1) Anlage 13
        Berichtigung
        203. Sitzung, Seite 24633 C, erster Absatz, erster Satz
        ist wie folgt zu lesen: „Ich habe Ihnen den Vorgang ein-
        gangs bestätigt und mache das noch einmal.“
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012 24929
        (A) (C)
        (D)(B)
        Anlagen zum Stenografischen Bericht
        Anlage 1
        Liste der entschuldigten Abgeordneten
        Anlage 2
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
        Einrichtung einer Markttransparenzstelle für
        den Großhandel mit Strom und Gas (Tagesord-
        nungspunkt 7)
        Thomas Bareiß (CDU/CSU): Das Markttranspa-
        renzstellengesetz ist ein weiterer wichtiger Schritt hin zu
        mehr Transparenz auf den Energiemärkten. Die von uns
        eingeführte Marktbeobachtung auf den Kraftstoffmärk-
        ten und beim Handel mit Strom und Gas verhindert nicht
        nur Marktmissbrauch, sondern kommt vor allem dem
        Verbraucher zugute. Denn mehr Wettbewerb ist zwar
        kein Garant für sinkende Preise, aber der beste Garant
        dafür, dass Verbraucher nicht abgezockt werden. Des-
        halb war es auch richtig, sich etwas mehr Zeit zu lassen
        als vorgesehen. In den knapp zwei Jahren wurde die
        Aufgabe der Markttransparenzstelle nicht nur um den
        Kraftstoffmarkt erweitert, sie wurde auch in einen euro-
        päischen Kontext gesetzt, sodass Ineffizienzen und Dop-
        pelstrukturen vermieden werden konnten.
        Jeder Autofahrer kennt den Ärger: Immer ist dieje-
        nige Tankstelle günstiger, wo man selber gerade nicht
        getankt hat. Preisinformationen lassen sich nur schwer-
        lich besorgen und sind oft nicht aktuell und somit unzu-
        verlässig. Diese Preisunterschiede sind in einem freien
        Markt natürlich. Sie wird es auch weiterhin geben. Denn
        wir setzen auf Wettbewerb und nicht auf Preisfestlegungen
        und Preisregulierung, wie in Frankreich oder Westaustra-
        lien. Wir sind der Überzeugung, dass mehr Transparenz
        der Schlüssel zu mehr Wettbewerb auf dem Kraftstoff-
        markt ist. Deshalb soll zukünftig jeder Autofahrer wissen,
        wo in seiner Umgebung die günstigste Tankstelle ist.
        Alle rund 15 000 Tankstellen in Deutschland werden
        verpflichtet, ihre Kraftstoffpreise an die Markttranspa-
        renzstelle zu liefern. Diese Daten werden dann in einer
        Internetdatenbank gesammelt und dem Verbraucher über
        Dritte zur Verfügung gestellt. Damit wird nicht nur der
        Wettbewerb im Kraftstoffmarkt erhöht, sondern auch ein
        Innovationswettbewerb zwischen denjenigen ausgelöst,
        die die Daten aus der Datenbank verarbeiten. Ich bin da-
        von überzeugt, dass es bald Navigationssysteme mit ak-
        tuellen Spritpreisen oder Apps etc. gibt.
        Abgeordnete(r)
        entschuldigt bis
        einschließlich
        Becker, Dirk SPD 08.11.2012
        Bellmann, Veronika CDU/CSU 08.11.2012
        Bülow, Marco SPD 08.11.2012
        Burgbacher, Ernst FDP 08.11.2012
        Dağdelen, Sevim DIE LINKE 08.11.2012
        Dittrich, Heidrun DIE LINKE 08.11.2012
        Dörflinger, Thomas CDU/CSU 08.11.2012
        Funk, Alexander CDU/CSU 08.11.2012
        Granold, Ute CDU/CSU 08.11.2012
        Griese, Kerstin SPD 08.11.2012
        Dr. Gysi, Gregor DIE LINKE 08.11.2012
        Dr. Jochimsen, Lukrezia DIE LINKE 08.11.2012
        Kampeter, Steffen CDU/CSU 08.11.2012
        Koschyk, Hartmut CDU/CSU 08.11.2012
        Kuhn, Fritz BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        08.11.2012
        Laurischk, Sibylle FDP 08.11.2012
        Dr. Lauterbach, Karl SPD 08.11.2012
        Leidig, Sabine DIE LINKE 08.11.2012
        Nietan, Dietmar SPD 08.11.2012
        Nink, Manfred SPD 08.11.2012
        Pawelski, Rita CDU/CSU 08.11.2012
        Rachel, Thomas CDU/CSU 08.11.2012
        Dr. Ratjen-Damerau,
        Christiane
        FDP 08.11.2012
        Sager, Krista BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        08.11.2012
        Schmidt (Eisleben),
        Silvia
        SPD 08.11.2012
        Schulz, Jimmy FDP 08.11.2012
        Strothmann, Lena CDU/CSU 08.11.2012
        Dr. Westerwelle, Guido FDP 08.11.2012
        Abgeordnete(r)
        entschuldigt bis
        einschließlich
        Anlagen
        24930 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012
        (A) (C)
        (D)(B)
        Der Preisdschungel Tankstelle wird künftig durch-
        schaubar. Jeder Autofahrer wird die Benzinpreise in
        seiner Umgebung kennen und automatisch die billigste
        Tankstelle anfahren, was wiederum die Konkurrenz dazu
        animiert, ihre Preise auch anzupassen. Ich bin überzeugt,
        dass wir damit den richtigen Weg einschlagen.
        Auch im Gas- und Stromsektor sind mehr Transpa-
        renz und damit mehr Markt und Wettbewerb unser Ziel.
        Es darf keine unberechtigte Zurückhaltung von Kraft-
        werkskapazität geben, um Preise nach oben zu treiben.
        Mit einer zentralen und kontinuierlichen Marktbeobach-
        tung wollen wir dieses Problem effektiv beseitigen und
        das Vertrauen in Markt und Wettbewerb zum Wohle der
        Verbraucher stärken. Deshalb haben wir die Überprü-
        fung der Preisbildung auf den Großhandelsmärkten für
        Strom und Gas durch die Markttransparenzstelle schon
        2010 als eine Sofortmaßnahme aus dem Energiekonzept
        auf den Weg gebracht.
        Verzögert wurde die Umsetzung dann durch die Ende
        2011 in Kraft getretene europäische Verordnung über die
        Integrität und Transparenz des Energiegroßhandels-
        markts – REMIT –, die ähnliche, aber nicht identische
        Verbote wie das Kartellrecht enthält. So werden unter an-
        derem Insiderhandel und Marktmanipulation verboten.
        Mitgliedstaaten werden dazu verpflichtet, die Sanktio-
        nen für Verstöße gegen die Verordnung festzulegen. Sie
        müssen ihre nationale Regulierungsbehörde mit den
        nach REMIT passenden Befugnissen ausstatten. Es wird
        dabei ausdrücklich zur Unterstützung der europäischen
        Regulierungsbehörde ACER eine regionale Marktüber-
        wachung in den Mitgliedstaaten vorgesehen.
        Eine weitere wichtige Funktion hat die Markttranspa-
        renzstelle im Zusammenhang mit dem Monitoring zur
        Energiewende. Sie wird Daten erheben, um insbeson-
        dere Versorgungssicherheit zu garantieren. Dieses Vor-
        haben kann im Rahmen einer Verordnung bei Bedarf zu-
        sätzlich erhoben werden.
        Ich möchte gerne auf die drei Hauptkritikpunkte im
        Rahmen der Gesetzesnovelle eingehen.
        Zum einen wurde bemängelt, dass das Gesetz zu Dop-
        pelmeldungen und somit zu kostenintensivem und büro-
        kratischem Mehraufwand der Unternehmen führt. Wir
        haben uns dieses Anliegens angenommen und Doppel-
        meldepflichten gegenüber der Markttransparenzstelle
        und dem europäischen Regulierer ACER verhindert. Im
        Hinblick auf die noch zu konkretisierenden Meldepflich-
        ten nach der REMIT-Verordnung sieht der Gesetzent-
        wurf ausdrücklich vor, dass Marktteilnehmer, die ihren
        Meldepflichten nach der REMIT-Verordnung nachge-
        kommen sind, keine Meldepflichten nach dem Markt-
        transparenzstellengesetz haben. Die Markttransparenz-
        stelle wird also diese Daten von ACER erhalten und
        nicht zusätzlich erheben.
        Der zweite häufig genannte Kritikpunkt ist, dass zu
        viele Daten erhoben werden. Im Markttransparenzstel-
        lengesetz haben wir in der Tat die Möglichkeit zu einer
        weiteren Erhebung von Daten vorgesehen, die nach
        REMIT möglicherweise nicht abgefragt werden und
        zum Gelingen der Energiewende gebraucht werden.
        Doch diese Abfragen werden noch durch eine Rechts-
        verordnung konkretisiert. Soweit national zusätzliche
        Daten abgefragt werden müssen, sollen insbesondere die
        Formatwege für die Daten einheitlich gehalten werden.
        Auch eine zeitliche Konsistenz der Vorschriften ist ge-
        setzlich vorgesehen.
        Die Höhe der Abfrageschwelle von 10 Megawatt ist
        der dritte Kritikpunkt. Hier hätte ich mir persönlich auch
        durchaus eine Schwelle von 50 oder 100 Megawatt vor-
        stellen können. Ich finde es deshalb richtig, dass wir die
        Sinnhaftigkeit dieser von der Bundesnetzagentur ge-
        wünschten Schwelle prüfen werden und deshalb aus-
        drücklich eine Evaluierung nach drei Jahren im Gesetz
        vorgesehen haben.
        Auch die Markttransparenzstelle zeigt deutlich: Für
        uns ist Markt und Wettbewerb auch in Zukunft ein we-
        sentlicher Bestandteil der Energiewende. Trotzdem be-
        darf es auch in einer Marktwirtschaft einer gewissen
        Kontrolle marktmächtiger Marktteilnehmer. Dazu wird
        die Martktransparenzstelle einen entscheidenden Beitrag
        leisten.
        Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Wenn wir heute ein
        neues Gesetz zur Einrichtung einer Markttransparenz-
        stelle für den Großhandel mit Strom und Gas – ergänzen
        müssen wir eigentlich „und Mineralöl“ – debattieren und
        beschließen, sollten wir meines Achtens erst einmal
        darüber reden, für welchen Markt wir eigentlich Trans-
        parenz schaffen wollen.
        Betrachten wir zunächst mal den Strommarkt. 2011
        hatten wir in Deutschland eine Bruttostromerzeugung
        von 615 Terawattstunden Strom; das sind 615 Milliarden
        Kilowattstunden. Man kann davon ausgehen, dass die
        vier großen Stromanbieter EnBW, Eon, RWE und Vat-
        tenfall davon einen Anteil von zusammen rund 80 Pro-
        zent auf dem Erstabsatzmarkt hatten. So geht es aus der
        Sektoruntersuchung „Stromerzeugung Stromgroßhan-
        del“ hervor, die das Bundeskartellamt im Januar 2011
        vorgelegt hatte. Nach dieser Untersuchung hatte im
        Jahre 2009 EnBW eine Gesamteinspeisung von 14 Pro-
        zent, Eon von 21 Prozent, RWE von 31 Prozent und Vat-
        tenfall von 16 Prozent. Macht zusammen 82 Prozent.
        Auch wenn für das vergangene Jahr keine vergleichba-
        ren Zahlen vorliegen, kann man von etwa 80 Prozent
        ausgehen, wenn man berücksichtigt, dass – durch die als
        Folge der Energiewende eintretende Diversifizierung –
        kleinere Anbieter, aber vermehrt auch Stadtwerke 2011
        einen etwas höheren Anteil einnahmen als noch 2009.
        Ich sage das hier auch mit Blick auf die Energiewende
        und den viel zitierten Markt.
        Auf dem Mineralölmarkt sieht es ähnlich aus: Die
        vom Bundeskartellamt in seiner Sektoruntersuchung
        vom Mai 2011 als Oligopol festgestellten fünf großen
        Mineralölkonzerne Aral, Shell, Jet, Total und Esso stel-
        len von den insgesamt 14 336 Tankstellen in Deutsch-
        land zusammen 7 286 Tankstellen – Stand: 1. Juli 2012 –,
        also etwa die Hälfte. Zusammen kommen die großen
        Fünf auf einen Kraftstoffabsatzmarktanteil von 69 Pro-
        zent am deutschen Markt, davon 22,5 Prozent Aral,
        21 Prozent Shell, 10,5 Prozent Jet, 7,5 Prozent Esso und
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012 24931
        (A) (C)
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        ebenfalls 7,5 Prozent Total. Die im Bundesverband
        Freier Tankstellen organisierten Unternehmen kommen
        mit ihren 2 206 freien Tankstellen in Deutschland auf ei-
        nen Absatzmarktanteil von 13 Prozent, die übrigen mit-
        telständisch geprägten Mineralölunternehmen haben mit
        Stand 1. Juli 2012 18 Prozent Absatzmarktanteil.
        Ob diese Struktur im Sinne von Wettbewerb und ver-
        tretbarer Preise zufriedenstellend ist, kann man zumin-
        dest diskutieren. Strom, Gas und Benzin sind nun einmal
        unverzichtbare Güter, auf die jeder von uns angewiesen
        ist, weswegen jeder auch den Preis zahlt, der nun einmal
        verlangt wird – auch unter Murren. In der Wirtschafts-
        theorie spricht man da von einer niedrigen Preiselastizi-
        tät der Nachfrage. Die Strom-, Gas- und Mineralölunter-
        nehmen haben gegenüber den Konsumenten eine
        erhebliche Angebotsmacht, die sie theoretisch auch aus-
        nutzen könnten. Spätestens kurz vor Weihnachten bzw.
        dann zu Ostern wird die Debatte um die Spritpreise wie-
        der einmal heißlaufen.
        Welche Möglichkeiten aber hat der Gesetzgeber, um
        Missbrauch bei der Preisentwicklung auf diesen Märkten
        entgegenzuwirken? Da schreien die Populisten von links
        gerne einmal sofort nach direkter oder indirekter Preisre-
        gulierung. Als überzeugte Vertreter der sozialen Markt-
        wirtschaft, die unserem Land erst dieses Wohlstandsni-
        veau gebracht hat, das wir heute gar nicht mehr anders
        kennen, lehnen wir solche sozialistischen Spielchen klar
        ab. Also müssen wir versuchen, mit den uns im Rahmen
        der Marktwirtschaft zur Verfügung stehenden kartell-
        rechtlichen Instrumenten Transparenz herzustellen,
        eventuellen Missbrauch aufzudecken und Vergehen ent-
        sprechend zu sanktionieren. Natürlich muss auch die
        Marktwirtschaft ihre Regeln und ihren Ordnungsrahmen
        haben; sonst kann das auch schnell einmal aus dem
        Ruder laufen, wie der Finanzsektor in den letzten Jahren
        gezeigt hat.
        Da haben wir im Bereich Mineralöl in der jüngst be-
        schlossenen GWB-Novelle schon ein nicht unerhebli-
        ches Schlupfloch geschlossen, indem wir das Verbot der
        sogenannten Preis-Kosten-Schere um weitere fünf Jahre
        verlängert haben. Damit verhindern wir, dass große
        Mineralölkonzerne mit eigenen Raffinerien ihren klei-
        nen und mittelständischen Wettbewerbern Kraftstoffe zu
        einem höheren Preis liefern als zu dem Preis, den sie von
        ihren eigenen Tankstellen verlangen.
        Die Markttransparenzstelle für den Großhandel mit
        Strom und Gas ist als Maßnahme im Zehn-Punkte-
        Sofortprogramm des Energiekonzepts der Bundesregie-
        rung und schon in unserem Koalitionsvertrag vorgese-
        hen. Sie wird laufend und zeitnah die Strom- und
        Gasmärkte auf Auffälligkeiten untersuchen. Die Markt-
        transparenzstelle für Strom und Gas werden wir – statt
        wie ursprünglich vorgesehen beim Bundeskartellamt –
        nun bei der fachlich dafür geeigneteren Bundesnetzagen-
        tur ansiedeln. Damit wird ermöglicht, verbotene Ein-
        flussnahme auf die Großhandelspreise für Strom und
        Gas aufzudecken und zu sanktionieren. Denn wettbe-
        werbskonforme Großhandelspreise setzen die richtigen
        Investitionssignale und sorgen für das nötige Vertrauen
        der Strom- und Gaskunden. Sie kommen letztlich allen
        Verbrauchern zugute.
        Die organisatorische Neuzuordnung der Markttrans-
        parenzstelle im Energiebereich an die Bundesnetzagen-
        tur ist meines Erachtens – anders als SPD und Grüne es
        sehen – sachgerecht und entspricht auch dem Wunsch
        beider Behörden. Dadurch ist vor allem besser gewähr-
        leistet, dass die erforderlichen Daten nur einmal erhoben
        werden. Von Rot-Grün befürchtete Doppelstrukturen,
        also die künftige verpflichtende Meldung von Daten an
        die EU-Energietransparenzbehörde ACER gemäß der
        europäischen REMIT-Verordnung einmal und an die na-
        tionale Markttransparenzstelle außerdem, werden so ver-
        mieden, da die Bundesnetzagentur als Energieregulie-
        rungsbehörde bei ACER mitarbeitet und weiß, welche
        Daten schon an ACER gemeldet wurden. Wir haben also
        durchaus daran gedacht, Doppelmeldungen und unnöti-
        gen Mehraufwand für die Wirtschaft zu vermeiden.
        Die im Gesetz vorgesehenen Schwellenwerte für Mit-
        teilungspflichten im Strombereich bei Erzeugungskapa-
        zitäten von 10 Megawatt in § 47 g Abs. 2 GWB haben
        wir zunächst auf drei Jahre befristet. Zweieinhalb Jahre
        nach Inkrafttreten des Gesetzes soll die Bundesregierung
        einen Vorschlag machen, welche Schwelle bei den Er-
        zeugungskapazitäten ab 2016 gelten sollte. Das haben
        CDU/CSU und FDP bewusst in die Beschlussempfeh-
        lung des Wirtschaftsausschusses geschrieben.
        Die SPD-Forderung, dass „nur solche Strukturen be-
        obachtet werden sollten, die reale Einflussmöglichkeiten
        auf die Preisbildung auf den Großmärkten haben“, und
        zwar „Stromerzeugungsanlagen ab einer Größe von
        50 MW“ geht an der Sache vorbei. In der Summe haben
        die kleineren Anlagen eine nicht zu unterschätzende Be-
        deutung am Energiemarkt. Es soll ja auch um einen Ge-
        samtüberblick über die Entwicklung der Energiewende
        in Deutschland gehen. Dazu braucht man auch die Daten
        der kleineren Anlagen, die bei der weiteren Entwicklung
        unseres Jahrhundertprojekts Energiewende eine immer
        größere Gewichtung bekommen werden und kein Pap-
        penstiel sind, wie die Sozialdemokraten das sehen.
        Die beim Bundeskartellamt angesiedelte Markttrans-
        parenzstelle für die Entwicklung der Mineralölpreise ist
        ein echter, sichtbarer Fortschritt für die 54 Millionen
        Autofahrer in Deutschland. Den Gesetzentwurf der Bun-
        desregierung haben wir deutlich verbessert, indem die
        Verbraucher nun unmittelbar Transparenz über die ak-
        tuellen Spritpreise bekommen.
        Die Markttransparenzstelle für Kraftstoffe wird zum
        einen laufend und zeitnah die Tankstellenpreise auf Auf-
        fälligkeiten untersuchen. Dadurch können die Kartell-
        behörden unzulässige Verdrängungsstrategien, zum Bei-
        spiel Preis-Kosten-Scheren, oder missbräuchlich erhöhte
        Preise der großen Mineralölkonzerne leichter aufdecken
        und verfolgen. Uns geht es dabei immer darum, den
        Wettbewerb auf den Kraftstoffmärkten zu stärken und
        die Position der mittelständischen und freien Tankstellen
        zu schützen.
        Um die Unternehmen aber nicht übermäßig zu belas-
        ten, haben wir im Rahmen der parlamentarischen Bera-
        24932 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012
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        tungen die Meldepflichten gegenüber dem Regierungs-
        entwurf deutlich verschlankt. Zum einen verzichten wir
        auf Meldungen der Tankstellenbetreiber zu den abgege-
        benen Mengen. Zum anderen verzichten wir auf sämtli-
        che Meldepflichten der Raffinerie- und Großhandels-
        ebene, also zu Preisen und Absatzmengen. Hier sind wir
        den betroffenen Unternehmen ein ganzes Stück weit ent-
        gegengekommen. Nachvollziehbarerweise gab es in
        Reaktion auf den Gesetzentwurf der Bundesregierung
        massive Kritik der Branche und des Normenkontrollra-
        tes wegen des Erfüllungsaufwands für die Wirtschaft.
        Der Aufwand für diese Meldungen wäre in Relation zum
        Nutzen unverhältnismäßig hoch.
        Viel sinnvoller ist es, echte Transparenz auch für die
        Autofahrer zu schaffen. Deshalb sorgen wir dafür, dass
        die aktuellen Tankstellenpreise künftig lückenlos in
        Echtzeit veröffentlicht werden. Damit haben es die Au-
        tofahrer künftig leichter, die günstigste Tankstelle anzu-
        steuern. Gleichzeitig erhöhen wir dadurch den Preis-
        druck auf die großen Mineralölkonzerne. Dafür müssen
        die Tankstellen jetzt ihre Preise bzw. Preisänderungen in
        Echtzeit an die Markttransparenzstelle melden und nicht
        nur einmal wöchentlich en bloc, wie noch im ursprüngli-
        chen Gesetzentwurf geplant. Die Markttransparenzstelle
        stellt diese Daten dann sofort privaten Onlineportalen
        zur Verfügung. So können die Autofahrer alle Benzin-
        preise an allen Tankstellen bundesweit online und in
        Echtzeit abrufen, sei es am PC, über eine Smartphone-
        App oder über das Navigationssystem im Auto. Das
        schafft echte Vergleichsmöglichkeiten und erhöht den
        Preisdruck auf die Anbieter. Das ist echter Wettbewerb.
        Bewusst möchten wir keine staatliche Informations-
        stelle einrichten und in Konkurrenz zu bestehenden Ver-
        braucherinformationsportalen treten lassen. Damit wür-
        den wir Geschäftsmodelle auf privater Basis gefährden
        oder gar zerstören, die sich bereits mit Erfolg am Markt
        etabliert haben. Ich bin mir sicher, dass sich auf dem
        Markt ein vielfältiges Informationsangebot entwickeln
        wird.
        Die Details der Datenmeldung an die Markttranspa-
        renzstelle sowie zur Form der Datenweitergabe werden
        in einer Rechtsverordnung des Bundeswirtschaftsminis-
        teriums festgelegt. Für diese Rechtsverordnung haben
        wir uns für das Parlament ein Zustimmungsrecht er-
        wirkt. Ich möchte an die Bundesregierung appellieren,
        dass sowohl die Verordnung als auch die technische Um-
        setzung rasch erfolgen, um der leidlichen Spritpreis-
        debatte noch vor Ostern zuvorzukommen.
        Weil wir die kleinen und freien Tankstellen schützen
        wollen, die kein automatisiertes System für eine Daten-
        meldung in Echtzeit haben, die ihre aktuellen Preistafeln
        immer noch mit der Leiter und händisch abändern müs-
        sen und die für eine neue elektronische Anlage etwa
        20 000 Euro investieren müssten, haben wir in § 47 k
        Abs. 6 Satz 2 GWB eine Bagatellregelung eingebaut,
        nach der die Markttransparenzstelle solche Tankstellen
        von der Meldepflicht ausnehmen kann.
        Um die Auswirkungen des Gesetzes auf das Markt-
        geschehen, auf die Unternehmen und die Verbraucher
        bewerten zu können, haben wir schließlich festgelegt,
        dass die Bundesregierung gegenüber dem Bundestag
        und dem Bundesrat einen Bericht vorlegt – bei Strom
        und Gas fünf Jahre nach Inkrafttreten der Berichtspflich-
        ten, im Kraftstoffbereich drei Jahre nach Inkrafttreten.
        Hier „soll insbesondere auf die Preisentwicklung und die
        Situation der mittelständischen Mineralölwirtschaft“
        eingegangen werden, wie wir das festgelegt haben. Eine
        Evaluierung der Markttransparenzstelle dauerhaft alle
        drei Jahre, wie von der SPD gefordert, halte ich für über-
        flüssig.
        Ich denke, dass wir mit diesem Gesetz in der Lage
        sind, das Geschehen auf diesen sensiblen Märkten nicht
        nur mit dem Fernglas, sondern mit der Lupe zu beobach-
        ten und da einzuschreiten, wo die Regeln für den Markt,
        die es zweifelsohne geben muss, bewusst nicht eingehal-
        ten werden.
        Rita Schwarzelühr-Sutter (SPD): Markttranspa-
        renz – das klingt gut. Landauf, landab ist Transparenz in
        aller Munde. Die Bundesregierung versucht den Koali-
        tionsvertrag umzusetzen und hat einen Gesetzentwurf
        vorgelegt, um den Markt für den Handel mit Strom und
        Gas transparenter zu gestalten. – So weit so gut.
        Vertrauen im Markt ist notwendig. Wir begrüßen des-
        halb den Gesetzesvorschlag insoweit, dass Markttrans-
        parenzstellen eingerichtet werden. Ja, es ist jetzt nicht
        mehr eine beim Bundeskartellamt, sondern es sind jetzt
        gleich zwei: die für den Kraftstoffmarkt beim Bundes-
        kartellamt und die für Strom und Gas bei der Bundes-
        netzagentur.
        Wir hätten es für sinnvoller und effizienter gehalten,
        die MTS in das Bundeskartellamt zu integrieren und
        nicht „beim“ Kartellamt bzw. jetzt auch noch bei der
        Bundesnetzagentur anzusiedeln. Das hätte das Personal-
        problem gelöst und gleichzeitig dafür gesorgt, dass das
        Kartellamt direkt hätte tätig werden können. Das heißt,
        bei Verdacht auf Preismanipulation hätte unverzüglich
        ein Untersuchungsverfahren eingeleitet werden können.
        Kommen wir nun von der Organisation zur Funktion
        der Markttransparenzstellen: Es braucht Transparenz
        über Preisfindungsprozesse, damit Manipulationen und
        Marktmissbrauch verhindert werden. Denn 80 Prozent
        des Strommarktes werden von vier Unternehmen be-
        herrscht. Der Verdacht von Manipulationen im Markt
        konnte bislang nie vollständig ausgeräumt werden. Auf
        dem Kraftstoffmarkt sieht es auch nicht viel anders aus,
        dort gibt es ebenso nur wenige Anbieter. Wir haben dort
        auch eine oligopolistische Struktur.
        Aber was soll denn hier für wen transparent gemacht
        werden? Wird der Verbraucher von der Markttranspa-
        renzstelle profitieren? Oder zahlt er am Ende wieder die
        Zeche?
        Künftig werden Spritpreis-Vergleichsportale im Inter-
        net, Apps für Smartphones oder auch Navigationsgeräte
        in Autos auf die Daten zugreifen können. Die Preisdaten
        kommen damit nicht direkt vom Bundeskartellamt zu
        den Verbrauchern, sondern indirekt über private Ver-
        braucherinformationsdienste, die diese Preisvergleichs-
        seiten oder Apps betreiben. Jeder Tankkunde kann sich
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012 24933
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        also informieren, welche Zapfsäule in seiner Nähe die
        günstigste ist. – Okay. Ob damit Preismanipulationen
        verhindert werden können bezweifle ich.
        Schlussendlich konnten sich die Ölkonzerne bei der
        Bundesregierung durchsetzen, und so müssen nun aus-
        schließlich Tankstellenpreise und nicht ebenfalls Groß-
        handelspreise an Raffinerien oder Tankanlagen gemeldet
        werden. Glaubt denn diese Bundesregierung wirklich,
        dass die großen Ölkonzerne auf einmal ein Herz für Ver-
        braucher gefunden haben. Der Unterschied zu früher ist
        nur, dass der Verbraucher in Zukunft auf einen Blick
        sieht, dass alle Tankstellen vor Ostern, den Sommerfe-
        rien usw. die Preise anziehen und er wieder den teuren
        Kraftstoff bezahlen muss.
        Ganz anders ist das bei Strom und Gas. Hier soll nur
        auf der Stufe des Großhandels die Preisbildung über-
        wacht werden. Richtig. Aber warum vollzieht die Bun-
        desregierung nicht die Einrichtung einer Markttranspa-
        renzstelle im Einklang mit der Europäischen Verordnung
        über die Integrität und Transparenz des Energiegroßhan-
        delsmarkts, REMIT?
        Wird mit dem Gesetz der Bundesregierung ein
        Schwarzes Loch entstehen, in dem Daten verschwinden
        und nie wiedergesehen werden, außer von Behördenmit-
        arbeitern? In diesem Zusammenhang muss auch die
        Frage gestellt werden, ob die Behörden genügend Perso-
        nal haben, um der zukünftigen Aufgabe nachzukommen.
        Ich befürchte einen erheblichen Bürokratieaufwuchs.
        Das sieht übrigens der viel geschätzte Normenkontrollrat
        ebenso. Er hat sich ebenfalls dafür ausgesprochen, die
        EU-Durchführungsakte abzuwarten.
        Ich frage mich, was die Eile jetzt soll. Wenn man das
        Gesetz gut macht, könnte Doppelaufwand vermieden
        werden. Die angestrebte Einrichtung einer Markttrans-
        parenzstelle in Deutschland muss im Einklang mit der
        Umsetzung der REMIT-Verordnung vollzogen werden.
        Das heißt, dass die jeweiligen Meldepflichten und -wege
        sowie die zu nutzenden Datenformate der Unternehmen
        aufeinander abzustimmen sind. Nur so lässt sich der
        Aufbau aufwändiger und kostenintensiver Doppelstruk-
        turen verhindern. Ein Erfüllungsaufwand, Personal, In-
        formationstechnologie, der über den durch REMIT ver-
        ursachten hinausgeht, hätte unbedingt vermieden werden
        sollen.
        Dann setzt die Bundesregierung noch eins drauf und
        bezieht kleine Erzeugungseinheiten ab 10 Megawatt ein.
        Zum Vergleich: REMIT bezieht erst ab 100 Megawatt
        ein. Wir fordern pragmatisch, Erzeugereinheiten erst ab
        50 Megawatt mit einzubeziehen. Aber die Bundesregie-
        rung setzt auf noch mehr Bürokratie für kleine und mitt-
        lere Unternehmen und somit auch auf höhere Kosten.
        Was glaubt die Bundesregierung, wer am Ende die
        zusätzlichen Kosten für diesen Bürokratieaufwand
        trägt. – Klar, natürlich wird das umgelegt und schlägt
        sich in den Preisen nieder, und somit zahlt am Ende des
        Tages wieder der Verbraucher die Zeche.
        Gut gedacht – ist noch lange nicht gut gemacht.
        Dr. Erik Schweickert (FDP): Heue stärken wir den
        Wettbewerb im Energiebereich. Mit der Einrichtung der
        Markttransparenzstelle für den Großhandel mit Strom
        und Gas werden Bundeskartellamt und Bundesnetzagen-
        tur zukünftig die Preisentwicklung im Energiegroß-
        handel rund um die Uhr genau beobachten. Sollte es zu
        verbotenen Beeinflussungen kommen, können diese zu-
        künftig noch effektiver sanktioniert werden.
        Mit dem neuen Gesetz geben wir den Wettbewerbs-
        behörden Instrumente in die Hand, um gegen kartellwid-
        riges und manipulatives Verhalten konsequenter vorge-
        hen zu können. Wir haben auch dafür gesorgt, dass die
        Unternehmen nicht durch zu viel Bürokratie belastet
        werden. Eine doppelte Datenerhebung wird es nicht ge-
        ben, da nach § 47 e Abs. 4 des Markttransparenzstellen-
        gesetzes die jeweiligen Mitteilungspflichten als erfüllt
        gelten, wenn den Meldepflichten nach REMIT nachge-
        kommen wurde.
        Gerade durch die organisatorische Ansiedlung der
        Markttransparenzstelle bei der Bundesnetzagentur wird
        sichergestellt, dass durch die Beteiligung der Bundes-
        netzagentur an dem REMIT-Umsetzungsprozess und die
        Mitarbeit in der Agentur für die Zusammenarbeit der
        Energieregulierungsbehörden, ACER, auf europäischer
        Ebene eine enge Abstimmung der Datenerhebungen der
        Markttransparenzstelle mit ACER gewährleistet werden
        kann. So können Doppelmeldungen von Daten auf natio-
        naler und europäischer Ebene vermieden werden. Mit
        der Markttransparenzstelle schaffen wir nicht nur mehr
        Transparenz bei Strom und Gas. Die Markttransparenz-
        stelle wird auch den Benzinmarkt revolutionieren.
        Um dem Entschließungsantrag der SPD gleich den
        Wind aus den Segeln zu nehmen: Wir entlassen das Bun-
        deskartellamt ausdrücklich nicht aus seiner Verantwor-
        tung, gegen kartellrechtliche Verstöße vorzugehen.
        Selbstverständlich wird der Missbrauch einer marktbe-
        herrschenden Stellung Konsequenzen nach sich ziehen.
        Gerade deshalb haben wir mit der Novellierung des Ge-
        setzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen dafür gesorgt,
        das Verbot der Preis-Kosten-Schere dauerhaft im Gesetz
        zu verankern.
        Wir tun aber noch mehr. Zum ersten Mal werden die
        Verbraucher ohne großen Aufwand erfahren können,
        welche Tankstelle ihrer Region aktuell am billigsten ist.
        Dafür verankern wir eine Meldepflicht für Tankstellen,
        welche ihre Echtzeitpreise an die Markttransparenzstelle
        weitergeben müssen. Diese wiederum wird ihre Daten-
        bank dann für interessierte Anbieter zur Verfügung stel-
        len. Das bedeutet: Die aktuellen Tankstellenpreise wer-
        den künftig nicht nur im Internet, sondern auch per
        Handy-App oder Navi abrufbar sein. Wenn ich also
        künftig von Stuttgart nach Berlin über die Autobahn
        fahre, dann kann ich mir auf dem Navi die günstigste
        Tankstelle auf dem Weg anzeigen lassen und dort tan-
        ken.
        Wir versetzen die Verbraucher damit in die Lage, ihre
        Marktmacht an der Zapfsäule auszuüben. Bisher waren
        die Preise nur auf der Anbieterseite weitgehend transpa-
        rent. Wie das Bundeskartellamt in seiner Sektoranalyse
        zum Tankstellenmarkt herausgearbeitet hat, verfügte ins-
        24934 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012
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        besondere das herrschende Oligopol aus den großen fünf
        Tankstellenketten über ein ausgeklügeltes System der
        Marktüberwachung. Damit waren sie in der Lage, den
        Tankstellenmarkt über den Preis zu dominieren.
        Das funktionierte aber nur, weil die Preise für die Ver-
        braucher nicht in gleichem Maße transparent waren wie
        für die Tankstellenbetreiber. Nur wenn zwei Tankstellen
        direkt beieinanderliegen, war ein valider Preisvergleich
        für die Verbraucher möglich. Deshalb vergleichen
        25 Prozent der Autofahrer bislang überhaupt keine
        Preise. 40 Prozent tanken sogar immer an derselben
        Tankstelle. So kann Wettbewerb nicht funktionieren.
        Nun werden Verbraucher Preise für ganze Regionen ver-
        gleichen können. Sie können damit auch die günstigste
        Tankstelle aufsuchen und den Preiswettbewerb entfa-
        chen. Ich appelliere deshalb an die Verbraucher, diese
        Marktmacht auch zu nutzen. Durch die Preistransparenz
        stärken wir auch die kleinen Tankstellen am Markt, die
        ihren Sprit meistens günstiger anbieten als die fünf gro-
        ßen Oligopolisten. Letztlich bauen wir durch den stei-
        genden Preiswettbewerb auch mehr Druck auf das herr-
        schende Oligopol auf, ihr Benzin ebenfalls billiger
        anzubieten.
        Mehr Wettbewerb ist viel effizienter als irgendwelche
        staatlich verordneten Preisregulierungsmodelle, nach
        denen insbesondere die Oppositionsparteien immer wie-
        der rufen. Schauen wir uns doch einmal die Situation in
        Österreich an. Allen, die das österreichische Modell mit
        einer zugelassenen Preiserhöhung am Tag als so ver-
        braucherfreundlich preisen, sage ich: Nein, dieses
        Modell ist alles andere als verbraucherfreundlich. Denn
        die Benzinpreise sind seit der Einführung des Preisregu-
        lierungsmodells nicht gesunken, sondern auf neue
        Rekordhöhen geklettert. Das ist auch nicht überra-
        schend. Denn wenn man nur einmal am Tag den Preis er-
        höhen darf, erhöhen die Tankstellenbetreiber dafür eben
        immer umso deutlicher. In Österreich ist man über das
        eigene Modell deshalb so unzufrieden, dass man es
        schon wieder abschaffen möchte. Österreich ist also kein
        Vorbild für Deutschland.
        Wir haben eine bessere Alternative für die deutschen
        Autofahrer entwickelt. Indem wir in Deutschland
        Preistransparenz für die Verbraucher herbeiführen,
        schaffen wir die Grundlage dafür, dass sich die Benzin-
        preise wieder nach Angebot und Nachfrage richten und
        nicht mehr nach Feiertagen und Ferienzeiten.
        Ulla Lötzer (DIE LINKE): Die Preise für Strom, Gas
        und Kraftstoffe steigen rasant. Der Buhmann ist schnell
        ausgemacht: Die Bundesregierung verweist wie die
        Energiekonzerne auf die Energiewende, die Mineralöl-
        konzerne auf die gestiegenen Rohölpreise. Doch die
        Wahrheit liegt etwas anders. Die erneuerbaren Energien
        führen zu Preissenkungen an der Energiebörse, die nicht
        an die Endkunden weitergegeben werden. Die Mineral-
        ölkonzerne treiben die Benzinpreise künstlich in die
        Höhe – so das Bundeskartellamt –, ohne zu formalen
        Preisabsprachen zu greifen. Das Problem ist in beiden
        Fällen dasselbe: die Marktmacht der beiden Oligopole.
        Diese Marktmacht muss beschnitten werden. Nur dann
        können die Extraprofite der Konzerne auf Kosten der
        Bürgerinnen und Bürger endlich beendet werden. Doch
        anstatt die Marktmacht endlich wirkungsvoll aufzubre-
        chen, wollen Sie mit einer Markttransparenzstelle Han-
        deln demonstrieren, ohne den Konzernen wehzutun.
        Die Monopolkommission hat mehrfach festgestellt,
        dass bei den Kraftstoffpreisen vor allem die Raffinerie-
        preise beachtet werden müssen, wenn es um die Unter-
        suchung der Folgen von Vermachtung geht. Im Entwurf
        Ihres Gesetzes sollten die Großhandelspreise an Raffine-
        rien oder Tanklagern noch gemeldet werden. Jetzt sind
        Sie den Konzernen noch entgegengekommen und be-
        schränken die Meldung auf die Tankstellenpreise. Ver-
        stehen Sie uns nicht falsch: Wir sind keineswegs gegen
        Transparenz – wer ist das schon? –, aber Sie betreiben
        mit der Einrichtung einer Markttransparenzstelle einen
        riesigen Aufwand für wenig Ergebnis.
        Im Gegenteil, Professor Helmedag hat in der Anhö-
        rung darauf hingewiesen, dass im Kraftstoffsektor die
        Preise dadurch sogar steigen könnten: zum einen, weil
        die Mineralölkonzerne dadurch noch einfacher an die
        Daten ihrer Konkurrenten herankommen können, zum
        anderen, weil die Konzerne die Kosten für diesen neuen
        bürokratischen Aufwand auf die Endverbraucherpreise
        umlegen werden. Die Autofahrer dürfen sich auf Apps
        freuen, die ihnen bald den Weg zur günstigsten Tank-
        stelle weisen sollen. Doch das nützt nicht viel, wenn die
        Preise insgesamt weiter in dieser Rasanz steigen. Ver-
        braucherverhalten ist wichtig, kann aber staatliche Regu-
        lierung nicht ersetzen. Ganz abgesehen davon müssen
        endlich der öffentliche Personenverkehr ausgebaut und
        der Umstieg auf alternative Mobilitätsformen gefördert
        werden. Sonst können sich bald nur noch die Reichen
        Mobilität leisten.
        Strom und Gas müssen bezahlbar bleiben. Sie gehö-
        ren zu den Gütern des täglichen Bedarfs für die ganze
        Bevölkerung. Es muss damit Schluss sein, dass jährlich
        800 000 Haushalten der Strom abgestellt wird, weil die
        Menschen ihn nicht mehr bezahlen können. Führen Sie
        eine staatliche Preisaufsicht ein! Verhindern Sie die Ex-
        traprofite der Energie- und Mineralölkonzerne! Ergreifen
        Sie endlich wirksame Maßnahmen gegen die Oligopole
        in beiden Branchen, und zwar durch Entflechtung! Die
        Markttransparenzstelle ist teure Augenwischerei. Daher
        lehnen wir Ihren Gesetzentwurf ab.
        Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): In
        der Vergangenheit hat es eine Vielzahl von Hinweisen
        gegeben, dass Marktmissbrauch und -manipulation am
        Strom- und Gasmarkt stattfinden könnten. Man muss
        sich dazu den entsprechenden Bericht des Bundeskartell-
        amtes und der Monopolkommission ansehen. Das ver-
        wundert auch nicht bei Märkten, die von Oligopolen und
        großer Marktmacht einzelner Unternehmen geprägt sind.
        Dass in der Vergangenheit Missbrauch und Manipulation
        nicht nachgewiesen werden konnten, liegt auch daran,
        dass den Behörden wie dem Bundeskartellamt die not-
        wendigen Daten nicht vorlagen.
        Deshalb hat die schwarz-gelbe Koalition 2009 völlig
        richtig in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart, eine „Markt-
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012 24935
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        transparenzstelle für Strom und Gas“ einzurichten. Doch
        dann beschäftigte sich Schwarz-Gelb vor allem mit sich
        selbst statt mit dem Strom- und Gasmarkt. Erst heute
        – sage und schreibe drei Jahre später – beschließen wir
        im Bundestag die Einrichtung einer solchen Stelle. Das
        ist nicht nur langsam, das ist ein Bummelstreik einer
        Bundesregierung und der Koalitionsfraktionen.
        Wegen dieser dreijährigen Verzögerung blieben die
        Märkte nicht nur weiter unbeobachtet, nein – inzwischen
        hat die EU gehandelt und mit REMIT eine europäische
        Rechtsgrundlage für Marktransparenz geschaffen. Das
        ist gut; aber zu Recht gibt es nun seitens der Unterneh-
        men im Strom- und Gasmarkt, insbesondere der kleinen,
        denen die Markttransparenzstelle ja eigentlich helfen soll,
        Befürchtungen hinsichtlich Doppelerfassungen und un-
        nötiger Bürokratie. Statt Vorreiter in Europa zu sein,
        läuft Deutschland wieder einmal der Entwicklung hinter-
        her. Das ist ein weiteres europäisches Armutszeugnis für
        diese Regierung.
        Ohne Zweifel, die Markttransparenzstelle wird Daten
        sammeln, auswerten und auf Missbrauch überprüfen.
        Das ist gut so. Aber was ist mit der Transparenz für die
        Verbraucherinnen und Verbraucher? Da soll es alle paar
        Jahre einen Bericht geben, mehr nicht. Das reicht nicht.
        Das ist eine Transparenzstelle ohne Transparenz. Da be-
        steht die Gefahr, dass am Ende bei Bundeskartellamt und
        Bundesnetzagentur Datenfriedhöfe geschaffen werden.
        So geht das nicht. Wir müssen die Daten zum Strom-
        und Gasmarkt zugänglich machen, soweit das mit den
        schützenswerten Interessen der Unternehmen vereinbar
        ist, damit auch alle interessierten und engagierten Men-
        schen sich ein eigenes Bild machen können. Das ist
        Transparenz und liefert am Ende vielleicht noch einmal
        ganz neue Erkenntnisse.
        Überhaupt scheinen Verbraucherinnen und Verbrau-
        cher bei den Überlegungen der Bundesregierung zu die-
        sem Thema keine Rolle gespielt zu haben. Dass Men-
        schen sich mit konkreten Hinweisen und Verdachts-
        momenten an die Transparenzstelle wenden können, ist
        erst gar nicht vorgesehen. Hier vergibt man jedoch eine
        Riesenchance, dass die 80 Millionen Strom- und Gas-
        kunden und Zehntausende Unternehmen mehr mitbe-
        kommen, als dass es gut zwei Dutzend mehr Mitarbeiter
        in einer Bundesbehörde gibt. Deshalb erwarten wir, dass
        Sie die Tansparenzstelle für die Verbraucherinnen und
        Verbraucher öffnen.
        Die Menschen im Land machen die Erfahrung, dass
        Strom- und Gaspreiserhöhungen von den Versorgern nicht
        seriös begründet werden. Aktuelle Fälle zeigen, dass Er-
        höhungen weitaus größer ausfallen, als steigende EEG-
        Umlage und Netzentgelte das rechtfertigen, und dass
        gleichzeitig auch noch die Börsenpreise sinken. Das sind
        Dinge, die die Transparenzstelle eigentlich im Sinne der
        Verbraucherinnen und Verbraucher wird aufklären müs-
        sen. Doch ich fürchte, dass genau das nicht geschieht.
        Über die Anbindung der Stelle bei der Bundesnetz-
        agentur oder dem Bundeskartellamt kann man streiten.
        Was aber nicht sein kann, ist, dass die Markttransparenz-
        stelle durch die Hintertür eine andere Aufgabe bekommt,
        nämlich so eine Art Monitoringstelle für die Energie-
        wende. Das brauchen wir natürlich, und das tut gerade
        bei dieser Bundesregierung not; aber dann muss man es
        auch im Gesetz klar verankern mit klaren Aufgabenzu-
        weisungen. Aber das gibt Ihre per Änderungsantrag
        kurzfristig geänderte Anbindung an die Bundesnetz-
        agentur einschließlich der Stellenzuweisungen nicht her.
        Zum Schluss noch ein Wort zum Thema Kraftstoffe:
        Es ist schön, wenn es aufgrund des Gesetzes und der
        Verordnung demnächst eine App für Smartphones mit
        den aktuellen Spritpreisen der Tankstellen der Umge-
        bung geben wird. Das werden alle Autofahrer gut finden.
        Aber seien wir ehrlich: Das löst nicht das Problem stei-
        gender Spritpreise und steigender Marktkonzentration
        auf der Anbieterseite. Schon gar nicht ist es eine Ant-
        wort auf unsere fatale Ölabhängigkeit. Deshalb ist der
        regelmäßige Populismus von Ramsauer und Rösler zu
        Ostern und vor den Sommerferien nicht angebracht.
        Zusammenfassend kann ich sagen: Sie haben etwas
        Richtiges gemacht, was aber viel zu spät und viel zu
        dürftig umgesetzt wird. In einem Entschließungsantrag
        in den Ausschüssen haben wir konkrete Vorschläge ge-
        macht, die sie jedoch abgelehnt haben. Deshalb werden
        wir uns bei der Abstimmung über das Gesetz enthalten.
        Anlage 3
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
        Berichts zu dem Antrag: Beendigungsgesetz zum
        Berlin-Bonn-Gesetz (Tagesordnungspunkt 14)
        Stefanie Vogelsang (CDU/CSU): Wir debattieren
        heute, wie in jedem Jahr, den Antrag der Linken zur
        Aufkündigung des Berlin-Bonn-Gesetzes. Zweck dieses
        Gesetzes ist es, den Beschluss des Deutschen Bundesta-
        ges zur Vollendung der Einheit Deutschlands vom
        20. Juni 1991 umzusetzen. Kern ist ein auf Dauer ange-
        legter fairer Ausgleich für die Bundesstadt Bonn. Das
        Gesetz ist mit diesem Zweck ebenso singulär, wie es die
        Bundestagsdebatte 1991 war.
        Am 20. Juni 1991 war ich Bürgerin der Stadt Bonn,
        heute bin ich Bürgerin der Stadt Berlin. Damals habe ich
        als studentische Mitarbeiterin eines Berliner Bundes-
        tagsabgeordneten hautnah miterlebt, wie intensiv der
        Wettbewerb zwischen Bonn und Berlin im Vorfeld der
        Entscheidung gelaufen ist. Ich habe die sehr emotionale
        Debatte vor der Entscheidung im Wasserwerk in Bonn
        live miterlebt und weiß durch eigenes Erleben, dass ein
        ganz wesentlicher Aspekt für viele zweifelnde Abgeord-
        nete auch die zugesicherte Bedeutung Bonns als Bundes-
        stadt mit dem Sitz von Teilen der Exekutive gewesen ist.
        Die Gegner des Umzugs führten damals als ein
        Hauptargument an, in wenigen Jahren würde sich so
        oder so niemand mehr an die Zusage an Bonn erinnern,
        und man könne diesem föderalen Kompromiss nicht
        trauen. Viel Kraft wurde in die Beruhigung der Skeptiker
        gerade in diesem Punkt gesteckt.
        24936 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012
        (A) (C)
        (D)(B)
        Politische Glaubwürdigkeit ist für mich immer eine
        ganz wichtige Basis für meine Überzeugungen gewesen.
        Deshalb habe ich dem Koalitionsvertrag zwischen CDU,
        CSU und FDP zur Bildung dieser Regierung auch an
        dieser Stelle ohne Hadern zugestimmt. Sicherlich: Als
        Berliner Bundestagsabgeordnete würde ich mich natür-
        lich freuen, wenn die Regierung voll und ganz in die
        Bundeshauptstadt ziehen würde. Bonn ist eine sehr
        lebenswerte Stadt. In der Metropole Berlin spiegelt sich
        allerdings die neue Bedeutung des wiedervereinigten
        Deutschlands kraftvoll wider. Die Zeit wird kommen, zu
        der wir eine neue große Debatte führen. Jetzt haben wir
        allerdings drängendere Fragen zur Zukunft Deutschlands
        in Europa zu beantworten.
        Dr. Peter Danckert (SPD): Nach fast zwölfstündiger
        Debatte des Deutschen Bundestages fiel am 20. Juni
        1991 die Hauptstadtentscheidung zugunsten Berlins. Im
        provisorischen Plenarsaal, einem ehemaligen Wasser-
        werk, gab Präsidentin Rita Süssmuth um 21.49 Uhr be-
        kannt, dass 337 Stimmen für den Umzug von Parlament
        und Regierung nach Berlin abgegeben worden waren.
        Dabei hatten sich 320 Mitglieder des Bundestages er-
        folglos dafür eingesetzt, zwar den Bundesrat und den
        Sitz des Bundespräsidenten nach Berlin zu verlegen,
        Parlament und Regierung aber in Bonn zu belassen. Die
        Grundlage der Hauptstadtentscheidung bildet Art. 2
        Abs. 1 des Einigungsvertrages, wo es heißt: „Hauptstadt
        Deutschlands ist Berlin. Die Frage des Sitzes von Parla-
        ment und Regierung wird nach der Herstellung der Ein-
        heit Deutschlands entschieden.“ Ausweislich einer Pro-
        tokollnotiz zum Einigungsvertrag sollten die weiteren
        Entscheidungen zur Hauptstadt Sache der gesetzgeben-
        den Körperschaften des Bundes sein.
        So wurde das Gesetz zur Umsetzung des Beschlusses
        des Deutschen Bundestages vom 20. Juni 1991 zur Voll-
        endung der Einheit Deutschlands, kurz: Berlin-Bonn-
        Gesetz, am 26. April 1994 verabschiedet. Es regelt wie
        der Beschluss des Deutschen Bundestags zum Umzug
        des Parlaments- und Regierungssitzes von Bonn nach
        Berlin in die Praxis umgesetzt werden sollte.
        Die zentrale Regelung, § 4 Abs. 4 Berlin-Bonn-Ge-
        setz, legt fest, dass der größte Teil der Arbeitsplätze in
        Bonn erhalten werden soll. Auch zentrale Politikberei-
        che, wie zum Beispiel Verteidigung, Bildung, Umwelt,
        sollten in Bonn angesiedelt bleiben. Zudem bestimmte
        das Gesetz, dass Bonn einen Ausgleich für den Verlust
        von Parlament und Regierung erhielt, etwa durch neue
        Funktionen und die Ansiedlung neuer Institutionen.
        Durch die „Vereinbarung über die Ausgleichsmaßnah-
        men für die Region Bonn vom 29. Juni 1994“ wurden
        1,437 Milliarden Euro für 90 Ausgleichsprojekte und
        weitere rund 210 Einzelmaßnahmen an Bonn gezahlt.
        Der Vollständigkeit halber muss hier erwähnt werden,
        dass auch Berlin Ausgleichszahlungen erhielt.
        Laut Antrag der Fraktion Die Linke wirkt das Gesetz
        seit 1994 und hat seinen Sinn erfüllt. Trotz der Vertei-
        lung der Arbeitsstellen zugunsten Berlins sei die Tren-
        nung der Regierungstätigkeit 20 Jahre nach Herstellung
        der deutschen Einheit überholt und unter dem Gesichts-
        punkt der Wahrnehmung der Hauptstadtrolle Berlins, der
        Koordinierung der Regierungsarbeit sowie der Bezie-
        hungen zwischen Parlament und Bundesregierung in
        höchstem Maße ineffizient. Zugleich behindere die Tei-
        lung der Bundesregierung auf zwei Standorte die not-
        wendige Nachwuchsarbeit in den Bundesministerien, da
        es junge Spitzenkräfte eher nach Berlin als nach Bonn
        ziehe. Durch die permanente Teilung seien operative Fä-
        higkeiten der Bundesregierung, zum Beispiel bei der Lö-
        sung der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise,
        stark eingeschränkt.
        Meiner Meinung nach gilt grundsätzlich das Prinzip,
        dass Verträge eingehalten werden müssen. Andererseits
        stellt sich nach über 20 Jahren gesamtdeutschen Zu-
        sammenlebens die Frage, inwieweit dieses Gesetz noch
        sinnvoll ist. Als Jurist und Haushälter möchte ich dies
        einerseits in rechtlicher- und andererseits in haushalts-
        politischer Hinsicht bewerten.
        Ganz aktuell kommt das am 29.Oktober 2012 vorge-
        stellte Gutachten des Juristen Professor Dr. Markus
        Heintzen von der FU Berlin zu dem Ergebnis, dass seit
        vier Jahren gegen die Regelungen des Berlin-Bonn-Ge-
        setzes verstoßen wird. So arbeiten zurzeit weniger als
        45 Prozent der Ministerialbediensteten in Bonn. Da das
        Berlin-Bonn-Gesetz keinen Verfassungsrang besitzt, hat
        dieser Rechtsbruch aber keine konkreten Folgen für die
        Bundesregierung.
        Gestattet sei mir hier die Anmerkung, dass derartige
        Rechtsbrüche durch die Bundesregierung seit der über-
        raschenden Aufkündigung der geplanten Ansiedlung der
        Abteilung 7 des Bundesinstituts für Risikobewertung in
        Neuruppin im Haushaltsausschuss zunehmend legitim
        erscheinen. Die Ansiedlung der Abteilung 7 des Bundes-
        instituts für Risikobewertung stand in einem unmittelba-
        ren Zusammenhang mit dem Beschluss der Unabhängi-
        gen Föderalismuskommission aus dem Jahr 1992, nach
        dem neue Bundeseinrichtungen und Bundesinstitutionen
        grundsätzlich in den neuen Ländern anzusiedeln sind.
        Darüber hinaus sollte diese Ansiedlung für Brandenburg
        auch ein Ausgleich sein, weil ein Forschungsstandort des
        Friedrich-Löffler-Instituts in Wusterhausen geschlossen
        werden soll. Argumente gegen die Abschaffung des Ber-
        lin-Bonn-Gesetzes, welche sich auf bestehende Verträge
        und darin getroffene Vereinbarungen berufen, verlieren
        vor diesem Hintergrund ihre Glaubwürdigkeit.
        Neben der besagten Studie möchte ich mich auf eine
        Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes des Deut-
        schen Bundestages aus dem Jahr 2007 zur möglichen
        Änderung des Berlin/Bonn-Gesetzes und damit verbun-
        dener Maßnahmen für einen Komplettumzug nach Ber-
        lin beziehen. Diese kommt zu dem Schluss, dass für
        einen Komplettumzug nach Berlin das Berlin-Bonn-Ge-
        setz geändert werden müsse. Da die Gesetzgebungskom-
        petenz beim Bund liegt, ist der Gesetzgeber grundsätz-
        lich nicht gehindert, über ein Gesetz zu verfügen und
        dieses zu ändern. Diese Tatsache ergibt sich aus dem De-
        mokratieprinzip und gilt auch für das Berlin-Bonn-Ge-
        setz. Zudem trifft der § 1 Abs. 2 Nr. 3 Berlin-Bonn-Ge-
        setz keine Aussage, in welcher Form die genannten
        Politikbereiche in Bonn angesiedelt sein sollen, etwa als
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012 24937
        (A) (C)
        (D)(B)
        Ministerien oder nachgeordnete Behörden. Auch die
        Sollvorschrift, dass laut § 4 Abs. 4 Berlin-Bonn-Gesetz
        der größte Teil der Arbeitsplätze in Bonn erhalten wer-
        den soll, schließt eine Reform der Ministerialverwaltung
        und damit einhergehende weitere Verlagerungen von
        Ministerien nach Berlin nicht aus. Soweit man davon
        ausgeht, dass die Region Bonn aufgrund bisheriger Ver-
        einbarungen Vertrauensschutz genießt, spricht dies nicht
        generell gegen einen Umzug. Denkbar ist nur, laut Aus-
        sage des Wissenschaftlichen Dienstes, dass hieraus die
        Pflicht zu weiteren Ausgleichsmaßnahmen resultiert.
        Hier ließe sich einwenden, dass derartige Pflichten, wie
        im Falle der Neuruppin-Entscheidung im Haushaltsaus-
        schuss, aber nicht unbedingt Bindungswirkung entfalten.
        Um die Kosten der durch das Berlin-Bonn-Gesetz ge-
        teilten Dienstsitze besser kontrollieren zu können, be-
        schloss der Haushaltsausschuss am 20. November 2008
        die Vorlage jährlicher Teilungskostenberichte. Laut Tei-
        lungskostenbericht des Jahres 2012 belaufen sich die ge-
        schätzten Gesamtkosten der geteilten Dienstsitze für das
        Jahr 2013 auf 9,047 Millionen Euro. Im Vergleich zu
        2012 erhöhen sich dabei die Ausgaben um 176 000 Euro.
        Den umfangreichsten Ausgabeposten stellen die Dienst-
        reisen mit 4,895 Millionen Euro in 2013 dar. Im Ver-
        gleich zum Vorjahr entspricht das einer Kostensteige-
        rung um rund 2,3 Prozent.
        Vor diesen fiskal- und rechtspolitischen Aspekten
        müsste die Frage, ob das Berlin-Bonn-Gesetz noch Sinn
        macht, abschlägig beantwortet werden. Andererseits ha-
        ben wir eine große Verantwortung für die Arbeitnehmerin-
        nen und Arbeitnehmer in der Region Bonn, die bei ei-
        nem Komplettumzug nicht einfach ihrem Schicksal
        überlassen werden dürfen. Hier stellt sich die Frage der
        Zumutbarkeit einer kompletten Verlagerung der Dienst-
        sitze nach Berlin für die dort lebenden Menschen und
        der Wirtschaftsregion Bonn als Ganzes. Vielleicht ließe
        sich hier eine Regelung finden, die über einen großzügig
        angelegten Übergangszeitraum einen sukzessiven Um-
        zug unter sozialverträglichen Aspekten umsetzen kann.
        Möglicherweise wird das Parlament in der nächsten-
        oder übernächsten Legislaturperiode beschließen, das
        Berlin-Bonn-Gesetz abzuschaffen. Heute ist der Zeit-
        punkt noch nicht gekommen.
        Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der
        Deutsche Bundestag hat vor etwas mehr als 21 Jahren,
        im Juni 1991, beschlossen, das Parlament und Teile der
        Regierung von Bonn nach Berlin zu verlegen, aber eine
        dauerhafte – ich betone: „dauerhafte“ – Arbeitsteilung
        zwischen den beiden Städten vorzusehen. Dieser Be-
        schluss war denkbar knapp, er kam nach langer kontro-
        verser Debatte mit 38 zu 320 Stimmen, also einer Mehr-
        heit von gerade einmal 18 Stimmen, zustande. Und klar
        ist: Diese Mehrheit hätte es ohne die Zusage einer dauer-
        haften und fairen Arbeitsteilung zwischen der Bundes-
        hauptstadt und der Bundesstadt Bonn gar nicht gegeben.
        Die Linksfraktion belegt mit ihren permanenten Atta-
        cken gegen das Bonn-Berlin-Gesetz nur ihre Ostfixiert-
        heit und dass sie keinerlei Feeling und keinerlei Anerken-
        nung für die Leistungen der westdeutschen Demokratie
        während der Zeit der deutschen Teilung hat. Kollege
        Claus hätte sich mal besser mit der Landtagsfraktion der
        Linken im nordrhein-westfälischen Landtag unterhalten,
        als es eine solche noch gab; die hätte ihm nämlich erzählt,
        wie groß die Bedeutung des Bonn-Berlin-Gesetzes für die
        Stadt und die Region ist. Aber wir erleben ja auch im
        Haushaltsausschuss immer wieder, dass Anfang der 90er
        für den Osten getroffene Vereinbarungen von der Linken
        für sakrosankt erklärt und mit Zähnen und Klauen vertei-
        digt werden, während es bei Vereinbarungen, die den
        Westen und insbesondere Bonn angehen, mit einem Ach-
        selzucken abgetan werden.
        Der Stadt Bonn, der gesamten Region, den Menschen,
        die in den Ministerien und Behörden arbeiten, aber auch
        der gesamten Bevölkerung in Bonn und der Region
        wurde eine klare Zusage gemacht, und zwar die einer
        dauerhaften fairen Arbeitsteilung. Deshalb ist die Kern-
        aussage im Antrag der Linken, das Bonn-Berlin-Gesetz
        habe seinen Sinn erfüllt, einfach Humbug. Den Men-
        schen in Bonn und der Region wurde eine dauerhafte
        Absicherung zugesagt. Sie haben ein Recht darauf, dass
        diese Zusage eingehalten wird. Veränderungen kann es
        also nur im Dialog mit der Region geben. Das ist eine
        Frage von Verlässlichkeit und von Vertrauen, das Men-
        schen in die Politik haben können.
        Direkt und indirekt sind in Bonn und der Region rund
        60 000 Arbeitsplätze von der im Bonn-Berlin-Gesetz
        verbürgten Arbeitsteilung abhängig. Zehntausende Men-
        schen und ihre Familien haben ihre Lebensplanung auf
        die Einhaltung von Zusagen aufgebaut, die die Politik ih-
        nen gemacht hat. Das ist der angeblich auch so arbeitneh-
        merfreundlichen Linken aber offensichtlich schnuppe.
        Was mich besonders wundert, ist, dass die Forderung
        nach einem Komplettumzug gerade von den Haushalts-
        politikern der Linken so forciert wird. Dabei sprechen
        die Zahlen eine glasklare Sprache – und gerade an den
        Zahlen sollten sich Haushälterinnen und Haushälter
        doch orientieren –: Der Bundesrechnungshof hat darge-
        legt, dass die Arbeitsteilung zwischen Bonn und Berlin
        sehr gut funktioniert und dauerhaft – ich betone wieder:
        „dauerhaft“ – preisgünstiger ist als ein Komplettumzug.
        Die Teilungskosten sind in den vergangenen Jahren kon-
        tinuierlich gesunken. Der Komplettumzug würde rund
        5 Milliarden Euro kosten – 5 Milliarden, die der Bund
        nicht hat und deshalb auf Pump finanzieren müsste. Al-
        leine die Zinsen wären höher als die Teilungskosten, von
        Tilgung ganz zu schweigen.
        Die nackten Zahlen zeigen: Die Forderung nach ei-
        nem Komplettumzug lässt sich mit den Teilungskosten
        nicht begründen. Einen weiteren Aspekt will ich anspre-
        chen: Die Anzahl der Dienstreisen von Mitarbeiterinnen
        und Mitarbeitern aus den Ministerien nach Brüssel ist in
        den vergangenen Jahren kontinuierlich gestiegen. Auch
        deshalb wäre ein Umzug des BMZ, des BMELV, des
        BMU und auch der anderen Organisationen, für die die
        Nähe zu Brüssel wichtig ist, finanziell und auch ökolo-
        gisch kontraproduktiv. Von Berlin nach Brüssel wird ge-
        flogen. Von Bonn fährt man mit dem Zug. Von Berlin
        nach Brüssel kostet die eintägige Dienstreise 654 Euro,
        von Bonn 179 Euro.
        24938 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012
        (A) (C)
        (D)(B)
        Bonn und die Region sind auf die Vereinbarungen aus
        dem Bonn-Berlin-Gesetz angewiesen. Es kann keine
        einseitige Aufkündigung fester Zusagen geben. Deshalb
        sollten wir die nervige, fruchtlose Debatte um eine ein-
        seitige Aufkündigung des Bonn-Berlin-Gesetzes endlich
        beenden.
        Anlage 4
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Entwurfs eines Ausführungs-
        gesetzes zur Verordnung (EU) Nr. 648/2012
        über OTC-Derivate, zentrale Gegenparteien
        und Transaktionsregister (EMIR-Ausführungs-
        gesetz) (Tagesordnungspunkt 15)
        Dr. Axel Troost (DIE LINKE): Wie stark sich Fi-
        nanz- und Realwirtschaft voneinander entkoppelt ha-
        ben, lässt sich leicht mit einigen Zahlen veranschauli-
        chen. Nach den letzten verfügbaren Daten ist der
        globale außerbörsliche Derivatehandel auf ein Volumen
        von 650 Billionen US-Dollar angewachsen – das Zehn-
        fache der jährlichen Weltwirtschaftsleistung. Dahinter
        stehen keine Absicherungsgeschäfte von Unternehmen,
        sondern in erster Linie Spekulationen. Vor dieser Ent-
        wicklung haben wir lange gewarnt. Welche Risiken sie
        birgt, mussten wir infolge der Finanzkrise schmerzhaft
        erfahren. Doch trotz Finanzkrise geht der Handel mit
        Derivaten schwungvoll weiter.
        Derivate versprechen als Hebelinstrumente hohe Ren-
        diten bei hohem Verlustrisiko. Fehlspekulationen mit
        Derivaten können leicht im Ruin enden. Noch gefährli-
        cher wird der Derivatehandel dadurch, dass bis zu
        90 Prozent des Derivatehandels außerhalb regulierter
        Märkte stattfinden. Dort müssen keine Details wie Volu-
        men oder Preis offengelegt werden. Niemand weiß, wer
        welche Derivate hat und wie stark mit wem über Deri-
        vate verflochten ist. Dadurch konnte sich die US-Immo-
        bilienblase zu einer weltweiten Finanzkrise ausweiten.
        Viele komplexe Derivate dienen nicht dazu, Risiken
        auf viele Schultern zu verteilen und damit tragbar zu ma-
        chen. Risiken werden stattdessen verschleiert. Ein erster
        konsequenter Schritt wäre gewesen, den Dschungel der
        Derivatemärkte zu lichten und nur diejenigen Derivate
        zuzulassen, die offensichtlich einen gesamtwirtschaftli-
        chen Nutzen haben, verständlich sind und deren Risiken
        sich robust quantifizieren lassen. Dieser Schritt lässt
        weiter auf sich warten. Darüber hinaus muss der Deriva-
        tehandel sicherer und transparenter gemacht werden.
        Hier hat sich tatsächlich etwas getan.
        Mit EMIR hat die EU strengere Regeln für die Ab-
        wicklung des außerbörslichen Derivatehandels erlassen.
        Die Verordnung tritt 2013 in Kraft. Das hier debattierte
        Gesetz klärt nur noch kleinere Details. Zwischen Käufer
        und Verkäufer muss künftig eine Clearingstelle geschal-
        tet werden. Diese springt dann ein, wenn eine der Ver-
        tragsparteien ausfällt. Dies soll Ansteckungsrisiken min-
        dern. Es hat jedoch zur Folge, dass die Clearinghäuser
        eine systemische Funktion gewinnen.
        Die Pleite eines Clearinghauses wäre ein Schock ver-
        gleichbar mit einem Erdbeben. Sie sind systemisch rele-
        vant, weswegen der Staat sie notgedrungen auffangen
        müsste. Solange der Derivatedschungel weiterbesteht,
        müssen die Clearinghäuser unnötig viele Risiken schul-
        tern. Das ist für uns nicht akzeptabel.
        Ein weiteres Problem: Die Clearingpflicht ist unnötig
        löchrig, denn sie betrifft nur „standardisierte“ Derivate.
        Diese müssen lediglich an ein Transaktionsregister ge-
        meldet werden. Als „standardisiert“ soll ein Derivat
        dann gelten, wenn ein Clearinghaus eine zentrale Ab-
        wicklung dafür anbietet – der Markt setzt sich damit
        wieder einmal selbst die Standards.
        Eine Nebenbemerkung: Das erwähnte Transaktions-
        register hat neben Transparenz noch eine zweite Funk-
        tion: Es wird sehr einfach, die geplante Finanztransak-
        tionsteuer zu erheben. Fehlende Informationen oder
        Erhebungskosten werden kein Hindernis für die Finanz-
        transaktionsteuer sein. Ich betone das deshalb, weil die
        Finanzpolitiker der Koalition – FDP und Union – immer
        noch wenig Begeisterung und Einsatz für die Pläne von
        Finanzminister Schäuble für eine europäische Finanz-
        transaktionsteuer zeigen. Doch bisher haben sich Argu-
        mente gegen die Steuer immer als haltlos erwiesen.
        Zusammenfassend: Wir fordern, die Finanzmärkte
        auch in Bezug auf die Derivatemärkte drastisch zu
        schrumpfen und ihre Komplexität zu reduzieren. Nur
        diejenigen Finanzprodukte, die gesamtwirtschaftlich
        nützlich, verständlich und von den Risiken beherrschbar
        sind, sollten von einem „Finanz-TÜV“ zugelassen wer-
        den. Die dann übrig gebliebenen Derivate wären stan-
        dardisiert und könnten über regulierte Handelsplätze ge-
        handelt werden. Der außerbörsliche Derivatehandel
        wäre dann erst recht überflüssig.
        Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        Zweifellos: Die Umsetzung der European Market Infra-
        structure Regulation, EMIR, gehört zu den wichtigen
        Reformbaustellen der Finanzmarktregulierung. Denn
        bisher ist der etwa 700 Billionen Dollar schwere Deriva-
        temarkt nahezu unreguliert, intransparent und daher
        stark missbrauchsanfällig. Daten sind Mangelware – bei
        Aufsicht wie bei den Regulierten selbst. Man erinnere
        sich nur an das Jahr 2010, als die deutsche Aufsicht auf
        Auskünfte eines privaten Anbieters in den USA ange-
        wiesen war, um die Position von auf Griechenland abge-
        schlossenen Kreditausfallversicherungen zu erfahren.
        Diese Intransparenz ist ein hohes systemisches Ri-
        siko. Auch deshalb konnte die Pleite der Investmentbank
        Lehman Brothers im September 2008 zu einer derartigen
        Eskalation der Krise führen. Denn niemand wusste, wer
        welche Derivatekontrakte eingegangen war und deshalb
        von welchen etwaigen Dominoeffekten betroffen sein
        könnte. Das wäre jedoch nötig gewesen, um die Folge-
        wirkungen eines unkontrollierten Zusammenbruchs ab-
        schätzen zu können. Stattdessen herrschte gefährliche,
        krisenbeschleunigende Marktpanik.
        Die Grundziele von EMIR sind daher richtig: Es ist
        richtig, dass künftig sämtliche Derivate an sogenannte
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012 24939
        (A) (C)
        (D)(B)
        Transaktionsregister gemeldet werden müssen, sodass
        die Aufsicht einen Überblick über Vernetzungen und Ri-
        siken, etwa zu hohe offene Position einzelner Akteure,
        im Derivatemarkt erhält. Und es ist richtig, dass standar-
        disierbare Derivate künftig über sogenannte Clearing-
        häuser abgewickelt werden müssen.
        Doch der Teufel steckt auch hier im Detail. Etliche
        Fragen der Umsetzung, aber auch der sich aus der Regu-
        lierung ergebenden künftigen Marktstruktur, sind noch
        offen. So stellt sich mir die Frage, welche Art von Deri-
        vaten wann überhaupt clearingpflichtig werden. Reden
        wir hier von 10, 30, 50, oder sogar mehr als 70 Prozent
        des Derivatemarktes? In der EMIR-Verordnung der
        Kommission habe ich jedenfalls Ausnahmen von der
        Clearingpflicht für große Teile der Realwirtschaft, für
        Pfandbriefbanken, Pensionsfonds, Lebensversicherun-
        gen und auch Landesbanken gefunden. Aus dem Markt
        höre ich, die Clearingpflicht werde sich zunächst auf be-
        stimmte Arten von Kreditausfallversicherungen sowie
        Zins-Swaps, also nur einen Teil des Marktes, konzentrie-
        ren.
        Die Frage des Umfangs der Clearingpflicht ist aber
        grundlegend und letztlich hochpolitisch. Denn vom An-
        teil künftig geclearter Derivate hängt ab, zu welchem
        Grad es gelingen wird, diesen billionenschweren Markt
        einem transparenten Preisfindungsmechanismus zuzu-
        führen. In den „dark pools“, in denen bisher relevante
        Teile des Handels stattfinden, bleibt transparente Preis-
        findung nämlich auf der Strecke. Einen Nutzen haben
        davon letztlich nur die wenigen Insider, weil sie aus den
        resultierenden Informationsvorteilen Profit schlagen
        können. Anderen Marktteilnehmern fehlen hingegen die
        sonst verfügbaren Preis- und Handelsinformationen. In
        der Folge wird der Marktprozess als Ganzes behindert –
        zulasten der Endkundinnen und Endkunden. Ferner
        frage ich mich: Wer erhält künftig überhaupt Einblick in
        die Transaktionsregister? Wie viele derartiger Register
        wird es geben? Wie wird technisch deren korrekte inter-
        nationale Konsolidierung sichergestellt?
        Es dürfte unstrittig sein, dass mit den Clearinghäusern
        neue „Risikoknoten“ systemischer Relevanz geschaffen
        werden. Bei der weiteren parlamentarischen Beratung
        dürfte vor diesem Hintergrund noch zu diskutieren sein,
        ob in der deutschen Umsetzung diesem neuen systemi-
        schen Risiko adäquat begegnet wird, und wie eigentlich
        die Behörden im Fall der Schieflage eines Clearinghau-
        ses vorgehen möchten. Mit der gerade erfolgten Ein-
        grenzung des Soffin auf die Kreditwirtschaft kommt das
        Finanzmarktstabilisierungsgesetz jedenfalls nicht mehr
        infrage. Werden daher die Clearinghäuser im Notfall Zu-
        gang zu Zentralbankliquidität erhalten?
        Auch werden wir noch kritisch hinterfragen, ob die
        Entscheidung der deutschen Bundesregierung eigentlich
        richtig war, die Aufsicht über die Clearinghäuser letzt-
        lich national zu organisieren. Ich habe da meine Zweifel.
        Das europäische Parlament forderte hier eine starke
        Rolle der ESMA. Denn Clearinghäuser werden grenz-
        überschreitendes Geschäft betreiben. Deshalb wäre hier
        eine grenzüberschreitende Aufsicht auch folgerichtig ge-
        wesen.
        Anlage 5
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung: Beschlussempfehlung und Be-
        richt zu dem Antrag: Für einen wirksamen
        Schutz und die Aufnahme syrischer Flüchtlinge
        in der Europäischen Union und in Deutschland;
        Beschlussempfehlung und Bericht zu dem An-
        trag: Flüchtlinge aus Syrien aufnehmen (Tages-
        ordnungspunkt 16)
        Helmut Brandt (CDU/CSU): Aus Anlass der anhal-
        tenden bewaffneten Auseinandersetzungen in Syrien soll
        nach den Anträgen der Fraktion Die Linke und der Frak-
        tion Bündnis 90/Die Grünen der Deutsche Bundestag die
        Bundesregierung auffordern, die Situation insbesondere
        syrischer Flüchtlinge durch diverse Maßnahmen zu ver-
        bessern. Es dürfte keine Überraschung sein, wenn ich Ih-
        nen sage, dass wir Ihre Anträge ablehnen.
        Ich wehre mich gegen den Eindruck, den Sie hier zu
        vermitteln versuchen, dass wir nicht genug Flüchtlinge
        aus Syrien aufnehmen oder nicht genug Unterstützung
        leisten. In Deutschland sind die Asylbewerberzahlen aus
        Syrien deutlich angestiegen. 2011 gab es insgesamt
        3 436 Anträge, von Januar bis September 2012 waren es
        5 156 Anträge. Das Bundesamt für Migration und
        Flüchtlinge gewährt syrischen Staatsangehörigen im
        Rahmen der Asylverfahren zumindest einen sofortigen
        Schutz in Form eines einjährigen Aufenthaltstitels, der
        verlängert werden kann. Zudem werden bundesweit be-
        reits seit Ende April 2011 keine Personen mehr nach Sy-
        rien abgeschoben. Am Rande bemerkt: Diese Situation
        stellt unsere Kommunen schon jetzt vor große logisti-
        sche Probleme. Die ersten Bundesländer sind bereits an
        ihre Kapazitätsgrenzen gestoßen, auch wegen der im
        Übrigen stark ansteigenden Asylbewerberzahlen.
        Nun zu einigen Ihrer Forderungen im Einzelnen.
        Die von Ihnen geforderte Unterstützung der Anrainer-
        staaten wird von uns bereits geleistet. Die Bundes-
        regierung hat bislang humanitäre Soforthilfe für die
        Flüchtlinge in der Region in Höhe von insgesamt
        23,3 Millionen Euro zur Verfügung gestellt und ist damit
        eines der größten Geberländer. Auch Einsatzkräfte des
        Technischen Hilfswerks leisten Hilfe in der Region.
        Weiterhin fordern Sie, dass wir in Absprache mit den
        anderen europäischen Staaten ein bedeutendes Kontin-
        gent syrischer Flüchtlinge aufnehmen. Wie ich eingangs
        sagte, werden derzeit keine Abschiebungen nach Syrien
        vorgenommen. Vor der aktiven Aufnahme von Flüchtlin-
        gen hat für die Bundesregierung und die CDU/CSU-
        Fraktion die Hilfe vor Ort Priorität. Denn die Flüchtlinge
        wollen dort gar nicht weg, weil sie die Hoffnung haben,
        dass die Kämpfe in absehbarer Zeit zu Ende gehen.
        Zudem beabsichtigen auch die anderen EU-Mitglied-
        staaten zurzeit keine Aufnahme von Flüchtlingen aus
        Syrien. Ein nationaler Alleingang ist nicht sinnvoll.
        Auch wenn eine Aufnahme rechtlich allein auf nationa-
        ler Ebene grundsätzlich möglich wäre, so wäre die
        Durchführung eines Aufnahmeverfahrens – Auswahl-
        24940 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012
        (A) (C)
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        missionen, Interviews mit Flüchtlingen, Transport –
        ohne Unterstützung des UNHCR logistisch sehr schwie-
        rig.
        Nun zu Ihrer Forderung, Visaanträge syrischer Staats-
        angehöriger, insbesondere von Familienangehörigen in
        Deutschland lebender Personen, schnell und wohlwol-
        lend zu bearbeiten. Die Auslandsvertretungen prüfen
        nach hiesiger Kenntnis jeden Einzelfall sorgfältig, müs-
        sen sich dabei aber an die geltende Rechtslage halten.
        Die Erteilung eines Kurzzeit-(Schengen-)Visums zu
        Besuchszwecken setzt unter anderem voraus, dass die
        Rückkehrabsicht des Antragstellers feststeht, er also
        nicht die Absicht hat, mithilfe eines Schengen-Visums
        nach Deutschland einzuwandern und sich hier niederzu-
        lassen. Angesichts der augenblicklichen Lage in Syrien
        wird die Rückkehrabsicht derzeit nur selten nachweisbar
        sein.
        Die Erteilung eines Langzeitvisums an Familienange-
        hörige außerhalb der Kernfamilie, also an Ehepartner
        und minderjährige Kinder, ist gemäß § 36 Abs. 2 Auf-
        enthaltsgesetz nur möglich, wenn dies zur Vermeidung
        einer außergewöhnlichen Härte erforderlich ist. Ungüns-
        tige Verhältnisse im Heimatstaat und ausschließlich hu-
        manitäre Gründe, die auf der Situation im Heimatstaat
        beruhen, sowie politische Verfolgungsgründe können
        nach der allgemeinen Anwendungspraxis nicht herange-
        zogen werden, um eine Härte im Sinne des § 36 Abs. 2
        zu begründen. Hiervon sollten wir auch nicht abweichen.
        Wir wollen kein Asyl durch die Hintertür.
        Nun zu Ihrer Forderung, sich für Regelungen einzu-
        setzen, mit denen der Studienaufenthalt hier lebender sy-
        rischer Studenten gesichert werden soll. Derzeit halten
        sich circa 2100 syrische Staatsangehörige mit Aufent-
        haltserlaubnissen nach § 16 und § 17 Aufenthaltsgesetz
        zum Studium, zur Promotion, zur Facharztausbildung
        etc. in Deutschland auf, die ihren Aufenthalt mit Stipen-
        dien oder privaten Mitteln aus Syrien finanzieren. Auf-
        grund der Situation in Syrien sind bei bislang 18 Perso-
        nen die Zahlungen ausgeblieben. Vorerst kann mit
        Mitteln des Auswärtigen Amtes über den Deutschen
        Akademischen Auslandsdienst in Einzelfällen geholfen
        werden. Dies kann aber keine dauerhafte Lösung sein, da
        der Zahlungsausfall bei weitaus mehr Personen zu er-
        warten ist.
        Vorrangiges Ziel ist, die syrischen Staatsangehörigen
        in dem bestehenden Aufenthaltsstatus zu belassen und
        ihnen Möglichkeiten der Erwerbstätigkeit neben dem
        Studium anzubieten. In den Fällen, in denen eine eigen-
        ständige Lebensunterhaltssicherung dennoch nicht erfol-
        gen kann, wird das Bundesinnenministerium den Län-
        dern vorschlagen, über eine Länderanordnung nach § 23
        Abs. 1 Aufenthaltsgesetz einen Aufenthaltstitel zu ertei-
        len, der dann zum Bezug von BAföG berechtigt.
        Abschließend möchte ich noch ein paar Worte zu Ih-
        rer Forderung, das mit der Syrischen Arabischen Repu-
        blik geschlossene Rücknahmeabkommen aufzukündi-
        gen, sagen. Das bilaterale Rückübernahmeabkommen
        mit Syrien beschränkt sich, wie andere Rückübernahme-
        abkommen auch, auf rein prozedurale Regelungen und
        konkretisiert verfahrensmäßig die ohnehin bestehende
        völkergewohnheitsrechtliche Verpflichtung zur Rück-
        übernahme eigener Staatsangehöriger. Es verpflichtet je-
        doch weder die für Abschiebungen zuständigen Bundes-
        länder zur Durchführung von Abschiebungen, noch
        hindert es sie daran, Abschiebungen in Gefährdungssitua-
        tionen auszusetzen. Die im deutschen Ausländerrecht
        vorgesehenen Möglichkeiten zur Aussetzung einer Ab-
        schiebung unter humanitären und menschenrechtlichen
        Aspekten werden von dem Abkommen in keiner Weise
        berührt oder gar eingeschränkt.
        Die Innenministerkonferenz hat im März 2012 be-
        schlossen, Abschiebungen nach Syrien für die Dauer
        von sechs Monaten auszusetzen, und die Länder aufge-
        fordert, umgehend einen Abschiebungsstopp anzuord-
        nen. Der Bundesminister des Innern hat mittlerweile auf
        entsprechende Bitte des Vorsitzenden der Innenminister-
        konferenz sein Einvernehmen mit einer Verlängerung
        der Aussetzung der Abschiebung nach Syrien um wei-
        tere sechs Monate erklärt. Daher sehe ich für eine Kün-
        digung des Abkommens keine Veranlassung. Überdies
        hege ich immer noch die Hoffnung, dass dieser Bürger-
        krieg in absehbarer Zeit endet. Dann aber werden wir
        das Abkommen brauchen.
        Ich bin überzeugt, dass die Bundesregierung die ak-
        tuelle Situation aufmerksam verfolgt. Sollte es künftig
        einer Aufnahme von syrischen Flüchtlingen bedürfen,
        werden wir in Absprache mit dem UNHCR und unseren
        europäischen Partnern unsere Verantwortung wahrneh-
        men.
        Ich weise jedoch schon jetzt darauf hin, dass, falls
        Deutschland sich zu einem späteren Zeitpunkt zu einem
        Aufnahmeprogramm entschließt, angesichts der Dimen-
        sion des syrischen Flüchtlingsproblems kein Resett-
        lement im technischen Sinn, also keine dauerhafte Auf-
        nahme in Deutschland, in Betracht kommen wird.
        Möglich wäre vielmehr eine vorübergehende humanitäre
        Aufnahme für die Dauer des Konfliktes in Syrien.
        Ute Granold (CDU/CSU): Wir debattieren heute
        über zwei Anträge der Fraktionen Die Linke und Bünd-
        nis 90/Die Grünen zur Situation der syrischen Flücht-
        linge. Sie sprechen damit ein Thema an, das mich gerade
        als Menschenrechtspolitikerin sehr beschäftigt. So hatte
        ich die Gelegenheit, im Rahmen einer Delegationsreise
        Flüchtlingslager in Jordanien und im Libanon zu besu-
        chen und dort mit syrischen Flüchtlingen zu sprechen.
        Lassen Sie mich zu Beginn noch einmal die Dimen-
        sion des Leides der syrischen Bevölkerung in Erinne-
        rung rufen: Mehr als 3 Millionen Menschen sind in Sy-
        rien von den Kämpfen betroffen. Über 360 000 Syrer
        sind bereits in die Nachbarländer Libanon und Jordanien
        sowie in den Irak und in die Türkei geflohen. Der Sy-
        rien-Koordinator des UN-Flüchtlingshilfswerks, Panos
        Moumtzis, hat davor gewarnt, dass die Zahl der Flücht-
        linge bis zum Jahresende auf 700 000 ansteigen könnte.
        Der herannahende Winter wird die humanitäre Lage in
        der Region weiter verschärfen.
        Doch was ist nun zu tun, um diesen Menschen in Not
        am besten zu helfen? Lassen Sie mich Ihnen erläutern,
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012 24941
        (A) (C)
        (D)(B)
        warum die von der Opposition in den beiden Anträgen
        geforderte umfangreiche Aufnahme von syrischen Flücht-
        lingen in Deutschland und in der EU zum jetzigen Zeit-
        punkt nach meiner Auffassung nicht der richtige Weg ist.
        In meinen Gesprächen mit syrischen Flüchtlingen vor
        Ort und mit Vertretern von Hilfsorganisationen und Kir-
        chen hier in Deutschland habe ich den Eindruck gewon-
        nen, dass die große Mehrheit der Betroffenen in der Re-
        gion bleiben und möglichst bald wieder in ihre Heimat
        zurückkehren will. Wir sollten daher diesen Wunsch der
        Flüchtlinge, nahe der Heimat zu bleiben, respektieren
        und zunächst Unterstützung vor Ort leisten.
        Darüber hinaus muss klar sein, dass die von der Op-
        position geforderten umfangreichen Resettlementpro-
        gramme Fakten schaffen würden, die ungewollt dem
        Assad-Regime in die Hände spielen könnten.
        Auch der UNHCR hat bislang nicht zur Aufnahme
        syrischer Flüchtlinge außerhalb der Region aufgerufen
        und konzentriert seine Anstrengungen auf eine Verbesse-
        rung der Situation der Flüchtlinge in den Nachbarstaaten
        Syriens.
        Deshalb steht für uns zurzeit die humanitäre Hilfe vor
        Ort im Zentrum des deutschen Engagements. Die Bun-
        desrepublik hat ihre Hilfen für die Opfer des Syrien-
        Konflikts um 12 Millionen Euro auf insgesamt 67,3 Mil-
        lionen Euro aufgestockt. Wir sind damit eines der größ-
        ten Geberländer. Von den 67,3 Millionen Euro werden
        30,3 Millionen Euro durch das Auswärtige Amt für hu-
        manitäre Hilfe in Syrien und für die Versorgung der
        Flüchtlinge in den Nachbarländern finanziert. Auch
        Einsatzkräfte des Technischen Hilfswerks sind im Ein-
        satz und leisten Hilfe. So unterstützt das THW das
        Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen bei der
        Wasserversorgung sowie beim Aufbau der Sanitärver-
        sorgung von Flüchtlingslagern in Jordanien. Dieser Bei-
        trag des THW zur Versorgung der Flüchtlinge wird vom
        Auswärtigen Amt finanziert. Außenminister
        Westerwelle hat unseren Partnern in der Region, allen
        voran der Türkei, signalisiert, dass Deutschland den sy-
        rischen Nachbarländern auch weiterhin bei der Bewäl-
        tigung des Flüchtlingsstromes helfen wird.
        Die syrisch-orthodoxe Kirche in Deutschland und der
        Jesuitenflüchtlingsdienst in der Region Mittlerer Osten
        und Nordafrika haben mir davon berichtet, dass vor al-
        lem die syrischen Christen der verschiedenen Konfessio-
        nen oftmals zwischen die Fronten der Konfliktparteien
        geraten und so von Hilfsmaßnahmen abgeschnitten wer-
        den. Deshalb müssen wir besonders darauf achten, dass
        die von Deutschland in Syrien geleistete humanitäre
        Hilfe auch für alle Hilfsbedürftige uneingeschränkt zu-
        gänglich ist.
        Durch die Aufnahme einer wachsenden Zahl von
        Asylbewerbern leistet Deutschland darüber hinaus be-
        reits einen zusätzlichen Hilfsbeitrag. So sind die Asylbe-
        werberzahlen aus Syrien deutlich angestiegen: Während
        2011 insgesamt 3 436 Anträge verzeichnet wurden, sind
        von Januar bis September 2012 bereits 5 267 Anträge
        gestellt worden, davon 3 721 Erstanträge und 1 546 Fol-
        geanträge.
        Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ge-
        währt syrischen Staatsangehörigen im Rahmen der Asyl-
        verfahren subsidiären Schutz. Zudem werden bundesweit
        seit Ende April 2011 auf Beschluss der Innenminister-
        konferenz hin keine Personen mehr nach Syrien abge-
        schoben.
        Die Bundesregierung geht davon aus und erwartet,
        dass die Mitgliedstaaten der EU bei der Durchführung
        von Asylverfahren die Rechtsakte zum EU-Flüchtlings-
        recht und die Gewährleistungen des internationalen und
        europäischen Rechts einhalten. Dazu gehören insbeson-
        dere die Einhaltung der Europäischen Menschenrechts-
        konvention und der Genfer Flüchtlingskonvention. Da-
        her besteht mit Ausnahme von Griechenland, an das
        derzeit ohnehin keine Dublin-Überstellungen erfolgen,
        und Malta, wohin keine besonders schutzbedürftigen
        Personen überstellt werden, keine Veranlassung, Über-
        stellungen syrischer Asylbewerber in andere Dublin-
        Staaten auszusetzen.
        Zunächst ist es also richtig, dass Deutschland und
        seine internationalen Partner versuchen, die Probleme
        vor Ort zu lösen, weil die ganz überwiegende Zahl der
        geflohenen Syrer in der Nähe ihrer Heimat bleiben und
        so schnell wie möglich zurückkehren möchte. Allerdings
        müssen wir die Lage weiterhin intensiv beobachten.
        Auch wenn im Augenblick eine Flüchtlingsaufnahme
        noch nicht ansteht, kann sich dies – wie von mir
        erläutert – bei gemeinsamen, abgestimmten Initiativen
        von UNHCR und EU ändern.
        Wie Sie sehen, arbeiten die Koalitionsfraktionen und
        die Bundesregierung intensiv daran, die syrischen
        Flüchtlinge zu unterstützen. Diesen Weg werden wir
        auch in Zukunft konsequent bestreiten. Vor diesem Hin-
        tergrund lehnen wir beide Anträge der Opposition ab.
        Rüdiger Veit (SPD): Heute befinden sich nach An-
        gaben des Auswärtigen Amtes 340 000 Menschen aus
        Syrien auf der Flucht. Doch wie viele es genau sind,
        können wir nicht wissen. Stündlich werden es mehr.
        Viele der Flüchtlinge sind vor den Gewalttaten und
        Kampfhandlungen in ihrer Heimat in Nachbarländer ge-
        flohen. Die Türkei hat bislang rund 100 000 Flüchtlinge
        aufgenommen; zuvor hatte sie immer angekündigt, bei
        Erreichen dieser Marke die Grenzen zu schließen. Auch
        der Libanon hat nach Angaben des Auswärtigen Amtes
        bis zu 100 000 Syrer aufgenommen. Andere Syrer sind
        nach Jordanien und in den Nordirak geflohen. Die Tür-
        kei hat mit der Unterbringung und Versorgung der
        Flüchtlinge bislang Großes geleistet. Im Libanon wird
        den Flüchtlingen keine Infrastruktur zur Verfügung ge-
        stellt. In Jordanien werden sie in Camps untergebracht.
        Im Nordirak wird es nach Angaben der EKD bald mehr
        Flüchtlinge als Nordiraker geben.
        Ein Ende der Kampfhandlungen ist nicht abzusehen.
        Angesichts des Flüchtlingselends und des Ausmaßes der
        Katastrophe muss gehandelt werden, und zwar sofort.
        Natürlich wäre ein innerhalb der EU abgestimmtes ge-
        meinsames Vorgehen am besten. Aber wenn das nicht so
        schnell zu haben ist, dann muss Deutschland mit gutem
        24942 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012
        (A) (C)
        (D)(B)
        Beispiel und im Sinne der dringend gebotenen Linde-
        rung von konkreter Not vorangehen.
        Wie die Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die
        Grünen sind auch wir dafür, neben der notwendigen Un-
        terstützung der Anrainerstaaten bei der Versorgung vor
        Ort syrische Flüchtlinge in Deutschland aufzunehmen.
        Wir halten es dabei für notwendig, drei Gruppen zu un-
        terscheiden:
        Erstens gibt es die Gruppe der Flüchtlinge, die aus an-
        deren Ländern wie zum Beispiel dem Irak oder Somalia
        ursprünglich nach Syrien als Flüchtlinge gekommen sind
        und jetzt aufgrund der Entwicklung in Syrien selbst wei-
        terfliehen müssen. Für diese Flüchtlingsgruppe brauchen
        wir dringend ein Resettlementprogramm.
        An dieser Stelle möchte ich sagen, dass wir schon
        lange für den Aufbau von langfristigen Resettlementpro-
        grammen mit einem bestimmten Kontingent sind. Be-
        grüßenswert ist daher dem Grunde nach der Beschluss
        der Innenministerkonferenz vom 8. und 9. Dezember
        2011 über den Einstieg Deutschlands in ein institutiona-
        lisiertes Resettlementprogramm. In diesem Rahmen ist
        in den Jahren 2012 bis 2014 die Aufnahme von 300 Per-
        sonen pro Jahr vorgesehen. 300 Menschen, das sind mei-
        ner Ansicht nach zu wenige. Angesichts unseres Wohl-
        stands und unserer wirtschaftlichen Lage als führende
        Nation in Europa ist es unsere Pflicht, das Elend und die
        Not von entwurzelten Flüchtlingen konkret zu lindern.
        Ich könnte mir daher europaweit sehr gut die Aufnahme
        von rund 100 000 Flüchtlingen pro Jahr vorstellen.
        Zweitens gibt es eine Gruppe von Flüchtlingen, die in
        Deutschland lebende Verwandte hat. Hier sollten die
        Einreisebestimmungen erheblich erleichtert werden, um
        eine großzügige Familienzusammenführung in Deutsch-
        land zügig möglich zu machen.
        Drittens gibt es die Gruppe der aus politischen Moti-
        ven aus Syrien geflohenen Menschen. Für diese ist ein
        längerer Aufenthalt in Europa eher nicht das Ziel, da sie
        zum Teil ein Interesse daran haben, bei einer sich in Sy-
        rien ändernden Lage schnell in das Land zurückkehren
        zu können.
        Schon 2010 haben wir in unserem Antrag „Syrien –
        Abschiebungen beenden, politischen Dialog fortführen“
        auf Drucksache 17/525 die Bundesregierung aufgrund
        der massiven Verletzung von Menschenrechten in Syrien
        dazu aufgefordert, einen Abschiebestopp nach Syrien zu
        erlassen und das bilaterale Rückübernahmeabkommen
        mit Syrien zu kündigen. Das ist heute, zwei Jahre später,
        erst recht und weiterhin unsere Forderung, weil sich die
        Zustände dramatisch verschlechtert haben.
        Schließlich wollen und müssen wir uns im Rat der
        Europäischen Union dafür einsetzen, dass in allen Mit-
        gliedstaaten Abschiebungen nach Syrien ausgesetzt wer-
        den und eine europäische Lösung für die Flüchtlinge ge-
        funden wird.
        Der Umgang mit den Flüchtlingen aus Syrien war
        auch Thema des Rates der Justiz- und Innenminister am
        25. und 26. Oktober dieses Jahres in Luxemburg. Die
        Kommission erklärte, dass mehr als die Hälfte der bishe-
        rigen Hilfen für die Region von der Europäischen Union
        und den Mitgliedstaaten bereitgestellt worden sei. Auch
        wenn Deutschland und Schweden bisher rund 90 Prozent
        der syrischen Flüchtlinge innerhalb der Union aufge-
        nommen haben, sind wir genauso wie die Justiz- und
        Innenminister der EU der Ansicht, dass ein Massenzu-
        strom nach Europa nicht ausgeschlossen werden kann
        und man daher über die Gewährung von vorübergehen-
        dem Schutz nachdenken muss.
        In den von mir dargelegten Forderungen stimmen wir
        mit der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und zum Teil
        mit den Forderungen der Fraktion Die Linke überein.
        Die Kollegen und Kolleginnen der Fraktion Die Linke
        wollen über das hinaus jedoch ein dauerhaftes Bleibe-
        recht unabhängig von der Sicherung des Lebensunter-
        halts. Das ist zu weitgehend. Immerhin das Bemühen um
        die Sicherung des eigenen Lebensunterhalts sollte nach-
        gewiesen werden. Auch der Forderung nach einer unein-
        geschränkten Öffnung der Grenzen in der Europäischen
        Union können wir so nicht zustimmen.
        Wenn die Linke mir ihrer Forderung nach Öffnung
        der Grenzen allerdings auf das Problem des fehlenden
        legalen Zugangs in die Europäische Union für Schutzsu-
        chende zielt, so ist das in der Tat ein wichtiges Problem.
        Dies betrifft jedoch nicht nur syrische Flüchtlinge, son-
        dern Flüchtlinge allgemein. Hier brauchen wir eine Lö-
        sung für alle.
        Wenn wir auch nicht alle Positionen der Kolleginnen
        und Kollegen der Fraktion Die Linke teilen, so teilen wir
        doch ihr Grundanliegen. Wir werden uns ihrem Antrag
        gegenüber daher der Stimme enthalten. Dem Antrag der
        Fraktion Bündnis 90/Die Grünen werden wir zustim-
        men. Auch die Kolleginnen und Kollegen von FDP und
        CDU/CSU sollten dies tun. Angesichts der dramatischen
        Lage in Syrien hat es ja immerhin Gespräche zwischen
        Ihrem Fraktionschef Volker Kauder und dem Herrn In-
        nenminister gegeben, was doch ein Zeichen dafür ist,
        dass auch Sie sich um eine Lösung des Flüchtlingselends
        bemühen wollen.
        Auf dem Rat der Justiz- und Innenminister am 25. und
        26. Oktober 2012 in Luxemburg hat der Parlamentarische
        Staatssekretär Dr. Schröder zwar den Vorrang der Unter-
        stützung und des Verbleibs der Flüchtlinge vor Ort betont,
        jedoch unter bestimmten Umständen eine weitere Auf-
        nahme von Flüchtlingen nicht ausgeschlossen. Anfang
        letzter Woche sagte der Kollege Ruprecht Polenz bei
        Phoenix – vor Ort, er begrüße Überlegungen, syrische
        Bürgerkriegsflüchtlinge bei Angehörigen in Deutschland
        aufzunehmen: „Es wäre eine Möglichkeit, wirklich zu
        prüfen, ob man diese Art der vorübergehenden Familien-
        zusammenführung nicht ermöglichen könnte. Das würde
        wahrscheinlich auch ein paar tausend Syrern helfen, und
        sie wären hier bei ihren Familienangehörigen in Deutsch-
        land untergebracht.“ Dann lassen Sie uns das machen.
        Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): Die Menschen-
        rechtslage in Syrien hat sich in den vergangenen Mona-
        ten dramatisch verschärft. Die syrische Regierung be-
        kämpft ihr eigenes Volk. Der Bürgerkrieg bedroht alle
        Menschen in dem Land.
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012 24943
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        Schon zuvor gab es erhebliche Probleme: Meinungs-
        und Versammlungsfreiheit waren nicht gegeben, die In-
        landsopposition starken Repressionen ausgesetzt. Dies hat
        die Bundesregierung ebenso wie ihre Vorgängerin deut-
        lich benannt.
        Deshalb hat der Bundesinnenminister schon seit län-
        gerem den zuständigen Ländern empfohlen, derzeit nicht
        nach Syrien abzuschieben.
        Die FDP unterstützt die konsequente Haltung des
        Bundesinnenministers. Mehr kann auch eine Aufkündi-
        gung des Rückübernahmeabkommens nicht bewirken.
        Das Abkommen war bereits in Zeiten der Verhand-
        lung heftiger Kritik ausgesetzt. Flüchtlingshilfeorganisa-
        tionen haben Abschiebungen nach Syrien schon früher
        generell abgelehnt. Es war die Vorgängerregierung mit
        Vizekanzler Steinmeier, die sich dennoch für ein Ab-
        kommen mit Syrien entschieden hat.
        Wir alle hoffen, dass der Bürgerkrieg in Syrien mög-
        lichst bald beendet wird.
        Die Kündigung des Abkommens könnte auch so ver-
        standen werden, dass wir nicht mehr an einen baldigen
        Frieden in Syrien glauben. Wir sollten, meine ich, alles
        vermeiden, was als Zeichen der Hoffnungslosigkeit ge-
        deutet werden könnte.
        An der Sachlage, dass wir nicht nach Syrien abschie-
        ben, ändert sich durch die geforderte Kündigung ohne-
        hin nichts. Der Bundesaußenminister hat klargemacht,
        dass aktuell Hilfe vor Ort Priorität für die Bundesregie-
        rung hat. Gleichzeitig hat er klargestellt, dass die Auf-
        nahme syrischer Flüchtlinge in Deutschland nicht vom
        Tisch ist. Diese Haltung unterstützen wir nachdrücklich.
        Auch die Bundesjustizministerin hat durch ihren Be-
        such in einem Flüchtlingslager in der Türkei in der letz-
        ten Woche gezeigt, dass die Bundesregierung keines-
        wegs – wie in den Oppositionsanträgen suggeriert –
        wegschaut. Ganz im Gegenteil hat sie genau hingesehen
        und ebenfalls eine Aufnahme von Flüchtlingen in der
        EU nicht ausgeschlossen.
        Auch UNHCR hat mittlerweile einen Aufruf gestartet
        und um Hilfe gebeten: Es gibt auch Flüchtlinge aus Sy-
        rien, die bereits in Syrien Flüchtlinge waren – Personen
        aus Somalia oder dem Irak, die nun ein doppeltes Verfol-
        gungsschicksal haben. Bei dieser Personengruppe sollte
        der Bundesinnenminister zusammen mit seinen Länder-
        kollegen in der Tat genauer hinsehen. Vielleicht bietet es
        sich an, das Resettlement-Kontingent entsprechend zu
        nutzen? Wir würden sie unterstützen.
        Der Ansatz der Bundesregierung ist richtig, den Men-
        schen nach Möglichkeit vor Ort zu helfen. Denn entge-
        gen dem, was auch von den Kolleginnen und Kollegen
        suggeriert wird, wünschen sich die meisten Flüchtlinge
        nicht eine Aufnahme in Deutschland, sondern eine
        Rückkehr in ein friedliches Syrien.
        Die Bundesregierung hilft mit 25 Millionen Euro zur
        Linderung der Not. Selbstverständlich greift bei persön-
        licher Verfolgung auch das geltende deutsche Recht.
        Für die FDP steht auch weiterhin die persönliche
        Schutzbedürftigkeit eines Flüchtlings im Vordergrund,
        nicht kollektive Gruppenmerkmale wie etwa die Reli-
        gionszugehörigkeit. Religiöse Verfolgung kann ein Grund
        für Schutzbedürftigkeit sein, ist aber sicher nicht der ein-
        zige.
        Selbstverständlich wird die Bundesregierung bei ei-
        ner Verschärfung der Lage gemeinsam mit den europäi-
        schen Partnern handlungsbereit sein. Die Dimensionen
        des Konflikts machen ohnehin eine enge internationale
        Abstimmung in EU und VN erforderlich.
        Wir Liberalen setzen uns dafür ein, die Entwicklung
        sensibel zu begleiten und im Zweifelsfall nicht primär
        einer Umsiedlungsideologie zu folgen, sondern dem
        praktisch und akut humanitär Gebotenen.
        Ulla Jelpke (DIE LINKE): Derzeit befinden sich
        schätzungsweise 400 000 Menschen aus Syrien auf der
        Flucht. Die meisten haben in den umliegenden Staaten
        Zuflucht gefunden, nur etwa 20 000 sind nach Europa
        gekommen. Davon befinden sich 5 500 in Deutschland.
        Viele warten allerdings noch auf ihre Entscheidung im
        Asylverfahren. Im Schnitt müssen sie derzeit fünf Mo-
        nate warten. Das ist aus Sicht der Fraktion Die Linke
        viel zu lang. Sie alle werden Flüchtlingsschutz erhalten,
        die Anerkennungsquote liegt derzeit bei 97 Prozent.
        Deshalb sollten die Verfahren deutlich beschleunigt wer-
        den. Es ist im Übrigen unglaublich demagogisch, wenn
        derzeit von den Innenministern der Union darauf verwie-
        sen wird, dass durch die vorgezogene Behandlung von
        aussichtslosen Asylanträgen aus Serbien und Mazedo-
        nien die syrischen Asylsuchenden noch länger warten
        müssen. Die Zunahme von Asylsuchenden aus Syrien
        war seit Monaten absehbar, ebenso die Zunahme aus
        dem Westbalkan. Das Bundesamt für Migration und
        Flüchtlinge hätte rechtzeitig seine Ressourcen entspre-
        chend planen können. Stattdessen machen Sie die
        Schutzsuchenden zu Opfern des Behördenchaos in der
        Bundesrepublik.
        In den vergangenen Wochen wurde von der EU-
        Grenzschutzagentur Frontex und Griechenland mit Stolz
        verkündet, dass die griechisch-türkische Landgrenze am
        Fluss Evros erfolgreich dichtgemacht ist. Dafür begeben
        sich die Flüchtlinge nun auf deutlich gefährlichere Rou-
        ten über das Meer. Mit dieser Grenzsicherung auf Kos-
        ten der Flüchtlinge muss Schluss sein. Die europäischen
        Grenzen müssen offengehalten werden. Das ist eine
        klare Verpflichtung aus der Genfer Flüchtlingskonven-
        tion. Dafür muss sich die Bundesregierung einsetzen,
        statt noch mehr eigenes Personal zur Grenzsicherung
        nach Griechenland zu schicken.
        Seit Monaten fordern Pro Asyl und andere Flücht-
        lingsorganisationen, ein Programm zur Aufnahme be-
        sonders schutzbedürftiger Flüchtlinge aus den Anrainer-
        staaten Syriens zu starten, ein sogenanntes Resettlement.
        Der Bundesinnenminister wies diese Forderung zurück.
        Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen habe
        noch kein Resettlement-Programm beschlossen, so der
        Minister. Das dürfte sich bald ändern, die Vorbereitun-
        gen des UNHCR laufen schon. Wenn der UNHCR zur
        24944 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012
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        Aufnahme von Flüchtlingen aufruft, müssen die EU-
        Staaten dazu umgehend in der Lage sein. Das ist ein
        wichtiges Signal der Solidarität an die Flüchtlinge und
        an die syrischen Anrainerstaaten, die bislang die ganze
        Last der Flüchtlingsaufnahme tragen. Doch dazu haben
        die Innenminister der EU bei ihrem Treffen Ende Okto-
        ber in Brüssel kein Wort verloren. Der gemeinsamen
        Asylpolitik der EU-Staaten haben sie einen weiteren
        Schandfleck hinzugefügt.
        Es ist selbstverständlich begrüßenswert, wenn die
        Bundesregierung die Nachbarstaaten Syriens bei der
        Flüchtlingsaufnahme finanziell unterstützt. Pünktlich zu
        dieser Debatte wurde die Hilfe auf 67 Millionen Euro
        aufgestockt, was die Redner der Koalition hier sicherlich
        ausführlich würdigen werden. Das darf aber keine Aus-
        rede dafür sein, keine Menschen aufzunehmen, die zu-
        nächst in diese Staaten geflohen sind. Bei den Resettle-
        ment-Programmen des UNHCR geht es um die
        Menschen, für die überfüllte Flüchtlingslager vollkom-
        men ungeeignet sind, die Erholung und psychologische
        oder medizinische Betreuung brauchen. Es geht um
        Traumatisierte, um alleinstehende Frauen und Kinder,
        um Verletzte und Kranke. Ihnen ist mit ein paar klimati-
        sierten Zelten oder Decken nicht geholfen. Sie brauchen
        eine Perspektive außerhalb dieser Lager, in denen die
        Lebensbedingungen sich durch den nahenden Winter
        noch einmal rapide verschlimmern werden. Diese Per-
        spektive wollen wir ihnen bieten. Ich bitte Sie daher alle,
        unserem Antrag zuzustimmen.
        Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Im
        März 2011 hat die syrische Freiheitsbewegung ihren An-
        fang genommen. Seit nunmehr 19 Monaten schlägt das
        syrische Regime jeden Protest für Menschenrechte und
        Demokratie mit brutaler Gewalt nieder. Die systemati-
        sche Gewalt gegen Zivilisten ist ein Verbrechen gegen
        die Menschlichkeit und ein Kriegsverbrechen. Der syri-
        sche Präsident Bashar al-Assad befehligt die Bombardie-
        rung von Wohngebieten, die Tötung von unschuldigen
        Zivilisten und Demonstranten, verhindert den Zugang zu
        humanitärer Hilfe und billigt offenbar Folter, sexuelle
        Gewalt und Misshandlungen, auch an Kindern.
        Syrerinnen und Syrer zahlen einen hohen Preis für ih-
        ren Wunsch nach Freiheit, Menschenrechten und Demo-
        kratie. Bisher sind nach Angaben der Vereinten Nationen
        mehr als 30 000 Menschen während des gewaltsamen
        Konflikts in Syrien ums Leben gekommen. 1,2 Millio-
        nen Menschen sind in Syrien auf der Flucht. Über
        360 000 Menschen mussten das Land verlassen. Das
        UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR geht davon aus, dass
        bis zum Ende diesen Jahres die Zahl von syrischen
        Flüchtlingen auf 710 000 anwachsen wird.
        Ein Lösung des Bürgerkrieges in Syrien ist in abseh-
        barer Zeit leider nicht in Sicht. Ein militärisches Eingrei-
        fen würde die Situation der Menschen in Syrien vermut-
        lich nur verschlimmern. Im Rahmen der humanitären
        Hilfe ist jedoch noch vieles möglich. Die Vereinten Na-
        tionen – insbesondere UN OCHA und der UNHCR –
        und das Internationale Komitee vom Roten Kreuz benö-
        tigen die Unterstützung der internationalen Gemein-
        schaft. Wir müssen dauerhafte Lösungen für die Flücht-
        linge aus Syrien finden.
        Die Türkei, Jordanien, der Libanon und Irak stoßen
        mit der Aufnahme und Versorgung der syrischen Flücht-
        linge an ihre Grenzen. Diese vier Staaten allein haben
        bisher 355 162 Flüchtlinge aufgenommen. Bei solchen
        Zahlen frage ich mich, wo wir in Deutschland mit unse-
        ren Maßstäben bleiben, wenn Bundesinnenminister
        Friedrich zum Beispiel bei 1 500 Asylanträgen aus Ser-
        bien und Mazedonien im September 2012 aufschreit und
        auf dem Rücken dort und hier diskriminierter Roma und
        Sinti eine hysterische Asyldebatte lostritt.
        In unserem Antrag fordern wir die Bundesregierung
        auf, die Anrainerstaaten Syriens bei der Aufnahme und
        Versorgung syrischer Flüchtlinge zu unterstützen. Wir
        begrüßen es, dass Bundesaußenminister Westerwelle
        gestern in New York den Vereinten Nationen weitere
        12 Millionen Euro für die Syrien-Hilfe zugesagt hat. An-
        gesichts des bevorstehenden Winters ist diese Hilfe bit-
        ter nötig. Bisher sind nur 29 Prozent des Hilfeplans der
        Vereinten Nationen für syrische Flüchtlinge finanziert.
        Die Bundesregierung ist auch aufgefordert, Flücht-
        linge aus Syrien in Deutschland aufzunehmen. Die türki-
        sche „Politik der offenen Türen“ ist richtig. Daran soll-
        ten sich alle EU-Staaten ein Beispiel nehmen – auch
        Deutschland. Mehr als 360 000 syrische Flüchtlinge
        können nicht alle auf Dauer in Lagern in der Türkei, Jor-
        danien, dem Libanon oder Irak leben. Besonders für
        Kinder ist die Situation dort schwierig. Die Bundesregie-
        rung sollte sich mit den aufnehmenden Anrainerstaaten
        und mit den Flüchtlingen solidarisch zeigen und Syrerin-
        nen und Syrern in Deutschland Schutz gewähren.
        Es gibt auch Syrerinnen und Syrer, die von ihren An-
        gehörigen nach Deutschland eingeladen werden. Für sie
        muss die Visumsvergabe deutlich erleichtert werden, da-
        mit sie wenigstens für eine Zeit lang Schutz in Deutsch-
        land finden. Dies hat jüngst auch Integrationsbeauftragte
        Maria Böhmer gefordert.
        Das deutsch-syrische Rücknahmeabkommen sollte
        sofort aufgekündigt werden. Jedes völkerrechtliche Ab-
        kommen mit Syrien gibt Bashar al-Assad eine Legitima-
        tion, die er nicht verdient.
        Für die in Deutschland lebenden syrischen Flücht-
        linge, die bereits vor dem Krieg nach Deutschland geflo-
        hen sind, besteht zur Zeit zwar ein Abschiebestopp, der
        bis März 2013 verlängert wurde, sie leben hier aber nur
        unter Duldung. Das ist inakzeptabel. Sie müssen einen
        rechtmäßigen Aufenthaltstitel bekommen.
        Ich möchte hier auch die Gelegenheit ergreifen, das
        Resettlement-Programm der Bundesregierung zu erwäh-
        nen. Wir begrüßen es ausdrücklich, dass auf der Innen-
        ministerkonferenz vor ungefähr einem Jahr beschlossen
        wurde, in den nächsten drei Jahren jeweils 300 Flücht-
        linge dauerhaft in Deutschland aufzunehmen. Wir mei-
        nen aber, dass Deutschland mehr kann und diese Zahl
        angesichts der vom UNHCR gesuchten 172 000 Resettle-
        ment-Plätze für das Jahr 2012 beschämend gering ist.
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012 24945
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        Unter Resettlement versteht man die dauerhafte Neu-
        ansiedlung besonders verletzlicher Flüchtlinge in einem
        zur Aufnahme bereiten Drittstaat. Bisher gibt es inner-
        halb der EU nur 4 100 Resettlement-Plätze. Die USA
        nimmt jedes Jahr 55 000 solcher Flüchtlinge aus Erstzu-
        fluchtsländern auf. Die bisher in Deutschland aufgenom-
        menen Resettlement-Flüchtlinge erhalten noch nicht ein-
        mal einen Flüchtlingsstatus im Sinne der Genfer
        Flüchtlingskonvention. Hier gibt es noch einigen Ver-
        besserungsbedarf.
        Es ist beschämend, dass Flüchtlinge kaum noch die
        Möglichkeit haben, Europa auf sicherem Weg zu errei-
        chen. Flüchtlinge gehen stattdessen lebensgefährliche
        Risiken ein, um vor Krieg und Verfolgung zu fliehen und
        Schutz in Europa zu finden. Letztes Jahr sind mehr als
        1 500 Flüchtlinge im Mittelmeer ertrunken oder verdurs-
        tet. 2011 war bisher das tödlichste Jahr in dieser Region
        seit Beginn der Aufzeichnungen des UN-Hochkommis-
        sars für Flüchtlinge im Jahr 2006. Dennoch gibt es kei-
        nerlei Anstrengungen der deutschen Bundesregierung,
        diese Situation zu beenden.
        Seit die Landgrenze zwischen der Türkei und Grie-
        chenland durch europäische Grenzsicherungsmaßnah-
        men kaum noch passierbar ist, wählen syrische Flücht-
        linge immer öfter die lebensgefährliche Route über das
        Mittelmeer, um Zuflucht in Europa zu finden. Anfang
        September ertranken 61 Menschen, die meisten von ih-
        nen Kinder, als ein Boot mit Ziel Lesbos auf Grund ging.
        Die Opfer waren fast alle Syrer. Keine Regierung, die
        Menschenrechte ernst nimmt, kann das mit ansehen.
        Eine Lösung zu finden, ist eine deutsche und europäi-
        sche Herausforderung.
        Aber europäische Maßnahmen dürfen nicht mit dem
        Schutz der Grenzen und dem Verbarrikadieren der „Fes-
        tung Europa“ beginnen. Es geht zuallererst um den
        Schutz von Leib und Leben der Flüchtlinge an der
        Grenze. Die Europäische Union mit ihrem Wertekanon
        und Deutschland mit seinem Grundgesetz können es sich
        nicht leisten, sehenden Auges die Menschen im Mittel-
        meer ertrinken zu lassen. Europa muss sich entschieden,
        der Tragödie zuzusehen oder zu helfen. Wenn wir nicht
        handeln, werden uns nachfolgende Generationen zu
        Recht vorwerfen, dass Deutschland zwar die Menschen-
        rechte weltweit gepredigt, beim Drama im Mittelmeer
        aber tatenlos zugesehen hat.
        Anlage 6
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
        Ergänzung des Geldwäschegesetzes (GwGErgG)
        (Tagesordnungspunkt 17)
        Peter Aumer (CDU/CSU): Die Geldwäschepräven-
        tion in Deutschland ist und bleibt ein wichtiges Thema
        für die Sicherheit, Stabilität und Ordnung unseres gesell-
        schaftlichen Zusammenlebens. Wie die Berichterstat-
        tung in den Medien und der Ende Oktober von der BaFin
        und dem BKA vorgestellten Jahresbericht 2011 der
        Financial Intelligence Unit, FIU, zeigen, haben die Geld-
        wäscheverdachtsmeldungen im Jahr 2011 um 17 Prozent
        im Vergleich zum Vorjahr zugenommen. Diese Zahl
        macht deutlich, dass die Adressaten des Geldwäschege-
        setzes zunehmend sensibilisiert werden oder dies bereits
        sind. Unsere Aufsichtsbehörden nehmen hier eine wich-
        tige Rolle bei der Umsetzung und Einhaltung unserer
        Gesetze war.
        In den vergangenen Jahren haben wir eine Reihe neuer
        Regelungen zur Prävention und Bekämpfung von Geld-
        wäsche und Terrorismusfinanzierung auf den Weg ge-
        bracht. Immer wieder sind wir dabei auf neue Trends und
        technische Entwicklungen eingegangen, die Möglichkei-
        ten zur Geldwäsche eröffnet haben. Von zentraler Bedeu-
        tung ist dabei unser Gesetz zur Optimierung der Geldwä-
        scheprävention, das wir vor circa einem Jahr hier in
        diesem Hohen Hause verabschiedet haben. In diesem ha-
        ben wir vor allem die Geldwäschegefahren bei elek-
        tronischem Geld aufgegriffen. Die E-Geld-Industrie
        stellt eine stark wachsende Branche in Deutschland dar.
        Durch den immer weiter wachsenden e-Commerce sowie
        Online-Games und weitere zahlungspflichtige Angebote
        im Internet entwickelten sich diese Formen in den letzten
        Jahren immer weiter. Den positiven Effekten für den
        Kunden standen allerdings auch geldwäscherechtlich re-
        levante Risiken entgegen, denen wir mit diesem Gesetz
        begegneten. Durch höhere Identifizierungspflichten, ei-
        nem Verbot, mehrere Karten zu einer einzelnen Karte zu-
        sammenzuführen, und einer Beschränkung der Auszah-
        lung von E-Geld Karten begegneten wir umfangreichen
        Möglichkeiten zur Geldwäsche, hielten aber durch das
        Einziehen von Schwellenwerten die Benutzung für den
        „Normalkunden“ für praktikabel.
        Mit dem Gesetz zur Ergänzung des Geldwäschegeset-
        zes reagieren wir heute abermals auf einen in den letzten
        Jahren stark wachsenden Markt im Internet: dem Online-
        glücksspiel und den Onlinesportwetten. Nach Schätzun-
        gen der Europäischen Kommission lagen allein die Ein-
        nahmen der Onlineglücksspielanbieter innerhalb der Eu-
        ropäischen Union im Jahr 2008 bei über 6 Milliarden
        Euro. Die Kommission rechnet weiterhin, ausgehend
        von 2008, mit einer Verdopplung dieser Zahl bis zum
        kommenden Jahr. Das Onlineglücksspiel zählt somit zu
        einem der stark wachsenden Segmente im Onlinemarkt.
        In Deutschland war bis vor kurzem das Glücksspiel
        im Internet ausnahmslos verboten. Mit Auslaufen des
        Glücksspielstaatsvertrages aus dem Jahr 2007 und den in
        die Zuständigkeit der Länder fallenden Neuregelungen
        hat sich in diesem Bereich eine grundlegende Änderung
        ergeben. Als erstes Bundesland erlaubte das Land
        Schleswig-Holstein die Möglichkeit für Glücksspiel im
        Internet. Auch der Erste Glücksspieländerungsstaatsver-
        trag vom Dezember letzten Jahres eröffnet den unter-
        zeichnenden Ländern die Möglichkeit zur Erlaubnis der
        Veranstaltung und Vermittlung von Sportwetten im In-
        ternet.
        Ferner machte auch das öffentliche Fachgespräch, das
        wir vor kurzem im Finanzausschuss des Deutschen Bun-
        destages durchführten, deutlich, dass die Aufnahme des
        Onlineglücksspiels in das Geldwäschegesetz eine not-
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        wendige Maßnahme ist. Selbst die Vertreter der bisher in
        Deutschland lizensierten Anbieter begrüßten im Allge-
        meinen die Aufnahme ins Geldwäschegesetz. Mehrere
        Sachverständige bestätigten uns, dass Glücksspiel auf-
        grund seiner Struktur von beiden am Spiel teilnehmen-
        den Parteien dazu missbraucht werden kann, illegale
        Gelder reinzuwaschen. Auch die Vielzahl von Transak-
        tionen und die Möglichkeit, hohe Beträge in viele unauf-
        fälligere kleinere Einzelbeträge zu stückeln, macht das
        Online-Glücksspiel für Geldwäscher interessant.
        Durch das heute zu beschließende Gesetz zur Ergän-
        zung des Geldwäschegesetzes soll deshalb der Verpflich-
        tetenkreis zukünftig auf die Veranstalter und Vermittler
        von Glücksspielen im Internet erweitert werden. Diese
        Erweiterung wird durch Sorgfalts- und Organisations-
        pflichten ergänzt. Ferner werden für die die Glücks-
        spielaufsicht zuständigen Länderbehörden die notwendi-
        gen Aufsichtsbefugnisse geschaffen. Schließlich sieht
        der Gesetzentwurf entsprechende Bußgeldvorschriften
        zur Sanktionierung von Verstößen der Pflichtigen vor.
        Das Onlineglücksspiel darf somit kein rechtsfreier
        Raum sein. Auch hier ist sicherzustellen, dass Geldwä-
        sche wirksam bekämpft wird. Entsprechend den europäi-
        schen Vorgaben haben wir daher den Anwendungsbe-
        reich des Geldwäschegesetzes entsprechend erweitert.
        Für Veranstalter und Vermittler von Glücksspielen im In-
        ternet gelten also künftig spezielle Sorgfaltspflichten.
        Identifizierung und Verifizierung eines Spielers er-
        folgt durch eine elektronisch versandte Kopie eines Aus-
        weisdokumentes. Die Identifizierung kann somit in
        Echtzeit vor Begründung der Geschäftsbeziehung abge-
        schlossen und ein Spielerkonto sofort eröffnet werden.
        Verstärkte Sorgfaltspflichten können durch zusätzliche
        Sicherungsmaßnahmen nach Begründung der Geschäfts-
        beziehungen wie etwa Post-Ident oder auf der Grundlage
        von zusätzlichen Dokumenten, Daten oder Informatio-
        nen, die von einer glaubwürdigen und unabhängigen
        Quelle stammen und für die Überprüfung geeignet sind,
        erfolgen. Mit dieser Regelung wird erstmals eine me-
        dienbruchfreie und zugleich sehr sichere Identifizierung
        eines Kunden möglich.
        Eine weitere Hürde für Geldwäsche stellt in diesem
        Zusammenhang die Verwendung der Zahlungsmethode
        dar. So sind alle unbaren Zahlungsmethoden wie etwa
        eine Lastschrift oder Kartenzahlung für die Einzahlung
        auf ein Spielerkonto erlaubt, sofern es sich um ein ord-
        nungsgemäß identifiziertes Zahlungskonto des Spielers
        handelt. Davon kann bei der Führung eines Zahlungs-
        kontos durch einen lizensierten Zahlungsdienstleister
        mit Sitz in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union
        ausgegangen werden. Die Verwendung anonymer Pro-
        dukte wie etwa Prepaid-Karten, auf denen E-Geld ge-
        speichert ist, ist somit ausgeschlossen.
        So stellt der Dreiklang aus Übersendung eines gülti-
        gen Ausweisdokumentes, der zusätzlichen Sicherungs-
        maßnahme nach Begründung der Geschäftsbeziehung
        und des vollidentifizierten Kontos, das auf den Namen
        des Spielers lauten muss, einen hohen Schutz vor Miss-
        brauch und damit zur Verhinderung von Geldwäsche dar.
        Gleichzeitig halten wir aber den bürokratischen Auf-
        wand gering und verhindern damit die Abwanderung ins
        illegale Geschäft.
        Abschließend möchte ich noch auf den in den Medien
        sowie im öffentlichen Fachgespräch angesprochenen
        Sachverhalt der Nichtaufnahme von Spielhallen in das
        Geldwäschegesetz ansprechen. Die CDU/CSU- und die
        FDP-Fraktion haben sich hier zu einer Klarstellung im
        Bericht der Berichterstatter entschieden: Der Vorschlag
        der Aufnahme in das GwG wurde im Gesetzentwurf der
        Bundesregierung nicht weiterverfolgt, weil verfassungs-
        rechtliche Zweifel bestehen, ob eine ausreichende Bun-
        deskompetenz für diese spielhallenrechtlich konzipierte
        Regelung vorhanden ist. Um das Geldwäscherisiko wei-
        ter zu reduzieren, hat sich die Bundesregierung stattdes-
        sen auf die Änderung der Spielverordnung geeinigt. Wir
        fordern die Länder jedoch auf, eine flächendeckende ge-
        werberechtliche Beaufsichtigung im Bereich der Spiel-
        hallen sicherzustellen, bei der auch die Ausübung eines
        Gewerbes von der zuständigen Behörde untersagt wer-
        den kann, wenn Tatsachen vorliegen, welche die Unzu-
        verlässigkeit des Spielhallenbetreibers oder einer mit der
        Leitung des Gewerbebetriebes beauftragten Person in
        Bezug auf dieses Gewerbe dartun. Darüber hinaus wer-
        den die Länder aufgefordert, die Umsetzung des Geld-
        wäschegesetzes weiterhin zu verbessern, um eine effek-
        tive Beaufsichtigung und Verhinderung von Geldwäsche
        im Nichtfinanzbereich zu gewährleisten. Damit bewegen
        wir uns in unseren rechtlichen Möglichkeiten. Nun ist es
        an den Ländern, eine kompetente Vollziehung des Geset-
        zes sowie eine funktionierende Aufsicht sicherzustellen.
        Die Erfolge der Umsetzung des Geldwäschegesetzes
        wollen wir weiterhin durch eine Evaluierung des Geset-
        zes vornehmen. Wir fordern daher die Bundesregierung
        und die Bundesländer auf, die Evaluation in dem festge-
        legten Rahmen durchzuführen; denn nur so können wir
        die Wirksamkeit unseres Gesetzes überprüfen.
        Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf greifen wir er-
        neut das Thema der Geldwäscheprävention in Deutsch-
        land auf und betonen abermals dessen Wichtigkeit. Die
        Koalition schließt damit eine noch bestehende Lücke in
        der Geldwäscheprävention. Die Geldwäschebekämp-
        fung wird dadurch konsequent ausgebaut, auch im Sinne
        der internationalen Standards. Wir machen damit deut-
        lich, dass für Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung
        in Deutschland kein Platz ist. Ich bitte Sie daher, dem
        Gesetz zuzustimmen.
        Martin Gerster (SPD): „Wenn ich Mafiosi wäre,
        würde ich in Deutschland investieren.“ Das Zitat von
        Roberto Scarpinato, der als Staatsanwalt intensiv mit
        dem Kampf gegen das international vernetzte organi-
        sierte Verbrechen kämpft, lässt aufhorchen.
        Wie zahlreiche andere Sachverständige hat auch er im
        Zuge der Anhörung zum vorliegenden Gesetzentwurf
        unterstrichen, dass unser Land gegenwärtig massiv im
        Visier von Kriminellen steht, die hierzulande Geld wa-
        schen wollen. Geld, das unter anderem aus Drogen-,
        Waffen-, und Menschenhandel, Betrug und illegalem
        Glücksspiel stammt und das in den legalen Geldkreislauf
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        eingespeist werden soll, um seine Herkunft zu verschlei-
        ern.
        Bis zu 57 Milliarden Euro im Jahr werden nach
        Schätzungen der OECD Jahr für Jahr in der Bundesrepu-
        blik gewaschen.
        Internationale Gremien, die sich dem Thema Geldwä-
        schebekämpfung widmen, thematisieren bereits seit län-
        gerem, dass mit dem Aufstieg der im Internet angebote-
        nen Glücks- und Kasinospiele auch ein massives
        Geldwäscherisiko einhergeht. Mittlerweile haben wir es
        hier mit einem viele Milliarden schweren Wirtschafts-
        zweig zu tun. Die Besonderheiten des Onlineumfelds,
        vor allem der fehlende persönliche Kontakt zwischen
        Spielern und Spielbetreibern, machen es findigen Krimi-
        nellen leicht, anonym Gelder zu transferieren und deren
        Spur zu verwischen.
        Bis vor kurzem war es in Deutschland nicht möglich,
        Onlineglücksspiele legal anzubieten, da der Glücksspiel-
        staatsvertrag dies ausschloss. Doch schon im vergange-
        nen Jahr war klar, dass sich dies mit dem Alleingang der
        abgewählten schwarz-gelben Landesregierung in Kiel
        ändern würde. Sie wollte Schleswig-Holstein auch virtu-
        ell zum Glücksspieleldorado machen – ohne Rücksicht
        auf Verluste.
        Vor dem Hintergrund dieser bedenklichen Entwick-
        lung haben wir seither konsequent auf die Notwendig-
        keit verwiesen, hier aktiv zu werden. Und obwohl klar
        abzusehen war, wie sich die Situation in Schleswig-Hol-
        stein entwickeln würde, spielte die Bundesregierung auf
        Zeit.
        Während in Kiel bereits im März erste Konzessionen
        vergeben werden sollten, verwies man von Regierungs-
        seite noch im Februar 2012 darauf, dass eine Überarbei-
        tung der europäischen Geldwäscherichtlinie anstehe und
        die Diskussion um die Ausführung des Glücksspiel-
        staatsvertrags abgeschlossen sei. Dann könne man im
        Forum Geldwäscheprävention diskutieren: „Das ange-
        sprochene Forum für Geldwäscheprävention wird sich
        mit Fragen des Onlineglücksspiels befassen, wenn erste
        Konzepte zur Ausführung dieses Staatsvertrags in den
        Ländern vorliegen bzw. von der Europäischen Kommis-
        sion gegenwärtig geprüfte Verschärfungen der geldwä-
        scherechtlichen Anforderungen an das Onlineglücks-
        spiel in einem Kommissionsvorschlag für eine vierte
        Geldwäscherichtlinie konturiert sind“, so die Antwort
        des Parlamentarischen Staatsekretärs Steffen Kampeter
        vom 14. Februar 2012.
        Mittlerweile wissen wir, dass das Thema Online-
        glücksspiel in der Überarbeitung der Geldwäscherichtli-
        nie voraussichtlich wohl nicht so klar geregelt wird, wie
        wir uns das wünschen. Seit Juli erlauben nun auch die
        restlichen Länder, Lotterien und bestimmte Formen von
        Onlinesportwetten über das Internet anzubieten. Insofern
        ist es vollumfänglich zu begrüßen, dass dieses Problem
        nun angegangen wird und die Anbieter von Online-
        glücksspielen als Verpflichtete in das GWG aufgenom-
        men werden.
        Erfolgreiche Geldwäscheprävention lebt davon, Geld-
        ströme nachvollziehbar zu halten und die an Transaktio-
        nen beteiligten Personen sowie die dahinter stehenden
        wirtschaftlichen Berechtigten klar identifizieren zu kön-
        nen. Hier geht das Gesetz in die richtige Richtung. Aber
        es geht nicht weit genug und in letzter Sekunde hat es
        Schwarz-Gelb sogar noch geschafft, die guten Ansätze
        zu verwässern.
        Wo ursprünglich eine frühzeitige und eindeutige Iden-
        tifikation vorgesehen war, wird nun ein zweistufiges
        Verfahren eingeführt, das die – ohnehin keineswegs un-
        problematische – Verifikation der potenziellen Spieler
        zeitlich hinter die Aufnahme der Geschäftsbeziehung
        mit dem Spieleanbieter verlagert. Dies erscheint uns
        nicht nur unter Aspekten der Geldwäscheprävention,
        sondern auch unter suchtpräventiven Aspekten nicht
        wünschenswert. Gerade die Debatte im Ausschuss war
        entlarvend, da es wieder die FDP war, die sich in ihren
        Beiträgen zum Sprachrohr der „Zockerlobby“ machte.
        Und das, obwohl die Partei im Umgang mit den
        Glücksspielanbietern erst in jüngster Zeit wenig For-
        tune hatte. So drängt sich auch hier der Verdacht auf,
        dass es bei der nachträglichen Änderung vor allem da-
        rum geht, die Hürden für eine Spielteilnahme zu senken
        und mehr Menschen mit den – mitunter hochgradig
        suchtgefährdenden – Onlinewetten in Kontakt zu brin-
        gen.
        Das zeigt ein Blick auf jene Aspekte, die der Gesetz-
        entwurf nicht angeht, obwohl sie auch in der Anhörung
        überdeutlich zur Sprache kamen. Als wir im Mai 2012
        bei der Bundesregierung nachfragten, ob denn durch die
        geänderte Lage in Schleswig-Holstein eine Regelung
        notwendig sei, antwortete uns die Bundesregierung:
        „Die Landesverordnung über die Genehmigung des
        Glücksspielbetriebs (Glücksspielgenehmigungsverord-
        nung – GGVO) vom 11. Januar 2012 beinhaltet alle er-
        forderlichen Instrumente für eine wirksame Verhinde-
        rung der Geldwäsche in diesem Aufsichtssektor.“
        Mittlerweile wissen wir: Die Bundesländer geben
        offen zu, dass sie sich mit der Beaufsichtigung des
        Nichtfinanzsektors tendenziell überfordert sehen. Die
        Stellungnahme des Bundesrates zum vorliegenden Ge-
        setzentwurf spricht da eine klare Sprache.
        Nun sollen sie zusätzlich die Aufsicht im Bereich On-
        lineglücksspiel übernehmen. Und ihre Behörden dürfen
        dank der Änderungsanträge der Koalition auch noch da-
        rüber entscheiden, ob überhaupt besondere Sorgfalts-
        pflichten anzuwenden sind, weil sie in bestimmten Be-
        reichen ein geringes Geldwäscherisiko vermuten.
        Es bleibt ein ungutes Gefühl, dass die seit langem be-
        kannten Probleme in Zukunft eher nicht abnehmen dürf-
        ten. Umso dringender stellt sich die Frage, wie die Pro-
        bleme einer mangelhaften Aufsicht im Nichtfinanzsektor
        endlich überwunden werden können. Wir unterstützen
        den gemeinsamen Appell, die Länder hier verstärkt mit
        ins Boot zu holen und eine transparente, strukturierte
        und effektive Aufsicht sicherzustellen. Leider konnte
        sich Schwarz-Gelb nicht entschließen, dieser Forderung
        durch Zustimmung zu unserem Entschließungsantrag im
        Ausschuss mehr Nachdruck zu verleihen.
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        Gerade mit Blick auf die Länder gilt es überdies anzu-
        merken, dass wir nach wie vor keine zufriedenstellende
        Lösung für den Umgang mit Spielhallen und Automa-
        tenkasinos haben. Die Mahnungen der Sachverständigen
        sollten deutlich gemacht haben, dass es noch immer
        dringend notwendig ist, auch im Sinne des Spieler- und
        Jugendschutzes eine effektive Gewerbeaufsicht der Be-
        treiber von Spielhallen sicherzustellen. Die angekün-
        digte Änderung der Spielverordnung und die Einführung
        einer personenungebundenen Spielerkarte sind keines-
        wegs der Weisheit letzter Schluss. Die Haltung der Bun-
        desregierung, die Aufnahme der Spielhallenbetreiber in
        das GWG aus verfassungssystematischen Gründen nicht
        weiterzuverfolgen, erscheint allerdings nachvollziehbar.
        Wir begrüßen ausdrücklich, dass sich auch die Koali-
        tionsfraktionen der Brisanz des Themas bewusst sind.
        Auch hier wurde jedoch die Gelegenheit vertan, durch
        die Zustimmung zu unserem Entschließungsantrag ein
        deutlicheres Signal in Richtung der Länder zu geben.
        Ein Gesetz voller verpasster Chancen. Insofern setzen
        wir als Sozialdemokraten auf Enthaltung.
        Björn Sänger (FDP): Das vorliegende Gesetz ist
        erstens erforderlich, weil die Verhinderung von Geldwä-
        sche im Onlineglückspielsektor ein übergeordnetes
        Thema darstellt, das nicht nur wirtschaftlich, sondern
        auch verbrauchertechnisch in sicheres Fahrwasser ge-
        lenkt werden sollte. Die wirtschaftliche Bedeutung des
        Onlineglückspielsektors ist hoch und es bildet sich ein
        schnell wachsender Markt zugunsten der Glückspielin-
        dustrie. Laut einer Schätzung der EU-Kommission ha-
        ben die Onlineglücksspielanbieter 2008 innerhalb der
        Europäischen Union über 6 Milliarden Euro eingenom-
        men. Und das sind allein die legalen Zahlen.
        Erforderlich auch deshalb, da aufgrund der Neurege-
        lungen und des Auslaufens geltender Verträge das
        Glückspiel im Internet vom Gesetzgeber „neu“ zu be-
        werten ist. Es war also erforderlich, das Geldwäschege-
        setz nun auch auf die Onlinevarianten des Glücksspiels
        zu erstrecken und Veranstalter und Vermittler von
        Glücksspielen im Internet in den Verpflichtetenkreis des
        Geldwäschegesetzes einzubeziehen.
        Was gibt dieses Gesetz vor? Was wird verändert? Wir
        müssen auf die Besonderheiten des Onlineglückspiels
        mit großer Vorsicht Rücksicht nehmen. Es finden tagtäg-
        lich, ja stündlich und minütlich Geschäftsbeziehungen
        zwischen Personen statt, die sich niemals persönlich ge-
        genüberstehen werden. Wir müssen hier den erhöhten
        Risiken in Bezug auf die Identifizierung des Spielers so-
        wie die Finanzströme gezielt Rechnung tragen. Gerade
        im Onlineglückspielsektor gilt es daher, dass künftig Be-
        treiber von Glücksspielen im Internet verstärkt ihre
        Sorgfaltspflichten nach dem Geldwäschegesetz erfüllen
        müssen. Insofern begrüßt die FDP die verstärkten Anfor-
        derungen, die der Gesetzentwurf aufstellt.
        Gleichwohl schauen wir mit Bedacht auch darauf, das
        legale Glücksspiel im Internet nicht derart zu regulieren
        und mit Vorsicht-Schildern zu versehen, dass keiner
        mehr die gut gepflasterten Straßen nutzt. So halten wir
        eine Zuordnung als Verpflichtete unter das GWG je nach
        Geldwäscheanfälligkeit für sachgerecht. Sofern sich ein
        geringes Geldwäscherisiko ergibt – wie beispielsweise
        bei Lotteriespielen, wo allein bei einem Maximaleinsatz
        von 1 000 Euro eine statistische Verlustquote von 80 Pro-
        zent gegeben ist –, soll eine Freistellung durch die Län-
        der stattfinden.
        Der Gesetzentwurf nennt in der Entwurfsfassung vier
        Wege der Spieleridentifizierung: Die Identifizierung an-
        hand eines Originalausweises, anhand einer beglaubig-
        ten Kopie des Ausweises, anhand des elektronischen
        Identitätsnachweises nach dem Personalausweisgesetz
        (Elektronischer Personalausweis) oder anhand einer quali-
        fizierten elektronischen Signatur.
        Das Problem ist für den Verbraucher: Wer bei einem
        Onlineglücksspielanbieter spielt, will dies in aller Regel
        unmittelbar tun und nicht erst deutlich später. Was ist die
        Folge? Nur die wenigsten Spieler werden wegen der Re-
        gistrierung bei einem Glücksspielanbieter gleich einen
        neuen (elektronischen) Personalausweis beantragen, und
        nur die wenigsten Spieler, die etwa auf ein Bundesliga-
        spiel wetten möchten, werden sich stattdessen auch mit
        einer Wette auf den übernächsten Spieltag zufrieden ge-
        ben. Vielmehr bedeutet der Gesetzentwurf derzeit noch
        ein Konjunkturprogramm für den unregulierten Markt,
        wo Spieler nach der Anmeldung sofort spielen können,
        aber jeglicher behördlicher Zugriff verwehrt ist und auch
        die internen Sicherheitsstandards der Anbieter alles an-
        dere als gewährleistet sind.
        Wir wollen keine leblose Wettbewerbssituation für
        die 20 konzessionierten Anbieter des regulierten Mark-
        tes entstehen lassen und die Angebote mehr als erheblich
        beschränken. Zudem müssen wir die konkurrierende An-
        gebote von nicht konzessionierten Anbietern im Online-
        bereich im Blick behalten, die weiterhin für jedermann
        erreichbar sind.
        Wir wollen kein Gesetz, welches Spieler ermutigt,
        den regulierten Markt zugunsten eines unregulierten
        Marktes zu verlassen.
        Leider wissen wir alle, dass die Verhinderung von
        unregulierten Angeboten aus dem Grau- oder Schwarz-
        markt sehr schwierig bis praktisch unmöglich zu verhin-
        dern ist. Erst recht bei Anbietern, die ihren Sitz in Über-
        see haben. Insofern haben wir nach praktikablen
        Lösungen gesucht, die den Spielern keinen Anreiz bie-
        ten, aus praktischen Erwägungen Anbieter aus dem un-
        regulierten Markt vorzuziehen – und den regulierten
        Markt dadurch zu schwächen.
        Da gerade bei Onlineglücksspielen Spieler leicht mit
        falschen Identitäten auftreten können, setzen wir uns für
        sinnvolle und sichere Vorgaben zur Spieleridentifizie-
        rung sowie Anforderungen an die Errichtung eines
        Spielerkontos ein. Wir schlagen daher eine Option vor,
        die erstmals die Identifizierung und Verifizierung an-
        hand einer elektronisch versandten Kopie des Passes
        oder Personalausweises nur für die sofortige Eröffnung
        von Spielerkonten, jedoch nicht etwa für Zahlungskon-
        ten und andere Geschäftsbeziehungen zulässt. Mit der
        vorgeschlagen Zulassung der elektronisch versandten
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012 24949
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        Kopie kann die Identifizierung und Verifizierung des
        Kunden/Spielers anhand dieses Dokuments in Echtzeit
        vor Begründung der Geschäftsbeziehung abgeschlossen
        und ein Spielerkonto vom Verpflichteten sofort eröffnet
        werden.
        Die vom Gesetzeszweck verlangte Erfüllung ver-
        stärkter Sorgfaltspflichten durch zusätzliche Sicherungs-
        maßnahmen bei nicht physischer Präsenz des Vertrags-
        partners kann auch dadurch erbracht werden, dass die
        Zahlung von einem Kunden des Vertragspartners erfolgt
        und unverzüglich nach Begründung dieser Geschäftsbe-
        ziehung die Überprüfung der Identität etwa durch die
        Nutzung des Post-Ident-Verfahrens wiederholt oder aber
        auf der Grundlage von zusätzlichen Dokumenten, Daten
        oder Informationen vorgenommen wird, die von einer
        glaubwürdigen und unabhängigen Quelle stammen und
        für die Überprüfung geeignet sind. Es handelt sich beim
        letzteren Verfahren um Dokumente und Daten (Internet-
        adresse, Telefonnummer etc.), die ohnehin im Anschluss
        an die Kundenidentifizierung für die durchzuführende
        kontinuierliche Überwachung der Geschäftsbeziehung
        (Monitoring) mit herangezogen werden müssen.
        Insofern sichern wir die von einer Freistellung nicht
        betroffenen Verpflichteten und Spieler von einem Geld-
        wäscherisiko ab, indem wir ein doppeltes Sicherheits-
        netz aufspannen.
        Zunächst verfügt der Spieler bereits über ein Zah-
        lungskonto, welches ihn identifiziert und verifiziert.
        Zahlungskonten sind, soweit sie bei Kreditinstituten in
        Deutschland geführt werden, einer erfahrungsgemäß zu-
        friedenstellenden Überwachung unterworfen.
        Zudem erfolgt unmittelbar nach Übersendung der
        Kopie des Personalausweises an den Verpflichteten ein
        Identifizierungs- und Verifizierungsprozess, der bereits
        weitläufig angewendet und erprobt ist und keinerlei Un-
        sicherheiten über die Identität des Spielers offenlässt.
        Seit Inkrafttreten des Geldwäschegesetzes sind laut
        der bei der im Bundeskriminalamt, BKA, angesiedelten
        Financial Intelligence Unit, FIU, in Deutschland im Jahr
        2011 12 868 Verdachtsanzeigen eingegangen. Das ist ein
        neuer Höchststand seit Inkrafttreten des Gesetzes 1993.
        Dass sich dieser Trend auch 2012 fortsetzen könnte,
        lassen die im ersten Halbjahr 2012 eingegangenen
        6 798 Verdachtsanzeigen erwarten, ein Anstieg von circa
        5 Prozent gegenüber dem vergleichbaren Vorjahreszeit-
        raum.
        Wir sehen also, wir sind auf einem guten Wege. Nun
        werden wir diesen Weg auch für den Onlineglücksspiel-
        sektor vorzeichnen. Wir wollen gemeinsam verhindern,
        dass Geld von illegaler Herkunft durch Transaktionen
        über mehrere Spielerkonten und Konten der Betreiber
        gewaschen werden kann. Die Illegalität muss bestmög-
        lich unterbunden werden, da gerade in der Glücksspiel-
        branche hohe Risiken der Geldwäsche bestehen.
        Wir setzen uns mit aller Kraft dafür ein, dass auch für
        den Onlineglücksspielsektor mit dem richtigen regula-
        tiven Rahmen ein Weg gezeichnet wird, der Geldwäsche
        in Deutschland die Stirn bieten wird.
        Richard Pitterle (DIE LINKE): Die Fraktion Die
        Linke begrüßt die Schließung einer wesentlichen Lücke
        für die Verhinderung von Geldwäsche durch die Einbe-
        ziehung von Glücksspielen im Internet. Doch sind die
        daraus resultierenden praktischen Auswirkungen über-
        schaubar, denn es existiert kaum ein lizensierter und re-
        gulierter deutscher Onlineglücksspielmarkt, was wir
        auch nicht bedauern. Das Onlineglücksspiel findet fast
        ausschließlich im illegalen Bereich statt. Da sich daran
        auch nach Meinung von Sachverständigen in der Anhö-
        rung vom 22. Oktober 2012 aufgrund der vorhandenen
        Angebots- und Nachfragestrukturen in Zukunft kaum et-
        was ändern wird, ist eine Reduzierung der Geldwäsche
        bei Onlineglücksspielen kaum zu erwarten.
        Allerdings bleibt ein zentraler Ort für Geldwäsche
        weiter außen vor: Die Spielhallen und Spielotheken. Die
        Ausschüsse des Bundesrates haben in ihren Empfehlun-
        gen vom 11. September 2012 die Einbeziehung der
        Spielhallen in das Geldwäscheergänzungsgesetz befür-
        wortet, jedoch dabei übersehen, dass bei der letzten Fö-
        deralismusreform die Zuständigkeit an die Länder abge-
        geben wurde. Als Maßnahmenkatalog verwiesen sie
        analog auf die Instrumente der Bundesanstalt für Finanz-
        dienstleistungsaufsicht (BaFin) im Rahmen der geldwä-
        scherechtlichen Aufsicht gemäß § 25 c Abs. 4 Kreditwe-
        sengesetz. Aufgrund der hohen Bargeldeinsätze sowie
        des großen Umsatzpotenzials der Automatenspielgeräte
        in den Spielhallen wäre deren Einbeziehung dringend
        geboten gewesen. Die Risikostruktur von Spielhallen
        und der Automatenspiele der Spielbanken rechtfertigen
        keine unterschiedliche geldwäschepräventive Beurtei-
        lung. Die Spielbanken sind Verpflichtete des Geldwä-
        schegesetzes mit erhöhten Sorgfaltspflichten, dagegen
        werden die Spielhallen dem Geldwäschegesetz weiter
        nicht unterliegen. Das offiziell von der Bundesregierung
        aufgeführte Gegenargument, dass in vielen Fällen die
        Betreiber der Spielhallen selbst die Geldwäscher seien,
        steht dem nicht entgegen, sondern den Betreibern der
        Spielhallen wären spezifische Maßnahmen zur Geldwä-
        scheprävention vorzugeben. Die Berücksichtigung der
        Spielhallen allein im Rahmen der Gewerbeordnung
        reicht nicht aus.
        An das Kernproblem der Geldwäschebekämpfung in
        Deutschland traut sich die Bundesregierung auch weiter-
        hin nicht heran: die völlig unzureichende Durchführung
        der Geldwäscheaufsicht und -kontrollen im Nichtfinanz-
        sektor – trotz umfassender Kritik von vielen Seiten, zum
        Beispiel des Bundes Deutscher Kriminalbeamter oder
        der Financial Action Task Force on Money Laundering,
        FATF.
        Im Nichtfinanzsektor liegt die Zuständigkeit für die
        Aufsicht bei den Bundesländern. Diese gaben sie in vie-
        len Ländern an die Kommunen weiter. Mit der Zustän-
        digkeit der Länder und Kommunen ging allerdings keine
        (wesentliche) finanzielle Unterstützung einher. Darüber
        hinaus kommt es bei länderübergreifenden Fällen zu er-
        heblichem Abstimmungs- und Koordinierungsaufwand.
        Dieser Auffassung ist auch der Bundesrat. Er hat in sei-
        ner Stellungnahme vom 21. September 2012 der Bun-
        desregierung mitgeteilt, dass die Länder nicht in der
        24950 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012
        (A) (C)
        (D)(B)
        Lage sind, das Geldwäschegesetz umzusetzen. Das sind
        klare Worte.
        Der Bundesrat begründet seine Meinung unter ande-
        rem mit einer möglichst einheitlichen und effektiven Vor-
        gehensweise und verweist auf Positivbeispiele wie Ban-
        kenaufsicht (BaFin) und Zoll. Da der Gesetzgeber die
        Aufsichtsbehörden nicht spezifizierte, wurden in den
        Bundesländern die Zuständigkeiten unterschiedlich gere-
        gelt und verortet. Während einige Länder die Aufsicht auf
        ministerieller Ebene beließen, delegierten andere Länder
        die Zuständigkeit auf die Mittelinstanzen oder auf die ört-
        lichen Ordnungsbehörden. Die Erfassung von länder-
        übergreifenden Sachverhalten verursacht einen erhebli-
        chen Abstimmungs- und Koordinierungsaufwand. Die
        Zersplitterung bei den föderalen Zuständigkeiten führt zu
        einer Vervielfachung der vorzuhaltenden Ressourcen und
        zu Vollzugsdefiziten. Den Bundesländern wurden zudem
        keine hinreichenden Finanzmittel zur Verfügung gestellt.
        Eine Sachverständige hat aus der Praxis der Geldwäsche-
        prävention überzeugend dargelegt, warum die Geldwä-
        scheprävention im Nichtfinanzsektor bisher kaum erfolgt
        ist. Es fehlt an allem: Schulungen, Organisationsanwei-
        sungen, Fachkenntnissen, Koordination, Vorgaben zur
        Auslegung, Kapazitäten, Ressourcen.
        Die Linke schlägt eine Zentralisierung der Aufga-
        benwahrnehmung durch den Bund vor, zumindest der
        Geldwäscheprävention, zum Beispiel Auslegungs- und
        Anwendungshinweise, Konzernbezug, Auslandsbezug.
        Dass eine Aufsicht auf Bundesebene gut funktionieren
        kann, sieht man im Finanzsektor. Seitdem Geldwäsche-
        prävention und -bekämpfung der Bankenaufsicht über-
        tragen wurde, ist dieser Weg Geldwäschern weitestge-
        hend verschlossen. Eine Zentralisierung von Aufgaben
        lehnt die Bundesregierung jedoch ab.
        Darüber hinaus fehlt immer noch eine Gesamtstrate-
        gie, wie die weiter zunehmende Geldwäsche bekämpft
        werden kann. Doch die Bundesregierung bleibt ihrer be-
        kannten Politik der kleinen Tippelschritte treu. Es werden
        lediglich kleine, insgesamt als bescheiden anzusehende
        Anpassungen des Geldwäschegesetzes vorgenommen
        – allein 2011 wurden in diesem Gebiet drei Gesetze ver-
        abschiedet: das Gesetz zur Optimierung der Geldwäsche-
        prävention, das Gesetz zur Verbesserung der Bekämp-
        fung der Geldwäsche und Steuerhinterziehung und das
        Gesetz zur Umsetzung der Zweiten E-Geld-Richtlinie –
        und alles nur aufgrund des Drucks aus Europa. So ist es
        auch bei diesem Gesetz.
        Als Fazit ist festzustellen, dass das Geldwäschegesetz
        auch 20 Jahre nach Inkrafttreten nicht umgesetzt wird,
        Deutschland weiterhin die EU-Geldwäscherichtlinie ver-
        letzt und die FATF-Empfehlungen nicht umsetzt.
        Beim letzten Berichterstattergespräch hatte ich den
        Eindruck, dass sich alle Berichterstatter einig waren,
        dass vor allem im Nichtfinanzsektor hinsichtlich der
        Umsetzung des Geldwäschegesetzes weiterhin dringen-
        der Handlungsbedarf besteht. Wir waren uns einig, über
        das Bundesfinanzministerium die Länder zu bitten, uns
        die Daten zu liefern, um uns einen Überblick über den
        Vollzug der Geldwäschevorschriften in den Bundeslän-
        dern zu verschaffen. Wir sehen, dass auch die Regie-
        rungsparteien daran arbeiten wollen, dass Deutschland
        seinen Status als Europameister in der Geldwäsche nicht
        weiter erfolgreich verteidigt. Daher werden wir Ihren
        Gesetzentwurf auch nicht ablehnen, sondern uns enthal-
        ten.
        Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        Das heute vorliegende Geldwäscheergänzungsgesetz be-
        trifft nur einen kleinen Bereich im Gesamtkomplex
        Geldwäsche. Es ist aber vor allem dieser Gesamtkom-
        plex, der mehr Aufmerksamkeit braucht, als er derzeit
        bekommt. Genau deswegen hatten wir zur Anhörung zu
        diesem Gesetz im Finanzausschuss den italienischen
        Staatsanwalt Scarpinato als Sachverständigen benannt,
        der sehr eindrücklich den Zusammenhang zwischen
        Geldwäsche in Deutschland und Mafiaaktivitäten in Ita-
        lien darlegen konnte. Dies ist nur ein Beispiel für die
        problematische Auswirkung zu geringer Geldwäsche-
        prävention. Denn Geldwäsche macht Wirtschaftskrimi-
        nalität, Drogenhandel oder Menschenhandel möglich.
        Vor diesem Hintergrund sind wir uns ja auch einig,
        dass die Prävention gegen Geldwäsche gestärkt werden
        muss und dass das Ausmaß dessen, was in Deutschland
        an Geldern gewaschen wird, nicht hinnehmbar ist. Die
        Zahlen des Bundeskriminalamts von vergangener Woche
        haben dies erneut bestätigt. Vor allem aber ist es proble-
        matisch, dass wir feststellen müssen, wenn in diesen Ta-
        gen eine Untersuchung des Bundesnachrichtendienstes
        zu Geldwäsche in Zypern diskutiert wurde, dass
        Deutschland selbst bei den letzten internationalen Über-
        prüfungen in vielen Punkten nicht gut dastand. Die Fi-
        nancial Action Task Force, die international bei der
        OECD gegen Geldwäsche operiert, kam in ihrem
        Deutschlandbericht 2010 zu einem erheblich schlechte-
        ren Zeugnis, als es Zypern ein Jahr später erhielt. Damit
        lässt sich schwer Druck aufbauen. Man könnte die Be-
        richte und ihre Kriterien infrage stellen. Dann müsste
        man aber auch erklären, warum alle Novellen zur Geld-
        wäsche in Deutschland keinen Fingerbreit weitergehen
        als das, was von FATF oder EU eingefordert wird. Vor
        allem fehlt es in Deutschland nach wie vor an einer Ge-
        samtstrategie zur Geldwäsche. Das Abarbeiten interna-
        tionaler Kritik selbst ist noch keine Strategie. Es wird
        Zeit, dass wir vom Reagieren zum Agieren übergehen.
        Dass Deutschland sogar mehrfach von FATF und EU
        wegen der mangelhaften Geldwäschebekämpfung ange-
        mahnt wurde, hatte wiederum oft mit Missständen im
        Nichtfinanzbereich zu tun, der im Verantwortungsbe-
        reich der Länder liegt. Nicht zuletzt scheinen die perso-
        nellen Ressourcen, die der Geldwäscheprävention ge-
        widmet werden, zu gering zu sein. Ein Schwerpunkt
        unserer Arbeit bei den Ausschussberatungen war des-
        halb erneut, die Umsetzung der bestehenden Normen der
        Geldwäscheprävention zu thematisieren. Deutschland
        hat seit 1993 die EU-Normen nicht umgesetzt, und noch
        immer bestehen massive Defizite in der Umsetzung. Zu-
        letzt hat eine Studie im Auftrag des Bundeskriminalam-
        tes zur Geldwäschethematik im Immobiliensektor dies
        deutlich gemacht.
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012 24951
        (A) (C)
        (D)(B)
        Ich bin sehr dankbar, dass wir gemeinsam einen Im-
        puls geben, diese Defizite systematisch zu überwinden,
        indem wir als Berichterstatter aller Fraktionen gemein-
        sam deutlich gemacht haben, dass in Bezug auf die Um-
        setzung des Geldwäschegesetzes insbesondere im Nicht-
        finanzsektor weiterhin dringender Handlungsbedarf
        besteht. Dies hatte ja auch der Bundesrat in seiner Stel-
        lungnahme zum vorliegenden Gesetz hervorgehoben.
        Zweckmäßig ist dafür ein aussagekräftiges Benchmar-
        king. Wir haben uns deshalb im Finanzausschuss darauf
        verständigt, das Bundesministerium der Finanzen und
        die Regierungen der Länder zu bitten, vorhandene Ver-
        gleichszahlen zum Vollzug der Geldwäschenormen in
        den Ländern noch in diesem Jahr zu veröffentlichen.
        Dazu gehören etwa Personalaufwand in Vollzeitäquiva-
        lenten, Information von Verpflichteten, durchgeführte
        Kontrollen, insgesamt bearbeitete Fälle, Verdachtsanzei-
        gen von Verpflichteten, Beanstandungen und Ordnungs-
        maßnahmen gegen Verpflichtete etc. Soweit die für ein
        aussagekräftiges Benchmarking notwendigen Vergleichs-
        zahlen heute noch nicht vorliegen, wird gebeten, diese
        zeitnah zu erheben und zu veröffentlichen.
        Sinnvollerweise schließt der vorliegende Gesetzent-
        wurf mit dem Online-Glücksspielmarkt eine Lücke in
        der bisherigen Geldwäschegesetzgebung. Es wurde da-
        bei viel um Sorgfaltspflichten gerungen, was durch die
        Kombination von Non-face-to-face-Geschäften mit elek-
        tronischen Zahlungsmitteln eine schwierige Aufgabe
        bleibt, die uns weiter ständig beschäftigen wird. Das Ge-
        setz beinhaltet daher eine Rechtsverordnungsermäch-
        tigung, um auf den schnellen Wandel von Kundenan-
        nahmeprozessen reagieren zu können. Die Diskussion
        bestätigt, wie wichtig es war, dass die Berichterstatter
        bei der letzten Novelle fraktionsübergreifend eine Eva-
        luation der informationstechnischen Aspekte vereinbart
        haben. Es wird nicht nur die zuständigen Behörden, son-
        dern auch uns als Parlament weiter in Anspruch nehmen,
        wenn wir Geldwäscheprävention, zeitgemäße Geschäfts-
        abwicklung und Datenschutz in ein stabiles Gleichge-
        wicht bringen wollen. Beim Onlineglücksspiel kommt
        selbstverständlich die Suchtprävention hinzu. Als Finanz-
        ausschussmitglieder stehen wir vor der Herausforde-
        rung, diese Aspekte stets mit zu berücksichtigen.
        Im aktuellen Gesetzgebungsprozess wurde keine
        rechtlich wasserdichte Lösung für das Geldwäscherisiko
        der Spielhallen gefunden, die als allgemein befriedigend
        empfunden wird. Der im Referentenentwurf des Bundes-
        ministeriums der Finanzen vorgeschlagene Paragraf zur
        geldwäscherechtlichen Aufsicht über Spielhallen wurde
        laut Bundesregierung aus verfassungsrechtlichen Grün-
        den fallen gelassen, da ein Eingriff in Länderkompeten-
        zen vorliege und außerdem die Kompetenzen der Phy-
        sikalisch-Technischen Bundesanstalt ausgehöhlt werden
        würden. Die Tatsache, dass der Finanzausschuss des
        Bundesrats den vorgeschlagenen Paragrafen jedoch befür-
        wortete, sollte als Anlass genommen werden, schnellst-
        möglich eine wirksame Lösung zu erarbeiten. Auch hier
        müssen Bund und Länder koordiniert von den gesetz-
        lichen Grundlagen bis zu einem praktikablen Vollzug zu-
        sammenarbeiten. Der Verweis auf Gesetzgebungskom-
        petenzen der Länder ist noch lange keine Lösung des
        Problems. Vor allem aber reicht der Verweis auf den
        neuen Entwurf der Spielverordnung nicht aus. Zum ei-
        nen liegt uns dieser Entwurf nicht vor. Ich weiß also
        nicht, ob er die Problematik der Zulassung manipulier-
        barer Geräte und manipulierbaren Zubehörs wirklich
        löst. Zum anderen reicht der Fokus auf die Geräte allein
        nicht aus. Notwendig sind deswegen, wenn die bundes-
        gesetzliche Regelung nicht funktioniert, landesgesetz-
        liche Regelungen.
        Vor diesem Hintergrund werden wir uns enthalten.
        Wir stellen uns darauf ein, dass schon bald die nächste
        Gesetzgebung im Geldwäschebereich kommen wird.
        Insbesondere werden die Defizite im Immobilienbereich
        anzugehen sein.
        Anlage 7
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Entwurfs eines Zweiten Ge-
        setzes zur Änderung des Energiesteuer- und des
        Stromsteuergesetzes (Tagesordnungspunkt 18)
        Norbert Schindler (CDU/CSU): In zweiter und drit-
        ter Lesung wird heute der Gesetzentwurf der Bundes-
        regierung zur Änderung des Energiesteuer- und Strom-
        steuergesetzes abschließend beraten.
        Lassen Sie mich vorab noch einmal betonen, wie
        zwingend notwendig es war, eine Nachfolgeregelung für
        die bestehenden Steuerbegünstigungen für Unternehmen
        des produzierenden Gewerbes einzuführen, um einem
        ersatzlosen Wegfall ab dem 1. Januar 2013 zuvorzukom-
        men. Der bisherige Spitzenausgleich, der im Rahmen der
        ökologischen Steuerreform über die Parteigrenzen hin-
        weg eingeführt worden war, ist von der EU-Kommission
        beihilferechtlich nämlich nur bis 31. Dezember 2012 ge-
        nehmigt.
        Mit diesem Gesetzentwurf wird eine vernünftige und
        tragfähige Nachfolgeregelung eingeführt, die den in
        Deutschland energieintensiv produzierenden Unterneh-
        men ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit erhält. Ge-
        mäß der Vorgaben der Europäischen Kommission war
        eine Eins-zu-Eins-Fortführung der steuerlichen Regelun-
        gen nur in Verbindung mit Energieeffizienzsteigerung
        möglich, was ich auch einhellig begrüße. Schlussendlich
        konnten wir damit sowohl den Kreis der Begünstigten
        als auch das Gesamtentlastungsvolumen erhalten.
        Zwei Ziele galt es bei der Gesetzgebung im Auge zu
        behalten, um auch die Notifizierung bei der Kommission
        zu gewährleisten: Erstens das Ziel, das produzierende
        Gewerbe von einem Teil der Strom- und Energiesteuer-
        erhöhungen im Rahmen der ökologischen Steuerreform
        zu entlasten. Zweitens das Ziel, die Unternehmen des
        produzierenden Gewerbes entsprechend der Vorgaben
        aus dem Energiekonzept der Bundesregierung zu ver-
        pflichten, einen größeren Beitrag zu Energieeinsparun-
        gen zu leisten.
        In der Umsetzung haben wir nun festgelegt, dass die
        Gewährung des Spitzenausgleichs nur noch dann mög-
        lich ist, wenn die Unternehmen Energiemanagement-
        24952 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012
        (A) (C)
        (D)(B)
        oder Umweltmanagementsysteme betreiben und mit die-
        sen nachweisen können, dass sie jährlich festgeschrie-
        bene Mindesteffizienzziele einhalten. Gleichzeitig wird
        der Geltungszeitraum dieser Nachfolgeregelung für den
        sogenannten Spitzenausgleich ab dem 1. Januar 2013 auf
        einen Zeitraum von zehn Jahren erweitert, was wir sehr
        begrüßen. Somit ergibt sich für die betroffenen Unter-
        nehmen Planungssicherheit in Bezug auf die Steuerent-
        lastung, aber auch auf die Kosten für Implementierung
        und Überwachung von Energie- und/oder Umweltma-
        nagementsystemen.
        Lassen Sie mich in einem kurzen Exkurs noch einmal
        auf die grundsätzliche Notwendigkeit der Entlastung der
        Unternehmen des produzierenden Gewerbes von der
        Energie- und Stromsteuer zurückkommen. Als die
        Steuer 1999, damals noch Ökosteuer (welch schönes
        Wort) genannt, von der rot-grünen Regierung eingeführt
        wurde, hatte diese schon damals ein Einsehen, dass die
        rund 25 000 energieintensiven Unternehmen in Deutsch-
        land eine Befreiung von dieser Steuer benötigen. Schon
        damals wurde eine Ökosteuerbefreiung bzw. -ermäßi-
        gung eingeführt. Wenn Rot, Grün und Links uns heute
        vorwerfen, die deutsche Industrie würde mit dem Spit-
        zenausgleich subventioniert, so entbehrt das jeder
        Grundlage. Es geht hier um nicht weniger als um den Er-
        halt der internationalen Wettbewerbsfähigkeit energiein-
        tensiv produzierender Unternehmen in Deutschland.
        Anders als bei der von Rot-Grün eingeführten Vor-
        gängerregelung werden nun die Unternehmen, die einen
        Spitzenausgleich haben wollen, stark an die Kandare ge-
        nommen. Die zu erreichenden Zielwerte der jährlichen
        Reduzierung des Energieverbrauchs für die Antragsjahre
        2015 bis 2017 belaufen sich auf jeweils 1,3 Prozent, da-
        nach auf jährlich 1,35 Prozent, was ambitioniert ist und
        sich von der „alten“ Regelung maßgeblich unterscheidet;
        denn nun sind die Unternehmen gezwungen, Systeme
        zur Verbesserung der Energieeffizienz einzuführen und
        diese entsprechend nachzuweisen.
        Gleichzeitig sind diese Zielwerte Grundlage für die
        beihilferechtliche Genehmigung durch die Europäische
        Kommissio bzw. für die Notifizierung bei der Europäi-
        schen Kommission. Abweichend vom Gesetzentwurf
        der Bundesregierung haben die Koalitionsfraktionen der
        CDU/CSU und FDP mit dem Änderungsantrag zur Fort-
        schreibung der Zielwerte für die zu erreichende Reduzie-
        rung der Energieintensität für die Jahre 2019 bis 2022
        diese Zielwerte über das Antragsjahr 2018 hinaus auch
        für die Antragsjahre 2019 bis 2022 bereits jetzt gesetz-
        lich fixiert. Damit kann die Prüfung für die oben angege-
        bene Genehmigung schon für die gesamte Laufzeit von
        zehn Jahren erfolgen. Es bleibt jedoch weiterhin bei der
        Überprüfung der Zielwerte im Jahr 2017 im Rahmen ei-
        ner Evaluation.
        Um kleinere und mittlere Unternehmen nicht über
        Gebühr zu belasten, sollen für diese die Möglichkeit be-
        stehen, alternative, kostengünstigere Systemen zur Ver-
        besserung der Energieeffizienz einführen zu können.
        Hierzu bedarf es einer praktikablen Lösung für den deut-
        schen Mittelstand, die jedoch hier im Energiesteuer- und
        Stromsteuergesetz nicht fixiert werden kann. Eine ent-
        sprechende, in Arbeit befindliche Rechtsverordnung des
        Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie soll
        demnächst in Kraft treten; für eine zeitnahe Umsetzung
        im Sinne des deutschen Mittelstandes mache ich mich
        hier noch einmal stark. Die kleinen und mittleren Unter-
        nehmen müssen bald den Aufwand für die Implemen-
        tierung und das Betreiben der oben angegebenen Über-
        wachungssysteme berechnen können, um über eine
        mögliche Inanspruchnahme des Spitzenausgleichs ent-
        scheiden zu können.
        Mit der Branchenlösung, die gerade auch auf die klei-
        nen und mittleren Unternehmen zugeschnitten ist, wer-
        den auch die Unternehmen berücksichtigt, die sich
        – auch aus wirtschaftlichen Gründen – schon in der Ver-
        gangenheit um Energieeinsparungen bemüht haben und
        zum heutigen Zeitpunkt so gut dastehen, dass weitere
        Energieeffizienzsteigerungen auf absehbare Zeit nicht
        mehr wirtschaftlich zu stemmen sind. Bei Einzelbetrach-
        tung des Unternehmens könnten sie nicht vom Spitzen-
        ausgleich profitieren, da sie die geforderte jährliche Ein-
        sparung nicht mehr erbringen; mit der Glockenlösung
        für ihre Branche sind sie jedoch als Vorreiter in Effi-
        zienzfragen mit dabei.
        Mit der Nachfolgeregelung für den Spitzenausgleich
        wurde ein sinnvoller Ausgleich zwischen Ökologie und
        Ökonomie geschaffen, und die Wettbewerbsfähigkeit
        auch der kleinen und mittleren Unternehmen kann so ge-
        sichert werden. Gerade in meinem Wahlkreis, im Grenz-
        gebiet zu Frankreich gelegen, machen die circa 2 Cent
        Stromsteuer pro Kilowattstunde zahlen oder nicht zahlen
        einen großen Unterschied. Eine Zusatzbelastung um die-
        sen Betrag für ein auf deutscher Seite gelegenes Unter-
        nehmen, das ein Großverbraucher ist – und um die geht
        es hier ja –, führt dazu, dass sich dieses dem grenzüber-
        schreitenden Wettbewerb nicht mehr stellen kann. Denn
        neben den nicht existierenden oder niedrigen Stromsteu-
        ern in den Nachbarländern sind gerade in Frankreich die
        Strompreise deutlich niedriger als bei uns und auch nicht
        mit einer EEG-Umlage belastet. Aber das ist nicht das
        heutige Thema, auch wenn es dazu viel zu sagen gäbe.
        Neben den Regelungen zum „neuen“ Spitzenaus-
        gleich haben wir weitere Änderungen am Energiesteuer-
        und Stromsteuergesetz vorgenommen. Ein wichtiger
        Punkt ist die Steuerentlastung für die Stromerzeugung
        und die gekoppelte Erzeugung von Kraft und Wärme,
        KWK-Anlagen. Die Auszahlung der Steuerentlastung
        war seit 1. April 2012 eingestellt, da sich die beihilfe-
        rechtlichen Vorschriften des Unionsrechts geändert hat-
        ten und eine Fortführung im vorherigen Maße nicht
        mehr möglich war. Nach der Neuregelung kann die Aus-
        zahlung auch rückwirkend bis April 2012 vorgenommen
        werden. Die Steuerentlastung kann aber nur bis zum
        möglichen Auslaufen der Genehmigung durch die Euro-
        päische Kommission, die neue Kriterien dafür festlegt,
        erfolgen.
        Darüber hinaus wird nun im Gesetzentwurf eine Re-
        gelung zur Steuerbefreiung von verflüssigtem Erdgas, li-
        quefied natural gas – LNG, für die gewerbliche Schiff-
        fahrt getroffen. Da der Einsatz von verflüssigtem Erdgas
        als Kraftstoff für die Schifffahrt aufgrund umweltpoliti-
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012 24953
        (A) (C)
        (D)(B)
        scher Aspekte weltweit an Bedeutung gewinnt – im Ver-
        gleich zu herkömmlichem Schweröl lassen sich mit ver-
        flüssigtem Erdgas die Schwefel- und Partikel-
        Emissionen sowie der Stickoxidausstoß signifikant ver-
        ringern –, wurde der Kreis der Energieerzeugnisse, die
        steuerfrei in Wasserfahrzeugen für die gewerbliche
        Schifffahrt verwendet werden dürfen, deshalb auf ver-
        flüssigtes Erdgas ausgedehnt. Damit sollen insbesondere
        Wettbewerbsnachteile gegenüber den bestehenden Ver-
        sorgungsmöglichkeiten mit steuerfreiem Flüssigerdgas
        in anderen EU-Mitgliedstaaten vermieden werden.
        Lassen Sie mich als letzten Punkt noch auf die Erwei-
        terung des Gesetzentwurfes um die Änderungen des
        Luftverkehrsteuergesetzes eingehen: Natürlich räume
        ich ein, dass durch die Erweiterung der zu regelnden Tat-
        bestände im Luftverkehrsteuergesetz die Verabschie-
        dung des Zweiten Gesetzes zur Änderung des Energie-
        steuer- und Stromsteuergesetzes verzögert worden ist.
        Da jedoch im Hinblick auf das Inkrafttreten des Luftver-
        kehrsteuergesetzes zum 1. Januar 2013 kein eigenständi-
        ger Gesetzentwurf mehr eingebracht werden konnte, war
        eine Ergänzung des vorliegenden Gesetzentwurfes not-
        wendig geworden. Die Entscheidung der Opposition, ein
        weiteres Fachgespräch zu verlangen, hat den Gesetzge-
        bungsprozess nun aber auch nicht gerade beschleunigt.
        Aber sei’s drum, das Ergebnis ist dafür aus meiner Sicht
        hochgradig zufriedenstellend.
        Mit der Anpassung des Luftverkehrsteuergesetzes
        werden die abgesenkten Steuersätze bei der Luftverkehr-
        steuer, die sich aus der Einbeziehung des Luftverkehrs in
        den europäischen Emissionshandel ergeben, dauerhaft
        fortgeführt. Die Anpassung ist deshalb notwendig, da im
        ersten Halbjahr 2012 keine Versteigerung von CO2-Zer-
        tifikaten stattgefunden hat, auf deren Grundlage die
        Steuersätze berechnet werden können. Damit wurde eine
        vom Gesetzgeber nicht gewollte Erhöhung der Gesamt-
        belastung der Luftfahrtunternehmen vermieden und
        diese bei etwa 1 Milliarde Euro im Jahr 2013 gedeckelt.
        Sicherlich lässt sich über den grundsätzlichen Sinn
        und die Wirkung der Luftverkehrsteuer trefflich streiten,
        so wie dies auch im Fachgespräch am letzten Montag
        passiert ist. Dabei ist zu konstatieren, dass die Änderun-
        gen den Umweltverbänden nicht weit genug gehen. Ih-
        nen wäre eine höhere Luftverkehrsteuer deutlich lieber,
        um damit eine größere Steuerungswirkung zu entfalten.
        Dies wäre im innerdeutschen Bereich der Umstieg auf
        die Bahn und im internationalen ein möglicher Verzicht
        auf Flugreisen und damit einhergehend auch eine Redu-
        zierung der Flugbewegungen in Deutschland. Die Luft-
        verkehrsunternehmen fühlen sich durch die Luftverkehr-
        steuer über Gebühr belastet und plädieren auf eine
        Reduzierung bzw. Abschaffung.
        Im Lichte dieser Anhörung und der diametral gegen-
        sätzlichen Positionen kann ich nur feststellen: Die Ände-
        rungen im Luftverkehrsteuergesetz sind genauso ausge-
        wogen und vernünftig wie die im Energiesteuer- und
        Stromsteuergesetz. Auch hier stehen die Maßnahmen im
        Einklang mit der Nachhaltigkeitsstrategie der Bundes-
        regierung und der Europäischen Union, indem sie
        Anreize zu einem weniger extensiven Umgang mit Ener-
        gieressourcen bieten. Und auch hier ist uns ein ausgewo-
        gener und gelungener Schritt zum Erhalt der internatio-
        nalen Wettbewerbsfähigkeit gelungen.
        Sabine Bätzing-Lichtenthäler (SPD): Zum Ende
        einer Legislaturperiode wird im Parlament manches un-
        erfreulich. Die Regierung verabschiedet sich endgültig
        von all den großen Vorhaben, die sie mal im Koalitions-
        vertrag vereinbart hatte. Erinnern sich die Koalitionäre
        noch an den großen Wurf, mit dem sie das Chaos bei den
        ermäßigten Mehrwertsteuersätzen beseitigen wollten?
        Gegen eigene Überzeugungen, sowohl haushalteri-
        scher, als auch inhaltlicher Natur werden nun noch ein
        paar Steuergeschenke gemacht. Diesmal nicht nur an die
        eigene Klientel als Dankeschön, sondern an möglichst
        viele Menschen in der Hoffnung, dass dies die ein oder
        andere Wählerstimme mehr bringt.
        Aber auch für uns in der Opposition wird es ungemüt-
        lich. In der Vergangenheit haben wir uns zwar auch nur
        über, nicht mit dieser Regierung amüsiert, aber jetzt will
        sie plötzlich die Versäumnisse der letzten Jahre nachho-
        len und noch schnell ganz ganz viel durchdrücken. Sie
        wählt dabei Verfahren, die eine ordentliche parlamenta-
        rische Prüfung unmöglich machen. Bei dieser Regierung
        muss man leider inzwischen davon ausgehen, dass sie so
        etwas auch ausnutzt.
        Wohl oder übel machen wir in der Opposition das
        Verfahren mit. Was bleibt uns anderes übrig? Wir könn-
        ten beleidigt nicht mehr mitarbeiten. Oder wir können,
        wie es unsere Aufgabe ist, die inhaltlichen Fehler und
        die Fehler im System benennen und auf den mündigen
        Wähler zählen.
        Meine Damen und Herren von Schwarz-Gelb, eine
        mündige Wählerin, ein mündiger Wähler kann Sie doch
        nicht mehr ernsthaft wählen. Das Verfahren beim Jahres-
        steuergesetz 2013 und beim Verkehrsteueränderungsge-
        setz waren schlimm genug, aber hier mit dem Verfahren
        zum Energiesteuer- und Stromsteuergesetz setzen Sie
        dem ganzen doch die Krone auf. Oder wollen Sie das
        etwa in Zukunft noch mal steigern?
        An Ihrem eigentlichen Gesetzentwurf gab es bereits
        genug Kritik. Zum Beispiel die, dass er mit dem ersten
        fachlichen Referentenentwurf aus dem Bundesfinanz-
        ministerium nichts mehr gemeinsam hatte. Warum ist
        dieser erste Entwurf eigentlich verschwunden? Konnten
        Sie dem Druck der Wirtschaft nicht standhalten? Umso
        glücklicher war die Wirtschaft bestimmt, als die Bundes-
        regierung ihr vertraglich zugesichert hat, dass es so
        schlimm nicht werden würde, sondern dass sich die
        Wirtschaft auf moderate Einsparforderungen verlassen
        könne und – falls politisch mal anders regiert würde –
        der Vertrag ja eine gute Basis für Schadenersatzansprü-
        che darstellen würde.
        Glücklich war die Wirtschaft auch, als die Glockenlö-
        sung beschlossen wurde und als klar war, dass die Ein-
        sparungen an Energieeffizienz, die mit 1,3 Prozent jähr-
        lich erwartet werden, von selbst eintreten würden, ohne
        eigene Anstrengung der Wirtschaft. Es ist wirklich
        24954 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012
        (A) (C)
        (D)(B)
        schade, dass man dem Gesetz als verantwortungsvolle
        Politikerin einfach nicht zustimmen kann.
        Den Spitzenausgleich für energieintensive Wirt-
        schaftsunternehmen wollen wir nämlich. Energiema-
        nagementsysteme und Energieeffizienzsteigerung als
        Gegenleistung für den Spitzenausgleich sind richtig. Die
        Umsetzung, gemessen an den Energiesparzielen, ist aber
        mangelhaft bis ungenügend.
        Aber richtig schlimm wird es dann erst bei den Ände-
        rungsanträgen, die uns die Regierungskoalition vorlegt.
        Dass die Luftverkehrssteueränderung aus Zeitgründen
        mit ins Gesetz gezogen wird, mag man noch verstehen.
        Inhaltlich ist der Entwurf jedoch Mist. Die Deckelung
        der Einnahmen auf 1 Milliarde Euro ist pure Klientel-
        politik. Oder machen wir das in anderen Bereichen jetzt
        auch so? Die Einnahmen aus der Mineralölsteuer könnte
        man doch auch deckeln, oder?
        Wenn man das verkürzte Verfahren bei der Luftver-
        kehrsteuer akzeptiert, müsste man das nicht auch bei den
        Änderungen zur Kraft-Wärme-Koppelung tun? Das Ge-
        setz ist ohne Zweifel eilbedürftig. Der Clou liegt jedoch
        im Detail. Dass das Gesetz eilbedürftig ist, hat nämlich
        die schwarz-gelbe Bundesregierung zu verantworten, die
        sehr spät bei der EU den Antrag auf Verlängerung der
        Beihilfe gestellt hat. Der EU einen Knochen hinzuhalten
        und ihr zu sagen: „Nun spring aber bitte jetzt“, funktio-
        niert eben nicht. Die EU prüft in ihrem eigenen Rhyth-
        mus, und die Bundesregierung muss das auch wissen.
        Dass die Steuerbeihilfe für Kraft-Wärme-Koppelung
        seit März ohne beihilferechtliche Genehmigung im Ge-
        setz steht, ist die Schuld der Bundesregierung. Vor die-
        sem Hintergrund versteht man jetzt natürlich, dass Sie
        von der Koalition die Neuregelung nach erteilter Beihil-
        fegenehmigung schnellstens auf den Weg bringen wol-
        len. Und man kann Ihnen auch fast verzeihen, dass Sie
        den Antrag erst in der Woche der Beratung vorlegt. Im
        Vergleich zur letzten Sitzungswoche, wo über 30 Ände-
        rungsanträge erst am Dienstag um 20 Uhr vorlagen und
        andere erst Minuten vor Beginn der Ausschusssitzung,
        ist das ja auch fast geruhsam.
        Nicht nachgesehen werden kann Ihnen aber der Än-
        derungsantrag zur Fortschreibung der Zielwerte. Er
        wurde am Tag vor der Beratung dem Ausschuss über-
        reicht. Das war nach den Sitzungen der Arbeitsgruppen,
        die darüber beraten wollen und sollen. In diesem Fall ist
        das Verfahren aber noch die kleinere Unverschämtheit.
        Denn es geht Ihnen nicht um zeitliche Eilbedürftigkeit,
        sondern darum, durch die Hintertür und ohne großes
        Aufsehen die Wirtschaft noch besser abzusichern.
        Ich würde, wenn ich nicht per se gegen jede Art von
        Glücksspiel wäre, Ihnen eine Wette anbieten. Ich würde
        wetten, dass die Wirtschaft nach dem Fachgespräch zum
        Energiesteuer- und Stromsteuergesetz noch einmal auf
        Sie zugekommen ist. Denn wir hatten es in der Anhö-
        rung gewagt, die Möglichkeit anzudeuten, dass nach ei-
        nem Regierungswechsel die Energieeffizienzeinsparun-
        gen hinsichtlich der Höhe noch einmal überprüft werden
        könnten. Das muss wohl so sauer aufgestoßen sein, dass
        die Wirtschaft die Regierung gebeten hat, sie möge dann
        doch – Evaluierung 2017 hin oder her – lieber die Stei-
        gerungswerte bis 2022 festlegen. Sicher sei sicher.
        Ich müsste garantiert kein Fortuna-Düsseldorf-T-Shirt
        anziehen. Die Wette gewänne ich nämlich. Die Evaluie-
        rung wird dadurch fast eine solche Farce, wie Ihr gesam-
        tes Gesetzgebungsverfahren es ist.
        Dr. Birgit Reinemund (FDP): Die EU-beihilferecht-
        liche Genehmigung des Spitzenausgleichs im Energie-
        und Stromsteuergesetz läuft am 31. Dezember 2012 aus.
        Um unseren energieintensiven produzierenden Unter-
        nehmen ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit und
        damit Arbeitsplätze in Deutschland zu erhalten, besteht
        dringender Handlungsbedarf, um die Fortführung zum
        Jahreswechsel zu gewährleisten. Gemäß EU-Kommis-
        sion ist die beihilferechtliche Genehmigung nur noch in
        Verbindung mit dem Nachweis von Energieeffizienzstei-
        gerung möglich.
        Nach langen konstruktiven Gesprächen mit allen Be-
        teiligten beschließen wir heute eine sowohl für unseren
        Wirtschaftsstandort Deutschland als auch für die Be-
        lange der Umwelt gute und praktikable Lösung. Die
        steuerlichen Regelungen der bisherige Spitzenaus-
        gleich, die ja erst 2010 abgesenkt wurden, werden eins
        zu eins fortgeführt: sowohl der Kreis der Begünstigten
        als auch das Gesamtentlastungsvolumen in Höhe von
        rund 2,3 Milliarden Euro bleiben gleich.
        Damit die beihilferechtlichen Voraussetzungen von
        der Europäischen Kommission bereits jetzt für insge-
        samt zehn Jahre abschließend geprüft werden können,
        schreiben wir die Zielwerttabelle bis 2022 fort. Damit
        schaffen wir Rechts- und Planungssicherheit für die Un-
        ternehmen. Eine eventuelle Verschärfung der Effizienz-
        ziele nach der Evaluation 2017 bleibt dennoch jederzeit
        möglich.
        Mit diesem Gesetzentwurf werden wir die Wettbe-
        werbsfähigkeit von rund 25 000 energieintensiven Un-
        ternehmen in Deutschland sicherstellen und gleichzeitig
        diesen Unternehmen Anreize geben, ihren Energiebedarf
        effizient zu gestalten. Solange wir die europaweit und
        international überdurchschnittlichen Belastungen durch
        die Ökosteuer haben, so lange brauchen wir die Entlas-
        tung durch den Spitzenausgleich. Die Industriestrom-
        preise in Deutschland bewegen sich im internationalen
        Vergleich am oberen Ende. Zusätzlich wird die Wettbe-
        werbsfähigkeit unserer Unternehmen durch die EEG-
        Umlage und den Zertifikatenhandel weiter geschwächt.
        Der durchschnittliche Strompreis im Jahr 2011 lag in
        Deutschland ohne Berücksichtigung von Abgaben und
        Steuern um 10 Prozent höher als im Mittel der EU. Unter
        Mitberücksichtigung von Abgaben und Steuern ist der
        Strompreis in Deutschland um 38 Prozent höher als im
        EU-Durchschnitt. Der Industriestrompreis liegt in Deutsch-
        land bei 12 Cent pro Kilowattstunde, im Vereinigten Kö-
        nigreich hingegen wurden weniger als 10 Cent pro Kilo-
        wattstunde fällig. Noch geringere Kosten haben die
        Unternehmen in Frankreich, wo der Strompreis bei etwa
        8 Cent pro Kilowattstunde beträgt und somit rund ein
        Drittel unter dem deutschen Strompreis liegt.
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012 24955
        (A) (C)
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        Die Fortführung des Spitzenausgleiches bei der
        Stromsteuer ist daher notwendig, um die internationale
        Wettbewerbsfähigkeit des Industriestandorts Deutsch-
        land mit seinen 600 000 direkten Arbeitsplätzen und ins-
        gesamt 2,5 Millionen Arbeitsplätzen in der Wertschöp-
        fungskette nicht zu gefährden.
        Mit der Weiterführung des Spitzenausgleichs handeln
        wir im Sinne der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
        wie im Sinne der Unternehmen. Sie ist ein Gebot des so-
        zialen Friedens und der volkswirtschaftlichen Vernunft.
        Um dem EU-Beihilferecht zu genügen und weil es
        ökologisch richtig ist, setzen wir Anreize für Unterneh-
        men zu einem effizienten Energieverbrauch. Den Spit-
        zenausgleich gibt es nicht zum Nulltarif. Die betroffenen
        Unternehmen des Produzierenden Gewerbes müssen
        – wenn sie vom Spitzenausgleich profitieren wollen –
        Energie- und Umweltmanagementsysteme nach deut-
        lich anspruchsvollerer DIN-Norm einführen und die Ver-
        besserung der Energieeffizienz nachweisen. Um auch
        kleinen und mittleren Unternehmen die Möglichkeit zu
        eröffnen, vom Spitzenausgleich zu profitieren, werden
        von ihnen weniger kostenintensive alternative Manage-
        mentsysteme gefordert. Das war uns Liberalen ein gro-
        ßes Anliegen. Eine Überforderung wäre für viele kleine
        und mittlere Unternehmen existenzgefährdend. Auch die
        dreijährige Übergangsfrist ist eine vernünftige Zeit-
        spanne für solche kosten- und arbeitsintensive Einfüh-
        rungsphasen von Energie- oder Umweltmanagementsys-
        temen.
        Die Übergangsregelung ist auch deshalb notwendig,
        um die bisher nicht flächendeckend bestehende Infra-
        struktur für die Bereitstellung der Gutachter sowie die
        Zertifizierung aufzubauen.
        Stellen Unternehmen in den Jahren 2013 und 2014
        Anträge, um den Spitzenausgleich zu erhalten, müssen
        sie nachweisen, dass sie mit der Einführung eines Ener-
        giemanagementsystems, EMS, begonnen haben.
        Ab dem Antragsjahr 2015 muss das EMS vollständig
        implementiert sein. Zusätzlich müssen die Unternehmen
        ambitionierte Effizienzziele von 1,3 Prozent in 2013 und
        von 1,35 Prozent pro Jahr ab 2016 erreichen.
        Wie ambitioniert die definierten Mindesteffizienz-
        ziele sind, war durchaus strittig unter den Experten. Ein
        Gutachten der Energy Environment Forecast Analysis,
        EEFA, vom April 2012 kommt zum Ergebnis, dass Un-
        ternehmen bei den jetzigen Vorgaben ihre Effizienz-
        anstrengungen künftig verdreifachen müssen. In der Zeit
        zwischen 2010 und 2020, so das Gutachten, würde die
        Energieeffizienz der Industrie als Ganzes im „business
        as usual“-Szenario lediglich mit einer durchschnittlichen
        Rate von 0,41 Prozent pro anno zunehmen.
        Den Grünen ist das dennoch nicht genug. So drohte
        Frau Paus offen im Finanzausschuss, den Spitzenaus-
        gleich bei einem eventuellen Regierungswechsel sofort
        abzuschaffen. Unglaublich! Damit nimmt sie billigend
        in Kauf, dass deutsche Unternehmen ins Ausland ab-
        wandern. Ein solches Risiko für die Arbeitsplätze in die-
        sem Land wollte seinerzeit nicht einmal Herr Trittin ein-
        gehen.
        Ein weiterer Bestandteil des Gesetzentwurfs betrifft
        die KWK-Anlagen.
        Die bislang vollständige Steuerentlastung für KWK-
        Anlagen wurde von der Europäischen Kommission nur
        bis 31. März 2012 genehmigt. Ausdrücklich begrüße ich,
        dass es gelungen ist, die steuerliche Förderung von
        KWK-Anlagen weiter sicherzustellen. Das ist wichtig
        vor dem Hintergrund, dass im Zuge der Energiewende
        die Bedeutung der KWK-Anlagen deutlich zugenommen
        hat. Nach der nun aufgenommenen Regelung können
        künftig alle KWK-Anlagen unter den bisherigen Voraus-
        setzungen eine Steuerentlastung bis auf die Mindeststeu-
        ersätze nach der Energiesteuer-Richtlinie erhalten. Eine
        vollständige Steuerentlastung bleibt künftig auf diejeni-
        gen KWK-Anlagen beschränkt, die zusätzlich das Hoch-
        effizienzkriterium der KWK-Richtlinie erfüllen. Dies
        wäre auf die Dauer der steuerlichen Absetzung für Ab-
        nutzung beschränkt.
        Mit der Anpassung des Luftverkehrssteuergesetzes
        schreiben wir die Steuersätze für das Jahr 2013 fort. Na-
        türlich gibt es über die Notwendigkeit dieser Abgabe
        diametral entgegengesetzte Aussagen. Über Sinn und
        Unsinn oder Lenkungswirkung einer solchen Abgabe
        lässt sich grundsätzlich diskutieren. Darum geht es heute
        jedoch nicht.
        Die vorgesehene Fortschreibung der Abgabenstaffe-
        lung wurde notwendig, da im ersten Halbjahr 2012 keine
        Einnahmen aus der Einbeziehung der Luftverkehrsteuer
        in den europäischen Emissionshandel vorhanden waren,
        auf deren Grundlage die Steuersätze hätten realistisch
        berechnet werden können. Daher werden die Steuersätze
        2013 gedeckelt auf dem Niveau von 2012. Und das ist
        gut so.
        Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Für die Linke
        bleibt auch nach der Anhörung festzustellen: Die Fort-
        führung des Spitzenausgleichs über das Jahr 2012 hinaus
        ist an keine relevante Anstrengung der Industrie ge-
        knüpft, die Energieeffizienz zu steigern. Darum lehnen
        wir sie ab.
        Der – erst ab dem Jahr 2015 – zu erreichende Zielwert
        für die Minderung der Energieintensität von 1,3 Prozent
        pro Jahr entspricht laut Trendprognose der EU exakt der
        ohnehin erwartbaren Effizienzsteigerung. Das BMU
        geht in Hauspapieren sogar von 1,6 bis 1,8 Prozent aus!
        Die Regelung ist also nichts anderes als ein Geschenk an
        die Wirtschaft.
        Im Übrigen wurde in der Anhörung ja deutlich, dass
        bei der Berechnung des Energieeffizienzindikators auch
        die Energieversorgungsunternehmen einbezogen wer-
        den. Das DIW machte klar, dass durch den Ersatz von
        fossilen und Kernbrennstoffen durch Solar- oder Wind-
        energie statistisch große Effizienzverbesserungen vorge-
        gaukelt werden, ohne dass bei der Industrie tatsächlich
        etwas passiert. Denn die alten Brennstoffe weisen in der
        Umwandlung Effizienzverluste von 45 bis 70 Prozent
        auf, für die Erzeugung von CO2-freiem Ökostrom dage-
        gen wird für diesen Zweck statistisch eine Effizienz von
        100 Prozent unterstellt.
        24956 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012
        (A) (C)
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        Zudem werden in der Vorgabe keine individuellen
        Einzelnachweise der Unternehmen über erzielte Ener-
        gieeinsparungen verlangt. Das wurde ja auf Druck des
        Bundeswirtschaftsministeriums aus dem Gesetzentwurf
        gestrichen. Den Nachweis muss nun nur noch der Wirt-
        schaftszweig insgesamt liefern. Ferner wird das Verfah-
        ren nicht vom Gesetzgeber geregelt, sondern über die am
        1. August 2012 zwischen Bundesregierung und Industrie
        abgeschlossene „Effizienzvereinbarung“. Diese läuft am
        Parlament vorbei über zehn Jahre, in denen der Bundes-
        tag dreimal neu gewählt wird.
        Ohnehin sind die darin festgelegten Verpflichtungen
        zur Einführung und zum Betrieb von Energiemanage-
        mentsystemen bzw. zur Durchführung von Energieaudits
        bereits europarechtlich vorgeschrieben – die EU-Ener-
        gieeffizienz-Richtlinie wurde im Juni dieses Jahres ver-
        abschiedet! Insofern erfolgt der Spitzenausgleich auch in
        dieser Hinsicht ohne Gegenleistung, wie auch die Deut-
        sche Umwelthilfe in ihrer lesenswerten Stellungnahme
        feststellt. Das Ganze erfüllt also den Tatbestand einer
        reinen Subvention. Nicht zuletzt werden aufgrund der
        Architektur des Spitzenausgleichs einer bestimmten
        Gruppe von Unternehmen Vorteile bei der Steuerlast ein-
        geräumt, welche andere Unternehmen hingegen tragen
        müssen. Dies dürfte eine Wettbewerbsverzerrung dar-
        stellen.
        Das Vorhaben der Bundesregierung, den Spitzenaus-
        gleich bis 2022 ohne adäquate umweltpolitische Gegen-
        leistung zu verlängern, ist nur eine Facette unberechtig-
        ter Privilegien für die energieintensive Industrie. Weitere
        gibt es im EEG, bei den Netzentgelten oder beim EU-
        Emissionshandel, das hat Arepo Consult in seiner Stel-
        lungnahme noch einmal deutlich gemacht. In der Summe
        führen diese Begünstigungen zu enormen Umverteilun-
        gen von den privaten Haushalten und kleinen Firmen hin
        zu energieintensiven Unternehmen sowie zu zusätzlichen
        Haushaltsbelastungen, wie bereits der Antrag unserer
        Fraktion „Unberechtigte Privilegien der energieintensi-
        ven Industrie abschaffen – Kein Sponsoring der Kon-
        zerne durch Stromkunden“ auf der Drucksache 17/8608
        feststellte. Wir haben darum heute einen Entschließungs-
        antrag in den Ausschuss eingebracht, der dies erneut the-
        matisiert.
        Die Bundestagsfraktion Die Linke will nicht leicht-
        fertig Arbeitsplätze auf Spiel setzen. Wir fordern jedoch,
        Privilegien abzubauen, die mit Standortsicherung nicht
        das Geringste zu tun haben. Unterstützung soll es künf-
        tig nur noch dann geben, wenn Unternehmen ansonsten
        nachweislich Wettbewerbsnachteile erleiden müssten,
        die mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Produktionsverla-
        gerungen ins außereuropäische Ausland oder Schließun-
        gen führen würden. Zum Nachweis müssen zwei Krite-
        rien gleichzeitig erfüllt sein: Erstens. Sie produzieren
        trotz einer Produktion nach „Stand der Technik“ techno-
        logiebedingt überdurchschnittlich energie- bzw. CO2-in-
        tensiv. Zweitens. Sie stehen mit dem Hauptteil dieser
        Produkte im Wettbewerb mit außereuropäischen Unter-
        nehmen, welche keinen adäquaten umweltpolitischen
        Regelungen unterliegen.
        Zur Luftverkehrsteuer: Wir befürworten ihre Beibe-
        haltung, allerdings haben wir etliche Kritikpunkte zur
        derzeitigen Ausgestaltung dieser Steuer. Einige davon
        wurden auch in dem Fachgespräch am 5. November im
        Finanzausschuss durch Sachverständige bestätigt. Ange-
        sichts der Tatsache, dass der Luftverkehr einer der am
        meisten subventionierten Verkehrsträger ist – es fällt
        zum Beispiel keine Kerosinbesteuerung an, auch gilt für
        internationale Flüge eine Mehrwertsteuerbefreiung –,
        obwohl der Flugverkehr wesentlich zur Erderwärmung
        beiträgt, sollten alle Möglichkeiten in Betracht gezogen
        werden, dieses Missverhältnis zu reduzieren. Das Um-
        weltbundesamt bezifferte diese fragwürdigen Subventio-
        nen auf rund 11,5 Milliarden Euro im Jahr 2010.
        Daher ist es absolut unverständlich, dass die Einnah-
        men aus dem Einbezug des Luftverkehrs in den EU-
        Emissionshandel mit denen aus der Luftverkehrsteuer
        verrechnet werden und die Gesamteinnahmen insgesamt
        auf nur 1 Milliarde Euro gedeckelt sind. Die Begrenzung
        ist paradox. Das bedeutet, je mehr Menschen fliegen,
        desto mehr müssten die Steuersätze entsprechend ge-
        senkt werden. Das Fliegen würde also tendenziell billi-
        ger werden. Das widerspricht der ökologischen Len-
        kungswirkung, die mit dieser Steuer ja eigentlich
        erreicht werden soll.
        Allerdings sind laut Gutachten der TU Chemnitz
        diese Lenkungswirkungen ohnehin marginal. Daher be-
        fürworten wir, eine Erhöhung der Steuersätze vorzuneh-
        men und ebenso eine Steuersatzgestaltung nach Sitzklas-
        sen, wie es zum Beispiel auch in Frankreich und
        Großbritannien gehandhabt wird. Ein höherer Steuersatz
        insbesondere für Kurzstreckenflüge wäre angebracht,
        das würde auch der Deutschen Bahn zugutekommen.
        Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Bereits
        seit geraumer Zeit befindet sich das fossile ökonomische
        System international im Umbruch. Es ist jetzt eine vor-
        dringliche politische Aufgabe, die Blockade einer sol-
        chen Transformation zu beenden und den Übergang zu
        beschleunigen. Dies sagt der Wissenschaftliche Beirat
        der Bundesregierung „Globale Umweltveränderung“.
        Dass der Beirat damit recht hat, wissen oder ahnen mitt-
        lerweile alle. Doch die Transformation zu einer emis-
        sionsarmen und ressourcensparenden Wirtschaftsweise
        wird nur gelingen, wenn nicht gleichzeitig umweltschäd-
        liches Verhalten durch Steuervergünstigungen in Milliar-
        denhöhe gefördert wird. In Deutschland gibt es da noch
        einiges zu tun. Hier beläuft sich nach Erhebungen des
        Umweltbundesamtes die Summe der umwelt- und kli-
        maschädlichen Subventionen auf über 48 Milliarden
        Euro jährlich.
        Bei der Reform des 2,3 Milliarden Euro teuren Spit-
        zenausgleichs für 23 000 Unternehmen hat die Regie-
        rung die Chance vertan, zumindest einen kleinen Teil
        dieser Subventionen abzubauen. Unternehmen, die we-
        der besonders energieintensiv sind noch im internationa-
        len Wettbewerb stehen, brauchen keine Ausnahmen.
        Und die Voraussetzungen, die die Bundesregierung nun
        als Voraussetzung für die weitere Gewährung der Sub-
        ventionen stellt, sind kein echter Anreiz für einen sparsa-
        men Umgang mit Energie.
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012 24957
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        Das von der Bundesregierung vorgegebene Effizienz-
        ziel von 1,3 Prozent ist deutlich zu unambitioniert und
        unterliegt einer völlig unzureichenden wissenschaftli-
        chen Überprüfung. Bereits in den vergangenen Jahren
        hat sich die Energieeffizienz der Industrie ohne beson-
        dere Anstrengungen bereits um 1,4 Prozent pro Jahr ver-
        bessert. In den Ausschussberatungen wurde zudem klar,
        dass Experten deutlich höhere Einsparziele für möglich
        halten und der Indikator ungeeignet ist, um zusätzliche
        Effizienzanstrengungen darzustellen. So werden die oh-
        nehin sehr niedrigen Effizienzzielwerte voraussichtlich
        allein durch autonome statistische Effekte aufgrund des
        Ausbaus der erneuerbaren Energien, der Wahl der Basis-
        periode – Verzerrung der Statistik durch die Wirtschafts-
        krise 2008/2009 – und der Auswahl der betrachteten
        Wirtschaftssektoren übererfüllt. Das Berechnungsver-
        fahren ist bislang völlig intransparent und anfällig für
        politisch motivierte Beeinflussung.
        Das einheitliche Effizienzziel für das gesamte produ-
        zierende Gewerbe, die sogenannte Glockenlösung, ist
        ein völlig ungeeignetes Verfahren. Damit wird eine Art
        Gruppenhaftung für Unternehmen eingeführt. Wird das
        Effizienzziel erreicht, profitieren besonders die Unter-
        nehmen, die für die Erreichung des Zieles nichts geleis-
        tet haben. Wird das Ziel hingegen nicht erreicht, werden
        dafür auch die Unternehmen bestraft, die dies überhaupt
        nicht zu verantworten haben und die aktiv in die Errei-
        chung der Ziele investiert haben.
        Der Vorschlag des ersten Referentenentwurfs war an
        diesem Punkt deutlich besser, da er branchenindividuelle
        Effizienzziele vorgegeben hat, die unternehmensindivi-
        duell nachgewiesen werden mussten. Doch dieser erste
        Entwurf wurde im Gezerre innerhalb der Koalition zer-
        rieben. Am Ende hat sich die FDP – als Anwalt von
        alten, überkommenen Strukturen in der Industrie – weit-
        gehend durchgesetzt. Das geht auf Kosten von Energie-
        effizienz einerseits, aber auch auf Kosten der Teile der
        Wirtschaft, die die Herausforderungen des Klimaschut-
        zes bereits verstanden haben und entsprechend handeln.
        Die Pflicht zur Einführung von Energiemanagement-
        systemen wird durch umfangreiche Ausnahmeregelun-
        gen für kleine und mittlere Unternehmen aufgeweicht.
        Das hat keinen sachlichen Grund, da Energiemanage-
        mentsysteme nach DIN ISO 50001 geringere und ange-
        messene Anforderungen an kleine und mittlere Unter-
        nehmen stellen als an Großunternehmen. Der Verzicht
        auf unternehmensindividuelle Effizienznachweise min-
        dert die Anreize, im Rahmen von Energiemanagement-
        prozessen gefundene Einsparpotenziale auch umzuset-
        zen.
        In letzter Minute haben sich die Lobbyisten der ener-
        gieintensiven Industrie noch einmal durchgesetzt. Per
        Änderungsantrag werden die wenig ambitionierten Ziel-
        werte bis 2022 festgeschrieben, unter denen die Bundes-
        regierung 2,3 Milliarden Euro an umweltschädlichen
        Subventionen weiter gewährt. Doch keine milliarden-
        schwere Subvention darf für ein Jahrzehnt im Voraus be-
        schlossen werden. Die Industrie sollte nicht davon aus-
        gehen, dass der Gesetzgeber in den nächsten zehn Jahren
        den Spitzenausgleich nicht mehr antastet. Ein Gutachten
        des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundes-
        tags im Auftrag meiner Fraktion kommt zu dem klaren
        Ergebnis, dass eine baldige Änderung des Spitzenaus-
        gleichs keinen Bruch des Vertrauensschutzes darstellt.
        Diese Möglichkeit sollte unbedingt genutzt werden, um
        diese Gesetzesnovelle so schnell wie möglich durch eine
        bessere Regelung abzulösen.
        Wie diese Neuregelung aussehen sollte, legen wir in
        einem Entschließungsantrag zu diesem Gesetz dar. Mit
        einer Konzentration der Energie- und Stromsteuersub-
        ventionen nur auf solche Unternehmen, die gleichzeitig
        energieintensiv sind und im internationalen Wettbewerb
        stehen, können dabei mindestens 2 Milliarden Euro an
        umweltschädlichen Subventionen abgebaut werden.
        Mehrere Gutachten zeigen, dass der Spitzenausgleich
        auch solchen Unternehmen zugute kommt, denen nicht
        der Verlust der Wettbewerbsfähigkeit droht und bei de-
        nen es noch erhebliches Effizienzpotenzial gibt. Wir sind
        deshalb dafür, den Spitzenausgleich abzuschaffen, um
        ihn durch eine Härtefallregelung zu ersetzen, die nur sol-
        che energieintensiven Unternehmen unterstützt, die
        wirklich von einer Verlagerung in Drittstaaten bedroht
        sind.
        Daneben fordern wir eine Abschaffung der allgemei-
        nen Strom- und Energiesteuerrabatte für das produzie-
        rende Gewerbe und die Land- und Forstwirtschaft.
        Bislang profitieren 100 000 Unternehmen von dieser
        Subvention. Sie haben stärker von der Reduzierung der
        Lohnnebenkosten durch die Absenkungen der Renten-
        beitragssätze profitiert, als sie durch die Anhebung der
        Steuersätze auf Strom und Energie belastet wurden.
        Kaum ein Unternehmen, das diese Rabatte in Anspruch
        nimmt, ist energieintensiv, da in diesen Unternehmen die
        Wertschöpfung in hohem Maße durch das Personal ge-
        schaffen werden muss.
        Ungefähr 3 500 energieintensive Unternehmen des
        produzierenden Gewerbes profitieren heute von der
        2006 eingeführten und 1,2 Milliarden Euro teuren Rege-
        lung, nach der die Steuern auf Strom, Gas und andere
        Energieträger vollständig erlassen werden, wenn sie für
        bestimmte energieintensive Prozesse und Verfahren ver-
        wendet werden, etwa bei der Metallherstellung, in der
        Papierindustrie, in Zementfabriken und der Chemie-
        industrie. Hier wollen wir das Energie- und Stromsteuer-
        recht so umgestalten, dass auch eine nach Wettbe-
        werbsintensität differenzierte Besteuerung möglich ist.
        Ein kleiner Lichtblick in diesem Gesetzgebungsver-
        fahren ist der erste Änderungsantrag der Koalition zu
        diesem Gesetzentwurf. Hier begrüßt die Fraktion Bünd-
        nis 90/Die Grünen die Änderungen und wird deshalb
        dem Änderungsantrag zustimmen. Die Aufnahme von
        bestimmten Additiven in das elektronische EMCS-Ver-
        fahren macht Sinn ebenso wie die Steuerbefreiung von
        Flüssigerdgas für die gewerbliche Schifffahrt. Dies senkt
        die Hürden, Schiffe mit umweltfreundlichem Erdgas zu
        betanken. Auch die Neuregelung der Steuerentlastung
        für die gekoppelte Erzeugung von Kraft und Wärme ist
        vernünftig, weil dies eine dezentrale und effiziente Art
        der Energieerzeugung mit fossilen Brennstoffen fördert.
        24958 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012
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        Seit Monaten quengelt die Luftfahrtindustrie und for-
        dert von der Regierung die Abschaffung der 2011 einge-
        führten Luftverkehrsteuer. Dabei war die Verabschie-
        dung des Luftverkehrsteuergesetzes eine der wenigen
        klugen steuerpolitischen Entscheidungen der schwarz-
        gelben Koalition in dieser Legislaturperiode. Denn die
        Luftverkehrsteuer trägt dazu bei, wenigstens einen klei-
        nen Teil der Wettbewerbsverzerrung zwischen den Ver-
        kehrsträgern abzubauen. Während Dieselloks, Autos und
        Busse selbstverständlich versteuerten Kraftstoff tanken,
        müssen die Fluggesellschaften keine Kerosinsteuer zah-
        len. Bei Flügen ins Ausland verzichtet der Fiskus auf
        Einnahmen aus der Mehrwertsteuer. Die Steuerausfälle
        durch die Subventionierung des Luftverkehrs summieren
        sich so auf mehrere Milliarden Euro.
        Trotz der Einführung der Luftverkehrsteuer im letzten
        Jahr wuchs die Branche um 4,8 Prozent. 2012 werden
        voraussichtlich nochmal 2,7 Prozent mehr Tickets ver-
        kauft. Von einer echten Lenkungswirkung ist also nichts
        zu spüren; dies wurde bei der Expertenanhörung im
        Finanzausschuss sehr deutlich. Trotzdem hat sich die
        schwarz-gelbe Koalition entschieden, die Luftverkehr-
        steuern dauerhaft abzusenken. Das ist ein Schritt in die
        falsche Richtung. Die Bundesregierung wollte mit der
        Einführung der Luftverkehrsteuer Anreize für umwelt-
        gerechtes Verhalten setzen. Wenn sie dieses Ziel ernst
        nimmt, darf sie die Ticketsteuern nicht senken und muss
        den Konstruktionsfehler bei der Einnahmedeckelung
        korrigieren. Laut Gesetz sind die Einnahmen aus der
        Luftverkehrsteuer bei 1 Milliarde Euro gedeckelt. Die
        Bundesregierung argumentiert nun, die Steuersätze im-
        mer weiter absenken zu müssen, um bei steigenden Steu-
        ereinnahmen durch mehr Ticketverkäufe diese Vorgabe
        zu halten. Dieser perverse Wirkmechanismus gehört ab-
        geschafft, indem der Deckel aus dem Gesetz gestrichen
        wird.
        Alles in allem ist dieses Gesetz ein weiterer Beleg da-
        für, dass die Regierung zwar gerne über die Energie-
        wende spricht, aber wirklich jede Chance auslässt, kon-
        krete Schritte auch umzusetzen. Das ist enttäuschend;
        denn dieses Gesetz wäre eine sehr gute Gelegenheit ge-
        wesen, unsere Wirtschaft energieeffizient und damit fit
        für die Zukunft zu machen. Wir werden deshalb dieses
        Gesetz ablehnen.
        Anlage 8
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung der Anträge:
        – Keine Modernisierung der US-Nuklearwaf-
        fen in Europa und Deutschland – Abrüs-
        tungschancen nicht ungenutzt verstreichen
        lassen
        – Abzug statt Modernisierung der US-Atom-
        waffen in Deutschland
        (Tagesordnungspunkte 19 a und 19 b)
        Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU): Wir reden
        heute über zwei Anträge der Opposition, die das außen-
        politische Handeln der Bundesrepublik Deutschland in-
        frage stellen oder irritieren würden. Beides ist mehr als
        unnötig. Worum geht es? Niemand in diesem Hohen
        Hause wird die Abrüstung ablehnen, und auch die Bun-
        desregierung hat Abrüstung, Rüstungskontrolle und
        Nichtverbreitung als einen Pfeiler der Außen- und Si-
        cherheitspolitik ihres Handelns beschrieben.
        Das Kernanliegen der Unionsfraktion ist eine Frie-
        denspolitik, die auf Abrüstung setzt und regionale sowie
        internationale Sicherheit gewährleistet. Die Bürgerinnen
        und Bürger der USA haben die Obama-Administration
        wiedergewählt. Es war auch Barack Obama, der in Prag
        eine Welt frei von Atomwaffen forderte – eine Forde-
        rung, die wir vor 20 Jahren niemals für möglich gehalten
        hätten. Ich möchte hier betonen, dass Barack Obama mit
        dieser Forderung nicht allein dasteht. Seit seiner Prag-
        Rede hat auch ein Umdenken im Sicherheitsrat der Ver-
        einten Nationen und in der Überprüfungskonferenz zum
        Atomwaffensperrvertrag stattgefunden. Wir müssen aber
        frei von allen Ideologien in den Fraktionen zur Kenntnis
        nehmen, dass die Welt nach dem Ende des Kalten Krie-
        ges nicht sicherer geworden ist. Auch die nuklearen Ge-
        fahren sind nicht kleiner, sondern größer geworden.
        Gefährdungen des globalen Nichtverbreitungsre-
        gimes und der regionalen Stabilität durch Staaten wie
        Iran und Nordkorea sind weiterhin ernst zu nehmen.
        Nicht zuletzt hier ist die Vision der Bundesregierung
        über eine nuklearwaffenfreie Welt begründet. Die CDU/
        CSU-Fraktion begrüßt die Bemühungen der Bundesre-
        gierung bei ihren Abrüstungsbestrebungen. Wir begrü-
        ßen das Inkrafttreten des New-START-Vertrages zwi-
        schen den Vereinigten Staaten und Russland. Darüber
        hinaus setzt sich die Bundesrepublik gemeinsam mit ih-
        ren Partnern in der Initiative für Nichtverbreitung und
        Abrüstung für eine rasche Aufnahme von Verhandlun-
        gen über ein Verbot der Produktion von Spaltmaterial für
        Waffenzwecke und das Inkrafttreten des Vertrags über
        das umfassende Verbot von Nuklearversuchen ein.
        Uns allen ist klar, dass die taktischen Nuklearwaffen
        ein Relikt des Kalten Krieges sind und dass sie keinen
        militärischen Zweck per se erfüllen. Wir werden dieses
        Problem jedoch nur gemeinsam mit unseren Verbünde-
        ten lösen können. Auch die europäische Ebene dürfen
        wir hier nicht aus den Augen verlieren. Unsere östlichen
        Nachbarn hegen in dieser Debatte andere Vorstellungen,
        und sie haben auch andere begründete Sicherheitsinte-
        ressen, die wir berücksichtigen müssen. Ein Abzug der
        Nuklearwaffen aus der Bundesrepublik wird eine Dis-
        kussion in Polen oder den baltischen Staaten auslösen.
        Diese Diskussion wiederum wird Russland auf den Plan
        bringen. Ich warne eindringlich vor diesen Debatten und
        vor einer Destabilisierung unseres Verhältnisses zu unse-
        ren östlichen Nachbarn.
        Auch die Türkei hat weiterhin ein vitales Interesse an
        den US-Nuklearwaffen. Wir müssen als Teil des NATO-
        Bündnisses auf diese Interessen eingehen, und wir dür-
        fen unsere Positionen nicht unnötig schwächen oder gar
        preisgeben. Nicht zuletzt möchte ich hier in Erinnerung
        rufen, dass die Modernisierung der US-Nuklearwaffen
        keinesfalls eine Aufrüstung bedeutet. Nein, es ist eine
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012 24959
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        Anpassung der Bestände an die neuen technischen Vo-
        raussetzungen.
        Unsere Bundesregierung hat einen klugen Weg einge-
        schlagen. Man macht einen Schritt nach dem nächsten.
        Es war richtig, dass unsere Bundesregierung die Diskus-
        sion über die substrategischen Nuklearwaffen innerhalb
        des Bündnisses angestoßen hat. Der NATO-Gipfel in
        Chicago war ein Aufbruch in Richtung Abrüstung. Die
        NATO setzt massiv auf Abrüstung und hat diese zur ent-
        scheidenden Säule der Sicherheitsstrategie erklärt. Da-
        her ist eine Modernisierung und Lebensdauerverlänge-
        rung, die mit einer Abrüstung einhergeht, der einzig
        richtige Weg.
        Ungeachtet aller Abrüstungsbestrebungen ist die
        CDU/CSU-Bundestagsfraktion der Meinung, dass die
        Bundesrepublik zur Sicherheit ihrer Bürgerinnen und
        Bürger vorübergehend und nach wie vor auf eine Ab-
        schreckungskomponente angewiesen ist. Auch unsere
        Wahrnehmung durch unsere Verbündeten darf nicht in
        Mitleidenschaft gezogen werden. Die Bundesrepublik
        muss als NATO-Partner stark bleiben. Ich bin mir ganz
        sicher, dass die nukleare Teilhabe Deutschlands auch die
        Qualität und die Ernsthaftigkeit bestimmt, wenn es da-
        rum geht, wie die Bundesrepublik als internationaler Ak-
        teur wahrgenommen wird.
        Ihre Anträge schaden den sicherheits- und außenpoli-
        tischen Interessen der Bundesrepublik Deutschland, die
        ein verlässlicher internationaler Partner ist und bleiben
        wird. Wir lehnen sie daher ab.
        Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU): Die SPD macht
        bei diesem Thema gemeinsame Sache mit der Fraktion
        Die Linke und wirft der Bundesregierung vor, sich von
        ihrer Zielsetzung, für weltweite nukleare Abrüstung ein-
        zutreten, verabschiedet zu haben. Das Gegenteil ist der
        Fall. Wie im Jahresabrüstungsbericht 2011 beschrieben,
        sind Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbrei-
        tung wichtige Pfeiler der deutschen Außen- und Sicher-
        heitspolitik. Während des letzten Jahres war das deut-
        sche Engagement vor allem auf Postkonfliktszenarien
        und präventive Krisenpolitik ausgerichtet. So hat
        Deutschland vor allen Dingen mit seinen aktiven Bemü-
        hungen, die Verhandlungen der internationalen Staaten-
        gemeinschaft mit dem Iran voranzutreiben, wesentlich
        dazu beigetragen, dass die Diplomatie in dem Konflikt
        um das iranische Atomprogramm bislang die Oberhand
        behalten hat. Nichtsdestoweniger besteht die Gefahr un-
        verändert fort, die von Staaten wie Iran oder Nordkorea
        ausgeht.
        Vor diesem Hintergrund ist die CDU/CSU-Fraktion
        ungeachtet aller Abrüstungsbestrebungen der Ansicht,
        dass wir zur Gewährleistung der Sicherheit Deutsch-
        lands nach wie vor auf eine nukleare Abschreckungs-
        komponente der NATO angewiesen sind. Zu dieser Ein-
        schätzung gelangten auch alle NATO-Partner anlässlich
        der Überprüfung des Verteidigungs- und Abschre-
        ckungsdispositivs der NATO.
        Über Monate hinweg hatten sich während dieses
        Überprüfungsprozesses dieses Jahr die NATO- Mitglied-
        staaten auf unterschiedlichen militärischen und politi-
        schen Ebenen intensiv mit der Frage beschäftigt, mit
        welchen strategischen Mitteln und Fähigkeiten die Si-
        cherheit der Allianz im 21. Jahrhundert am besten ge-
        währleistet werden kann. Als Ergebnis dieses Überprü-
        fungsprozesses sind alle NATO Partner, wie in der
        Gipfelerklärung von Chicago festgehalten, im Konsens
        zu dem Ergebnis gelangt, dass dem heutigen Sicherheits-
        umfeld am besten durch eine vorläufige Beibehaltung
        der nuklearen Abschreckungskomponente Rechnung ge-
        tragen werden könne. Wie es in der entsprechenden Er-
        klärung heißt, sind atomare Waffen eine zentrale Kom-
        ponente aller Kapazitäten und Fähigkeiten, mit denen
        die NATO die Sicherheit ihrer Mitglieder zu gewährleis-
        ten sucht.
        Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die SPD-Frak-
        tion wirft der NATO in ihrem Antrag unter anderem vor,
        die Bedrohungen, die sie auf dem Gipfel von Chicago
        definiert hat, nicht mit Nuklearwaffen bekämpfen zu
        können. Natürlich können Atomwaffen nicht die Ant-
        wort auf Cybersicherheit, Terrorismus oder scheiternde
        Staaten sein. Aber im Falle eines Falles, der hoffentlich
        nie eintritt, können sie als Abschreckung gegen staatlich
        unterstützte Cyberkriege, Terrorangriffe oder Gewalt-
        akte korrupter Potentaten dienen.
        Unserer Meinung nach steht die Allianz gegenwärtig
        vor einer doppelten Herausforderung. Sie muss sowohl
        den neuen Sicherheitsrisiken begegnen als auch den her-
        kömmlichen Bedrohungen gewachsen sein. Vor diesem
        Hintergrund haben sich alle NATO-Partner dazu ver-
        pflichtet, sicherzustellen, dass alle Komponenten der nu-
        klearen Abschreckung der NATO sicher und effektiv
        bleiben, solange die NATO sich als nukleare Allianz ver-
        steht.
        Exakt in diesem Kontext ist die Modernisierung der
        US-Nuklearwaffen auf deutschem Boden zu sehen. Es
        handelt sich hierbei nicht, wie von der Fraktion Die
        Linke behauptet, um eine „Neustationierung“ von ato-
        maren Waffen, die „einen Wiedereinstieg in eine hoch
        riskante atomare Aufrüstungspolitik“ darstellt. Es geht
        hier um eine Modernisierung der atomaren Sprengköpfe
        und Trägersysteme, die zur Erhaltung der Einsatzfähig-
        keit der atomaren Waffen dient und somit in unser aller
        Interesse ist. Unabhängig von dieser Verpflichtung hal-
        ten die NATO-Mitgliedstaaten, wie in der Erklärung von
        Chicago vereinbart, weiterhin an ihrem Ziel fest, danach
        zu streben, geeignete Bedingungen und Optionen für
        weitere Reduzierungen nuklearer Waffen der NATO zu
        erwägen.
        Abschließend möchte ich noch einmal betonen, dass
        wir an unserem im Koalitionsvertrag verankerten Be-
        kenntnis festhalten, uns im Bündnis sowie gegenüber
        den amerikanischen Verbündeten dafür einzusetzen, dass
        die in Deutschland verbliebenen Atomwaffen abgezogen
        werden, sobald die Bedingungen hierfür gegeben sind.
        Dies ist, wie die Opposition zu Recht bemerkt, eines der
        übergeordneten Ziele deutscher Außen- und Sicherheits-
        politik, das die außenpolitische Agenda auf absehbare
        Zeit prägen wird.
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        Anlage 9
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zu
        dem Fakultativprotokoll vom 19. Dezember
        2011 zum Übereinkommen über die Rechte des
        Kindes betreffend ein Mitteilungsverfahren
        (Tagesordnungspunkt 20)
        Dr. Peter Tauber (CDU/CSU): Mit der zweiten und
        dritten Lesung des Gesetzes zum Fakultativprotokoll
        können wir das parlamentarische Verfahren zur Ratifika-
        tion heute abschließen. Ich freue mich, dass wir über alle
        Fraktionen dieses Hauses hinweg bei dieser Frage an ei-
        nem Strang ziehen und somit ein schnelles und reibungs-
        loses Verfahren ermöglichen. Auch die Aussprache im
        Ausschuss für Familie, Frauen, Senioren und Jugend in
        dieser Woche hat gezeigt, dass die Bundesregierung mit
        ihrem Engagement zur besseren Verankerung der Kin-
        derrechte auf internationaler Ebene die volle Rücken-
        deckung des Deutschen Bundestages hat. Dies ist sehr
        erfreulich, und dafür bedanke ich mich bei meinen Kol-
        leginnen und Kollegen des Fachausschusses. Ein Dank
        gilt gleichzeitig den Vertreterinnen und Vertretern des
        Bundesrats für ihre kooperative Zusammenarbeit.
        Mit der Ratifikation senden wir ein starkes Signal
        zum weltweiten Schutz der Kinder. Dieser Schritt reiht
        sich ein in eine ganze Reihe von Maßnahmen, die die
        christlich-liberale Bundesregierung auf den Weg ge-
        bracht hat, um die Stellung der Kinder in unserer Gesell-
        schaft zu verbessern. Ich nenne hier die Rücknahme der
        Vorbehaltserklärung gegenüber der UN-Kinderrechts-
        konvention genauso wie die Einführung des Kinder-
        schutzgesetzes, die Familienhebammen und die deutli-
        che Verbesserung der rechtlichen Stellung von Kindern
        bei Lärmstreitigkeiten. Hinzu kommen eine ganze Reihe
        sozialpolitischer Maßnahmen wie das Bildungs- und
        Teilhabepaket sowie die Erhöhung des Kindergelds. In-
        sofern können wir heute einen weiteren Erfolg dieser
        Koalition festhalten. Dies ist umso erfreulicher, da die
        Bundesregierung zu einer der Initiatoren dieses Vorha-
        bens zählt und der Deutsche Bundestag eines der
        schnellsten nationalen Parlamente bei der Ratifikation
        des Fakultativprotokolls ist.
        Mit der Ratifikation verbinden wir die Hoffnung, dass
        weltweit möglichst vielen Kindern die Chance eröffnet
        wird, sich an die Vereinten Nationen zu wenden, wenn
        der innerstaatliche Rechtsweg erschöpft ist und dabei
        keine adäquate Abhilfe geschaffen wurde, um die indivi-
        duellen Rechte der Kinder zu wahren. Wenn die Kolle-
        gin der Linkspartei dann das Wort „Symbolpolitik“ im
        Munde führt, verkennt sie die Chancen, die in einem sol-
        chen Verfahren stecken, um die Rechte der Kinder welt-
        weit zu stärken. Ich empfehle hier einen Blick über den
        nationalen Tellerrand. Denn ein besonders dringender
        Bedarf besteht ja insbesondere dort, wo die Kinder nicht
        schon auf nationaler Ebene ein so hohes Schutzniveau
        haben wie bei uns in Deutschland.
        Wenn es beispielsweise darum geht, zukünftig eine
        bessere internationale Handhabe gegen die unsägliche
        Praxis des Einsatzes von Kindersoldaten zu haben, oder
        wenn es darum geht, die systematische sexuelle Ausbeu-
        tung von Kindern auch auf individueller Ebene zu be-
        kämpfen, bietet das Fakultativprotokoll neue Chancen.
        Für die Betroffenen ist dies insofern alles andere als
        Symbolpolitik. Es gilt daher, nun auf internationaler
        Ebene für die Ratifikation des Protokolls in möglichst
        vielen Staaten zu werben. Durch eine breite internatio-
        nale Akzeptanz wird das Gremium gleichzeitig gestärkt
        und erhält ein stärkeres Gewicht. Dies ist im Sinne unse-
        rer Politik, dies ist im Sinne der Kinder.
        Aber auch für die nationale Ebene hat die Ratifikation
        nichts mit Begriffen wie Symbolpolitik zu tun. Denn es
        handelt sich um die Einrichtung zusätzlicher Schutzme-
        chanismen, die die nationale Gerichtsbarkeit, aber auch
        exekutives Handeln auf den Prüfstand stellen können
        und somit staatliches Handeln in Deutschland überprüf-
        barer machen.
        Es bleibt festzuhalten: Mit der Ratifikation des Fakul-
        tativprotokolls unterstreicht diese Koalition, dass ihr der
        Schutz der Kinder ein wichtiges Anliegen ist – national
        wie international. Und sie zeigt, dass sie ganz konkret
        aktiv ist und vieles angegangen hat, was gerade die rot-
        grüne Bundesregierung nicht hinbekommen hat. Einige
        zentrale Beispiele habe ich genannt.
        Unser Einsatz für die Kinder darf mit diesem Schritt
        jetzt nicht aufhören. Ich bin zuversichtlich, dass es uns
        auch in Zukunft gelingen wird, durch konkrete Maßnah-
        men die Situation von Kindern in Deutschland und in
        der Welt zu verbessern und zu stärken.
        Norbert Geis (CDU/CSU): Die Kinderrechtskon-
        vention will den Kindern weltweit zu ihren Rechten ver-
        helfen.
        In vielen Teilen der Welt haben die Kinder keine
        Rechte. Sie leben in Armut. Sie müssen ihr tägliches
        Brot durch schwere Arbeit verdienen. Sie gehen in keine
        Schule, bekommen keine Bildung, bleiben Analphabe-
        ten. Sie werden missbraucht und werden sogar als Kin-
        dersoldaten in kriegerischen Auseinandersetzungen ein-
        gesetzt. Oft leben sie in der Gosse, schließen sich schon
        als Kinder zu gewalttätigen Banden zusammen und gera-
        ten schon sehr früh in die Kriminalität. Die Kinder-
        rechtskonvention will hier ein Bollwerk aufbauen, einen
        Beitrag zum Schutz der Kinder leisten.
        Sicher ist der Einwand richtig, dass dies vor allem für
        die Entwicklungsländer gilt. Aber auch wir gehören
        nicht zu den kinderfreundlichsten Ländern. Wir sind ein
        kinderarmes Land. Wir haben eine der niedrigsten Ge-
        burtenraten der Welt. Familien mit mehr als zwei Kin-
        dern tun sich bei der Wohnungssuche schwer. Wenn die
        Mutter ihre Kleinkinder selbst versorgt, verliert sie den
        Anschluss im Beruf, hat Nachteile am Arbeitsplatz und
        erhält obendrein später eine geringere Rente als ihre
        Kolleginnen, die keine Kinder haben. Die Erziehungs-
        leistung der Eltern für ihre Kinder wird bei uns gering
        geachtet. Auch wir sind in der Tat kein kinderfreundli-
        ches Land.
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        Allerdings sind die Kinder bei uns nicht rechtlos. Sie
        haben die gleichen Menschenrechte wie die Erwachse-
        nen auch.
        Durch die Kinderrechtskonvention mit den beiden Fa-
        kultativprotokollen sollen den Kindern überall auf der
        Welt die Menschenrechte zugesprochen werden. Die
        Konvention fasst diese Rechte in vier Grundsätzen zu-
        sammen: das Recht auf Leben und Gesundheit, das
        Recht auf Entwicklung, das Verbot der Diskriminierung
        und die Wahrung der Interessen der Kinder sowie das
        Recht auf Beteiligung und Mitbestimmung.
        Zu dieser Kinderrechtskonvention mit den zwei Fa-
        kultativprotokollen kommt nun ein drittes Fakultativpro-
        tokoll hinzu. Dabei geht es darum, dass diese Rechte für
        die Kinder nicht nur auf dem Papier stehen, sondern die
        Kinder bzw. ihre Vertreter die Möglichkeit haben, sich
        direkt an den UNO-Ausschuss zu wenden, um ihre
        Rechte durchzusetzen, wenn dies im eigenen Staat nicht
        möglich ist. Voraussetzung ist, dass der nationale
        Rechtsweg erfolglos war. Dies ist auch anders nicht
        machbar, weil dies einmal die Achtung vor der Souverä-
        nität des jeweiligen Staates gebietet und weil aus prakti-
        schen Gründen natürlich eine Vorklärung durch die ört-
        lich zuständigen Gerichte zu erfolgen hat. Allerdings
        muss in dringenden Fällen der Zugang zum Ausschuss
        sofort möglich sein. Der Ausschuss kann auch von sich
        aus, ohne dass eine Beschwerde vorliegt, tätig werden,
        wenn besonders schwere Verletzungen von Kinderrech-
        ten in einem Staat bekannt werden. Der Ausschuss hat
        nur die Möglichkeit, in Staaten tätig zu werden, die dem
        Abkommen beigetreten sind.
        Deutschland ist auf Betreiben unserer Familienminis-
        terin einer der ersten Staaten gewesen, die dieses dritte
        Fakultativprotokoll, das wir heute ratifizieren wollen,
        unterzeichnet haben.
        In dieser Kinderrechtskonvention kommt klar zum
        Ausdruck, dass das Kind nicht nur eine Vorstufe des Er-
        wachsenen ist, sondern auch als Kind Mensch ist, dem
        die Menschenrechte in vollem Umfang zustehen. Die
        Kindheit ist eine eigene Lebensphase des Menschen.
        Das Kind ist nicht ein halber Mensch, nur weil es noch
        nicht selbstständig und noch unwissend ist, seine Fähig-
        keiten noch nicht entwickelt hat, noch schwach und un-
        erfahren und ungeschickt ist. Das Kind ist in seiner
        Kindheit ebenso vollständig Mensch wie der Erwach-
        sene auch. Diese Erkenntnis muss sich erst noch in den
        Entwicklungsländern durchsetzen, aber auch in der
        westlichen Welt.
        Der Mensch tritt, wie alles Lebendige, als Keim ins
        Dasein und macht verschiedene Phasen der Entwicklung
        durch. Er beginnt als Embryo. Schon dann hat er Würde
        und steht unter dem Schutz von Art. 1 und 2 GG. Dies
        hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom
        25. Februar 1975 festgestellt und in seinem Urteil vom
        23. Mai 1993 nochmals bestätigt. Diese Erkenntnis hat
        sich in den Gesellschaften des Westens noch nicht
        durchgesetzt.
        Es ist nicht erforderlich, Kinderrechte im Grundge-
        setz zu verankern. Für Kinder gilt das Grundgesetz
        ebenso wie für jeden Erwachsenen. Sie haben nach
        Art. 2 GG das Recht auf Freiheit, auf körperliche Unver-
        sehrtheit und auf Entfaltung ihrer Persönlichkeit. Sie
        sind durch Art. 5 GG in ihrer Meinungsfreiheit ge-
        schützt. Nach Art. 6 GG haben zuerst die Eltern die
        Pflicht, die Kinder zu pflegen und zu erziehen. Daraus
        ergibt sich aber auch umgekehrt das Recht der Kinder
        gegen ihre Eltern auf Pflege und Erziehung. Dies hat das
        Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 1. April
        2008 klargestellt.
        Im Übrigen kann die Aufnahme von Kinderrechten
        im Grundgesetz keine Misshandlung von Kindern ver-
        hindern. Zielgenauer kann dies vielmehr durch einfach-
        gesetzliche Maßnahmen geschehen, so zum Beispiel
        durch das Strafrecht. Im Bildungsbereich haben wir jetzt
        schon die allgemeine Schulpflicht. Eine allgemeine Kin-
        dergartenpflicht für Kinder ab drei Jahren einzuführen,
        halte ich für übertrieben und entspricht auch nicht dem
        Kindeswohl. Diese Entscheidung sollten wir den Eltern
        überlassen.
        Die Betonung der Rechte der Kinder durch die Kin-
        derrechtskonvention hat in vielerlei Richtung Bedeutung
        auch für unser Land. Wir haben zu prüfen, wie wir den
        Anspruch der Kinder gegenüber unserer Gesellschaft auf
        Einhaltung und Gewährung ihrer Rechte noch besser
        durchsetzen können.
        Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD): Die Stär-
        kung der Kinderrechte war und ist ein besonderes Anlie-
        gen der SPD-Bundestagsfraktion, und sie liegt mir als
        Kinderbeauftragter natürlich besonders am Herzen.
        Starke Kinderrechte müssen durchsetzbar sein. Wir haben
        ein Individualbeschwerderecht für Kinder lange gefor-
        dert und freuen uns ausdrücklich über die nun anstehende
        Ratifizierung des entsprechenden Zusatzprotokolls zur
        UN-Kinderrechtskonvention. Dieses Instrument ist ein
        Rechtsmittel zur Durchsetzung der UN-Kinderrechtskon-
        vention. Denn Betroffene könnten sich an den UN-Aus-
        schuss für die Rechte des Kindes wenden, um auf die Ver-
        letzung ihrer Rechte aufmerksam zu machen.
        Bei anderen UN-Abkommen wie dem UN-Zivilpakt
        oder der UN-Frauenrechtskonvention gab es ein solches
        Beschwerderecht bereits. Endlich gibt es auch zur
        UN-Kinderrechtskonvention ein ergänzendes Beschwer-
        deverfahren. Die Einführung dieses Instrumentes in
        Deutschland ist weltweit ein wichtiges Signal für starke
        Kinderrechte. Ein Beschwerderecht hilft dabei, darauf
        hinzuwirken, dass die Vertragsstaaten ihr Rechtssystem
        konsequenter den in der Konvention anerkannten Kin-
        derrechten anpassen und auf deren Einhaltung achten.
        Recht zu haben, reicht alleine nicht aus. Rechte müs-
        sen auch durchsetzbar sein. In einem Beschwerdeverfah-
        ren kann sich das Kind selbst oder eine Person in seinem
        Namen an den Ausschuss für die Rechte des Kindes
        wenden, der die Menschenrechtsverletzung untersucht.
        Auch wenn die Entscheidung des Ausschusses rechtlich
        nicht bindend sein wird, kann er auf Abhilfe drängen
        und für den Kläger gegebenenfalls eine Entschädigung
        fordern. Wie bei allen internationalen Beschwerdeme-
        chanismen muss vorher der innerstaatliche Rechtsweg
        24962 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012
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        ausgeschöpft sein. Was sich bei Erwachsenen mit einem
        etablierten System von Beschwerdemöglichkeiten be-
        währt hat, muss für Kinder erst mit Leben erfüllt werden.
        Auf allen Ebenen brauchen Kinder altersgerechte
        Möglichkeiten der Partizipation und auch der Be-
        schwerde. So setze ich mich auf Bundesebene für einen
        unabhängigen Kinderbeauftragten ein. Auf kommunaler
        Ebene wollen wir Ombudschaftsstellen für Kinder eta-
        blieren, um den Kindern da, wo sie leben, beim Vertreten
        ihrer Interessen direkt beizustehen.
        Kinderrechte müssen stärker bekannt gemacht wer-
        den. Wer nicht um die eigenen Rechte weiß, kann sich
        bei einem Verstoß gegen diese Rechte auch nicht be-
        schweren. Hier ist noch viel zu tun. Wir hätten uns eine
        Fortschreibung des nationalen Aktionsplans zur Umset-
        zung der UN-Kinderrechtskonvention gewünscht. Ich
        hoffe, dass die Bundesregierung die Stärkung der Kin-
        derrechte auch auf einem anderen Gebiet voranbringt.
        Die Verankerung der Kinderrechte im Grundgesetz ist
        im Sinne der UN-Kinderrechtskonvention ebenso sinn-
        voll und geboten wie das Individualbeschwerdeverfah-
        ren.
        Bisher scheiterte die Stärkung der Kinderrechte im
        Grundgesetz leider am Widerstand der Union. In letzter
        Zeit habe ich jedoch erfreuliche Signale vernommen. Ich
        hoffe, dass es uns gemeinsam gelingt, unsere Verfassung
        im Interesse unserer Kinder zu modernisieren. Kinder
        sind Rechtssubjekte und sollten als solche auch im
        Grundgesetz genannt und behandelt werden. Wer Kin-
        derrechte wirklich stärken will, kann sich dieser Forde-
        rung nicht verschließen.
        Miriam Gruß (FDP): Zugegeben, der Name dieses
        Gesetzes ist ein echter Zungenbrecher. Tatsächlich ist
        aber heute ein historischer Tag für die Kinderrechte in
        Deutschland; denn wenn dieses Hohe Haus dem Fakulta-
        tivprotokoll heute zugestimmt hat und der Bundesrat
        keine Einwände erhebt, dann gilt es als von Deutschland
        ratifiziert.
        Deutschland geht diesen Schritt als drittes Land welt-
        weit nach Thailand und Gabon – sobald sieben weitere
        Staaten folgen, tritt das Protokoll in Kraft. Dann be-
        kommt die UN-Kinderrechtskonvention endlich, als letz-
        tes von allen Menschenrechtsabkommen, ihren eigenen
        Beschwerdemechanismus. Das Fakultativprotokoll leis-
        tet einen wichtigen Beitrag zur besseren Umsetzung der
        Rechte der Kinder weltweit und bestätigt Kinder in ihrer
        Eigenschaft als Träger eigener Rechte.
        Deutschland wird durch seine Rolle in diesem Prozess
        zu einem echten Vorreiter unter den UN-Mitgliedstaaten.
        Am 28. Februar 2012 hat Deutschland – vertreten durch
        die Familienministerin Dr. Kristina Schröder – das Fakul-
        tativprotokoll als einer der ersten Staaten überhaupt ge-
        zeichnet. Ich war im Februar 2012 bei der Unterzeich-
        nung in Genf dabei. Dort konnte ich live erleben, wie bei
        den anderen Staaten noch gerungen wurde, ob man unter-
        schreibt oder nicht. Letztendlich haben dann 20 Staaten
        unterzeichnet – ein großer Erfolg auch für Deutschland
        und die schwarz-gelbe Regierung.
        Wir haben es aber nicht nur früh unterzeichnet, son-
        dern auch stark darauf hingewirkt, dass es überhaupt
        dazu gekommen ist. Ohne Deutschlands Werbung für
        diese Angelegenheit wäre das Protokoll kaum noch im
        Jahr 2011 von der UN-Generalversammlung angenom-
        men worden. Daher möchte ich an dieser Stelle noch
        einmal ausdrücklich auch dem Außenminister Dr. Guido
        Westerwelle für seinen Einsatz danken.
        Wenn Deutschland noch in diesem Jahr ratifiziert,
        wäre das die schnellste Zeichnung und Ratifikation eines
        Menschenrechtsabkommens der UN. Ich hoffe sehr, dass
        diese Formalität noch in diesem Jahr zu schaffen ist.
        Die Details des Fakultativprotokolls haben wir bereits
        vor zwei Wochen diskutiert; ich will mich daher nicht
        wiederholen. Dennoch möchte ich noch einmal darauf
        hinweisen: Ohne die FDP an der Regierung wäre es nie
        dazu gekommen. Ich kämpfe seit langem für die bessere
        nationale und internationale Durchsetzung von Kinder-
        rechten. Deshalb haben wir Liberalen vor drei Jahren da-
        rauf bestanden, das Individualbeschwerdeverfahren in
        den Koalitionsvertrag aufzunehmen. Diesen Punkt kön-
        nen wir jetzt abhaken. Damit haben wir unsere Regie-
        rungsarbeit für Kinderrechte um einen wichtigen Erfolg
        erweitert.
        Diana Golze (DIE LINKE): Es steht außer Zweifel:
        Die Einführung des Rechts auf Individualbeschwerde für
        Kinder und Jugendliche ist ein weiterer wichtiger Schritt
        für die bessere Umsetzung der UN-Kinderrechtskonven-
        tion. Es steht auch außer Zweifel, dass das Engagement
        der Bundesregierung, die sich von Beginn an hinter die-
        ses Zusatzprotokoll gestellt hat und den Prozess der Er-
        arbeitung intensiv begleitet hat, von großer Bedeutung
        für das Gelingen des Vorhabens war. Und es ist natürlich
        sehr zu begrüßen, dass das Gesetz zur Ratifizierung den
        Bundestag so zügig und mit großem Einvernehmen pas-
        sieren konnte.
        Schaut man sich aber an, welche Gründe für die Ein-
        führung einer Individualbeschwerde für Kinder und Ju-
        gendliche auch in Deutschland sprechen, wird schell
        deutlich, wie viel noch zu tun ist.
        Kinder müssen als schutzbedürftige Mitglieder unse-
        rer Gesellschaft mit allem zur Verfügung Stehenden ge-
        fördert werden, das ist zumindest in Talkshows, in Re-
        den und in Interviews wieder und wieder zu hören. In
        der Umsetzung allerdings muss ich feststellen, dass zum
        Beispiel Kindern ohne deutschen Pass nach wie vor
        nicht die gleichen Rechte eingeräumt werden, wie sie
        deutschen Kindern zur Verfügung stehen. Sie können
        auch nach der Rücknahme des letzten Vorbehaltes gegen
        die UN-Kinderrechtskonvention als Minderjährige abge-
        schoben werden, in Sammelunterkünften untergebracht
        und zu entwürdigenden Untersuchungsverfahren zur Al-
        tersfeststellung gezwungen werden. Für mich ein klarer
        Fall für die Verletzung der UN-Kinderrechtskonvention
        und somit für eine anzustrengende Beschwerde.
        Noch immer ist in Deutschland der soziale Status der
        Eltern wie in keiner anderen europäischen Wirtschafts-
        nation ein entscheidender Faktor für die Schulbiografie
        von Kindern, für mich eine klare Verletzung der UN-
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012 24963
        (A) (C)
        (D)(B)
        Kinderrechtskonvention und einer anzustrengenden Be-
        schwerde würdig.
        Die Kinderarmut ist in einem reichen Land wie
        Deutschland trauriger Teil des Alltags geworden. Kinder
        gehen hungrig zur Schule, eine gesunde Ernährung ist
        vom bestehenden Regelsatz aus meiner Sicht unmöglich,
        Geld für Schulbücher und -materialien können von den
        Eltern in komplizierten Antragsverfahren nur zweimal
        im Jahr extra beantragt werden, obwohl Schule zum All-
        tag eines jeden Kindes gehört und somit auch alltägliche
        Kosten verursacht. Jeder weiß das – die Bundesregie-
        rung aber ignoriert dies genauso wie die Tatsache, dass
        Nachhilfe nur schwer über eine Arbeitsvermittlungs-
        agentur vermittelt werden kann. Für mich ist das Aus-
        grenzung vom Zugang zu Bildung und somit eine ein-
        deutige Verletzung der UN-Kinderrechtskonvention und
        somit Grund genug für ein anzustrebendes Beschwerde-
        verfahren.
        Ja, ich bin sehr glücklich darüber, dass der Bundestag
        heute seine Zustimmung zu einem Individualbeschwer-
        deverfahren für Kinder geben wird. Denn eine solche
        Möglichkeit für Kinder, ihre Rechte einzuklagen, sorgt
        am Ende für eine bessere Umsetzung der Kinderrechte.
        Dazu muss viel getan werden. Wir brauchen mehr Anlauf-
        stellen, um Kinder über ihre Rechte zu informieren und
        ihnen da Unterstützung anbieten zu können, wo diese
        verletzt werden. Wir brauchen eine verbesserte Rechts-
        stellung von Kindern in unserer Gesellschaft, damit eine
        Individualbeschwerde für Kinder nicht an unüberwind-
        baren Hürden scheitert. Darum sage ich: Kinder stärken,
        heißt ihre Rechte stärken. Das Individualbeschwerde-
        recht für Kinder war überfällig. Die Verankerung von
        Kinderrechten im Grundgesetz ist es leider immer noch.
        Es bleibt also viel zu tun.
        Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir
        werden heute Abend voraussichtlich einen der seltenen
        Momente großer Einigkeit zwischen den Fraktionen er-
        leben, da wir alle durch die Bank weg die Einführung
        des Individualbeschwerdeverfahrens begrüßen und als
        einen wichtigen Schritt zur Stärkung der Kinderrechte in
        Deutschland betrachten. Umso bedauerlicher ist es, dass
        die Bundesregierung ihrem Gesetzentwurf in beiden Le-
        sungen keinen Debattenplatz hier im Bundestag einge-
        räumt hat, der seiner Bedeutung angemessen gewesen
        wäre.
        Das Beschwerdeverfahren zu ratifizieren, ist ein wich-
        tiger Schritt. Aber er muss auch Folgen haben. Die Erfah-
        rungen, die wir mit der ursprünglich von allen Seiten
        – auch von uns – hochgelobten Rücknahme der Vorbe-
        haltserklärung gemacht haben, lassen mich skeptisch
        werden. Denn die Rücknahme der Vorbehalte ist bis heute
        ohne Konsequenzen geblieben, die relevanten Gesetze im
        Bereich des Asyl- und Aufenthaltsrechts wurden nicht
        geändert, und deshalb hat sich an der konkreten Lebens-
        situation minderjähriger unbegleiteter Flüchtlinge auch
        nichts verbessert. Weiterhin können Sechzehnjährige im
        Asylverfahren wie Erwachsene behandelt werden, sie
        können in Sammelunterkünften – auch gemeinsam mit
        Erwachsenen – untergebracht werden, haben keinen An-
        spruch auf weitergehende Leistungen aus dem Gesund-
        heitssystem und der Kinder- und Jugendhilfe. Das wider-
        spricht eklatant der UN-Kinderrechtskonvention, die für
        alle Kinder, alle Minderjährige gilt, und es ist ein echtes
        Armutszeugnis für die schwarz-gelbe Koalition und für
        unser gesamtes Land.
        Die Einführung des Beschwerdeverfahrens muss Fol-
        gen haben, und diese notwendigen Folgen müssen be-
        inhalten, dass die Bundesregierung viel mehr dafür tut,
        dass Kinder ihre Rechte überhaupt kennen. Denn nur
        wer die eigenen Rechte kennt, kann sich auf diese bezie-
        hen und im Zweifelsfall auf das Individualbeschwerde-
        verfahren zurückgreifen. Vor diesem Hintergrund war es
        eine grundfalsche Entscheidung der Bundesregierung,
        den Aktionsplan für ein kindergerechtes Deutschland
        sang- und klanglos auslaufen zu lassen. Hier wäre eine
        Weiterentwicklung und Fortführung wichtig gewesen,
        insbesondere mit Blick auf die dringend notwendige Be-
        kanntmachung der Kinderrechte bei den Kindern selbst.
        Aber auch darüber hinaus darf die Bundesregierung
        sich jetzt keineswegs einen schlanken Fuß machen.
        Denn bei der Umsetzung der UN-Kinderrechtskonven-
        tion in unserem eigenen Land sieht es längst nicht so ro-
        sig aus, wie Ministerin Schröder es gerne darstellt. Al-
        lem voran sollten wir endlich die Kinderrechte im
        Grundgesetz verankern und deutlich machen, dass bei
        allem staatlichen Handeln die Interessen der Kinder be-
        sonders zu beachten sind. Hier hat der UN-Ausschuss
        für die Rechte der Kinder der Bundesrepublik bereits
        mehrfach deutliche Hinweise gegeben, dass diese not-
        wendige Konsequenz der UN-Kinderrechtskonvention
        endlich angegangen werden sollte.
        Aber es geht auch um sehr konkrete, schnell umsetz-
        bare Maßnahmen: beispielsweise die Rechte von Kin-
        dern inhaftierter Eltern endlich in den Fokus zu nehmen
        und gemeinsam mit den Ländern die Verantwortung da-
        für zu übernehmen, dass die Haftbedingungen so gestal-
        tet sind, dass Kinder ihre Eltern regelmäßig besuchen
        können. Beispielsweise die freiwillige Rekrutierung von
        Minderjährigen in die Bundeswehr zu beenden und
        „Straight 18“ umzusetzen.
        Heute gehen wir gemeinsamen einen wichtigen
        Schritt. Wir lassen die Regierung aber nicht aus der Ver-
        antwortung, ihre weitergehenden Hausaufgaben zu ma-
        chen.
        Anlage 10
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
        Begleitung der Verordnung (EU) Nr. 260/2012
        zur Festlegung der technischen Vorschriften
        und der Geschäftsanforderungen für Überwei-
        sungen und Lastschriften in Euro und zur Än-
        derung der Verordnung (EG) Nr. 924/2009
        (SEPA-Begleitgesetz) (Tagesordnungspunkt 22)
        Peter Aumer (CDU/CSU): Heute beraten wir ab-
        schließend über das Begleitgesetz zur Umsetzung der
        SEPA-Verordnung in Deutschland. Mit ihm wird das
        24964 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012
        (A) (C)
        (D)(B)
        deutsche Recht an die europäische SEPA-Verordnung
        angepasst, die den bargeldlosen Zahlungsverkehr inner-
        halb der EU vereinheitlicht. Die Umsetzung ist eines der
        wichtigsten Gesetze der letzten Jahre zur Harmonisie-
        rung des europäischen Binnenmarkts für Zahlungs-
        dienstleistungen.
        Die SEPA-Verordnung ist ein essenzieller Bestandteil
        zur weiteren Integration in der Europäischen Union.
        Zahlungssysteme sollen damit an die Wirklichkeit
        grenzübergreifender Zahlungsströme angepasst werden.
        Einheitliche Regelungen auf europäischer Ebene sind
        gerade im Hinblick auf die zunehmende Bedeutung bar-
        geldloser Zahlungen, wie Überweisungen und Last-
        schriften, sinnvoll. Die Verordnung beendet damit das
        kostenintensive Nebeneinander von inländischen Zah-
        lungsverkehrsprodukten. SEPA wird zu einer Vereinfa-
        chung und Vergünstigung für die Verbraucher und die
        Industrie führen.
        Der christlich-liberalen Koalition ist es gelungen, bei
        der Gestaltung des einheitlichen europäischen Zahlungs-
        verkehrs die deutschen Interessen bestmöglich einzu-
        bringen. Der Bundesregierung ist es bei den Verhandlun-
        gen auf europäischer Ebene gelungen, sich mit nahezu
        allen Forderungen der christlich-liberalen Koalition
        durchzusetzen. Die Trilog-Verhandlungen haben dabei
        ebenfalls gezeigt, dass sich kein anderes Mitgliedsland
        so vehement für die die Verbraucher- und Endnutzerinte-
        ressen eingesetzt hat wie Deutschland.
        Die europäische SEPA-Verordnung ist am 31. März
        2012 in Kraft getreten. Sie sieht vor, dass Überweisun-
        gen und Lastschriften im europäischen Zahlungsraum ab
        dem 1. Februar 2014 einheitliche Anforderungen erfül-
        len müssen. Deshalb müssen auch die in Deutschland
        gebräuchlichen Überweisungs- und Lastschriftverfahren
        ab dem 1. Februar 2014 den SEPA-Formaten genügen.
        Mit dem SEPA-Begleitgesetz bringen wir nun wich-
        tige Regelungen auf den Weg, um eine reibungslose Um-
        stellung der Verbraucherinnen und Verbraucher, der
        Wirtschaft und der Kreditinstitute von den vertrauten
        Zahlverfahren auf die europaweit einheitliche SEPA-
        Lastschrift und SEPA-Überweisung zu gewährleisten.
        Mit dem Begleitgesetz machen wir nun von den
        Übergangsbestimmungen der EU-Verordnung, die auf-
        grund des Einsatzes der Bundesregierung erreicht wer-
        den konnten, Gebrauch. Um den Verbraucherinnen und
        Verbrauchern ausreichend Zeit zu geben, sich auf die
        Neuerungen einzustellen, erhalten sie die Möglichkeit,
        die ihnen geläufige Kontonummer und Bankleitzahl bis
        zum 1. Februar 2016 weiter zu verwenden. Banken und
        Sparkassen dürfen für ihre Privatkunden bis zu diesem
        Zeitpunkt die Kontokennungen bei Inlandszahlungen
        kostenlos in das neue IBAN-Format umwandeln. Wir er-
        warten von der Kreditwirtschaft, dass sie die Bürgerin-
        nen und Bürger sowie Unternehmen frühzeitig über die
        anstehenden Änderungen informiert und sie bei der Um-
        stellung auf SEPA aktiv unterstützt.
        Auch das im Handel übliche elektronische Last-
        schriftverfahren kann aufgrund einer Sonderregelung bis
        zum 1. Februar 2016 weitergeführt werden. Handel und
        Kreditwirtschaft sollten diese Übergangsfrist nutzen, um
        ein praktikables Nachfolgeprodukt für das elektronische
        Lastschriftverfahren auf Basis der SEPA-Lastschrift zu
        entwickeln. Von der Übergangsbestimmung sind eben-
        falls weitere elektronische Lastschriftverfahren erfasst,
        die durch anderweitige Verfahren, wie etwa Sign-Pads
        oder Fingerabdruck, wie sie bereits in einigen Super-
        märkten und Warenhäusern zu finden sind, initiiert wur-
        den.
        Im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens tauchten
        noch einige Unklarheiten bezüglich der telefonisch er-
        teilten Lastschrift und der Internetlastschrift auf. Die
        CDU/CSU und FDP haben sich hierzu entscheiden, eine
        Klarstellung vorzunehmen: Nach der SEPA-Verordnung
        und nach ihrem Inkrafttreten und auch nach dem SEPA-
        Begleitgesetz können weiterhin wirksame Lastschrift-
        mandate im Internet erteilt werden. Für die Nutzung der
        Übergangsregelung gemäß Art. 16 Abs. 4 der SEPA-Ver-
        ordnung (Nischenprodukte) fehlen nach unserer Auffas-
        sung jedoch die rechtlichen Voraussetzungen.
        In diesem Zusammenhang möchte ich nochmals an
        die deutsche Kreditwirtschaft appellieren, moderne ver-
        gleichbare Zahlverfahren zu entwickeln und zur Verfü-
        gung zu stellen, die nach Ablauf der Übergangsfrist an-
        stelle des elektronischen Lastschriftverfahrens zum
        Einsatz kommen können.
        Darüber hinaus steht vorrangig die deutsche Kredit-
        wirtschaft in der Pflicht, Bürgerinnen und Bürger sowie
        Unternehmen frühzeitig über die anstehenden Änderun-
        gen zu informieren und sie bei der Umstellung auf SEPA
        aktiv zu unterstützen.
        An das SEPA-Begleitgesetz hängen wir außerdem
        einige neue Regelungen für die deutsche Versicherungs-
        branche. Ursprünglich sollten diese Regelungen im Rah-
        men des Zehnten Gesetzes zur Änderung des Versiche-
        rungsaufsichtsgesetzes (VAG), mit dem vor allen Dingen
        die europäische Solvency-II-Richtlinie national umge-
        setzt werden soll, verabschiedet werden.
        Nun hat sich die Verabschiedung der Regelungen zu
        Solvency II auf europäischer Ebene weiterhin verscho-
        ben, sodass mit einer Umsetzung dieser Regelungen in
        nationales Recht nicht mehr in diesem Jahr zu rechnen
        ist. Wir wollen daher einige Regelungen aus dem Zehn-
        ten Gesetz zur Änderung des VAG herauslösen und diese
        aufgrund ihrer Dringlichkeit bereits jetzt im Rahmen des
        SEPA-Begleitgesetzes umsetzen.
        Die vorgezogenen Regelungen betreffen zum einen
        die Umsetzung des Urteils des Europäischen Gerichtsho-
        fes zu Unisextarifen. Ab dem 21. Dezember 2012 dürfen
        die Versicherungsunternehmen bei Prämien und Leistun-
        gen ausnahmslos nicht mehr zwischen Männern und
        Frauen differenzieren.
        Zum anderen wollen wir dafür sorgen, dass im Be-
        reich der Lebensversicherung angesichts der anhalten-
        den Niedrigzinsphase in zwei Bereichen noch Änderun-
        gen erfolgen werden: Es soll sichergestellt werden, dass
        Bewertungsreserven auf Kapitalanlagen, die das Versi-
        cherungsunternehmen zur Sicherstellung der Garantien
        an die Versicherungsnehmer erworben hat und weiter be-
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012 24965
        (A) (C)
        (D)(B)
        nötigt, bei sinkenden Kapitalmarktzinsen im Unterneh-
        men verbleiben können. Des Weiteren soll die bisherige
        Trennung der Überschussbeteiligung von vor und nach
        1994 abgeschlossenen Lebensversicherungsverträgen
        aufgehoben werden. Damit stärken wir die Leistungsfä-
        higkeit der Lebensversicherungsunternehmen.
        Wieder einmal hat sich gezeigt, dass sich der Einsatz
        der Regierungskoalitionen der CDU/CSU und FDP be-
        zahlt gemacht hat. Wir konnten für unsere Bürgerinnen
        und Bürger sowie für unsere Unternehmen einen deutli-
        chen Erfolg bei den Verhandlungen auf europäischer
        Ebene erreichen.
        Mit SEPA werden Zahlungen in Euro in das europäi-
        sche Ausland künftig genauso einfach und kostengünstig
        wie im Inland. Die europäische Integration geht nach der
        Euro-Bargeldeinführung mit der Vereinheitlichung des
        bargeldlosen Euro-Zahlungsverkehrs einen weiteren
        Schritt voran.
        Die vorzuziehenden Änderungen aus dem VAG ent-
        halten zudem wichtige und notwendige Regelungen für
        die Versicherungsbranche in Deutschland.
        Ich bitte Sie daher, dem Gesetz zuzustimmen.
        Martin Gerster (SPD): Eine der Erfahrungsweishei-
        ten des politischen Geschäfts lautet: Wo Gesetze, die ei-
        gentlich nichts miteinander zu tun haben, zu Paketen
        verschnürt werden, kommt selten das Optimum heraus.
        Diese Regel gilt auch im Falle des SEPA-Begleitgeset-
        zes. Eigentlich sollte das Werk der Umsetzung der am
        31. März 2012 in Kraft getretenen SEPA-Verordnung
        dienen, mit der ein einheitlicher europäischer Zahlungs-
        raum geschaffen werden soll – eine Idee, die wir grund-
        sätzlich unterstützen. Indem Sie, liebe Kolleginnen und
        Kollegen der schwarz-gelben Koalition, das Vorhaben
        aber zum Huckepackgesetz für unausgewogene Ände-
        rungen im VAG gemacht haben, ist es uns leider nicht
        mehr möglich, dem Gesamtwerk zuzustimmen.
        Bevor ich auf die problematischen Zusatzpunkte ein-
        gehe, ein paar Worte zu SEPA.
        Ein harmonisierter Binnenmarkt für Zahlungsdienste
        stellt, wie Sie im Bericht zu den Gesetzesberatungen zu
        Recht unterstreichen, durchaus ein wirtschaftspolitisch
        sinnvolles Ziel dar. Dies setzt aber voraus, dass er ver-
        braucherfreundlich ausgestaltet und von allen Beteilig-
        ten entsprechend getragen wird. Da ist es wenig hilfreich,
        wenn prominente Unionspolitiker das Gesamtprojekt öf-
        fentlich und in höchst polemischer Art und Weise verun-
        glimpfen. Geben Sie mal in einer Internetsuchmaschine
        „CDU“ und „SEPA“ ein. Sofort stoßen Sie auf Ihren
        Kollegen Gunther Krichbaum, der als Vorsitzender des
        Europaausschusses SEPA mit den Worten kommentiert:
        „Das ist der größte Schwachsinn aller Zeiten“.
        Um diesen Eindruck aus der Welt zu schaffen, reicht
        es nicht, SEPA in Plenarreden und Ausschussdruck-
        sachen demonstrativ zu loben. Im Bericht zum vorlie-
        genden Gesetz betonen Sie, dass SEPA zu einer Verein-
        fachung und Vergünstigung für die Verbraucher und die
        Industrie führen dürfte. Bei allem Optimismus sollte
        man aber auch die Bemerkung des zuständigen Referats-
        leiters beim BMF berücksichtigten, der bei der zitierten
        Sitzung des Europaausschusses im Mai 2011 erklärte:
        „Es ist sicher kein Geheimnis, wenn ich verrate, dass vor
        allem international tätige Unternehmen, die grenzüber-
        schreitende Überweisungen tätigen, von SEPA profitie-
        ren werden.“ Sofern diese Einschätzung zutreffend ist,
        rückt das Ziel einer wirklich verbraucherorientierten
        Umsetzung der SEPA-Standards umso mehr in den Vor-
        dergrund. Wir alle kennen die zahlreichen Befürchtun-
        gen, mit denen wir uns im vergangenen Jahr angesichts
        der drohenden Komplikationen mit bestehenden Ein-
        zugsermächtigungen und der Änderung vertrauter Kon-
        tonummern konfrontiert sahen.
        Auch vor diesem Hintergrund haben wir Sozialdemo-
        kraten gemeinsam mit Ihnen die Entschließung vom
        12. Mai 2011 mit dem Titel „Europäischen Zahlungsver-
        kehr bürgerfreundlich gestalten“ mitgetragen. Denn es
        war richtig und wichtig, als deutsches Parlament ein ge-
        meinsames Signal in Richtung Brüssel zu geben und
        vonseiten der profitierenden Wirtschaftszweige mehr öf-
        fentliche Unterstützung für das Projekt SEPA einzufor-
        dern.
        Insgesamt können wir mit den Ergebnissen zufrieden
        sein. Wir freuen uns, dass gerade mit Blick auf die Um-
        stellung von wiederkehrenden Lastschriftmandaten auf
        den SEPA-Standard eine Lösung über die AGBs gefun-
        den werden konnte, die alle Zweifel zerstreut haben
        dürfte. Sicher wäre es schön gewesen, auf dem Verhand-
        lungswege weitere bewährte Instrumente des deutschen
        Zahlungsverkehrs noch länger zu bewahren. Aber
        manchmal muss sich Politik auf das Mögliche und
        Durchsetzbare beschränken.
        Insofern begrüßen wir es, dass mit dem Gesetz die
        zeitlichen Spielräume zur Weiternutzung des elektroni-
        schen Lastschriftverfahren, ELV, genutzt werden. Auch
        die befristete Option für Zahlungsdienstleister, kosten-
        lose Konvertierungsdienstleistungen für Kontokennun-
        gen zur Verfügung zu stellen, damit Kunden ihre bis-
        herige Kontokennung für Inlandszahlungen weiterhin
        nutzen könnten, begrüßen wir ausdrücklich. Wo noch
        Schwierigkeiten bestehen, wenn es um SEPA-kompa-
        tible Nachfolgeprodukte für das ELV und die Nutzung
        des Internets für die Erteilung von Lastschriften geht, se-
        hen wir vor allem die Marktteilnehmer in der Pflicht.
        Vor allem die Kreditwirtschaft, die über den European
        Payments Council, EPC, die treibende Kraft hinter
        SEPA war, ist aufgefordert, zeitnah entsprechende Pro-
        dukte und Verfahren zu entwickeln, die auf die Bedürf-
        nisse des Handels, der Industrie sowie speziell der Ver-
        braucherinnen und Verbraucher abgestimmt sind.
        So viel zu dem, was im Gesetzentwurf in Sachen
        SEPA umgesetzt wird. Problematischer gestalten sich
        die mit Blick auf die Versicherungsbranche vorgenom-
        menen Änderungen.
        Wie wir wissen, verschieben sich die Verhandlungen
        um Solvency II, die auch die Versicherungsbranche ins-
        gesamt krisenfester machen soll, auf europäischer Ebene
        weit nach hinten. Mittlerweile ist von 2014 die Rede.
        Der ursprüngliche Gesetzentwurf der Bundesregierung
        24966 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012
        (A) (C)
        (D)(B)
        zum Entwurf eines Zehnten Gesetzes zur Änderung des
        Versicherungsaufsichtsgesetzes ist daher in großen Tei-
        len auf Eis gelegt; jedoch sind aus dem Gesetzentwurf
        einige Aspekte herausgelöst worden oder gehen auf die
        Stellungnahme des Bundesrates zurück und sind wiede-
        rum mit dem SEPA-Begleitgesetz verbunden worden.
        Die nunmehr aus dem Gesetzentwurf der Bundesregie-
        rung zum Entwurf eines Zehnten Gesetzes zur Änderung
        des Versicherungsaufsichtsgesetzes herausgelösten Ele-
        mente sollen noch dieses Jahr in Kraft treten. Wir begrü-
        ßen es, dass die Änderungen in § 8 die Rechtsschutzver-
        sicherungen betreffend von den Koalitionsfraktionen
        zurückgezogen wurden. Offensichtlich gibt es völlig un-
        terschiedliche Interessenlagen einzelner Unternehmen.
        Vorrang sollte der Schutz der Verbraucherinnen und Ver-
        braucher haben, und wir konnten feststellen, dass sich
        der Status quo durchaus bewährt hat.
        Unstrittig ist die Umsetzung des Urteils des Europäi-
        schen Gerichtshofs zur Gleichbehandlung von Männern
        und Frauen auch beim Zugang zu und bei der Versor-
        gung mit Gütern und Dienstleistungen, des sogenannten
        Unisexurteils. Zudem sollen Maßnahmen ergriffen wer-
        den, die die Leistungsfähigkeit der deutschen Lebens-
        versicherer in einer Niedrigzinsphase betreffen.
        Wir haben hierzu am 17. Oktober 2012 ein Fachge-
        spräch geführt, in dem wir viele Punkte kritisch hinter-
        fragt haben. Insgesamt gibt es für uns hier Licht und
        Schatten im Gesetzentwurf.
        Die Änderungen im Hinblick auf die Unisexrecht-
        sprechung des EuGH sind für uns in Ordnung und sach-
        gerecht. Die Rahmenbedingungen für eine Umsetzung
        des Urteils müssen gesetzlich gestaltet werden. Im Hin-
        blick auf die Maßnahmen zur Risikotragfähigkeit der
        Lebensversicherungsunternehmen blieben bei uns auch
        nach der Anhörung noch Fragen offen. Es ist auch aus
        unserer Sicht wichtig, Lösungen zu finden, damit die
        Versicherungsunternehmen in der aktuellen Niedrigzins-
        phase die dadurch entstehenden Belastungen bewältigen
        können. Es ist aber trotz der kürzlich überreichten wei-
        teren Erläuterungen des Bundesfinanzministeriums vom
        26. Oktober für uns nicht nachvollziehbar, dass der
        Rückgriff auf die Bewertungsreserven und die Trennung
        bei der Überschussbeteiligung die einzigen Mittel sind,
        um die aktuellen Probleme der Versicherer zu lösen. Aus
        unserer Sicht werden in recht einseitiger Weise die Pro-
        bleme, die im Grunde jedes vorausschauende Versiche-
        rungsunternehmen bei Langfristverträgen beachten muss,
        weil wir stets mit Konjunkturzyklen mit unterschied-
        lichem Zinsniveau konfrontiert sind, einseitig auf die
        Versicherten abgewälzt, und eine Kompensation wurde
        dafür offenbar weder geprüft noch angedacht.
        Sicherlich ist es eine Tatsache, dass die Versiche-
        rungsunternehmen im derzeitigen Kapitalmarktumfeld
        Probleme haben, die notwendigen Erträge zur Erfüllung
        ihrer langfristigen Garantien zu erwirtschaften. Das trifft
        aber auch die Versicherungsnehmer besonders massiv;
        denn ihre Überschussbeteiligungen gehen spürbar zu-
        rück und werden auch in den kommenden Jahren voraus-
        sichtlich noch weiter absinken. Wenn sie nun auch noch
        auf die Beteiligung auf Bewertungsreserven verzichten
        sollen, geht die aktuelle Kapitalmarktsituation einseitig
        zu ihren Lasten und insbesondere zulasten langfristig
        agierender Vorsorgesparer, deren Verträge jetzt fällig
        werden.
        Man hätte aus unserer Sicht bedenken können, dass es
        neben den kapitalmarktabhängigen Gewinnen ja auch
        kapitalmarktunabhängige Gewinnquellen, wie zum Bei-
        spiel Kostengewinne und Risikogewinne, gibt, und da-
        ran könnten die Versicherungsnehmer zum Ausgleich für
        den Verzicht auf einen Teil der Bewertungsreserven zum
        Beispiel stärker als bislang beteiligt werden. Wenn sich
        die Versicherungsnehmer vor dem Hintergrund der Ka-
        pitalmarktkrise nunmehr mit einer geringeren Beteili-
        gung an den mit ihren Beiträgen geschaffenen Vermö-
        genswerten zugunsten der langfristigen Finanzierbarkeit
        der Verträge begnügen müssen, sollten auch aus unserer
        Sicht die Unternehmen ihrerseits einen Beitrag leisten.
        Das wurde im Gesetz unter anderem nicht beachtet, so-
        dass wir diesem Teil nicht zustimmen können und uns,
        wie dargelegt, insgesamt enthalten werden.
        Der Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke
        geht nach unserer Auffassung grundsätzlich in die rich-
        tige Richtung. Die sehr konkreten Forderungen werden
        jedoch nicht begründet, mögliche Konsequenzen für die
        Betroffenen werden nicht analysiert. Dies wäre aber
        dringend notwendig. Angesichts dessen lehnen wir den
        Antrag ab.
        Frank Schäffler (FDP): Wir begleiten mit dem vor-
        liegenden Gesetzentwurf die SEPA-Verordnung und sor-
        gen für ihre Einpassung in den nationalen Rechtsrah-
        men. Im Mittelpunkt der Verordnung steht die Schaffung
        eines einheitlichen Euro-Zahlungsverkehrsraums. Das ist
        uns gelungen, der Grundstein ist gelegt. Eigenständiger
        Platz zum rechtlichen Manövrieren steht uns hier nicht
        zur Verfügung. Die meisten Fragen sind auf europäischer
        Ebene von den Regierungen im europäischen Gesetz-
        gebungsverfahren entschieden worden. Die Bundesregie-
        rung hat unsere Vorgaben, die wir mit dem Ihnen be-
        kannten Entschließungsantrag gemacht haben, zu ihrem
        Verhandlungsauftrag gemacht. Und es freut mich, zu sagen:
        Die Bundesregierung hat erfolgreich verhandelt. Ausge-
        füllt wird der durch die Verordnung beschriebene euro-
        päische Rechtsrahmen des Weiteren durch untergesetz-
        liche Standards, die vom SEPA-Rat gesetzt werden. In
        ihm sind die Nutzer und Anbieter von Zahlungsver-
        kehrslösungen versammelt.
        Im Gesetzgebungsverfahren hat uns vor allem ein
        Problem beschäftigt: Das ein wenig unglückliche Zu-
        sammenspiel von Verordnung und untergesetzlichen
        Standards führt zu Problemen bei der Form der SEPA-
        Mandatserteilung. Wir wollen nämlich Lastschriften
        ohne schriftlich erteiltes Mandat erhalten. Betroffen sind
        die telefonisch erteilte und die Internetlastschrift. Sie
        spielen bedeutende Rollen im deutschen Markt und sind
        ein günstiges Konkurrenzprodukt zu anderen Zahlungs-
        verfahren. Doch die von uns vorgefundene europäische
        Rechtslage stellt es nicht ins Ermessen des deutschen
        Gesetzgebers, an welche qualitativen Voraussetzungen
        die gültige Erteilung eines SEPA-Mandats geknüpft ist.
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012 24967
        (A) (C)
        (D)(B)
        Diese Entscheidung wird nach unserem Verständnis im
        SEPA-Rat getroffen. Wir haben sichergestellt, dass ein
        Verstoß gegen vom SEPA-Rat gesetzte Standards keine
        Ordnungswidrigkeit ist. Es gibt also keine ordnungswid-
        rigkeitsrechtlichen Konsequenzen, wenn die Standards
        aus welchen Gründen auch immer nicht eingehalten wer-
        den.
        Deswegen erinnere ich an die Aufgabe des SEPA-Ra-
        tes. Er soll die Akzeptanz der SEPA-Produkte fördern.
        Wir vertrauen darauf, dass die Nutzer und die Anbieter
        von SEPA-Produkten dort entsprechende Lösungen fin-
        den, mit denen die Erteilung eines Mandats bei mög-
        lichst geringen Transaktionskosten auch weiterhin ge-
        währleistet bleibt. Die im SEPA-Rat vertretenen Nutzer
        haben dieses Interesse ohnehin. Die Anbieterseite for-
        dern wir ausdrücklich auf, ihre Fachkenntnis einzubrin-
        gen, um dies zu ermöglichen. In diesem Zusammenhang
        ist weiterhin daran zu erinnern, dass kartellrechtliche
        Bedenken gegen von den Kartensystemen vorgegebene
        Interbankenentgelte geltend gemacht worden sind. Die
        Existenz der elektronischen Lastschrift mit ihren niedri-
        gen Gebühren diente als wichtiges Argument dafür, dass
        hier bislang kein Missbrauch einer marktbeherrschenden
        Stellung vorgelegen hat.
        Während des Gesetzgebungsverfahrens haben wir die
        unproblematischen, aber zeitkritischen Elemente der
        VAG-Novelle angefügt. Es handelt sich einerseits um
        die fristgerechte Umsetzung des Unisex-Urteils des Eu-
        ropäischen Gerichtshofs. Das Geschlecht darf danach
        zukünftig kein Anknüpfungspunkt mehr für tarifliche
        Diskriminierung sein. Nun sind die Akteure gefordert,
        neue Tarife zu berechnen.
        Doch im Vordergrund stehen Maßnahmen zur Stär-
        kung der Leistungsfähigkeit der deutschen Lebensversi-
        cherer. Die Probleme der deutschen Lebensversicherer
        sind uns nicht verborgen geblieben. Sie leiden unter den
        aktuellen und voraussichtlich auch zukünftigen Niedrig-
        zinsen. Um es klar zu sagen: Wir haben es hier mit Pro-
        blemen zu tun, die eine unmittelbare Folge der Euro-
        Schuldenkrise von Banken und Staaten sind. Die Ret-
        tungseuropäer wollen weder Banken- noch Staatspleiten
        zulassen. Wenn dies die Prämisse allen Denkens und
        Handelns ist, dann ist eine Politik des billigen Geldes die
        zwangsläufige Folge. Man könnte auch sagen: Wer
        Staaten und Banken rettet, der schadet dem Sparer. Denn
        wir erleben eine Kollisionslage von Geld- und Fiskalpo-
        litik – die eine lässt die andere nicht unberührt. Die fis-
        kalischen Entscheidungen der Rettungseuropäer können
        für die Geldpolitik nicht folgenlos bleiben.
        Trotz aller Lippenbekenntnisse für höheres Wachs-
        tum, eine Sparpolitik und für ausgeglichene Haushalte
        sieht die Lage hier ganz, ganz düster aus. Gestern hat die
        Kommission ihre Herbstprognose vorgelegt. In diesem
        Jahr wird das Haushaltsdefizit der Euro-Zone 3,3 Pro-
        zent betragen. Die Maastricht-Latte wird kollektiv geris-
        sen. Das ist ein nahezu unglaublicher Vorgang, wenn
        ganz Europa unter einem angeblichen Spardiktat steht.
        Die ganze Misere macht der Schuldenstand im Verhält-
        nis zum BIP deutlich. 2012 beträgt die Schuldenquote
        des Euro-Raums 93 Prozent vom BIP. Nächstes Jahr soll
        sie 95 Prozent betragen. Der Punkt ohne Wiederkehr soll
        bei einer Staatsschuldenquote von 90 Prozent liegen.
        Aber dieses Mal könnte es ja anders sein.
        Diese ungesunde Fiskalpolitik dominiert die Geldpo-
        litik. Da auch die Europäische Zentralbank den schwar-
        zen Peter nicht haben möchte, sieht sie sich genötigt,
        niedrige Zinsen und eine Geldmengenausweitung zu ver-
        ordnen. Das nutzt den verschuldeten Staaten, schädigt
        aber alle Marktteilnehmer, die auf eine rentierliche Ver-
        zinsung ihrer Anlagen angewiesen sind. Es geht also ins-
        besondere um Gläubiger von Geldforderungen. Die Le-
        bensversicherungen als Inhaber von Staatsanleihen sind
        neben den Sparern am stärksten betroffen. Die Lebens-
        versicherer können die Renditen unter den bislang gülti-
        gen Rahmenbedingungen nicht halten. Zehnjährige Bun-
        desanleihen rentieren heute – ich habe nachgeschaut –
        bei 1,38 Prozent. Der Garantiezins für Neukunden liegt
        bei 1,75 Prozent. Altverträge versprechen gar 4 Prozent.
        Unter diesen Bedingungen ist das System gefährdet. Der
        daraus geborenen Not der Lebensversicherer begegnen
        wir, indem wir ihnen mehr Gestaltungsfreiheit bei
        der Verteilung der Bewertungsreserven einräumen. Das
        kommt letztendlich der Versichertengemeinschaft zu-
        gute.
        Eine echte Lösung der Problematik ist indes auch dies
        nicht. Wir operieren hier an Symptomen. Krankheitsaus-
        löser ist die staatliche Geld- und Fiskalpolitik. Inzwi-
        schen ist klar, dass die Unabhängigkeit der Notenbanken
        nur noch auf dem Papier besteht. Stattdessen sind sie vor
        den staatlichen Karren gespannt. In der Krise wird offen-
        bar, dass die rechtliche Unabhängigkeit der Notenbank
        nicht vor einer politischen Instrumentalisierung schützt.
        Wenn es überhaupt einen Schutz vor einer solchen
        Instrumentalisierung gibt, dann liegt er in einer entspre-
        chenden geldpolitischen Kultur. Es mag sein, dass die
        Bundesbank stärkere Widerstandskräfte gehabt hätte.
        Die Europäische Zentralbank hat diese Kultur innerhalb
        eines eng gesetzten Rechtsrahmens und innerhalb ihres
        Mandats, zu handeln, jedenfalls nicht. Auch daran haben
        die Rettungseuropäer eine Teilschuld. Sie haben Recht
        zur Beliebigkeit verkommen lassen. Regeln werden nach
        situativem Ermessen gebeugt und ausgelegt. Das begann
        mit dem kollektiven Rechtsbruch im Frühjahr 2010, als
        die Nichtbeistandsklausel verletzt wurde, um Griechen-
        lands Gläubigern helfen zu können. Es setzt sich bis
        heute fort, wenn die Konditionen für Hilfen aus den Ret-
        tungsschirmen an die Umstände angepasst werden. Nun
        zahlen die Kunden von Lebensversicherern einen ersten
        Preis. Spätestens jetzt kann es jeder wissen: Die Politik
        der Rettungseuropäer kostet uns nicht nur die Stabilität
        des Rechts, sondern wir bezahlen auch mit unseren Ver-
        mögen.
        Harald Koch (DIE LINKE): Ich finde es äußerst
        schade, dass dem SEPA-Begleitgesetz noch einige Rege-
        lungen der 10. Novelle des Versicherungsaufsichtsgeset-
        zes, VAG, beigefügt wurden. So werden jedenfalls zwei
        ganz unterschiedliche Themen miteinander verwurstet,
        wobei man am Ende aber nur ein einziges Votum abge-
        ben darf. Dies ist umso bedauerlicher, als die Linke zu
        den jeweiligen Themenkomplexen unterschiedlich ab-
        24968 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012
        (A) (C)
        (D)(B)
        stimmen würde. Wenn das schon so gemacht wird, hätte
        ich wenigstens erwartet, dass wir ausreichend Raum be-
        kommen, um über diese für Verbraucher wichtigen Neue-
        rungen im Plenum debattieren zu können, und zwar zu
        einer Tageszeit, zu der die Menschen draußen es mitbe-
        kommen können, dass hier auch entscheidende Weichen,
        die nicht in die richtige Richtung weisen, gestellt wer-
        den. Es scheint eher die Absicht der Bundesregierung zu
        sein, die Aufmerksamkeit der Verbraucher nicht allzu
        sehr auf die angestrebten Neuregelungen zu richten.
        Dies kann ich beim SEPA-Begleitgesetz nicht ganz
        verstehen. Wenn dieses heute allein zur Abstimmung
        stünde, hätte sich die Linke aufgrund durchaus positiver
        Entwicklungen enthalten. Es ist nämlich erfreulich, dass
        einige verbraucherschutzrelevante Regelungen auf dem
        Weg zu einem einheitlichen Euro-Zahlungsverkehrs-
        raum umgesetzt wurden.
        Die bekannte, kurze Kontonummer kann bis 2016
        weiter genutzt werden. Diese lange Übergangsfrist ist
        gut. Nun müssen den Menschen nur noch die Bedenken
        gegenüber den langen IBAN-Kontokennungen genom-
        men werden. Man muss vermitteln, dass lediglich vier
        neue Stellen hinzukommen, auch wenn das besonders
        für ältere Menschen sicher nicht gerade eine Vereinfa-
        chung darstellt. Aber Furcht erscheint fehl am Platze.
        Gut ist auf alle Fälle auch das bedingungslose, gebüh-
        renfreie Rückgaberecht für Abbuchungen vom eigenen
        Konto durch Lastschrift. Dies muss aus unserer Sicht
        aber weiterhin dauerhaft gewährleistet werden.
        Es war ebenfalls unbedingt erforderlich, zu regeln,
        dass Vereine nicht sämtliche Einzugsermächtigungen
        neu einholen müssen.
        Sinnvoll ist ferner, dass im deutschen SEPA-Rat Ver-
        braucherschützer, Wohlfahrtsverbände sowie Genossen-
        schaftsbanken oder Sparkassen sitzen.
        Schließlich unterstützen wir die Einführung von Nega-
        tivlisten bei Lastschriften: Der Verbraucher soll dem
        kontoführenden Institut anweisen können, wer auf keinen
        Fall auf sein Konto zugreifen darf.
        Zusammenfassend sage ich: Der gesamte Umstellungs-
        prozess muss einfach, transparent und verbraucher-
        freundlich erfolgen. Dies geschieht aber leider nicht
        durchgängig.
        Kritisch sehen wir am SEPA-Begleitgesetz unter an-
        derem dies:
        Das bewährte kartenbasierte elektronische Last-
        schriftverfahren hätten wir gerne länger als bis 2016 ge-
        nutzt. Noch steht in den Sternen, ob für die Zeit danach
        ein vergleichbares europäisches Produkt angeboten wird
        und wie dieses ausgestaltet ist. Ich bezweifle stark, dass
        ein lediglich schwacher Appell an die deutsche Kredit-
        wirtschaft, eine solche Produktentwicklung voranzutreiben
        (siehe Begründung der Änderung im Zahlungsdienste-
        aufsichtsgesetz (ZAG) zu § 7c, S.17 SEPA-BegleitG),
        fruchtet. Es ist einfach nur tragisch, wenn Sinnvolles, Be-
        währtes und Verbraucherfreundliches „wegharmonisiert“
        wird.
        Des Weiteren sollte eine Pflicht – keine Kann-Rege-
        lung – bestehen, dass Kreditinstitute mit Verbraucher-
        konten Konvertierungsleistungen anbieten müssen. Nie-
        mand soll wegen Problemen im anfänglichen Umgang
        mit SEPA säumig werden müssen, wenn er in der Über-
        gangszeit noch die alten statt der neuen Kontokennungen
        verwenden muss.
        Nicht ganz geklärt ist nach wie vor, ob Konvertie-
        rungsdienstleistungen für die Kontokennungen den Ver-
        brauchern wirklich ganz kostenfrei zur Verfügung ge-
        stellt werden. Ich sage: Weder direkte noch indirekte
        Gebühren dürfen dafür erhoben werden! Die Linke
        stimmt mit der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfa-
        len überein, dass die Bundesanstalt für Finanzdienstleis-
        tungsaufsicht, BaFin, bis zum Ende des Konvertierungs-
        zeitraumes sicherstellen muss, dass die Kunden keinerlei
        Entgelterhöhung ausgesetzt werden. Eine effektive Kon-
        trolle der Kreditwirtschaft ist hier notwendig!
        Ein großes Problem stellt für uns der Punkt „Benach-
        richtigungsgebühren“ dar: Bislang dürfen Banken von
        ihren Kunden keine Gebühr verlangen, wenn sie bei einer
        Einzugsermächtigung eine Zahlung nicht ausführen und den
        Kunden hierüber benachrichtigen. So entschied auch der
        Bundesgerichtshof am 22. Mai 2012 (Az. XI ZR 290/11).
        Er wies aber zugleich darauf hin, dass nach den neuen
        Vorschriften zur SEPA-Lastschrift eine solche Gebühr
        wohl in Zukunft als zulässig angesehen wird; denn es
        soll sich die Abwicklung von Einzugsermächtigungen
        ändern. Mit SEPA muss im Gegensatz zur bisherigen
        Regelung bei Einzugsermächtigungen vorab eine Autori-
        sierung durch den Kunden erfolgen. Kann neuerdings
        eine Zahlung nicht ausgeführt werden, weil nicht genug
        Geld auf dem Konto ist, dürfen die Banken dank SEPA
        nun eine Benachrichtigungsgebühr verlangen. Seit dem
        9. Juli gibt es solche Gebühren wieder! Ein Skandal!
        Meine Damen und Herren von der Regierungsbank,
        dass Sie hingegen die Aufmerksamkeit der Verbraucher
        lieber nicht auf den zweiten Regelungskomplex im Rah-
        men des SEPA-Begleitgesetzes – sprich: Die Neurege-
        lungen im Versicherungsaufsichtsgesetz – lenken wol-
        len, kann ich hingegen voll und ganz nachvollziehen.
        Hier geht es ja nicht nur um die Umsetzung des Unisex-
        Urteils des Europäischen Gerichtshofs. Sie wollen Rege-
        lungen verabschieden, die Versicherte, die Verbraucher
        ganz klar benachteiligen! Sie erliegen dem Gejammer
        der Versicherungsindustrie, unterwerfen sich zum wie-
        derholten Male finanzstarken Lobbyinteressen und be-
        treiben dadurch erneut Klientelpolitik zulasten der ver-
        sicherten Menschen in diesem Land! Die Linke steht
        aber an der Seite der Versicherten!
        An den geplanten Regelungen finden wir vor allem
        Folgendes bedenklich:
        Versicherungsnehmer sollen künftig nur noch An-
        spruch auf bestimmte Teile der Bewertungsreserven aus
        festverzinslichen Wertpapieren haben. Für alle Verträge
        im Bestand eines Versicherungsunternehmens, bei denen
        der Rechnungs- bzw. Garantiezins – dieser beträgt seit
        Anfang 2012 historisch niedrig 1,75 Prozent, ältere Ver-
        träge haben einen höheren Rechnungszins – oberhalb der
        Umlaufrendite – diese beträgt am heutigen Tag circa
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012 24969
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        1,08 Prozent – im Zeitpunkt der Berechnung der Bewer-
        tungsreserven liegt, soll die Beteiligung ausgeschlossen
        werden. Ich wiederhole: …soll eine Beteiligung an den
        Bewertungsreserven ausgeschlossen werden.
        Sie benutzen einen üblen Taschenspielertrick und ver-
        letzen bewusst vertragliche Ansprüche der Versicherten!
        Dies ist für mich als Verbraucherschützer nicht hinnehm-
        bar!
        Letztlich zielen Ihre Regelungen darauf ab, die Über-
        schussansprüche insbesondere ausscheidender Altkunden
        zu reduzieren und möglichst viel von den Bewertungsre-
        serven aus festverzinslichen Papieren zu bunkern, um
        weniger Nachreservierungen vornehmen zu müssen. Da-
        mit will die Branche zulasten der bereits Versicherten,
        aber auch derjenigen, die einen Vertrag kündigen, das
        lahmende Neugeschäft stärker ankurbeln. Versicherer
        können und wollen die Ansprüche der Verbraucher aus
        bestehenden Verträgen reduzieren, um dafür künftigen
        Kunden mehr versprechen zu können. Da kann man als
        Verbraucherschützer doch nicht untätig bleiben!
        Es werden zudem mit den Änderungen des Versiche-
        rungsaufsichtsgesetzes präventive Regelungen geschaf-
        fen, die es Versicherungsunternehmen erlauben, auf
        noch nicht gutgeschriebene Überschussanteile inklusive
        der Beteiligung an den Bewertungsreserven zurückgrei-
        fen zu können, um im sogenannten Notstand die Zah-
        lungsfähigkeit des Unternehmens zu sichern (vgl. § 56 b
        Abs.1 VAG neu). Neben der BaFin müssen unbedingt
        Verbraucherschutzverbände und andere mit einbezogen
        werden, um einen – vorher klar zu definierenden – „Not-
        stand“ feststellen zu können. Mit solch einem butterwei-
        chen Begriff wird doch sonst der Selbstbedienung der
        Versicherer Tür und Tor geöffnet.
        Man muss gewiss die Zahlungsfähigkeit der Versiche-
        rungsunternehmen im Auge haben, um massenhafte In-
        solvenzen zu verhindern, aber es kann nicht angehen,
        dass die Risikotragfähigkeit der Versicherer absolut ein-
        seitig nur dadurch finanziert wird, dass bestehende An-
        sprüche der Versicherten stetig vermindert werden.
        Auch hier sieht man: Die Bundesregierung hofiert nur
        die Versicherungswirtschaft und verringert auf diesem
        Weg das Eigentum der Versicherten!
        Die Linke hat deshalb für heute einen Entschlie-
        ßungsantrag zum Versichertenschutz vorgelegt. In dem
        fordern wir, die Beteiligung der Versicherungsnehmer am
        gesamten Rohüberschuss, Kapitalanlageergebnis plus
        Risikoergebnis plus Kosten und sonstiges Ergebnis, auf
        insgesamt 90 Prozent anzuheben. Die Mindestzufüh-
        rungsverordnung muss daneben auch so geändert wer-
        den, dass eine verbindliche Beteiligung der Versicherten
        an der freien Rückstellung für Beitragsrückerstattung,
        RfB, und dem Schlussüberschussanteilsfonds von min-
        destens 50 Prozent geschaffen wird.
        Wir werben daher für unsere Vorschläge zum Ver-
        sichertenschutz und müssen aus genannten Gründen das
        SEPA-Begleitgesetz – vor allem wegen der Neuregelun-
        gen im Versicherungsaufsichtsgesetz – insgesamt ableh-
        nen.
        Es ist an der Zeit, dass die Bundesregierung den fi-
        nanziellen Verbraucherschutz endlich ernst nimmt und
        sich bedingungslos auf die Seite der Versicherten und ih-
        rer Rechte stellt. Wie lange wollen Sie denn noch Spiel-
        ball der Versicherungslobby bleiben?
        Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        Wir Grüne haben es stets befürwortet und unterstützt,
        den europäischen Zahlungsverkehr durch einen einheitli-
        chen Euro-Zahlungsverkehrsraum, Single Euro Pay-
        ments Area, SEPA, im Sinne der Harmonisierung des
        europäischen Binnenmarktes zu vereinfachen. Gleich-
        zeitig war uns wichtig, dass die Umstellung auf die
        neuen Zahlungsverfahren rechtssicher und reibungslos,
        kurzum: so verbraucherfreundlich wie nur möglich, ver-
        läuft.
        Deshalb war es ein Erfolg, dass grüne Kernforderun-
        gen zu zentralen Themen wie Verbraucherschutz,
        Rechtssicherheit und Effizienz in den Verordnungstext
        aufgenommen werden konnten. Beispielsweise hatten
        wir uns auf europäischer Ebene dafür eingesetzt, dass
        Verbraucherinnen und Verbraucher die ihnen geläufige
        Kontonummer und Bankleitzahl statt der Zahlungskon-
        tonummer IBAN bis zum 1. Februar 2016 weiter ver-
        wenden können. Von dieser befristeten Option für
        Zahlungsdienstleister, kostenlose Konvertierungsdienst-
        leistungen für Kontokennungen anzubieten, und von an-
        deren Übergangsregelungen macht das SEPA-Begleitge-
        setz, das wir heute abschließend beraten, Gebrauch.
        Es ist damit im Großen und Ganzen geeignet, eine
        verbraucherfreundliche Umstellung der bisherigen natio-
        nalen Zahlungsverfahren auf die SEPA-Zahlungsverfah-
        ren sicherzustellen. Es kommt nun in den nächsten Mo-
        naten darauf an, die Verbraucherinnen und Verbraucher
        zu informieren und sie nicht mit den bevorstehenden
        Umstellungen auf SEPA alleinzulassen. Hier sehe ich die
        deutsche Kreditwirtschaft in der Pflicht.
        Ich möchte kurz auf das Thema Internetlastschriften
        eingehen. Im Laufe der Beratungen hatten sich Endnut-
        zer besorgt gezeigt, dass das Lastschriftverfahren im
        Internet nach der SEPA-Verordnung mit Ablauf der na-
        tionalen Regelungen bereits zum 1. Februar 2014 zu ent-
        fallen drohe. Nach Auffassung der Koalitionsfraktionen
        können allerdings sowohl nach der SEPA-Verordnung
        als auch nach dem Inkrafttreten des SEPA-Begleitgeset-
        zes wirksame Lastschriftmandate im Internet weiterhin
        erteilt werden. Die Banken in Deutschland sollten nach
        Auffassung der Koalitionsfraktionen das Internetlast-
        schriftverfahren ohne Schriftform auf Grundlage der
        vertraglichen Vereinbarungen mit ihren Kunden oder in
        ähnlicher Weise gewährleisten.
        Verstehen kann ich hier jedoch die Unklarheit und die
        Unsicherheit aufseiten der Nutzer über die Zukunft der
        Internetlastschrift vor dem Hintergrund, dass die deut-
        sche Kreditwirtschaft nach Auskunft des Handelsver-
        bandes Deutschland e. V. gemäß ihrer Inkassobedingun-
        gen ausschließlich papierhafte Mandate bei der SEPA-
        Lastschrift akzeptiert. Es bleibt zu hoffen, dass das bei
        Verbraucherinnen und Verbrauchern beliebte Bezahlen
        mittels Internetlastschrift nicht durch andere, in der Re-
        24970 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012
        (A) (C)
        (D)(B)
        gel teurere Zahlungsweisen (beispielsweise Kreditkarte)
        ersetzt werden muss. Und auch mit Blick auf das elek-
        tronische Lastschriftverfahren möchte ich nochmals
        betonen, dass es insbesondere Aufgabe der deutschen
        Kreditwirtschaft ist, die Entwicklung eines dem elektro-
        nischen Lastschriftverfahren vergleichbaren Nachfolge-
        produktes aktiv voranzutreiben.
        Darüber hinaus haben die Koalitionsfraktionen einen
        sachfremden Änderungsantrag eingebracht, mit dem im
        Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens zum SEPA-Be-
        gleitgesetz Teile der geplanten Novelle des Versiche-
        rungsaufsichtsgesetzes vorgezogen werden. Im Wesent-
        lichen handelt es sich dabei zum einen um die
        Umsetzung des Urteils des Europäischen Gerichtshofs
        vom 1. März 2011 in der Rechtssache C-236/09 (soge-
        nanntes Unisexurteil). Zum anderen handelt es sich um
        Maßnahmen zur Stärkung der Leistungsfähigkeit der
        deutschen Lebensversicherer. Diese beinhalten unter an-
        derem eine aufsichtsrechtliche Neuregelung der Beteili-
        gung der Versicherten an den Bewertungsreserven der
        Lebensversicherer. Künftig sollen – in Abhängigkeit von
        der Umlaufrendite – nur noch bestimmte Teile der Be-
        wertungsreserven festverzinslicher Wertpapiere in der
        Überschussbeteiligung nach § 153 Versicherungsver-
        tragsgesetz in Ansatz kommen. Diesem erheblichen Ein-
        griff in die Ansprüche der Versicherten können wir aus
        den nachfolgenden Gründen nicht zustimmen:
        Es ist unbestritten, dass das Niedrigzinsumfeld für die
        Lebensversicherungsbranche eine große Herausforde-
        rung darstellt. Es ist auch richtig, darauf zu reagieren.
        Nachdem jedoch in den letzten Jahren bereits der Garan-
        tiezins gesenkt wurde und Steuererleichterungen in den
        Jahressteuergesetzen 2010 und 2013 in Bezug auf die
        Rückstellungen für Beitragsrückerstattung vorgenom-
        men wurden, wird heute zum vierten Mal eine Maß-
        nahme zur Stabilisierung des Lebensversicherungssek-
        tors beschlossen, ohne dass konkret dargelegt bzw.
        quantifiziert wird, welche Maßnahmen warum wirklich
        notwendig sind und zu wessen Lasten diese Maßnahmen
        erfolgen.
        Die Begründung des Bundesfinanzministeriums in ei-
        ner angeforderten Aufzeichnung, dass aufgrund der
        anhaltenden Niedrigzinsphase nicht ausgeschlossen wer-
        den könne, dass einzelne Unternehmen künftig in
        Schwierigkeiten geraten können, ist alles andere als
        überzeugend. Die in der Aufzeichnung zitierte Studie
        der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht aus
        dem Jahr 2011, aus der hervorgeht, dass die Kapital-
        erträge der Lebensversicherer nicht ausreichen, um die
        Garantie sowie die Zuführungen zu Zinszusatzreserven
        zu tragen, berücksichtigt beispielsweise nur Kapital-
        erträge und weder die anderen Ertragsquellen noch deren
        Reserven.
        Festzustellen ist vielmehr, dass die Lebensversiche-
        rungsbranche in der Summe immer noch sehr profitabel
        ist. Stärkere Unternehmen erzielen immer noch Eigenka-
        pitalrenditen von über 25 Prozent. Solange viele Versi-
        cherungsunternehmen aber gute Eigenkapitalrenditen,
        gute Ratings und hohe Ausschüttungen aufweisen und
        nur Teile der Versicherungsbranche vor wirtschaftlichen
        Problemen stehen, sollte doch lediglich dort spezifisch
        eingriffen werden, wo die Probleme tatsächlich liegen.
        Es ist schwer verständlich, weshalb die Profitabilität des
        gesamten Sektors zulasten der Versicherten angehoben
        werden soll, nur um wenige schwache Unternehmen zu
        schützen. Gleichzeitig ist nicht sichergestellt, dass die
        Maßnahmen zur Stärkung der Lebensversicherer auch
        wirklich deren Stabilisierung zugutekommen. Die Paral-
        lele zum Bankensektor zeigt doch eins: Mit Blick auf
        Ausschüttungen und Boni sind Auflagen und zusätzliche
        Regelungen notwendig.
        Nach alledem ist derzeit jedenfalls nicht erkennbar,
        dass der von der Bundesregierung gewählte regulatori-
        sche Ansatz der geeignetste ist. Berücksichtigt man nun
        noch, dass bereits das geltende Recht zur Beteiligung
        von Versicherten an den Bewertungsreserven bei Le-
        bensversicherungen nicht einmal geeignet ist, Transpa-
        renz herzustellen – wie es die Bundesregierung auf eine
        Kleine Anfrage meiner Fraktion offen eingesteht –, kann
        man diese Maßnahme nur ablehnen.
        Anlage 11
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Entwurfs eines … Gesetzes
        zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes (Ta-
        gesordnungspunkt 35)
        Ansgar Heveling (CDU/CSU): Wir beraten heute in
        erster Lesung einen von den Fraktionen der CDU/CSU
        und FDP eingebrachten Entwurf zur Änderung des Ur-
        heberrechtsgesetzes. Konkret geht es um § 52 a UrhG,
        der die Nutzung geschützter Werke in Wissenschaft und
        Forschung regelt und eine in der Praxis bedeutsame
        Schranke des Urheberrechts darstellt.
        Mit dem Gesetzentwurf erreichen wir zwei wesentli-
        che Dinge: Zum einen erhalten wir vorläufig die für
        Wissenschaft und Forschung wichtige Geltung des
        § 52 a UrhG, zum anderen schaffen wir die Vorausset-
        zung für die Einrichtung einer dauerhaften einheitlichen
        Wissenschaftsschranke im deutschen Urheberrecht.
        Die Wissenschaft leistet in unserer Gesellschaft einen
        maßgeblichen Beitrag zur Erweiterung unseres Wissens-
        horizonts. Dabei sind Wissenschaftler wie Studenten,
        Lehrer wie Schüler auf die Nutzung urheberrechtlich ge-
        schützter Werke angewiesen. Deswegen ist mit den
        §§ 52 a ff. UrhG eine besondere Schranke für die Berei-
        che Schule, Studium und Lehre, Wissenschaft und For-
        schung geschaffen worden. Kleine Teile eines Werkes
        oder Werke von geringem Umfang sowie Zeitungs- und
        Zeitschriftenbeiträge können für Unterrichtszwecke ver-
        vielfältigt und öffentlich zugänglich gemacht werden.
        Diese Wissenschaftsschranke wurde seinerzeit jedoch
        bewusst befristet, da die Anwendung in der Praxis noch
        nicht absehbar war. Diese Befristung wurde nun bereits
        zweimal verlängert, und es wurde jedes Mal vorher ein
        Evaluierungsbericht vorgelegt.
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012 24971
        (A) (C)
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        Das Bundesjustizministerium ist leider auch in sei-
        nem dritten Evaluierungsbericht zu keinem Ergebnis ge-
        kommen und hat – außer einer weiteren Befristung der
        Schranke – ebenso wenig einen Lösungsvorschlag unter-
        breitet.
        Deshalb haben wir von CDU und CSU gemeinsam
        mit der FDP einen Gesetzentwurf eingebracht, der eine
        erneute Befristung von § 52 a UrhG in § 137 k UrhG bis
        zum 31. Dezember 2014 vorsieht. Gleichzeitig fordern
        wir aber die Bundesregierung auf, bis spätestens sechs
        Monate vor Ablauf dieser Befristung einen Gesetzent-
        wurf vorzulegen, durch den § 52 a UrhG in eine dauer-
        hafte Urheberrechtsschranke überführt wird.
        Das Ziel sollte es sein, eine neue einheitliche Wissen-
        schaftsschranke zu schaffen. Damit ließe sich endgültig
        Rechtssicherheit für alle Beteiligten erreichen. Zudem
        sind viele der Regelungen in §§ 52 a ff. UrhG heute auf-
        grund der fortschreitenden Digitalisierung nicht mehr
        angemessen und teilweise überholt.
        Das Bundesjustizministerium hätte jedenfalls lange
        Zeit gehabt – drei Jahre, um genau zu sein –, eine Lö-
        sung vorzulegen. Da dies immer noch nicht geschehen
        ist, haben wir nun aus der Mitte des Parlaments heraus
        einen Gesetzentwurf eingebracht.
        Im Bereich der Schulen funktioniert die Anwendung
        des § 52 a UrhG bereits gut. Probleme gibt es jedoch an
        den Hochschulen. Es ist fatal, dass seit der Einführung
        des § 52 a UrhG noch kein einziger Cent seitens der
        Länder an die am stärksten betroffene Verwertungsge-
        sellschaft, die VG Wort, geflossen ist. Mit der Einrich-
        tung einer dauerhaften Wissenschaftsschranke muss ge-
        währleistet sein, dass die Urheber für die Nutzung ihrer
        geschützten Werke angemessen vergütet werden.
        Mit der letztmaligen Erneuerung der Befristung wol-
        len wir die Entscheidung des Bundesgerichtshofs zur
        Vergütung sowie zur Reichweite der Schranke abwarten,
        damit dann die Erkenntnisse der Rechtsprechung in die
        Formulierung einer einheitlichen Wissenschaftsschranke
        einfließen können und die Reichweite der Schranke auf
        das erforderliche Maß reduziert werden kann. Bis Ende
        2014 sollten wir mit einer Entscheidung durch den Bun-
        desgerichtshof rechnen können. Nach diesem Urteil wird
        sich absehen lassen, wie die Regelung in § 52 a UrhG
        auf Grundlage der Entscheidung des BGH in den Hoch-
        schulen praktisch angewandt wird.
        Der vorliegende Gesetzentwurf wird nicht nur den
        Unterricht an Schulen und Hochschulen sowie die wert-
        volle Arbeit von Wissenschaft und Forschung in unse-
        rem Land in den kommenden beiden Jahren sichern. Er
        ist vor allem eine solide Grundlage für die Einrichtung
        einer dauerhaften, einheitlichen Wissenschaftsschranke
        im deutschen Urheberrecht. Damit leisten wir einen
        wichtigen Beitrag für Lehre und Forschung in Deutsch-
        land und schaffen gleichzeitig einen Ausgleich zwischen
        Urhebern, Werkmittlern und der Wissenschaft.
        Tankred Schipanski (CDU/CSU): Der Gesetzent-
        wurf, den wir heute in erster Lesung debattieren, sieht
        eine nochmalige Verlängerung des § 52 a UrhG um wei-
        tere zwei Jahre, bis zum 31. Dezember 2014, vor. Diese
        Regelung erlaubt es, kleine Teile eines Werkes, Werke
        geringen Umfangs und einzelne Beiträge aus Zeitungen
        oder Zeitschriften zur Veranschaulichung im Unterricht
        an Schulen, Hochschulen und weiteren Einrichtungen ei-
        nem bestimmten abgegrenzten Kreis von Personen für
        Unterrichtszwecke oder für Forschungszwecke öffent-
        lich zugänglich zu machen. Nach derzeit noch gelten-
        dem Recht läuft diese Sonderregelung für den Bildungs-
        und Wissenschaftsbereich zum 31. Dezember 2012 aus.
        Mit dieser Gesetzesänderung schaffen wir für weitere
        zwei Jahre Rechtssicherheit für alle betroffenen Akteure:
        für Lehrer und Wissenschaftler, für Forscher und Biblio-
        thekare, aber auch für Autoren und Verleger. Wir sind
        uns jedoch auch bewusst, dass sich die angesprochenen
        Akteure dauerhafte Rechtssicherheit wünschen. Lassen
        Sie es mich klar sagen: Auch wir streben eine dauerhafte
        Lösung an. Jedoch fehlt es derzeit noch an den notwen-
        digen Voraussetzungen für eine langfristige Lösung.
        Warum ist das so? Zwei wichtige Entscheidungen des
        Bundesgerichtshofs stehen noch aus. Die eine betrifft die
        Höhe der von den Ländern zu entrichtenden Vergütun-
        gen an die Verwertungsgesellschaft VG Wort, die andere
        die Reichweite von § 52 a UrhG. Im ersten Verfahren hat
        zunächst das OLG München am 24. März 2011 einen
        Gesamtvertrag zwischen Kultusministerkonferenz und
        der VG festgesetzt, gegen den beide Parteien Revision
        eingelegt haben. Nun befasst sich der BGH mit diesem
        Verfahren. Ein Termin für die Entscheidung steht noch
        nicht fest.
        Im zweiten Verfahren, basierend auf einer Entschei-
        dung des OLG Stuttgart vom 4. April 2012, erwarten wir
        eine Entscheidung über die inhaltliche Reichweite des
        § 52 a UrhG. Die Nutzung außerhalb des Semesterapparats
        oder außerhalb der Vorlesung sei von dieser Schranke
        ausdrücklich nicht erfasst, so das OLG Stuttgart – eine
        Auffassung, die meines Erachtens zu eng ist. Auch hier
        steht die Entscheidung des BGH noch aus.
        Solange wir kein auf Dauer belastbares rechtliches
        Fundament haben, können wir auch keine langfristigen
        politischen Richtungsentscheidungen treffen. Wir müs-
        sen als Gesetzgeber zunächst wissen, wie § 52 a UrhG
        auf der Grundlage der Entscheidungen des BGH künftig
        anzuwenden ist. Aus diesem Grund halten wir eine letzt-
        malige Verlängerung der Befristung für richtig. Deshalb
        erhält die Bundesregierung in dem heute vorliegenden
        Gesetzentwurf auch den Auftrag, bis spätestens 30. Juni
        2014 – sprich: bis ein halbes Jahr vor dem erneuten Aus-
        laufen der Befristung – einen Gesetzentwurf vorzulegen,
        mit dem die befristete Sonderregelung des § 52 a UrhG
        in eine neu gefasste, dann dauerhafte Wissenschafts-
        schranke überführt wird.
        Mit der Verlängerung der bestehenden Sonderrege-
        lung haben wir für Schulen und Hochschulen, Bibliothe-
        ken und Verlage ein wichtiges Etappenziel erreicht. Un-
        sere Arbeit geht aber weiter. Ziel ist es, bis Ende 2014
        die in § 52 a UrhG geregelte Ausnahme zusammen mit
        anderen urheberrechtlichen Regelungen in den Berei-
        chen Unterricht und Forschung zu einer einheitlichen
        Wissenschaftsschranke im Urheberrecht zusammenzu-
        24972 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012
        (A) (C)
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        führen. Ich werbe dafür, die notwendigen Diskussionen
        hierzu früh zu beginnen und im nächsten Koalitionsver-
        trag die Richtung für die nächste Legislaturperiode mög-
        lichst präzise festzuschreiben.
        Das von der CDU/CSU-Fraktion am 26. Juni 2012
        veröffentlichte Diskussionspapier „Urheberrecht in der
        digitalen Gesellschaft“ ist hierzu ein wichtiger erster
        Schritt. In diesem Papier hat meine Fraktion klarer und
        weitgehender als alle anderen Fraktionen im Deutschen
        Bundestag Stellung zu vielfältigen Fragen des Urheber-
        rechts bezogen. Wir sind uns der maßgeblichen Rolle
        von Bildung und Wissenschaft zur Erweiterung unseres
        Wissens bewusst. Um diese Aufgabe zu erfüllen, sind
        Bildungs- und Wissenschaftseinrichtungen auf die Nut-
        zung urheberrechtlich geschützter Werke angewiesen.
        Als Bildungs- und Wissenschaftspolitiker bin ich
        überzeugt, dass die Bedeutung von Bildung und Wissen-
        schaft für die Weiterentwicklung unserer Gesellschaft in
        Zukunft nicht geringer werden wird; ganz im Gegenteil.
        Deshalb sollten Bildungs- und Forschungseinrichtungen
        auch in Zukunft im Sinne des jetzigen § 52 a UrhG eine
        Sonderstellung einnehmen.
        Ich weiß aus zahlreichen Gesprächen um die Unsi-
        cherheiten, die Sorgen und die Probleme, die in vielen
        Bildungs- und Forschungseinrichtungen im Hinblick auf
        das Urheberrecht vorherrschen. So hat die mediale Mo-
        dernisierung dazu geführt, dass § 52 a UrhG in Wissen-
        schaft und Forschung zunehmend als zu eng empfunden
        wird und auf eine deutliche Ausweitung gedrängt wird.
        Stark gestiegene Preise und die Bündelung in Daten-
        banken haben dazu geführt, dass es für die öffentliche
        Hand immer schwerer wird, wissenschaftliche Werke für
        Hochschulen und Forschungseinrichtungen zu lizenzie-
        ren. Die Hochschulbibliotheken beschweren sich über
        Marktversagen und punktuelle Monopolbildung durch
        wissenschaftliche Großverlage. Die Länder wiederum be-
        klagen enorme Preissteigerungen bei wissenschaftlicher
        Literatur. Diese und weitere Punkte wurden bereits in
        der zweiten Anhörung des BMJ zum sogenannten Drit-
        ten Korb des UrhG am 13. Juli 2010 sehr deutlich.
        In den bevorstehenden Verhandlungen zu einer ein-
        heitlichen Wissenschaftsschranke gilt es, auch diese Pro-
        bleme zu berücksichtigen. Dabei muss es uns insbesondere
        gelingen, der wachsenden Bedeutung der elektronischen
        Kommunikation für Wissenschaft, Forschung und aka-
        demische Lehre Rechnung zu tragen. Nur so können wir
        ein modernes, zeitgemäßes und nutzerfreundliches Ur-
        heberrecht schaffen.
        René Röspel (SPD): Der hier zu debattierende Ge-
        setzentwurf der Koalitionsfraktionen stellt ein weiteres
        Mal ein Armutszeugnis für Schwarz-Gelb dar: Von Ge-
        staltungswille kann hier keine Rede sein. Der § 52 a des
        Urheberechtsgesetzes soll nach dem Willen der Koalitio-
        näre ein weiteres Mal um zwei Jahre verlängert werden.
        Damit vergibt die Bundesregierung – und mit ihr die Ko-
        alitionsfraktionen – die Chance, endgültig Rechtssicher-
        heit für die Bildungs- und Wissenschaftslandschaft in
        Deutschland zu schaffen. Aber warum ist eine solche
        Regelung im Urheberrecht von solcher Bedeutung für
        Bildung und Lehre in Deutschland?
        Die Bedeutung der in § 52 a Urheberrecht kodifizier-
        ten Wissenschaftsschranke für den Bildungs- und Wis-
        senschaftsstandort Deutschland ist nicht zu unterschät-
        zen. Nur durch diese Regelung ist es öffentlichen
        Bildungs- und Wissenschaftseinrichtungen in Deutsch-
        land möglich, einen kleinen Teil eines geschützten Wer-
        kes zum Zwecke der Lehre einem begrenzten Personen-
        kreis zugänglich zu machen. Der von fast allen
        Hochschullehrern an deutschen Hochschulen zum Ein-
        satz kommende Semesterapparat – in analoger oder digi-
        taler Form – ist hierfür das beste Beispiel. Aber auch die
        vereinzelte Kopie eines Fach- oder Zeitungsartikels, die
        von Lehrern den Schülern als ergänzendes Unterrichts-
        material zur Verfügung gestellt wird, wird von dieser
        Regelung erfasst. Selbstverständlich erfolgt dies nicht
        gänzlich kostenfrei. Vielmehr sieht das Gesetz hierfür
        eine unbürokratische Lösung in Form der pauschalen
        Vergütung der Urheber mittels der Verwertungsgesell-
        schaften vor.
        Anhand dieser Beispiele wird deutlich, welche zen-
        trale Rolle diese Ausnahmeregelung im Urheberrechts-
        gesetz für Einrichtungen der Bildung und Lehre hat.
        Ohne den § 52 a Urheberrechtsgesetz wäre eine effektive
        und qualitativ hochwertige Lehre in Deutschland kaum
        denkbar.
        Umso bedauerlicher ist es, dass den von dieser Rege-
        lung profitierenden Einrichtungen nicht dauerhaft
        Rechtssicherheit durch diese Bundesregierung geboten
        wird. Denn diese wichtige Regelung steht auf wackeli-
        gen Füßen: So wurde sie bei ihrer Einführung 2003 mit
        einer Befristung versehen, die den Zweck hatte, nach ei-
        ner angemessenen Frist – von damals drei Jahren – die
        Regelung zu evaluieren und dann gegebenenfalls anzu-
        passen bzw. zu entfristen. Nach erneuten Befristungen in
        den Jahren 2006 und 2008, das heißt nach nunmehr fast
        zehn Jahren, läuft die derzeitige Befristung zum Ende
        des Jahres aus.
        Dies hat die SPD-Bundestagsfraktion zum Anlass ge-
        nommen, um bereits vor der Sommerpause einen Ge-
        setzentwurf auf den Weg zu bringen, der eine endgültige
        Entfristung dieser in der Praxis wohl bewährten Rege-
        lung vorsieht. Denn nur auf diese Weise kann für die be-
        troffenen Akteure dauerhaft Rechtssicherheit geschaf-
        fen werden. Dabei folgt die SPD-Bundestagsfraktion mit
        ihrer Forderung nach einer Entfristung nicht nur der
        Empfehlung der Allianz der Wissenschaftsorganisatio-
        nen oder dem Bündnis für Urheberrecht. Vielmehr hat
        sich das Bundesministerium der Justiz bereits bei seiner
        Evaluation im Jahr 2008 für eine Entfristung der Rege-
        lung ausgesprochen. Umso verwunderlicher ist es, dass
        das gleiche Haus bei seiner dritten Evaluation erstmalig
        zur Auffassung kommt, von einer Entfristung zugunsten
        einer weiteren Befristung – es wäre die vierte in Folge –
        abzusehen, und dass es damit zu einem anderen Ergebnis
        kommt. Begründet wird diese abweichende Meinung mit
        der Empfehlung zur weiteren Befristung um zwei Jahre
        mit dem Hinweis, dass derzeit noch ein Revisionsverfah-
        ren beim Bundesgerichtshof anhängig ist, welches die
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012 24973
        (A) (C)
        (D)(B)
        Frage der Höhe der pauschalen Vergütung zwischen
        Nutzern im Hochschulbereich und den Rechteinhabern
        bzw. Verwertern endgültig klären soll.
        Diese Bewertung ist nur schwer nachvollziehbar.
        Würde man eine solche Begründung zu Ende denken,
        dann hieße dies, dass der Gesetzgeber in jeder Sach-
        bzw. Rechtsfrage, die derzeit vor deutschen Gerichten
        verhandelt wird, für die Dauer des Verfahrens seinen ge-
        setzgeberischen Gestaltungsanspruch aufgibt.
        Das zuständige Fachressort scheint demnach in dieser
        Frage der Rechtsprechung Vorrang vor der Rechtsetzung
        zu geben, mit der Folge, dass das Primat der Politik vor
        der Judikative zurücktritt. Zwar ist es grundsätzlich be-
        grüßenswert, wenn die Exekutive die verfassungsge-
        mäße Unabhängigkeit der Judikative anerkennt, doch
        sollte just jenes Haus, welches die gesamte juristische
        Fachkompetenz der Bundesregierung bündelt, sich da-
        rüber im Klaren sein, dass das Richterrecht lediglich
        dazu dient, Unklarheiten in der Gesetzgebung zu
        klären – nicht jedoch die tatsächliche Gesetzgebung der
        Exekutive zu ersetzen. Allerdings ist eher davon auszu-
        gehen, dass das zuständige Ministerium sich seiner
        Kompetenz und Aufgabe bewusst ist. Vielmehr scheint
        hier die politische Spitze des Fachressorts die Uneinig-
        keit zwischen Bildungs- und Rechtspolitikern der Koali-
        tionsfraktionen über die künftige Ausgestaltung des Ur-
        heberrechts mit fadenscheinigen Begründungen zu
        decken bzw. den durch Uneinigkeit geschwächten Koali-
        tionsfraktionen mehr Zeit zu verschaffen.
        Diese Uneinigkeit hat letztlich eine Handlungsunfä-
        higkeit zur Folge, die den Interessen der Bildungs- und
        Wissenschaftslandschaft in Deutschland nicht gerecht
        wird. Diese Handlungsunfähigkeit hat etwa dazu ge-
        führt, dass der vorliegende Gesetzentwurf nur in aller-
        letzter Minute seinen Weg ins Parlament gefunden hat.
        Abgesehen von dem Umstand, dass der vorliegende Ge-
        setzentwurf der Koalitionsfraktionen den Mitgliedern
        des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technik-
        folgenabschätzung erst unmittelbar vor Beginn der Aus-
        schusssitzung übermittelt und somit eine inhaltliche
        Auseinandersetzung im parlamentarischen Raum er-
        heblich erschwert wurde, werden die von der Regelung
        betroffenen Bildungseinrichtungen im Ungewissen ge-
        lassen, auf welcher rechtlichen Basis die Wissensver-
        mittlung ihrer Lehrtätigkeit ab dem 1. Januar 2013 be-
        ruht. Zudem birgt diese Vorgehensweise die Gefahr,
        dass eine mögliche unerwartete Verzögerung im parla-
        mentarischen Verfahrensablauf – man denke an dieser
        Stelle etwa an die Vorgänge rund um das Be-
        treuungsgeld – zu unabsehbaren Folgen für den Bil-
        dungs- und Wissenschaftsstandort Deutschland führt.
        Dies scheint diese Regierungskoalition offenbar billi-
        gend in Kauf zu nehmen.
        Es ist daher mit angemessener Bestürzung festzustel-
        len, mit welcher Leichtfertigkeit diese Regierung und
        mit ihr die Koalitionsfraktionen das Wohl und Wehe der
        betroffenen Einrichtungen und der auf sie angewiesenen
        meist jungen Menschen in Bildungsfragen riskieren.
        Denn die Betroffenen haben in Fragen, die so grundle-
        gend für ihre Arbeit sind, Anspruch auf Rechtssicher-
        heit, sei sie befristet oder unbefristet.
        Aber es wird offenbar Prinzip dieser Koalition, selbst
        in eindeutigen Angelegenheiten so lange zu feilschen,
        bis Probleme für die Betroffenen entstehen.
        Marianne Schieder (Schwandorf) (SPD): Wie oft
        will uns die schwarz-gelbe Koalition noch beweisen,
        dass sie nicht regierungsfähig ist? Die Ergebnisse des
        letzten Koalitionsausschusses bildeten nur den Auftakt
        in dieser Woche für die Beweisführung. Der vorliegende
        Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Urheber-
        rechtsgesetzes, die erneuten Befristung des § 52 a, ist ein
        weiterer Beleg für die Unentschlossenheit von Schwarz-
        Gelb.
        Statt eine längst überfällige umfassende Novellierung
        des Urheberrechtsgesetzes vorzulegen, wird jetzt schnell
        mit einem Einzelvorhaben reagiert, bevor in zwei Mona-
        ten die bisherige Regelung nicht mehr gültig ist. Jetzt
        müssen wir nur hoffen, dass bis zur zweiten und dritten
        Lesung des aktuellen Entwurfs nicht noch ein Koali-
        tionsgipfel ansteht, bei dem einer der Partner Verhand-
        lungsmasse braucht und den eingebrachten Gesetzent-
        wurf wieder infrage stellt. Das haben wir ja bei anderen
        Vorhaben in den letzten Monaten schon erleben dürfen –
        ich nenne hier nur das Betreuungsgeld.
        Im Sinne der Rechtssicherheit für Forschung und
        Lehre hoffe ich, dass uns wenigstens ein solcher Schild-
        bürgerstreich erspart bleibt. Denn dann müssten unsere
        Hochschulen im laufenden Semester ihren kompletten
        Lehrbetrieb über den Haufen werfen. Bildungspolitisch
        wäre dies ein Fiasko und rechtspolitisch ein endgültiger
        Todesstoß für diese Koalition.
        Nach der letzten Bundestagswahl hat Schwarz-Gelb
        vollmundig angekündigt, dass ab jetzt durchregiert
        werde, weil endlich die richtigen Partner zusammen
        seien. Wenn Sie diese Ansage nur in Ansätzen ernst neh-
        men würden, liebe Kolleginnen und Kollegen von
        Schwarz-Gelb, dann müsste zumindest der vorliegende
        Entwurf anders aussehen. Dann würden wir wenigstens
        über eine dauerhafte Entfristung des § 52 a diskutieren.
        Dann hätten wir endlich verlässliche und dauerhafte
        Regelungen für Unterricht, Lehre und Forschung. Einen
        entsprechenden Gesetzentwurf haben wir bereits im Juni
        dieses Jahres – Drucksache 17/10087 – eingebracht.
        Wenn Sie mehr Mumm in den Knochen hätten, liebe
        Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und FDP,
        dann hätten Sie einfach unserem Entwurf zugestimmt.
        Stattdessen verweigert die Koalition eine dauerhafte Lö-
        sung mit der Begründung, dass man noch ausstehende
        Gerichtsurteile abwarten wolle. Mit solider Gesetzge-
        bung und verlässlichem Regierungshandeln hat das we-
        nig zu tun.
        Wie dringend notwendig für Schulen und Hochschu-
        len eine dauerhafte verlässliche Regelung ist, zeigt
        schon die jüngste Evaluierung des Bundesjustizministe-
        riums. Im Vergleich zum Sommersemester 2007 wurden
        im Sommersemester 2011 doppelt so viele Werke nach
        Maßgabe von § 52 a Abs. 1 Nr. 1 UrhG genutzt – insge-
        24974 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012
        (A) (C)
        (D)(B)
        samt 1 142 939 Werke. 2007 waren es noch 597 400
        Werke. In der Auswertung des BMJ wurde auch klar be-
        nannt, was passieren würde, wenn § 52 a Abs. 1 Nr. 1 UrhG
        dauerhaft wegfallen würde: „Nach Mitteilung der KMK
        für Hochschulen in öffentlicher Trägerschaft werde der
        Wegfall … zu Einschränkungen bzw. zur Abschaffung
        des Angebots von elektronischen Internetapparaten und
        damit zu spürbaren Beeinträchtigungen der Lehre füh-
        ren“, heißt es dort. Das ist nachzulesen in der Drucksa-
        che des Rechtsausschusses Nr. 17(6)201. Dies belegt
        doch mehr als deutlich, wie dringend wir eine dauerhafte
        verlässliche Regelung brauchen. Mit einer Entfristung,
        wie wir sie von der SPD mit unserem Gesetzentwurf for-
        dern, wäre dies gegeben.
        Bereits vor vier Jahren, damals noch unter anderer
        Führung, hat das Bundesjustizministerium eine dauer-
        hafte Entfristung empfohlen. Nachzulesen ist das in der
        Unterrichtung an den Rechtsausschuss des Deutschen
        Bundestages „Bericht zu den praktischen Auswirkungen
        des § 52 a des Urheberrechtsgesetzes und Empfehlung
        zum weiteren Vorgehen“ vom 2. Mai 2008.
        Die großen deutschen Wissenschaftsorganisationen
        hatten sich im September 2009 ebenfalls für eine Entfris-
        tung des § 52 a UrhG ausgesprochen. Darin wurde au-
        ßerdem darauf hingewiesen, dass sich die wiederholte
        Befristung der Regelung negativ auf den Ausbau netzge-
        stützter Lehr- und Forschungsstrukturen auswirke. Des
        Weiteren wurde darauf aufmerksam gemacht, dass mit
        einem Wegfall des § 52 a gerade ältere Literatur nur in
        einem sehr geringen Umfang auf elektronischen Lehr-
        und Forschungsplattformen zur Verfügung gestellt wer-
        den könnte.
        In den Reihen der Befürworter für eine Entfristung
        findet sich außerdem der Deutsche Bibliotheksverband e. V.
        Bereits 2008 hat er in einem Schreiben an unterschied-
        lichste politische Akteure dafür geworben. Warum also
        jetzt wieder eine zeitlich befristete Lösung?
        Liebe Abgeordnete der sogenannten christlich-libera-
        len Koalition: Aufgrund zahlreicher interner Querelen
        waren Sie nicht in der Lage, eine umfassende und zeitge-
        mäße Novellierung des Urheberrechts auf den Weg zu
        bringen. Leider fehlte Ihnen auch die Größe, unserem
        Entwurf für die dauerhafte Entfristung des § 52 a zuzu-
        stimmen. Ich appelliere daher an Sie: Bringen Sie jetzt
        wenigstens die Befristung für weitere zwei Jahre
        schnellstmöglich und ohne weitere Zankereien auf den
        Weg. Dann können die Akteure im Bereich Unterricht,
        Lehre und Forschung wenigstens darauf vertrauen, dass
        im nächsten Jahr eine von der SPD geführte Bundesre-
        gierung für mehr Rechtssicherheit sorgen wird.
        Stephan Thomae (FDP): Das Urheberrecht, dessen
        Änderung wir heute debattieren, wurde 1965 verabschie-
        det. Damals wie heute war und ist das Ziel des Urheber-
        rechts, den Urhebern und Inhabern verwandter Schutz-
        rechte eine angemessene Vergütung zu sichern. Dieses
        Ziel muss insbesondere in Deutschland immer wieder
        in Erinnerung gerufen werden: Das Urheberrecht soll
        in erster Linie den Urheber schützen. Wir haben in
        Deutschland wenige Bodenschätze. Umso mehr sind wir
        darauf angewiesen, dass die Menschen mit ihren Ideen,
        mit ihrem geistigen Eigentum ihr Auskommen verdienen
        können. Deswegen setzt sich die FDP für ein starkes Ur-
        heberrecht und einen starken Schutz geistigen Eigen-
        tums ein. Eine gute und umfassende (Aus-)Bildung ist
        für die Menschen von ebenso großer Bedeutung wie der
        möglichst weitreichende Schutz der Urheber. Bildung lebt
        davon und ist darauf angewiesen, dass die Menschen Zu-
        gang zu Inhalten und Informationen erhalten.
        An dieser Stelle treffen die beiden Belange des Schut-
        zes des geistigen Eigentums, durch den eine angemes-
        sene Vergütung der Urheber gesichert werden soll, und
        des Zugangs zu Informationen und Inhalten, um eine
        gute Bildung zu ermöglichen, aufeinander. Der deutsche
        Gesetzgeber hat durch das erste Gesetz zur Regelung
        des Urheberrechts in der Informationsgesellschaft vom
        10. September 2003 den § 52 a UrhG in das deutsche
        Urheberrecht eingefügt. Ziel der Novellierung war es,
        beide Interessen in Einklang zu bringen. Die Norm ge-
        stattet es, kleine Teile eines Werkes, Werke geringen
        Umfangs und einzelne Beiträge aus Zeitschriften oder
        Zeitungen zur Veranschaulichung im Unterricht an Schu-
        len, Hochschulen und weiteren Einrichtungen einem be-
        stimmten abgegrenzten Kreis von Personen öffentlich
        zugänglich zu machen. Voraussetzungen hierfür sind, dass
        dies zu Unterrichts- oder Forschungszwecken geschieht,
        die Maßnahmen zu dem jeweiligen Zweck geboten und
        zur Verfolgung nichtkommerzieller Zwecke gerechtfer-
        tigt sind.
        Im Zuge der Einfügung der Norm wurden Bedenken
        laut, die Regelung könne zu nicht hinnehmbaren Beein-
        trächtigungen der Verlage führen. Hier ist zu berücksich-
        tigen, dass Schrankenregelungen schon begrifflich eine
        Beschränkung der Urheberrechte darstellen. Vor diesem
        Hintergrund wurde § 137 k UrhG eingeführt, durch den
        § 52 a UrhG zunächst bis zum 31. Dezember 2006 be-
        fristet wurde. Die Auswirkungen der Norm auf die Pra-
        xis sollten anhand einer Evaluierung ermittelt werden.
        Da eine abschließende Beurteilung bislang nicht mög-
        lich war, wurde die Befristung bislang zweimal verlän-
        gert. Stand heute würde die Regelung des § 52 a UrhG
        am 31. Dezember 2012 auslaufen, wenn der Deutsche
        Bundestag vorher nicht anders entscheidet.
        Für den Bereich der Schulen sind die Nutzungsbedin-
        gungen für die genannten Werke im Rahmen von Ge-
        samtverträgen zwischen den Ländern und den betroffe-
        nen Verwertungsgesellschaften geregelt. Auch für die
        Nutzung an Hochschulen wurden mit nur einer Aus-
        nahme zwischen den Ländern und den Verwertungsge-
        sellschaften Gesamtverträge geschlossen. Einzig die VG
        Wort verhandelt mit der Kultusministerkonferenz noch
        über die Höhe und die Berechnungsweise der angemes-
        senen Vergütung. Hierzu ist ein Verfahren vor dem Bun-
        desgerichtshof anhängig. Darin wird auch über die
        Reichweite der sogenannten Wissenschaftsschranke ent-
        schieden werden.
        Eine Entfristung des § 52 a UrhG zum jetzigen Zeit-
        punkt, wie es die SPD fordert, wäre daher verfrüht. Denn
        eine Entscheidung des Bundesgerichtshofes wird erst für
        2013, also nicht vor dem bislang vorgesehenen Auslau-
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012 24975
        (A) (C)
        (D)(B)
        fen von § 52 a UrhG, erwartet. Das Urteil des Bundesge-
        richtshofes sollte abgewartet und anhand dessen geprüft
        werden, ob der rechtliche Rahmen bereits jetzt ausreicht,
        um die Interessen von Urhebern und Bildungsanstalten
        in Einklang zu bringen, oder ob hier gesetzgeberisch
        nachgebessert werden muss. Aus diesen Gründen ist der
        Antrag der SPD abzulehnen.
        Die Bundestagsfraktionen von CDU/CSU und FDP
        schlagen stattdessen eine nochmalige Verlängerung der
        Befristung von § 52 a UrhG bis zum 31. Dezember 2014
        vor. Gleichzeitig wird die Bundesregierung aufgefordert,
        bis spätestens sechs Monate vor Ablauf der erneuten Be-
        fristung einen Gesetzentwurf zu erarbeiten, mit dem die
        Norm in eine dauerhafte Urheberrechtsschranke über-
        führt werden kann. Dabei soll der Wissenschaft der digi-
        tale Zugang zu wissenschaftlichen Publikationen durch
        eine Wissenschaftsschranke für den Fall gesichert wer-
        den, dass die Verlage keine Onlineangebote zu angemes-
        senen Bedingungen bereitstellen. Diese Lösung wird den
        berechtigten Interessen aller Beteiligten gerecht. Wir
        sind damit auf einem guten Weg, in absehbarer Zeit ei-
        nen endgültigen Schlussstrich unter die Frage nach der
        Zukunft von § 52 a UrhG zu ziehen und Rechtssicherheit
        für alle Parteien zu schaffen.
        Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Quasi in letzter Minute
        wollen die Kolleginnen und Kollegen von CDU, CSU
        und FDP nun doch noch die Geltungsdauer des § 52 a
        Urheberrecht um zwei Jahre verlängern. Sollte das nicht
        noch in diesem Jahr geschehen, wird es 2013 an Schu-
        len, Hochschulen und anderen nichtgewerblichen Bil-
        dungsstätten unmöglich sein, beispielsweise Texte, Bil-
        der oder Filmausschnitte für den Unterricht zu
        vervielfältigen und für Lehr- und Forschungszwecke in
        digitalisierter Form zur Verfügung zu stellen. Sie bewah-
        ren damit, vorausgesetzt der parlamentarische Gang
        kommt nicht doch noch ins Stolpern, die Bildungsein-
        richtungen mit einer erneuten Befristungsverlängerung
        des § 52 a haarscharf davor, nach aktuellem technischen
        Standard arbeitsunfähig zu werden. Vor fünf Wochen al-
        lerdings sah es noch so aus, als ob Sie es genau darauf
        ankommen lassen wollen.
        Während mir die Justizministerin Anfang Oktober
        schriftlich versicherte, sie hätte bereits im Juli eine Frist-
        verlängerung vorschlagen lassen, meldete sich zeitgleich
        der CDU-Kollege Kretschmer in der Presse mit der Auf-
        forderung an das Justizministerium, endlich etwas vor-
        zulegen. Zu verstehen ist das alles nicht mehr. Selbst ei-
        nen zaghaften halben Schritt verstolpern Sie, liebe
        Kolleginnen und Kollegen der Regierungskoalition. Kei-
        ner will Verantwortung übernehmen. Warum spreche ich
        von einem halben Schritt? Weil die neuerliche Befris-
        tungsverlängerung von § 52 a das absolute Minimum
        dessen ist, was unabdingbar notwendig ist, um Wissens-
        und Informationszugang an Bildungseinrichtungen nicht
        wieder in die Ära der Kopiergeräte zu beamen. Sie wis-
        sen das selbst ganz genau. Warum sonst fordern Sie die
        Bundesregierung in Ihrem vorliegenden Gesetzentwurf
        auf, bis Mitte 2014 eine dauerhafte Lösung für die digi-
        tale öffentliche Zugänglichmachung von Lehr- und
        Lerninhalten zu erarbeiten? Mehr noch: Sie wollen sogar
        prüfen lassen, ob eine umfassende Bildungs- und Wis-
        senschaftsschranke im Urheberrecht, also besondere
        Nutzungsfreiheiten für die Wissensgesellschaft, hier die
        Lösung sein könnte. Genau das hat beispielsweise CDU-
        Kollege Tankred Schipanski vor wenigen Tagen selbst
        noch in einer öffentlichen Stellungnahme wieder einmal
        gefordert. Das begrüße ich sehr; denn im Kern nimmt
        Kollege Schipanski unsere Forderung, die Forderung der
        Linken, auf, die wir übrigens in mehreren Anträgen hier
        bereits vorgestellt haben.
        Zunächst einmal klingen diese Forderungen, die Ihren
        Gesetzentwurf begleiten, alle recht mutig und wissens-
        freundlich. Bei genauerem Hinsehen aber erhärtet sich
        der Verdacht, dass es sich doch um Verzögerung und Au-
        genwischerei handelt: Wie soll eine neue Bundesregie-
        rung, wie von Ihnen gefordert, Mitte 2014, neun Monate
        nach der Wahl und ungefähr ein halbes Jahr nach Auf-
        nahme der Amtsgeschäfte, ein solch umfassendes Pro-
        jekt stemmen können, wenn es Ihnen in drei Jahren nicht
        gelingt? Doch wohl nur, wenn Sie, liebe Kolleginnen
        und Kollegen der CDU/CSU und FDP nicht mehr betei-
        ligt sind. Oder wie soll ich Ihre Zeitvorgaben verstehen?
        Eine Bildungs- und Wissenschaftsschranke lässt sich
        nicht von heute auf morgen ins Urheberrecht schreiben.
        Dazu bedarf es nicht zuletzt dank europarechtlicher Vor-
        gaben sehr detailreicher Arbeit. Es wäre also angebracht
        gewesen, den bestehenden Paragrafen mindestens zu
        entfristen, um Zeit zu gewinnen für die längst überfälli-
        gen Änderungen am Urheberrecht für Bildung und Wis-
        senschaft. Diese hätten ja – daran will ich Sie erinnern –
        ursprünglich in einem sogenannten dritten Korb in dieser
        Legislaturperiode kommen sollen. Die Kolleginnen und
        Kollegen der SPD waren so freundlich und haben einen
        entsprechenden Gesetzentwurf bereits im vergangenen
        Juni eingebracht. Dem müssten Sie, verehrte Kollegin-
        nen und Kollegen der Regierungsfraktionen, nur zustim-
        men. Eine solche Entfristung wäre zwar immer noch
        weitaus weniger als eine echte Bildungs- und Wissen-
        schaftsschranke, wie sie uns Linken und Tankred
        Schipanski vorschwebt, aber sie hätte immerhin Pla-
        nungssicherheit für die Bildungs- und Forschungspoli-
        tik, vor allem aber für unsere Schulen, Hochschulen und
        Ausbildungsstätten gebracht. Oder meinen Sie all die
        Lyrik zum vorliegenden Gesetzentwurf gar nicht ernst?
        Sie verweisen auf die laufenden Rechtsstreitigkeiten
        rund um § 52 a, die noch abzuwarten sind. Hier klagen
        Verlage gegen Universitäten auf Grundlage des beste-
        henden und nun einmal unzureichenden § 52 a, in der
        Hoffnung auf möglichst restriktive Auslegung dieses Pa-
        ragrafen, um ihn damit de facto vor Ende der neuen Frist
        für seine Geltungsdauer für gescheitert erklären zu kön-
        nen. Statt also, wie von Ihnen angedeutet, gegen alle
        selbstverschuldete Blockiererei eventuell doch noch auf
        umfassende und notwendige Privilegien für Bildung und
        Wissenschaft im Urheberrecht zu setzen, können Sie
        auch einfach die laufenden Klagen abwarten, um dann
        am Ende sogar den kleinen § 52 a zumindest für die
        Hochschulen doch wieder abzuschaffen. Auch diese
        schäbige Option lassen Sie sich mit ihrem vorliegenden
        Last-Minute-Gesetzchen peinlicherweise offen.
        24976 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012
        (A) (C)
        (D)(B)
        Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
        NEN): Wir haben es hier heute allein deshalb mit einer
        Protokolldebatte zu tun, weil es Ihnen, meine Damen
        und Herren von der Koalition, zutiefst peinlich sein
        dürfte, was Sie uns vorlegen, und Sie deshalb ganz offen-
        sichtlich das Licht der breiteren Öffentlichkeit scheuen.
        Die Pein, die Sie sich aber auch uns mit dieser Vorlage
        antun, möchte ich in drei Punkten erläutern.
        Erstens. So viel Sonnenuntergang war noch nie: Die
        Schranke des § 52 a Urheberrechtsgesetz trat zwar vor
        einem knappen Jahrzehnt in Kraft. Sie ist aber eine soge-
        nannte Sunset Clause. Sie wurde bereits dreimal verlän-
        gert, ist also noch immer befristet. Höflich ausgedrückt
        haben wir das, wie es das Bundesministerium der Justiz
        in seinem Schreiben vom Juli dieses Jahres an den
        Rechtsausschuss formuliert, „den Befürchtungen insbe-
        sondere der wissenschaftlichen Verleger vor unzumutba-
        ren Beeinträchtigungen durch die neue Regelung“ zu
        verdanken und einer Bundesregierung, die mehr Wert
        auf Stimmen einzelner Interessensgruppen zu legen
        scheint, als dass sie Wert darauf legt, dass die von allen
        sonstigen Akteuren für höchst sinnvoll erachteten Er-
        leichterungen für Wissenschaft und Lehre zumindest
        endlich entfristet werden.
        So scheint es leider bis heute noch immer nicht im
        Bewusstsein der Bundesregierung angekommen zu sein,
        dass gerade Bildung und Wissenschaft ebenso faire wie
        praktikable Urheberrechtsregelungen dringend benöti-
        gen. Die Bundesregierung hat nicht erkannt, dass gerade
        § 52 a Urheberrechtsgesetz einen zwingenden und wich-
        tigen Schritt für den Bildungsstandort Deutschland dar-
        stellt. Denn er erleichtert die Zugänglichmachung von
        urheberrechtlich geschützten Inhalten im schulischen
        und universitären Umfeld. Die um ihre Einnahmen
        fürchtenden Verlagshäuser waren es, die immer wieder
        mit entsprechendem Lobbydruck und Drohszenarien die
        Befristungen plus aufwendige, die Steuerzahlerinnen
        und Steuerzahler belastende Evaluationen dieser einen
        Vorschrift erzwungen hatten. Sie haben sich offenbar
        auch diesmal erneut durchgesetzt.
        Wir sind mittlerweile bei der dritten Evaluation ange-
        langt. Sie liegt auch bereits vor. Auch diese Evaluation
        soll aber angeblich keine endgültige Aussage darüber er-
        lauben, ob eine endgültige Entfristung der bereits seit
        zehn Jahren rechtskräftigen Norm möglich erscheint.
        Die fadenscheinige Begründung: Zum einen könne man
        heute noch nicht entfristen, weil noch eine Entscheidung
        des BGH – von der niemand weiß, wann diese tatsäch-
        lich kommen wird – zu einem der umstrittenen materiell-
        rechtlichen Tatbestandsmerkmale der Norm abgewartet
        werden soll. Zum anderen warte man noch ab, da ver-
        mutlich schon 2013 der BGH das Revisionsverfahren
        gegen den Gesamtvertrag zur Festsetzung einer ange-
        messenen Vergütung entscheiden wird. Angesichts die-
        ser Begründung aber fragt man sich, warum überhaupt
        jemals Evaluationen durchgeführt wurden, wenn diese
        für sich ohnehin nicht für wert befunden werden, eine
        Grundlage für die Entscheidung über die Entfristung zu
        bilden.
        Meine Damen und Herren von der Koalition, werte
        Frau Justizministerin, nahezu sämtliche Tatbestands-
        merkmale des § 52 a Urheberrechtsgesetz sind in einem
        Hagelsturm aus Klageverfahren von Verwertungsseite
        streitig gestellt worden. Das zeigt doch: Die Verlage
        wollen diese Norm eben nicht, weil damit potenzielle
        Einnahmeverluste einhergehen. Das Vorgehen der Ver-
        lage ist, das sage ich hier in aller Deutlichkeit, ihr gutes
        Recht. Doch wenn wir mit Hinweis auf diese Klagen
        jetzt jede gesetzgeberische Tätigkeit einstellen, dann
        werden wir definitiv bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag
        auf die Entfristung von § 52 a Urheberrechtsgesetz war-
        ten müssen. Das ist inakzeptabel.
        Noch befremdlicher erscheint das Zuwarten bei der
        Schlichtung um den Gesamtvertrag. Denn auch die Ver-
        wertungsgesellschaften ziehen es derzeit vor, in nahezu
        allen aktuell auszuhandelnden Fällen der notwendigen
        Festsetzung einer angemessenen Vergütung den oft jah-
        relangen Rechtsweg einzuschlagen. Eine Justizministe-
        rin aber kann und darf ihre Entscheidungen nicht von der
        gerichtlichen Streitlust einzelner Beteiligter abhängig
        machen. Es ist die Aufgabe der Justizministerin, hier
        endlich eine Entscheidung in der Sache zu treffen und
        sich inhaltlich zu dieser Wissenschaftsschranke zu be-
        kennen – oder dies eben nicht zu tun. Als grüne Bundes-
        tagsfraktion haben wir diese Entscheidung bereits vor
        längerer Zeit getroffen und einen entsprechenden Antrag
        inklusive der Aufforderung zur Entfristung des § 52 a
        schon in der letzten Legislaturperiode gestellt; Bundes-
        tagsdrucksache 16/10566. Wir freuen uns, dass sich ins-
        besondere die SPD mittlerweile ebenso positioniert hat.
        Die Dauerdiskussionen um die Entfristung wirken
        auch deshalb geradezu grotesk, weil wir in der Sache
        längst eine viel weiter gehende Debatte um diese Norm
        führen. Mit guten und von uns geteilten Argumenten for-
        dert etwa die Allianz der Hochschulorganisationen eine
        Erstreckung des Anwendungsbereichs der Schranke
        auch auf das weiter an Bedeutung gewinnende E-Lear-
        ning, also die Verfügbarkeit der Inhalte auch für das
        Selbststudium oder das unterrichtsbegleitende Studium
        in digitaler Form. Selbst wer so weit nicht gehen will,
        muss doch einräumen, dass die gegenwärtige Rechtsun-
        sicherheit hinsichtlich der unbestimmten Rechtsbegriffe
        des § 52 a Urheberrechtsgesetz in der Praxis zu Behinde-
        rungen der Lehrkräfte beim Einsatz neuer Medien führt.
        Es ist also eine Rechtsunsicherheit, die Wissenschaft und
        Bildung behindert und nicht befördert. Daraus ist aber
        eben gerade nicht zu folgern, dass die Vorschrift des
        § 52 a Urheberrechtsgesetz abgeschafft gehört, sondern
        sie ist perspektivisch so zu reformieren, dass sie ihrem
        Zweck der verbesserten Zugänglichmachung von Inhal-
        ten endlich wirklich gerecht wird.
        Zweitens. Wenn wir den Rahmen der Betrachtung der
        Peinlichkeiten dieser Bundesregierung in diesem Be-
        reich erweitern, sollten wir uns die Grundhaltung des
        Justizministeriums zum Bereich Wissenschaft und Urhe-
        berrecht insgesamt näher anschauen. Bereits unmittelbar
        nach Verabschiedung des sogenannten zweiten Reform-
        korbes wurden in der Wissenschaft konkrete Forderun-
        gen nach einem dritten Korb laut. Eine alles in allem
        moderate Zusammenstellung dieser sorgfältig begründe-
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012 24977
        (A) (C)
        (D)(B)
        ten Reformforderungen stellen die dazu vorgelegten Pa-
        piere der Allianz der Hochschulorganisationen dar. Es
        war damit von Beginn an klar, dass es sich beim dritten
        Korb primär um einen „Bildungs- und Wissenschafts-
        korb“ handeln sollte. Das Ziel einer Urheberrechtsre-
        form im Bereich von Bildung und Wissenschaft muss
        durch eine verbesserte Zugänglichmachung von Inhalten
        erreicht werden. Am besten ist dies über eine allge-
        meine, im Urheberrecht zu verwirklichende Wissen-
        schaftsschranke zu erreichen, die letztlich hilft, die Ar-
        beitsmöglichkeiten für Lehrende und Forschende zu
        beflügeln.
        Die schwarz-gelbe Bundesregierung hat von Beginn
        dieser Legislatur an versucht, den Eindruck zu erwe-
        cken, sie teile dieses Anliegen. Sie hat in einem aufwen-
        digen Anhörungsverfahren der interessierten Kreise sug-
        geriert, sie werde konkret liefern. Um die sich seitdem
        ausbreitende Leere zu überspielen, streute die Justiz-
        ministerin dann auch noch eine groß angekündigte Urhe-
        berrechtsrede ein, die allerdings inhaltlich eher ent-
        täuschte und der zudem eben nichts Konkretes folgte.
        In ihrem Koalitionsvertrag hieß es noch, man werde
        zügig die Arbeit am „Dritten Korb“ aufnehmen. Tja, und
        heute? Es besteht Anlass, zu erwarten, dass von dieser
        Bundesregierung rein gar nichts mehr zum Wissen-
        schaftskorb kommen wird – außer der heute diskutierten
        erneuten Befristung des § 52 a Urheberrechtsgesetz. Das
        ist erbärmlich angesichts des drängenden Reformbe-
        darfs, und zwar bei § 52 b Urheberrechtsgesetz, dessen
        Beschränkung der Verfügbarmachung von Werken allein
        an eigens dafür eingerichteten elektronischen Leseplätzen
        vor Ort sowie an den vorhandenen analogen Bestand
        anachronistisch und wissenschaftsfeindlich wirkt, bei
        § 53 Urheberrechtsgesetz, der einer effektiven digitalen
        Langzeitarchivierung völlig unnötige Steine in den Weg
        legt und damit das kulturelle Gedächtnis der Archive ge-
        fährdet, bei § 53 a Urheberrechtsgesetz, der den digitalen
        Kopienversand mittlerweile eher behindert als befördert
        und für eine Regelung der Zugänglichmachung verwais-
        ter Werke und eines unabdingbaren Zweitveröffentli-
        chungsrechts.
        Weil diese Bundesregierung hier nichts zustande
        bringt, werden wir deshalb dazu selbst weitere konkrete
        Vorschläge vorlegen. Denn Bildung und Wissenschaft
        sind auch zukünftig tragende Säulen unserer Wissensge-
        sellschaften. Sie stehen in einem internationalen Wettbe-
        werb der Standorte, und wir drohen durch Ihre Unfähig-
        keit, Progressives und Zeitgemäßes in diesem wichtigen
        Bereich auf den Weg zu bringen, einen unserer wert-
        vollsten Wettbewerbsvorteile überhaupt zu verlieren.
        Drittens. Damit komme ich – ich kann es Ihnen leider
        nicht ersparen – zu guter Letzt zum Verhältnis dieser
        Bundesregierung zum Urheberrecht ganz allgemein. Wir
        alle wissen doch, dass der Kampf um das Urheberrecht
        mit harten Bandagen gespielt wird. Vermeidungsverhal-
        ten seitens der Justizministerin ist da durchaus erklärbar,
        wobei wir nicht so naiv sind, zu vermuten, dass der wirt-
        schaftsliberale Teil Ihrer Partei hier keine Rolle spielt.
        Doch diese hasenfüßige Haltung ist alles andere als klug.
        Sie schadet langfristig den Urheberinnen und Urhebern
        und wird am Ende auch für die Unterhaltungswirtschaft
        alles andere als von Vorteil sein. Denn wir wissen
        gleichzeitig doch auch, dass die aus der Sache selbst fol-
        genden Notwendigkeiten der Reform überhaupt nicht
        mehr zu übersehen sind. Die Akzeptanz des Urheber-
        rechts in seiner ganzen Kleinteiligkeit und dogmatischen
        Unübersichtlichkeit droht angesichts der digitalen Revo-
        lution verloren zu gehen. Wer meint, mit einem rein re-
        pressiven Vorgehen und einem weiter ausufernden Ab-
        mahnverfahren die Entwicklung aufhalten zu können,
        der irrt.
        Wer glaubt, dass das Recht der Immaterialgüter in
        erster Linie und vorrangig allein den Urhebern zu dienen
        habe, der verkennt nicht nur die verfassungsrechtlichen
        Grundlagen dieses Rechtsgebietes, sondern auch den
        Kern des Urheberrechts, der längst und über einen lan-
        gen Zeitraum zu einem komplexen Recht des Ausgleichs
        einer großen Anzahl unterschiedlicher und zum Teil
        deutlich gegenläufiger Interessen gewachsen ist. Man
        mag in vielen Details in der Sache streiten können, doch
        insgesamt sind die Forderungen nach Reform und weite-
        rer Anpassung an die digitalen Veränderungen unüber-
        hörbar und auch begründet. Die eigens dafür in dieser
        Legislatur vom Bundestag eingerichtete Enquete-Kom-
        mission „Internet und digitale Gesellschaft“ hat dies in
        ihrer Projektgruppe Urheberrecht und den dazu erfolgten
        Anhörungen von Sachverständigen eindrucksvoll bestä-
        tigt.
        Anstelle weiterer Verschärfungen des Vollzugsappa-
        rats des Urheberrechts, die ohnehin nur um den Preis der
        weitestgehenden Abschaffung der Privatheit zu haben
        wären, bedarf es innovativer Konzepte, die auf die nicht
        mehr ganz so neuen Entwicklungen in der Sache Ant-
        worten geben. Wenn der private Tausch und Konsum
        von urheberrechtlich geschützten Inhalten nicht in den
        Griff zu bekommen sind, dann müssen wir doch über Al-
        ternativmodelle nachdenken, die auf anderen Wegen
        eine angemessene Vergütung der betroffenen Urheberin-
        nen und Urheber sicherstellen. Wenn eine Remix- und
        Mashup-Kultur entstanden sind, die einen ganz neuen ei-
        genen kreativen Gehalt haben, dann müssen wir doch
        über Mittel und Wege nachdenken, wie wir diese kreati-
        ven neuen Formen ermöglichen, anstatt sie zu unterbin-
        den.
        Wenn die Einigung über angemessene Vergütungen
        zwischen Verwertungsgesellschaften und Wirtschaft re-
        spektive Staat zu scheitern drohen, dann muss doch auf
        allen Seiten klar sein, dass wir uns in einer Phase des
        Wandels und des Übergangs befinden, in der starre Ma-
        ximalpositionen nur zu Stillstand führen, in der also von
        allen Seiten mehr Beweglichkeit erwartet werden kann.
        Die Bundesregierung schweigt zu alledem weitge-
        hend. Sie zieht es vor, im Vorwahlkampf vollkommen in
        die falsche Richtung gehende Weihnachtsgeschenke in
        Gestalt eines in die Blöcke diktierten Leistungsschutz-
        rechts für einige wenige große Presseverlage zu vertei-
        len. Mit einem solchen Vorgehen beweist sie nur, wie
        sehr sie noch immer eine Politik verfolgt, die nicht das
        Gemeinwohl im Blick hat, sondern sich damit begnügt,
        Partikularinteressen zu bedienen. Statt sich endlich, poli-
        24978 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012
        (A) (C)
        (D)(B)
        tisch gestaltend, den drängenden Herausforderungen un-
        serer Zeit zu stellen, beweist die Bundesregierung mit
        dem Leistungsschutzrecht nur ihre Rückwärtsgewandt-
        heit. Diese wird Veränderungen nicht aufhalten, nicht
        bremsen und noch nicht einmal abfedern. Darum brau-
        chen wir dringend auch in diesem Bereich einen politi-
        schen Neustart.
        Anlage 12
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung:
        – Entwurf eines Sechzehnten Gesetzes zur Än-
        derung des Arzneimittelgesetzes;
        – Beschlussempfehlung und Bericht zu dem
        Antrag:
        – Einsatz von Antibiotika in der Tierhaltung
        reduzieren
        (Tagesordnungspunkt 38)
        Dieter Stier (CDU/CSU): Mit dem heute vorliegen-
        den Entwurf des 16. Gesetzes zur Änderung des Arznei-
        mittelgesetzes sollen Maßnahmen eingeleitet werden,
        welche den Einsatz von Antibiotika in der Nutztierhal-
        tung in Zukunft deutlich reduzieren. Gleichzeitig muss
        gewährleistet sein, dass die Entscheidung über eine An-
        tibiotikavergabe im Stall in hohem Maße von Sorgfalt
        und Verantwortungsbewusstsein der Verantwortlichen
        geprägt ist.
        Ein übermäßiger Einsatz von Antibiotika begünstigt
        bekanntlich die Entstehung und Verbreitung von Resis-
        tenzen. Da solche Resistenzen nicht nur in der Human-
        medizin, sondern auch in der Tierhaltung nicht ge-
        wünscht sein können, ist es unser aller erklärtes Ziel,
        einer entsprechenden Entwicklung auf diesem Sektor
        schnell und wirksam Einhalt zu gebieten.
        Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf hat die Bundes-
        regierung ein Antibiotikaminimierungskonzept vorge-
        legt, welches eine deutliche Absenkung der Antibioti-
        kaanwendungen in der Tierhaltung verfolgt, sehr viel
        mehr Transparenz beim Einsatz von Antibiotika bietet
        und eine konsequente Ahndung von Verstößen ermög-
        licht.
        Mit dem vorliegenden Gesetz wird der Weg für eine
        bundesweite Datenbank freigemacht. Damit soll den Be-
        hörden vor Ort die staatliche Befugnis erteilt werden,
        auffällig gewordenen Tierhaltern Maßnahmen zur Sen-
        kung des Antibiotikaverbrauches aufzugeben, wie bei-
        spielsweise konkrete Anweisungen zur Haltung der
        Nutztiere.
        Durch die amtliche Auswertung auf Basis einer soli-
        den und überbetrieblichen Datengrundlage ist es erst-
        mals auch bundesweit möglich, Vergleichszahlen zur
        Therapiehäufigkeit vorzulegen. Sobald ein Betrieb signi-
        fikant von den bundesweiten Durchschnittswerten ab-
        weicht, können die Veterinärämter vor Ort einschreiten
        und Reduzierungsstrategien auferlegen.
        Offen ist noch die Frage, ob die meldepflichtigen Da-
        ten zur Therapiehäufigkeit in einer behördlichen zentra-
        len Datenbank gespeichert werden sollen oder ob dieses
        Antibiotikamonitoring über das QS-System – Qualität
        und Sicherheit GmbH – erfasst werden soll. Das QS-
        System führt bereits seit dem 1. April 2012 die Antibio-
        tikadatenbank „VetProof“, ein Monitoring- und Reduzie-
        rungsprogramm, welches mehr als 25 500 Schweine-
        mast- und über 4000 Geflügelmastanlagen aus dem In-
        und Ausland in seiner Datenbank führt. Mehr als 420
        Tierärzte haben sich für die Teilnahme am QS-Monito-
        ring angemeldet. Jegliche Antibiotikagabe in diesen
        Mastbetrieben wird von den behandelnden Tierärzten an
        die QS-Datenbank gemeldet. Nach Auskunft des QS-
        Systems mit Stand von September 2012 werden bereits
        jetzt etwa 90 Prozent der Schweinemast und 95 Prozent
        der Geflügelmast in Deutschland erfasst.
        Da bisher noch keine staatliche Datenbank existiert
        und das QS-System das Antibiotikamonitoring offen-
        sichtlich recht erfolgreich durchführt, bleibt zu überle-
        gen, ob man im Hinblick auf die Vermeidung unnötiger
        Bürokratiekosten die Datenerfassung bei QS belassen
        sollte. Das Nebeneinander zweier Datenbanksysteme
        halte ich für ineffizient und schlichtweg zu kosteninten-
        siv. Über Zugriffsmöglichkeiten der Überwachungsbe-
        hörden auf die QS-Datenbank könnten wir eine zufrie-
        denstellende Lösung finden. Bisher überwacht die QS
        Qualität und Sicherheit GmbH die stufenweise Überwa-
        chung und Rückverfolgbarkeit landwirtschaftlicher Er-
        zeugnisse und der daraus produzierten Lebensmittel.
        QS-Vertreter haben bereits öffentlich kundgetan, dass sie
        im Falle einer Übertragung der Antibiotikadatenbank
        eng mit den Behörden kooperieren werden. Warum soll-
        ten wir also zusätzliche Bürokratie schaffen? Ich persön-
        lich favorisiere deshalb die Übertragung des Antibiotika-
        monitorings auf das QS-System.
        Die vorliegende 16. AMG-Novelle beinhaltet eben-
        falls eine Kontrollverpflichtung für Tierhalter von be-
        stimmten lebensmittelliefernden Tieren ebenso wie für
        die behandelnden Tierärzte. Betriebe mit auffälliger
        Therapiehäufigkeit müssen von sich aus initiativ werden
        und den Antibiotikaeinsatz entsprechend minimieren.
        Liegt der Verbrauch von Antibiotika höher als die bun-
        desweit ermittelte Kennzahl für den Betriebstyp, muss
        gemeinsam mit dem behandelnden Tierarzt und der Kon-
        trollbehörde die Therapiehäufigkeit überprüft werden.
        Mit dem Ziel einer Reduzierung des Antibiotikaeinsatzes
        können die Betriebe verpflichtet werden, Maßnahmen
        zur Verbesserung der hygienischen Bedingungen, der
        Gesundheitsvorsorge oder der Haltungsbedingungen zu
        ergreifen. Dabei wissen wir alle: Je gesünder die Tiere
        sind, umso weniger Medikamenteneinsatz ist notwendig.
        Die Gesundheit der Tiere steht in direktem Zusammen-
        hang mit den Haltungsbedingungen im Stall.
        Gleichzeitig werden die Tierärzte per Gesetz dazu
        verpflichtet, auf Anweisung der Überwachungsbehörden
        der Bundesländer Daten zur Abgabe und Anwendung
        von Antibiotika zusammengefasst zu übermitteln. Die
        Kontrollen für die Überwachung der Betriebe werden
        somit vereinfacht und beschleunigt.
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012 24979
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        Ich befürworte die im Gesetz festgeschriebene Erwei-
        terung der Befugnisse der zuständigen Kontroll- und
        Überwachungsbehörden der Bundesländer. Nur mit der
        engen Zusammenarbeit von Bund und Ländern sowie
        den Behörden vor Ort erreichen wir die notwendige
        Kontrolldichte. Durch entsprechende Verordnungser-
        mächtigte sollen zudem die unzulässigen Umwidmun-
        gen von Antibiotika eingeschränkt werden, indem zu-
        nächst ein „Antibiogramm“ über die Wirksamkeit des
        betreffenden Antibiotikums erstellt werden muss. Die in
        der Vergangenheit leichtfertig praktizierte Umwidmung
        von Medikamenten, indem diese entgegen ihrer ur-
        sprünglichen Anwendungsbestimmung verabreicht wur-
        den, birgt die große Gefahr einer Resistenzbildung.
        Auch angesichts der knapp werdenden Reserveantibio-
        tika, die nur im äußersten Notfall zur Anwendung kom-
        men, müssen Tierhalter und Tierärzte bei Verstößen
        gegen arzneimittelrechtliche Vorschriften von den zu-
        ständigen Stellen der Tierarzneimittelüberwachung stär-
        ker zur Verantwortung gezogen werden. Ich halte es für
        richtig, die wenigen schwarzen Schafe der Branche
        schnell ausfindig zu machen und entsprechend zu sank-
        tionieren.
        Trotz verschärfter Restriktionen und engmaschiger
        Kontrollen bei der Antibiotikavergabe plädiere ich wei-
        terhin für eine fachgerechte Vergabe der Medikamente,
        allein beschränkt auf Krankheitsfälle. Es muss weiterhin
        möglich sein, kranke Tiere entsprechend zu behandeln.
        Wer als Tierhalter und Tierarzt einen verantwortungsvol-
        len Umgang mit seinen Tieren pflegt, darf schon aus
        Tierschutzgründen einem behandlungsbedürftigen Tier
        die ihm zustehende, medizinisch notwendige Behand-
        lung nicht verwehren.
        Vielfach wird derzeit auch eine prozentuale Reduzie-
        rung der Gesamtmenge der verordneten Antibiotika ge-
        fordert. Eine solche pauschale Mengenregulierung durch
        eine fiktiv vorgegebene Prozentzahl halte ich für nicht
        sachgerecht, weil sie nur an den Symptomen ansetzt und
        die Ursachen einer übermäßigen Antibiotikaanwendung
        außer Acht lässt.
        Eines möchte ich an dieser Stelle ausdrücklich beto-
        nen: Wenn wir uns hier auch mit Antibiotikamissbrauch
        in der Tierhaltung beschäftigen, dann müssen wir uns
        immer vergegenwärtigen, dass für die Mehrheit der
        Nutztierhalter das Wohlergehen und die Gesundheit je-
        des einzelnen Tieres im Vordergrund stehen. Nur wenn
        Tiere gesund sind, kann Tierhaltung auch zu entspre-
        chendem wirtschaftlichen Erfolg der Betriebsinhaber
        führen.
        Mit der 16. AMG-Novelle wird der rechtliche Rah-
        men für Vorgaben beim Einsatz von Antibiotika in der
        Tiermedizin weiterentwickelt. Damit ist eine gute
        Grundlage geschaffen, um das gemeinsame Ziel, den
        Antibiotikaverbrauch in der Tierhaltung nachhaltig zu
        senken, zu erreichen. Ich lade Sie herzlich ein, den mit
        dem heute in erster Lesung eingebrachten Gesetzentwurf
        eingeschlagenen Weg gemeinsam zu diskutieren und zu
        einem guten Ergebnis im Verlauf der parlamentarischen
        Debatte zu führen.
        Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD): Endlich hat die Re-
        gierung gehandelt. Das wurde auch Zeit; denn noch
        mehr Zeitverzug können wir uns angesichts der Brisanz
        des Themas nicht leisten.
        Schön, dass die Bundesregierung eine Vielzahl der
        Punkte in den heute vorliegenden Gesetzentwurf aufge-
        nommen hat, die die SPD-Bundestagsfraktion bereits im
        Dezember 2011 in ihrem Antrag eingefordert hatte. Die
        SPD-Bundestagsfraktion hat Ihnen die Blaupause für ein
        effektives Antibiotikaminimierungskonzept auf nationa-
        ler Ebene vorgelegt. Die SPD fordert ein Antibiotika-
        minimierungskonzept mit klaren und eindeutigen Ziel-
        vorgaben. Und ich gehe noch weiter; denn ich fordere
        die Bundesregierung auf, alles zu unternehmen, um in
        den nächsten zwei Jahren den Antibiotikaverbrauch in
        der landwirtschaftlichen Nutztierhaltung um 30 Prozent
        zu senken. Wir brauchen Klarheit und vollständige
        Transparenz beim Einsatz von Antibiotika in der Nutz-
        tierhaltung. Dazu sollten alle Daten zu den verabreichten
        Antibiotika für jeden Betrieb und jeden Tierbestand in
        einer bundeseinheitlich zentralen Datenbank genau er-
        fasst und ausgewertet werden. Nur so lässt sich schnell
        ermitteln, welche Tierhalter überhöhte Antibiotikamen-
        gen einsetzen.
        Zukünftig sollten Landwirte und ihre betreuenden
        Tierärzte gesetzlich dazu verpflichtet werden, unmittel-
        bar Gegenmaßnahmen zu ergreifen, wenn der Antibioti-
        kaeinsatz in einer Tierhaltung signifikant erhöht ist. Die
        Experten, Praktiker und ich als Tierarzt wissen doch ge-
        nau, dass sehr oft der Hygienezustand im Stall darüber
        entscheidet, welche Mengen an Antibiotika eingesetzt
        werden. Manch ein Landwirt scheut die erforderlichen
        Investitionen, etwa in eine bessere Lüftungsanlage, und
        nimmt dafür Erkrankungen der Tiere bewusst in Kauf.
        Es ist daher Aufgabe von Landwirt und Tierarzt, ge-
        meinsam ein Konzept zur Verbesserung des Hygiene-
        und Gesundheitszustandes im betroffenen Tierbestand
        zu entwickeln. Geschieht das nicht oder bleibt dies ohne
        Erfolg, müssen in einer zweiten Stufe die amtlichen
        Kontrollbehörden einen rechtlich verbindlichen Sanie-
        rungsplan vorschreiben können. Bleibt auch diese Maß-
        nahme erfolglos, muss die Produktionseinstellung die
        letzte Konsequenz sein.
        Von einem effektiven Antibiotikaminimierungskon-
        zept ist diese Bundesregierung meilenweit entfernt. Ihr
        Gesetzentwurf reicht bei weitem nicht aus, um das Pro-
        blem des überhöhten Antibiotikaverbrauchs in der land-
        wirtschaftlichen Tierhaltung in den Griff zu bekommen.
        Überhaupt hat diese Bundesregierung ein grundsätzli-
        ches Problem; denn sie will zwar die Anwendung von
        Antibiotika zukünftig stärker überwachen, aber sie nicht
        anhand klarer Zielvorgaben senken. Aber mehr als 1 700
        Tonnen eingesetzte Antibiotika sind einfach zu viel. Die
        Bundesregierung vermeidet es, in der Gesetzesvorlage
        eindeutige Zielvorgaben festzuschreiben, an denen sich
        die Landwirte und Tierärzte orientieren müssen.
        Auch an anderer Stelle muss die Bundesregierung
        nachbessern, damit sich in den nächsten Jahren spürbare
        Erfolge gegen den Antibiotikamissbrauch einstellen. So
        sollte sie die Datenbank des Deutschen Instituts für
        24980 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012
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        Medizinische Dokumentation und Information, DIMDI,
        ausbauen. Zukünftig sollten Apotheken mit einbezogen
        und die vollständigen Adressen der Tierärzte und die be-
        zogenen Mengen an Antibiotika erfasst werden. Tier-
        ärzte und nicht die Landwirte sollten verpflichtet wer-
        den, in die zentrale Datenbank die Daten zur Antibio-
        tikaanwendung einzustellen. So lässt sich auch über
        Bundesländergrenzen hinweg ermitteln, welcher Tierarzt
        für welche Zwecke wann welche Antibiotika verabreicht
        hat.
        Ausländische Tierärzte, die auch in Deutschland Tier-
        bestände betreuen, werden von der AMG-Novelle bisher
        nicht erfasst, was insbesondere in grenznahen Regionen
        zu Überwachungslücken führt.
        Die Meldeintervalle der Tierärzte müssen in jedem
        Fall verkürzt werden. Die Meldung des Antibiotikaein-
        satzes an die zentrale Datenbank muss zeitnah erfolgen.
        Technisch ist das heute überhaupt kein Problem mehr; es
        ist auch mit keinen zusätzlichen Kosten verbunden, da
        die Daten auf Grundlage der Abgabe- und Anwendungs-
        belege bereits erfasst und vorhanden sind. Spätestens
        sieben Tage nach Abschluss der Behandlung sollten die
        Daten in der Datenbank verfügbar sein.
        Es reicht natürlich auch nicht aus, sich nur um die
        Mastbetriebe und um Masthühner, Puten und Schweine
        zu kümmern. Wir müssen eine verlässliche Übersicht
        über alle Antibiotikaverbrauchsmengen in allen land-
        wirtschaftlichen Nutztierhaltungsanlagen erhalten: Milch-
        kühe, Sauen, Legehennen und Fischzuchten müssen in
        ein novelliertes Arzneimittelgesetz einbezogen werden.
        Auch halte ich den im Gesetz vorgesehenen Index
        über die Therapiehäufigkeit für wenig zielführend. Er er-
        möglicht keine eindeutige Zuordnung, welche Betriebe
        denn nun wirklich Beratung und Unterstützung benöti-
        gen.
        Zur Luftnummer wird die AMG-Novelle spätestens
        dann, wenn der Gesetzgeber den auffälligen Betrieben
        Auflagen machen will. Beispielsweise gibt es keine aus-
        reichende gesetzliche Grundlage, um konkrete Auflagen
        zur Verbesserung des Startklimas zu machen. Dafür
        brauchen wir eine verbindliche Rechtsgrundlage. Die
        bisherige Schweinehaltungshygieneverordnung ist dafür
        ein untaugliches Instrument.
        Die aufgeführten Punkte zeigen, wie unausgegoren
        und lückenhaft der gesamte Gesetzentwurf ist. Das hat
        der Bundesrat durch 47 Änderungsanträge sehr deutlich
        gemacht. Die Agrarministerkonferenz kritisiert die
        AMG-Novelle als nicht ausreichend. Die AMK fordert
        die lückenlose Verknüpfung der Daten vom Antibiotika-
        hersteller bis zum Stall. Auch die Verbraucherminister-
        konferenz fordert ein eindeutiges Antibiotikaminimie-
        rungskonzept auf Grundlage einer zentralen, bundesein-
        heitlichen, amtlichen Datenbank mit automatisierten
        Melde-, Berechnungs- und Informationsprozessen, die
        auf Betriebs-, Landes- und Bundesebene zeitnahe Aus-
        wertungen des Einsatzes von Antibiotika ermöglicht.
        Wir müssen entlang der gesamten Produktionskette
        den Einsatz von Antibiotika minimieren, und dazu brau-
        chen wir die Grunddaten. Die Wirtschaft und das QS-
        System machen uns vor, wie kostengünstig und effektiv
        die Datenerhebung und -auswertung erfolgen können.
        Zum gegenwärtigen Zeitpunkt liefern 4 050 Geflügelhal-
        ter und mehr als 25 000 Schweinehalter sowie mehr als
        800 Tierärzte Daten für das Antibiotikamonitoring im
        QS-System. Das System liefert bereits heute relevante
        Daten, anhand deren die Landwirte und Tierärzte Maß-
        nahmen ergreifen müssen.
        In diesem Zusammenhang gebe ich zu bedenken: Ich
        halte es für problematisch, wie sich das AMG in den
        letzten Jahren entwickelt hat. Es ist für den Rechtsbe-
        troffenen kaum noch lesbar. An dieser Stelle appelliere
        ich an die Bundesregierung, das komplexe AMG lesba-
        rer und damit vollzugsfähig zu gestalten. Nur wer ver-
        steht, welche Rechte und Pflichten er hat, kann auch
        handeln.
        Ich möchte an dieser Stelle auch die Gelegenheit nut-
        zen und darauf hinweisen, dass der Antibiotikaeinsatz in
        der landwirtschaftlichen Tierhaltung nicht isoliert be-
        trachtet werden darf. Wir müssen ganzheitlicher denken:
        Tierhaltungssysteme müssen an die Tiere angepasst wer-
        den und nicht die Tiere an die Haltungsbedingungen.
        Die gesamte landwirtschaftliche Nutztierhaltung in
        Deutschland muss sich stärker an den gesellschaftlichen
        Anforderungen ausrichten, wenn sie ihre Akzeptanz
        nicht verlieren will. Die SPD spricht sich dafür aus, zu-
        sammen mit der Wissenschaft und der Wirtschaft die
        Haltungssysteme weiterzuentwickeln. Seit Jahren blo-
        ckiert die Koalition die Umsetzung des Tierschutz-
        TÜVs für serienmäßig hergestellte Stallsysteme. Wir
        fordern neue Forschungsansätze zu tiergerechten Hal-
        tungsformen und für mehr Tierschutz in der Nutztierhal-
        tung. Die Finanzierung muss durch die Umschichtung
        von Mitteln aus dem Haushalt des BMELV gewährleis-
        tet werden. Dazu haben wir in den diesjährigen Haus-
        haltsberatungen entsprechende Anträge vorgelegt.
        Die SPD-Bundestagsfraktion unterstützt in diesem
        Zusammenhang auch die Deutsche Agrarforschungsalli-
        anz, DAFA, die mit ihrer aktuellen Forschungsstrategie
        einen Weg aufzeigt, um den Dialog zwischen Gesell-
        schaft, Wirtschaft und Wissenschaft voranzutreiben. Die
        DAFA definiert Forschungsfelder, die dringend bearbei-
        tet werden sollten, damit auf wissenschaftlicher Grund-
        lage der Zustand in der Nutztierhaltung verbessert wird.
        Die SPD hinterfragt auch die bisherigen Züchtungs-
        konzepte. Beispielsweise belasten eine sehr kurze Mast-
        dauer und hohe tägliche Gewichtszunahmen den Orga-
        nismus von Mastgeflügel bis an die Grenzen. Hier
        müssen wir zu anderen Lösungen kommen; denn ein gu-
        ter Gesundheitsstatus der Tiere senkt den Einsatz von
        Antibiotika weiter.
        Bei den vielen Unzulänglichkeiten in der Gesetzesno-
        velle werden wir in den kommenden Wochen intensiv an
        Verbesserungen arbeiten müssen. Die SPD-Bundestags-
        fraktion wird ihre Vorschläge durch Änderungsanträge
        einbringen. Ich hoffe, dass am Ende etwas Anständiges
        herauskommen wird, damit wir nicht jene im Regen ste-
        hen lassen, die das Gesetz am Ende umsetzen müssen.
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        Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Erstmalig hat
        das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittel-
        sicherheit die Antibiotikamenge erfasst und veröffent-
        licht, die in einem Jahr an Tierärzte und Großhandel
        abgegeben wurde. Im Jahr 2011 wurden 1 734 Tonnen
        Antibiotika abgegeben. Selbst angesichts der rund
        28,1 Millionen Schweine, 12,5 Millionen Rinder, darun-
        ter 4,2 Millionen Milchkühe, und der rund 115 Millionen
        Hühner und 1 Million Pferde, die laut Statistischem
        Bundesamt in Deutschland gehalten werden, ist diese
        Menge hoch. Sie ist deutlich höher, als dies von Exper-
        ten erwartet worden war. Dass diese Informationen jetzt
        vorliegen, ist nach meiner Ansicht ein wichtiger Fort-
        schritt. Gemeinsam mit den Untersuchungsergebnissen
        des niedersächsischen Landwirtschaftsministeriums be-
        legen sie einen hohen Antibiotikaeinsatz in der landwirt-
        schaftlichen Tierhaltung. Allerdings ist auch festzustel-
        len, dass der Antibiotikaeinsatz in der Humanmedizin
        mit 816 Tonnen ebenfalls sehr hoch ist.
        Gut geführte Bestände von gesunden Nutztieren brau-
        chen in der Regel keine oder nur in geringem Umfang
        Antibiotika. Die Zahlen aus Niedersachsen zeigen je-
        doch, dass dennoch der Einsatz von Antibiotika in der
        Mast die Regel und nicht die Ausnahme ist. So wurden
        in der Kälbermast 92 Prozent der Kälber, bei Puten
        84 Prozent, bei Hühnern 76 Prozent und bei Schweinen
        68 Prozent der Tiere mit Antibiotika behandelt. Es ist of-
        fensichtlich: Die bestehenden, unverbindlichen Leitli-
        nien der Bundestierärztekammer allein haben auf die
        Anwendung von Antibiotika keinen großen Einfluss ge-
        habt. Um zu einer Verringerung der Anwendung von
        Antibiotika in der Nutztierhaltung zu kommen, brauchen
        wir daher weitere Kontroll- und Anreizsysteme.
        Resistenzen gegen Antibiotika entwickeln sich in
        Bakterien spontan. Dies ist unvermeidbar. Je länger und
        häufiger ein Antibiotikum in Gebrauch ist, desto schnel-
        ler verbreiten sich Bakterien, die gegen diesen Wirkstoff
        resistent sind. Insbesondere multiresistente Keime, die
        unempfindlich gegen mehrere Antibiotika sind, können
        nur schwer behandelbare Infektionskrankheiten verursa-
        chen. Die bekanntesten Beispiele hierfür sind MRSA
        (Methicillin-resistenter Staphylococcus aureus) und
        ESBL-Keime (Extended Spectrum beta-Lactamase).
        Deswegen sind Antibiotikaresistenzen ein bedeutendes
        Problem für die öffentliche Gesundheit. Es ist ein Gebot
        des vorsorgenden Gesundheitsschutzes, Antibiotika
        sachgerecht, das heißt bei Vorliegen einer bakteriellen
        Infektion, anzuwenden, um sicherzustellen, dass wirk-
        same Antibiotika im Notfall zur Verfügung stehen.
        Angesichts der beschriebenen Situation ist eine Über-
        arbeitung des Arzneimittelgesetzes dringend erforder-
        lich. Die niedersächsischen Untersuchungen deuten da-
        rauf hin, dass in vielen Tierhaltungen Antibiotika
        eingesetzt werden, um Mängel in der Haltung der Tiere,
        im Betriebsmanagement und in der Hygiene zu überde-
        cken. Das kann nicht länger geduldet werden. Die FDP
        unterstützt im Kern die vorliegende Novelle. Es sollen
        Kennzahlen erhoben werden, die die im Normalfall er-
        forderlichen Antibiotikagaben beschreiben. Die Kenn-
        zahlen verbessern die Möglichkeiten der Eigenkontrolle
        für Landwirte und schaffen Anreize zur Eigeninitiative.
        Dabei müssen wir die bereits durch QS privatwirtschaft-
        lich erhobenen Daten einbinden, um unnötige Bürokratie
        und Belastungen – insbesondere für kleinere Betriebe –
        zu vermeiden. Werden diese Kennzahlen überschritten,
        ist der Tierhalter verpflichtet, einen Managementplan
        vorzulegen, in dem beschrieben wird, in welcher Weise
        das Hygiene- und Haltungsmanagement verbessert wer-
        den soll. Der Plan ist in Zusammenarbeit mit dem be-
        treuenden Tierarzt zu erarbeiten. Die Tierärzte müssen
        verstärkt durch Beratungsleistungen in das Bestands-
        und Hygienemanagement eingebunden und dafür ange-
        messen entlohnt werden. Damit wird automatisch der
        Anreiz sinken, Medikamente zu verkaufen. Gleichzeitig
        ist die Ressortforschung gefordert, Alternativen zum
        Antibiotikaeinsatz, wie beispielsweise markergestützte
        Impfungen, zu erforschen.
        Der im Gesetz vorgeschlagene Ansatz dient der prob-
        lemorientierten, nachhaltigen Lösungsfindung. Gut ge-
        führte Betriebe geben das Vorbild und nicht am grünen
        Tisch festgelegte Reduktionsziele.
        Ein Verbot des Einsatzes von Antibiotika für Tiere
        lehnt die FDP ab. Ein krankes Tier muss behandelt wer-
        den. Ein Verbot begünstigt einen grauen Markt und ver-
        hindert damit, dass Haltungsprobleme gelöst werden.
        Ebenso lehnen wir ein abstraktes Ziel der Mengenredu-
        zierung ab. Solche abstrakten Ziele werden der sehr un-
        terschiedlichen Situation der verschiedenen Tierhaltun-
        gen nicht gerecht.
        Das neue Gesetz erschwert zudem das Umwidmen
        von Antibiotika und schafft die Möglichkeit, den Einsatz
        von wichtigen Reserveantibiotika einzuschränken oder
        zu verbieten. Dies leistet einen wichtigen Beitrag dazu,
        Resistenzbildungen zu verringern.
        Die Bundesregierung hat bereits Maßnahmen einge-
        leitet, um den Antibiotikaeinsatz in der Tierhaltung zu
        vermindern. Auf der Agrarministerkonferenz wurde die
        Schaffung einer bundeseinheitlichen amtlichen Daten-
        bank beschlossen, die zeitnah die Meldungen des
        Antibiotikaeinsatzes bei landwirtschaftlichen Nutztieren
        erfassen soll.
        Wir müssen im parlamentarischen Verfahren darauf
        dringen, die Erfassung der Kennzahlen transparent zu
        organisieren und zu verhindern, dass parallele Datenban-
        ken geführt werden. Gleichwohl ist schon jetzt klar, dass
        alle diese Maßnahmen Geld kosten. Verbraucherinnen
        und Verbraucher müssen sich darauf einstellen, in Zu-
        kunft mehr Geld für Fleischprodukte zu bezahlen. Er-
        höhte Standards im Hygiene- und Haltungsmanagement
        von Nutztieren verursachen höhere Kosten. In der
        Charta für Landwirtschaft haben wir erfahren, dass in
        der Gesellschaft höhere Standards erwünscht sind. Wir
        hoffen, dass die sich daraus ergebenden Konsequenzen
        der Kostensteigerung ebenfalls getragen werden. Gleich-
        zeitig ist zu befürchten, dass die Umsetzung der Maß-
        nahmen größeren Betrieben leichter fallen wird als klei-
        neren Betrieben. Deshalb fühlen wir uns verpflichtet, mit
        Augenmaß die Verringerung der Antibiotikaanwendung
        zu verfolgen. Dann kann eine für Verbraucherinnen und
        Verbraucher wie auch die Tierhalter gute Novellierung
        des Gesetzes gelingen.
        24982 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012
        (A) (C)
        (D)(B)
        Hans-Michael Goldmann (FDP): Bei dem Ziel, die
        Antibiotikaabgabemengen in der Tierhaltung zu reduzie-
        ren, sind wir uns doch hier im Bundestag über alle Frak-
        tionen hinweg einig. Das Ziel haben im Übrigen auch
        alle vernünftigen Tierhalter. Das ist einmal wichtig, fest-
        zustellen. Denn Antibiotika kosten viel Geld, und es
        liegt im ökonomischen Eigeninteresse der Tierhalter,
        Kosten zu sparen, wenn dies der Tiergesundheit nicht
        entgegensteht.
        Die Änderungsanträge des Bundesrates zeigen, dass
        wir an der einen oder anderen Stelle noch über Anpas-
        sungen diskutieren müssen. Das geht jedoch nur im
        Dialog mit den Praktikern vor Ort. Denn wir brauchen
        praktikable Lösungen. Reichen wir also den Tierhaltern
        die Hand und erkennen sie als konstruktive Partner an,
        die die Minimierungsziele bei der Antibiotikavergabe
        ebenso anstreben wie wir hier in Berlin.
        Was ich aber wirklich strengstens ablehne, ist eine
        pauschale Verunglimpfung der deutschen Tierhalter, wie
        es hier nun von mancher Seite als großes Wahlkampf-
        thema genutzt wird. Natürlich gibt es schwarze Schafe.
        Die finden wir leider überall. Das ist aber eine Minder-
        heit. Und genau diese Minderheit müssen wir durch eine
        Novellierung des Arzneimittelgesetzes erreichen und
        fachlich durch die praktizierenden Tierärzte und mit ei-
        nem praxistauglichen Minimierungskonzept begleiten.
        Ich betone aber, nicht als Politiker, sondern als ausge-
        bildeter Tierarzt, dass es eben die praktizierenden Tier-
        ärzte sind, die die fachliche Eignung für eine Beurtei-
        lung der Antibiotikaverabreichung und der Stallsysteme
        aufweisen. Diese müssen wir durch die Novellierung
        stärken und rechtzeitig in die Prozesse einbinden.
        Ferner müssen wir noch im parlamentarischen Pro-
        zess diskutieren, ob es nicht auch sinnvoll ist, den vorge-
        lagerten Bereich, also die Aufzucht, in das Monitoring
        zu integrieren, um die gesamte Wertschöpfungskette im
        Blick zu haben. Denn gerade bei den Muttertieren und
        der Aufzucht ist eine fachliche Beratung von großer Be-
        deutung, um keine negativen Folgeerscheinungen in die
        Mast zu verschleppen. Auch hier müssen wir die Tier-
        ärzte rechtzeitig einbinden.
        Aber eines muss auch noch erwähnt werden: Durch
        das privatwirtschaftliche QS-System erfassen wir bereits
        seit einiger Zeit Daten. Diese schon existenten Struktu-
        ren müssen wir nutzen und integrieren, um Doppelerfas-
        sungen und unnötige Kosten zu vermeiden.
        Halten wir also fest: Die Koalition stellt sich dem
        wichtigen Thema in der Nutztierhaltung und wird eine
        gute Basis für die Problemlösung bei der Vergabe von
        Antibiotikaabgabemengen finden. Dabei wissen wir,
        dass es viele Tierhalter gibt, die nach der guten fach-
        lichen Praxis und im Sinne der Tiergesundheit handeln
        und letztlich ein gutes, qualitativ hochwertiges Lebens-
        mittelprodukt erzeugen. Wir wissen aber auch, dass es
        einige Problembetriebe gibt. Das wird keiner bestreiten.
        Genau die wollen wir nun zu Verbesserungen anleiten,
        ohne dabei einen gesamten Berufsstand mit Unterstel-
        lungen in Verruf zu bringen.
        Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): „K. O. den
        Tierfabriken!“ heißt die aktuelle Kampagne des BUND.
        Man kann trefflich darüber streiten, was „Tierfabriken“
        sind und welchen Beitrag solche Skandalisierungen zur
        Problemlösung leisten können. Für die Linke sind aber
        zwei Dinge viel entscheidender: Erstens ist anzuerken-
        nen, dass es in Teilen der Nutztierhaltung Gesundheits-
        probleme gibt. Und zweitens können wir die Probleme
        nur lösen, wenn wir ihre Ursachen und die Verbesserung
        des Tierwohls in den Mittelpunkt der Debatte rücken. Es
        muss vor allem um die Qualität der Nutztierhaltung ge-
        hen. Das ist weit mehr als nur ein Zählappell im Stall.
        Oder sind 30 000 Legehennen an einem Standort schon
        deshalb keine Tierfabrik, weil dort Bioeier produziert
        werden?
        Als Gesetzgeber tragen wir dabei eine doppelte Ver-
        antwortung. Wir müssen die Interessen der Konsumen-
        tinnen und Konsumenten berücksichtigen, die gesunde
        und bezahlbare Lebensmittel wollen. Gleichzeitig will
        die Gesellschaft völlig zu Recht eine Tierhaltung, die
        tierwohlgerecht ist und die natürlichen Lebensbedingun-
        gen nicht unnötig belastet. Zumindest bezüglich der Pro-
        duktionskosten ist das ein gewisser Interessenkonflikt,
        solange zum Beispiel die durch Umweltbelastungen ver-
        ursachten Kosten nicht in die Erzeugungskosten einge-
        rechnet, sondern von der Gesellschaft getragen werden.
        Ohne soziale und ökologische Marktregeln steigt der
        Druck, möglichst billig zu produzieren, also möglichst
        viel und möglichst schnell auf derselben Fläche. Be-
        schleunigt wird diese Entwicklung durch den Trend zur
        gewerblichen Nutztierhaltung, denn das trennt sie nicht
        nur von der Landbewirtschaftung, sondern entfremdet
        sie von landwirtschaftlichen Grundlagen. Multifunktio-
        nale Betriebe mit Tier- und Pflanzenproduktion werden
        immer seltener und weichen einer Agrarstruktur, in der
        die einen nur noch Marktfrüchte anbauen und die Tier-
        produktion als Lohnarbeit für Lebensmittelkonzerne
        stattfindet. Das halte ich für hochproblematisch und be-
        trifft nicht nur die konventionelle Landwirtschaft, son-
        dern zunehmend auch den Ökolandbau.
        Wenn die Agrarwirtschaft nicht mehr zuallererst als
        Versorger im Hinblick auf das öffentliche Gut Ernäh-
        rungssicherung verstanden wird, sondern nur noch als
        Rohstofflieferant für die Weiterverarbeitung, hat das
        schwerwiegende Folgen. Denn das entfremdet sie von
        den natürlichen Produktionsgrundlagen und von den
        Verbraucherinnen und Verbrauchern.
        Unter diesen Rahmenbedingungen erscheint es einfa-
        cher, drohende oder bestehende Bestandserkrankungen
        systematisch mit Antibiotika zu bekämpfen, statt ihre
        Ursachen zu suchen und zu beseitigen. Das ist das ei-
        gentliche Problem, das hinter der Zahl von über 1 700
        Tonnen Antibiotika steht, die 2011 in deutschen Nutz-
        tierbeständen angewandt wurden. Auch wenn die Zahl
        selbst noch nicht viel über das Ausmaß des Problems
        aussagt, ist unstrittig, dass sie für einen teilweise syste-
        matischen Missbrauch spricht. Denn Antibiotika sind so-
        wohl in der Human- als auch in der Tiermedizin so wert-
        voll, dass sie nur im unvermeidlichen Notfall eingesetzt
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012 24983
        (A) (C)
        (D)(B)
        werden dürfen. 1 700 Tonnen Antibiotika sprechen eine
        andere Sprache.
        Es ist doch nicht hinnehmbar, wenn 2011 neun von
        zehn Masthühnern in NRW in ihrem sehr kurzen Leben
        mit Antibiotika behandelt wurden. Die Untersuchungen
        aus NRW und Niedersachsen erhärteten den Verdacht,
        dass Antibiotika zu oft und regelwidrig verabreicht wer-
        den, zum Beispiel zur Verhütung von Infektionen, zur
        ungezielten Steigerung der Tiergesundheit oder auf Ver-
        dacht. Das ist unverantwortlich. Stattdessen müssen die
        Ursachen von erhöhten Infektionsrisiken beseitigt wer-
        den. Dazu zählen Mängel beim Stallklima, bei der Stall-
        hygiene, bei der Bestandsbetreuung oder zu große Tier-
        dichten im Stall oder in der Region. Dazu gehört aber
        auch mangelndes Wissen über sogenannte Faktoren-
        krankheiten, die neben den klassischen Infektionskrank-
        heiten zunehmend zur wirtschaftlichen Bedrohung in der
        Tierhaltung werden. Unter anderem deshalb fordere ich
        schon lange ein epidemiologisches Zentrum; denn diese
        Fragestellungen sind eine andere wissenschaftliche
        Herausforderung als die Grundlagenforschung zu den
        klassischen Tierseuchen, die am FLI den Schwerpunkt
        bildet.
        Aber auch der Deutsche Bundestag als Gesetzgeber
        muss dringend handeln. Der vorliegende Gesetzentwurf
        ist ein erster, aber viel zu zaghafter Schritt. Den
        Missbrauch durch eine Datenbank besser zu lokalisieren,
        reduziert ihn noch nicht, erst recht, wenn die Entdeckung
        so wenig verbindliche Konsequenzen hat.
        Die Stellungnahme des Bundesrates weist auf Defi-
        zite des Gesetzentwurfs hin und schlägt vernünftige Ver-
        besserungen vor, zum Beispiel die Berücksichtigung der
        Antibiotika-Leitlinien der Bundestierärztekammer oder
        die Dokumentation der verabreichten Tagesdosis statt
        nur der Arzneimittelmenge in der bundesweiten Daten-
        bank.
        Noch besser hätte es der Novelle getan, wenn
        noch mehr Vorschläge meiner Fraktion Die Linke be-
        rücksichtigt worden wären. Unser Antrag liegt ja bereits
        seit Januar 2012 auf dem Tisch (Bundestagsdrucksache
        17/8348).
        Dazu ein paar Beispiele:
        Erstens. Exzessive und unsachgemäße Antibiotika-
        Anwendungen sind auch deshalb ein Problem, weil sie
        das Resistenzrisiko erhöhen. Durch Resistenzen wird die
        Wirksamkeit der Antibiotika reduziert. Das ist insbeson-
        dere bei den Wirkstoffen gefährlich, die bei Menschen
        und Tieren verwendet werden. Deshalb fordern wir, dass
        Humanantibiotika nicht in Tierställen eingesetzt werden.
        Zweitens. Eine integrierte veterinärmedizinische Be-
        standsbetreuung kann zu wesentlich gesünderen Tieren
        beitragen. Die Tierärzteschaft muss als Verbündete der
        Tierhalterinnen und Tierhalter sowie der staatlichen
        Behörden gestärkt werden. Tierärztinnen und Tierärzte
        wissen, wie Infektionskrankheiten vermieden werden
        können. Allerdings muss ihre epidemiologische Aus-
        und Fortbildung gestärkt werden, und die berufsständi-
        schen Vertretungen müssen konsequent gegen schwarze
        Schafe in der Tierärzteschaft vorgehen.
        Drittens. Die geplante Beschränkung der bestandsge-
        nauen Dokumentation der Antibiotika-Anwendungen
        auf den Mastbereich ist unsinnig.
        Viertens. Die Dokumentation allein ist noch kein
        Fortschritt, sondern muss zu einer umfassenden Problem-
        analyse und daraus abgeleiteten effektiven und verbind-
        lichen Kontroll- und Vollzugsmaßnahmen führen. Ziel
        muss eine risikoorientierte Überwachung als Frühwarn-
        system für Bestandserkrankungen bei Nutztieren sein.
        Fünftens. Die Linke fordert eine tierwohlorientierte
        Neubewertung aller Haltungssysteme. Maximale Besatz-
        dichten, bezogen auf Stallanlagen, Tierhaltungsstandorte
        und Regionen, sollten entsprechend der Ergebnisse einer
        epidemiologischen Bewertung der Infektionsrisiken ge-
        regelt werden.
        Sechstens. Die für Beratung und Überwachung zu-
        ständigen Behörden müssen proaktiv agieren und ihre
        Vollzugsmöglichkeiten deutlich verbessert werden.
        Siebtens. Es wird qualifiziertes Betreuungspersonal in
        der Tierhaltung gebraucht. Die Qualifikation muss min-
        destens per Sachkundenachweis belegt werden.
        All dies werden wir in der Anhörung am 28. Novem-
        ber diskutieren müssen. Leider bleibt nur wenig Zeit zur
        Debatte. Nachdem sich seitens der Koalition monate-
        lang nichts getan hat, soll nun der Gesetzentwurf durch
        das Parlament gepeitscht werden. Anscheinend will
        Schwarz-Gelb die Antibiotika-Debatte zur Grünen Wo-
        che 2013 vom Tisch haben. Aber das wird nicht gelin-
        gen, denn es ist bereits wieder eine große agrarpolitische
        Demo unter dem Motto „Wir haben es satt!“ in Berlin
        angekündigt. Und das Motto bezieht sich sicher nicht
        nur auf die Agrarpolitik, sondern auf Schwarz-Gelb ins-
        gesamt.
        Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        Fast auf den Tag genau vor einem Jahr hat NRW-Minis-
        ter Johannes Remmel seine Studie zum skandalösen An-
        tibiotikaeinsatz in der Geflügelhaltung präsentiert – eine
        Studie, die gezeigt hat, dass der übergroßen Mehrzahl
        der Tiere teilweise mehrfach Antibiotika verabreicht
        wurden, eine Studie, die alle Experten noch einmal in ih-
        rer Einschätzung bestätigt hat, dass es ein massives Anti-
        biotikaproblem in deutschen Tierhaltungen gibt, eine
        Studie, die selbst Sie, Frau Ministerin Aigner, dazu
        brachte, den Antibiotikaskandal in der Tierhaltung an-
        zuerkennen. Leider haben Sie, Frau Aigner, die damals
        geäußerte Betroffenheit wieder einmal nicht in ent-
        schlossenes Handeln umgesetzt. Stattdessen haben Sie
        ein geschlagenes Jahr weiter gebremst, gezögert und
        verschleppt.
        Mühsam haben Ihnen die Expertinnen und Experten,
        die Bundesländer und vor allem die empörte Öffentlich-
        keit nun einen Gesetzentwurf abgerungen. Bei den darin
        enthaltenen Maßnahmen geht es jedoch nur darum, den
        Status quo weiterhin staunend zu betrachten und zu ze-
        mentieren. Auf massiven Druck der Länder haben Sie
        nun wenigstens den Gedanken einer zentralen Daten-
        bank aufgenommen. Die Erfassung, die Sie vorsehen, ist
        jedoch hochkompliziert, intransparent und völlig un-
        24984 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012
        (A) (C)
        (D)(B)
        praktikabel. Wir unterstützen daher die Länder, ange-
        führt von NRW, wenn sie sagen: Wir wollen, dass Tier-
        halter oder Tierärzte ihre Daten unmittelbar in eine
        zentrale Datenbank eingeben; die Länder sollen sofort
        Zugriff haben und Raster entwickeln können, um Be-
        triebe mit auffällig hohem Antibiotikaeinsatz herauszu-
        filtern. Ihre Hürden und Hemmnisse für die Landeskon-
        trollbehörden müssen raus aus dem Gesetz!
        Wenn Antibiotika prophylaktisch eingesetzt werden,
        ist das illegal und kriminell, und der Staat muss dement-
        sprechend reagieren. Es kann nicht sein, dass die Täter
        mit Samthandschuhen angefasst werden. Wer kriminell
        handelt, muss mit Konsequenzen rechnen. Die Reduk-
        tionsmaßnahmen, die Sie vorgeben, sind jedoch zahn-
        lose Tiger. Wenn in Ställen ein überdurchschnittlicher
        Antibiotikaeinsatz festgestellt wurde, sollen die Tier-
        ärzte mit den Tierhaltern Reduktionspläne erarbeiten.
        Ziel ist es, den Einsatz auf den ohnehin skandalös hohen
        Durchschnittswert zu senken. Gelingt das nicht, sind
        nicht einmal Sanktionen vorgesehen. Wohin wollen Sie
        mit diesem Gesetz? Wir müssen den massiven prophy-
        laktischen Antibiotikaeinsatz entschlossen bekämpfen.
        Mit Ihren Maßnahmen kommen wir diesem Ziel keinen
        Schritt näher. Wir knipsen nur einige weitere Lichter an,
        um den Antibiotikaskandal noch besser auszuleuchten,
        der schon heute offensichtlich ist.
        Frau Ministerin Aigner, mit Ihrem Agieren seit einem
        Jahr machen Sie deutlich, dass Ihnen ein Masterplan
        fehlt. Getrieben von der öffentlichen Debatte, schlagen
        Sie ein paar Maßnahmen im AMG vor, nur um einen Ar-
        beitsnachweis zu haben. Aber daran werden Sie nicht
        gemessen. Die Menschen fragen: Was tun Sie, um den
        massiven Antibiotikaeinsatz in der Tierhaltung zu be-
        kämpfen – laut BVL 1 734 Tonnen im Jahr 2011? Was
        tun Sie, um der Expansion von Tierfabriken entgegen-
        zuwirken, für deren Produktion Antibiotika die Schmier-
        mittel sind? Was tun Sie gegen die Ausbreitung von
        multiresistenten Keimen und die zunehmende Unwirk-
        samkeit von Antibiotika?
        Nichts, nichts und noch einmal nichts. Sie erstarren,
        weil Sie Angst davor haben, Verantwortung zu überneh-
        men, und regelmäßig vor der Interessenlobby einknicken.
        Dabei wissen Sie genau, dass wir nur mit Änderungen
        im System den Antibiotikaeinsatz wirksam senken wer-
        den.
        Wir müssen endlich die Haltungssysteme umbauen.
        Runter mit den Tierplatzzahlen! Mehr Platz, mehr Aus-
        lauf, mehr Außenklimabereiche! Wir müssen raus aus
        der bedingungslosen Bestandsbehandlung – gerne durch
        den Begriff Metaphylaxe vernebelt. Was ist Metaphy-
        laxe für ein Rechtsbegriff, Frau Ministerin? Glauben
        Sie, dass dieser Begriff justiziabel ist? Ich glaube das
        nicht. Wir brauchen endlich Festpreise für Antibiotika.
        Die Subventionierung der Autobahntierärzte muss been-
        det werden.
        Frau Ministerin Aigner, das sind die zentralen Fragen,
        die Sie angehen müssten. Leider akzeptieren Sie jedoch
        ohne Protest den engen Gestaltungsrahmen, den Ihnen
        die Agrarlobby setzt. Wir werden sehen, ob Sie selbst
        Ihre Schmalspurmaßnahmen zum AMG am Ende kom-
        plett einstampfen, wie Sie es gerade mit dem Tierschutz-
        gesetz gemacht haben, als Ihnen der Lobbydruck aus den
        eigenen Reihen zu groß wurde. Gut für Sie, dass Sie bald
        in Bayern sind und hoffentlich mehr politischen Frei-
        raum in der Opposition haben. Noch besser für die Bür-
        gerinnen und Bürger, dass sie 2013 mit ihrer Stimme
        Schwarz-Gelb abwählen können und Ihnen die Verant-
        wortung entziehen, vor der Sie sich ohnehin immer ge-
        drückt haben.
        Peter Bleser, Parl. Staatssekretär bei der Bundes-
        ministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucher-
        schutz: Ich spreche heute zu einem Thema, das mir auch
        als Landwirt sehr am Herzen liegt.
        Tiergesundheit ist eine entscheidende Voraussetzung
        für das Wohlergehen und die Leistung von Tieren. Si-
        chere Lebensmittel können nur von gesunden Tieren ge-
        wonnen werden. Den Einsatz von Antibiotika in einigen
        Arten der Tierhaltung betrachten wir mit Sorge. Dabei
        ist es eine Selbstverständlichkeit: Der Einsatz von Anti-
        biotika ist auf ein Minimum – nämlich auf das therapeu-
        tisch Notwendige – zu beschränken.
        Bereits heute ist der Einsatz von Antibiotika als
        Wachstumsförderer verboten. Und der Einsatz von Anti-
        biotika – prophylaktisch, also zur Vorsorge gegen eine
        mögliche Erkrankung – ist ebenfalls bereits verboten.
        Damit ist klar: Wer Antibiotika bei Tieren einsetzt, die
        nicht erkrankt sind, verstößt gegen geltendes Recht.
        Wir verschließen nicht die Augen vor den bestehen-
        den Problemen. Wir wollen sie lösen. Sowohl die aus
        den Ländern vorliegenden Erkenntnisse zum Antibiotika-
        einsatz vor Ort, als auch die kürzlich veröffentlichte
        Gesamtmenge der antimikrobiellen Wirkstoffe in der
        Tierarztpraxis von 1 734 Tonnen unterstreichen die Be-
        deutung des Antibiotikaminimierungsprogramms der
        Bundesregierung. Wir gehen kontinuierlich und ent-
        schlossen vor. Der Kampf gegen die Entwicklung und
        Ausbreitung von Antibiotikaresistenzen in der Tierhal-
        tung wurde bereits vor mehr als zehn Jahren aufgenom-
        men und durch strenge Vorgaben im Umgang mit Tier-
        arzneimitteln im AMG festgeschrieben. 2008 hat die
        Bundesregierung eine Antibiotikaresistenzstrategie be-
        schlossen. Jetzt legen wir einen weiteren Gesetzentwurf
        zur Minimierung des Antibiotikaeinsatzes vor.
        Um den Missbrauch von Antibiotika in der Tierhal-
        tung einzudämmen, hat die Bundesregierung einen Ent-
        wurf zur Änderung des Arzneimittelgesetzes vorgelegt.
        Wir werden den Ländern noch mehr Möglichkeiten ge-
        ben. Nach meiner Meinung schöpfen die Länder die be-
        reits heute vorhandenen Möglichkeiten nicht aus. Sie
        werden künftig Ihre Überwachungsaufgaben – noch ef-
        fektiver – erfüllen können.
        Wir alle verfolgen in diesem Zusammenhang dasselbe
        Ziel. Das wird unterstrichen durch den Beschluss des
        Bundesrates vom 10. Februar 2012 sowie die Beschlüsse
        der Agrarministerkonferenz vom Januar 2012 und vom
        April 2012. Wir haben diese Beschlüsse mit dem Ent-
        wurf eines 16. Gesetzes zur Änderung des Arzneimittel-
        gesetzes zielgerichtet aufgegriffen.
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012 24985
        (A) (C)
        (D)(B)
        Als Kernstück enthält der Gesetzentwurf einen
        Rechtsrahmen für ein innovatives betriebsgestütztes An-
        tibiotikaminimierungskonzept. Die in den §§ 58 a bis
        58 d getroffenen Maßnahmen sind ein ineinandergrei-
        fendes System und gezielt darauf ausgerichtet, den Anti-
        biotikaeinsatz im Betrieb transparent und bundesweit
        vergleichbar zu machen. Ziel ist es, den Einsatz von Anti-
        biotika in Betrieben, die Rinder, Schweine, Huhn und
        Pute mästen, zu überprüfen und, sofern erforderlich, zu
        minimieren. Der auf wissenschaftlich-epidemiologischer
        Grundlage ermittelte Parameter der „Therapiehäufig-
        keit“ ermöglicht eine Beurteilung des quantitativen Ein-
        satzes von Arzneimitteln auf Betriebsebene. Neben einer
        betriebsbezogenen Therapiehäufigkeit gibt es auch bun-
        desweite Kennzahlen für die Therapiehäufigkeit. Der
        Tierhalter muss feststellen, ob die Kennzahl für seinen
        Betrieb im Vergleich zur bundesweiten Kennzahl über-
        schritten ist. Beim Überschreiten soll er eine Ur-
        sachenprüfung durchführen sowie die Minimierung des
        Antibiotikaeinsatzes überprüfen. Der Tierhalter muss ge-
        gebenenfalls einen schriftlichen Antibiotikaminimie-
        rungsplan erstellen und durchführen.
        Es macht an dieser Stelle keinen Sinn, konkrete Pro-
        zentvorgaben für die Reduktion des Antibiotikaeinsatzes
        festzulegen. Denn es muss stets möglich sein, dass ein
        krankes Tier behandelt werden kann. Dies ist aus Tier-
        schutzaspekten der einzig richtige Weg.
        Insgesamt ermöglicht es das Antibiotikaminimie-
        rungskonzept der §§ 58 a bis 58 d, die Überwachungs-
        maßnahmen risikoorientierter zu planen und somit wei-
        ter zu verbessern.
        Als Weiteres werden Ermächtigungen für neue Rege-
        lungen geschaffen. Die Regelungen sollen insgesamt ei-
        nen wichtigen Beitrag zur Wahrung der Lebensmittel-
        sicherheit und zur Optimierung der Tierhaltung leisten.
        Um auf meine Eingangsbemerkung zurückzukom-
        men: Im Zusammenhang mit diesem Thema verfolgen
        wir alle dasselbe Ziel. Ich freue mich, dass der Bundesrat
        in seiner Stellungnahme vom 2. November 2012 aus-
        drücklich den mit dem Gesetzentwurf beabsichtigten
        Einstieg in ein Antibiotikaminimierungskonzept be-
        grüßt. Er macht deutlich, dass eine schrittweise Umset-
        zung des Konzeptes, beginnend mit dem Mastbereich,
        eine intensivere Begleitung der auffälligen Betriebe er-
        möglicht. Die Bundesregierung bereitet zurzeit die Ge-
        genäußerung zur Stellungnahme des Bundesrates vor.
        Der Weg der Bundesregierung ist klar:
        – Wir verschärfen die rechtlichen Bestimmungen, um
        den Antibiotikaeinsatz in der Nutztierhaltung auf das
        absolut notwendige Maß zu beschränken.
        – Wir erweitern deutlich die Befugnisse der zuständi-
        gen Kontroll- und Überwachungsbehörden der Län-
        der.
        Wir können unser gemeinsames Ziel – die Minimie-
        rung des Antibiotikaeinsatzes – nur dann erreichen,
        wenn wir alle an einem Strang ziehen. Wir hoffen auf
        eine zügige Beratung in den Gremien des Bundestages.
        Anlage 13
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
        Änderung des AZR-Gesetzes (Zusatztagesord-
        nungspunkt 8)
        Reinhard Grindel (CDU/CSU): Der Europäische
        Gerichtshof hat in seinem Urteil vom 16. Dezember
        2008 entschieden, wie und welche Daten von Bürgern
        der Europäischen Union, die nicht Bundesbürger sind,
        im Ausländerzentralregister, AZR, gespeichert und wei-
        ter übermittelt werden dürfen. Mit dem vorliegenden
        Gesetzentwurf setzt die Bundesregierung das Urteil
        konsequent in geltendes Recht um. Es wird festgelegt,
        welche Daten von Unionsbürgern im AZR gespeichert
        werden und an welche Behörden Daten von Unionsbür-
        gern übermittelt werden dürfen.
        Schon nach Urteilsverkündung hat die Bundesregie-
        rung die für die Führung des AZR zuständigen Behörden
        angewiesen, die Daten von Unionsbürgern nur noch
        nach Maßgabe des Urteils zu speichern und zu übermit-
        teln. Die momentane Praxis entspricht somit größtenteils
        dem vorliegenden Gesetzentwurf und wird durch diesen
        auf eine solide gesetzliche Grundlage gestellt.
        Die Wichtigkeit des Ausländerzentralregisters bleibt
        dabei unbestritten. Es ist wichtige Informationsquelle für
        mehr als 6 500 Partnerbehörden. Es dient den Verwal-
        tungsbehörden zur Erfüllung von Aufgaben im auslän-
        der- und asylrechtlichen Bereich, hat Unterstützungs-
        funktion als Instrument der öffentlichen Sicherheit und
        wird für ausländerpolitische Planungen sowie für die Er-
        mittlung steuerungsrelevanter Daten verwendet. Ohne
        diese Daten aus dem AZR wäre es zum Beispiel kaum
        möglich, die Integrationsindikatorenberichte der Bun-
        desregierung zu erstellen und die Lage der Ausländer
        und Migranten in unserem Land aufgrund einer soliden
        Datenbasis zu ermitteln und zu beurteilen.
        Unsere Fraktion begrüßt sehr, dass durch die vorlie-
        genden Änderungen ein weiterer Schritt getan wird, um
        Unionsbürger und Bundesbürger auf eine gleiche Stufe
        zu stellen. Aufgrund der Europäischen Einigung ist es
        zudem geboten, zwischen Bürgern aus anderen EU-Staa-
        ten und Bürgern aus Drittstaaten zu differenzieren. Im
        Ausländerzentralregister wird daher nun konsequent
        zwischen Unionsbürgern und Menschen aus Drittstaaten
        unterschieden.
        Die Speicherung von personenbezogenen Daten der
        Unionsbürger soll nun nur noch möglich sein, wenn die
        Daten zur Anwendung aufenthaltsrechtlicher Vorschrif-
        ten benötigt werden. Dies ist der Fall, wenn der Unions-
        bürger zum Beispiel einen Antrag auf Asyl stellen sollte
        oder gegen ihn aufenthaltsrechtliche Entscheidungen ge-
        troffen worden sind oder er zur Festnahme oder zur
        Zurückweisung an der Grenze ausgeschrieben ist. In die-
        sen Fällen werden die Daten unbedingt benötigt und im
        AZR erfasst. Der Sicherheitsaspekt bleibt hier sehr
        wichtig, damit Kriminelle und Terroristen sich nicht hin-
        ter einer möglichen Unionsbürgerschaft verstecken kön-
        nen.
        24986 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012
        (A) (C)
        (D)(B)
        Entsprechend der Zielsetzung der Datenerfassung re-
        gelt das Änderungsgesetz, dass die Daten nur an solche
        Behörden und öffentliche Stellen weitergegeben werden
        dürfen, die mit einem asyl- oder aufenthaltsrechtlichen
        Anliegen befasst sind. Nur solche Stellen dürfen entspre-
        chend Suchvermerke verfassen.
        Dabei gelten diese Regelungen nicht für Unionsbür-
        ger, bei denen die Freizügigkeitsrechte nicht bestehen
        oder die diese verloren haben. Es gilt auch hier der
        Grundsatz, dass es die Bürgerrechte nur bei Einhaltung
        der Bürgerpflichten gibt. Wer seine Freizügigkeitsrechte
        durch kriminelles Handeln verspielt, muss die entspre-
        chenden Konsequenzen tragen.
        Dank dieser Neuregelung wird es so sein, dass bei ei-
        ner Polizeikontrolle die Polizei der Länder direkt fest-
        stellen kann, ob ein kontrollierter Ausländer aus anderen
        EU-Staaten seine Freizügigkeitsrechte besitzt oder nicht
        und dann eventuell gegen Recht und Gesetz verstößt.
        Sollte alles seine Richtigkeit haben und die Freizügig-
        keitsrechte vorliegen, zeigt die Datenbank den Polizei-
        beamten keine persönlichen Daten an, sondern nichts an-
        deres als diese entscheidende Information. Damit wird
        der Datenschutz auf höchstem Niveau gewahrt.
        Eine wichtige Gleichstellung zwischen Unionsbür-
        gern im AZR und Bundesbürgern im sonstigen Erfas-
        sungswesen ist die Regelung, dass von den Bürgern aus
        den EU-Staaten nur die sogenannten Grunddaten gespei-
        chert werden dürfen. Also hauptsächlich Name, An-
        schrift, Geburtsdatum und -ort, Geschlecht und Staats-
        angehörigkeit.
        Natürlich ist es weiterhin wichtig, zu wissen, wie
        viele Ausländer auch aus EU-Ländern in Deutschland
        leben und sich hier aufhalten. Daher regelt das Gesetz
        zum AZR auch ausdrücklich, dass die Daten für statisti-
        sche Zwecke aufbereitet werden dürfen. Hierzu müssen
        die Daten anonymisiert werden.
        In diesem Zusammenhang halte ich die sogenannte
        Forschungsklausel für wichtig. Sie ist nicht Bestandteil
        der Urteilsumsetzung des EuGH, sondern Ausdruck der
        positiven Erfahrung mit Studien, Berichten und Analy-
        sen auf wissenschaftlicher Basis zu den in der Bundesre-
        publik lebenden Ausländern.
        Zur Durchführung von wissenschaftlichen Studien
        und für Repräsentativbefragungen dürfen die personen-
        bezogenen Daten, so auch die Anschriften von Auslän-
        dern, die nicht freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger
        sind, aus dem AZR übermittelt werden. Damit der wis-
        senschaftliche Zweck und die Vertraulichkeit der Daten
        gesichert bleiben, wird diese Vorschrift auf das Bundes-
        amt für Migration und Flüchtlinge beschränkt, wo dies
        vollumfänglich durch die Kontrolle der Bundesregierung
        gewährleistet werden kann. So können wissenschaftliche
        Forschungsvorhaben durch das BAMF durchgeführt
        werden. Die Veröffentlichung der Ergebnisse muss
        selbstverständlich in anonymisierter Form erfolgen.
        Ich halte solche Studien für sehr wichtig, um eine
        gute Politik für die in Deutschland lebenden Ausländer
        machen zu können. Auf Grundlage einer solchen soliden
        Datenbasis und wissenschaftlichen Betrachtungen kann
        man als Politiker verantwortungsvoll Entscheidungen
        treffen. Es reicht eben nicht, sich von emotionalen Ein-
        zelschicksalen oder lokalen persönlichen Beobachtun-
        gen leiten zu lassen, wie es mancher Kollege der Oppo-
        sition gerne mal tut – so hat man zumindest häufiger mal
        den Eindruck.
        Eine weitere Neuregelung nimmt den Fall auf, dass
        ein Gerichtsvollzieher Daten über einen Schuldner beim
        AZR anfragt, ein Umstand, der durchaus realistisch ist.
        Hier wurde ein wertvoller Hinweis des Bundesrates auf-
        genommen und in modifizierter Form in das Gesetz ein-
        gefügt. Dies wird durch eine Änderung der Zivilprozess-
        ordnung erreicht.
        Ein Gerichtsvollzieher darf nur in Ausnahmefällen
        eine Anfrage für die personenbezogenen Daten eines
        Unionsbürgers beim AZR stellen, nämlich dann, wenn er
        begründete Anhaltspunkte hat, dass bei dem Unionsbür-
        ger, der der Schuldner ist, die Freizügigkeitsrechte nicht
        bestehen oder verloren sind. Auf diese Weise soll zum
        Ausdruck gebracht werden, dass die Anfrage ausschließ-
        lich auf konkrete Veranlassung hin unternommen wird.
        Da sich ein Gerichtsvollzieher mit dem Schuldenfall
        und den Gläubigern intensiv auseinandersetzen muss,
        glaube ich, dass solche Anhaltspunkte realistischerweise
        sehr schnell auf der Hand liegen können, wenn die Frei-
        zügigkeitsrechte tatsächlich nicht bestehen. Dadurch,
        dass das Bestehen solcher Anhaltspunkte vorausgesetzt
        wird, werden offensichtlich aussichtslose Anfragen an
        das AZR vermieden und damit Kosten und Verwaltungs-
        aufwand im erheblichen Umfang eingespart.
        Die Daten aus dem AZR dürfen dem Gerichtsvollzie-
        her natürlich nur dann übermittelt werden, wenn sich der
        begründete Verdacht als richtig herausstellt, dass der be-
        troffene Unionsbürger die Freizügigkeitsrechte momen-
        tan nicht besitzt.
        Abschließend möchte ich betonen, dass die christlich-
        liberale Bundesregierung ein sehr gutes Gesetz vorgelegt
        hat, das die Vorgaben der europäischen Rechtsprechung
        konsequent umsetzt und sinnvolle Regelungen zur wis-
        senschaftlichen Forschung, zum Datenschutz und zum
        Zivilprozessrecht enthält.
        Die rechtliche Unterscheidung zwischen Unionsbür-
        gern und Drittstaatsangehörigen ist wichtig. Die weitere
        Angleichung der Stellung von Unionsbürgern und deut-
        schen Staatsangehörigen bedeutet einen weiteren Schritt
        voran in der Europäischen Einigung und zur Stärkung
        der Europäischen Nachbarschaft.
        Rüdiger Veit (SPD): Wie die Bundesregierung ein-
        leitend zu ihrem Gesetzesentwurf ausführt, dient der Ge-
        setzentwurf in erster Linie dazu, die deutsche Rechtslage
        dem Urteil des EuGH vom 16. Dezember 2008 anzu-
        passen. Der EuGH hatte in seinem Urteil ausgeführt,
        dass die personenbezogene Speicherung von Daten von
        Unionsbürgern im AZR nur unter bestimmten Vorausset-
        zungen zulässig ist. Aufgrund dieser Vorgabe ist eine
        Einschränkung der Nutzung und Speicherung von Daten
        von Unionsbürgern europarechtlich geboten und wird
        nun in dem vorliegenden Gesetzentwurf von der Bun-
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012 24987
        (A) (C)
        (D)(B)
        desregierung vorgenommen. Wir unterstützen das. Und,
        da die Entscheidung des EuGH schon vier Jahre zurück-
        liegt, ist eine solche Änderung des AZR auch überfällig.
        In dem Gesetzentwurf will die Bundesregierung aller-
        dings auch eine eigene Ermächtigungsgrundlage zur
        Verarbeitung personenbezogener Daten für das Bundes-
        amt für Migration und Flüchtlinge, BAMF, schaffen.
        Diese Ermächtigungsgrundlage soll es dem BAMF er-
        möglichen, auf Daten des AZR zuzugreifen, um „wis-
        senschaftliche Studien und Repräsentationsbefragungen
        über in Deutschland lebende Ausländer … durchführen
        zu können“.
        Nach dem Gesetzentwurf sind die personenbezoge-
        nen Daten des AZR zu diesem Zweck zu pseudonymi-
        sieren, allerdings nur, wenn dies „nach dem Forschungs-
        zweck möglich ist und keinen im Verhältnis zu dem
        angestrebten Schutzzweck unverhältnismäßigen Auf-
        wand erfordert“. Das ist uns zu weitgehend. Aus Daten-
        schutzgesichtspunkten finden wir eine grundsätzliche
        Anonymisierung besser als eine Pseudonymisierung;
        denn bei der Pseudonymisierung ist die Zuordnung der
        Daten zu einer konkreten Person unter Zuhilfenahme des
        richtigen Schlüssels weiterhin möglich. Bei der Anony-
        misierung ist dies nicht mehr der Fall.
        Als weitere Schutzmaßnahme für die im AZR gespei-
        cherten Daten von Ausländern wäre für uns auch die Zu-
        sammenfassung von anonymisierten Datensätzen nach
        bestimmten Merkmalen denkbar. Diese von uns ange-
        regte Schutzmaßnahmen sollten nicht unter einem derart
        weiten Vorbehalt stehen, wie es im vorliegenden Gesetz-
        entwurf die Pseudonymisierung betreffend der Fall ist.
        Wir stehen dem Gesetzentwurf daher insgesamt ab-
        lehnend gegenüber.
        Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): Durch den vor-
        liegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung wird das
        Ausländerzentralregistergesetz angepasst.
        Notwendig geworden ist die Anpassung durch eine
        Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs, die be-
        sagt, dass personenbezogene Daten von Unionsbürgern
        nur unter bestimmten Voraussetzungen in einem Regis-
        ter wie dem Ausländerzentralregister gespeichert und
        genutzt werden dürfen.
        Daten von Unionsbürgern, die nicht Staatsangehörige
        der Bundesrepublik Deutschland sind, dürfen demnach
        in einem Register wie dem Ausländerzentralregister nur
        dann gespeichert und genutzt werden, wenn diese Daten
        für die Anwendung aufenthaltsrechtlicher Vorschriften
        durch die hierfür zuständigen Behörden erforderlich sind
        und der zentralisierte Charakter des Ausländerzentral-
        registers eine effizientere Anwendung der aufenthalts-
        rechtlichen Vorschriften in Bezug auf das Aufenthalts-
        recht von Unionsbürgern erlaubt.
        Auch den entsprechenden Änderungswunsch des
        Bundesrates hat die Regierungskoalition übernommen:
        Auf diese Weise soll zum Ausdruck gebracht werden,
        dass die Anfrage an das Ausländerzentralregister durch
        den Gerichtsvollzieher bei Unionsbürgern lediglich auf
        eine konkrete Veranlassung hin unternommen wird.
        Der Gesetzentwurf schafft so für alle Beteiligten mehr
        Rechtssicherheit.
        Ulla Jelpke (DIE LINKE): Es geht heute um den
        Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Ausländerzen-
        tralregisters, wodurch die Speicherung der Daten von
        EU-Bürgerinnen und -Bürgern mit dauerhaftem Aufent-
        halt in Deutschland eingeschränkt werden soll. Das Aus-
        länderzentralregister ist eine wesentliche Säule der da-
        tenmäßigen Totalerfassung von Ausländerinnen und
        Ausländern in Deutschland. Es bestehen insgesamt fast
        30 Dateien und Zentralregister, in denen diese Gruppe
        erfasst wird. Hinzu kommen die Dateien und Daten-
        sammlungen der kommunalen Ausländerbehörden und
        der zentralen Ausländerbehörden der Länder. Am lau-
        fenden Band kommen neue Dateien hinzu, wie die von
        der Koalition in dieser Wahlperiode beschlossene Visa-
        warndatei. Diese Datei zeigt ganz deutlich, dass die zen-
        trale Sondererfassung von Ausländerinnen und Auslän-
        dern überflüssig ist. Alle Daten sind auch in anderen
        zentralen Registern und bei den kommunalen Meldebe-
        hörden erfasst und verfügbar. Die zentrale Erfassung von
        Ausländerinnen und Ausländern, viele davon mit dauer-
        haftem Aufenthalt in Deutschland, ist eine Diskriminie-
        rung dieser Menschen. Die Linke setzt sich deshalb
        grundsätzlich für die Abschaffung des Ausländerzentral-
        registers ein.
        Nun hat die Bundesregierung einen Gesetzentwurf
        vorgelegt, mit dem zumindest die Speicherung der Daten
        von EU-Bürgerinnen und -Bürgern mit dauerhaftem
        Aufenthalt in Deutschland eingeschränkt werden soll.
        Auch diese Einschränkung erfolgt nicht freiwillig. Sie
        geht zurück auf eine Vorlageentscheidung des Europäi-
        schen Gerichtshofs, der vor einigen Jahren die Frage zu
        klären hatte, ob die generelle Erfassung und Verarbei-
        tung personenbezogener Daten von EU-Bürgerinnen und
        -Bürgern in einem zentralen Ausländerregister über-
        haupt mit EU-Recht vereinbar ist. Die Antwort war ganz
        eindeutig: Es dürfen nur die Daten gespeichert werden,
        die erforderlich sind, um die Voraussetzungen des Auf-
        enthaltsrechts in Deutschland festzustellen. Diese Daten
        dürfen auch nur dann weitergegeben werden, wenn die
        mit dieser Feststellung betrauten Behörden sie abfragen.
        Diese Beschränkungen werden durch das vorliegende
        Gesetz weitgehend umgesetzt. Das ist im Sinne der EU-
        Bürgerinnen und -Bürger sicherlich zu begrüßen. Bei
        dieser Gelegenheit hätten aber die insgesamt im Auslän-
        derzentralregister gespeicherten Daten und die Zahl der
        zugriffsberechtigten Behörden stark eingeschränkt wer-
        den müssen. Für alle anderen Ausländerinnen und Aus-
        länder in Deutschland ändert sich durch diesen Gesetz-
        entwurf nichts. Weiterhin sind neben den Angaben zur
        Person viele weitere Daten enthalten, beispielsweise
        zum Verdacht auf Straftaten oder zu Verurteilungen,
        Lichtbilder, sogar sozialrechtliche Daten. Alle diese Da-
        ten gibt es bereits bei anderen Behörden, in deren Zu-
        ständigkeitsbereich sie fallen: Polizei, Staatsanwalt-
        schaft, Bundesagentur für Arbeit und Meldebehörden.
        24988 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012
        (A) (C)
        (D)(B)
        Eine doppelte und dreifache Speicherung dieser Daten
        ist überflüssig und aus datenschutzrechtlicher Sicht da-
        mit auch nicht verhältnismäßig.
        Die genannten Daten sind von anderen Behörden, bei-
        spielsweise der Polizei, in einem automatisierten Verfah-
        ren abrufbar. Das bedeutet, dass nicht geprüft wird, ob
        die abrufende Stelle, also die Polizei oder andere, diese
        Daten auch wirklich zu ihrer Aufgabenerfüllung benö-
        tigt. Im Ausländerzentralregister ist sogar vorgesehen,
        Gruppenauskünfte zu bestimmten Ausländerinnen und
        Ausländern abrufbar zu halten. Das ist nichts weniger als
        die rechtliche und technische Grundlage für Rasterfahn-
        dungen. Damit sind Ausländerinnen und Ausländer be-
        sonders anfällig für Maßnahmen der Sicherheitsbe-
        hörden, die weit in ihr Recht auf informationelle
        Selbstbestimmung eingreifen.
        Das Ausländerzentralregister ist nichts anderes als
        Diskriminierung per Gesetz. Mit dem vorliegenden Ge-
        setzentwurf wird diese Diskriminierung für einen Teil
        der Betroffenen abgemildert – und damit nur neue Dis-
        kriminierung geschaffen. Das ist schlicht Murks und
        sicherlich nicht im Sinne der Entscheidung des EuGH.
        Die Linke lehnt diesen Gesetzentwurf deshalb ab.
        Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir
        werden uns bei der Abstimmung über den Gesetzentwurf
        der Bundesregierung zur Änderung des Ausländerzen-
        tralregisters enthalten. Positiv ist zwar die Umsetzung
        des Urteils des Europäischen Gerichtshofes. Jedoch wi-
        dersprechen wir der Verarbeitung und Nutzung von per-
        sonenbezogenen Daten zu Forschungszwecken, die dem
        Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, BAMF, ge-
        stattet werden sollen.
        Der Europäische Gerichtshof hat im Jahr 2008 ent-
        schieden, dass personenbezogene Daten von Unionsbür-
        gerinnen und -bürgern nicht für Sicherheits- und Strafver-
        folgungszwecke im Ausländerzentralregister gespeichert
        und genutzt werden dürfen. Die Ungleichbehandlung ge-
        genüber Deutschen sei nicht zu rechtfertigen und daher
        diskriminierend. Der vorliegende Gesetzentwurf der
        Bundesregierung dient im Wesentlichen der Umsetzung
        dieser Entscheidung des EuGH.
        Der Gesetzentwurf der Bundesregierung setzt unseres
        Erachtens die europäischen Vorgaben sachgerecht um.
        Das kann man von der Bundesregierung auch erwarten.
        Schließlich hat sie sich dafür mehr als vier Jahre Zeit ge-
        lassen. So wurde insbesondere der Umfang der von frei-
        zügigkeitsberechtigten Unionsbürgern zu speichernden
        Daten hinreichend begrenzt. Zum Beispiel sollen keine
        Lichtbilder mehr gespeichert werden. Außerdem wurde
        die Weitergabe der Daten an Behörden auf die unmittel-
        bare Durchführung ausländer- und asylrechtlicher Vor-
        schriften begrenzt. Daten dürfen jetzt nicht mehr an den
        Verfassungsschutz weitergegeben werden. Auch sind für
        Unionsbürgerinnen und -bürger keine sogenannten Grup-
        penanfragen mehr möglich. Im Rahmen von Polizeikon-
        trollen wird bei freizügigkeitsberechtigten Unionsbür-
        gern lediglich festgehalten, dass eine Feststellung über
        das Nichtbestehen bzw. den Verlust des Freizügigkeits-
        rechts nicht erfolgt ist.
        Kritisch sehen wir dagegen die Vorschrift über die
        Verarbeitung und Nutzung personenbezogener Daten zu
        wissenschaftlichen Zwecken nach § 24 a AZR-GE. Diese
        neue Ermächtigungsgrundlage des BAMF hat nichts mit
        dem in Rede stehenden Urteil des EuGH zu tun. Sie ist
        zu weitgehend und lässt viele Fragen offen. So müssen
        nach dem Vorschlag der Bundesregierung die Daten
        nicht zwingend anonymisiert oder auch nur pseudonymi-
        siert werden. Die personenbezogenen Daten dürfen
        schon dann gespeichert und genutzt werden, wenn eine
        Anonymisierung bzw. Pseudonymisierung mit einem
        unverhältnismäßigen Aufwand verbunden wäre. Außer-
        dem ergibt sich nicht aus dem Gesetzestext, sondern erst
        aus der Gesetzesbegründung, dass das BAMF gegebe-
        nenfalls zusätzliche Daten erheben soll und zu diesem
        Zweck die betroffenen Personen anschreiben darf. Offen
        bleibt, zu welchem Zweck hier welche Daten erhoben
        werden können. Und wie steht es eigentlich mit der Frei-
        willigkeit der Datenherausgabe? Das ist jedenfalls kein
        seriöser Vorschlag, wie der Staat Informationen seiner
        größten Datenbank der Forschung zugänglich machen
        will.
        Abschließend möchte ich darauf hinweisen, dass wir
        die umfassenden Zugriffsmöglichkeiten von Polizei,
        Nachrichtendiensten und Ordnungsbehörden auf das
        AZR insgesamt für sehr problematisch halten und diese
        eingrenzen möchten. Das Ausländerzentralregister ist mit
        rund 20,5 Millionen personenbezogenen Datensätzen eine
        der größten staatlichen Datenbanken in Deutschland. Es
        dient der Erfüllung von Aufgaben im aufenthalts- und
        asylrechtlichen Bereich, zusätzlich aber auch Sicher-
        heitszwecken. Im AZR werden Daten von Ausländerin-
        nen und Ausländern gespeichert, die in Deutschland le-
        ben bzw. gelebt haben, aber auch Visadaten oder Infor-
        mationen über Ausweisungen. Polizei und Nachrichten-
        dienste können über Gruppenanfragen die Daten aller
        Personen mit bestimmten Merkmalen wie etwa Religi-
        onszughörigkeit oder Geburtsort abfragen und zur Ras-
        terfahndung nutzen.
        204. Sitzung
        Inhaltsverzeichnis
        TOP 3 Entbürokratisierung des Gemeinnützigkeitrechts
        TOP 4 Umgang mit der NS-Vergangenheit
        TOP 49, ZP 2 Überweisungen im vereinfachten Verfahren
        TOP 50, ZP 3 Abschließende Beratungen ohne Aussprache
        ZP 4 Aktuelle Stunde zur Zwischenbilanz ein Jahr nachBekanntwerden der NSU-Terrorzelle
        TOP 5 Finanzierung der Grundsicherung (SGB XII)
        TOP 6 Transatlantische Beziehungen
        TOP 11 Bundeswehreinsatz in Darfur (UNAMID)
        ZP 5, TOP 46, ZP 6 Nebentätigkeiten von Abgeordneten, Parteispenden
        TOP 13 Bundeswehreinsatz in Südsudan (UNMISS)
        TOP 10 Bekämpfung des Dopings
        TOP 9 Recht der Sicherungsverwahrung
        TOP 12 Menschenrechte in Zentralasien
        TOP 7 Markttransparenzstelle für Gas- und Stromhandel
        TOP 14 Beendigungsgesetz zum Berlin/Bonn-Gesetz
        TOP 15 Regelung des OTC-Derivate-Handels (EMIR)
        TOP 16 Aufnahme syrischer Flüchtlinge
        TOP 17 Ergänzung des Geldwäschegesetzes
        TOP 18 Energiesteuer- und Stromsteuergesetz
        TOP 19 US-Nuklearwaffen in Europa und Deutschland
        TOP 20 Fakultativprotokoll über Rechte des Kindes
        TOP 21 EU-Notfallpläne und Kontrollen im Seeverkehr
        TOP 22 SEPA-Begleitgesetz
        TOP 23 Mitwirkungsrecht von Kommunen bei Gesetzgebung
        TOP 24 Änderung des Mikrozensusgesetzes 2005
        TOP 25, ZP 7 Offenlegungspflichten für Unternehmen
        TOP 26 Änderung des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes
        TOP 27 Truppenübungsplatz Altmark
        TOP 28 Umsetzung der Richtlinie über Industrieemissionen
        TOP 29 Anbindung deutscher Seehäfen
        TOP 30 Seeschifffahrt in Deutschland
        TOP 31 Kommunale Kosten für Eisenbahnkreuzungen
        TOP 32 Internationales Privatrecht
        TOP 33 Rechtsbehelfsbelehrung im Zivilprozess
        TOP 34 Kleinstkapitalgesellschaften-Bilanzrecht
        TOP 35 Änderung des Urheberrechtsgesetzes
        TOP 36 Schlichtung im Luftverkehr
        TOP 37 EU-Vorschlag für Datenschutz-Grundverordnung
        TOP 38 Änderung des Arzneimittelgesetzes
        TOP 39 Außenwirtschaftsrecht
        TOP 40 Änderung agrarmarktrechtlicher Bestimmungen
        ZP 8 Änderung des AZR-Gesetzes
        Anlagen