang zu durchlaufen. Schließlich ist und bleibt ein
        solches Verhalten kontraproduktiv für alle Beteiligten
        und darf durch den Gesetzgeber nicht auch noch unter-
        stützt werden. Dies gilt es auch im weiteren parlamenta-
        rischen Verfahren nochmals deutlich herauszustellen.
        Das parlamentarische Verfahren sollte aus meiner
        Sicht aber auch dafür genutzt werden, an der einen oder
        anderen Stelle noch Veränderungen am Gesetzentwurf
        zu prüfen. Der Gesetzentwurf enthält zwar bereits einige
        Änderungen, die für eine höhere Effektivität bei der Um-
        setzung der gesetzlichen Vorgaben sorgen sollen. So soll
        beispielsweise zukünftig der außergerichtliche Eini-
        gungsversuch wegfallen, wenn dieser offensichtlich aus-
        sichtslos ist. Allerdings sehe ich durchaus auch noch
        Potenzial für weitere Verfahrensverbesserungen. So hat
        der Bundesrat in seiner Stellungnahme vom 21. Septem-
        ber 2012 angeregt, eine Länderöffnungsklausel in das
        Gesetz mit aufzunehmen. Die Landesregierungen sollen
        ermächtigt werden, das Verbraucherinsolvenzverfahren
        auf Rechtspfleger zu übertragen. Auch der erste Refe-
        rentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz sah
        eine Übertragung der Zuständigkeit für das Verbrau-
        cherinsolvenzverfahren auf die Rechtspfleger vor.
        Dem Rechtspfleger obliegen im Verbraucherinsol-
        venz- und im Restschuldbefreiungsverfahren bereits
        heute umfangreiche Aufgaben. Im Laufe des Verfahrens
        kommt es allerdings zu Zuständigkeitswechseln zwi-
        schen dem Rechtspfleger und dem Richter. Diese könn-
        ten durch eine entsprechende Ermächtigungsnorm für
        die Länder behoben werden. Damit könnte man auch
        den unterschiedlichen personalwirtschaftlichen Belan-
        gen der einzelnen Länder Rechnung tragen. Zudem ist
        ausschließlich die funktionale Zuständigkeit betroffen,
        sodass ein mögliches Auseinanderfallen in den Ländern
        nicht weiter ins Gewicht fallen sollte.
        Auch wenn der Ausgleich widerstreitender Interessen
        nicht immer einfach ist, bietet der heute von der christ-
        lich-liberalen Koalition eingebrachte Gesetzentwurf
        hierfür bereits eine sehr gute Grundlage. Dennoch soll-
        ten wir das anstehende parlamentarische Verfahren dafür
        nutzen, ihn an der einen oder anderen Stelle noch zu ver-
        bessern.
        Sonja Steffen (SPD): Mit der Einführung der Insol-
        venzordnung im Jahr 1999 haben wir auch für natürliche
        Personen einen Weg aus den Schulden eröffnet. Die
        Überschuldung der privaten Haushalte ist immer noch
        ein großes Problem. Mittlerweile melden jedes Jahr
        mehr als 100 000 Privatpersonen Insolvenz an. Die soge-
        nannte Verbraucherinsolvenz ermöglicht es, dass per Ge-
        richtsbeschluss alle Restschulden erlassen werden, wenn
        der Überschuldete sich über mindestens sechs Jahre hin-
        weg an strenge Regeln hält. Diese Zeit bezeichnet man
        als „Wohlverhaltensperiode“ oder „Wohlverhaltens-
        phase“.
        Der nun vorliegende Gesetzentwurf sieht vor, dass
        der Schuldner die Wohlverhaltensperiode von sechs auf
        drei Jahre verkürzen kann. Der Neustart in eine schul-
        denfreie Zukunft soll also wesentlich schneller möglich
        sein. Allerdings nur unter einer Bedingung: Der Schuld-
        ner muss innerhalb dieser drei Jahre mindestens ein
        Viertel seiner Schulden abgetragen und die Verfahrens-
        kosten beglichen haben.
        Die 25-Prozent-Quote, die bei Hinzurechnung der
        Verfahrenskosten auf circa 30 Prozent steigen wird, ist
        wissenschaftlich nicht hinterlegt. In den Zeiten vor der
        Insolvenzordnung gab es eine sogenannte Vergleichs-
        quote von 35 Prozent, die nur in jedem 500. Insolvenz-
        verfahren erreicht werden konnte.
        Die geplante Neuregelung kann daher nur eine Er-
        leichterung für die Fälle sein, in denen eine Erbschaft
        oder Hilfe aus der Verwandtschaft eintritt; denn es ist
        nicht davon auszugehen, dass die Zahl der Insolvenz-
        schuldner mit Restvermögen in der Zwischenzeit gestie-
        gen ist. Nach Einschätzung der gerichtlichen Praxis und
        der Schuldnerberater wird der Großteil der Schuldner
        auch bei Ausschöpfung aller Arbeitsmöglichkeiten und
        eventuell vorhandener Drittmittel nicht in der Lage sein,
        die von Ihnen aufgestellten Tilgungsforderungen zu er-
        füllen. Es ist daher zu befürchten, dass mit der 25-Pro-
        zent-Regelung eine neue Zweiklassengesellschaft der In-
        solvenzschuldner geschaffen wird.
        Es muss außerdem verhindert werden, dass durch die-
        ses sogenannte Anreizsystem Missbrauch hervorgerufen
        wird, zum Beispiel durch die Zunahme von Schwarzar-
        beit. Es kann Ziel der Schuldner werden, rechtzeitig vor
        der Insolvenz die nötige Summe beiseitezuschaffen.
        Aber auch auf legalem Wege wird dazu eingeladen, bei
        knappen finanziellen Mitteln, die für die Begleichung
        der Quote noch reichen, vor der Insolvenz weitere
        Schulden zu machen, in dem Wissen, dass die Gesamt-
        schulden durch die Insolvenz um 75 Prozent reduziert
        werden und bereits nach drei Jahren ein Neustart erfol-
        gen kann.
        Zu Recht haben daher zum Beispiel viele Handwerks-
        betriebe die Sorge, dass sie zukünftig in noch größerem
        Umfang auf ihren Forderungen sitzen bleiben werden.
        Dennoch ist eine verkürzte Verfahrensdauer nicht per
        se abzulehnen. Der Gesetzentwurf bietet die Chance, in
        die Diskussion über die Verfahrenslänge einzusteigen.
        Hier ist zu fragen und zu untersuchen, welche Dauer für
        ein Leben unter dem staatlichen Zwang der Insolvenz
        angemessen ist, welche Anreize tatsächlich notwendig
        sind und wie ein vernünftiger Ausgleich zwischen den
        Interessen von Schuldnern und Gläubigern geschaffen
        werden kann.
        Über die Verkürzung der Restschuldbefreiung hinaus
        will das Bundesjustizministerium mit dieser Reform den
        25932 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012
        (A) (C)
        (D)(B)
        außergerichtlichen Einigungsversuch stärken. Überra-
        schenderweise sieht der Regierungsentwurf im Gegen-
        satz zum Referentenentwurf hierfür vor, „das mittlerweile
        weitgehend bedeutungslose gerichtliche Schuldenberei-
        nigungsplanverfahren abzuschaffen und stattdessen auch
        in den Verbraucherinsolvenzverfahren das bewährte In-
        strument des Insolvenzplans zuzulassen“.
        Mit diesem Vorhaben stoßen Sie nicht nur bei den
        Schuldnerberatern und Verbraucherschützern auf mas-
        sive Kritik; auch der Bundesrat hat hier erhebliche Zwei-
        fel angemeldet.
        Darüber hinaus soll bei offensichtlicher Aussichtslo-
        sigkeit künftig kein außergerichtlicher Einigungsversuch
        mehr unternommen werden müssen. Der Gesetzentwurf
        sieht für die aussichtslosen Fälle eine starre Definition
        vor: Ein Fall ist von vornherein aussichtslos, wenn die
        Gläubiger nur eine Befriedigungsquote von 5 Prozent
        oder darunter zu erwarten haben oder der Schuldner 20
        oder mehr Gläubiger hat.
        Eine derart formale Vorgabe kann dazu führen, dass
        Schuldner automatisch in ein langwieriges Entschul-
        dungsverfahren geführt werden, obwohl die Aussicht auf
        eine außergerichtliche Einigung bestanden hätte. Laut
        Aussage der Verbraucherverbände lag bisher die außer-
        gerichtliche Einigungsquote bei 15 bis 20 Prozent. Dies
        ist auch der professionellen und umfassenden persönli-
        chen Beratungen durch die Schuldnerberatungen zu ver-
        danken.
        Wir müssen aufpassen, dass wir bei dem Versuch, den
        außergerichtlichen Einigungsversuch zu stärken, nicht
        letztlich genau das Gegenteil erreichen und dabei Türen
        nicht auf-, sondern zugeschlagen werden. Insbesondere
        dürfen hier nicht nur die Interessen der öffentlichen
        Haushalte im Vordergrund stehen.
        Die Schuldner- und Insolvenzberatungsstellen leisten
        mit ihren teilweise sehr begrenzten Ressourcen eine sehr
        wichtige und gute Arbeit. Diese zu stärken und finanziell
        besser abzusichern, sollte eines unserer Ziele in diesem
        Gesetzgebungsverfahren sein.
        Als letzten Punkt möchte ich begrüßen, dass im Ge-
        setzentwurf Regelungen zum Schutz von Mitgliedern
        von Wohnungsgenossenschaften aufgenommen wurden.
        Zu dieser Problematik haben den Bundestag bereits viele
        Petitionen von Betroffenen erreicht. Wie die Regelung
        im Einzelnen ausgestaltet wird, werden wir sicher im
        Ausschuss noch diskutieren müssen. Aber ich denke, wir
        sind uns zumindest darin einig, dass der Verlust der
        Wohnung durch ein Verbraucherinsolvenzverfahren eine
        nicht zumutbare Härte darstellt.
        Insgesamt ist festzustellen, dass wir noch ein ganzes
        Stück Arbeit vor uns haben. Aber ich freue mich auf die
        sicherlich konstruktiven Beratungen im Rechtsaus-
        schuss.
        Richard Pitterle (DIE LINKE): Der vorgelegte Ge-
        setzentwurf zur Verkürzung des Restschuldbefreiungs-
        verfahrens und zur Stärkung der Gläubigerrechte zeigt
        eines sehr deutlich: Dieser Bundesregierung fehlt das so-
        ziale Bewusstsein.
        Entsprechend Ihrem Koalitionsvertrag und der Be-
        gründung Ihres Gesetzentwurfs hatten Sie ursprünglich
        nur gescheiterte Selbstständige zu einer Befreiung von
        ihren Schulden verhelfen wollen. Nachdem Sie gemerkt
        hatten, dass Sie eine Beschränkung nur auf diesen Perso-
        nenkreis aus Gründen der Gleichbehandlung rechtlich
        niemals hätten halten konnten, haben Sie den Kreis for-
        mell erweitert. Und so liest sich auch Ihr Entwurf.
        Der Vorschlag, Schuldner, die bereits voll erwerbstä-
        tig sind, durch Aufnahme von Zusatzjobs zu einer Erhö-
        hung ihres Einkommens zu bewegen, geht genauso an
        der Lebenswirklichkeit vorbei wie die Aufforderung, die
        Verwandten anzupumpen. Denn dadurch verringern sich
        keine Schulden, nur die Gläubiger werden ausgetauscht.
        Auch die genannten Quoten sind unrealistisch: Wenn
        mindestens 25 Prozent der Schulden bezahlt sind, kann
        nach drei Jahren die Befreiung von den restlichen Schul-
        den erfolgen. Zwar gibt es keine belastbaren Daten über
        die tatsächlich erzielten Befriedigungsquoten, doch häu-
        fig wird ein Wert von unter 10 Prozent genannt, wie die
        Regierung selbst schreibt. Wenn also nach sechs Jahren
        im Durchschnitt nur 10 Prozent aller Forderungen zu-
        rückgezahlt werden konnten, ist es nicht nachvollzieh-
        bar, wie die Bundesregierung dazu kommt, dass jemand
        zukünftig innerhalb von nur drei Jahren mindestens
        25 Prozent zahlen können soll, um von seinen restlichen
        Schulden befreit zu werden.
        Darüber hinaus sehen wir bei dem außergerichtlichen
        Einigungsversuch noch erheblichen Nachbearbeitungs-
        bedarf. Er wird durch die Streichung des noch im Refe-
        rentenentwurf vorgesehenen gerichtlichen Zustimmungs-
        ersetzungsverfahrens erheblich geschwächt. Denn dann
        könnte beispielsweise bereits eine Minderheit der Gläu-
        biger eine außergerichtliche Einigung verhindern.
        Große Bedenken haben wir ferner bei der beabsichtig-
        ten erheblichen Ausdehnung der von der Restschuldbe-
        freiung ausgenommenen Forderungen – § 302 Nr. 1 InsO.
        Damit würde für viele Schuldner de facto die Möglichkeit
        der Restschuldbefreiung aufgehoben. Beispielsweise er-
        gehen häufig Unterhaltstitel, obwohl das betroffene El-
        ternteil finanziell nicht leistungsfähig ist. Doch das wurde
        nicht geprüft. Der Titel ist aber in der Welt. Nach Jahren
        kann ein Schuldner aber kaum mehr belegen, dass er trotz
        des Unterhaltstitels finanziell leistungsunfähig gewesen
        war. In diesen Fällen würden sich während der Wohlver-
        haltensphase mangels leistbarer Unterhaltszahlungen
        weiter erhebliche Schulden aufbauen, sodass für den Be-
        troffenen eine Befreiung von all seinen Schulden nicht in
        Sicht käme.
        Ähnlich wäre es bei der beabsichtigten Bevorzugung
        der Steuerforderungen. Damit wird wieder das Fis-
        kusprivileg eingeführt, also der Vorrang staatlicher An-
        sprüche gegenüber privaten, das aus guten Gründen vor
        einigen Jahren gestrichen wurde. Steuerschuldnern
        bliebe in der Praxis kaum noch Vermögen, um die For-
        derungen bei ihren nichtstaatlichen Gläubigern zu be-
        friedigen.
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012 25933
        (A) (C)
        (D)(B)
        Der Bundesregierung fehlt der Blick zu den weniger
        Begüterten in diesem Land. Ihr geht es nur um ge-
        scheiterte Selbstständige, die – so haben Sie es in der
        Gesetzesbegründung ja auch geschrieben – der Koali-
        tionsvertrag bei der Verkürzung der Dauer des Rest-
        schuldbefreiungsverfahrens besonders im Blick hat.
        Diese Personengruppe ist häufig in der Lage, durch eine
        neue, oft gut bezahlte Tätigkeit in relativ kurzer Frist ei-
        nen Teil ihrer Schulden zurückzuzahlen. Für sie lohnt es
        sich, 25 Prozent der Forderungen zu zahlen, um die rest-
        lichen 75 Prozent nach drei Jahren loszuwerden. Hier
        lädt die Quote zum Missbrauch ein. Davon werden be-
        sonders die Kleingläubiger wie Handwerker, Einzel-
        händler oder kleine Dienstleister betroffen sein, deren
        Forderungen nicht extra besichert sind. Damit Sie mich
        nicht missverstehen: Auch gescheiterte Selbstständige
        verdienen unseren Schutz, aber eben nicht nur sie.
        Bei der Restschuldbefreiung geht es um den Aus-
        gleich der widerstreitenden Interessen: denen der Gläubi-
        ger an einer Rückzahlung möglichst vieler Forderungen
        und denen des Schuldners an einer möglichst schnellen
        Befreiung von seinen Schulden. In der Tat ist die allge-
        mein als lang empfundene Wohlverhaltensperiode von
        derzeit sechs Jahren bis zur Befreiung von den restlichen
        Schulden zu reformieren. Doch das Ergebnis sollte für
        alle Schuldnerinnen und Schuldner erreichbar sein, nicht
        nur für die Klientel der FDP.
        Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        Die Zahl der Verbraucherinsolvenzen ist in den letzten
        zehn Jahren kontinuierlich gestiegen. Weit mehr als
        100 000 Menschen melden pro Jahr mittlerweile in
        Deutschland Privatinsolvenz an. Die Gründe für eine
        private Insolvenz sind vielfältig. Oftmals sind sie sehr
        persönlich und hängen mit einer Krankheit, Arbeitslo-
        sigkeit oder einer Ehescheidung zusammen.
        Die Privatinsolvenz stellt die betroffenen Menschen
        für viele Jahre vor unüberwindbare Hindernisse. Für
        Menschen, die in Privatinsolvenz gehen müssen, ist
        schon die Suche nach einer Mietwohnung fast ein Ding
        der Unmöglichkeit. Die Teilnahme am gesellschaftli-
        chen Leben ist für diese Menschen deutlich erschwert.
        Klar ist auch, dass sie nicht erst mit dem Antrag auf Pri-
        vatinsolvenz Einschränkungen im täglichen Leben hin-
        nehmen müssen. Der Weg bis dahin ist häufig schon für
        viele Jahre mit Problemen finanzieller Art gepflastert.
        Die Privatinsolvenz ist immer nur der letzte Schritt.
        Sechs Jahre lang dauert nach derzeitiger Rechtslage
        die sogenannte Wohlverhaltensphase. Doch auch nach
        Ablauf dieser sechs Jahre können Menschen, die sich in
        der Privatinsolvenz befinden, nicht wieder uneinge-
        schränkt am Wirtschaftsleben teilnehmen. Weitere drei
        Jahre dauert es, bis der Eintrag bei der Schufa gelöscht
        wird.
        Dass Menschen so viele Jahre ihres Lebens solch weit-
        gehenden Einschränkungen unterworfen sind, lässt sich
        nicht rechtfertigen. Daher ist der Ansatz des Gesetzent-
        wurfs richtig, die Wohlverhaltensphase im Verbrau-
        cherinsolvenzverfahren zu verkürzen. Der Gesetzentwurf
        sieht die Möglichkeit vor, die Dauer des Restschuldbe-
        freiungsverfahrens von sechs Jahre auf drei Jahre zu hal-
        bieren. Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass die
        Schuldnerin oder der Schuldner während dieses Zeit-
        raums eine Mindestquote von 25 Prozent der bestehenden
        Schulden erfüllt und vorab die Kosten des Verfahrens be-
        gleicht. Wenn der Schuldner oder die Schuldnerin nur die
        Verfahrenskosten begleicht, soll sich das Restschuldbe-
        freiungsverfahren zumindest auf fünf Jahre verkürzen.
        Ansonsten bleibt es bei den bisherigen sechs Jahren.
        Darüber, ob die Schaffung eines Anreizsystems für
        eine schnelle Begleichung der Schulden sachgerecht ist,
        lässt sich diskutieren.
        Wie ein Schuldner oder eine Schuldnerin es allerdings
        bewerkstelligen soll, die vorgesehene Quote von 25 Pro-
        zent und die Verfahrenskosten innerhalb von drei Jahren
        zu befriedigen, ist mir ein Rätsel. Im Ergebnis werden
        nur wenige Schuldnerinnen und Schuldner von den Neu-
        regelungen profitieren. Ein wirtschaftlicher Neustart
        wird für die allermeisten wohl wie bisher erst nach fast
        zehn Jahren möglich sein. Da stelle ich mir ernsthaft die
        Frage, ob wir hier nicht einen Luxusgesetzentwurf für
        Schuldner mit vermögenden Verwandten vor uns haben.
        Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein weiteres Anlie-
        gen des Entwurfs ist es, den außergerichtlichen Eini-
        gungsversuch entscheidend zu stärken. Im Regierungs-
        entwurf ist hierzu zu lesen, dass beim außergerichtlichen
        Einigungsversuch hohe Erfolgsquoten zu verzeichnen
        seien und dass außergerichtliche Einigungen der bessere
        Weg einer Entschuldung seien. Sie entlasteten die Insol-
        venzgerichte und führten so zu Einspareffekten in den
        Justizhaushalten der Länder. Außerdem ermöglichten
        außergerichtliche Einigungen eine einfachere, schnel-
        lere, kostensparendere und dem Einzelfall angemesse-
        nere Bewältigung der Insolvenzsituation.
        Eine umfassende Stärkung des außergerichtlichen Ei-
        nigungsversuchs wäre auch aus unserer Sicht richtig,
        wünschenswert und erfreulich gewesen. Vorschläge
        hierzu gab es genug. Leider stärkt der Gesetzentwurf den
        außergerichtlichen Einigungsversuch aber nicht ausrei-
        chend. Die Vorgaben zur Entbehrlichkeit des Einigungs-
        versuchs bringen die Gefahr mit sich, dass keine Einzel-
        betrachtung des konkreten Sachverhalts erfolgt.
        Dieser Gesetzentwurf ist noch nicht ausgereift. Im
        weiteren Verfahren werden wir Grünen uns dafür einset-
        zen, einerseits Schuldnerinnen und Schuldnern mehr und
        bessere Hilfestellungen zukommen zu lassen und ande-
        rerseits auch Gläubigerinnen und Gläubiger nicht unan-
        gemessen zu benachteiligen.
        Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundes-
        ministerin der Justiz: Vor 20 Jahren, am 3. Juni 1992,
        wurde dem Bundestag erstmals ein Entschuldungsver-
        fahren für natürliche Personen vorgestellt. Menschen,
        die unverschuldet, etwa aufgrund persönlicher Schick-
        salsschläge, in finanzielle Not geraten sind, sollten die
        Chance für einen Neuanfang erhalten.
        In den nachfolgenden Jahren zeigten sich auf der
        einen Seite die große Akzeptanz, die das Restschuldbe-
        freiungsverfahren bei den Bürgern erfahren hat, aber auf
        25934 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012
        (A) (C)
        (D)(B)
        der anderen Seite auch verfahrensrechtliche Hemmnisse
        für einen effektiven Neustart. Die hierzu eingeleiteten
        Reformvorhaben konnten in der vergangenen Legislatur-
        periode nicht umgesetzt werden.
        Mit dem heute vorgestellten Entwurf wollen wir die
        bestehenden verfahrensrechtlichen Hürden nun abbauen
        und verschuldeten Personen unter Berücksichtigung der
        berechtigten Belange der Gläubiger eine faire Chance
        für einen Neuanfang einräumen.
        Ein erster Schwerpunkt dieses Gesetzentwurfes ist die
        Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens. Der
        Entwurf eröffnet für alle Schuldner ein schnelles Ent-
        schuldungsverfahren, wenn sie besondere Anstrengun-
        gen unternehmen.
        Die derzeitige Laufzeit der Restschuldbefreiung von
        sechs Jahren soll daher künftig auf drei Jahre abgekürzt
        werden können, wenn der Schuldner innerhalb dieses
        Zeitraums sowohl die Verfahrenskosten als auch 25 Pro-
        zent der Forderungen der Insolvenzgläubiger erfüllt hat.
        Der Entwurf belässt es jedoch nicht dabei. Er lässt al-
        ternativ das Insolvenzplanverfahren in allen Insolvenz-
        verfahren, also auch im Verbraucherinsolvenzverfahren,
        zu. Dieses bewährte Instrument ermöglicht es künftig je-
        dem Schuldner, in Einvernehmen mit seinen Gläubigern
        flexibel und schnell zu einer Entschuldung zu gelangen.
        Ein weiterer Schwerpunkt des Entwurfs ist eine Ver-
        besserung der Position der Gläubiger. Quasi als Gegen-
        leistung für eine schnelle Entschuldung wird bei einer
        vorzeitigen Restschuldbefreiung eine Mindestbefriedi-
        gung der Gläubiger gefordert.
        Bislang können Gläubiger trotz der langen Wohlver-
        haltensphase leer ausgehen, da es sich für den Schuldner
        nicht lohnt, sich besonders anzustrengen. Ein solcher
        Anreiz wird erstmals mit der Mindestquote gesetzt. Die-
        ses System kann aber nur funktionieren, wenn bei der
        Festsetzung der Mindestquote einerseits die Interessen
        der Gläubiger im Blick behalten werden, sodass die
        Quote zu einer fühlbaren Gläubigerbefriedigung bei-
        trägt. Andererseits darf sie auch nicht unerreichbar hoch
        sein. Wir sind nach gründlicher Prüfung der Ansicht,
        dass die im Entwurf gewählte Quote von 25 Prozent
        diese Kriterien erfüllt.
        Eine weitere Neuerung findet sich in der Gestaltung
        des Verbraucherinsolvenzverfahrens, das nun deutlich
        verschlankt wird. Ineffektive Bestandteile wie das ge-
        richtliche Schuldenbereinigungsplanverfahren, das nicht
        einmal in 2 Prozent der Fälle genutzt wird, werden ge-
        strichen.
        Der Zwang zu einem außergerichtlichen Planverfah-
        ren entfällt, wenn eine Einigung mit den Gläubigern of-
        fensichtlich aussichtslos ist. Die in diesem Bereich über-
        aus wichtige Tätigkeit von Schuldnerberatungsstellen soll
        dagegen ausgebaut werden. Künftig sollen sie auch im
        gerichtlichen Verfahren den Schuldner begleiten und
        dort ihre bewährte Arbeit fortsetzen können.
        Lassen Sie mich zum Schluss noch auf einen weiteren
        wichtigen Regelungsgegenstand eingehen: die Verbesse-
        rung des Schutzes insolventer Nutzer von Genossen-
        schaftswohnungen vor Wohnungsverlust.
        Unser Ziel, dem Schuldner eine neue Chance für ei-
        nen wirtschaftlichen Neuanfang zu ermöglichen, erfor-
        dert auch, dass er als Nutzer einer Genossenschaftswoh-
        nung ähnlich wie der Wohnungsmieter nach Möglichkeit
        seine Wohnung behalten kann. Nach bislang geltendem
        Recht muss der Insolvenzverwalter das Geschäftsgut-
        haben des Genossenschaftsmieters verwerten. Dieser
        verliert dadurch seine Mitgliedschaft, was wiederum die
        Genossenschaft meist zur Kündigung des Nutzungsver-
        hältnisses zwingt, weil die Genossenschaftswohnungen
        in erster Linie für die Nutzung durch Mitglieder be-
        stimmt sind.
        Künftig soll die Kündigung der Mitgliedschaft daher
        ausgeschlossen sein, wenn das Geschäftsguthaben be-
        stimmte Grenzen nicht übersteigt. Eine solche Begren-
        zung ist notwendig, damit nicht auch Anteile geschützt
        werden, die den Charakter einer Kapitalanlage haben.
        Dieses wichtige Gesetz sollte alsbald verabschiedet
        werden – die deutsche Wirtschaft und der gescheiterte
        Verbraucher verdienen eine effektive und schnelle Ent-
        schuldung und damit eine echte zweite Chance.
        Anlage 9
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung:
        – Antrag: Negativbilanz nach zwei Jahren im
        UN-Sicherheitsrat
        – Beschlussempfehlung und Bericht zu dem
        Antrag: Deutschland im VN-Sicherheitsrat
        – Impulse für Frieden und Abrüstung
        Beschlussempfehlung und Bericht zu den An-
        trägen:
        – Die internationale Schutzverantwortung
        weiterentwickeln
        – Schutzverantwortung weiterentwickeln und
        wirksam umsetzen
        (Tagesordnungspunkte 20 a bis 20 c)
        Jürgen Klimke (CDU/CSU): Die Mitgliedschaft
        Deutschlands in den letzten zwei Jahren im UN-Sicher-
        heitsrat ist ohne Frage eine Erfolgsgeschichte. Niemals
        zuvor konnte eine deutsche Regierung umfassendere
        neue Schwerpunkte und Impulse in das Gremium
        einbringen.
        Zudem haben wir unsere Präsidentschaft im Sicher-
        heitsrat der Vereinten Nationen erfolgreich genutzt und
        gute Ergebnisse insbesondere im Bereich des Schutzes
        von Kindern in Kriegsgebieten sowie im Klimaschutz
        erzielt. Endlich haben wir Instrumente im Rahmen der
        UN entwickeln können, die Kinder vor Gewalt und
        Misshandlung besonders schützen. Dies gilt vor allem in
        kriegerischen Auseinandersetzungen. Auf Initiative der
        Bundesregierung wurde daher am 12. Juli 2011 die
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012 25935
        (A) (C)
        (D)(B)
        Sicherheitsratsresolution zum stärkeren Schutz von
        Kindern in Kriegen und bewaffneten Konflikten verab-
        schiedet. Damit ist einstimmig beschlossen worden,
        gezielte Angriffe auf Schulen und Krankenhäuser inter-
        national zu ächten und den Schutz von Kindern vor
        Missbrauch als Soldaten zu verstärken.
        Fortschritte konnten außerdem im Bereich des Klima-
        schutzes erzielt werden. Unter deutscher Präsidentschaft
        wurde das Thema Klimawandel und dessen mögliche
        Auswirkungen auf den Weltfrieden im Sicherheitsrat
        diskutiert und wurde eine einstimmige Erklärung ver-
        abschiedet. Im Zuge dessen ist UN-Generalsekretär Ban
        Ki-moon gefordert, in seinen Berichten künftig Klimaas-
        pekte aufzunehmen. Erstmals wird damit in einer Erklä-
        rung, die von allen 15 Mitgliedern des Sicherheitsrates
        abgestimmt wurde, die Bedeutung des Klimawandels im
        Zusammenhang mit Frieden und internationaler Sicher-
        heit unterstrichen.
        Als 194. Mitglied wurde am 14. Juli 2011 der Südsu-
        dan als souveräner Staat anerkannt und als vollwertiges
        Mitglied in die Staatengemeinschaft aufgenommen. Da-
        mit konnte während der deutschen Ratspräsidentschaft
        erfolgreich der Fokus auf den afrikanischen Kontinent
        und die dortigen Herausforderungen gelegt werden.
        Bereits am 8. Juli 2011 hat der Deutsche Bundestag
        den Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte im Rah-
        men der Friedensmission der Vereinten Nationen im
        Südsudan (UNMISS) gebilligt. Damit wurde der Bedeu-
        tung, die der neugegründete Staat in den Friedensbemü-
        hungen in Nordostafrika einnimmt, Rechnung getragen.
        Deutschland hat mit der erfolgreichen Präsidentschaft
        im UN-Sicherheitsrat gezeigt, dass es seine internatio-
        nale Verantwortung mit großem Engagement ausübt und
        weltweit zur Lösung von Konflikten beiträgt.
        Ich sehe also die von der Opposition beschriebene
        Negativbilanz in keinster Weise. Ihr Antrag ist eher der
        klare Ausdruck von schlechtem politischen Stil, da die
        Opposition die Würdigung der von mir eben angespro-
        chenen Entwicklungen in ihren Anträgen verschweigt.
        Noch viel unverständlicher für mich ist, dass die Op-
        position die fehlenden Friedensinitiativen der Bundes-
        regierung kritisiert. Ich erinnere mich, dass unter der
        Präsidentschaft Schröders und Fischers im Sicherheitsrat
        der Irakkrieg verabschiedet wurde. Wo war dort Ihre
        Friedenspolitik? Ich erinnere mich, dass die Opposition
        in Libyen in den Krieg ziehen wollte. Wo war dort Ihre
        Friedenspolitik?
        Nein, Deutschland hat unter unserer Regierung seinen
        Beitrag zum Frieden, erstmals auch im Sicherheitsrat,
        umfangreich geleistet. Wir können uns sicher sein, dass
        die von uns geschaffenen Instrumente die jetzt abzu-
        schließende Mitgliedschaft überdauern werden.
        Natürlich ist es unerfreulich, dass die von uns ange-
        strebte Weiterentwicklung des Sicherheitsrates an den
        Vetokräften gescheitert ist. Trotzdem müssen wir weiter
        an einer modernen UN-Sicherheitsagentur arbeiten. Der
        Sicherheitsrat ist aus unserer Sicht in seiner heutigen
        Zusammensetzung überholt. Dies erleben wir nicht
        zuletzt in seiner Entscheidungsunfähigkeit beim Thema
        Syrien.
        Auch wenn Deutschland erst einmal aus dem Sicher-
        heitsrat ausscheiden wird, stehen wir vor weiteren
        Herausforderungen, die unsere Gestaltungsmacht erfor-
        dern. Die Post-MDG-Ära beginnt, und die CDU/CSU-
        Fraktion sieht die Ausgestaltung als eine der zentralen
        Herausforderungen der UN im nächsten Jahr an. Klar ist,
        dass die Welt sich seit der Jahrtausendwende dramatisch
        weitergedreht hat. Der beginnende Klimawandel zeigt
        uns drastisch die Begrenztheit unseres Lebensmodells
        und die globalen Verflechtungen. Unser Wirtschafts- und
        Lebensmodell als solches ist weder nachhaltig noch zu-
        kunftsfähig, noch entwicklungskonform, wenn wir mit
        „Entwicklung“ meinen, dass die, die Opfer unseres bis-
        herigen Treibens geworden sind, auch nur ansatzweise
        noch Rechte auf ein menschenwürdiges Leben verwirk-
        lichen sollen.
        Hinzu kommt, dass sich das Nord-Süd-Paradigma
        langsam auflöst. Deutlich wird das zum Beispiel an der
        G 20 oder den BRIC-Ländern, die nach vorne drängen.
        Noch weniger als früher können wir nur die Nord-Süd-
        Brille aufsetzen, sondern müssen eher von einer Arm-
        Reich-Dimension ausgehen. Das heißt zum einen, noch
        stärker als bisher gemeinsame Verantwortung sehen, und
        zum anderen, noch stärker als bisher nicht nur die Regie-
        rungsebene denken und sehen, sondern von der Perspek-
        tive derjenigen her denken, die schon heute und erst
        recht in Zukunft von den negativen Folgen einer
        falschen Politik und eines falschen Wirtschaftens betrof-
        fen sind. Hier geht es darum, wie Schwellenländer oder
        Mitteleinkommensländer, in denen die meisten Armen
        leben, ins Boot geholt werden, und auch um die Verant-
        wortung und Vorbildfunktion des Nordens. Diese Punkte
        werden von den bisherigen MDGs nicht berücksichtigt.
        Für die mögliche Post-2015-Agenda ist es aber un-
        bedingt notwendig, sich diesen komplexen Herausforde-
        rungen zu stellen und über das Denken der bisherigen
        MDGs hinauszugehen. Dies ist unser Ziel und unser
        Schwerpunkt für die Arbeit Deutschlands bei der UN.
        Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU): Nächsten Monat
        gehen für Deutschland zwei außenpolitisch sehr erfolg-
        reiche Jahre als nichtständiges Mitglied des Sicherheits-
        rats der Vereinten Nationen zu Ende.
        Wie Außenminister Westerwelle in seiner Rede vor
        der UN-Vollversammlung im September betonte, sind
        wir bereit, noch mehr Verantwortung zu übernehmen.
        Dementsprechend streben wir eine neue Kandidatur als
        nichtständiges Mitglied für den Sicherheitsrat für die
        Jahre 2019/2020 an. Außerdem werden wir unsere Be-
        mühungen um einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat
        weiter vorantreiben. Dieses Ziel haben wir in unserem
        Koalitionsvertrag festgeschrieben, und daran werden wir
        auch festhalten.
        Von einer „Negativbilanz nach zwei Jahren im UN-
        Sicherheitsrat“, wie von der Opposition behauptet, kann
        nicht die Rede sein. Im Gegenteil: Wir haben eine ganze
        25936 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012
        (A) (C)
        (D)(B)
        Reihe von Initiativen angestoßen und vieles erreicht. Im
        Folgenden möchte ich mich auf die meines Erachtens
        wichtigsten Errungenschaften konzentrieren.
        Vor dem Hintergrund der Umbrüche in der arabischen
        Welt war Deutschland im Sicherheitsrat sehr engagiert,
        um eine möglichst breite Unterstützung für einen friedli-
        chen Wandel zur Demokratie durch die internationale
        Staatengemeinschaft zu erreichen. So haben wir uns bei-
        spielsweise sehr früh dafür eingesetzt, dass sich der Si-
        cherheitsrat der Krise im Jemen angenommen hat und
        dass die internationale Staatengemeinschaft mit der ers-
        ten Sicherheitsratsresolution zu Jemen überhaupt mit ei-
        ner gemeinsamen Stimme gesprochen hat. Des Weiteren
        haben wir dazu beigetragen, Befassungen des Sicher-
        heitsrates zu Syrien und Libyen überhaupt erst möglich
        zu machen. Seither haben wir uns in den Vereinten Na-
        tionen aktiv für ein Ende der Gewalt in Syrien einge-
        setzt.
        Ferner hatte sich Außenminister Westerwelle wäh-
        rend des deutschen Vorsitzes des Sicherheitsrats im Sep-
        tember als Unterstützung des arabischen Frühlings auf
        seine Fahnen geschrieben, die Arabische Liga aufzuwer-
        ten, nachdem diese in vielen arabischen Ländern zu ei-
        nem wichtigen Akteur und Partner der UNO geworden
        war.
        Auch im Bereich der Afghanistan-Politik hat das
        deutsche Engagement im Sicherheitsrat einiges voran-
        getrieben. So wurde unter deutschem Vorsitz der Aus-
        schuss für die Al-Qaida-/Taliban-Sanktionen in jeweils
        einen Ausschuss für die Taliban und einen für al-Qaida
        geteilt – mit weitreichender Signalwirkung sowohl für
        die Bekämpfung des internationalen Terrorismus als
        auch für die afghanische Innenpolitik.
        Ein weiterer Themenkomplex, bei dem Deutschland
        einen großen Erfolg verbuchen konnte, war der Schutz
        von Kindern in bewaffneten Konflikten. Da Deutschland
        den Vorsitz der Arbeitsgruppe „Kinder und bewaffnete
        Konflikte“ innehatte, kam uns eine besondere Verant-
        wortung bei der Verhandlung und der Annahme einer
        entsprechenden Resolution zu, durch die gezielte An-
        griffe gegen Schulen und Hospitäler völkerrechtlich ge-
        ächtet werden.
        Ferner konnte Deutschland erstmals das Thema „Si-
        cherheitspolitische Auswirkungen des Klimawandels“
        auf die Agenda des Sicherheitsrats bringen. In der vom
        Sicherheitsrat einstimmig angenommenen Erklärung
        wurde festgehalten, dass der Klimawandel eine poten-
        zielle Bedrohung für den Weltfrieden und die internatio-
        nale Sicherheit ist. In Zukunft wird der Generalsekretär
        somit in seinen Berichten den Aspekt des Klimawandels
        mitberücksichtigen müssen – auch ein Erfolg für unser
        Anliegen, die Präventionsmechanismen von Krisen zu
        stärken.
        Lassen Sie mich abschließend noch kurz auf die inter-
        nationale Schutzverantwortung zu sprechen kommen.
        Diese ist mit den Resolutionen des UN-Sicherheitsrats
        zu Libyen zum ersten Mal als Begründung für Schutz-
        maßnahmen nach Kapitel VII der UN-Charta herangezo-
        gen worden und hat somit einen erfolgreichen Eingang
        in die Praxis des Sicherheitsrats gefunden. Als Mitglied
        der „Freundesgruppe der Schutzverantwortung“ hat
        Deutschland von Beginn an die konzeptionelle Ausge-
        staltung der internationalen Schutzverantwortung geför-
        dert, sei es durch Förderung eines einheitlichen EU-
        Standpunkts oder auch durch einen engen Austausch mit
        dem UN-Sonderberater für die Schutzverantwortung.
        Besonders wichtig war und ist uns dabei die Stärkung
        der präventiven Aspekte, um ein Eingreifen mit militäri-
        schen Mitteln gar nicht erst nötig zu machen.
        Insofern haben wir uns, was Syrien anbelangt, seit
        Ausbruch der Gewalt kontinuierlich für ein entschiede-
        nes Vorgehen des Sicherheitsrats eingesetzt, vor allen
        Dingen um den Schutz von Zivilisten zu verbessern und
        um gegen massive Menschenrechtsverletzungen vorzu-
        gehen. Auch wenn diese Bemühungen bislang noch
        nicht erfolgreich waren, so werden wir weiterhin den
        UN-Sicherheitsrat als Gremium nutzen, um die Interes-
        sengegensätze mit Russland und China gezielt anzuspre-
        chen.
        Sie sehen also: Die Bilanz nach zwei Jahren im UN-
        Sicherheitsrat ist alles andere als „negativ“; sie ist viel-
        mehr beeindruckend!
        Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD): Ich bedaure es
        außerordentlich, dass ich gezwungen bin, diese Rede zu
        Protokoll zu geben. Ich selbst würde auch, wie vorgese-
        hen, um 1 Uhr oder 2 Uhr in der Nacht im Plenum spre-
        chen; aber das Thema „Zwei Jahre Bilanz der deutschen
        Mitgliedschaft im UN-Sicherheitsrat“ würde eine Kern-
        zeit dringend erfordern.
        Welch hehre Erklärungen gab die Bundesregierung zu
        Beginn ihrer zweijährigen Mitgliedschaft im obersten
        UN-Gremium, im UN-Sicherheitsrat, im Jahre 2011 ab.
        Sie wolle sich gemeinsam mit internationalen Partnern
        in so wichtigen Bereichen wie der Sicherheitsratsreform,
        dem Schutz der Menschenrechte, der Rüstungskontrolle
        und dem Nahostfriedensprozess engagieren.
        Kurz vor dem Ausscheiden Deutschlands aus dem
        UN-Sicherheitsrat muss man sich über das unterhalten,
        was die Bundesregierung als nichtständiges Mitglied im
        UN-Sicherheitsrat bewirkt hat – oder eben auch nicht.
        So ist aus ihren vollmundigen Ankündigungen, neuen
        Schwung bei der Reform des Sicherheitsrats erreichen
        zu wollen, nichts geworden. Weder gibt es eine grundle-
        gende Reform des UN-Sicherheitsrates, die der Realität
        des 21. Jahrhunderts entspricht, noch hat es die Bundes-
        regierung erreicht, einen ständigen Sitz im UN-Sicher-
        heitsrat für Deutschland mit anderen Partnern zusammen
        durchzusetzen.
        Es ist schön, dass Deutschland wieder Mitglied im
        UN-Menschenrechtsrat geworden ist; das kann aber das
        Versagen der Bundesregierung in der anderen Frage
        nicht ausgleichen. Die Länder Afrikas, Lateinamerikas
        und Asiens fordern schon seit langem eine bessere Re-
        präsentation ihrer Kontinente, und dem müssen wir
        Nachdruck verleihen. Die Reform des UN-Sicherheits-
        rats bleibt eine zentrale Forderung, und sie muss auch
        die schrittweise Überwindung des Vetorechts der ständi-
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012 25937
        (A) (C)
        (D)(B)
        gen Ratsmitglieder zum Inhalt haben. Die unerträgliche
        Situation, die sich durch die Blockadehaltung von UN-
        Sicherheitsrats-Mitgliedern in Bezug auf Syrien gezeigt
        hat, macht das deutlich. Es ist völlig inakzeptabel, dass
        der UN-Sicherheitsrat dabei zur Handlungsunfähigkeit
        gepresst wurde und noch wird.
        Wie steht es um die Legitimation eines UN-Sicher-
        heitsrates, wenn fünf Staaten mit ihrem Veto sich als
        Mitglieder „erster Klasse“ gerieren und die UN blockie-
        ren können, obwohl es dringend einer gemeinschaftli-
        chen Aktion bedürfte? Jetzt werden Staaten wie Argenti-
        nien, Ruanda und Südkorea Deutschland in den
        Sicherheitsrat nachfolgen.
        Insgesamt ist das Verhalten der Bundesregierung im
        UN-Sicherheitsrat eher von Einzelentscheidungen und
        nicht von einer Gesamtstrategie internationaler Politik
        geprägt. Das schwerste Versagen der Bundesregierung
        hat sich bei der Abstimmung über die Resolution 1973,
        der Errichtung einer Flugverbotszone über Libyen, ge-
        zeigt. Mit dieser Sicherheitsratsresolution übernahm die
        internationale Gemeinschaft zum ersten Mal in einer
        UN-Resolution die Schutzverantwortung für die Zivilbe-
        völkerung in Libyen. Tausende Libyer verdanken dieser
        Resolution ihr Leben, da es galt, sie vor Muammar al-
        Gaddafi und den Gewalttaten seiner Gefolgsleute zu
        schützen. Und wie agierte die Bundesregierung in dieser
        Frage? Sie enthielt sich – und stellte sich damit gegen
        Partnerländer wie die USA, Frankreich, Großbritannien
        und Portugal. Wir alle wissen, wie dramatisch sich diese
        Enthaltung auf das Ansehen der Bundesregierung in der
        Welt ausgeübt hat. Ich sage: Notwendig wäre die klare
        Zustimmung gewesen, verbunden mit einem Monito-
        ring-Mechanismus, der die NATO-Mission überwachen
        sollte und dem UN-Sicherheitsrat jeweils aktuell berich-
        tet hätte und eine Überdehnung des Mandates hätte ver-
        hindern können.
        Aber noch schwerer wiegt: Bei dem Schutz von Men-
        schenrechten darf es keine Enthaltung geben! Denn die
        Norm der Internationalen Schutzverantwortung, die Res-
        ponsibility to Protect, wurde von der internationalen Ge-
        meinschaft im Jahr 2005 auf dem Weltgipfel verabschie-
        det, damit sich massive Menschenrechtsverletzungen
        wie in Ruanda und Srebrenica niemals wiederholen.
        Staaten haben demnach die Verantwortung, ihre Bevöl-
        kerung vor Völkermord, Kriegsverbrechen, systemati-
        scher Gewalt gegen Minderheiten und Verbrechen gegen
        die Menschlichkeit zu schützen. Können oder wollen sie
        dies nicht leisten, geht die Verantwortung auf die inter-
        nationale Staatengemeinschaft über, die als letztes Mittel
        Schutzmaßnahmen nach Kap. VII der UN-Charta ergrei-
        fen kann.
        Die Diskussion um die Schutzverantwortung wird
        von Kritikern gern auf das militärische Element ver-
        kürzt. Die Schutzverantwortung wurde dabei als ganz-
        heitlicher Ansatz mit drei Säulen konzipiert: der Respon-
        sibility to Prevent, der Responsibility to React und der
        Responsibility to Rebuild. Der Schwerpunkt liegt dabei
        auf der Vorbeugung vor schweren und systematischen
        Menschenrechtsverletzungen. Um die Entscheidung für
        oder gegen einen militärischen Einsatz nachvollziehbar
        und überprüfbarer zu machen, müssen Leitkriterien aus-
        gearbeitet werden, wie sie von der Internationalen Kom-
        mission zur Intervention und Staatensouveränität im Jahr
        2001 bereits formuliert wurden. Demnach soll ein mili-
        tärischer Einsatz nach dem Ernst der Bedrohung, der
        Redlichkeit der Motive, der Anwendung als letztes Mit-
        tel, der Verhältnismäßigkeit der Mittel und der Ange-
        messenheit der Folgen abgewogen werden.
        Ich möchte an dieser Stelle die Forderungen aufgrei-
        fen, wie sie in unserem Antrag und ähnlich auch im An-
        trag von Bündnis 90/Die Grünen, den wir nachdrücklich
        unterstützen, formuliert wurden: Die Bundesregierung
        muss für die Norm der internationalen Schutzverantwor-
        tung aktiv werben und darf nicht bloß Lippenkenntnisse
        abgeben. Sie muss dazu beitragen, dass ein nationales
        und regionales Frühwarnsystem für Menschenrechtsver-
        letzungen etabliert wird, indem bestehende Strukturen
        verbessert und regionale und subregionale Akteure bes-
        ser eingebunden werden. Und sie muss sich für die Aus-
        arbeitung von Leitkriterien, vergleichbar denen der In-
        ternationalen Kommission zur Intervention und Staaten-
        souveränität, starkmachen, die bei UN-mandatierten mi-
        litärischen Einsätzen zum Schutz vor massiven und sys-
        tematischen Menschenrechtsverletzungen herangezogen
        werden können. Zudem muss sie sich für einen Monito-
        ring-Mechanismus bei UN-Mandaten im Rahmen der
        Schutzverantwortung einsetzen, der beispielsweise eine
        zeitliche Begrenzung von Mandaten und klar bestimmte
        Berichtspflichten vorsieht.
        Die Weiterentwicklung der Internationalen Schutz-
        verantwortung hängt entscheidend vom Willen und En-
        gagement der Nationalstaaten ab. Hier muss die Bundes-
        regierung endlich durch Taten in Erscheinung treten!
        Der Antrag der palästinensischen Autonomiebehörde
        im UN-Sicherheitsrat, als vollwertiges Mitglied aufge-
        nommen zu werden, wurde durch die Androhung eines
        US-Vetos im Jahr 2011 praktisch zum Erliegen gebracht.
        Die Bundesregierung hatte sich mit ihren Äußerungen
        auf die Seite derer gestellt, die einen solchen Antrag
        nicht wünschen. Bei der Abstimmung zur Aufnahme Pa-
        lästinas als Mitglied in die UNESCO stimmte sie sogar
        mit Nein. Nun hat Präsident Abbas den Antrag in der
        UN-Generalversammlung gestellt, als Staat mit Be-
        obachterstatus – „non-member observer state“ – aner-
        kannt und somit im Status aufgewertet zu werden. Ich
        möchte das zum Anlass nehmen, das zu wiederholen,
        was ich bereits öffentlich geäußert habe. Das Anliegen
        der Palästinenser muss auch im Interesse Israels unter-
        stützt werden!
        Wie Weltbank und der Internationale Währungsfonds
        bezeugen, hat die palästinensische Autonomiebehörde
        alle Voraussetzungen für ihre Staatlichkeit geschaffen.
        Die enormen Preissteigerungen und sozialen Unruhen in
        der Westbank einerseits und die jüngste feindselige Aus-
        einandersetzung zwischen der Hamas und Israel anderer-
        seits haben die palästinensische Autonomiebehörde in
        ihrem Ansehen bei der eigenen Bevölkerung massiv ge-
        schwächt. Die Hamas geht aus all dem gestärkt hervor.
        Angesichts dieser Situation halte ich die Weichenstel-
        lung, mit der die Bundesregierung sich heute in der UN-
        25938 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012
        (A) (C)
        (D)(B)
        Generalversammlung zu dem Antrag auf Aufwertung
        des Status von Palästina verhalten hat, für falsch. Es
        muss doch im Interesse der Europäischen Union und der
        internationalen Staatengemeinschaft sein, diejenigen zu
        stärken, die den multilateralen, friedlichen Weg über die
        Vereinten Nationen wählen, zumal eine große Zahl euro-
        päischer Regierungen für die Aufwertung stimmt.
        Die Schlussfolgerung muss sein, dem Antrag der pa-
        lästinensischen Autonomiebehörde zuzustimmen. Eine
        Aufwertung des palästinensischen UN-Status kann den
        Weg für einen neuen Nahost-Friedensprozess bereiten.
        Ein Nein hingegen würde von den Palästinensern als
        Nein zu ihrem Recht auf Selbstbestimmung gewertet.
        Es braucht einen neuen Anlauf für einen wirklichen
        Friedensprozess, der die gesamte palästinensische Be-
        völkerung umschließt, damit endlich die Gewalt und der
        jahrzehntelange Konflikt im Sinne der Zwei-Staaten-Lö-
        sung beendet werden können.
        Angesichts der weitreichenden Umwälzungen in den
        arabischen Ländern muss doch jedem klar sein: Ohne
        eine derartige Lösung wird es immer möglich sein, dass
        Frustrationen, die aus inneren Konflikten in manchen
        arabischen Ländern resultieren, in Aggressionen gegen-
        über Israel gewendet werden können. Deshalb ist es ge-
        rade aus deutscher Verantwortung für Israel notwendig,
        eine klare Unterstützung zu dem Antrag von Präsident
        Abbas zu zeigen und deutlich ein Signal zur Rettung der
        Zwei-Staaten-Lösung zu geben. Besonders inakzeptabel
        finde ich es, wenn es europäische Länder gibt, die ihre
        Zustimmung zu dem Palästina-Antrag an die Forderung
        knüpfen, es müsse einen Verzicht auf ein mögliches An-
        rufen des Internationalen Strafgerichtshofes zu Protokoll
        geben. Eine derartige Forderung fällt in ihrer Grundhal-
        tung auf diese Staaten selbst zurück.
        Abschließend: Wir drängen darauf, dass der geplante
        Waffenhandelsvertrag, der nach langwierigen Verhand-
        lungen im Jahr 2012 nicht zustande gekommen ist, er-
        neut in der UN-Generalversammlung im Frühjahr 2013
        auf die Tagesordnung gesetzt wird. Die Bundesregierung
        muss darauf drängen, dass weiter verhandelt wird. Es
        braucht dringend völkerrechtlich verbindliche Standards
        für den Import, Export und Transfer von konventionellen
        Waffen, um weitere regionale Aufrüstungswettläufe und
        die Destabilisierung weiterer Regionen zu verhindern.
        Bijan Djir-Sarai (FDP): Am Ende der letzten Sicher-
        heitsratssitzung, die Außenminister Westerwelle leitete,
        ergriff der Generalsekretär der Arabischen Liga, Nabil
        al-Arabi, entgegen dem Protokoll das Wort. Er sagte fol-
        gende zwei Sätze: „Ich sage mehr als Dankeschön. Ich
        sage vielen, vielen Dank.“
        Diese Worte könnten als Antwort auf den Antrag der
        Opposition eigentlich genügen. Der Generalsekretär
        dankt Deutschland für sein Engagement im Sicherheits-
        rat. Zuvor schon sagte der marokkanische Außenminis-
        ter zu Herrn Westerwelle auf Deutsch „Danke schön“.
        Anscheinend sind die Gesandten des Auslands alles an-
        dere als enttäuscht vom deutschen Vorsitz im Sicher-
        heitsrat der Vereinten Nationen, und zwar zu Recht. Ich
        werde Ihnen jetzt auch erläutern, warum.
        Hier einmal eine knappe Bilanz: Während unseres
        Vorsitzes hat Deutschland Initiativen zum Klimaschutz
        und zur globalen Abrüstung geleitet. Wir haben eine Re-
        solution zum Schutz von Kindern in bewaffneten Gebie-
        ten eingebracht.
        Das syrische Regime wurde weiter politisch isoliert,
        und Deutschland hat aktiv die Friedensbemühungen im
        Nahen Osten unterstützt.
        Wir haben eine stärkere Zusammenarbeit zwischen
        den Vereinten Nationen und der Arabischen Liga durch-
        gesetzt.
        Es wirkt schon realitätsfremd, wenn man der Bundes-
        regierung vorwirft, nicht genug für den Nahen Osten zu
        tun, wenn gleichzeitig Außenminister Westerwelle vor
        Ort Friedensverhandlungen zwischen Israel und der Ha-
        mas führt.
        Genauso wirklichkeitsfremd ist die Klage, Deutsch-
        land habe bei einer Sicherheitsratsreform versagt. Natür-
        lich: Wir haben während unseres Vorsitzes keine Neu-
        strukturierung der Vereinten Nationen erreicht. Leider
        auch nicht den Weltfrieden. Aber wie es sogar in dem
        Antrag steht, wird solch eine Reform auch nicht im Si-
        cherheitsrat entschieden, sondern sie benötigt eine Un-
        terstützung von zwei Dritteln der 193 UN-Mitgliedstaa-
        ten. Und wie alle politischen Entscheidungsträger in
        diesem Saal wissen sollten, haben einige Staaten über-
        haupt kein Interesse, die verkrusteten Strukturen aufzu-
        brechen.
        Nichtsdestotrotz hat Dr. Guido Westerwelle ein Au-
        ßenministertreffen mit Indien, Brasilien und Japan orga-
        nisiert, um diesen Status quo zu ändern. Leider geht
        solch eine Revolution nicht blitzartig, auch wenn ich da-
        mit unsere werten Kollegen der Opposition nun enttäu-
        schen muss. Wir verfolgen das langfristige Ziel, ständi-
        ges Mitglied im UN-Sicherheitsrat zu werden. An dieser
        Prämisse hat sich nichts geändert. Wir haben daran gear-
        beitet, wir werden daran weiterarbeiten.
        Das Vertrauen in die deutsche Außenpolitik und deren
        friedensstiftenden Einfluss auf die internationalen Bezie-
        hungen ist groß. Und es wurde durch unseren Vorsitz im
        Sicherheitsrat noch verstärkt. Als Beweis der internatio-
        nalen Zustimmung zum Kurs der Bundesregierung
        wurde Deutschland vor wenigen Tagen in den UN-Men-
        schenrechtsrat gewählt – gegen Kandidaten wie Schwe-
        den. Das ist aller Ehren wert.
        Die zwei Jahre im Sicherheitsrat und der deutsche
        Vorsitz sind eine Erfolgsgeschichte dieser Bundesregie-
        rung. Wo die Opposition hier eine Negativbilanz er-
        kennt, ist mir fraglich. Daher wird die FDP-Fraktion die-
        sen Antrag ablehnen.
        Heike Hänsel (DIE LINKE): Heute stimmt die
        Generalversammlung der Vereinten Nationen über den
        Antrag Palästinas auf Status eines Beobachterstaates bei
        der UN ab. Dies ist eine historisch wichtige Chance für
        den gesamten Nahen Osten. Mit der angekündigten
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012 25939
        (A) (C)
        (D)(B)
        Enthaltung Deutschlands gegen die große Mehrheit der
        UN-Mitgliedstaaten, darunter auch EU-Länder wie
        Frankreich, Spanien, Schweden, Portugal, hat sich die
        Bundesregierung deutlich isoliert, auch in Europa.
        Zumal die Bundesregierung sogar versucht hat, die EU-
        Mitgliedstaaten von ihrem Ja abzuhalten. Die Aufnahme
        Palästinas als Beobachterstaat ist ein wichtiger Schritt,
        um eine Zweistaatenlösung überhaupt am Leben zu
        erhalten, denn in den von Israel besetzten Gebieten wer-
        den tagtäglich Fakten geschaffen durch immer neue
        Siedlungen, Vertreibungen und einseitige Grenzziehun-
        gen. Wir brauchen endlich ein Ende der Besatzung in der
        Westbank, die Aufhebung der Gaza-Blockade und eine
        Zwei-Staaten-Lösung! Die Bundesregierung verpasst am
        heutigen Tag diese historische Chance, und sie schwächt
        die palästinensischen Kräfte, die sich für eine Verhand-
        lungslösung aussprechen, die die Bundesregierung nach
        eigenen Angaben ja eigentlich unterstützen will. Das ist
        kontraproduktiv!
        Wir ziehen heute gleichzeitig Bilanz über fast zwei
        Jahre Mitgliedschaft im UN-Sicherheitsrat. Und da zeigt
        sich, dass es die Bundesregierung in vielerlei Hinsicht
        verpasst hat, Friedensinitiativen zu befördern. Trotz
        Vorsitz in der Afghanistan-Arbeitsgruppe für das
        UNAMA-Mandat hat die Bundesregierung keine umfas-
        sende Friedensinitiative in der Region entwickelt; die
        Afghanistan-Konferenz im Dezember 2011 war ein
        Misserfolg, Pakistan nahm nicht daran teil, und die
        Zivilgesellschaft war nur symbolisch einbezogen. Sie
        verlässt sich stattdessen lieber weiterhin auf ihre be-
        währte Zusammenarbeit mit afghanischen Warlords und
        der korrupten Karzai-Regierung.
        Im Falle des syrischen Bürgerkrieges hat UN-Sonder-
        vermittler Lakhdar Brahimi ein schwieriges Mandat
        übernommen, nachdem sein Vorgänger Kofi Annan be-
        reits einen Sechs-Punkte-Plan für eine Verhandlungs-
        lösung des Konflikts vorgelegt hat. Dieser ist unter ande-
        rem daran gescheitert, dass Frankreich, die Türkei,
        Saudi-Arabien, Katar, die USA und andere Staaten ein-
        seitig auf Regime-Change setzen und die Rebellen aktiv
        unterstützen. Auch die Bundesregierung hat nicht zual-
        lererst das Ende der Gewalt von beiden Seiten im Blick,
        sondern unterstützt die Forderung nach einem Regime-
        Change von außen. Das manifestiert sich unter anderem
        in dem von der Bundesregierung mitfinanzierten Projekt
        „The Day after“. Frieden gibt es aber nur mit einem Dia-
        log, der alle Konfliktparteien mit einbezieht und zu ei-
        nem Interessenausgleich führt. Die UN-Charta und das
        Völkerrecht müssen oberste Priorität haben!
        Die Bundesregierung torpediert nun die schwierigen
        Bemühungen Brahimis um eine Verhandlungslösung im
        Syrien-Konflikt mit der geplanten Stationierung von
        Patriot-Raketen in der Türkei und setzt einseitig auf die
        militärische Eskalation durch die NATO. Eine solche
        Politik schwächt die UNO und fördert die Kriegsgefahr,
        nicht den Frieden. Wir brauchen eine Außenpolitik, die
        auf zivile und gerechte Konfliktlösungen setzt und die
        Vereinten Nationen in ihrer Rolle stärkt, statt sie durch
        NATO-Militärinterventionen zu marginalisieren.
        Hier ist auch der größte Unterschied zwischen den
        Positionen der SPD, der Grünen und unserer Fraktion:
        Zwar stellen Sie in den hier vorliegenden Anträgen fest,
        dass militärisches Eingreifen Konflikte nicht löst und
        letztes Mittel der Politik sein sollte. Aber in Wirklichkeit
        scheint die militärische Option immer mehr als erstes
        Mittel zu gelten. Denn für SPD und Grüne war die
        schwarz-gelbe Koalition beim Libyen-Krieg zu zöger-
        lich; die Enthaltung im Sicherheitsrat, die wir in dem
        Fall deutlich begrüßt haben, wurde von Rot-Grün scharf
        kritisiert. Wäre es nach Ihnen gegangen, dann wäre die
        Bundeswehr an den wochenlangen Luftbombardierun-
        gen Libyens beteiligt gewesen, die bis zu 50 000 Men-
        schen das Leben gekostet haben. Wo bleiben denn da
        Ihre friedlichen Konfliktlösungsstrategien?
        Die Bundesregierung weist als politischen Erfolg un-
        ter anderem die Verabschiedung einer Resolution für die
        Bekämpfung der Rekrutierung von Kindersoldaten auf.
        Durch die neue Resolution sollten die Angreifer von
        Schulen und Krankenhäusern aber nicht nur geächtet,
        sondern auch mit Sanktionen belegt werden. Beispiels-
        weise könnten Konten gesperrt oder Reiseverbote ver-
        hängt werden. „Diese Resolution ist nicht nur politisches
        Papier, sondern hat handfeste Konsequenzen“, sagte
        Außenminister Westerwelle. Mit keinem Wort und kei-
        ner politischen Konsequenz ging die Bundesregierung
        allerdings auf das Problem der Rüstungsexporte, speziell
        von Kleinwaffen, ein, die ja weltweit von Konflikt zu
        Konflikt weiterverkauft werden und womit die meisten
        Kindersoldaten gezwungen werden, zu kämpfen. Und
        darunter sind eben häufig auch deutsche Kleinwaffen,
        zum Beispiel Gewehre von Heckler & Koch. Solange sie
        Rüstungsexporte in Milliardenumfang selbst für Kon-
        fliktregionen genehmigen, sogar Lizenzen für eigene
        Waffenproduktion bewilligen, ist dieser Kampf gegen
        Kindersoldaten wenig glaubhaft!
        Die Linke ist für eine Reform und Demokratisierung
        der Vereinten Nationen: Die Struktur des UN-Sicher-
        heitsrats als bedeutendstem Entscheidungsgremium
        spiegelt alte Machtverhältnisse wider. Der Sicherheitsrat
        muss zugunsten der Länder Asiens, Afrikas und Latein-
        amerikas erweitert werden, und die UN-Vollversamm-
        lung muss die zentrale Rolle spielen. In diesem Kontext
        muss auch das Vetorecht neu diskutiert werden. Die
        Bundesregierung setzt sich in den stockenden Verhand-
        lungen darüber zu einseitig für einen Sitz Deutschlands
        im UN-Sicherheitsrat ein. Die Weltorganisation muss
        finanziell gestärkt, entsprechend ihrer Funktion politisch
        respektiert und zu einer handlungsfähigen Instanz zur
        Lösung internationaler Probleme ausgebaut werden, um
        weltweit Frieden und Entwicklung unter den neuen
        politischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen des
        21. Jahrhunderts tatsächlich fördern und sichern zu
        können.
        Parallel zu einer Demokratisierung der UNO sollte
        der Wirtschafts- und Sozialrat (ECOSOC) zu einer
        gleichwertigen Instanz für wirtschaftliche und soziale
        Gerechtigkeit aufgewertet werden, beispielsweise über
        die Festlegung von sozialen und ökologischen Normen
        für transnationale Unternehmen und generellen Rechten
        25940 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012
        (A) (C)
        (D)(B)
        und Pflichten von privaten Unternehmen. Hier fehlen ei-
        gene Initiativen der Bundesregierung völlig.
        Die Grünen stellen in ihrem Antrag die Umsetzung
        von „Responsibility to Protect“, R2P, als zentrale
        Herausforderung für einen wirksamen Menschenrechts-
        schutz im 21. Jahrhundert dar. Zwar verstehen die
        Grünen – wie die SPD – die Schutzverantwortung aus-
        drücklich nicht in erster Linie als militärische Aufgabe,
        aber diese Option müsse eingesetzt werden, wenn alle
        anderen R2P-Instrumente ausgeschöpft seien. Die Grü-
        nen fordern zwar die Verbesserung der Präventions-
        mechanismen von R2P und das genaue Festlegen von
        Kriterien für militärisches Eingreifen und dessen Länge,
        aber dass der Krieg dem Schutz der Zivilbevölkerung
        dienen soll, ist zynisch. Mit dem Vorwand des Schutzes
        von Menschenrechten werden bereits Militärinterventio-
        nen geführt. Der Verweis auf die Schutzverantwortung
        liefert der internationalen Gemeinschaft nur weitere
        Gelegenheiten für Angriffskriege. Die Linke lehnt mili-
        tärische Interventionen unter dem Vorwand des Schutzes
        der Menschenrechte und der Zivilbevölkerung konse-
        quent ab.
        Wir fordern stattdessen, dass die „Friedenskommis-
        sion zur Unterstützung von Staaten nach bewaffneten
        Konflikten“ in eine umfassende Friedenskommission
        erweitert wird, die nicht nur die Nachsorge, sondern
        auch konkrete Schritte zur Konfliktvorbeugung und
        nichtmilitärischer Konfliktlösung einschließlich präven-
        tiver Diplomatie zum Gegenstand ihrer Tätigkeit hat.
        Wir wenden uns strikt gegen die weitere Militarisierung
        der Vereinten Nationen, die bereits jetzt das Dreifache
        des UN-Haushalts für „Friedensmissionen“ ausgeben,
        während die humanitäre Hilfe, Armutsbekämpfung,
        Klimaschutz und zivile Konfliktlösungen unterfinanziert
        sind. Wir brauchen demokratisch reformierte Vereinte
        Nationen und die Auflösung aller Militärbündnisse.
        Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
        NEN): Wir ziehen heute Bilanz aus zwei Jahren
        Deutschland im UN-Sicherheitsrat. Diese Bilanz ist, das
        will ich gleich vorabschicken, schlicht enttäuschend. So
        erfolgreich die Bewerbung um einen nichtständigen Sitz
        im Sicherheitsrat vor fast zwei Jahren war, umso erfolg-
        loser war leider das Wirken Deutschlands in der wich-
        tigsten Schaltstelle für Frieden und Sicherheit in der
        Welt. Für diese Bundesregierung zählte wieder einmal
        mehr die Verpackung und nicht der Inhalt. Das Dabei-
        sein war für sie wichtiger, als zu gestalten. Ziellos und
        ohne strategische Ausrichtung wurde das deutsche
        Mandat begonnen. Sie sind geradezu auf die Weltbühne
        am East River gestolpert. Deshalb verwundert es mich
        nicht, dass Deutschland kaum Akzente setzen konnte in
        Sachen UN-Reformen, nicht in Abrüstungsfragen und
        nicht in Sachen Nahostkrise.
        Keine Ideen haben, das ist die eine Sache. Das ist
        schlimm genug. Etwas ganz anderes ist es aber, wenn die
        Bundesregierung dann auch noch beim Krisenmanage-
        ment wie in Libyen völlig versagt und ganz nebenbei das
        Prinzip der Schutzverantwortung, zu dem sich auch
        Deutschland 2005 auf dem Weltgipfel ausdrücklich ver-
        pflichtet hatte, missachtet. Es ist schlicht ein Skandal,
        dass ausgerechnet Deutschland sich im Sicherheitsrat
        gegen das Votum der Arabischen Liga bei der Frage ei-
        ner Intervention enthalten hat. Deutschland hat immer
        auch eine besondere historische Verantwortung, Men-
        schen vor Völkermord und schwersten Menschenrechts-
        verbrechen zu schützen. Dass ausgerechnet Deutschland
        den vielen in Bengasi eingekesselten Menschen, die in
        Todesangst auf das Massaker warteten, nicht ohne Wenn
        und Aber beistand und sich stattdessen an die Seite der
        ewigen Blockierer Russland und China stellte, war poli-
        tisch falsch und hat uns schweren Schaden zugefügt.
        Herr Westerwelle, die Bundesregierung hat sich bei
        Libyen schlicht aus der Verantwortung gestohlen.
        Selbst aus dieser offensichtlichen Fehlentscheidung
        haben Sie leider nichts gelernt. Statt nach Libyen die
        Schutzverantwortung zur Priorität zu machen, sind Sie
        einfach nur in die nächste Krise in Syrien gestolpert.
        Auch hier schwimmen Sie wieder nur mit und reden in
        „Freundesgruppen“, anstatt zu handeln. Noch immer
        warten wir auf eine selbstbewusste Krisendiplomatie
        und Initiativen zur Überwindung der russischen und chi-
        nesischen Blockade im Sicherheitsrat, und noch immer
        riegeln Sie die Grenzen Deutschlands für die syrischen
        Flüchtlinge ab, anstatt ihnen bei uns hier Schutz zu ge-
        währen. Das Mindeste, Herr Westerwelle, wäre doch,
        dass Sie denjenigen syrischen Flüchtlingen ein Visum
        gewähren, die bei ihren hier lebenden Familienangehöri-
        gen unterkommen wollen und könnten. Das wäre we-
        nigstens eine kleine humanitäre Geste. Noch nicht ein-
        mal die sind Sie bereit zu gewähren.
        Libyen und Syrien haben viele Fragen aufgeworfen,
        die an die Grundfesten der UNO rühren: wie wir zum
        Schutz von Menschen künftig Blockaden im Sicherheits-
        rat und den Missbrauch von Mandaten von Menschen
        verhindern können. Dennoch hat die Bundesregierung
        im Sicherheitstrat keine Lösung dieser zentralen Fragen
        vorangetrieben, die für die Ausbuchstabierung der
        Schutzverantwortung so wichtig sind. Nein, es waren
        wieder andere: Brasilien mit seiner Initiative „Responsi-
        bility while protecting“ und wir, die Opposition im Bun-
        destag. Wir haben die Anträge zur Schutzverantwortung
        vorgelegt, und wir Grüne haben die Experten zu einer
        Konferenz eingeladen, um nach Lösungswegen zu
        suchen. Sie haben offensichtlich noch immer nicht
        begriffen, dass die Schutzverantwortung die menschen-
        rechtspolitische Herausforderung des 21. Jahrhunderts
        ist.
        Wir schon. Wir haben verstanden, dass wir im Sicher-
        heitsrat dringend Initiativen brauchen, wie wir bei Völ-
        kermord, Kriegsverbrechen, ethnischen Säuberungen
        und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, also bei
        schwersten Menschenrechtsverbrechen, Blockaden im
        Sicherheitsrat überwinden können. Wir bringen die Idee,
        die VN-Generalversammlung mehr in die Verantwor-
        tung zu nehmen im Sinne des „Uniting for Peace“. Und
        wir haben verstanden, dass wir dazu auch klare Leitplan-
        ken für Mandate brauchen. Dazu müssen wir die
        Vorschläge der Expertengruppe Kofi Annans weiterent-
        wickeln, das heißt etwa, auch enge zeitliche Beschrän-
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012 25941
        (A) (C)
        (D)(B)
        kungen und regelmäßige Überprüfungen von Mandaten
        voranzutreiben.
        Wir haben verstanden, dass es in Fragen schwerster
        Menschenrechtsverbrechen in erster Linie darum gehen
        muss, die vorbeugende Schutzverantwortung, die „Res-
        ponsibility to prevent“, in die Köpfe der Verantwortli-
        chen im Sicherheitsrat hineinzubekommen, um rechtzei-
        tig zu handeln, bevor Gewalt und Chaos regieren. Wir
        sollten Kofi Annans Vermächtnis nach Ruanda ernst
        nehmen und intensiv an einer zivilen und präventiven
        Schutzverantwortung arbeiten, um das Morden von mor-
        gen durch eine kluge Politik der Prävention von heute zu
        verhindern. Dazu brauchen wir in der Außenpolitik end-
        lich wieder eine neue Kultur der zivilen Krisenpräven-
        tion, wenn wir wieder als Zivilmacht ernst genommen
        werden wollen.
        Auch das hat diese Bundesregierung offensichtlich
        nicht verstanden. Sie entwickelt nicht etwa den Aktions-
        plan zivile Krisenprävention weiter und ergänzt ihn,
        etwa durch wichtige neue Instrumente zur politischen
        Vermittlung in Konflikten und Krisen, nein, stattdessen
        hat sie ihn einfach in die „Ablage P“, also in den Papier-
        korb, geschoben. Wichtige Institutionen wie das ZIF
        baut sie nicht aus, obwohl es immer mehr Aufgaben zu
        erfüllen hat. Und schließlich kürzt die Bundesregierung
        jetzt wieder die Mittel der zivilen Krisenprävention im
        Auswärtigen Amt und wartet ab, bis der Unterausschuss
        „Zivile Krisenprävention“ ihr Ideen auf den Tisch legt.
        Wir schlagen dagegen den Aufbau ziviler Präven-
        tionsinstrumente, wie Pools für Mediations-, Polizei-,
        Verwaltungs- und Rechtsexperten vor. Wir wollen die
        Frühwarnung und Reaktionsfähigkeit in Sachen Schutz-
        verantwortung stärken durch die Einrichtung nationaler
        Kontaktstellen, sogenannter Focal Points, und wir
        wollen die Einrichtung eines Beirates zur Verhütung von
        Massenverbrechen. Da sind uns die Amerikaner mit ih-
        rem Mass Atrocity Prevention Board schon weit voraus.
        Liebe Bundesregierung, ich appelliere an Sie: Lassen
        Sie sich gerade in Sachen Schutzverantwortung nicht
        weiter nur treiben, sondern treiben Sie selbst etwas
        voran. Unser Antrag sollte Ihnen dazu Ansporn sein und
        Inspiration geben. Ich bitte deshalb hier im Parlament
        um eine breite Unterstützung.
        Anlage 10
        Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung:
        – Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der In-
        nenentwicklung in den Städten und Gemein-
        den und weiteren Fortentwicklung des Städ-
        tebaurechts
        – Antrag: Baugesetzbuch wirklich novellieren
        Beschlussempfehlung und Bericht zu den An-
        trägen:
        – Barrierefreie Mobilität und barrierefreies
        Wohnen – Voraussetzungen für Teilhabe
        und Gleichberechtigung
        – Barrierefreies Bauen im Baugesetzbuch ver-
        bindlich regeln
        – Barrieren abbauen – Mobilität und Wohnen
        für alle
        (Tagesordnungspunkte 21 a bis 21 c)
        Peter Götz (CDU/CSU): Mit dem Gesetzentwurf zur
        Stärkung der Innenentwicklung in den Städten und Ge-
        meinden und zur weiteren Fortentwicklung des Städte-
        baurechts wollen wir sowohl das Baugesetzbuch als
        auch die Baunutzungsverordnung ändern. Im Juni ver-
        gangenen Jahres haben wir in einem ersten Schritt zur
        Beschleunigung der Energiewende die notwendigen An-
        passungen im Baugesetzbuch vorgenommen.
        Mit dem jetzt vorliegenden zweiten Teil wollen wir
        uns im Wesentlichen auf die Stärkung der Innenentwick-
        lung in den Städten und Gemeinden konzentrieren:
        Wir wollen, dass in Zukunft die städtebauliche Ent-
        wicklung noch stärker als bisher durch Maßnahmen der
        Innenentwicklung erfolgt. Die Umwandlung landwirt-
        schaftlich oder als Wald genutzter Fläche muss künftig
        besonders begründet werden. Wir wollen es durch eine
        Änderung der Baunutzungsverordnung den Kommunen
        erleichtern, in ihren Bebauungsplänen eine gewollte
        städtebauliche Verdichtung vorzusehen. Wir erleichtern
        den Kommunen die Steuerung der Ansiedlung von Ein-
        zelhandelsbetrieben.
        Ein weiterer Komplex sind Maßnahmen, die zu einer
        geordneten Entwicklung im Außenbereich des ländli-
        chen Raums beitragen sollen. Wir wissen, dass die bäu-
        erliche Landwirtschaft zu den tragenden Säulen der wirt-
        schaftlichen Entwicklung im ländlichen Raum gehört.
        Ihre bestehenden Entwicklungsmöglichkeiten dürfen
        nicht beeinträchtigt werden. Allerdings sind durch die
        Ansiedlung von großen Tierhaltungsanlagen in den letz-
        ten Jahren zunehmend Fragen aufgeworfen worden, ob
        die Standorte städtebaulich verträglich sind oder der Ent-
        wicklung der Gemeinden entgegenstehen.
        Wir haben uns deshalb die Frage gestellt, wie die Ge-
        meinden trotz der privilegierten Zulässigkeit dieser Tier-
        haltungsanlagen im Außenbereich die Instrumente der
        Bauleitplanung zum Einsatz bringen können. Dabei geht
        es vor allem um die industrielle Intensivtierhaltung, die
        teilweise Ausmaße angenommen hat, die zu einer nach-
        haltigen Beeinträchtigung der Umwelt sowie der Le-
        bensqualität führen kann. Nur für diesen Bereich und
        nicht für den normalen landwirtschaftlichen Betrieb
        brauchen die Kommunen wirkungsvolle Steuerungs-
        möglichkeiten, die wir mit diesem Gesetz vorschlagen.
        Ich werde in den parlamentarischen Beratungen auf
        diese Unterscheidung großen Wert legen. Eine pauschale
        Verdammung landwirtschaftlicher Vorhaben im Außen-
        bereich tragen wir nicht mit.
        Zur Unterstützung des Strukturwandels in der Land-
        wirtschaft schlägt die Bundesregierung außerdem vor,
        den Begünstigungstatbestand für ehemals landwirt-
        schaftlich genutzte Gebäude maßvoll zu erweitern.
        25942 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012
        (A) (C)
        (D)(B)
        Ein dritter Punkt sind jene Regelungsvorschläge, die
        darauf abzielen, konkrete Vorhaben in den Städten und
        Gemeinden durch aktives Handeln zu unterstützen. Dazu
        zähle ich insbesondere die Erweiterung des gemeindli-
        chen Vorkaufsrechts zugunsten eines Dritten. Diese
        Regelung wird zur Verfahrensvereinfachung und Verfah-
        rensbeschleunigung beitragen. Gemeinden und Investo-
        ren werden dadurch außerdem entlastet.
        Ein weiteres stadtentwicklungspolitisches Problem,
        das dem Ziel einer qualitätsvollen Innenentwicklung der
        Städte und Gemeinden widerspricht, greifen wir mit die-
        sem Gesetz ebenfalls auf:
        In den letzten Jahren prägen zunehmend verwahr-
        loste, nicht mehr wirtschaftlich nutzbare Gebäude das
        Bild vieler Städte, teilweise auch der Innenstädte. Solche
        „Schrottimmobilien“ stellen aufgrund ihrer negativen
        Ausstrahlung auf die Umgebung für viele Kommunen
        eine große Herausforderung dar. Nicht selten werden
        solche Immobilien als Spekulationsobjekte gehalten, die
        nach und nach dem Verfall preisgegeben sind. Struktur-
        schwache Regionen, die mit wirtschaftlich bedingten
        Bevölkerungsverlusten und auch mit den Folgen des de-
        mografischen Wandels kämpfen, sind davon besonders
        betroffen. Dies gilt sowohl für die Großstädte als auch
        für Gemeinden im ländlichen Raum.
        Erlauben Sie mir noch den Hinweis darauf, dass die
        Bundesregierung dem Wunsch nach einem verbesserten
        Vorschlag für die rechtliche Unterstützung des energie-
        effizienten und klimaneutralen Quartiersumbaus nachge-
        kommen ist. Wir wollen energieeffiziente Lösungen, die
        einerseits dem Klimaschutz Rechnung tragen, die aber
        auch wirtschaftlich sind und von den Haus- und Grund-
        stückseigentümern angenommen werden. Ordnungspoli-
        tische Zwänge sind der falsche Weg. Auch wollen wir
        durch eine Änderung des Städtebaurechts eine verbes-
        serte Steuerung von Vergnügungsstätten ermöglichen
        und für die Anwendung städtebaulicher Verträge klar-
        stellende Regelungen aufnehmen. Wir haben einen guten
        Gesetzentwurf.
        Der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme zum Ge-
        setzentwurf einige interessante Punkte angesprochen,
        die wir in den Beratungen diskutieren werden.
        Im Bau- und Planungsrecht ist es eine gute und be-
        währte Tradition, im Vorfeld der parlamentarischen Be-
        ratungen zusammen mit ausgewählten Kommunen im
        Planspiel gesetzliche Auswirkungen zu testen. Die Er-
        gebnisse des Planspiels und der vereinbarten Sachver-
        ständigenanhörung fließen in unsere Entscheidungs-
        findung ein. Ich bin optimistisch, dass wir diesen
        Gesetzentwurf, so wie seine Vorgänger, im guten und of-
        fenen Gedankenaustausch beraten. Es wird für mich
        nach mehr als 20 Jahren wohl das letzte parlamentari-
        sche Verfahren zur Änderung des Baugesetzbuches sein.
        Mein persönlicher Wunsch ist es, dass wir es auch dieses
        Mal wieder quer durch alle Fraktionen schaffen, zu ei-
        nem breiten Konsens über die wesentlichen Änderungen
        des Baugesetzbuches zu kommen.
        Planungssicherheit für einen längeren Zeitraum ist
        gerade im Baubereich für alle Akteure in den Rathäu-
        sern, aber auch für Investoren ein nicht zu unterschät-
        zendes hohes Gut. Deshalb sind Deutscher Bundestag
        und Bundesrat gut beraten, beim Baugesetzbuch und der
        Baunutzungsverordnung möglichst mit großer Mehrheit
        an einem Strang zu ziehen. Das erfordert Kompromisse
        in der Sache. Lassen Sie uns darüber reden. Ich wünsche
        uns fruchtbare Beratungen.
        Volkmar Vogel (Kleinsaara) (CDU/CSU): Heute
        machen wir einen wichtigen Schritt in Richtung der not-
        wendigen Novelle des Bau- und Planungsrechts.
        Das deutsche Baugesetzbuch ist seit Jahrzehnten ein
        bewährtes und verlässliches Planungsinstrument. Das
        Baugesetzbuch und die Bauordnungen der Länder haben
        mit dafür gesorgt, den enormen Nachholbedarf bei Infra-
        struktur und Siedlungsbau in Ostdeutschland zu stem-
        men. Dank gemeinsamer Anstrengungen des Bundes,
        der Länder und Kommunen ist es uns gelungen, die
        durch Plan- und Mangelwirtschaft verursachten Defizite
        zu beheben.
        Geänderte Lebensumstände und neue gewerbliche
        Strukturen erfordern eine Anpassung im Bebauungs-
        recht. Mit den demografischen Veränderungen und wei-
        teren Flächeninanspruchnahmen wächst die Forderung
        aus den Kommunen an den Gesetzgeber. Der Schutz
        landwirtschaftlicher Flächen vor weiterer Inanspruch-
        nahme durch Siedlung und Verkehr hat für die christlich-
        liberalen Koalitionspartner große Priorität. Wir haben
        auch Verständnis für den Unmut der Landwirte, wenn
        wertvolle Böden für Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen
        geopfert werden. Wir verstehen die Kritik, wenn mehr
        und mehr Fläche im Außenbereich versiegelt wird. Wir
        nehmen Beschwerden der Bevölkerung über Belastun-
        gen durch Agrargewerbebetriebe vor der Haustür ernst.
        Wir sehen die Schwierigkeit, dass bei weiterer Sied-
        lungsausdehnung die Innenstädte zusehends strukturell
        verarmen.
        Deswegen haben wir im Koalitionsvertrag die Stär-
        kung der Innenentwicklung zur Reduktion der Flächen-
        inanspruchnahme als Ziel unserer Regierungspolitik fest-
        gehalten. Der vorliegende Regierungsentwurf zur
        Novelle des Baugesetzbuches setzt klare Signale für eine
        nachhaltige Flächennutzung und zukunftsgerechte Stadt-
        entwicklung. Der Regierungsentwurf zielt unmissver-
        ständlich auf eine Stärkung der Innenentwicklung in
        Städten und Gemeinden. Die Kommunen sollen mehr Ge-
        staltungsfreiraum durch bessere Unterstützung bei der
        städtebaulichen Entwicklung erhalten. Anstatt mehr Flä-
        che im Außenbereich zu nutzen, sollen Baulücken ge-
        schlossen, Brachen genutzt und leer stehende Gebäude
        durch Modernisierung attraktiver werden.
        Die christlich-liberale Koalition steht zur Privilegie-
        rung landwirtschaftlicher Betriebe im Außenbereich. Wir
        wollen keine neuen Planungsinstrumente schaffen, son-
        dern vorhandene anwenden. Demografische Veränderun-
        gen und neue Methoden der Landwirtschaft erfordern vor
        allem praxistaugliche Regelungen. Bei Agrargewerbebe-
        trieben halten wir die Umweltverträglichkeitsprüfung
        deshalb für ein geeignetes Instrument der Kommunen.
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012 25943
        (A) (C)
        (D)(B)
        Das Baugesetzbuch und die Bauordnungen der Län-
        der berühren in Verbindung mit der Baunutzungsverord-
        nung alle Bereiche des Lebens und der Wirtschaft. Des-
        halb sollten wir uns hier im Hause einig sein, einen
        möglichst breiten Konsens zwischen den Fraktionen ge-
        meinsam mit den Bundesländern zu finden.
        Die Menschen stellen neue Ansprüche an das Woh-
        nen. Dem müssen wir als Gesetzgeber folgen. Barriere-
        freiheit, aber auch Barrierearmut im Gebäude werden
        zusehends wichtige Themen. Die Belange von älteren
        Menschen und Menschen mit Behinderungen finden im
        Baugesetzbuch bereits Berücksichtigung. Wie ich bereits
        sagte, liegt die Ausgestaltung in der Zuständigkeit der
        Länder und der jeweiligen Bauordnungen. Das Bauge-
        setzbuch eröffnet dazu in § 1 die notwendigen Rechts-
        grundlagen. Die Bauordnungen der Länder können dazu
        weitere Regelungen treffen.
        Auch der Aktionsplan der Bunderegierung zur Um-
        setzung der Behindertenrechtskonvention sowie die För-
        dermittel der Kreditanstalt für Wiederaufbau zum alters-
        gerechten Umbau zielen in dieselbe Richtung. Auch der
        jüngst erzielte Kompromiss im Personenbeförderungs-
        gesetz zeigt, dass wir gemeinsam erfolgreich an einer
        sukzessiven Entwicklung hin zu mehr barrierefreien An-
        geboten arbeiten können.
        Aus diesen Gründen können wir den Anträgen der
        Opposition nicht folgen. Ich werbe um Zustimmung zum
        vorgelegten Regierungsentwurf.
        Hans-Joachim Hacker (SPD): Die Weihnachtszeit
        ist ja bekanntlich die Zeit der Geschenke. Heute erfüllt
        uns Herr Minister Ramsauer auch endlich einen Wunsch
        und legt die lang erwartete Novelle zum Bauplanungs-
        recht vor. Der Entwurf für ein Gesetz zur Stärkung der
        Innenentwicklung in den Städten und Gemeinden und
        weiteren Fortentwicklung des Städtebaurechts hat fast
        ein Jahr benötigt, um vom Referentenentwurf zum Kabi-
        nettsentwurf zu reifen.
        Bedenkt man, dass die Novellierung des Baupla-
        nungsrechts ursprünglich einmal 2011 abgeschlossen
        sein sollte und jetzt erst weit in 2013 in Kraft treten
        kann, ist die tatsächliche Verzögerung noch viel erhebli-
        cher.
        Für die durch die Energiewende notwendige Aufsplit-
        tung der Novelle kann ich die Bundesregierung nicht kri-
        tisieren. Das war wegen des Atomausstiegs richtig, und
        wir haben das auch im Konsens durchgezogen. Aller-
        dings hätte der zweite, ebenso wichtige Teil der Novelle
        längst umgesetzt werden müssen. Hier muss sich die
        Bundesregierung sehr wohl den Vorwurf gefallen lassen,
        wegen hausgemachter Probleme bei der Abstimmung
        zwischen den Ressorts unnötig Zeit verschwendet zu ha-
        ben.
        Es kann doch nicht sein, dass ein Streit zwischen dem
        Minister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung und sei-
        ner Kollegin aus dem Landwirtschaftsministerium die
        Novellierung des BauGB für Monate auf Eis legt. Und
        das auch noch wegen eines ganz zentralen Punkts des
        Entwurfs, der baurechtlichen Privilegierung der Inten-
        sivtierhaltungsanlagen. Und es ist noch verwunderlicher,
        dass am Ende sogar noch die unbedeutende Frage der
        baurechtlichen Einordnung von Kleintierzucht zu weite-
        ren wochenlangen Verzögerungen führte. Wir sind von
        der schwarz-gelben Koalition in Bezug auf Tierverglei-
        che ja schon einiges gewohnt – die Wildsäue und der
        Frosch lassen grüßen. Es erstaunt mich aber dennoch,
        dass der Bundesregierung eine Regelung für Rassegeflü-
        gelzucht in der Baunutzungsverordnung offenkundig so
        wichtig ist, dass sie die überfällige Weiterentwicklung
        des Bauplanungsrechtes dafür auf die lange Bank ge-
        schoben hat.
        Mit dem Gesetz zur Stärkung der Innenentwicklung
        in den Städten und Gemeinden und weiteren Fortent-
        wicklung des Städtebaurechts muss der Gesetzgeber eine
        Antwort auf Trends und Entwicklungen geben, die die
        Städtebaupolitik in den letzten Jahren maßgeblich be-
        stimmen. Diesen Ansatz unterstützt die SPD-Bundes-
        tagsfraktion ausdrücklich.
        Die demografische Entwicklung mit der Veränderung
        der Altersstruktur einerseits und dem Rückgang der Be-
        völkerung andererseits, die zudem auch noch regional
        sehr unterschiedlich ausfällt, hat erhebliche Auswirkun-
        gen auf die Entwicklung der Städte und Gemeinden. Das
        gilt es zu gestalten.
        Wir erleben derzeit, wie uns die damit verbundenen
        Probleme förmlich schon auf den Nägeln brennen. Der
        Zuzug von Menschen in die Städte und Ballungsgebiete
        führt zu Wohnraumverknappung und steigenden Mieten.
        Die Verdichtung des Innenbereichs, die sich in Zukunft
        noch weiter verstärken wird, macht eine Anpassung der
        bauplanungsrechtlichen Grundlagen unumgänglich. Üb-
        rigens auch da, wo wir die gegenteilige Entwicklung ha-
        ben. Auch in den Schrumpfungsregionen müssen Pro-
        zesse gestaltet werden, müssen Kommunen zusätzliche
        Steuerungsinstrumente erhalten, um mit den Folgen die-
        ser Schrumpfungsprozesse umgehen zu können. Die
        Verdichtung, etwa durch Erschließung von Freiflächen
        oder Möglichkeiten zur Aufstockung von Gebäuden in
        den Städten, und die Entwertung, etwa durch Leerstand
        oder durch Schrottimmobilien – das sind zwei Seiten
        derselben Medaille.
        Dazu gehören auch der Klimaschutz und die Gestal-
        tung der städtebaulichen Folgen der klimatischen Verän-
        derungen. Steigende Energiepreise und die damit ver-
        bundenen höheren Transportkosten führen zum Wegzug
        von Pendlern aus den Speckgürteln in die Innenstädte.
        Dort muss dann aber im Gegenzug auch die energetische
        Ausstattung der Wohnquartiere so sein, dass die wegfal-
        lenden Pendelkosten nicht anschließend durch die hohen
        Energiekosten schlecht gedämmter Wohnhäuser wieder
        aufgefressen werden. Das gilt aber auch für die Mieten,
        die durch überzogene energetische Maßnahmen und de-
        ren Kostenfolgen nicht noch weiter klettern dürfen.
        Zur Stärkung des Innenbereichs gehört es auch, die
        Infrastruktur auf die mit der Verdichtung zusammenhän-
        genden Entwicklungen einzustellen und dabei auch die
        Aspekte des Klimaschutzes mit zu berücksichtigen –
        zum Beispiel durch zentrale Versorgungseinrichtungen,
        25944 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012
        (A) (C)
        (D)(B)
        die unnötige Wege und unnötigen CO2-Ausstoß vermei-
        den.
        Und letztlich ergibt sich durch den Schwerpunkt der
        Innenentwicklung auch die Option, den Außenbereich
        stärker als bislang zu schützen. Verdichtete Innenstädte
        brauchen mehr denn je den Ausgleich durch die zu
        schützende sprichwörtliche „grüne Wiese“ im Außenbe-
        reich, die eben mehr ist als nur eine Fläche zur Ansied-
        lung von Einkaufszentren.
        Das sind – in groben Zügen – die Anforderungen an
        die Novelle des Bauplanungsrechtes, die mit dem Ge-
        setzentwurf im Großen und Ganzen auch umgesetzt wer-
        den sollen.
        Der Entwurf des Gesetzes, mit dem in Zukunft so-
        wohl SPD- als auch unionsgeführte Kommunen – ja so-
        gar Städte mit grünen Bürgermeistern – umgehen müs-
        sen, ist ja auch nicht im Elfenbeinturm des BMVBS
        entstanden. Er ist Ergebnis eines langen Dialogprozes-
        ses, in den die maßgeblichen kommunalen Akteure im
        Rahmen der Berliner Gespräche eingebunden waren.
        Herausgekommen ist ein Gesetzentwurf, mit dem die
        Koalition im Wesentlichen ihren Koalitionsvertrag abar-
        beitet und über die dort vereinbarten Punkte hinaus nur
        noch notwendig gewordene Anpassungen an die Recht-
        sprechung und an geändertes EU-Recht sowie Folgeän-
        derungen durch vorangegangene Änderungen in Fachge-
        setzen umsetzt. Lediglich mit den Regelungen zur
        Intensivtierhaltung und zu Vergnügungsstätten bzw.
        Spielhallen wird weiterer politischer Regelungsbedarf
        aufgegriffen.
        Einen großen Wurf kann man diese Novelle also nicht
        gerade nennen, eher Dienst nach Vorschrift – aber mehr
        war von dieser Koalition auch nicht zu erwarten. Der
        Umstand, dass dieser Punkt heute hätte um Mitternacht
        debattiert werden sollen und nicht in der Kernzeit,
        spricht ja Bände.
        Im Ergebnis präsentiert sich der Gesetzentwurf also
        als „Novelle light“. Eine revolutionäre Weiterentwick-
        lung des Bauplanungsrechts erfolgt nicht. Bereits die
        Formulierungen des Koalitionsvertrages hatten ja, wie
        gesagt, keine großen gestalterischen Absichten erkennen
        lassen. Auch bei der Vorbereitung des Gesetzentwurfs
        durch die Berliner Gespräche hat das BMVBS eher
        bremsend als reformbegeistert gewirkt. Konkretere
        Maßnahmen zum Bauen im Außenbereich etwa oder zur
        Minimierung des Flächenverbrauchs waren ausdrücklich
        nicht gewünscht bzw. wurden gar als „Investitions-
        hemmnis“ bezeichnet.
        Die von dieser doch sehr eindeutigen politischen Vor-
        gabe geprägten Vorschläge und Empfehlungen der Ex-
        perten wurden im weiteren Verlauf vom BMVBS auch
        nur in Teilen in den Entwurf aufgenommen. Weiterge-
        hende Regelungen wurden zudem währen der koalitions-
        internen Abstimmung weichgespült oder ganz fallen ge-
        lassen.
        Gleichwohl: Die Städte und Gemeinden warten hän-
        deringend auf die im Gesetz enthaltenen baurechtlichen
        Regelungen für ihre durch Zuzug und Wohnungsmangel
        geprägten Innenstädte. Sie brauchen verbesserte Durch-
        griffsmöglichkeiten im Umgang mit Schrottimmobilien,
        sie brauchen Regelungen zur Einschränkung der
        Flächeninanspruchnahme und zum Schutz des Außenbe-
        reichs. Die baurechtliche Zulässigkeit von Kinderbetreu-
        ungseinrichtungen in Wohngebieten ist ein ebenso wich-
        tiges Anliegen. Die SPD könnte daher auch diese nicht
        in allen Teilen zufriedenstellende Novelle mittragen,
        wenn die Bundesregierung den Entwurf in entscheiden-
        den Punkten nachbessert.
        Dazu gehören aus Sicht der SPD ganz klar Änderun-
        gen bei der nur halbherzig vorgenommenen Einschrän-
        kung der baurechtlichen Privilegierung der Intensivtier-
        haltung. Die Privilegierung der Tierhaltung muss nach
        Auffassung der SPD im Baurecht künftig schon bei Er-
        reichen des jeweils unteren Schwellenwertes im Gesetz
        über die Umweltverträglichkeitsprüfung entfallen – und
        zwar ohne eine unnötige Vorprüfung und ohne zwischen
        landwirtschaftlicher und gewerblicher Tierhaltung zu
        unterscheiden. Wir wollen, dass die kommunalen Steue-
        rungsmöglichkeiten deutlich verbessert werden, damit
        die zuständigen Stellen endlich die Probleme vor Ort lö-
        sen können. Die schwarz-gelbe Bundesregierung löst
        mit ihrer Novelle in der vorliegenden Fassung keines der
        drängenden Probleme im Bereich der Tierhaltung.
        Auch die im Entwurf enthaltenen Instrumente für
        Kommunen, gegen Schrottimmobilien vorzugehen, sind
        in der vorliegenden Form ein stumpfes Schwert. Es fehlt
        vor allem der politische Wille, Eigentümer dieser
        Schandflecken an den Kosten für deren Beseitigung zu
        beteiligen. Das ist ein zentraler Punkt, bei dem aus unse-
        rer Sicht der Entwurf nicht so die Ausschussberatung
        verlassen darf, wie er hineingeht.
        Ich will hier als weiteren Punkt die im Baugesetzbuch
        vorgesehenen Änderungen zum Schutz des Außenbe-
        reichs nennen, die sich im Wesentlichen auf gut klin-
        gende Sätze in § 1 und 1 a beschränken, ohne aber in der
        Praxis nennenswerte Auswirkungen zu haben. Im Ge-
        genteil, kuriose Einzelregelungen wie zum Beispiel die
        geplante Neufassung des § 35 Abs. 4 – Stichworte: Um-
        nutzung und Neubau von Höfen im Außenbereich – lau-
        fen sogar auf das Gegenteil hinaus und unterlaufen die
        Intention des Gesetzentwurfes.
        Hier gilt es also, in der weiteren Beratung unter Ab-
        wägung der Belange der Kommunen und unter Vermei-
        dung allzu großer bürokratischer Auflagen Regelungen
        zu finden, die den Schutz des Außenbereichs und die Er-
        reichung des 30-Hektar-Ziels tatsächlich sicherstellen.
        Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfrak-
        tion, die kommenden Ausschussberatungen werden zei-
        gen, wie ernst Sie es mit der Stärkung der Innenentwick-
        lung der Städte und Gemeinden wirklich meinen.
        Petra Müller (Aachen) (FDP): Mit dem Gesetz zur
        Stärkung der Innenentwicklung in Städten und Gemein-
        den und zur weiteren Fortentwicklung des Städtebau-
        rechts erfüllen CDU/CSU und FDP ihren Koalitionsver-
        trag weiterhin zielbewusst, konzentriert und erfolgreich.
        Mit dem hier vorgelegten Gesetzentwurf wollen wir zu-
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012 25945
        (A) (C)
        (D)(B)
        gleich wesentliche Ziele einer zukunftsgerichteten und
        an den sich verändernden Lebensbedingungen ausge-
        richteten Stadtentwicklung und Raumplanung erreichen.
        Es ist dabei Ziel der FDP, den Menschen in Deutschland
        ein qualitativ hochwertiges, modernes und nachhaltiges
        Lebensumfeld zu schaffen. Die Ziele des Klimaschutzes
        und die notwendigen Schritte zur erfolgreichen Gestal-
        tung der Energiewende haben wir immer fest im Blick.
        Diesen Anforderungen wird das vorgelegte Gesetz
        gerecht: Mit einer Vielzahl von Maßnahmen in einer
        Vielzahl von Bereichen werden wir mit der Gesetzesvor-
        lage das Leben der Menschen erleichtern und verbes-
        sern, die kommunale Selbstverwaltung weiter stärken
        und zugleich die Ziele der nationalen Nachhaltigkeits-
        strategie konsequent verfolgen. So wird die Innenent-
        wicklung der Städte und Gemeinden in der städtebauli-
        chen Entwicklung weiterhin vorrangig erfolgen. Die
        Reduzierung der Flächeninanspruchnahme ist im Koali-
        tionsvertrag vereinbart und wir setzen dieses Vorhaben
        mit diesem Gesetz fort. Sollten darüber hinaus zukünftig
        landwirtschaftlich oder als Wald genutzte Flächen einer
        Umnutzung zugeführt werden, so bedarf dies künftig ei-
        ner ausdrücklichen Begründung. So erhöhen wir die
        Schwelle der Neubebauung und fördern die Entwicklung
        eines bewussten Umgangs mit Freiflächen und Raum.
        Den Kommunen wird es im Zusammenhang mit der
        Innenentwicklung erstens erleichtert, in ihren Bebau-
        ungsplänen eine gewollte städtebauliche Verdichtung
        vorzusehen. Darüber hinaus wird mit diesem Gesetz
        zweitens durch die Schaffung einer neuen Darstellungs-
        möglichkeit im Flächennutzungsplan der Schutz zentra-
        ler Versorgungsbereiche nachdrücklich gestärkt werden.
        Und drittens erhalten die Kommunen Erleichterungen
        beim gesetzlichen Vorkaufsrecht der Gemeinden. All das
        wird den Kommunen einen neuen, einen wirkungsvollen
        Handlungsspielraum geben, die Städte und Gemeinden
        lebenswerter und wohnlicher zu gestalten und dabei die
        Umwelt und Natur zu schützen und zu erhalten.
        Mit dem Gesetz schaffen wir aber auch für den Ein-
        zelnen, für den Bürger sofort oder kurzfristig wirksame
        und wahrnehmbare Verbesserungen: So werden Kinder-
        tagesstätten zukünftig in einer den Bedürfnissen der Be-
        wohner angemessenen Größe auch in reinen Wohngebie-
        ten allgemein zulässig sein. Wir unterstützen damit
        Eltern, wir verbessern die Vereinbarkeit von Familie und
        Beruf durch kurze Wege und die Ermöglichung von Be-
        treuungsplätzen. Bereits im letzten Jahr hat die christ-
        lich-liberale Koalition klargestellt, dass Kinderlärm
        keine schädliche Umwelteinwirkung darstellt; jetzt wer-
        den wir das Recht der Kinder auf eine in ihr Lebensum-
        feld integrierte Außer-Haus-Betreuung weiter stärken.
        Nur zwei weitere Punkte aus dem Gesetz darf ich an-
        sprechen, die in der Bevölkerung berechtigterweise im-
        mer große Aufmerksamkeit und Resonanz finden und
        die dezidiertes Interesse liberaler Stadtentwicklungspoli-
        tik sind: Zur Steuerung der Ansiedlung von Vergnü-
        gungsstätten wird es zukünftig eine klarstellende Rege-
        lung geben. Gewerbliche Tierhaltungsanlagen sollen im
        Außenbereich nur dann privilegiert sein, wenn sie keine
        Pflicht zur Umweltverträglichkeitsprüfung haben. Damit
        regeln wir sensible Bereiche der Baugesetzgebung nun
        endlich zum Wohle der Menschen und unter Berücksich-
        tigung auch berechtigter wirtschaftlicher Interessen.
        Ich darf an dieser Stelle ausdrücklich darauf hinwei-
        sen, dass die Landwirte von diesen Regelungen nicht be-
        troffen sind, sondern ausschließlich und gewollt die ge-
        werbliche Tierhaltung. Insofern kann ich die Aufregung
        mancher Landwirte nicht nachvollziehen. Letztlich
        bleibt es aber immer die Eigenverantwortung der betrof-
        fenen Kommune, dass für ihre Region „Beste“ zu ent-
        scheiden.
        Mit der Vorlage dieses Gesetzes beweist die Koalition
        ihre politische Handlungsfähigkeit und setzt einen weite-
        ren wichtigen Stein auf dem Weg zu einer erfolgreichen
        und lebensnahen Politik für Bürgerinnen und Bürger, für
        Deutschland.
        Alexander Süßmair (DIE LINKE): Wir debattieren
        heute in erster Lesung den Entwurf eines Gesetzes zur
        Stärkung der Innenentwicklung in den Städten und Ge-
        meinden und weiteren Fortentwicklung des Städtebau-
        rechts. Das Hauptanliegen des Gesetzentwurfs ist klar.
        Die Linke teilt die Forderungen nach Stärkung der
        Innenstädte und Ortskerne. Natürlich wenden wir uns
        gegen weitere Flächenversiegelung durch Zersiedelung.
        Da sind wir uns in diesem Hause wohl alle einig, und es
        wird allerhöchste Zeit, dass den Sonntagsreden der
        Bundesregierung auch Taten folgen: Der Flächen-
        verbrauch muss aus umwelt- und agrarpolitischen Grün-
        den dringend gestoppt werden.
        Der vorliegende Gesetzentwurf krankt aber an zwei
        Punkten:
        Erster Punkt. Es fehlt das klare Bekenntnis, die 2009
        beschlossene UN-Behindertenrechtskonvention auch
        beim Städtebau umzusetzen. Wir brauchen ein Grund-
        recht auf Barrierefreiheit. Das nützt nicht nur Menschen
        mit Behinderungen, sondern allen, die im Alltag behin-
        dert werden: Kindern, Alten, dem Vater mit dem Kinder-
        wagen, der Frau mit dem Lastrad. Die Linke hat dazu ei-
        nen Antrag eingebracht, den wir hier in dritter Lesung
        debattieren und dann abstimmen werden. Wir unterstüt-
        zen aber ebenso die Anträge von SPD und Bündnis 90/
        Die Grünen zur Barrierefreiheit. Die Oppositionsfraktio-
        nen sind sich hier, abgesehen von Nuancen, ziemlich
        einig. Im Gesetzentwurf der Regierung kommt die Bar-
        rierefreiheit allerdings überhaupt nicht vor. Das kann
        doch wohl nicht ihr Ernst sein? Hier müssen Sie drin-
        gend nachbessern!
        Zweiter Punkt. Ihre Änderung des § 35 Baugesetz-
        buch geht in die falsche Richtung. In diesem Paragrafen
        geht es um die Privilegierung landwirtschaftlicher Ge-
        bäude im Außenbereich. Nun sollen auch gewerbliche
        Tierhalter davon profitieren, solange die Stallanlagen
        nicht unter die Umweltverträglichkeitsprüfung fallen.
        Das klingt kompliziert. Sagen wir es deutlicher: Die
        Bundesregierung will jetzt sogar die Intensivtierhaltung
        besser behandeln als bisher. Das geht gar nicht und ist
        ein Schlag ins Gesicht der Bürgerinnen und Bürger in
        25946 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012
        (A) (C)
        (D)(B)
        den Regionen, die heute schon von einer extremen
        Konzentration der Intensivtierhaltung betroffen sind.
        Die Linke spricht sich generell für die Beibehaltung
        des Landwirtschaftsprivilegs im Baurecht aus. Die Linke
        hält es aber für unumgänglich, mehrere „Verträglich-
        keitskriterien“ für derartige Anlagen zu formulieren und
        gesetzlich zu regeln. Die Umweltverträglichkeitsprüfung
        allein reicht aber als Kriterium nicht aus. Viehdichte und
        Bodenverhältnisse einer Region müssen ebenso eine
        Rolle spielen wie Bevölkerungsdichte und die soziale
        Struktur.
        Auf der Ebene der Bundesländer sollten Eignungska-
        taster potenzieller Tierhaltungsstandorte entwickelt wer-
        den. Diese könnten im Rahmen der Raumordnung in den
        Regional- oder Landesplanungen berücksichtigt werden.
        Ein wesentlicher Vorteil läge darin, dass sich sowohl die
        Akteure als auch die Bevölkerung der Region frühzeitig
        auf mögliche Investitionsvorhaben einstellen und sie mit
        beeinflussen können. Unterschiedliche Standortbedin-
        gungen fänden damit zudem Berücksichtigung.
        Der klassische Naturkreislauf Boden–Pflanze–Tier–
        Boden muss auch in Hinblick auf die Neuansiedlung von
        Tierhaltungsanlagen Beachtung finden. Er ist Ausdruck
        regionaler Stoffkreisläufe, die im Gegensatz zum globa-
        len Umschlag von Stoffen und Energie zum Schutz der
        Umwelt und des Klimas beitragen können. Somit kann
        auch dem Anspruch, Transportaufwendungen so weit
        wie möglich zu minimieren, Rechnung getragen werden.
        Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, ge-
        statten Sie mir diese Bemerkung: Es geht um regionale
        Stoffkreisläufe, nicht zwingend um innerbetriebliche.
        Abgesehen davon können betriebliche Flächen weit ver-
        teilt sein. Ihre Forderung, dass 50 Prozent des Futters
        aus dem eigenen Betrieb stammt, hört sich vielleicht gut
        an, ist aber derzeit realitätsfern und greift zu kurz. Futter
        muss aus der Region kommen, Gülle muss in ihr verblei-
        ben. Die Größe der Region ist von geografischen und
        kulturellen Faktoren abhängig und daher verschieden.
        Darum geht es aber nicht vorrangig. Es geht vielmehr
        darum, dass wir mittelfristig in der Lage sein müssen,
        unsere Futtermittel selbst anzubauen. Wir müssen
        Schluss machen mit dem Import von Soja, das in ande-
        ren Teilen der Welt unter katastrophalen sozialen und
        ökologischen Bedingungen produziert wird!
        Sie sehen, das Landwirtschaftsprivileg in § 35 Bauge-
        setzbuch ist ein komplexes Thema. Das Baugesetz allein
        kann die Frage nicht lösen, wie wir von der Intensivtier-
        haltung zu einer tiergerechten nachhaltigen Nutztierhal-
        tung kommen können.
        Bettina Herlitzius (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        Es ist ärgerlich, dass dieses wichtige Thema zu so später
        Stunde aufgesetzt werden sollte, bewusst in Kauf neh-
        mend, dass dann keine politische Debatte mehr stattfin-
        det, sondern alle Reden zu Protokoll gegeben werden.
        Dabei hat die Regierung die Novellierung des Bauge-
        setzbuches bewusst verschleppt und verzögert. Seit ei-
        nem Jahr warten wir auf Ihren Gesetzesvorschlag. Nun
        legen Sie ihn vor. Und was macht die Koalition? Sie ver-
        bannt die Debatte in die Nachtzeit, damit keiner etwas
        merkt.
        Dabei sind die Probleme der Menschen in unseren
        Städten und Gemeinden drängend. Kein Tag vergeht,
        ohne dass die Medien über steigende Mieten, viel zu
        hohe Nebenkosten, Verdrängung von Mietern aus ihren
        Vierteln, über Flächenfraß und über die unzumutbaren
        Zustände in den Immobilienbeständen der Hedge-Fonds,
        der sogenannten Heuschrecken, berichten. Aber anstatt
        zu handeln, legen Sie ein Gesetz vor, das nur ein baupo-
        litisches Trostpflaster für die Kommunen ist.
        Es ist schon bemerkenswert, wie viele Regelungen
        man in einem Gesetz unterbringen kann, ohne wirklich
        etwas zu bewegen. Sie gehen wirklich jedes aktuelle
        Thema an und schaffen dabei keine neuen Handlungs-
        spielräume für die Gemeinden. Einzig positiv sind die
        Änderungen bei den Spielhallen, die zwei Jahre nach un-
        serem Antrag zu dem Thema endlich angepackt werden.
        Aber nun zu der ganzen Reihe von Themen, die nur
        scheinbar anpackt werden.
        Herr Minister Ramsauer, unser Ankündigungsminis-
        ter, hat groß von Maßnahmen gegen die Intensivtierhal-
        tung gesprochen. Doch die Änderungen werden nichts
        an der aktuellen Praxis bewirken. Ein Betrieb mit
        84 999 Hühnern fällt offensichtlich in Ramsauers Bild
        einer bäuerlichen Landwirtschaft.
        Auch für die energetische Sanierung von Quartieren
        gibt es ein Placebo. § 136 des Baugesetzbuchs wird ge-
        ändert, aber nicht in der von Fachleuten geforderten Fas-
        sung, sondern in einer abgeschwächten Variante, die in
        der Praxis ohne Auswirkung bleiben wird. Dabei wäre es
        so wichtig, Quartierssanierungen voranzubringen und
        dem neuen KfW-Programm zur Stadtsanierung einen si-
        cheren Rahmen zu geben.
        Ein weiteres Thema, in dem Sie Tätigkeit vortäu-
        schen, sind die Schrottimmobilien. Ihre redaktionelle
        Änderung in § 179 erweitert die Handlungsspielräume
        der Gemeinden nur unwesentlich. Solange die Gemein-
        den allein auf den Kosten sitzenbleiben, kann der Kampf
        gegen Schrottimmobilien nicht gelingen. Mit unserem
        Antrag schlagen wir ein Konzept vor, dass auch die Ver-
        ursacher in die Pflicht nimmt, ohne ihnen unzumutbare
        Lasten aufzubürden. Wenn Sie schon unserem Antrag
        dazu nicht folgen wollen, dann greifen Sie doch wenigs-
        tens die Initiative der Länder im Bundesrat auf.
        Die großen Worte zum U3-Kindergartenausbau sind
        ohne Substanz. Für Kindertagesstätten in reinen Wohn-
        gebieten wollen Sie die Hürden im Baurecht nicht ganz
        aufheben. Damit steht ihr Handeln wieder einmal im Ge-
        gensatz zur ihren Reden. Hier können Sie ganz konkret
        mit einem Bundesgesetz etwas für den Kitaausbau tun;
        doch Sie verweigern sich.
        Besonders ärgerlich ist Ihr Verständnis von Innenent-
        wicklung. In der Novelle zur Innenentwicklung eine Re-
        gelung unterzubringen, bei der der Abriss von Scheunen
        zugunsten von Ferienwohnungen begünstigt wird, ist
        einmalig. Das ist Klientelpolitik und führt zu weiterer
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012 25947
        (A) (C)
        (D)(B)
        Zersiedlung. Das ist das Gegenteil von Innenentwick-
        lung.
        Stadtentwicklungspolitik wird auf der Ebene der Ge-
        meinden gemacht. Wir im Bundestag haben die Auf-
        gabe, den Werkzeugkasten zu geben. Wir stellen den Ge-
        meinden die Instrumente zur Verfügung, die Sie im
        Rahmen der Planungshoheit nutzen können. Für die an-
        stehenden Herausforderungen, wie den demografischen
        Wandel und den Klimawandel, stehen wir den Gemein-
        den gegenüber in der Verantwortung. Folgen Sie einfach
        unserem Antrag, den Stellungnahmen der Verbände oder
        dem Beschluss des Bundesrates. Liebe Koalitionsfrak-
        tionen, lassen Sie sich nicht mit der „Placebonovelle“
        aus dem Hause Ramsauer abspeisen. Nutzen Sie das par-
        lamentarische Verfahren, um die zahlreichen guten Ideen
        aufzugreifen.
        Anlage 11
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Entwurfs eines … Gesetzes
        zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes (Ta-
        gesordnungspunkt 29)
        Ansgar Heveling (CDU/CSU): Einen wesentlichen
        Markstein auf dem Weg zur Freiheit der Wissenschaft
        markierte im 16. und 17. Jahrhundert der Disput über die
        Frage, ob sich die Sonne um die Erde oder die Erde um
        die Sonne drehe. Den machtvollen religiös motivierten
        Gegnern der Gedanken von Kopernikus und Galilei
        diente vor allem eine Stelle aus dem Alten Testament als
        schlagender Beweis. In Josua 10,12–14 heißt es: „Sonne,
        stehe still zu Gibeon.“ Und: „Die Sonne blieb stehen
        mitten am Himmel und beeilte sich nicht unterzugehen.“
        Heute wissen wir es – dank des Freiheitsdrangs der
        Wissenschaften – eigentlich besser, wie es sich mit dem
        Lauf der Himmelskörper verhält. Der Gesetzgeber in-
        dessen meint bisweilen – so auch heute –, Sonnenauf-
        und -untergang immer noch beeinflussen zu können.
        Denn eigentlich war § 52 a des Urheberrechtsgesetzes
        2003 – als erste Urheberrechtsvorschrift in Deutschland
        überhaupt – mit einer sogenannten sunset provision, ei-
        ner Sonnenuntergangsregelung, sprich Befristung, verse-
        hen worden. Ursprünglich sollte die Schrankenregelung
        Ende 2006 auslaufen. Heute schickt sich der Gesetzge-
        ber nun an, den Sonnenuntergang bereits zum dritten
        Mal zu verschieben. Diesmal bis zum 31. Dezember
        2014.
        Zugegebenermaßen: Klarheit und eitel Sonnenschein
        werden damit nicht wirklich geschaffen. Vielmehr wird
        gezwungenermaßen ein Schwebezustand perpetuiert.
        Angesichts der Zeitabläufe eine Notwendigkeit – mir
        fällt dazu eine Vokabel aus dem Lateinunterricht ein, die
        mir aus endlosen Cäsar-Übersetzungsstunden ins Ge-
        dächtnis eingebrannt ist: necessitate coactus, durch die
        Notwendigkeit gezwungen. So steht der Gesetzgeber,
        sprich: das Parlament, nämlich zurzeit da.
        Wir, die christlich-liberale Koalition, haben uns als
        Fraktionen aus der Mitte des Parlaments daher entschie-
        den, § 52 a des Urheberrechtsgesetzes ein weiteres Mal
        für zwei Jahre zu verlängern. Damit verbinden wir das
        Ziel, diese Zeit zu nutzen, eine einheitliche Wissen-
        schaftsschranke zu formulieren.
        Das setzt zum einen voraus, dass in dieser Zeit end-
        lich auch valide Daten zur Inanspruchnahme von § 52 a
        Urheberrechtsgesetz vorgelegt werden. Der dritte Eva-
        luierungsbericht des Bundesjustizministeriums hat keine
        weiteren Erkenntnisse gegenüber dem zweiten und dem
        ersten Bericht gebracht. Das ist misslich, zumal es offen-
        sichtlich die mangelnde Bereitschaft der im Obligo ste-
        henden Beteiligten ist, die notwendigen Daten zu erhe-
        ben und bereitzustellen.
        Zum anderen – und auch damit verknüpft – ist die Be-
        reitschaft zur Zahlung einer angemessenen Vergütung
        als Conditio sine qua non. Während es im Schulbereich
        hier außer kleineren Problemen bei den Gesamtverträgen
        keine wirklichen Schwierigkeiten gibt, ist im Wissen-
        schaftsbereich dieser Punkt von maßgeblicher Bedeutung
        und hoch streitbehaftet. Hier werden wir als Gesetzgeber
        in den nächsten Jahren ganz genau hinzuschauen haben.
        Es wird für die künftige Gestaltung einer einheitlichen
        Wissenschaftsschranke von entscheidender Bedeutung
        sein, wie die angemessene Vergütung gehandhabt wird.
        Wir rechnen zudem ja damit, dass die Rechtsprechung in
        den nächsten zwei Jahren entsprechende Hinweise geben
        wird.
        Die weitere Entwicklung bei diesen Faktoren wird
        maßgeblichen Einfluss auf die weiteren Überlegungen
        zur Schaffung einer einheitlichen Wissenschaftsschranke
        haben. Dessen sollten sich insbesondere die Wissen-
        schaftsorganisationen ganz dringend bewusst sein.
        Denn auch die zukünftige Regelung einer einheit-
        lichen Wissenschaftsschranke wird nicht losgelöst und
        nach Tagesform der Politik erfolgen. Sie muss sich in die
        bestehende Systematik des Urheberrechts einfügen. Und
        deren Ausgangspunkt ist Art. 14 unseres Grundgesetzes,
        der das Eigentum garantiert. Schranken dieses Eigen-
        tumsrechts, also Freiheiten des Nutzers, lassen sich da
        nur als allgemeinwohlorientierte Ausnahmen begründen.
        Das ist aber der Maßstab, an dem sich das Handeln de-
        rer, die eine Schranke in Anspruch nehmen wollen, mes-
        sen lassen muss. Haushalterische Zwänge und das Ziel
        der Kosteneinsparung sind jedenfalls keine legitimen
        Allgemeinwohlbelange, die eine Schrankenregelung zu
        rechtfertigen vermögen.
        Natürlich darf nicht verschwiegen werden, dass es auf
        der Seite der Rechteinhaber auch Akteure gibt, die den
        Schutz des Eigentums dazu benutzen, illusorische Preis-
        vorstellungen realisieren zu wollen. Das ist bedauerlich,
        denn es schadet dem berechtigten Anliegen der ungleich
        größeren Zahl an Verlagen und Verlegern, die bei ihrer
        Preisgestaltung wie selbstverständlich dem Prinzip des
        ehrbaren Kaufmanns verpflichtet sind. Gerade für die
        hiesige deutsche mittelständisch geprägte Verlagsland-
        schaft gilt dies in besonderem Maße.
        25948 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012
        (A) (C)
        (D)(B)
        Den Lauf der Zeit kann und will auch der Gesetzge-
        ber nicht aufhalten. Es ist unsere Aufgabe, die Zeiten zu
        gestalten. Das bloße Hinausschieben einer Befristung ist
        dabei eigentlich noch kein Mittel, das von Gestaltungs-
        kraft zeugt. Daher verbinden wir damit den Auftrag an
        uns selbst und an die Bundesregierung, die gewonnene
        Zeit zu nutzen, die widerstreitenden Interessen in einer
        eindeutigen Schrankenregelung zum Ausgleich zu brin-
        gen. Ein bloßes Auslaufen der gesetzlichen Regelung
        hätte dem ebenso wenig gedient wie eine dauerhafte Ent-
        fristung.
        Thomas Silberhorn (CDU/CSU): Bildung, Wissen-
        schaft und Forschung sind der Schlüssel, um unserem
        Land auch in Zukunft im internationalen Wettbewerb ei-
        nen Spitzenplatz zu sichern. Deshalb haben wir uns die
        „Bildungsrepublik“ Deutschland zum Ziel gesetzt. Da-
        mit Forschung und Lehre Spitzenleistungen erzielen
        können, brauchen sie uneingeschränkten Zugang zu vor-
        handenem Wissen. Auch die Qualität des Unterrichts an
        Schulen und Hochschulen hängt maßgeblich von den zur
        Lehre und Ausbildung verwendeten Materialien ab.
        Um den Zugang von Forschung und Lehre zu beste-
        hendem Wissen zu erleichtern, haben wir im Rahmen
        des sogenannten ersten Korbs der Novellierung des Ur-
        heberrechts im Jahr 2003 den § 52 a ins Urheberrechts-
        gesetz eingeführt. Dieser § 52 a Urheberrechtsgesetz ge-
        währleistet, dass urheberrechtlich geschützte Werke für
        einen bestimmten, abgegrenzten Personenkreis in
        Schule, Hochschule und Forschung öffentlich zugäng-
        lich gemacht werden dürfen. Damit ist etwa das Kopie-
        ren von geschützten Werken geringen Umfangs oder von
        Werkteilen sowie das Einscannen und Einstellen ins Int-
        ranet der jeweiligen Einrichtung zu Unterrichts- oder
        Forschungszwecken möglich. Die Urheber erhalten da-
        für nach § 52 a Abs. 4 Urheberrechtsgesetz eine ange-
        messene Vergütung.
        Die Norm wurde seit ihrer Einführung mehrfach be-
        fristet und würde nun zum 31. Dezember 2012 auslau-
        fen. Daran kann aber aus den vorgenannten Gründen
        niemand ein ernsthaftes Interesse haben. Festzuhalten ist
        allerdings auch, dass in den vergangenen neun Jahren ei-
        nige Defizite des § 52 a Urheberrechtsgesetz zutage ge-
        treten sind. Sowohl die Praxistauglichkeit als auch die
        vertragliche Umsetzung in Kooperation mit einer Ver-
        wertungsgesellschaft werfen Fragen auf. Mit einer simp-
        len Entfristung der Regelung wäre es daher nicht getan.
        Unbestimmte Rechtsbegriffe wie die öffentliche Zu-
        gänglichmachung von veröffentlichten „kleinen Teilen“
        eines Werkes oder von Werken „geringen Umfangs“ füh-
        ren zu Rechtsunsicherheit aufseiten der Nutzer wie auf-
        seiten der Rechteinhaber bzw. der Verlage. Zwar soll der
        kopierte Teil eines Werkes jedenfalls dann als klein an-
        zusehen sein, wenn dieser im Vergleich zum Gesamt-
        werk so unbedeutend ist, dass er das Werk nicht ersetzen
        kann, aber allgemeingültige, konkret quantifizierbare
        Vorgaben existieren nicht. Auch der Versuch von Recht-
        sprechung und Lehre, diese unbestimmten Rechtsbe-
        griffe durch eine prozentuale Angabe für einen Werkteil
        zu konkretisieren, hat bislang keinen einheitlichen Be-
        wertungsmaßstab hervorgebracht. So schwankt die Defi-
        nition eines „kleinen Teils“ derzeit zwischen etwa 10
        und 20 Prozent des Gesamtwerks.
        Darüber hinaus hat die Gestattung der Veröffentli-
        chung „zur Veranschaulichung im Unterricht“ zu einer
        unterschiedlichen Auslegung geführt. So wird geltend
        gemacht, dass damit die Zugänglichmachung nur inner-
        halb der zeitlichen und räumlichen Grenzen des Unter-
        richts erlaubt sei. Das Oberlandesgericht Stuttgart stellte
        hierzu hingegen klar, dass der Vorschrift vielmehr das
        Verständnis zugrunde liege, dass auch die Vor- und
        Nachbereitung von Hausarbeiten mit erfasst sein solle.
        Um die Zahlung einer angemessenen Vergütung zu si-
        chern, schließen die Länder Verträge mit den Verwer-
        tungsgesellschaften. Bei den Verhandlungen für den
        Hochschulbereich konnte bisher allerdings keine Eini-
        gung mit der Verwertungsgesellschaft Wort erzielt wer-
        den, die einen wesentlichen Anteil bei den Nutzungen
        nach § 52 a Urheberrechtsgesetz im Hochschulbereich
        hat. Die VG Wort hat daher, nachdem sie im Jahr 2005
        aus den Vertragsverhandlungen ausgestiegen war, 2009
        Klage beim Oberlandesgericht München gegen die Län-
        der erhoben. Dieser Rechtsstreit ist bis heute anhängig.
        Derzeit läuft auf Betreiben der Länder und der VG Wort
        ein Revisionsverfahren beim Bundesgerichtshof.
        Dass wir ein bildungs- und wissenschaftsfreundliches
        Urheberrecht benötigen, steht außer Zweifel. Als CDU/
        CSU-Bundestagsfraktion haben wir uns dazu in unserem
        Positionspapier zum Urheberrecht in der digitalen Ge-
        sellschaft deutlich bekannt. Ziel unserer Bemühungen
        muss es sein, die in den §§ 52 a ff. Urheberrechtsgesetz
        etablierten Schranken des Urheberrechts zugunsten von
        Schule, Studium, Wissenschaft und Forschung zu einer
        einheitlichen, praktikablen und rechtssicheren Bil-
        dungs- und Wissenschaftsklausel weiterzuentwickeln.
        Sicherlich ist die wiederholte Befristung des § 52 a
        Urheberrechtsgesetz nicht der Weisheit letzter Schluss.
        Es besteht jedoch kein Anlass zur Eile. Eine dauerhafte
        Entfristung, ohne die angesprochenen Defizite anzuge-
        hen, wäre die deutlich schlechtere Lösung. Die letztma-
        lige Befristung um zwei weitere Jahre gibt Unterricht
        und Forschung die nötige Sicherheit, über den 31. De-
        zember 2012 hinaus ihre Informationsquellen gemäß
        § 52 a Urheberrechtsgesetz weiter nutzen zu können.
        Zugleich ermöglicht uns diese Befristung, die BGH-Ent-
        scheidung im Rechtsstreit mit der VG Wort abzuwarten
        und die daraus zu ziehenden Erkenntnisse in eine auf
        Dauer angelegte gesetzliche Regelung einfließen zu las-
        sen.
        Im Rahmen dieser Überlegungen sollten wir uns dann
        auch stärker den Fragen der OpenAccess-Veröffentli-
        chungen sowie der Verankerung eines verbindlichen
        Zweitveröffentlichungsrechts bei wissenschaftlichen
        Beiträgen und öffentlich geförderten Forschungsprojek-
        ten widmen. Für den Erhalt und die Weiterentwicklung
        des Bildungs- und Wissenschaftsstandorts Deutschland
        bleibt ein modernes, praxistaugliches Urheberrecht un-
        verzichtbar.
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012 25949
        (A) (C)
        (D)(B)
        Marianne Schieder (Schwandorf) (SPD): Was in
        aller Welt muss noch passieren, damit die Bundesregie-
        rung endlich vernünftig handelt und ihren ureigenen
        Aufgaben nachkommt? Selbst bei einem so eindeutigen
        Thema wie der Verlängerung des § 52 a des Urheber-
        rechtsgesetzes schafft sie es nicht, mit Vernunft und Au-
        genmaß zu handeln. Statt den Paragrafen unbefristet
        weiter gelten zu lassen, soll eine erneute Befristung be-
        schlossen werden.
        Selbst der Bundesrat hat sich in seiner Sitzung am
        12. Oktober 2012 für eine Entfristung des § 52 a des
        Urheberrechts ausgesprochen; siehe Bundesratsdruck-
        sache 514/12 (Beschluss), Seite 4. Der Beschluss im Kul-
        turausschuss des Bundesrates am 24. September 2012
        fiel im Übrigen einstimmig, also 16 : 0 aus. Die große
        Mehrheit der Akteure in Forschung und Lehre ist eben-
        falls für eine Entfristung. Nur die Bundesregierung und
        ihre Koalition haben das noch nicht erkannt. Was will
        man dazu noch sagen?!
        Vor rund neun Jahren, am 10. September 2003, wurde
        der § 52 a ins Urheberrechtsgesetz eingeführt. Zunächst
        befristet bis zum 31. Dezember 2006. Danach folgten
        Befristungen bis Ende 2008 und schließlich bis zum
        31. Dezember 2012, die aktuell noch gelten. In der Zwi-
        schenzeit gab es auch schon drei Evaluierungen.
        Jetzt verweigert die Bundesregierung eine dauerhafte
        Regelung mit dem Verweis auf noch ausstehende Ge-
        richtsurteile. So sieht doch kein verantwortungsvolles
        gesetzgeberisches Handeln aus! Der Vorschlag der Bun-
        desregierung provoziert nichts weiter als beschränkte
        Rechtssicherheit und Beschäftigungsmaßnahmen für die
        öffentliche Verwaltung, Ministerien und den nächsten
        Bundestag. Von den zusätzlichen Kosten durch dieses
        Wiedervorlageprinzip will ich gar nicht reden.
        Erschwerend kommt hinzu, dass die Bundesregierung
        ihren Gesetzentwurf kurz vor Schluss auf den Weg
        bringt. Erhält er heute nicht die notwendige Mehrheit,
        droht uns ab 1. Januar 2013 ein Fiasko für den gesamten
        Bildungsbetrieb in Deutschland.
        Kein Lehrer bzw. keine Lehrerin wäre mehr in der
        Lage, Auszüge einzelner Werke als Kopie an Schülerin-
        nen und Schüler zu verteilen. Semesterapparate, wie sie
        an deutschen Hochschulen derzeit üblich sind, würde es
        von einem auf den anderen Tag nicht mehr geben. Alter-
        nativen wären entweder illegale Kopien oder zusätzliche
        Kosten für Schülerinnen und Schüler bzw. Studierende,
        weil sie sich die erforderlichen Auszüge im Original
        kaufen müssen.
        Um diese untragbare Situation zu verhindern und den
        Lehrenden an Schulen und Hochschulen zumindest für
        die nächsten beiden Jahre Rechtssicherheit zu gewähren,
        werden wir von der SPD dem vorliegenden Gesetzent-
        wurf der Koalition zustimmen. Ich halte aber ausdrück-
        lich fest, dass die Zustimmung nur geschieht, um den
        Wegfall des § 52 a und die damit verbundenen Probleme
        um jeden Preis zu verhindern. In keinem Fall heißen wir
        damit die Untätigkeit bzw. Unentschlossenheit der Bun-
        desregierung gut. Daher möchte ich es nicht unterlassen,
        gerade bei den Kolleginnen und Kollegen von CDU/
        CSU und FDP nochmals für unseren Entwurf eines Ge-
        setzes zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes werben.
        Sorgen sie mit dafür, dass dieser Entwurf eine Mehrheit
        im Deutschen Bundestag bekommt. Damit hätten wir
        dauerhafte Rechtssicherheit und würden für die Zukunft
        unnötige Arbeit und zusätzliche Kosten ersparen.
        Mit der Streichung des § 137 des Urheberrechtsgeset-
        zes würde der § 52 a des Urheberrechtsgesetzes dauer-
        haft entfristet. Der Wortlaut des § 52 a wird beibehalten.
        Mit wenigen Worten könnten wir eine vernünftige und
        vor allem dauerhafte Lösung auf den Weg bringen.
        Abschließend möchte ich es aber nicht versäumen,
        Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der schwarz-gelben
        Koalition, auf eine ihrer Vereinbarungen im Koalitions-
        vertrag aus dem Jahr 2009 hinzuweisen: „Das Urheber-
        recht hat in der modernden Medien- und Informations-
        gesellschaft eine Schlüsselfunktion. Wir werden das
        Urheberrecht deshalb entschlossen weiterentwickeln ...“,
        heißt es dort auf Seite 103. Dass Sie unter entschlossener
        Weiterentwicklung lediglich eine erneute Befristung mit
        der Aussicht auf weitere Evaluationen verstehen, zeigt
        auf alarmierende Weise, wie schlecht dieses Land derzeit
        regiert wird.
        Drei Jahre hatten Sie Zeit, eine umfassende Urheber-
        rechtsreform auf den Weg zu bringen. Das Ergebnis hin-
        gegen ist nicht einmal mangelhaft. Es gibt schlichtweg
        keines. Das Schlimme ist, dass dies nicht nur beim Urhe-
        berrecht zu diagnostizieren ist. Es ist auch in vielen an-
        deren Bereichen der Fall. Somit können wir in der ver-
        bleibenden Legislaturperiode nur noch darauf achten,
        dass keine weiteren Missstände und Schieflagen entste-
        hen. Unter diesem Aspekt bekommen Sie diesmal für ein
        Gesetzesvorhaben meine Stimme. Ansonsten werde ich
        mich mit aller Kraft darum bemühen, dass dieses Land
        im Herbst nächsten Jahres eine bessere Regierung be-
        kommt.
        René Röspel (SPD): Als wir vor genau drei Wochen
        anlässlich der ersten Lesung zum vorliegenden Gesetz-
        entwurf der Koalitionsfraktionen die ersten Reden zu
        diesem Thema zu Protokoll gegeben haben, habe ich in
        einem kurzen Exkurs auf die besondere Funktion der in
        § 52 a Urheberrecht garantierten Wissenschaftsschranke
        hingewiesen. Daher soll in der nun folgenden Ausfüh-
        rung nicht noch einmal darauf eingegangen werden, wel-
        che bedeutende Rolle eine Wissenschaftsschranke für
        Bildung, Wissenschaft und Forschung in Deutschland
        einnimmt.
        Vielmehr möchte ich zunächst einige Äußerungen
        von Kollegen der Koalitionsfraktionen aufgreifen, an-
        hand derer ich die Defizite in der Argumentation deut-
        lich machen möchte.
        Zunächst möchte ich auf die in der Rede des Kollegen
        Heveling geäußerte These eingehen, nach der mittels ei-
        ner weiteren Befristung des § 52 a Urheberrechtsgesetz
        die Voraussetzung dafür geschaffen sei, dass es eine dau-
        erhafte und einheitliche Wissenschaftsschranke im deut-
        schen Urheberrecht geben könne. Dies scheint mir doch
        eine etwas abwegige Argumentation zu sein – nicht nur
        25950 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012
        (A) (C)
        (D)(B)
        vor dem Hintergrund, dass die Koalitionsfraktionen sich
        im vorliegenden Fall explizit gegen eine Entfristung zu-
        gunsten einer weiteren Befristung aussprechen. Dieses
        Vorgehen mit einem laufenden Gerichtsverfahren zu be-
        gründen, scheint umso bizarrer: Denn Recht wird nach
        geltender Rechtslage gesprochen. Das Verfahren wäre
        mit einer Entfristung des § 52 a Urheberrechtsgesetz ab
        dem 1. Januar 2013 nicht gefährdet. Ich möchte – wie in
        meiner ersten Rede bereits erwähnt – darauf hinweisen,
        dass diese Koalition und Bundesregierung von den Wäh-
        lerinnen und Wählern einen Gesetzgebungsauftrag er-
        halten hat. Den gilt es anzunehmen und die hiermit ver-
        bundene Arbeit nicht auf den Bundesgerichtshof
        abzuwälzen!
        Weiterhin möchte ich noch auf die Äußerung des Kol-
        legen Heveling hinsichtlich der Evaluierung des Bundes-
        ministeriums der Justiz eingehen. Hier wird der Ein-
        druck erweckt, dass das Ministerium im Rahmen seiner
        Evaluationen – es waren insgesamt drei an der Zahl –
        sich stets gegen eine Entfristung ausgesprochen habe.
        Dem ist entschieden zu widersprechen! An dieser Stelle
        sei explizit die zweite Evaluierung des Justizministeri-
        ums vom 30. April 2008 zitiert: „Die Evaluierung hat
        keine Ergebnisse erbracht, welche die Entscheidung des
        Gesetzgebers bei Einführung der Norm als korrekturbe-
        dürftig erscheinen lassen. Folglich sollte die Befristung
        in § 137 k UrhG entfallen.“
        Die Darstellung der Koalitionsfraktionen, dass eine
        Befristung derzeit alternativlos sei, ist schlichtweg
        falsch. Vielmehr möchte ich an dieser Stelle erneut für
        eine Entfristung des § 52 a Urheberrechtsgesetz – wie in
        unserem Gesetzentwurf gefordert – werben.
        Wie in der bisherigen Debatte deutlich wurde, scheint
        sich zumindest zwischen den Wissenschaftspolitikern
        fraktionsübergreifend die Erkenntnis verfestigt zu haben,
        dass es im Sinne von Bildung, Wissenschaft und For-
        schung in Deutschland ist, eine umfassende Wissen-
        schaftsschranke im Urheberrechtsgesetz zu verankern.
        Die Erarbeitung einer solchen umfassenden Wissen-
        schaftsschranke ist in der Tat keine triviale Aufgabe.
        Ihre Bearbeitung hat sorgfältig, gründlich und nicht un-
        ter Zeitdruck zu erfolgen. Vor diesem Hintergrund wäre
        es wichtig, wenigstens die bestehende, spezifische Wis-
        senschaftsschranke in § 52 a Urheberrechtsgesetz zu ent-
        fristen. Damit wäre zum einen den Betroffenen in den
        Bildungs- und Wissenschaftseinrichtungen die in dieser
        Frage dringend notwendige Rechtssicherheit geboten;
        zum anderen ließe sich auf diese Weise ohne unnötigen
        Zeitdruck eine Norm ins Urheberrecht inkorporieren, die
        den Belangen von Bildung und Wissenschaft in all ihren
        Facetten gerecht wird. Doch anstatt diese komfortable
        Lösung zu präferieren, die im Übrigen mit dem anhängi-
        gen Gerichtsverfahren beim BGH in keiner Weise in
        Konflikt stünde, entscheiden sich die Koalitionsfraktio-
        nen für die unsauberste aller Lösungen: eine erneute Be-
        fristung um zwei Jahre. Auf diese Weise wird nicht nur
        den Betroffenen eine dauerhafte Rechtssicherheit ver-
        wehrt, sondern auch unnötiger Zeitdruck aufgebaut, der
        dem weiteren Verfahren sicherlich nicht dienlich ist.
        Als wäre diese Taktik allein nicht schon genug der
        Zumutung für die Betroffenen in Bildung und Wissen-
        schaft, bleiben die Regierungskoalitionen nicht nur in ih-
        rer Handlungsunfähigkeit, sondern auch in ihrer Visions-
        losigkeit verhaftet. Zwar plädieren die Kollegen der
        Koalitionsfraktionen dafür, eine umfassende Wissen-
        schaftsschranke im Urheberrecht zu verankern. Allein
        die Frage, wie eine solche Schranke gesetzgeberisch
        auszugestalten ist, lassen sie unbeantwortet. Ironischer-
        weise wird etwa im Diskussionspapier der Unions-
        fraktion zum „Urheberrecht in der digitalen Gesell-
        schaft“ lediglich darauf verwiesen, dass die in § 52 a
        Urheberrechtsgesetz kodifizierte Wissenschaftsschranke
        ausgiebig zu evaluieren und zu überarbeiten sei. Der
        Vorschlag der Union besteht demnach darin, das durch
        das BMJ bereits dreimal durchgeführte Verfahren ein
        weiteres Mal zu wiederholen. Ein wirklicher Gestal-
        tungsanspruch wird hingegen nicht erkennbar. Man be-
        kommt den Eindruck, dass die schwach-gelbe Koalition
        solche Entscheidungen lieber der im Herbst 2013 ge-
        wählten neuen Bundesregierung übertragen möchte.
        Abschließend möchte ich noch darauf eingehen, wa-
        rum die SPD-Bundestagsfraktion im vorliegenden Fall
        dem Gesetzentwurf zustimmen wird, obwohl wir mit un-
        serem Gesetzentwurf eine bessere Lösung vorschlagen.
        Aufgrund der fahrlässigen Verzögerung der Koalitions-
        fraktionen ist nun eine Situation eingetreten, die erhebli-
        chen Handlungsdruck und eine für die Betroffenen fast
        unerträgliche Situation herbeigeführt hat: Denn der Um-
        stand, dass der § 52 a Urheberrechtsgesetz zum Ende des
        Jahres ausläuft, gepaart mit der Untätigkeit der Regie-
        rungsfraktionen in dieser Frage, hat dazu geführt, dass
        den Betroffenen in den Bildungs- und Wissenschaftsein-
        richtungen massive Rechtsunsicherheit droht. Diese gilt
        es aber unter allen Umständen abzuwenden. Nur deshalb
        unterstützen wir das kleinere Übel einer weiteren Befris-
        tung. Eine Solidarität, die diese Regierung eigentlich
        nicht verdient hat, wohl aber die Betroffenen in Bildung
        und Wissenschaft.
        Stephan Thomae (FDP): Das Urheberrecht und die
        Frage nach seiner Reformbedürftigkeit sind Themen, die
        uns in den vergangenen Monaten und Jahren am meisten
        beschäftigt haben und auch in Zukunft immer weiter
        beschäftigen werden. Viele Stimmen, die das geltende
        Urheberrecht für veraltet halten, argumentieren damit,
        dass neu entstehende Kreativität immer darauf angewie-
        sen ist, an Informationen zu gelangen. Es sei ein über-
        kommener Ansatz, denjenigen, der eine Idee zuerst ent-
        wickelt hat, stärker zu schützen als Dritte, die die Idee
        aufgreifen und weiterentwickeln wollen. Unabhängig
        davon, wie man zu dieser Frage steht, ist für die FDP-
        Bundestagsfraktion eins klar: Urheber sollen auch in
        Zukunft die Möglichkeit haben, für ihre Werke und In-
        halte eine angemessene Vergütung zu erhalten. Die FDP
        bekennt sich zu einem starken und modernen Urheber-
        recht.
        Es ist gleichzeitig völlig richtig, dass Kreativität auf
        Inspiration und Input von außen angewiesen ist. Wer
        nicht mit fremden Ansichten und Inhalten in Kontakt
        kommt, wird nur schwer die Anregungen und das Wis-
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012 25951
        (A) (C)
        (D)(B)
        sen erhalten, die als Grundlage für eigene Gedanken und
        Ideen unerlässlich sind. Daher bekennt sich die FDP
        auch dazu, dass das Urheberrecht nicht ohne Schranken
        auskommen kann.
        Es ist Aufgabe der Politik, beide Belange, den Schutz
        geistigen Eigentums und den Zugang zu Inhalten und
        Informationen, so auszugestalten, dass die Interessen der
        Beteiligten zu einem angemessenen Ausgleich gebracht
        werden.
        Zu diesem Zweck hat der deutsche Gesetzgeber durch
        das erste Gesetz zur Regelung des Urheberrechts in der
        Informationsgesellschaft vom 10. September 2003 den
        § 52 a in das deutsche Urheberrecht eingefügt. Nach
        dieser Vorschrift ist es zulässig, kleine Teile eines Wer-
        kes, Werke geringen Umfangs und einzelne Beiträge aus
        Zeitschriften oder Zeitungen zur Veranschaulichung im
        Unterricht an Schulen, Hochschulen und weiteren
        Einrichtungen einem bestimmt abgegrenzten Kreis von
        Personen öffentlich zugänglich zu machen. Faktisch sol-
        len die Schulen und Hochschulen also die genannten
        Werke und Werkteile ihren Schülern und Studenten im
        Intranet der jeweiligen Einrichtung zugänglich machen
        dürfen. Voraussetzungen hierfür sind, dass dies zu
        Unterrichts- oder Forschungszwecken geschieht, die
        Maßnahmen zu dem jeweiligen Zweck geboten und zur
        Verfolgung nicht kommerzieller Zwecke gerechtfertigt
        sind.
        Der Einführung von § 52 a Urheberrechtsgesetz ging
        eine große Debatte voraus. Die Verlage befürchteten, un-
        term Strich für die Bildung von Schülern und Studenten
        aufkommen zu müssen. Dies hatte zur Folge, dass
        § 137 k Urheberrechtsgesetz eingeführt wurde, der die
        Wirkung des § 52 a Urheberrechtsgesetz zunächst bis
        zum 31. Dezember 2006 befristete. Bis zum Ablauf die-
        ses Datums sollten die Auswirkungen der Norm auf die
        Praxis anhand einer Evaluierung ermittelt werden. Da
        eine abschließende Beurteilung bislang nicht möglich
        war, wurde die Befristung bislang zweimal verlängert.
        Stand heute würde die Regelung des § 52 a Urheber-
        rechtsgesetz am 31. Dezember 2012 auslaufen, wenn der
        Deutsche Bundestag vorher nicht anders entscheidet.
        Im Großen und Ganzen hat sich § 52 a Urheberrechts-
        gesetz bewährt. Für den Bereich der Schulen haben die
        Bundesländer mit allen Verwertungsgesellschaften
        Gesamtverträge geschlossen, in denen die Nutzungs-
        bedingungen für die genannten Werke geregelt sind.
        Ähnliches gilt für die Nutzung an Hochschulen. Auch
        hier wurden mit nur einer Ausnahme zwischen den Län-
        dern und den Verwertungsgesellschaften Gesamtverträge
        geschlossen. Einzige Ausnahme ist die VG Wort, die
        zurzeit noch mit der Kultusministerkonferenz über die
        Höhe und die Berechnungsweise der angemessenen
        Vergütung verhandelt. Hierzu ist ein Verfahren vor dem
        Bundesgerichtshof anhängig. In diesem wird zusätzlich
        über die Reichweite der sogenannten Wissenschafts-
        schranke entschieden werden.
        Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie die
        Zukunft von § 52 a Urheberrechtsgesetz aussehen soll.
        Eine Entscheidung des Bundesgerichtshofes wird erst
        für 2013, also nicht vor dem bislang vorgesehenen Aus-
        laufen von § 52 a Urheberrechtsgesetz, erwartet. Eine
        Entfristung der Norm bereits zum jetzigen Zeitpunkt,
        wie es die SPD fordert, wäre daher verfrüht. Das Urteil
        des Bundesgerichtshofes sollte vielmehr abgewartet und
        anhand dessen geprüft werden, ob der rechtliche
        Rahmen bereits jetzt ausreicht, um die Interessen von
        Urhebern und Bildungsanstalten in Einklang zu bringen,
        oder ob hier gesetzgeberisch nachgebessert werden
        muss. Daher lehnt die FDP-Bundestagsfraktion den
        Antrag der SPD ab.
        Die Bundestagsfraktionen von CDU/CSU und FDP
        schlagen stattdessen eine nochmalige Verlängerung der
        Befristung von § 52 a Urheberrechtsgesetz bis zum
        31. Dezember 2014 vor. Parallel dazu fordern wir die
        Bundesregierung auf, bis spätestens sechs Monate vor
        Ablauf der erneuten Befristung einen Gesetzentwurf zu
        erarbeiten, mit dem die Norm in eine dauerhafte Urhe-
        berrechtsschranke überführt werden kann. Dabei soll der
        Wissenschaft der digitale Zugang zu wissenschaftlichen
        Publikationen durch eine Wissenschaftsschranke für den
        Fall gesichert werden, dass die Verlage keine Onlinean-
        gebote zu angemessenen Bedingungen bereitstellen.
        Diese Lösung wird den berechtigten Interessen aller
        Beteiligten gerecht. Wir sind damit auf einem guten
        Weg, in absehbarer Zeit einen endgültigen Schlussstrich
        unter die Frage der Zukunft von § 52 a Urheberrechts-
        gesetz zu ziehen und Rechtssicherheit für alle Parteien
        zu schaffen.
        Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Liebe Freunde der
        Wissenschaft, § 52 a des Urheberrechtsgesetzes regelt
        die Zugänglichmachung von kleinen Teilen urheber-
        rechtlich geschützter Werke im Intranet von Hochschu-
        len. Die hauptsächliche praktische Anwendung ist der
        elektronische Semesterapparat, in dem die Lehrenden
        ihren Studierenden Aufsätze und Textauszüge oder an-
        dere Quellen zur Verfügung stellen.
        Der § 52 a wurde 2003 eingeführt und seither immer
        wieder befristet verlängert. Warum diese Befristungen?
        Weil die Wissenschaftsverlage gegen den Paragrafen
        lobbyieren. Sie halten Hochschullehrer für Raubkopie-
        rer. Sie glauben, sie würden viel mehr Bücher verkaufen,
        wenn an Hochschulen nicht so viel kopiert würde. Sie
        fordern die Abschaffung des Paragrafen.
        Die Verleger beklagen, dass die Hochschulen oder
        besser die zuständigen Bundesländer für die Nutzung der
        Werke in elektronischen Semesterapparaten nichts zah-
        len. Allerdings haben die Bundesländer für die Nutzung
        beispielsweise von Bild- oder Tonmaterial sehr wohl
        Verträge geschlossen und bezahlen auch Nutzungs-
        gebühren.
        Die Wissenschaftsverlage aber verlangen das 240-
        Fache dessen, was andere als angemessene Vergütung
        akzeptiert haben. Und sie wollen, dass alle Dozenten an
        allen Hochschulen für jedes Seminar neu jedes einzelne
        Buch auflisten sollen, aus dem sie ein paar Seiten für
        ihre Studierenden kopieren. Dabei sollen sie folgende
        Angaben machen: Name und Anschrift der Hochschule,
        Titel des Seminars, Zeitraum des Seminars, Teilnehmer-
        zahl des Seminars, Name und Mailadresse des Dozenten,
        25952 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012
        (A) (C)
        (D)(B)
        die Titel des Buches und des Aufsatzes, ISBN-Nummer,
        Anzahl der kopierten Seiten, Verlag, Erscheinungsort,
        Erscheinungsjahr, Anzahl der Autoren. Sie können sich
        denken, wie lange es dauert, ein solches Formular aus-
        zufüllen.
        Und dann hat auch noch das Oberlandesgericht Stutt-
        gart verfügt, dass diese elektronischen Semesterapparate
        nicht ausgedruckt oder heruntergeladen werden dürfen,
        sondern nur am Bildschirm zu lesen sind.
        Ich stelle mir wissenschaftliches Arbeiten anders vor.
        Ich glaube, das Urheberrecht sollte die Verbreitung von
        Wissen erleichtern und nicht behindern.
        Jetzt hoffen die Verlage, dass auch der Bundes-
        gerichtshof den § 52 a so restriktiv auslegt wie die Ober-
        landesgerichte zuvor. Dann wäre der Paragraf sozusagen
        vor Gericht totgemacht. In der Folge müssten Hochschu-
        len einzeln privatwirtschaftliche Lizenzverträge mit den
        Verlagen abschließen, wenn sie modernes wissenschaft-
        liches Arbeiten weiter ermöglichen wollen. Das wird
        richtig teuer für die Bundesländer. Die Regierungskoali-
        tion riskiert mit ihrer hier zur Debatte stehenden zögerli-
        chen Fristverlängerung des § 52 a, die klammen Kassen
        der Bundesländer weiter zu strapazieren. Oder das Ende
        moderner Wissensvermittlung an unseren Hochschulen.
        Der § 52 a muss nicht befristet verlängert werden,
        sondern sein Anwendungsbereich muss so ausgeweitet
        werden, dass die Hochschulen tatsächlich etwas davon
        haben. Er muss Teil einer allgemeinen Wissenschafts-
        schranke werden, wie sie die Linke und unzählige Wis-
        senschaftsverbände immer wieder gefordert haben.
        Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der
        Gesetzentwurf, den die Regierungskoalition uns heute
        zur erneuten Befristung der Regelungen für Bildung und
        Wissenschaft im § 52 a des Urheberrechtsgesetzes vor-
        legt, ist wieder einmal eine Kleinstmaßnahme und Not-
        operation in allerletzter Minute. Statt im Interesse von
        Bildung und Wissenschaft für Rechtsklarheit und
        Rechtssicherheit zu sorgen, hangeln Sie sich mit der jetzt
        schon dritten Befristungsregelung nur von einem Provi-
        sorium zum nächsten.
        Dabei verpassen Sie nebenbei auch noch die Chance,
        endlich klarzustellen, dass die Norm des § 52 a Urheber-
        rechtsgesetz nicht nur für den Einsatz urheberrechtlich
        geschützter Texte im Unterricht gelten soll, sondern für
        alle Zwecke des Unterrichts. Die Ursache dafür, dass Sie
        sich nicht haben durchringen können, die Befristung in
        § 52 a Urheberrechtsgesetz endlich aufzuheben, ist wie-
        der einmal eher im bedauernswerten Zustand der Regie-
        rungskoalition zu suchen als in rationalen Gründen.
        Denn die Entfristung des § 52 a Urheberrechtsgesetz
        wird ja nicht nur seit Jahren von der Opposition und von
        Experten und Fachleuten aus dem Wissenschafts- und
        Bibliothekenbereich gefordert. Eine Entfristung verlangt
        auch der Bundesrat unter Beteiligung von CDU-geführ-
        ten Landesregierungen.
        Eine Befristung einer gesetzlichen Regelung mag ja
        manchmal sinnvoll sein, wenn man Neuland betritt und
        erst einmal Erfahrungen sammeln will. Aber wir wissen
        doch längst, dass eine Regelung, die es ermöglicht, urhe-
        berrechtlich geschützte Texte gegen Vergütung für Un-
        terrichtszwecke einzusetzen, vollkommen unverzichtbar
        ist.
        Mag sich denn hier irgendjemand ernsthaft vorstellen,
        der § 52 a Urheberrechtsgesetz werde irgendwann ein-
        fach ersatzlos auslaufen und alle Hochschulen müssten
        ihre Intranets für die Lehre abstellen? Das ist doch ein
        absurder Gedanke! Deshalb ist die Warterei, wann und
        ob die Mehrheitsfraktionen in diesem Haus diesmal kurz
        vor Weihnachten gerade wieder einmal knapp die Kurve
        kriegen, eine für Sie zunehmend peinliche Veranstal-
        tung.
        Noch nicht abgeschlossene Fragen hinsichtlich einer
        angemessenen Vergütung an die VG Wort werden dem-
        nächst einer gerichtlichen Klärung zugeführt. Das kann
        für Ihre Zögerlichkeit also nicht herhalten. Die Evalua-
        tion des § 52 a Urheberrechtsgesetz durch ihr eigenes
        Justizministerium hat aber längst ergeben, dass die dau-
        ernde Befristung nicht nur überflüssig, sondern auch
        schädlich ist. Denn sie behindert und verzögert wichtige
        Investitionen in die digitale Infrastruktur von Hochschu-
        len und Bibliotheken. Niemand investiert Millionen auf
        der Basis einer unsicheren Rechtsgrundlage.
        Umso bedauerlicher ist es, dass diese Regierung nicht
        die Kraft findet, endlich den immer wieder versproche-
        nen dritten Korb zum Urheberrecht mit den notwendigen
        Schrankenregelungen für Bildung und Wissenschaft vor
        Ende der Legislaturperiode vorzulegen. Denn es gibt
        eine ganze Reihe von ungelösten Problemen und Rechts-
        unsicherheiten, die dem zeitgemäßen Arbeiten im Bil-
        dungs- und Wissenschaftsbereich entgegenstehen und
        wo transparente, rechtssichere und faire Regelungen
        überfällig sind. Dazu gehören Probleme der Langzeitar-
        chivierung und der Digitalisierungskompetenzen von Bi-
        bliotheken, die Regelungen über elektronische Lese-
        plätze und die Ausleihe von E-Books. Die Regelungen
        zum elektronischen Kopienversand haben sich als nicht
        praktikabel herausgestellt.
        Es ist schlicht ein Unding, wenn heutzutage wissen-
        schaftliche Hilfskräfte von Dahlem nach Mitte geschickt
        werden, weil von dort aus ein vorhandener Zeitschriften-
        aufsatz nicht zeitnah per elektronischer Fernleihe ver-
        schickt werden kann. Das ist aber leider Berliner Wissen-
        schaftsalltag. Genauso ist es Alltag, dass Menschen im
        Wissenschaftsbereich ganztägige Lehrgänge zu einzelnen
        Gesetzesnormen besuchen, weil keine Rechtssicherheit
        herrscht, was mit Texten, Forschungsdaten und anderen
        Digitalisaten gemacht werden darf. Dabei liegen konkrete
        Gesetzestextvorschläge zum Beispiel von der Allianz der
        deutschen Wissenschaftsorganisationen längst vor.
        Das gilt auch für die Umsetzung der Forderung nach
        einem unabdingbaren Zweitveröffentlichungsrecht für
        wissenschaftliche Autorinnen und Autoren, damit Publi-
        kationen, die aus öffentlich finanzierter Forschung ent-
        stehen, nach einer angemessenen Frist auch öffentlich
        frei zugänglich gemacht werden können und zum Bei-
        spiel von staatlichen Bibliotheken und Hochschulen
        nicht noch einmal bezahlt werden müssen.
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012 25953
        (A) (C)
        (D)(B)
        Diese Forderung wurde auch von der Internet-Enquete
        des Bundestages einstimmig unterstützt und im aktuellen
        Bericht aufgenommen. Ich weiß, dass dies ohne die er-
        folgreichen Überzeugungsarbeiten der dort beteiligten
        Kolleginnen und Kollegen der Regierungskoalition ge-
        genüber Ihren Rechtspolitikern nicht möglich geworden
        wäre. Das verdient auch ausdrücklich der positiven Wür-
        digung, aber ein großer Schritt für FDP und CDU/CSU ist
        eben noch kein großer Schritt für die Menschheit, wenn
        daraus keine Handlungen erwachsen.
        Das gilt übrigens auch für die Empfehlung der En-
        quete, eine allgemeine zusammengeführte Schrankenre-
        gelung im Urheberrecht für Bildung und Wissenschaft
        zu prüfen. Auch für eine solche Regelung gibt es längst
        einen ausgearbeiteten Vorschlag der Allianz. Aber wenn
        Sie bei dieser Prüfung so zögerlich ans Werk gehen wie
        beim § 52 a Urheberrechtsgesetz, wird die Prüfung wohl
        noch bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag dauern, von der
        Umsetzung ganz zu schweigen.
        Meine Damen und Herren von der Regierung, über-
        winden Sie endlich Ihre chronifizierte Mut- und Tatenlo-
        sigkeit. Sie wird den Anforderungen einer modernen
        Wissensgesellschaft nicht gerecht.
        Anlage 12
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
        Strafbarkeit der gewerbsmäßigen Förderung
        der Selbsttötung (Tagesordnungspunkt 40)
        Ansgar Heveling (CDU/CSU): Weniger als zwei
        Monate vor seinem eigenen Tod schrieb Franz Kardinal
        König, der beliebte Alterzbischof von Wien sowie sei-
        nerzeit wesentlicher Denker und Lenker des Zweiten Va-
        tikanischen Konzils, im Januar 2004 in einem Brief an
        den österreichischen Verfassungskonvent zu Fragen der
        Sterbehilfe: „Menschen sollen an der Hand eines ande-
        ren Menschen sterben und nicht durch die Hand eines
        anderen Menschen.“ Damit hat Kardinal König jenseits
        aller juristischen Kategorien sehr griffig und unmissver-
        ständlich auf den Punkt gebracht, wo die ethische Grenz-
        linie im Umgang mit dem Sterben für die Gesellschaft
        liegt.
        Die Unantastbarkeit der Würde des Menschen ist ein
        fundamentales Gebot unserer Verfassung. Sie zu achten
        und zu schützen, ist Aufgabe aller staatlichen Gewalt.
        Dessen sollten wir uns sehr deutlich bewusst sein. Es
        mögen unabhängige Begründungswurzeln sein. Den-
        noch – in diesem Verständnis sind sich das christliche
        und das humanistische Menschenbild im Übrigen einig –:
        Bei beiden steht der einzelne Mensch im Mittelpunkt.
        Seine Würde ist es, um die es geht.
        Natürlich hat der autonome Wunsch des Einzelnen,
        über sein Leben zu entscheiden, Respekt verdient. Auf
        die Gesellschaft als Ganzes bezogen stellt sich demge-
        genüber schon die Frage: Wie ist es um die Würde des
        Menschen im Sterben bestellt, dass dem Einzelnen über-
        haupt der Wunsch entsteht, seinem Leben ein Ende zu
        setzen? Kardinal König spricht in diesem Zusammen-
        hang von einer „Kultur des Lebens“, um die es gehe und
        zu der auch eine „Kultur des Sterbens“ gehöre. Dabei
        formuliert er es so: „Das Leben des Menschen ist mehr
        als eine beliebige biologische Tatsache unter anderen.“
        Auch dessen sollten wir uns als Richtschnur bewusst
        sein.
        Das Strafrecht kann dabei zwangsläufig nicht das
        erste Mittel sein, ethischen Aufträgen an die Gesell-
        schaft gerecht zu werden. Behutsamkeit, Verständnis für
        die körperlichen und psychischen Veränderungen, die
        etwa das Alter mit sich bringt, Sensibilität – alles das
        kann nicht der Staatsanwalt bescheren. Aber das Straf-
        recht ist gefordert, wo es darum geht, den besonderen
        Schutz der Würde des Menschen durchzusetzen, gegen
        Entwicklungen vorzugehen, die diesem Schutz zuwider-
        laufen.
        Selbsttötung ist in Deutschland straflos. Damit trägt
        unsere Strafrechtsordnung trotz der Schutzverpflichtung
        gegenüber der Würde des Menschen der individuellen
        Letztentscheidung des Einzelnen Rechnung. Systema-
        tisch sind deshalb auch Beihilfehandlungen straflos, so-
        lange es keine gesetzliche Regelung gibt. Lange Zeit be-
        stand hierzu auch kaum ein Anlass. Die Frage nach
        strafrechtlicher Verantwortung stellte sich im Wesentli-
        chen in Einzelfällen mit besonderen Konstellationen, die
        allesamt Ausdruck innerer Konflikte im zwischen-
        menschlichen Nahbereich sind.
        Davon haben wir uns indessen mittlerweile weit ent-
        fernt. Aus dem individuellen Konflikt ist durch das Auf-
        treten von Sterbehilfevereinen die Diskussion um ein
        Dienstleistungsangebot geworden. Es geht um All-
        inclusive-Pakete für den Tod. Das ist eine Entwicklung,
        der wir nicht tatenlos zusehen dürfen. Wir beraten daher
        heute in erster Lesung den Entwurf eines Gesetzes zur
        Strafbarkeit der gewerbsmäßigen Förderung der Selbst-
        tötung, dessen Ziel es ist, eine Korrektur dort vorzuneh-
        men, wo eine kommerzialisierte Suizidhilfe Menschen
        dazu verleiten kann, sich das Leben zu nehmen. Bereits
        im Koalitionsvertrag hatte die christlich-liberale Koali-
        tion vereinbart, dagegen vorzugehen. Um den Schutz des
        Lebens am Lebensende zu gewährleisten, wollen wir
        „Geschäften mit dem Tod“ sichtbar und nachhaltig die
        Grundlage entziehen und damit der organisierten Suizid-
        beihilfe entgegenwirken.
        Wie der Gesetzentwurf festhält, nehmen auch in
        Deutschland die Fälle zu, in denen Personen auftreten,
        deren Anliegen es ist, einer Vielzahl von Menschen in
        Form einer entgeltlichen Dienstleistung eine schnelle
        und effiziente Möglichkeit für einen Suizid anzubieten.
        Dies geschieht beispielsweise durch das Verschaffen ei-
        nes tödlich wirkenden Mittels und das Anbieten einer
        Räumlichkeit, in der das Gift durch die suizidwillige
        Person eingenommen werden kann. Zu denken ist aber
        auch an Fälle, in denen von Deutschland aus die Gele-
        genheit vermittelt wird, im Ausland die für eine Selbst-
        tötung notwendigen Mittel und Räumlichkeiten zu erhal-
        ten. Im Vordergrund solcher Handlungen steht dabei
        nicht ein Beratungsangebot mit primär lebensbejahenden
        Perspektiven, sondern die rasche und sichere Abwick-
        25954 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012
        (A) (C)
        (D)(B)
        lung des Selbsttötungsentschlusses, um damit Geld zu
        verdienen. Diese Kommerzialisierung stellt eine qualita-
        tive Änderung in der Praxis der Sterbehilfe dar. Sie lässt
        befürchten, dass die Hilfe zum Suizid als eine normale
        Dienstleistung angesehen wird und sich Menschen zur
        Selbsttötung verleiten lassen, die dies ohne ein solches
        Angebot nicht tun würden.
        Ich will nicht verhehlen, dass sich auch mir die Frage
        stellt, ob die Begrenzung auf eine „gewerbsmäßige För-
        derung“ ausreicht, um das Vorgehen der Sterbehilfeorga-
        nisationen zu unterbinden. Wir müssen daher in der wei-
        teren Beratung genau überlegen, inwieweit die
        vorgesehene gesetzliche Regelung dazu Raum lässt,
        durch kleinere organisatorische und strukturelle Verän-
        derungen das „Geschäftsmodell Tod“ ohne Strafrechts-
        androhung aufrechtzuerhalten und inwieweit dadurch
        die Gefahr besteht, dass sich diese Organisationen ge-
        rade darauf berufen können, dass ihr Tun strafrechtlich
        nicht verboten ist. So lässt ein Verein, der den Dienstleis-
        tungstod anbietet, auf seiner Homepage unter „Häufig
        gestellte Fragen“ darauf hinweisen – ich zitiere –: „Be-
        steht nicht die Gefahr, dass der Verein verboten wird? –
        Das Bundesjustizministerium hat im April 2012 den
        ,Entwurf eines Gesetzes zur Strafbarkeit der gewerbsmä-
        ßigen Förderung der Selbsttötung‘ auf den gesetzgeberi-
        schen Weg gebracht. Es ist damit zu rechnen, dass Bun-
        destag und Bundesrat … ein solches Gesetz verab-
        schieden. Unser Verein ist nicht betroffen, da wir den
        Mitgliedern Suizidbegleitung nicht gegen Honorar, also
        nicht gewerbsmäßig, anbieten.“ Das Verbot der gewerbs-
        mäßigen Förderung der Selbsttötung ist aber in jedem
        Falle ein erster, wichtiger Schritt, um der organisierten
        Suizidbeihilfe entgegenzutreten. Erstmals wird damit
        eine Form der Suizidbeihilfe überhaupt unter Strafe ge-
        stellt. Das ist gegenüber dem jetzigen Rechtszustand be-
        reits ein Fortschritt.
        Wir als Parlament haben einen klaren Verfassungsauf-
        trag. Es ist auch unsere Aufgabe, die Würde des Men-
        schen zu schützen. Diesem umfassenden Schutzauftrag
        müssen wir sorgfältig gerecht werden. Gerade die Rege-
        lung von Lebenssachverhalten, die sich mit dem Beginn
        und dem Ende des Lebens befassen, bedarf dabei einer
        besonderen Sensibilität. Das sind die Punkte, an denen,
        um nochmals Kardinal König zu zitieren, „das Leben in
        besonderer Weise gefährdet, ja ‚zerbrechlich‘ ist, wo die
        Gefahr droht, dass der Mensch ganz über den Menschen
        verfügt“. Dort liegt unser besonderer Schutzauftrag.
        Dort geht es nicht mehr um den Vorrang individueller
        Selbstbestimmung, sondern um das ethische Fundament
        einer ganzen Gesellschaft. Folgen wir der Maxime
        „Menschen sollen an der Hand eines anderen Menschen
        sterben und nicht durch die Hand eines anderen Men-
        schen“.
        Norbert Geis (CDU/CSU): Mit dem Sterben und
        dem Tod ist es eine merkwürdige Sache. Für gewöhnlich
        leben wir so dahin, als ob es immer so weiterginge und
        als ob es selbstverständlich sei, dass wir da sind.
        Manchmal allerdings tritt der Tod mitten in unser Le-
        ben. Wir sind erschüttert, wenn ein naher Angehöriger
        stirbt. Wir begreifen kaum, dass der Mensch, den wir gut
        gekannt haben, der uns vielleicht sogar sehr lieb war,
        plötzlich nichts mehr sagt und schweigend daliegt.
        Nichts ist mehr revidierbar, nichts kann mehr vorange-
        bracht werden. Das Leben, mit all seinen Begegnungen,
        mit allen Beziehungen, mit allen Vorhaben und Ideen,
        mit seinen Hoffnungen und Niederungen findet mit dem
        Tod unwiederbringlich sein Ende. Der Tod ist der Ernst-
        fall schlechthin.
        Unser Leben ist auf den Tod ausgerichtet, unser Le-
        benswille lebt aber gegen den Tod. Gerade angesichts
        des Todes erfahren wir, welche Bedeutung das Leben für
        uns hat, das wir leben dürfen.
        Deshalb ist es so unbegreiflich, dass sich jemand das
        Leben selbst nimmt. Wir sind sprachlos und finden keine
        Worte, fragen uns, ob wir seine Not nicht erkannt oder
        sie übergangen haben, die ihn dazu getrieben hat, sich
        selbst das Leben zu nehmen.
        Gegen solche Vorwürfe an uns selbst wenden wir aber
        schnell ein und beruhigen uns damit, dass der Betroffene
        ja schließlich aus freiem Willen gehandelt habe. Er habe
        sich frei entschlossen, seinem Leben ein Ende zu ma-
        chen, reden wir uns ein.
        Diese Autonomie, die die heutigen Menschen gerne
        für sich fordern, spielt gerade in unserer Zeit, in der wir
        so großen Wert auf Individualität legen, eine entschei-
        dende Rolle. Die freie Selbstbestimmung und damit das
        Recht, seinem Leben dann ein Ende zu setzen, wenn
        man es für richtig hält, gilt dem heutigen Menschen als
        Teil seiner Würde, als Ausfluss seiner Autonomie, deren
        Beachtung er von den anderen einfordert.
        Mit dieser Autonomie ist es aber oft nicht weit her. In
        90 Prozent der Suizide ist die Ursache eine schwere De-
        pression, die geheilt werden kann, wenn sie rechtzeitig
        erkannt wird.
        Wer annimmt, die Autonomie sei das höchste Gut, das
        der Staat zu achten habe, irrt. Nicht der Schutz der Auto-
        nomie ist oberstes verfassungsrechtliches Gebot, sondern
        oberstes Gebot ist der Schutz des Lebens. Das ist der al-
        lererste Auftrag des Staates. Ist das Leben genommen,
        gibt es auch keine Autonomie und keine Würde mehr.
        Mit dem Tod gehen alle Rechte unter, auch die Autono-
        mie des Menschen.
        Folglich hat also der Staat vor allem den Auftrag, das
        Leben des Menschen zu schützen, unter Umständen
        auch gegen seinen Willen. Der Staat kann deshalb die
        Selbsttötung nicht billigen. Sie steht nicht im Einklang
        mit unserer Rechtsordnung. Es gibt ein Recht auf Leben,
        aber kein Recht auf Selbsttötung. Richtig ist, dass die
        Selbsttötung nicht bestraft wird. Dies hat aber einen rein
        praktischen Grund. Der, der sich selbst umgebracht hat,
        kann nicht mehr bestraft werden. Der, dessen Suizid
        misslungen ist, der also nur versucht hat, sich selbst zu
        töten, wird deshalb nicht bestraft, weil der Staat davon
        ausgeht, dass er mit sich selbst Schwierigkeiten genug
        hat und insofern gestraft genug ist. Weil aber der Selbst-
        tod nicht strafbar ist, sind nach dem bei uns geltenden
        Prinzip der Akzessorietät auch die Beihilfe und die An-
        stiftung nicht strafbar.
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012 25955
        (A) (C)
        (D)(B)
        Dieser Grundsatz der Akzessorietät in unserem Straf-
        recht scheint mir jedoch bei der Beihilfe zum Suizid
        höchst fraglich, vor allem dann, wenn diese Beihilfe ver-
        werflich ist. Derjenige, der den anderen auf dessen drin-
        gende Bitte hin tötet, wird nach § 216 StGB wegen Tö-
        tung auf Verlangen bestraft. Sein Verhalten ist hoch-
        verwerflich und deshalb strafwürdig. Dahingegen wird
        derjenige, der wissentlich und willentlich dem anderen
        die Pistole in die Hand gibt, damit er sich selbst tötet,
        nicht bestraft. Dies ist ein Widerspruch, der schwer zu
        erklären ist. In beiden Fällen wollen die Handelnden den
        Tod des Betroffenen herbeiführen. Es ist nicht nachvoll-
        ziehbar, dass die eine Handlung strafwürdig ist, die
        Strafwürdigkeit der anderen Handlung aber abgelehnt
        wird. Als Begründung für die Entscheidung wird die
        Tatherrschaft desjenigen angegeben, der den anderen
        tötet. Das erscheint mir zu wenig.
        Andere Länder stellen die Beihilfe zum Selbsttod un-
        ter Strafe, so Österreich, Italien, England, Irland, Portu-
        gal, Spanien und Polen. In diesen Ländern gilt die Bei-
        hilfe als verwerflich und strafwürdig. Diese Einsicht
        müsste auch in Deutschland Geltung haben. Die Beihilfe
        ist schon allein deshalb verwerflich und strafwürdig,
        weil dadurch das Leben eines anderen vernichtet wird.
        Das überragende Rechtsgut Leben wird durch die Bei-
        hilfe missachtet. Darin liegt der Grund der Strafbarkeit.
        Der Gesetzentwurf der Bundesregierung bleibt aber
        dabei, dass die Beihilfe nicht strafbar ist. Der Grundsatz
        der Akzessorietät der Beihilfe zu einer Tat soll also auch
        beim Suizid gewahrt bleiben. Dies bleibt unverständlich
        und ist auch nicht logisch.
        Bei der geplanten Bestrafung der gewerbsmäßigen
        Beihilfe wird dieser Grundsatz allerdings nicht eingehal-
        ten. Das Dienstleistungsangebot der gewerblichen Bei-
        hilfe ist moralisch in einem solchen Maß verwerflich,
        dass der Staat an einer Bestrafung nicht vorbeikommt.
        Das kann aber nicht nur für die gewerbsmäßige Bei-
        hilfe gelten. Wir haben auch den Fall, dass Einzelperso-
        nen oder organisierte Personengruppen ein solches
        „Dienstleistungsangebot“ propagieren. Für diese Ange-
        bote, die nachweislich ohne gewerblichen Hintergrund
        betrieben werden, wird auch öffentlich geworben. Ein
        solches Verhalten ist ebenfalls verwerflich und ist des-
        halb, wie die gewerbliche Beihilfe, unter Strafe zu stel-
        len.
        Hinzu kommen muss aber auch der Fall, dass ein ein-
        zelner „Helfer“ die Selbsttötungsabsicht eines anderen
        aus völlig eigennützigen Motiven hervorruft. Er stiftet
        den Betroffenen zur Selbsttötung an. Ohne diese Anstif-
        tung kommt der Betroffene vielleicht gar nicht zu dem
        Entschluss, sich selbst zu töten. Solche „Helfer“ handeln
        nicht selten aus Eigennutz. Dies kann im ganz nahen
        Verwandtschaftsverhältnis oder Freundeskreis der Fall
        sein, wenn zum Beispiel die Pflege des alten Menschen
        zur unerträglichen Last geworden ist oder aber wenn
        diese „Helfer“ durch den Tod des Betroffenen auf eine
        große Erbschaft hoffen dürfen. Dieses Verhalten ist min-
        destens genauso verwerflich wie die gewerbliche Bei-
        hilfe. Deshalb ist auch ein solches Verhalten unter Strafe
        zu stellen.
        Aus all diesen Gründen ist der Gesetzentwurf der
        Bundesregierung im parlamentarischen Verfahren zu
        überprüfen und zu ergänzen. Wichtig allerdings er-
        scheint mir die Ausweitung der Hilfe. Gerade die unmit-
        telbare Nachbarschaft ist insbesondere aufgefordert, mit
        älteren Menschen, bei denen die Suizidrate am höchsten
        ist, in Kontakt zu bleiben, ihnen mit kleinen Diensten bei
        der Bewältigung des Alltages zu helfen. Aufmerksam-
        keit, Freundlichkeit und Entgegenkommen können hel-
        fen, damit sich der Gedanke an die Selbsttötung bei dem
        Nächsten gar nicht erst festsetzt.
        Dr. Edgar Franke (SPD): In der Schweiz wird die
        Beihilfe zum Suizid durch Laien oder durch Ärzte nicht
        strafrechtlich verfolgt. Hier dürfen Suizidhilfe-Organisa-
        tionen mit Namen Exit oder Dignitas den vom Sterbe-
        wunsch Erfüllten eine Infusion mit tödlichem Gift anle-
        gen und so lange anwesend bleiben, bis der Tod eintritt.
        Der Sterbewillige muss diese allerdings selbst auslösen.
        Im Jahr 2011 sind 411 Menschen mithilfe von Exit
        aus dem Leben geschieden. Dies berichtet Bernhard
        Sutter, der Vizepräsident von Exit (Deutsche Schweiz),
        dem Evangelischen Pressedienst, epd, veröffentlicht am
        14. Juni des Jahres. Nach Angaben von Exit sind rund 30
        Prozent der Sterbewilligen „nicht todkrank“.
        In der kanadischen Provinz Ontario ist der assistierte
        Suizid übrigens ebenfalls erlaubt; dort lässt man den Pa-
        tienten jedoch mit dem Gift allein, was in 50 Prozent der
        Fälle dazu führt, dass dieser sich doch nicht tötet.
        Der vorliegende Gesetzentwurf zur Strafbarkeit der
        gewerbsmäßigen Förderung der Selbsttötung wendet
        sich im Kern gegen private Suzidhilfe-Organisationen
        wie Exit und Dignitas, denen eine gewerbs- oder zumin-
        dest geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung unter-
        stellt wird.
        Die Selbsttötung und die Teilnahme sind in Deutsch-
        land nicht strafbar. Straffrei sind auch der gerechtfertigte
        Behandlungsabbruch – passive Sterbehilfe – und die so-
        genannte indirekte Sterbehilfe. Mit Strafe bedroht ist da-
        gegen die Tötung auf Verlangen, § 216 StGB. Der vor-
        liegende Gesetzentwurf schlägt die Schaffung eines
        neuen Straftatbestandes im Strafgesetzbuch vor, der die
        gewerbsmäßige Förderung der Selbsttötung unter Strafe
        stellt.
        Der gewerbsmäßigen, also der auf Gewinnerzielung
        ausgerichteten Förderung der Selbsttötung soll demnach
        durch ein strafrechtliches Verbot entgegengewirkt wer-
        den. Dazu soll ein neuer Straftatbestand, der § 217
        StGB-E, geschaffen werden. Im Wortlaut: „Wer absicht-
        lich und gewerbsmäßig einem anderen die Gelegenheit
        zur Selbsttötung gewährt, verschafft oder vermittelt,
        wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geld-
        strafe bestraft.“
        Gewerbsmäßig handelt nach der Rechtsprechung des
        BGH, wer in der Absicht handelt, sich durch wiederholte
        Tatbegehung eine fortlaufende Einnahmequelle zu ver-
        schaffen, wobei die Tätigkeit von der Absicht getragen
        werden muss, Gewinn zu erzielen.
        25956 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012
        (A) (C)
        (D)(B)
        Den Suizidhilfe-Organisationen wird vorgeworfen,
        mit dem Leid verzweifelter Menschen Geschäfte zu ma-
        chen. Ob eine Gewinnerzielungsabsicht festgestellt wer-
        den kann, ist nicht sicher. Exit hat nach eigener Zählung
        rund 80 000 Mitglieder. Nach eigenen Angaben streben
        sie die gesicherte Finanzierung ihrer Aktivitäten an.
        In dem Gesetzentwurf sagen Sie, eine gesetzliche Re-
        gelung zur Strafbarkeit der Förderung der Sterbehilfe sei
        längst fällig. Ist es nicht vielmehr notwendig, die Sicht
        darauf zu richten, dass nicht nur die gewerbsmäßige,
        sondern auch die organisierte Förderung der Sterbehilfe
        als strafwürdiges Verhalten angesehen werden sollte?
        Die Abgrenzung einer gewerbsmäßigen zur organisier-
        ten Förderung der Sterbehilfe wird im Einzelfall sich
        nämlich eher schwierig gestalten.
        Das Entscheidende ist jedoch: Weder die Urteilsfähig-
        keit noch die genaue Krankengeschichte müssen oder
        können von den Laienhelfern geprüft werden. So werden
        gerade bei psychischen Erkrankungen oder psychischen
        Ausnahmezuständen die nötige therapeutische Erfah-
        rung und fachliche Voraussetzungen weitgehend fehlen.
        Das ist untragbar und betrifft mehr oder weniger die or-
        ganisierte Förderung der Sterbehilfe.
        So fordert die Bundesärztekammer, dann nicht nur die
        gewerbliche Suizidbeihilfe, sondern jegliche organisierte
        Sterbehilfe zu verbieten.
        Eugen Brysch, Vorstand der Patientenschutzorganisa-
        tion Deutsche Hospiz Stiftung, will, dass das konzeptio-
        nelle Vorgehen der Sterbehilfeorganisationen verhindert
        wird. Er drängt damit ebenfalls zum Verbot der organi-
        sierten Sterbehilfe.
        Meine Kollegin Sabine Bätzing-Lichtenthäler hat in
        ihrer veröffentlichten Stellungnahme recht: Wo ein kom-
        merzielles Interesse ist, gibt es auch Interessen, den Ge-
        winn zu maximieren. Diesbezüglich ist der Gesetzent-
        wurf der Bundesregierung richtig. Er ist aber nicht
        weitgehend genug. Denn auch die organisierte Sterbe-
        hilfe, die nicht kommerziell arbeitet, ist falsch. Eine Or-
        ganisation, die den Tod in einem bürokratischen Ver-
        fahren zuweist, passt nicht zu einer individuellen
        Entscheidung. Eine solche Organisation wird allein
        durch ihre Existenz Entscheidungen beeinflussen und
        wahrscheinlich auch in Gesprächen Einfluss nehmen. –
        Sie hat recht; dies spricht gegen die organisierte Sterbe-
        hilfe.
        Die Entscheidung für eine Selbsttötung kann doch
        sinnvoll nur im Einzelfall durch den Betroffenen mit-
        hilfe seiner Angehörigen und mit Beratung durch einen
        Arzt, möglichst mit therapeutischen Erfahrungen, erfol-
        gen.
        Hier haben Sie Ihren ursprünglichen Entwurf nach
        Protesten der Ärzteschaft entschärft. Der vorliegende
        Entwurf sieht nur noch vor, dass Angehörige oder andere
        nahestehende Personen einem Sterbenskranken straffrei
        Beihilfe leisten dürfen.
        Die Bundesärztekammer versucht, über berufsrechtli-
        che Regelungen und Regelungen der Berufsordnung sich
        zu entziehen. Und auch der Bundesverband privater An-
        bieter sozialer Dienste betont, dass Pflegekräfte den
        Menschen beim Leben helfen wollen, aber nicht beim
        Suizid.
        Der Begriff „nahestehende Personen“ ist allerdings
        eher unbestimmt und erlaubt, dass auch Ärzte und Pfle-
        gekräfte gemeint sein können. Aber der Kollege Spahn
        bemerkt zu Recht, dass es nicht sein kann, dass in solch
        einem „Nebensatz“ die Sterbehilfe durch nahestehende
        Ärzte und Pflegekräfte straffrei gestellt werden sollte.
        Hier werden Sie also nachbessern und erklären müssen,
        ob Sie in einem weiteren Gesetzentwurf die Rolle der
        Ärzte und Pflegekräfte neu ausrichten und die Sterbe-
        hilfe – unter gewissen Voraussetzungen – durch diese
        Berufsgruppen straffrei stellen wollen.
        Generell haben wir das Selbstbestimmungsrecht der
        Patientinnen und Patienten mehr zu achten. Dafür muss
        auch Klarheit über die Verbindlichkeit und die Reich-
        weite von Patientenverfügungen herrschen. Wie schaf-
        fen wir die erforderliche Rechtssicherheit für alle Betei-
        ligten auch bei der passiven und indirekten Sterbehilfe
        sowie der Beihilfe zur Selbsttötung?
        Gesetzliche Regelungen zur Stärkung des Selbstbe-
        stimmungsrechts von Patienten können aber nur ein
        Baustein sein, um Menschen einen würdigen Umgang
        mit Leiden und Sterben zu ermöglichen. Wichtig ist der
        weitere Ausbau des Hospizwesens und der Palliativme-
        dizin. Schon meine Kollegin Brigitte Zypries hatte in ih-
        rer Zeit als Bundesjustizministerin die Vorstellung, dass
        dann auch die Diskussion über aktive Sterbehilfe in den
        Hintergrund treten würde.
        Es geht letztlich darum, die Patientenautonomie auch
        am Lebensende zu stärken und menschenwürdige Bedin-
        gungen für Kranke und Sterbende zu schaffen.
        Kathrin Senger-Schäfer (DIE LINKE): Wie die
        Menschen im Land diskutiert auch die Linksfraktion das
        Thema Sterbehilfe insgesamt kontrovers. Auch nach der
        geplanten Anhörung im Rechtsausschuss zum Inhalt des
        Gesetzentwurfs und zur abschließenden Lesung im Bun-
        destag ist keine einhellige Fraktionsmeinung der Linken
        zu erwarten. Wie sollte es auch anders sein? Schließlich
        sind doch die Fragen, welche sich dem Thema Sterbe-
        hilfe widmen, nicht nur ethisch bzw. moralisch hochsen-
        sibel und differenziert zu betrachten, sondern bergen
        auch jede Menge Missverständnisse.
        Allein die Begrifflichkeiten wie „aktive Selbsthilfe“
        und „passive Sterbehilfe“ oder auch „Beihilfe zur Selbst-
        tötung“ bzw. „assistierter Suizid“ werden häufig nicht
        eindeutig angewandt, abgesehen davon, dass sehr unter-
        schiedliche – auch medizinische – Vorgehensweisen in
        der Nähe des Lebensendes häufig als Sterbehilfe be-
        zeichnet und missverstanden werden.
        Insofern sei mir der Hinweis erlaubt, dass meine Hal-
        tung nicht den Standpunkt meiner Fraktion in ihrer Ge-
        samtheit wiedergibt, sondern vielmehr meine persönli-
        che Meinung zum Thema beinhaltet, die maßgeblich
        durch meine pflege- und gesundheitspolitische Arbeit
        geprägt ist.
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012 25957
        (A) (C)
        (D)(B)
        Insofern plädiere ich mit Nachdruck dafür, dass alle
        Abgeordneten des Deutschen Bundestages frei und al-
        lein ihrem Gewissen verpflichtet und nach gründlicher
        persönlicher Abwägung zum Gesetzentwurf ihre Ent-
        scheidung fällen können und gegebenenfalls mittels
        fraktionsunabhängiger parlamentarischer Initiativen die
        Debatte befruchten.
        Meine Position ist es, sich ausdrücklich und entschie-
        den gegen jede Form der aktiven Sterbehilfe und jegli-
        cher Form der organisierten Beihilfe zur Selbsttötung
        auszusprechen. Menschen, die aussichtslos erkrankt
        sind, dürfen weder sich selbst überlassen bleiben, noch
        einer organisierten oder gar kommerzialisierten Sterbe-
        hilfe oder Beihilfe zur Selbsttötung ausgeliefert werden,
        die teilweise dilettantisch von Nichtärzten durchgeführt
        wird und die ohne jegliches Empfinden für die Sorgfalts-
        pflicht Sterbewillige in ungeeigneten Räumlichkeiten
        oder gar auf Parkplätzen unwiederbringlich ihrem
        Schicksal überlässt. Weder von Ärzten noch von Pflege-
        personal noch von privaten Organisationen sollte eine
        aktive Unterstützung von Selbsttötungen angeboten oder
        ausgeübt werden.
        Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung
        greift das Verbot der gewerblichen Beihilfe zur Selbsttö-
        tung auf und geht somit in die richtige Richtung. Einmal
        abgesehen davon, dass der Gesetzentwurf in der Begrün-
        dung mit ungenauen Formulierungen hantiert – denn es
        geht hier um Beihilfe zur Selbsttötung, was etwas ande-
        res ist als Sterbehilfe, – greift er aber insoweit zu kurz,
        als eben nicht ausdrücklich jegliche Form der organisier-
        ten Beihilfe zur Selbsttötung unter Strafe gestellt wird,
        sondern nur die gewerbsmäßige Form.
        Jedoch ist eine Grenze in der Praxis nicht haarscharf
        zu ziehen, die strafrechtliche Ahndung daher äußerst
        schwierig, und sind Umgehungstatbestände faktisch vor-
        programmiert. Es reicht deshalb nicht aus, dass mit dem
        Gesetzentwurf eine nichtgewerbsmäßige Beihilfe zur
        Selbsttötung dann straffrei bleibt, wenn der- oder dieje-
        nige, welche die Beihilfe leisteten, eine Angehörige oder
        ein Angehöriger oder eine nahestehende Person ist.
        Vor diesem Hintergrund ist anzumerken – und findet
        sich auch in der Begründung des Gesetzentwurfs –, dass
        Studien mehrfach gezeigt haben, dass ein kausaler Zu-
        sammenhang zwischen der Zulassung von kommerziali-
        sierter Beihilfe zur Selbsttötung und einem Anstieg ent-
        sprechender Selbsttötungen zwar nicht bewiesen ist, aber
        dennoch vermutet werden kann. Das allein rechtfertigt
        ein Verbot. Nachvollziehbar ist aber nicht, diesen Zusam-
        menhang allein für die kommerzialisierte Beihilfe zur
        Selbsttötung zu vermuten. Die Vermutung muss auch für
        jede andere Form der organisierten Beihilfe zur Selbsttö-
        tung gelten bzw. sie kann nicht ausgeschlossen werden
        und rechtfertigt insofern ebenfalls ein Verbot.
        Fakt ist, dass beispielsweise in den Niederlanden
        nicht nur Menschen durch die Einwirkung Dritter star-
        ben, die danach verlangt hatten, sondern jedes Jahr auch
        einige Hundert, die nicht darum gebeten hatten. Nach
        ärztlicher Einschätzung konnte keine Besserung ihres
        Zustandes mehr erzielt werden bzw. wurden medizini-
        sche Maßnahmen für sinnlos erachtet, wurde ihre Le-
        bensqualität als gering eingeschätzt oder hatten ihre An-
        gehörigen darum gebeten.
        Menschen wollen sterben, weil sie einsam sind, keine
        Hilfen bekommen, ihren Angehörigen nicht zur Last fal-
        len wollen, Schmerzen haben. Dies sind alles Problem-
        felder, auf die spezifisch und wirksam reagiert werden
        könnte, die aber in den Hintergrund gerückt sind. Be-
        zeichnend ist in diesem Zusammenhang, dass der Aus-
        bau der palliativmedizinischen Versorgung nur schlep-
        pend vorankommt.
        Es muss darauf hingewiesen werden, dass Menschen
        mit unheilbaren Krankheiten ein Recht auf die bestmög-
        liche Versorgung haben. Es muss gewährleistet sein,
        dass für sie bis zum Lebensende alles getan wird, damit
        sie selbstbestimmt und in Würde bis zum Ende leben
        können. Eine gute palliativmedizinische Versorgung und
        die dazugehörige Pflege und Betreuung sind deshalb
        wichtige Bausteine, um dieses Ziel zu verwirklichen.
        Die palliativmedizinische Versorgung als Teil eines
        umfassenden Palliative-Care-Konzepts leistet hier Her-
        vorragendes, ebenso wie die Hospizeinrichtungen.
        Bei der palliativmedizinischen Versorgung geht es um
        die aktive, ganzheitliche Behandlung von Patienten mit
        einer voranschreitenden, weit fortgeschrittenen Erkran-
        kung und einer begrenzten Lebenserwartung in dem Ab-
        schnitt, in der die Erkrankung nicht mehr auf eine kura-
        tive – also heilende – Behandlung anspricht und die
        Beherrschung von Schmerzen, anderen Krankheitsbe-
        schwerden, von psychologischen, sozialen und spirituel-
        len Problemen höchste Priorität besitzt.
        Die Palliativmedizin ist fester Bestandteil der hiesi-
        gen medizinischen Versorgung. Gerade in Hinblick auf
        die Diskussion zum Thema ist von größter Bedeutung,
        dass Palliativmedizin das Ziel hat, todkranke Menschen
        in ihrer Ganzheitlichkeit zu betreuen. Das bedeutet, die
        Leiden umfassend zu lindern und dabei die Würde und
        Eigenständigkeit des Menschen zu achten.
        Hier zeigt sich der entscheidende Unterschied zur
        Sterbehilfe bzw. zur Beihilfe zur Selbsttötung, der darin
        liegt, dass bei der palliativmedizinischen bzw. Palliative-
        Care-Versorgung nicht der Leidende, sondern die Symp-
        tome des Leids wie Schmerz und Einsamkeit beseitigt
        werden. Die Palliative-Care-Versorgung macht Sterbe-
        hilfe und die Beihilfe zur Selbsttötung dadurch weitge-
        hend überflüssig.
        Auch die verkürzte Sicht, welche die palliativmedizi-
        nische Versorgung auf die Gabe von Schmerzmitteln re-
        duziert und diese dann womöglich in die Nähe einer wie
        auch immer gelagerten Form der Sterbehilfe oder auch
        Beihilfe zur Selbsttötung rückt, ist irreführend. Deshalb
        bin ich der Meinung, dass wir den Ausbau und die Sicher-
        stellung der palliativmedizinischen und Hospizversor-
        gung gerade im Zusammenhang mit der heutigen Debatte
        nicht aus den Augen verlieren dürfen. Es muss vielmehr
        Aufgabe des Gesundheitssystems sein, ungeachtet jegli-
        cher Marktmechanismen die Gesundheit jedes Einzelnen
        zu erhalten, Leiden zu verhindern, Schmerzen zu lindern,
        Menschen am Lebensende zu begleiten sowie beizuste-
        hen und nicht ihr Leben aktiv zu beenden. Notwendig
        25958 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012
        (A) (C)
        (D)(B)
        sind eine flächendeckende palliativmedizinische bzw.
        Palliative-Care-Versorgung und auch eine breitere Finan-
        zierung der Pflegeversicherung und ein entsprechender
        Ausbau ihrer Leistungen. Daneben muss die Hospizbe-
        wegung dringend weiter strukturell, finanziell und medial
        unterstützt werden, damit auch hier eine flächendeckende
        Versorgung – die nachweislich nicht gegeben ist – ge-
        währleistet werden kann.
        Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Seit
        Jahren wird in der Gesellschaft darüber diskutiert, ob
        Menschen ihrem Leben freiwillig und selbstverantwort-
        lich ein Ende setzen dürfen und ob es erlaubt oder gar
        geboten sei, den hierzu Entschlossenen dabei zu assistie-
        ren. Der Freitod steht nicht unter Strafe, auch die Bei-
        hilfe dazu – selbstverständlich – nicht. Es wäre sinnvoll,
        gesetzlich klarzustellen, dass straflose Beihilfe zum Sui-
        zid nicht durch die Hintertür wegen unterlassener Hilfe-
        leistung verfolgt werden kann. Leider legt die Bundesre-
        gierung hierzu keinen Gesetzentwurf vor. Stattdessen
        beschäftigen wir uns mit einem Vorschlag zur Strafbar-
        keit der gewerbsmäßigen Förderung der Selbsttötung.
        Der vorliegende Gesetzentwurf scheitert bereits an
        der Darstellung der Lebenssachverhalte, die unter Strafe
        gestellt werden sollen. Ich zitiere aus der Begründung:
        „In Deutschland nehmen die Fälle zu, in denen Personen
        auftreten, deren Anliegen es ist, einer Vielzahl von Men-
        schen in Form einer entgeltlichen Dienstleistung eine
        schnelle und effiziente Möglichkeit für einen Suizid an-
        zubieten. ... Im Vordergrund solcher Handlungen steht
        dabei nicht ein Beratungsangebot mit primär lebensbeja-
        henden Perspektiven, sondern die rasche und sichere
        Abwicklung des Selbsttötungsentschlusses, um damit
        Geld zu verdienen.“
        Ich hätte erwartet, dass nunmehr einige Beispiele fol-
        gen, von Menschen oder Organisationen, auf die diese
        Beschreibung zutrifft. Aber weit gefehlt, nicht ein einzi-
        ges konkretes Beispiel wird von der Regierung benannt.
        Ich will konkreter werden und die Fälle ansprechen,
        über die seit Jahren in der Öffentlichkeit kontrovers dis-
        kutiert wird:
        Es sind dies erstens die schweizerischen Vereine Exit
        und Dignitas und ihr deutscher Ableger Dignitate und
        zweitens die namensgleichen schweizerischen und deut-
        schen Vereine Sterbehilfe Deutschland e. V., hinter de-
        nen der frühere Hamburger Justizsenator Dr. Kusch und
        seine Gefolgsleute stehen.
        Man muss diese Vereine und die für sie handelnden
        Personen nicht mögen, aber eines ist klar: Gerade diesen
        Personen wird nicht nachzuweisen sein, dass bei ihren
        Suizidhilfeangeboten das Geldverdienen im Vorder-
        grund steht und dass sie deshalb ihr Beratungsangebot
        nicht vorrangig auf lebensbejahende Perspektiven aus-
        richten. Ein Blick auf die im Internet nachlesbaren An-
        gebote und die veröffentlichten Satzungen reicht hierfür
        aus.
        Auch der Hinweis auf die angeblich steigende Zahl
        von Suizidfällen in den Niederlanden, Belgien und der
        Schweiz halten schon einer oberflächlichen Überprüfung
        nicht stand. In den Niederlanden und in Belgien ist seit
        2001/2002 die aktive Strebehilfe unter bestimmten Be-
        dingungen nicht strafbar. In Deutschland ist sie aber
        strafbar, und zwar als Tötung auf Verlangen. Dies will
        auch niemand ändern. Um uns von den Niederlanden
        und Belgien abzusetzen, bedarf es deshalb des vorgeleg-
        ten neuen Strafgesetzes gar nicht.
        Und in der Schweiz ist die Suizidhilfe strafbar, wenn
        sie aus „selbstsüchtigen Beweggründen“ geschieht. Dies
        entspricht in etwa der vorgeschlagenen Gewerblichkeit;
        jedenfalls sind altruistische Motivationen straflos. Im
        Ergebnis würde der vorliegende Entwurf eine ähnliche
        Rechtslage wie in der Schweiz schaffen, obwohl die Be-
        gründung die Lage in der Schweiz gerade als einen
        Grund für den vorgelegten Entwurf benennt. Bezeich-
        nend ist in diesem Zusammenhang, dass die in der
        Schweiz legal tätigen Vereine als „quasi gewerbsmäßig
        auftretende Sterbehilfeorganisationen“ bezeichnet wer-
        den. So verschwimmt immer mehr, welche Personen ei-
        gentlich von der Strafbarkeit mit dem neuen Recht er-
        fasst werden sollen.
        Nur am Rande sei angemerkt, dass wir die Auffas-
        sung der Bunderegierung teilen, dass der Versuch, jegli-
        che – auch nicht gewerbsmäßige – organisierte Sterbe-
        hilfe zu verbieten, an verfassungsrechtliche Schranken
        stoßen würde. Was einem Einzelnen erlaubt ist, kann ei-
        nem Verein nicht verboten werden.
        Trotz also der ins Auge springenden Schwächen des
        vorgelegten Gesetzentwurfs gibt es Hinweise auf Vorge-
        hensweisen bei der Suizidhilfe, die strafwürdig sein
        könnten.
        Wir gehen von der Freiheit zur Selbstbestimmung
        aus. Diese beinhaltet auch die Freiheit, seinem Leben ein
        Ende zu setzen. Wir wollen solche Entscheidungen nicht
        fördern, wir wollen niemanden hierzu anstiften oder ver-
        leiten, aber wir achten und respektieren auch diese Ent-
        scheidung, wenn sie frei von Einflüssen Dritter und au-
        tonom getroffen wird. Deshalb ist weder der Suizid noch
        die Beihilfe hierzu unter Strafe gestellt.
        Der Staat ist aber – was völlig unbestritten ist – auf
        den Schutz menschlichen Lebens verpflichtet. Diese
        Schutzpflicht ist nicht vorrangig und nicht ausschließlich
        mit dem Mittel des Strafrechts zu erfüllen. Vor allem an-
        deren müssen wir mehr tun, um den Menschen die Angst
        vor unerträglichen Schmerzen und vor einem qualvollen
        Tod zu nehmen. Dazu gehört, die Palliativmedizin und
        die Hospizbewegung zu stärken und deren Angebote als
        Alternative zum Suizid bekannt zu machen.
        Zum staatlichen Schutzauftrag gehört aber auch, die
        Entscheidung, seinem Leben ein Ende zu setzen, von or-
        ganisierter Fremdbestimmung und Beeinflussung frei zu
        halten. Sollte hier eine evidente und eklatante Schutzlü-
        cke bestehen, ist diese zu schließen.
        Was sagt nun der Regierungsentwurf hierzu? Wir le-
        sen: „Diese Kommerzialisierung“ – der Sterbehilfe –
        „stellt eine qualitative Änderung in der Praxis der Ster-
        behilfe dar. Sie lässt befürchten, dass die Hilfe zum Sui-
        zid als eine normale Dienstleistung angesehen wird und
        sich Menschen zur Selbsttötung verleiten lassen, die dies
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012 25959
        (A) (C)
        (D)(B)
        ohne ein solches Angebot nicht tun würden.“ Der Ent-
        wurf schlägt deshalb vor, „die gewerbsmäßige Förde-
        rung der Selbsttötung unter Strafe zu stellen“.
        Die Förderung von Suiziden – insbesondere dadurch,
        dass Menschen, die noch gar nicht zur Beendigung ihres
        Lebens entschlossen sind, die über Schmerzlinderung
        am Lebensende, über die Angebote der Hospize, über
        die Abfassung entsprechender Patientenverfügungen
        nicht aufgeklärt sind, verleitet werden, Suizid zu bege-
        hen – kann das Rechtsgut Leben in einer Art und Weise
        verletzen, dass an einen strafrechtlichen Schutz gegen
        solche Verletzungen zu denken wäre.
        Untersuchungen, die darüber Aufschluss geben könn-
        ten, ob es wirklich Tendenzen zu einer so verstandenen
        Kommerzialisierung des Suizids gibt, bleiben im Ge-
        setzentwurf unerwähnt. Ja, noch schlimmer, wir müssen
        lesen, dass die Bundesregierung solche Untersuchungen
        gar nicht kennt.
        Wenn man aber die Aussagen im Gesetzentwurf zur
        Grundlage neuen Strafrechts machen will, dann muss
        gerade das Element der Fremdbestimmung, das Verlei-
        ten zur Selbsttötung, auch im Straftatbestand als das ent-
        scheidende Merkmal der Straftat auftauchen. Nicht die
        Verschaffung der Gelegenheit zum Suizid an sich, nicht
        die Erstattung von Kosten, die dabei entstehen, nicht die
        Entlohnung der bei der Suizidhilfe eingesetzte Arbeits-
        zeit und Energie, ja nicht einmal die Motivation an sich,
        sich damit eine Einnahmequelle zu verschaffen, ist straf-
        würdig, sondern – wenn überhaupt – im Kern die Verlei-
        tung noch unentschlossener oder mangelhaft informier-
        ter Menschen zur Selbsttötung und die dadurch bewirkte
        Förderung des Suizids.
        Die Thematik der Strafbarkeit bestimmter Formen der
        Beihilfe zum Suizid ist eine ernsthafte und überaus
        schwierige. Ich bitte die Koalition mit Nachdruck, hier
        mit Gründlichkeit vor Schnelligkeit vorzugehen. Es gibt
        keinen Grund zur Hast und Oberflächlichkeit. Der vor-
        liegende Entwurf muss gründlich nach dem sogenannten
        Struck’schen Gesetz bearbeitet werden. Er darf den Bun-
        destag nicht in der Form und nicht mit der Begründung
        verlassen, wie er in den Bundestag eingebracht worden
        ist.
        Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundes-
        ministerin der Justiz: Ein breiter gesellschaftlicher
        Konsens über Umfang und Inhalt einer Regulierung zur
        in ethischer, moralischer und juristischer Hinsicht äu-
        ßerst komplexen Frage der Suizidhilfe wird sich kaum
        erreichen lassen.
        Einerseits wird die Forderung nach generellen
        Verbotsregelungen erhoben, andererseits sehen viele
        Menschen ihr Selbstbestimmungsrecht nur dann ge-
        wahrt, wenn sie auch die uneingeschränkte Möglichkeit
        haben, Hilfe zur Selbsttötung in Anspruch zu nehmen.
        Verzweifelte Betroffene in großer seelischer oder kör-
        perlicher Not benötigen vor allem menschliche Zuwen-
        dung und eine medizinische Versorgung, die eine lebens-
        bejahende Einstellung erleichtert und die ihnen bei
        Schmerzen die bestmögliche palliativmedizinische
        Behandlung zukommen lässt.
        Leider können aber weder Unterstützung noch mo-
        derne Palliativmedizin alle Schmerzen lindern; auch
        weiterhin werden Menschen die Entscheidung zur Been-
        digung ihres Lebens treffen. Wir müssen uns als Gesetz-
        geber deshalb immer wieder fragen, welche rechtlichen
        Rahmenbedingungen wir in diesem sensiblen und
        schwierigen Bereich vorgeben wollen.
        Ausgangspunkt ist die grundsätzliche Straffreiheit der
        Suizidhilfe im deutschen Recht, da auch die Selbsttötung
        bekanntlich nicht strafbar ist. Es geht in der derzeitigen
        Diskussion also allein um die Frage, inwieweit Suizid-
        hilfe erstmals unter Strafe gestellt werden soll. Der Ent-
        wurf der Bundesregierung sieht dies nun für die Fälle
        vor, in denen Suizidhilfe gewerbsmäßig angeboten wird.
        Dort, wo sie kommerzialisiert wird, und wo sie sich zu
        einer Art „normaler Dienstleistung“ entwickeln kann,
        bestünde nämlich die Gefahr, dass sich vielleicht noch
        unentschlossene Menschen zum Suizid verleiten lassen
        oder dass bei den Suizidhelfern die Gewinnerzielung ei-
        gentliches Motiv des Handelns wird.
        Die Gewerbsmäßigkeit ist ein klares rechtliches
        Abgrenzungskriterium. Einer Kriminalisierung jeder or-
        ganisierten, konkret von Vereinen gewährten Suizidhilfe
        stünden dagegen auch verfassungsrechtliche Bedenken
        entgegen. Aufgrund der in Art. 9 GG garantierten Verei-
        nigungsfreiheit kann dem Verein nämlich grundsätzlich
        nicht verboten werden, was dem Einzelnen gestattet ist.
        Ähnlich schwer ließe sich für die sogenannte ge-
        schäftsmäßige – also für die lediglich auf Wiederholung
        angelegte und ohne Gewinnabsicht durchgeführte –
        Suizidhilfe begründen, weshalb ein an sich erlaubtes
        Verhalten allein dadurch strafbar sein sollte, dass es wie-
        derholt wird.
        Nach dem Entwurf der Bundesregierung soll die
        Suizidhilfe deshalb nur dann unter Strafe gestellt wer-
        den, wenn sie gewerbsmäßig, also aus kommerziellen
        Gründen angeboten wird.
        Dort, wo Suizidhilfe in einer emotional schwierigen
        Konfliktsituation im Familienkreis und aus rein altruisti-
        schen Gründen gewährt wird, soll dagegen bewusst nicht
        gesetzlich eingegriffen werden; in diesen intimen
        zwischenmenschlichen Beziehungen muss sich der Staat
        auch zukünftig zurückzuhalten. Der Gesetzentwurf stellt
        daher sicher, dass Angehörige und etwa langjährige und
        sehr enge Freunde von der Strafbarkeit ausgenommen
        werden, wenn sie an der Tat des Suizidhelfers lediglich
        teilnehmen, ohne selbst gewerbsmäßig zu handeln. Dies
        wird also weiterhin straffrei bleiben – wie es das Straf-
        gesetzbuch ja bereits jetzt vorsieht. Es geht dabei über-
        haupt nicht – auch das möchte ich noch einmal betonen
        – um den Beruf, den die Angehörigen oder engen
        Freunde ausüben.
        Der Gesetzentwurf der Bundesregierung trifft eine
        maßvolle Wertentscheidung in dem sehr sensiblen
        Bereich der Sterbehilfe.
        25960 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012
        (A) (C)
        (D)(B)
        Anlage 13
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Entwurfs eines Zweiten Ge-
        setzes zur Änderung des Einführungsgesetzes
        zum Strafgesetzbuch (Zusatztagesordnungs-
        punkt 9)
        Ansgar Heveling (CDU/CSU): Das Recht der
        Sicherungsverwahrung beschäftigt seit Ende der 1990er-
        Jahre fortwährend den Gesetzgeber und die Rechtspre-
        chung. Das ist einerseits aus der Interessenlage der
        Betroffenen nachzuvollziehen, die, was ihr gutes Recht
        ist, jedwedes Rechtsmittel und sämtliche Instanzen nut-
        zen bis hin zu Bundesverfassungsgericht und Europäi-
        schem Gerichtshof für Menschenrechte. Andererseits ist
        es aus dem Blickwinkel des Gesetzgebers zur Dauerauf-
        gabe geworden, die Entscheidungen der Rechtsprechung
        im Hinblick auf den durch den Gesetzgeber wahrzuneh-
        menden Schutzauftrag gegenüber der Bevölkerung in
        entsprechende gesetzliche Regelungen zu übersetzen.
        Mit dem Therapie- und Unterbringungsgesetz, ThUG,
        hat die christlich-liberale Koalition zusammen mit der
        SPD-Fraktion eine gesetzliche Lösung für eine große
        Zahl von Fällen geschaffen, bei denen aufgrund der
        Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für
        Menschenrechte vom Dezember 2009, rechtskräftig ge-
        worden im Mai 2010, sowie nachfolgend des Bundes-
        verfassungsgerichts im Mai 2011 eine Unterbringung
        nicht mehr auf der Grundlage des Rechts der Siche-
        rungsverwahrung erfolgen konnte. Außerdem ist der
        Deutsche Bundestag vor wenigen Wochen erst durch die
        Neuregelung des Rechts der Sicherungsverwahrung im
        Hinblick auf die Beachtung des Abstandsgebotes dem
        Auftrag des Bundesverfassungsgerichts aus seiner Ent-
        scheidung von Mai 2011 nachgekommen.
        Wir nehmen den Schutzauftrag gegenüber der Bevöl-
        kerung ernst und haben die entsprechenden gesetzlichen
        Regelungen zügig auf den Weg gebracht. Aufgrund der
        zeitlichen Lücke zwischen der Entscheidung des Euro-
        päischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Dezember
        2009, dass die Sicherungsverwahrung vom Verbot der
        Rückwirkung nach Art. 7 der Europäischen Konvention
        zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten,
        EMRK, erfasst sei, und der Entscheidung des Bundes-
        verfassungsgerichts im Mai 2011, dass trotz des Rück-
        wirkungsgebots in einigen Fällen besonders hochgradi-
        ger Gefährlichkeit eine Freiheitsentziehung weiterhin
        möglich sei, ist es allerdings in wenigen Einzelfällen
        möglich, dass eine Regelungslücke besteht.
        Es geht hierbei um Fälle, in denen ein Antrag auf An-
        ordnung einer solchen Sicherungsverwahrung vor dem
        4. Mai 2011 ausschließlich deshalb abgelehnt wurde,
        weil das zuständige Revisionsgericht dies aufgrund der
        Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für
        Menschenrechte, EGMR, namentlich aufgrund der am
        10. Mai 2010 bestandskräftig gewordenen Entscheidung
        des EGMR vom 17. Dezember 2009 – Nr. 19359/04 –,
        wegen Verstoßes gegen das Rückwirkungsverbot von
        Art. 7 der Europäischen Konvention zum Schutz der
        Menschenrechte und Grundfreiheiten, EMRK, für zwin-
        gend ansah, unabhängig von sonstigen Kriterien wie
        insbesondere dem Grad der Gefährlichkeit des Täters,
        vergleiche namentlich BGH, Beschluss vom 12. Mai
        2010, 4 StR 577/09.
        Diese Konstellation konnte dadurch entstehen, dass
        bis zum obengenannten Urteil des Bundesverfassungs-
        gerichts vom 4. Mai 2011 noch nicht abschließend
        geklärt war, ob die Vorgaben der EMRK und der
        Rechtsprechung des EGMR den nationalen Gerichten
        von vornherein jede rückwirkend verschärfende Rechts-
        anwendung im Recht der Sicherungsverwahrung aus-
        schlossen oder dies – unter erhöhten Voraussetzungen –
        doch noch möglich war.
        Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Änderung
        des Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch, EGStGB,
        soll diese Lücke nun rasch geschlossen werden, um
        keine Schutzlücke entstehen zu lassen. So bedauerlich es
        einerseits ist, dass dies nun in einem eigenen Gesetz-
        gebungsverfahren geschehen muss und eine Regelung
        nicht schon mit dem vor einigen Wochen verabschiede-
        ten Gesetz zur Neuregelung der Sicherungsverwahrung
        erfolgte, so wichtig ist es andererseits, dass wir dieses
        Gesetzgebungsverfahren nun zügig durchführen. Hier
        gilt mein Dank allen Fraktionen, die sich konstruktiv in
        das Verfahren einbringen.
        Abschließend möchte ich, da dies in der vorbereiten-
        den Diskussion bereits Erwähnung gefunden hat, darauf
        hinweisen, dass eine Regelung der nachträglichen Siche-
        rungsverwahrung die mit dem vorliegenden Gesetz-
        entwurf zu erfassenden Fälle nicht umfasst hätte. Ohne
        Frage: Wir hätten uns im Gesetzgebungsverfahren zur
        Neuordnung der Sicherungsverwahrung als CDU/CSU-
        Fraktion auch für die Zukunft die Möglichkeit der nach-
        träglichen Sicherungsverwahrung gewünscht. Dies ist
        nach wie vor nicht geregelt. Die Fälle, die Grundlage
        dieses heute beratenen Gesetzentwurfs sind, wären aber
        – ich betone dies noch einmal – von der nachträglichen
        Sicherungsverwahrung nicht erfasst. Lassen Sie uns nun
        aber mit dem vorliegenden Gesetz die entstandene
        Lücke schnell schließen.
        Norbert Geis (CDU/CSU): Der vorliegende Gesetz-
        entwurf hat seinen Grund vor allem darin, dass der
        EGMR und das Bundesverfassungsgericht das Recht der
        Sicherungsverwahrung für verfassungs- und konven-
        tionswidrig erklärt haben. Genauer gesagt, hat der EGMR
        die Sicherungsverwahrung, SV, als Strafe qualifiziert,
        für die auch das Rückwirkungsverbot Anwendung fin-
        det.
        Die SV war zunächst auf zehn Jahre begrenzt. Diese
        zeitliche Begrenzung der SV wurde jedoch später aufge-
        hoben. Bis zu dem Urteil des EGMR war es möglich,
        dass ein Gericht auf entsprechenden Antrag hin die zu-
        nächst auf zehn Jahre befristete SV eines gefährlichen
        Täters nachträglich aufheben und verlängern konnte. Da
        diese Regelung vor dem EGMR keinen Bestand hatte,
        war die Folge, dass alle Täter, deren SV über die Zehn-
        jahresfrist hinaus verlängert worden war, nun freigelas-
        sen werden mussten.
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012 25961
        (A) (C)
        (D)(B)
        Dann hat der Bundestag mit dem Gesetz zur Thera-
        pierung und Unterbringung psychisch gestörter Gewalt-
        täter eine neue gesetzliche Regelung geschaffen, um sol-
        che Täter dann doch noch in Therapieunterbringung
        halten zu können.
        Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil
        vom 4. Mai 2011 festgestellt, dass die SV keine Strafe
        ist. Die nachträgliche SV bleibt also zulässig, wenn
        durch Freilassung des Täters von einer konkreten hoch-
        gradigen Gefährdung der Öffentlichkeit durch schwerste
        Gewalt oder Sexualverbrechen auszugehen ist und wenn
        bei dem Täter eine psychische Störung im Sinne des
        ThUG vorliegt. Im Juli 2012 stellte aber der BGH fest,
        dass das ThUG nach dem derzeitigen Wortlaut nicht auf
        Personen anwendbar ist, die nur vorläufig gemäß § 275 a
        StPO, alte Fassung, nicht aber endgültig in der nachträg-
        lichen SV untergebracht sind. Für diese Fälle, so der
        BGH, war keine Unterbringung nach dem ThUG mög-
        lich. Deshalb kam der Wunsch aus dem Bundesrat, diese
        Sicherheitslücke zu schließen.
        Der Deutsche Bundestag hat am 8. November 2012
        das Gesetz zur bundesrechtlichen Umsetzung des Ab-
        standsgebotes im Recht der SV beschlossen. Allerdings
        wurde der Wunsch der Länder, durch eine Erweiterung
        des ThUG die Sicherheitslücke zu schließen, nicht er-
        füllt. Die Regierung war der Auffassung, dass dies nicht
        notwendig sei. Dagegen hat sich der Bundesrat gewehrt.
        Er wollte veranlassen, dass der Vermittlungsausschuss
        angerufen wird. Deshalb gab die Bundesregierung eine
        Protokollerklärung ab, in der sie zusichert, dass diese
        oben bezeichnete besondere Problematik im Rahmen ei-
        ner Übergangsregelung zu lösen sei. Dazu, so heißt es in
        der Protokollerklärung, werde die Bundesregierung dem
        Deutschen Bundestag eine Ergänzung von Art. 316 e
        EGStGB vorschlagen.
        Die Koalition hat diesen Gedanken, der in der Proto-
        kollerklärung zum Ausdruck gekommen ist, aufgenom-
        men und hat nunmehr das vorliegende Gesetz ausgear-
        beitet und vorgelegt, um damit die erwähnte
        Sicherheitslücke zu schließen.
        Mit der vorgesehenen Übergangsregelung im
        EGStGB wird also der Anwendungsbereich des Thera-
        pieunterbringungsgesetzes, ThUG, nachträglich ergänzt.
        Das ThUG soll zukünftig auch für die besonderen Fälle
        anwendbar sein, in denen der Täter zwar noch nicht oder
        nur vorläufig in der SV untergebracht ist, gegen den aber
        bereits im ersten Rechtszug die SV angeordnet worden
        war. In einem solchen speziellen Fall hatte der BGH mit
        Urteil vom Mai 2010 auf die Revision hin das erstinstanz-
        liche Urteil aufgehoben, weil die Norm, auf die die An-
        ordnung gestützt worden war (§ 66 Abs. 3 StGB, alte
        Fassung), zum Tatzeitpunkt noch nicht in Kraft war.
        Deshalb, so der BGH, konnte die Anordnung nicht
        rechtskräftig erfolgen. Der BGH stützte sich dabei auf
        die Entscheidung des EGMR vom 17. Dezember 2009.
        Allerdings lag zum Zeitpunkt des Urteils des BGH noch
        nicht das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom
        4. Mai 2011 vor, das die nachträgliche SV für zulässig
        erklärt, wenn eine konkrete, hochgradige Gefahr
        schwerster Gewalt- oder Sexualverbrechen besteht und
        wenn bei dem Täter eine psychische Störung im Sinne
        des ThUG vorliegt. Folglich wäre das damalige Urteil
        des BGH nicht ergangen, wenn zum Zeitpunkt der Ent-
        scheidung das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes
        schon vorgelegen hätte.
        Die Rechtskraft der Entscheidung über die Ableh-
        nung der Anordnung der SV ist also deshalb entstanden,
        weil die Grundsätze des Urteils des Verfassungsgerichtes
        vom 4. Mai 2011 noch nicht vorlagen und daher nicht
        berücksichtigt werden konnten. Daraus geht nämlich
        hervor, dass trotz des Rückwirkungsverbotes eine An-
        ordnung der nachträglichen SV unter bestimmten Um-
        ständen eben doch erfolgen kann.
        Der BGH führt nun in seinem Urteil vom Juli 2012
        aus, dass das ThUG nach seinem derzeitigen Wortlaut
        nicht auf Personen anwendbar ist, die nur vorläufig ge-
        mäß § 275 a StPO, alte Fassung, und nicht endgültig in
        der nachträglichen SV untergebracht waren.
        Der Gesetzentwurf will nun diese Lücke schließen.
        Die Regelung sieht vor, dass § 1 ThUG auch dann an-
        wendbar ist, wenn der Betroffene noch nicht rechtskräf-
        tig in der SV untergebracht war, gegen ihn aber bereits
        SV im ersten Rechtszug angeordnet worden war, eine
        Revisionsentscheidung vor dem 4. Mai 2011 (Entschei-
        dung des BVerfG) ergangen ist, in dieser Revisionsent-
        scheidung festgestellt wurde, dass die nachträgliche SV
        allein wegen eines Verbotes der rückwirkenden Ver-
        schärfung im Recht die SV nicht rechtswirksam ange-
        ordnet werden konnte, sodass es auf die Gefährlichkeit
        des Täters gar nicht mehr ankam.
        Dieser Gesetzentwurf der Koalition schließt eine
        zwar kleine, aber sehr wohl existierende Regelungslücke
        im Anwendungsbereich des ThUG, die ein hohes Risiko
        darstellt. Die Entscheidung des Bundesgerichtshofes
        vom 12. Juli 2012 hat gezeigt, dass aufgrund der zeitli-
        chen Abfolge zwischen dem Inkrafttreten des ThUG am
        1. Januar 2011 und der Entscheidung des Bundesverfas-
        sungsgerichtes vom 4. Mai 2011 sowie den vorhergegan-
        genen Urteilen des EGMR in den Jahren 2009 und 2010
        ein „anwendungsfreier Bereich“ für hochgefährliche
        Straftäter entstanden ist.
        Diese Gesetzeslücke wird durch den vorliegenden
        Gesetzentwurf geschlossen. Ein Gericht kann nun die
        Unterbringung von solchen hochgradig gefährlichen
        Personen, die aufgrund dieser Gesetzeslücke trotz ihres
        hohen Rückfallrisikos hätten freigelassen werden müs-
        sen, in einer geeigneten geschlossenen Einrichtung an-
        ordnen. Die Anordnung setzt voraus, dass der Täter ge-
        mäß § 1 Abs. 1 ThUG an einer psychischen Störung
        leidet. Zudem muss eine Gesamtwürdigung der Persön-
        lichkeit, des Vorlebens und der Lebensverhältnisse des
        Täters ergeben, dass infolge der psychischen Störung mit
        hoher Wahrscheinlichkeit das Leben, die körperliche
        Unversehrtheit, die persönliche Freiheit oder die se-
        xuelle Selbstbestimmung einer anderen Person erheblich
        beeinträchtigt werden könnte. Ebenfalls muss die Unter-
        bringung in der SV aus den zuvor genannten Gründen
        zum Schutz der Allgemeinheit notwendig sein.
        25962 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012
        (A) (C)
        (D)(B)
        Burkhard Lischka (SPD): Steter Tropfen höhlt den
        Stein. Zumindest im Bereich der Sicherungsverwahrung
        sind unsere mahnenden Rufe gehört worden – wenn
        auch nur teilweise und in letzter Minute. Seit der Ent-
        scheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Siche-
        rungsverwahrung vom Mai 2011 haben sowohl die SPD-
        Bundestagsfraktion als auch die Länder immer wieder
        auf die Notwendigkeit einer möglichen nachträglichen
        Therapieunterbringung gefährlicher Gewalt- und Sexual-
        straftäter hingewiesen. Die Anhörung des Rechtsaus-
        schusses hat unsere Forderung eindrücklich bestätigt.
        Die von den Sachverständigen zur Illustrierung genann-
        ten Beispiele aus der gerichtlichen Praxis gingen wahr-
        lich unter die Haut.
        Die Bundesjustizministerin hat sich jedoch aus nicht
        nachvollziehbaren Gründen bis zuletzt gesträubt, die
        nachträgliche Therapieunterbringung zu ermöglichen.
        Und die Union? Sie hat sich zähneknirschend wider bes-
        seres Wissen der Koalitionsdisziplin gebeugt.
        Mulmig wurde der Koalition, als kurz vor dem längst
        überfälligen Abschluss der parlamentarischen Beratun-
        gen des Regierungsentwurfs ein BGH-Beschluss publik
        wurde, nach dem ein hochgefährlicher Sexualstraftäter
        im Saarland hätte entlassen werden müssen, da der Ge-
        setzesvorschlag keine Handhabe zu seiner Unterbrin-
        gung bietet. Aber auch hier endete das Koalitionsgezerre
        wie in den vielen Monaten zuvor: Es wurde viel debat-
        tiert, aber ohne Ergebnis.
        Erst im Bundesrat ist die Bundesregierung dem Druck
        der Länder gewichen und hat per Protokollerklärung
        eine teilweise Nachbesserung zugesichert. Anstatt diese
        jedoch mit offenem Visier zu präsentieren, versteckte die
        Koalition die Änderung zunächst verschämt als Anhang
        im Bilanzrechtsänderungsgesetz. Zu peinlich war ihr
        wohl das Eingeständnis, bereits wenige Wochen nach
        Verabschiedung ihres Gesetzes zur Neuregelung der Si-
        cherungsverwahrung die ersten Nachbesserungen vor-
        nehmen zu müssen.
        Aber jetzt ist die – hoffentlich – letzte Schleife ge-
        dreht; die Koalition hat die Nachbesserung in Form eines
        eigenen Gesetzentwurfs präsentiert. Wir begrüßen dies
        im Ergebnis, da diese Regelung ein Mehr an Schutz be-
        wirkt. Es bleibt die Frage: Warum nicht gleich so? Und
        es bleibt die Forderung nach Ermöglichung einer nach-
        träglichen Therapieunterbringung, denn diese ist mit
        dem Änderungsantrag noch nicht realisiert. Die Bundes-
        justizministerin tut dies lapidar mit der Bemerkung „Die
        Wirkung der nachträglichen Therapieunterbringung wird
        überschätzt“ ab. Wir können nur hoffen, dass ihr dieser
        Kommentar nicht noch um die Ohren fliegt.
        Christian Ahrendt (FDP): Der Gesetzentwurf dient
        der Umsetzung einer Protokollerklärung, die im Zuge
        des Abschlusses der Reform der Sicherungsverwahrung
        vor dem Bundesrat abzugeben war. Die Länder befürch-
        teten aufgrund eines Einzelfalls aus dem Saarland das
        Bestehen einer Schutzlücke. Mit diesem Gesetz soll dem
        Anliegen der Länder nun Rechnung getragen werden,
        auch wenn davon auszugehen ist, dass es derzeit tatsäch-
        lich keine weiteren Anwendungsfälle für die vorgeschla-
        gene Änderung gibt.
        Im Saarland gibt es den einzigen Fall, in dem die vor-
        geschlagene Änderung des Therapieunterbringungsge-
        setzes, ThUG, virulent wurde. Dieser Einzelfall beruht
        auf dem Umstand, dass der Bundesgerichtshof, BGH, im
        Mai 2010 unmittelbar nach der Rechtskraft der Entschei-
        dung des Europäischen Gerichtshofs für Menschen-
        rechte, EGMR, vom Dezember 2009 eine Anordnung
        der nachträglichen Sicherungsverwahrung abgelehnt
        hatte. Kernpunkt der Entscheidung des EGMR war, dass
        rückwirkende gesetzliche Verschärfungen der Siche-
        rungsverwahrung nicht zulässig waren. Folglich könnte
        dies grundsätzlich zur Entlassung von Untergebrachten
        führen. Erst am 4. Mai 2011 hat das Bundesverfassungs-
        gericht in seinem Urteil schließlich entschieden, die An-
        ordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung mit
        entsprechenden Maßnahmen doch zuzulassen. Bis dahin
        war noch nicht abschließend geklärt, ob die Vorgaben
        der EMRK und der Rechtsprechung des EGMR den na-
        tionalen Gerichten von vorneherein jede rückwirkend
        verschärfende Rechtsanwendung im Recht der Siche-
        rungsverwahrung ausschlossen oder dies unter erhöhten
        Voraussetzungen noch möglich war.
        Vom Anwendungsbereich des Therapieunterbringungs-
        gesetzes sind daher ebenfalls solche in diesen Zeitraum
        fallende Fälle nicht erfasst, in denen gegen einen hoch-
        gradig gefährlichen Betroffenen zwar noch keine Siche-
        rungsverwahrung vollstreckt wurde, diese aber bereits in
        erster Instanz angeordnet und in der Revisionsinstanz we-
        gen der Entscheidung des Europäischen Gerichtshof für
        Menschenrechte, EGMR, aufgehoben wurde. Denn nach
        § 1 Abs. 1 ThUG kann die Therapieunterbringung nur ge-
        gen Betroffene angeordnet werden, die sich in Siche-
        rungsverwahrung befinden oder bereits befunden haben.
        Für diese sehr beschränkte Fallkonstellation soll im
        Wege einer Übergangsregelung der Anwendungsbereich
        des Therapieunterbringungsgesetzes insofern durch ei-
        nen neuen Abs. 4 in Art. 316 e des Einführungsgesetzes
        zum Strafgesetzbuch, EGStGB, erweitert werden.
        Halina Wawzyniak (DIE LINKE): Wir erleben ge-
        rade ein Kuriosum. Eine Rede zu Protokoll, ohne dass
        zum Zeitpunkt des Schreibens dieser Rede der zu bere-
        dende Gesetzentwurf überhaupt eine Drucksachennum-
        mer hat bzw. vorliegt. Was ist passiert? Der Bundesrat
        hat in der vergangenen Woche das Gesetz zur Regelung
        des Abstandsgebotes im Recht der Sicherungsverwah-
        rung beschlossen. Die Linke lehnt dieses Gesetz ab, hat
        aber erfreut zur Kenntnis genommen, dass CDU und
        SPD sich mit ihrer Forderung nach Einführung der nach-
        träglichen Therapieunterbringung nicht durchsetzen
        konnten.
        Dem Rechtsausschuss am Mittwoch dieser Woche lag
        nun ein Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen zum
        MicroBilG vor, mit welchem das Einführungsgesetz
        zum Strafgesetzbuch geändert werden sollte. In diesem
        Antrag – Ausschussdrucksache 17(6)219 – hieß es: „§ 1
        des Therapieunterbringungsgesetzes vom 22. Dezember
        2010 (BGBl. I S. 2300, 2305) ist unter den dortigen
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012 25963
        (A) (C)
        (D)(B)
        sonstigen Voraussetzungen auch dann anzuwenden,
        wenn der Betroffene noch nicht in Sicherungsverwah-
        rung untergebracht, gegen ihn aber bereits Sicherungs-
        verwahrung im ersten Rechtszug angeordnet war und
        aufgrund einer vor dem 4. Mai 2011 ergangenen Revi-
        sionsentscheidung festgestellt wurde, dass die Siche-
        rungsverwahrung ausschließlich deshalb nicht rechts-
        kräftig angeordnet werden konnte, weil ein zu
        berücksichtigendes Verbot rückwirkender Verschärfun-
        gen im Recht der Sicherungsverwahrung dem entgegen-
        stand, ohne dass es dabei auf den Grad der Gefährlich-
        keit des Betroffenen für die Allgemeinheit angekommen
        wäre.“
        Es wird sofort deutlich, dass diese Änderung nichts
        mit dem eigentlichen Gesetz, um das es im Ausschuss
        ging, zu tun hat. Die Linke hatte deshalb angekündigt,
        im Rechtsausschuss eine Abstimmung darüber herbeizu-
        führen, ob der nach § 62 Abs. 1 Satz 2 Geschäftsord-
        nung notwendige unmittelbare Sachzusammenhang ge-
        geben ist. Die Koalitionsfraktionen haben daraufhin
        diesen Änderungsantrag zurückgezogen. Das ist die ein-
        zig richtige Entscheidung gewesen, auch wenn so die
        Welt nie erfahren wird, worin der angeblich unmittelbare
        Zusammenhang zum MicroBilG besteht, und wir heute
        über einen Gesetzentwurf reden, der zum Zeitpunkt der
        Erstellung der Rede noch nicht vorliegt.
        Es steht zu vermuten, dass die noch unbekannte
        Drucksache, über die wir reden, dem Änderungsantrag
        im Rechtsausschuss entspricht. Mit der – zumindest im
        Rechtsausschuss vorgelegten – Änderung an § 1 Thera-
        pieunterbringungsgesetz wird der Anwendungsbereich
        des Therapieunterbringungsgesetzes erweitert und so die
        rückwirkende Verschärfung im Recht der Sicherungs-
        verwahrung perpetuiert. Mit diesem Gesetzentwurf soll
        ein Mensch, gegen den die Sicherungsverwahrung
        erstinstanzlich angeordnet wurde, bei dem die ent-
        sprechende Entscheidung aber nicht rechtskräftig gewor-
        den ist und der sich deshalb derzeit nicht in Sicherungs-
        verwahrung befindet, nunmehr nach dem
        Therapieunterbringungsgesetz in einer „geeigneten ge-
        schlossenen Einrichtung“ untergebracht werden.
        Dies lehnen wir als Umgehung des Urteils des Euro-
        päischen Gerichtshofs für Menschenrechte aus dem
        Dezember 2009 ab. Die richtige Konsequenz aus dem
        Urteil, die nachträgliche Sicherungsverwahrung, unab-
        hängig von einer neuen Betitelung als Therapieunter-
        bringung, für Alt- und Neufälle abzuschaffen, wird so
        umgangen. Wir halten das Therapieunterbringungs-
        gesetz außerdem für verfassungswidrig. Es versieht
        menschenrechtlich problematisch bisher nicht als psy-
        chisch krank befundene Menschen nun mit dem unbe-
        stimmten Begriff „psychisch gestört“, und zwar allein
        mit dem Ziel, sie weiterhin der Freiheit berauben zu kön-
        nen. Neben dieser unzulässigen Umetikettierung ergeben
        sich kompetenzrechtliche Bedenken. Diese Änderung
        wird von uns daher abgelehnt.
        Es kommt aber noch ein weiteres Problem hinzu. Im
        Rechtsausschuss wurde den Abgeordneten erklärt, dass
        die Regelung notwendig sei, weil im Bundesrat – ver-
        gleiche Protokoll der Bundesratssitzung vom 17. De-
        zember 2010, Seite 538 – eine Erklärung des Saarlandes
        zu Protokoll gegeben wurde. Darin heißt es: „… geht das
        Saarland bezüglich des Anwendungsbereiches des § 1
        des Gesetzes zur Therapierung und Unterbringung psy-
        chisch gestörter Gewalttäter davon aus, dass die Fälle
        noch fortdauernder oder bereits beendeter Freiheitsent-
        ziehung der verurteilten Personen in Vollzug eines
        Unterbringungsbefehls gemäß § 275 a der Strafprozess-
        ordnung vom Anwendungsbereich mit umfasst sind.“ Da
        dies – wie auch bereits der Bundesgerichtshof feststellte
        – nicht der Fall zu sein scheint, wurde wohl die vorlie-
        gende neue Regelung verfasst. Im Rechtsausschuss
        wurde ausdrücklich erwähnt, dass die angedachte Geset-
        zesänderung einen derzeit bekannten Fall betreffe.
        Mithin würde nach derzeitigem Kenntnisstand der
        Bundesregierung die Gesetzesänderung konkret bei ei-
        ner Person zur Anwendung kommen. Angesichts dessen
        liegt dieser Vorschlag trotz abstrakt-genereller Formulie-
        rung ziemlich nah an einem unzulässigen Einzelfall-
        gesetz.
        Die Linke hat bereits das Therapieunterbringungs-
        gesetz abgelehnt; einer Verschlechterung eines schlech-
        ten Gesetzes können wir unmöglich zustimmen. Das Ge-
        setzgebungsverfahren ist darüber hinaus intransparent,
        sodass auch aus demokratietheoretischen Gründen eine
        Zustimmung unmöglich ist.
        Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mit
        dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Änderung des
        Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch soll wieder
        einmal eine angebliche Lücke im Recht der Sicherungs-
        verwahrung geschlossen werden. Gleichzeitig erfüllt die
        Bundesregierung damit eine Zusage gegenüber dem
        Bundesrat. Der Wunsch der Länder Hamburg und
        Bayern, der Bundesrat möge in der Beratung über das
        Gesetz zur Reform der Ausgestaltung der Sicherungs-
        verwahrung den Vermittlungsausschuss anrufen, fand im
        Bundesrat keine Mehrheit – vielleicht auch, weil die
        Bundesregierung sich zu der Vorlage verpflichtete, über
        die wir heute zu diskutieren haben.
        Wir Grüne haben die Reform des Rechts der Siche-
        rungsverwahrung, obwohl die von uns eingebrachten ge-
        wichtigen Änderungsanträge von der Koalition leider
        abgelehnt worden sind, im Grundsatz befürwortet. Denn
        mit der Reform werden wichtige Urteile des Europäi-
        schen Gerichtshofs für Menschenrechte und des Bundes-
        verfassungsgerichts umgesetzt. So wird die nachträgli-
        che Sicherungsverwahrung – wenigstens für zukünftige
        Fälle – abgeschafft, und für den Vollzug gelten endlich
        die menschenrechtlich notwendigen Vorgaben. Auch wir
        wollen, dass die Gesetzgebung endlich zu einem
        Abschluss kommt und die Länder auf gesicherter Grund-
        lage an die Ausgestaltung des Vollzugs der Sicherungs-
        verwahrung gehen können. Aus diesem Grund stellen
        wir uns nicht gegen die Erfüllung des im Bundesrat ge-
        gebenen Versprechens durch die Bundesregierung.
        Andererseits sind wir in der Sache entschieden ande-
        rer Auffassung. Wir haben schon bei der Reform im
        Jahre 2010 dafür geworben, mit dem Grundsatz des
        Rückwirkungsverbots Ernst zu machen, und, aus der
        25964 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. November 2012
        (A) (C)
        (D)(B)
        Sicht der Betroffenen, Verschlechterungen der Rechts-
        lage nur und ausschließlich für die Zukunft wirken zu
        lassen. Das galt und gilt sowohl für den Wegfall der
        Zehnjahresfrist, für den Wegfall von Vergünstigungen
        für Verurteilte in der früheren DDR als auch für diejeni-
        gen, die von den Verschärfungen des Rechts der Siche-
        rungsverwahrung bei Begehung von Sexualdelikten be-
        troffen waren. Die gegenteilige Auffassung, die sich bis
        in die heutige Vorlage zur Änderung des Einführungs-
        gesetzes zum Strafgesetzbuch durchzieht, glaubt, jede
        auftauchende angebliche Schutzlücke durch Nachbesse-
        rungen und Sonderregelungen schließen zu müssen. Wer
        dieser Logik erliegt, für den gibt es auf der Rutschbahn
        vom Rechtsstaat zum präventiven Sicherheits- und
        Überwachungsstaat kein Halten. Das Recht der Siche-
        rungsverwahrung kodifiziert Grenzen, jenseits derer eine
        Sicherungsverwahrung nicht infrage kommt, egal wie
        gefährlich der jeweilige Rechtsbrecher auch sein mag.
        Ein Mindestmaß an Rechtsstaatlichkeit und Streben nach
        absoluter Sicherheit vertragen sich nicht. Die andau-
        ernde Ausweitung der Sicherungsverwahrung in den
        Jahren ab Anfang 1998, an der alle Regierungen beteiligt
        waren und die gerade in den Reihen der Union besonders
        laut und aggressiv gefordert wurde, hat dazu geführt,
        dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte
        Deutschland Nachhilfe in Rechtsstaatlichkeit und der
        Beachtung von Menschenrechten erteilen musste.
        Auch das ThUG, das Therapieunterbringungsgesetz,
        ist ein solcher Ausdruck fortwährenden Schutz-
        lückenschließens. Jeder noch so kleine Türspalt, den die
        Urteile des Bundesverfassungsgerichts öffnen, wird ge-
        nutzt, um die Sicherungsverwahrung auszuweiten. Das
        Gericht hat das ThUG bisher noch nicht an den Normen
        des Grundgesetzes geprüft – 2 BvR 2365/09, Anmer-
        kung 173! Wenn nicht das Bundesverfassungsgericht,
        dann wird der schon mehrfach erwähnte Europäische
        Gerichtshof für Menschenrechte dem ThUG vielleicht
        den Garaus machen. Die für das ThUG zentrale neue
        Begrifflichkeit einer psychischen Störung wird von den
        meisten psychiatrischen Praktikern wie Sachverständi-
        gen als eine völlig amorphe und untaugliche Kategorie
        menschlicher Persönlichkeitsstrukturen bezeichnet, die
        lediglich dazu dient, mit ihrer Hilfe zukünftig angeblich
        hochgefährliche Straftäter zu identifizieren. In einem
        Antrag der SPD hierzu wird mehr als 50 Prozent der
        heutigen Gefängnispopulation in Deutschland als „psy-
        chisch gestört“ bezeichnet.
        Das Bundesverfassungsgericht hat es zwar nicht für
        schlichtweg verfassungswidrig angesehen, mit dem Be-
        griff der „psychischen Störung“ im Rahmen von kurzen
        Übergangsregelungen zu arbeiten, aber muss der Gesetz-
        geber zu jedem Mittel greifen, das gerade so dem Ver-
        dikt der Verfassungswidrigkeit entkommen ist?
        Da wir Grünen schon seit Jahren die Abschaffung des
        ThUG fordern, können wir der jetzt vorgelegten weite-
        ren – wenn auch kleinen und in sich folgerichtigen –
        Ausweitung des ThUG nicht zustimmen. Weil wir aber
        der Gesamtreform des Rechts der Sicherungsverwah-
        rung nicht im Wege stehen wollen, werden wir uns in der
        Abstimmung enthalten.
        211. Sitzung
        Inhaltsverzeichnis
        ZP 2 Energiewirtschaftsrecht – Offshore-Stromerzeugung
        TOP 4, ZP 3 Asylbewerberleistungsrecht
        TOP 51, ZP 4 Überweisungen im vereinfachten Verfahren
        TOP 52, ZP 5 Abschließende Beratungen ohne Aussprache
        TOP 5 Wahl zum Beirat der Stiftung Datenschutz
        ZP 6 Aktuelle Stunde zu Gutscheinen für Haushaltshilfen
        TOP 3 Raumentwicklungspolitik
        TOP 7 Wasser- und Schifffahrtsverwaltung
        TOP 6 Patientenrechte
        TOP 9, ZP 7 Verteilung der Kosten der Energiewende
        TOP 8 Umsetzung EuGH-Urteil -freier Kapitalverkehr-
        TOP 11 UN-Klimakonferenz in Doha
        TOP 10 Bundeswehreinsatz (Operation Active Endeavour)
        TOP 13, ZP 8 Weltgesundheitspolitik
        TOP 12 Reduzierung von Schienenverkehrslärm
        TOP 24 Kapitalgesellschaften mit kommunaler Beteiligung
        TOP 14 EU-Charta der Regional- und Minderheitensprachen
        TOP 17 Umsetzung der Energiewende im Gebäudebestand
        TOP 16 Statut des Internationalen Strafgerichtshofes
        TOP 18 Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens
        TOP 20 Deutschland im UN-Sicherheitsrat
        TOP 19 Urheberrecht (Presseerzeugnisse im Internet)
        TOP 22 Forschung zum Thema Rechtsextremismus
        TOP 21 Fortentwicklung des Städtebaurechts
        TOP 32 Kennzeichnungspflicht für Bundespolizei
        ZP 9 Therapieunterbringung
        TOP 26 Steuertransparenz bei multinationalen Unternehmen
        TOP 25 Agrarmarktrechtliche Bestimmungen
        TOP 28 Leid der „Trostfrauen“
        TOP 29 Urheberrecht (Nutzung für Unterrichtszwecke)
        TOP 30 Schiffsunfallvorsorge am Fehmarnbelt
        TOP 31 Kleinstkapitalgesellschaften-Bilanzrecht
        TOP 41 Bedingungen für Promovierende
        TOP 33 Kindertagesbetreuung
        TOP 34 Freiwilligendienst „Weltwärts“
        TOP 35 Ökologische Baustoffe
        TOP 36 Schutz der Afrikanischen Elefanten
        TOP 37 Arbeitsbedingungen von Hausangestellten
        TOP 38 Barrierefreies Filmangebot
        TOP 39 Taubblindheit
        TOP 40 Gewerbsmäßige Förderung der Selbsttötung
        TOP 44 Sportförderung
        TOP 43 Israelisch-palästinensischer Konflikt
        Anlagen