1) Anlage 13
Berichtigung
203. Sitzung, Seite 24633 C, erster Absatz, erster Satz
ist wie folgt zu lesen: „Ich habe Ihnen den Vorgang ein-
gangs bestätigt und mache das noch einmal.“
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012 24929
(A) (C)
(D)(B)
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Anlage 2
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Einrichtung einer Markttransparenzstelle für
den Großhandel mit Strom und Gas (Tagesord-
nungspunkt 7)
Thomas Bareiß (CDU/CSU): Das Markttranspa-
renzstellengesetz ist ein weiterer wichtiger Schritt hin zu
mehr Transparenz auf den Energiemärkten. Die von uns
eingeführte Marktbeobachtung auf den Kraftstoffmärk-
ten und beim Handel mit Strom und Gas verhindert nicht
nur Marktmissbrauch, sondern kommt vor allem dem
Verbraucher zugute. Denn mehr Wettbewerb ist zwar
kein Garant für sinkende Preise, aber der beste Garant
dafür, dass Verbraucher nicht abgezockt werden. Des-
halb war es auch richtig, sich etwas mehr Zeit zu lassen
als vorgesehen. In den knapp zwei Jahren wurde die
Aufgabe der Markttransparenzstelle nicht nur um den
Kraftstoffmarkt erweitert, sie wurde auch in einen euro-
päischen Kontext gesetzt, sodass Ineffizienzen und Dop-
pelstrukturen vermieden werden konnten.
Jeder Autofahrer kennt den Ärger: Immer ist dieje-
nige Tankstelle günstiger, wo man selber gerade nicht
getankt hat. Preisinformationen lassen sich nur schwer-
lich besorgen und sind oft nicht aktuell und somit unzu-
verlässig. Diese Preisunterschiede sind in einem freien
Markt natürlich. Sie wird es auch weiterhin geben. Denn
wir setzen auf Wettbewerb und nicht auf Preisfestlegungen
und Preisregulierung, wie in Frankreich oder Westaustra-
lien. Wir sind der Überzeugung, dass mehr Transparenz
der Schlüssel zu mehr Wettbewerb auf dem Kraftstoff-
markt ist. Deshalb soll zukünftig jeder Autofahrer wissen,
wo in seiner Umgebung die günstigste Tankstelle ist.
Alle rund 15 000 Tankstellen in Deutschland werden
verpflichtet, ihre Kraftstoffpreise an die Markttranspa-
renzstelle zu liefern. Diese Daten werden dann in einer
Internetdatenbank gesammelt und dem Verbraucher über
Dritte zur Verfügung gestellt. Damit wird nicht nur der
Wettbewerb im Kraftstoffmarkt erhöht, sondern auch ein
Innovationswettbewerb zwischen denjenigen ausgelöst,
die die Daten aus der Datenbank verarbeiten. Ich bin da-
von überzeugt, dass es bald Navigationssysteme mit ak-
tuellen Spritpreisen oder Apps etc. gibt.
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Becker, Dirk SPD 08.11.2012
Bellmann, Veronika CDU/CSU 08.11.2012
Bülow, Marco SPD 08.11.2012
Burgbacher, Ernst FDP 08.11.2012
Dağdelen, Sevim DIE LINKE 08.11.2012
Dittrich, Heidrun DIE LINKE 08.11.2012
Dörflinger, Thomas CDU/CSU 08.11.2012
Funk, Alexander CDU/CSU 08.11.2012
Granold, Ute CDU/CSU 08.11.2012
Griese, Kerstin SPD 08.11.2012
Dr. Gysi, Gregor DIE LINKE 08.11.2012
Dr. Jochimsen, Lukrezia DIE LINKE 08.11.2012
Kampeter, Steffen CDU/CSU 08.11.2012
Koschyk, Hartmut CDU/CSU 08.11.2012
Kuhn, Fritz BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
08.11.2012
Laurischk, Sibylle FDP 08.11.2012
Dr. Lauterbach, Karl SPD 08.11.2012
Leidig, Sabine DIE LINKE 08.11.2012
Nietan, Dietmar SPD 08.11.2012
Nink, Manfred SPD 08.11.2012
Pawelski, Rita CDU/CSU 08.11.2012
Rachel, Thomas CDU/CSU 08.11.2012
Dr. Ratjen-Damerau,
Christiane
FDP 08.11.2012
Sager, Krista BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
08.11.2012
Schmidt (Eisleben),
Silvia
SPD 08.11.2012
Schulz, Jimmy FDP 08.11.2012
Strothmann, Lena CDU/CSU 08.11.2012
Dr. Westerwelle, Guido FDP 08.11.2012
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Anlagen
24930 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012
(A) (C)
(D)(B)
Der Preisdschungel Tankstelle wird künftig durch-
schaubar. Jeder Autofahrer wird die Benzinpreise in
seiner Umgebung kennen und automatisch die billigste
Tankstelle anfahren, was wiederum die Konkurrenz dazu
animiert, ihre Preise auch anzupassen. Ich bin überzeugt,
dass wir damit den richtigen Weg einschlagen.
Auch im Gas- und Stromsektor sind mehr Transpa-
renz und damit mehr Markt und Wettbewerb unser Ziel.
Es darf keine unberechtigte Zurückhaltung von Kraft-
werkskapazität geben, um Preise nach oben zu treiben.
Mit einer zentralen und kontinuierlichen Marktbeobach-
tung wollen wir dieses Problem effektiv beseitigen und
das Vertrauen in Markt und Wettbewerb zum Wohle der
Verbraucher stärken. Deshalb haben wir die Überprü-
fung der Preisbildung auf den Großhandelsmärkten für
Strom und Gas durch die Markttransparenzstelle schon
2010 als eine Sofortmaßnahme aus dem Energiekonzept
auf den Weg gebracht.
Verzögert wurde die Umsetzung dann durch die Ende
2011 in Kraft getretene europäische Verordnung über die
Integrität und Transparenz des Energiegroßhandels-
markts – REMIT –, die ähnliche, aber nicht identische
Verbote wie das Kartellrecht enthält. So werden unter an-
derem Insiderhandel und Marktmanipulation verboten.
Mitgliedstaaten werden dazu verpflichtet, die Sanktio-
nen für Verstöße gegen die Verordnung festzulegen. Sie
müssen ihre nationale Regulierungsbehörde mit den
nach REMIT passenden Befugnissen ausstatten. Es wird
dabei ausdrücklich zur Unterstützung der europäischen
Regulierungsbehörde ACER eine regionale Marktüber-
wachung in den Mitgliedstaaten vorgesehen.
Eine weitere wichtige Funktion hat die Markttranspa-
renzstelle im Zusammenhang mit dem Monitoring zur
Energiewende. Sie wird Daten erheben, um insbeson-
dere Versorgungssicherheit zu garantieren. Dieses Vor-
haben kann im Rahmen einer Verordnung bei Bedarf zu-
sätzlich erhoben werden.
Ich möchte gerne auf die drei Hauptkritikpunkte im
Rahmen der Gesetzesnovelle eingehen.
Zum einen wurde bemängelt, dass das Gesetz zu Dop-
pelmeldungen und somit zu kostenintensivem und büro-
kratischem Mehraufwand der Unternehmen führt. Wir
haben uns dieses Anliegens angenommen und Doppel-
meldepflichten gegenüber der Markttransparenzstelle
und dem europäischen Regulierer ACER verhindert. Im
Hinblick auf die noch zu konkretisierenden Meldepflich-
ten nach der REMIT-Verordnung sieht der Gesetzent-
wurf ausdrücklich vor, dass Marktteilnehmer, die ihren
Meldepflichten nach der REMIT-Verordnung nachge-
kommen sind, keine Meldepflichten nach dem Markt-
transparenzstellengesetz haben. Die Markttransparenz-
stelle wird also diese Daten von ACER erhalten und
nicht zusätzlich erheben.
Der zweite häufig genannte Kritikpunkt ist, dass zu
viele Daten erhoben werden. Im Markttransparenzstel-
lengesetz haben wir in der Tat die Möglichkeit zu einer
weiteren Erhebung von Daten vorgesehen, die nach
REMIT möglicherweise nicht abgefragt werden und
zum Gelingen der Energiewende gebraucht werden.
Doch diese Abfragen werden noch durch eine Rechts-
verordnung konkretisiert. Soweit national zusätzliche
Daten abgefragt werden müssen, sollen insbesondere die
Formatwege für die Daten einheitlich gehalten werden.
Auch eine zeitliche Konsistenz der Vorschriften ist ge-
setzlich vorgesehen.
Die Höhe der Abfrageschwelle von 10 Megawatt ist
der dritte Kritikpunkt. Hier hätte ich mir persönlich auch
durchaus eine Schwelle von 50 oder 100 Megawatt vor-
stellen können. Ich finde es deshalb richtig, dass wir die
Sinnhaftigkeit dieser von der Bundesnetzagentur ge-
wünschten Schwelle prüfen werden und deshalb aus-
drücklich eine Evaluierung nach drei Jahren im Gesetz
vorgesehen haben.
Auch die Markttransparenzstelle zeigt deutlich: Für
uns ist Markt und Wettbewerb auch in Zukunft ein we-
sentlicher Bestandteil der Energiewende. Trotzdem be-
darf es auch in einer Marktwirtschaft einer gewissen
Kontrolle marktmächtiger Marktteilnehmer. Dazu wird
die Martktransparenzstelle einen entscheidenden Beitrag
leisten.
Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Wenn wir heute ein
neues Gesetz zur Einrichtung einer Markttransparenz-
stelle für den Großhandel mit Strom und Gas – ergänzen
müssen wir eigentlich „und Mineralöl“ – debattieren und
beschließen, sollten wir meines Achtens erst einmal
darüber reden, für welchen Markt wir eigentlich Trans-
parenz schaffen wollen.
Betrachten wir zunächst mal den Strommarkt. 2011
hatten wir in Deutschland eine Bruttostromerzeugung
von 615 Terawattstunden Strom; das sind 615 Milliarden
Kilowattstunden. Man kann davon ausgehen, dass die
vier großen Stromanbieter EnBW, Eon, RWE und Vat-
tenfall davon einen Anteil von zusammen rund 80 Pro-
zent auf dem Erstabsatzmarkt hatten. So geht es aus der
Sektoruntersuchung „Stromerzeugung Stromgroßhan-
del“ hervor, die das Bundeskartellamt im Januar 2011
vorgelegt hatte. Nach dieser Untersuchung hatte im
Jahre 2009 EnBW eine Gesamteinspeisung von 14 Pro-
zent, Eon von 21 Prozent, RWE von 31 Prozent und Vat-
tenfall von 16 Prozent. Macht zusammen 82 Prozent.
Auch wenn für das vergangene Jahr keine vergleichba-
ren Zahlen vorliegen, kann man von etwa 80 Prozent
ausgehen, wenn man berücksichtigt, dass – durch die als
Folge der Energiewende eintretende Diversifizierung –
kleinere Anbieter, aber vermehrt auch Stadtwerke 2011
einen etwas höheren Anteil einnahmen als noch 2009.
Ich sage das hier auch mit Blick auf die Energiewende
und den viel zitierten Markt.
Auf dem Mineralölmarkt sieht es ähnlich aus: Die
vom Bundeskartellamt in seiner Sektoruntersuchung
vom Mai 2011 als Oligopol festgestellten fünf großen
Mineralölkonzerne Aral, Shell, Jet, Total und Esso stel-
len von den insgesamt 14 336 Tankstellen in Deutsch-
land zusammen 7 286 Tankstellen – Stand: 1. Juli 2012 –,
also etwa die Hälfte. Zusammen kommen die großen
Fünf auf einen Kraftstoffabsatzmarktanteil von 69 Pro-
zent am deutschen Markt, davon 22,5 Prozent Aral,
21 Prozent Shell, 10,5 Prozent Jet, 7,5 Prozent Esso und
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012 24931
(A) (C)
(D)(B)
ebenfalls 7,5 Prozent Total. Die im Bundesverband
Freier Tankstellen organisierten Unternehmen kommen
mit ihren 2 206 freien Tankstellen in Deutschland auf ei-
nen Absatzmarktanteil von 13 Prozent, die übrigen mit-
telständisch geprägten Mineralölunternehmen haben mit
Stand 1. Juli 2012 18 Prozent Absatzmarktanteil.
Ob diese Struktur im Sinne von Wettbewerb und ver-
tretbarer Preise zufriedenstellend ist, kann man zumin-
dest diskutieren. Strom, Gas und Benzin sind nun einmal
unverzichtbare Güter, auf die jeder von uns angewiesen
ist, weswegen jeder auch den Preis zahlt, der nun einmal
verlangt wird – auch unter Murren. In der Wirtschafts-
theorie spricht man da von einer niedrigen Preiselastizi-
tät der Nachfrage. Die Strom-, Gas- und Mineralölunter-
nehmen haben gegenüber den Konsumenten eine
erhebliche Angebotsmacht, die sie theoretisch auch aus-
nutzen könnten. Spätestens kurz vor Weihnachten bzw.
dann zu Ostern wird die Debatte um die Spritpreise wie-
der einmal heißlaufen.
Welche Möglichkeiten aber hat der Gesetzgeber, um
Missbrauch bei der Preisentwicklung auf diesen Märkten
entgegenzuwirken? Da schreien die Populisten von links
gerne einmal sofort nach direkter oder indirekter Preisre-
gulierung. Als überzeugte Vertreter der sozialen Markt-
wirtschaft, die unserem Land erst dieses Wohlstandsni-
veau gebracht hat, das wir heute gar nicht mehr anders
kennen, lehnen wir solche sozialistischen Spielchen klar
ab. Also müssen wir versuchen, mit den uns im Rahmen
der Marktwirtschaft zur Verfügung stehenden kartell-
rechtlichen Instrumenten Transparenz herzustellen,
eventuellen Missbrauch aufzudecken und Vergehen ent-
sprechend zu sanktionieren. Natürlich muss auch die
Marktwirtschaft ihre Regeln und ihren Ordnungsrahmen
haben; sonst kann das auch schnell einmal aus dem
Ruder laufen, wie der Finanzsektor in den letzten Jahren
gezeigt hat.
Da haben wir im Bereich Mineralöl in der jüngst be-
schlossenen GWB-Novelle schon ein nicht unerhebli-
ches Schlupfloch geschlossen, indem wir das Verbot der
sogenannten Preis-Kosten-Schere um weitere fünf Jahre
verlängert haben. Damit verhindern wir, dass große
Mineralölkonzerne mit eigenen Raffinerien ihren klei-
nen und mittelständischen Wettbewerbern Kraftstoffe zu
einem höheren Preis liefern als zu dem Preis, den sie von
ihren eigenen Tankstellen verlangen.
Die Markttransparenzstelle für den Großhandel mit
Strom und Gas ist als Maßnahme im Zehn-Punkte-
Sofortprogramm des Energiekonzepts der Bundesregie-
rung und schon in unserem Koalitionsvertrag vorgese-
hen. Sie wird laufend und zeitnah die Strom- und
Gasmärkte auf Auffälligkeiten untersuchen. Die Markt-
transparenzstelle für Strom und Gas werden wir – statt
wie ursprünglich vorgesehen beim Bundeskartellamt –
nun bei der fachlich dafür geeigneteren Bundesnetzagen-
tur ansiedeln. Damit wird ermöglicht, verbotene Ein-
flussnahme auf die Großhandelspreise für Strom und
Gas aufzudecken und zu sanktionieren. Denn wettbe-
werbskonforme Großhandelspreise setzen die richtigen
Investitionssignale und sorgen für das nötige Vertrauen
der Strom- und Gaskunden. Sie kommen letztlich allen
Verbrauchern zugute.
Die organisatorische Neuzuordnung der Markttrans-
parenzstelle im Energiebereich an die Bundesnetzagen-
tur ist meines Erachtens – anders als SPD und Grüne es
sehen – sachgerecht und entspricht auch dem Wunsch
beider Behörden. Dadurch ist vor allem besser gewähr-
leistet, dass die erforderlichen Daten nur einmal erhoben
werden. Von Rot-Grün befürchtete Doppelstrukturen,
also die künftige verpflichtende Meldung von Daten an
die EU-Energietransparenzbehörde ACER gemäß der
europäischen REMIT-Verordnung einmal und an die na-
tionale Markttransparenzstelle außerdem, werden so ver-
mieden, da die Bundesnetzagentur als Energieregulie-
rungsbehörde bei ACER mitarbeitet und weiß, welche
Daten schon an ACER gemeldet wurden. Wir haben also
durchaus daran gedacht, Doppelmeldungen und unnöti-
gen Mehraufwand für die Wirtschaft zu vermeiden.
Die im Gesetz vorgesehenen Schwellenwerte für Mit-
teilungspflichten im Strombereich bei Erzeugungskapa-
zitäten von 10 Megawatt in § 47 g Abs. 2 GWB haben
wir zunächst auf drei Jahre befristet. Zweieinhalb Jahre
nach Inkrafttreten des Gesetzes soll die Bundesregierung
einen Vorschlag machen, welche Schwelle bei den Er-
zeugungskapazitäten ab 2016 gelten sollte. Das haben
CDU/CSU und FDP bewusst in die Beschlussempfeh-
lung des Wirtschaftsausschusses geschrieben.
Die SPD-Forderung, dass „nur solche Strukturen be-
obachtet werden sollten, die reale Einflussmöglichkeiten
auf die Preisbildung auf den Großmärkten haben“, und
zwar „Stromerzeugungsanlagen ab einer Größe von
50 MW“ geht an der Sache vorbei. In der Summe haben
die kleineren Anlagen eine nicht zu unterschätzende Be-
deutung am Energiemarkt. Es soll ja auch um einen Ge-
samtüberblick über die Entwicklung der Energiewende
in Deutschland gehen. Dazu braucht man auch die Daten
der kleineren Anlagen, die bei der weiteren Entwicklung
unseres Jahrhundertprojekts Energiewende eine immer
größere Gewichtung bekommen werden und kein Pap-
penstiel sind, wie die Sozialdemokraten das sehen.
Die beim Bundeskartellamt angesiedelte Markttrans-
parenzstelle für die Entwicklung der Mineralölpreise ist
ein echter, sichtbarer Fortschritt für die 54 Millionen
Autofahrer in Deutschland. Den Gesetzentwurf der Bun-
desregierung haben wir deutlich verbessert, indem die
Verbraucher nun unmittelbar Transparenz über die ak-
tuellen Spritpreise bekommen.
Die Markttransparenzstelle für Kraftstoffe wird zum
einen laufend und zeitnah die Tankstellenpreise auf Auf-
fälligkeiten untersuchen. Dadurch können die Kartell-
behörden unzulässige Verdrängungsstrategien, zum Bei-
spiel Preis-Kosten-Scheren, oder missbräuchlich erhöhte
Preise der großen Mineralölkonzerne leichter aufdecken
und verfolgen. Uns geht es dabei immer darum, den
Wettbewerb auf den Kraftstoffmärkten zu stärken und
die Position der mittelständischen und freien Tankstellen
zu schützen.
Um die Unternehmen aber nicht übermäßig zu belas-
ten, haben wir im Rahmen der parlamentarischen Bera-
24932 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012
(A) (C)
(D)(B)
tungen die Meldepflichten gegenüber dem Regierungs-
entwurf deutlich verschlankt. Zum einen verzichten wir
auf Meldungen der Tankstellenbetreiber zu den abgege-
benen Mengen. Zum anderen verzichten wir auf sämtli-
che Meldepflichten der Raffinerie- und Großhandels-
ebene, also zu Preisen und Absatzmengen. Hier sind wir
den betroffenen Unternehmen ein ganzes Stück weit ent-
gegengekommen. Nachvollziehbarerweise gab es in
Reaktion auf den Gesetzentwurf der Bundesregierung
massive Kritik der Branche und des Normenkontrollra-
tes wegen des Erfüllungsaufwands für die Wirtschaft.
Der Aufwand für diese Meldungen wäre in Relation zum
Nutzen unverhältnismäßig hoch.
Viel sinnvoller ist es, echte Transparenz auch für die
Autofahrer zu schaffen. Deshalb sorgen wir dafür, dass
die aktuellen Tankstellenpreise künftig lückenlos in
Echtzeit veröffentlicht werden. Damit haben es die Au-
tofahrer künftig leichter, die günstigste Tankstelle anzu-
steuern. Gleichzeitig erhöhen wir dadurch den Preis-
druck auf die großen Mineralölkonzerne. Dafür müssen
die Tankstellen jetzt ihre Preise bzw. Preisänderungen in
Echtzeit an die Markttransparenzstelle melden und nicht
nur einmal wöchentlich en bloc, wie noch im ursprüngli-
chen Gesetzentwurf geplant. Die Markttransparenzstelle
stellt diese Daten dann sofort privaten Onlineportalen
zur Verfügung. So können die Autofahrer alle Benzin-
preise an allen Tankstellen bundesweit online und in
Echtzeit abrufen, sei es am PC, über eine Smartphone-
App oder über das Navigationssystem im Auto. Das
schafft echte Vergleichsmöglichkeiten und erhöht den
Preisdruck auf die Anbieter. Das ist echter Wettbewerb.
Bewusst möchten wir keine staatliche Informations-
stelle einrichten und in Konkurrenz zu bestehenden Ver-
braucherinformationsportalen treten lassen. Damit wür-
den wir Geschäftsmodelle auf privater Basis gefährden
oder gar zerstören, die sich bereits mit Erfolg am Markt
etabliert haben. Ich bin mir sicher, dass sich auf dem
Markt ein vielfältiges Informationsangebot entwickeln
wird.
Die Details der Datenmeldung an die Markttranspa-
renzstelle sowie zur Form der Datenweitergabe werden
in einer Rechtsverordnung des Bundeswirtschaftsminis-
teriums festgelegt. Für diese Rechtsverordnung haben
wir uns für das Parlament ein Zustimmungsrecht er-
wirkt. Ich möchte an die Bundesregierung appellieren,
dass sowohl die Verordnung als auch die technische Um-
setzung rasch erfolgen, um der leidlichen Spritpreis-
debatte noch vor Ostern zuvorzukommen.
Weil wir die kleinen und freien Tankstellen schützen
wollen, die kein automatisiertes System für eine Daten-
meldung in Echtzeit haben, die ihre aktuellen Preistafeln
immer noch mit der Leiter und händisch abändern müs-
sen und die für eine neue elektronische Anlage etwa
20 000 Euro investieren müssten, haben wir in § 47 k
Abs. 6 Satz 2 GWB eine Bagatellregelung eingebaut,
nach der die Markttransparenzstelle solche Tankstellen
von der Meldepflicht ausnehmen kann.
Um die Auswirkungen des Gesetzes auf das Markt-
geschehen, auf die Unternehmen und die Verbraucher
bewerten zu können, haben wir schließlich festgelegt,
dass die Bundesregierung gegenüber dem Bundestag
und dem Bundesrat einen Bericht vorlegt – bei Strom
und Gas fünf Jahre nach Inkrafttreten der Berichtspflich-
ten, im Kraftstoffbereich drei Jahre nach Inkrafttreten.
Hier „soll insbesondere auf die Preisentwicklung und die
Situation der mittelständischen Mineralölwirtschaft“
eingegangen werden, wie wir das festgelegt haben. Eine
Evaluierung der Markttransparenzstelle dauerhaft alle
drei Jahre, wie von der SPD gefordert, halte ich für über-
flüssig.
Ich denke, dass wir mit diesem Gesetz in der Lage
sind, das Geschehen auf diesen sensiblen Märkten nicht
nur mit dem Fernglas, sondern mit der Lupe zu beobach-
ten und da einzuschreiten, wo die Regeln für den Markt,
die es zweifelsohne geben muss, bewusst nicht eingehal-
ten werden.
Rita Schwarzelühr-Sutter (SPD): Markttranspa-
renz – das klingt gut. Landauf, landab ist Transparenz in
aller Munde. Die Bundesregierung versucht den Koali-
tionsvertrag umzusetzen und hat einen Gesetzentwurf
vorgelegt, um den Markt für den Handel mit Strom und
Gas transparenter zu gestalten. – So weit so gut.
Vertrauen im Markt ist notwendig. Wir begrüßen des-
halb den Gesetzesvorschlag insoweit, dass Markttrans-
parenzstellen eingerichtet werden. Ja, es ist jetzt nicht
mehr eine beim Bundeskartellamt, sondern es sind jetzt
gleich zwei: die für den Kraftstoffmarkt beim Bundes-
kartellamt und die für Strom und Gas bei der Bundes-
netzagentur.
Wir hätten es für sinnvoller und effizienter gehalten,
die MTS in das Bundeskartellamt zu integrieren und
nicht „beim“ Kartellamt bzw. jetzt auch noch bei der
Bundesnetzagentur anzusiedeln. Das hätte das Personal-
problem gelöst und gleichzeitig dafür gesorgt, dass das
Kartellamt direkt hätte tätig werden können. Das heißt,
bei Verdacht auf Preismanipulation hätte unverzüglich
ein Untersuchungsverfahren eingeleitet werden können.
Kommen wir nun von der Organisation zur Funktion
der Markttransparenzstellen: Es braucht Transparenz
über Preisfindungsprozesse, damit Manipulationen und
Marktmissbrauch verhindert werden. Denn 80 Prozent
des Strommarktes werden von vier Unternehmen be-
herrscht. Der Verdacht von Manipulationen im Markt
konnte bislang nie vollständig ausgeräumt werden. Auf
dem Kraftstoffmarkt sieht es auch nicht viel anders aus,
dort gibt es ebenso nur wenige Anbieter. Wir haben dort
auch eine oligopolistische Struktur.
Aber was soll denn hier für wen transparent gemacht
werden? Wird der Verbraucher von der Markttranspa-
renzstelle profitieren? Oder zahlt er am Ende wieder die
Zeche?
Künftig werden Spritpreis-Vergleichsportale im Inter-
net, Apps für Smartphones oder auch Navigationsgeräte
in Autos auf die Daten zugreifen können. Die Preisdaten
kommen damit nicht direkt vom Bundeskartellamt zu
den Verbrauchern, sondern indirekt über private Ver-
braucherinformationsdienste, die diese Preisvergleichs-
seiten oder Apps betreiben. Jeder Tankkunde kann sich
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012 24933
(A) (C)
(D)(B)
also informieren, welche Zapfsäule in seiner Nähe die
günstigste ist. – Okay. Ob damit Preismanipulationen
verhindert werden können bezweifle ich.
Schlussendlich konnten sich die Ölkonzerne bei der
Bundesregierung durchsetzen, und so müssen nun aus-
schließlich Tankstellenpreise und nicht ebenfalls Groß-
handelspreise an Raffinerien oder Tankanlagen gemeldet
werden. Glaubt denn diese Bundesregierung wirklich,
dass die großen Ölkonzerne auf einmal ein Herz für Ver-
braucher gefunden haben. Der Unterschied zu früher ist
nur, dass der Verbraucher in Zukunft auf einen Blick
sieht, dass alle Tankstellen vor Ostern, den Sommerfe-
rien usw. die Preise anziehen und er wieder den teuren
Kraftstoff bezahlen muss.
Ganz anders ist das bei Strom und Gas. Hier soll nur
auf der Stufe des Großhandels die Preisbildung über-
wacht werden. Richtig. Aber warum vollzieht die Bun-
desregierung nicht die Einrichtung einer Markttranspa-
renzstelle im Einklang mit der Europäischen Verordnung
über die Integrität und Transparenz des Energiegroßhan-
delsmarkts, REMIT?
Wird mit dem Gesetz der Bundesregierung ein
Schwarzes Loch entstehen, in dem Daten verschwinden
und nie wiedergesehen werden, außer von Behördenmit-
arbeitern? In diesem Zusammenhang muss auch die
Frage gestellt werden, ob die Behörden genügend Perso-
nal haben, um der zukünftigen Aufgabe nachzukommen.
Ich befürchte einen erheblichen Bürokratieaufwuchs.
Das sieht übrigens der viel geschätzte Normenkontrollrat
ebenso. Er hat sich ebenfalls dafür ausgesprochen, die
EU-Durchführungsakte abzuwarten.
Ich frage mich, was die Eile jetzt soll. Wenn man das
Gesetz gut macht, könnte Doppelaufwand vermieden
werden. Die angestrebte Einrichtung einer Markttrans-
parenzstelle in Deutschland muss im Einklang mit der
Umsetzung der REMIT-Verordnung vollzogen werden.
Das heißt, dass die jeweiligen Meldepflichten und -wege
sowie die zu nutzenden Datenformate der Unternehmen
aufeinander abzustimmen sind. Nur so lässt sich der
Aufbau aufwändiger und kostenintensiver Doppelstruk-
turen verhindern. Ein Erfüllungsaufwand, Personal, In-
formationstechnologie, der über den durch REMIT ver-
ursachten hinausgeht, hätte unbedingt vermieden werden
sollen.
Dann setzt die Bundesregierung noch eins drauf und
bezieht kleine Erzeugungseinheiten ab 10 Megawatt ein.
Zum Vergleich: REMIT bezieht erst ab 100 Megawatt
ein. Wir fordern pragmatisch, Erzeugereinheiten erst ab
50 Megawatt mit einzubeziehen. Aber die Bundesregie-
rung setzt auf noch mehr Bürokratie für kleine und mitt-
lere Unternehmen und somit auch auf höhere Kosten.
Was glaubt die Bundesregierung, wer am Ende die
zusätzlichen Kosten für diesen Bürokratieaufwand
trägt. – Klar, natürlich wird das umgelegt und schlägt
sich in den Preisen nieder, und somit zahlt am Ende des
Tages wieder der Verbraucher die Zeche.
Gut gedacht – ist noch lange nicht gut gemacht.
Dr. Erik Schweickert (FDP): Heue stärken wir den
Wettbewerb im Energiebereich. Mit der Einrichtung der
Markttransparenzstelle für den Großhandel mit Strom
und Gas werden Bundeskartellamt und Bundesnetzagen-
tur zukünftig die Preisentwicklung im Energiegroß-
handel rund um die Uhr genau beobachten. Sollte es zu
verbotenen Beeinflussungen kommen, können diese zu-
künftig noch effektiver sanktioniert werden.
Mit dem neuen Gesetz geben wir den Wettbewerbs-
behörden Instrumente in die Hand, um gegen kartellwid-
riges und manipulatives Verhalten konsequenter vorge-
hen zu können. Wir haben auch dafür gesorgt, dass die
Unternehmen nicht durch zu viel Bürokratie belastet
werden. Eine doppelte Datenerhebung wird es nicht ge-
ben, da nach § 47 e Abs. 4 des Markttransparenzstellen-
gesetzes die jeweiligen Mitteilungspflichten als erfüllt
gelten, wenn den Meldepflichten nach REMIT nachge-
kommen wurde.
Gerade durch die organisatorische Ansiedlung der
Markttransparenzstelle bei der Bundesnetzagentur wird
sichergestellt, dass durch die Beteiligung der Bundes-
netzagentur an dem REMIT-Umsetzungsprozess und die
Mitarbeit in der Agentur für die Zusammenarbeit der
Energieregulierungsbehörden, ACER, auf europäischer
Ebene eine enge Abstimmung der Datenerhebungen der
Markttransparenzstelle mit ACER gewährleistet werden
kann. So können Doppelmeldungen von Daten auf natio-
naler und europäischer Ebene vermieden werden. Mit
der Markttransparenzstelle schaffen wir nicht nur mehr
Transparenz bei Strom und Gas. Die Markttransparenz-
stelle wird auch den Benzinmarkt revolutionieren.
Um dem Entschließungsantrag der SPD gleich den
Wind aus den Segeln zu nehmen: Wir entlassen das Bun-
deskartellamt ausdrücklich nicht aus seiner Verantwor-
tung, gegen kartellrechtliche Verstöße vorzugehen.
Selbstverständlich wird der Missbrauch einer marktbe-
herrschenden Stellung Konsequenzen nach sich ziehen.
Gerade deshalb haben wir mit der Novellierung des Ge-
setzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen dafür gesorgt,
das Verbot der Preis-Kosten-Schere dauerhaft im Gesetz
zu verankern.
Wir tun aber noch mehr. Zum ersten Mal werden die
Verbraucher ohne großen Aufwand erfahren können,
welche Tankstelle ihrer Region aktuell am billigsten ist.
Dafür verankern wir eine Meldepflicht für Tankstellen,
welche ihre Echtzeitpreise an die Markttransparenzstelle
weitergeben müssen. Diese wiederum wird ihre Daten-
bank dann für interessierte Anbieter zur Verfügung stel-
len. Das bedeutet: Die aktuellen Tankstellenpreise wer-
den künftig nicht nur im Internet, sondern auch per
Handy-App oder Navi abrufbar sein. Wenn ich also
künftig von Stuttgart nach Berlin über die Autobahn
fahre, dann kann ich mir auf dem Navi die günstigste
Tankstelle auf dem Weg anzeigen lassen und dort tan-
ken.
Wir versetzen die Verbraucher damit in die Lage, ihre
Marktmacht an der Zapfsäule auszuüben. Bisher waren
die Preise nur auf der Anbieterseite weitgehend transpa-
rent. Wie das Bundeskartellamt in seiner Sektoranalyse
zum Tankstellenmarkt herausgearbeitet hat, verfügte ins-
24934 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012
(A) (C)
(D)(B)
besondere das herrschende Oligopol aus den großen fünf
Tankstellenketten über ein ausgeklügeltes System der
Marktüberwachung. Damit waren sie in der Lage, den
Tankstellenmarkt über den Preis zu dominieren.
Das funktionierte aber nur, weil die Preise für die Ver-
braucher nicht in gleichem Maße transparent waren wie
für die Tankstellenbetreiber. Nur wenn zwei Tankstellen
direkt beieinanderliegen, war ein valider Preisvergleich
für die Verbraucher möglich. Deshalb vergleichen
25 Prozent der Autofahrer bislang überhaupt keine
Preise. 40 Prozent tanken sogar immer an derselben
Tankstelle. So kann Wettbewerb nicht funktionieren.
Nun werden Verbraucher Preise für ganze Regionen ver-
gleichen können. Sie können damit auch die günstigste
Tankstelle aufsuchen und den Preiswettbewerb entfa-
chen. Ich appelliere deshalb an die Verbraucher, diese
Marktmacht auch zu nutzen. Durch die Preistransparenz
stärken wir auch die kleinen Tankstellen am Markt, die
ihren Sprit meistens günstiger anbieten als die fünf gro-
ßen Oligopolisten. Letztlich bauen wir durch den stei-
genden Preiswettbewerb auch mehr Druck auf das herr-
schende Oligopol auf, ihr Benzin ebenfalls billiger
anzubieten.
Mehr Wettbewerb ist viel effizienter als irgendwelche
staatlich verordneten Preisregulierungsmodelle, nach
denen insbesondere die Oppositionsparteien immer wie-
der rufen. Schauen wir uns doch einmal die Situation in
Österreich an. Allen, die das österreichische Modell mit
einer zugelassenen Preiserhöhung am Tag als so ver-
braucherfreundlich preisen, sage ich: Nein, dieses
Modell ist alles andere als verbraucherfreundlich. Denn
die Benzinpreise sind seit der Einführung des Preisregu-
lierungsmodells nicht gesunken, sondern auf neue
Rekordhöhen geklettert. Das ist auch nicht überra-
schend. Denn wenn man nur einmal am Tag den Preis er-
höhen darf, erhöhen die Tankstellenbetreiber dafür eben
immer umso deutlicher. In Österreich ist man über das
eigene Modell deshalb so unzufrieden, dass man es
schon wieder abschaffen möchte. Österreich ist also kein
Vorbild für Deutschland.
Wir haben eine bessere Alternative für die deutschen
Autofahrer entwickelt. Indem wir in Deutschland
Preistransparenz für die Verbraucher herbeiführen,
schaffen wir die Grundlage dafür, dass sich die Benzin-
preise wieder nach Angebot und Nachfrage richten und
nicht mehr nach Feiertagen und Ferienzeiten.
Ulla Lötzer (DIE LINKE): Die Preise für Strom, Gas
und Kraftstoffe steigen rasant. Der Buhmann ist schnell
ausgemacht: Die Bundesregierung verweist wie die
Energiekonzerne auf die Energiewende, die Mineralöl-
konzerne auf die gestiegenen Rohölpreise. Doch die
Wahrheit liegt etwas anders. Die erneuerbaren Energien
führen zu Preissenkungen an der Energiebörse, die nicht
an die Endkunden weitergegeben werden. Die Mineral-
ölkonzerne treiben die Benzinpreise künstlich in die
Höhe – so das Bundeskartellamt –, ohne zu formalen
Preisabsprachen zu greifen. Das Problem ist in beiden
Fällen dasselbe: die Marktmacht der beiden Oligopole.
Diese Marktmacht muss beschnitten werden. Nur dann
können die Extraprofite der Konzerne auf Kosten der
Bürgerinnen und Bürger endlich beendet werden. Doch
anstatt die Marktmacht endlich wirkungsvoll aufzubre-
chen, wollen Sie mit einer Markttransparenzstelle Han-
deln demonstrieren, ohne den Konzernen wehzutun.
Die Monopolkommission hat mehrfach festgestellt,
dass bei den Kraftstoffpreisen vor allem die Raffinerie-
preise beachtet werden müssen, wenn es um die Unter-
suchung der Folgen von Vermachtung geht. Im Entwurf
Ihres Gesetzes sollten die Großhandelspreise an Raffine-
rien oder Tanklagern noch gemeldet werden. Jetzt sind
Sie den Konzernen noch entgegengekommen und be-
schränken die Meldung auf die Tankstellenpreise. Ver-
stehen Sie uns nicht falsch: Wir sind keineswegs gegen
Transparenz – wer ist das schon? –, aber Sie betreiben
mit der Einrichtung einer Markttransparenzstelle einen
riesigen Aufwand für wenig Ergebnis.
Im Gegenteil, Professor Helmedag hat in der Anhö-
rung darauf hingewiesen, dass im Kraftstoffsektor die
Preise dadurch sogar steigen könnten: zum einen, weil
die Mineralölkonzerne dadurch noch einfacher an die
Daten ihrer Konkurrenten herankommen können, zum
anderen, weil die Konzerne die Kosten für diesen neuen
bürokratischen Aufwand auf die Endverbraucherpreise
umlegen werden. Die Autofahrer dürfen sich auf Apps
freuen, die ihnen bald den Weg zur günstigsten Tank-
stelle weisen sollen. Doch das nützt nicht viel, wenn die
Preise insgesamt weiter in dieser Rasanz steigen. Ver-
braucherverhalten ist wichtig, kann aber staatliche Regu-
lierung nicht ersetzen. Ganz abgesehen davon müssen
endlich der öffentliche Personenverkehr ausgebaut und
der Umstieg auf alternative Mobilitätsformen gefördert
werden. Sonst können sich bald nur noch die Reichen
Mobilität leisten.
Strom und Gas müssen bezahlbar bleiben. Sie gehö-
ren zu den Gütern des täglichen Bedarfs für die ganze
Bevölkerung. Es muss damit Schluss sein, dass jährlich
800 000 Haushalten der Strom abgestellt wird, weil die
Menschen ihn nicht mehr bezahlen können. Führen Sie
eine staatliche Preisaufsicht ein! Verhindern Sie die Ex-
traprofite der Energie- und Mineralölkonzerne! Ergreifen
Sie endlich wirksame Maßnahmen gegen die Oligopole
in beiden Branchen, und zwar durch Entflechtung! Die
Markttransparenzstelle ist teure Augenwischerei. Daher
lehnen wir Ihren Gesetzentwurf ab.
Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): In
der Vergangenheit hat es eine Vielzahl von Hinweisen
gegeben, dass Marktmissbrauch und -manipulation am
Strom- und Gasmarkt stattfinden könnten. Man muss
sich dazu den entsprechenden Bericht des Bundeskartell-
amtes und der Monopolkommission ansehen. Das ver-
wundert auch nicht bei Märkten, die von Oligopolen und
großer Marktmacht einzelner Unternehmen geprägt sind.
Dass in der Vergangenheit Missbrauch und Manipulation
nicht nachgewiesen werden konnten, liegt auch daran,
dass den Behörden wie dem Bundeskartellamt die not-
wendigen Daten nicht vorlagen.
Deshalb hat die schwarz-gelbe Koalition 2009 völlig
richtig in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart, eine „Markt-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012 24935
(A) (C)
(D)(B)
transparenzstelle für Strom und Gas“ einzurichten. Doch
dann beschäftigte sich Schwarz-Gelb vor allem mit sich
selbst statt mit dem Strom- und Gasmarkt. Erst heute
– sage und schreibe drei Jahre später – beschließen wir
im Bundestag die Einrichtung einer solchen Stelle. Das
ist nicht nur langsam, das ist ein Bummelstreik einer
Bundesregierung und der Koalitionsfraktionen.
Wegen dieser dreijährigen Verzögerung blieben die
Märkte nicht nur weiter unbeobachtet, nein – inzwischen
hat die EU gehandelt und mit REMIT eine europäische
Rechtsgrundlage für Marktransparenz geschaffen. Das
ist gut; aber zu Recht gibt es nun seitens der Unterneh-
men im Strom- und Gasmarkt, insbesondere der kleinen,
denen die Markttransparenzstelle ja eigentlich helfen soll,
Befürchtungen hinsichtlich Doppelerfassungen und un-
nötiger Bürokratie. Statt Vorreiter in Europa zu sein,
läuft Deutschland wieder einmal der Entwicklung hinter-
her. Das ist ein weiteres europäisches Armutszeugnis für
diese Regierung.
Ohne Zweifel, die Markttransparenzstelle wird Daten
sammeln, auswerten und auf Missbrauch überprüfen.
Das ist gut so. Aber was ist mit der Transparenz für die
Verbraucherinnen und Verbraucher? Da soll es alle paar
Jahre einen Bericht geben, mehr nicht. Das reicht nicht.
Das ist eine Transparenzstelle ohne Transparenz. Da be-
steht die Gefahr, dass am Ende bei Bundeskartellamt und
Bundesnetzagentur Datenfriedhöfe geschaffen werden.
So geht das nicht. Wir müssen die Daten zum Strom-
und Gasmarkt zugänglich machen, soweit das mit den
schützenswerten Interessen der Unternehmen vereinbar
ist, damit auch alle interessierten und engagierten Men-
schen sich ein eigenes Bild machen können. Das ist
Transparenz und liefert am Ende vielleicht noch einmal
ganz neue Erkenntnisse.
Überhaupt scheinen Verbraucherinnen und Verbrau-
cher bei den Überlegungen der Bundesregierung zu die-
sem Thema keine Rolle gespielt zu haben. Dass Men-
schen sich mit konkreten Hinweisen und Verdachts-
momenten an die Transparenzstelle wenden können, ist
erst gar nicht vorgesehen. Hier vergibt man jedoch eine
Riesenchance, dass die 80 Millionen Strom- und Gas-
kunden und Zehntausende Unternehmen mehr mitbe-
kommen, als dass es gut zwei Dutzend mehr Mitarbeiter
in einer Bundesbehörde gibt. Deshalb erwarten wir, dass
Sie die Tansparenzstelle für die Verbraucherinnen und
Verbraucher öffnen.
Die Menschen im Land machen die Erfahrung, dass
Strom- und Gaspreiserhöhungen von den Versorgern nicht
seriös begründet werden. Aktuelle Fälle zeigen, dass Er-
höhungen weitaus größer ausfallen, als steigende EEG-
Umlage und Netzentgelte das rechtfertigen, und dass
gleichzeitig auch noch die Börsenpreise sinken. Das sind
Dinge, die die Transparenzstelle eigentlich im Sinne der
Verbraucherinnen und Verbraucher wird aufklären müs-
sen. Doch ich fürchte, dass genau das nicht geschieht.
Über die Anbindung der Stelle bei der Bundesnetz-
agentur oder dem Bundeskartellamt kann man streiten.
Was aber nicht sein kann, ist, dass die Markttransparenz-
stelle durch die Hintertür eine andere Aufgabe bekommt,
nämlich so eine Art Monitoringstelle für die Energie-
wende. Das brauchen wir natürlich, und das tut gerade
bei dieser Bundesregierung not; aber dann muss man es
auch im Gesetz klar verankern mit klaren Aufgabenzu-
weisungen. Aber das gibt Ihre per Änderungsantrag
kurzfristig geänderte Anbindung an die Bundesnetz-
agentur einschließlich der Stellenzuweisungen nicht her.
Zum Schluss noch ein Wort zum Thema Kraftstoffe:
Es ist schön, wenn es aufgrund des Gesetzes und der
Verordnung demnächst eine App für Smartphones mit
den aktuellen Spritpreisen der Tankstellen der Umge-
bung geben wird. Das werden alle Autofahrer gut finden.
Aber seien wir ehrlich: Das löst nicht das Problem stei-
gender Spritpreise und steigender Marktkonzentration
auf der Anbieterseite. Schon gar nicht ist es eine Ant-
wort auf unsere fatale Ölabhängigkeit. Deshalb ist der
regelmäßige Populismus von Ramsauer und Rösler zu
Ostern und vor den Sommerferien nicht angebracht.
Zusammenfassend kann ich sagen: Sie haben etwas
Richtiges gemacht, was aber viel zu spät und viel zu
dürftig umgesetzt wird. In einem Entschließungsantrag
in den Ausschüssen haben wir konkrete Vorschläge ge-
macht, die sie jedoch abgelehnt haben. Deshalb werden
wir uns bei der Abstimmung über das Gesetz enthalten.
Anlage 3
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts zu dem Antrag: Beendigungsgesetz zum
Berlin-Bonn-Gesetz (Tagesordnungspunkt 14)
Stefanie Vogelsang (CDU/CSU): Wir debattieren
heute, wie in jedem Jahr, den Antrag der Linken zur
Aufkündigung des Berlin-Bonn-Gesetzes. Zweck dieses
Gesetzes ist es, den Beschluss des Deutschen Bundesta-
ges zur Vollendung der Einheit Deutschlands vom
20. Juni 1991 umzusetzen. Kern ist ein auf Dauer ange-
legter fairer Ausgleich für die Bundesstadt Bonn. Das
Gesetz ist mit diesem Zweck ebenso singulär, wie es die
Bundestagsdebatte 1991 war.
Am 20. Juni 1991 war ich Bürgerin der Stadt Bonn,
heute bin ich Bürgerin der Stadt Berlin. Damals habe ich
als studentische Mitarbeiterin eines Berliner Bundes-
tagsabgeordneten hautnah miterlebt, wie intensiv der
Wettbewerb zwischen Bonn und Berlin im Vorfeld der
Entscheidung gelaufen ist. Ich habe die sehr emotionale
Debatte vor der Entscheidung im Wasserwerk in Bonn
live miterlebt und weiß durch eigenes Erleben, dass ein
ganz wesentlicher Aspekt für viele zweifelnde Abgeord-
nete auch die zugesicherte Bedeutung Bonns als Bundes-
stadt mit dem Sitz von Teilen der Exekutive gewesen ist.
Die Gegner des Umzugs führten damals als ein
Hauptargument an, in wenigen Jahren würde sich so
oder so niemand mehr an die Zusage an Bonn erinnern,
und man könne diesem föderalen Kompromiss nicht
trauen. Viel Kraft wurde in die Beruhigung der Skeptiker
gerade in diesem Punkt gesteckt.
24936 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012
(A) (C)
(D)(B)
Politische Glaubwürdigkeit ist für mich immer eine
ganz wichtige Basis für meine Überzeugungen gewesen.
Deshalb habe ich dem Koalitionsvertrag zwischen CDU,
CSU und FDP zur Bildung dieser Regierung auch an
dieser Stelle ohne Hadern zugestimmt. Sicherlich: Als
Berliner Bundestagsabgeordnete würde ich mich natür-
lich freuen, wenn die Regierung voll und ganz in die
Bundeshauptstadt ziehen würde. Bonn ist eine sehr
lebenswerte Stadt. In der Metropole Berlin spiegelt sich
allerdings die neue Bedeutung des wiedervereinigten
Deutschlands kraftvoll wider. Die Zeit wird kommen, zu
der wir eine neue große Debatte führen. Jetzt haben wir
allerdings drängendere Fragen zur Zukunft Deutschlands
in Europa zu beantworten.
Dr. Peter Danckert (SPD): Nach fast zwölfstündiger
Debatte des Deutschen Bundestages fiel am 20. Juni
1991 die Hauptstadtentscheidung zugunsten Berlins. Im
provisorischen Plenarsaal, einem ehemaligen Wasser-
werk, gab Präsidentin Rita Süssmuth um 21.49 Uhr be-
kannt, dass 337 Stimmen für den Umzug von Parlament
und Regierung nach Berlin abgegeben worden waren.
Dabei hatten sich 320 Mitglieder des Bundestages er-
folglos dafür eingesetzt, zwar den Bundesrat und den
Sitz des Bundespräsidenten nach Berlin zu verlegen,
Parlament und Regierung aber in Bonn zu belassen. Die
Grundlage der Hauptstadtentscheidung bildet Art. 2
Abs. 1 des Einigungsvertrages, wo es heißt: „Hauptstadt
Deutschlands ist Berlin. Die Frage des Sitzes von Parla-
ment und Regierung wird nach der Herstellung der Ein-
heit Deutschlands entschieden.“ Ausweislich einer Pro-
tokollnotiz zum Einigungsvertrag sollten die weiteren
Entscheidungen zur Hauptstadt Sache der gesetzgeben-
den Körperschaften des Bundes sein.
So wurde das Gesetz zur Umsetzung des Beschlusses
des Deutschen Bundestages vom 20. Juni 1991 zur Voll-
endung der Einheit Deutschlands, kurz: Berlin-Bonn-
Gesetz, am 26. April 1994 verabschiedet. Es regelt wie
der Beschluss des Deutschen Bundestags zum Umzug
des Parlaments- und Regierungssitzes von Bonn nach
Berlin in die Praxis umgesetzt werden sollte.
Die zentrale Regelung, § 4 Abs. 4 Berlin-Bonn-Ge-
setz, legt fest, dass der größte Teil der Arbeitsplätze in
Bonn erhalten werden soll. Auch zentrale Politikberei-
che, wie zum Beispiel Verteidigung, Bildung, Umwelt,
sollten in Bonn angesiedelt bleiben. Zudem bestimmte
das Gesetz, dass Bonn einen Ausgleich für den Verlust
von Parlament und Regierung erhielt, etwa durch neue
Funktionen und die Ansiedlung neuer Institutionen.
Durch die „Vereinbarung über die Ausgleichsmaßnah-
men für die Region Bonn vom 29. Juni 1994“ wurden
1,437 Milliarden Euro für 90 Ausgleichsprojekte und
weitere rund 210 Einzelmaßnahmen an Bonn gezahlt.
Der Vollständigkeit halber muss hier erwähnt werden,
dass auch Berlin Ausgleichszahlungen erhielt.
Laut Antrag der Fraktion Die Linke wirkt das Gesetz
seit 1994 und hat seinen Sinn erfüllt. Trotz der Vertei-
lung der Arbeitsstellen zugunsten Berlins sei die Tren-
nung der Regierungstätigkeit 20 Jahre nach Herstellung
der deutschen Einheit überholt und unter dem Gesichts-
punkt der Wahrnehmung der Hauptstadtrolle Berlins, der
Koordinierung der Regierungsarbeit sowie der Bezie-
hungen zwischen Parlament und Bundesregierung in
höchstem Maße ineffizient. Zugleich behindere die Tei-
lung der Bundesregierung auf zwei Standorte die not-
wendige Nachwuchsarbeit in den Bundesministerien, da
es junge Spitzenkräfte eher nach Berlin als nach Bonn
ziehe. Durch die permanente Teilung seien operative Fä-
higkeiten der Bundesregierung, zum Beispiel bei der Lö-
sung der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise,
stark eingeschränkt.
Meiner Meinung nach gilt grundsätzlich das Prinzip,
dass Verträge eingehalten werden müssen. Andererseits
stellt sich nach über 20 Jahren gesamtdeutschen Zu-
sammenlebens die Frage, inwieweit dieses Gesetz noch
sinnvoll ist. Als Jurist und Haushälter möchte ich dies
einerseits in rechtlicher- und andererseits in haushalts-
politischer Hinsicht bewerten.
Ganz aktuell kommt das am 29.Oktober 2012 vorge-
stellte Gutachten des Juristen Professor Dr. Markus
Heintzen von der FU Berlin zu dem Ergebnis, dass seit
vier Jahren gegen die Regelungen des Berlin-Bonn-Ge-
setzes verstoßen wird. So arbeiten zurzeit weniger als
45 Prozent der Ministerialbediensteten in Bonn. Da das
Berlin-Bonn-Gesetz keinen Verfassungsrang besitzt, hat
dieser Rechtsbruch aber keine konkreten Folgen für die
Bundesregierung.
Gestattet sei mir hier die Anmerkung, dass derartige
Rechtsbrüche durch die Bundesregierung seit der über-
raschenden Aufkündigung der geplanten Ansiedlung der
Abteilung 7 des Bundesinstituts für Risikobewertung in
Neuruppin im Haushaltsausschuss zunehmend legitim
erscheinen. Die Ansiedlung der Abteilung 7 des Bundes-
instituts für Risikobewertung stand in einem unmittelba-
ren Zusammenhang mit dem Beschluss der Unabhängi-
gen Föderalismuskommission aus dem Jahr 1992, nach
dem neue Bundeseinrichtungen und Bundesinstitutionen
grundsätzlich in den neuen Ländern anzusiedeln sind.
Darüber hinaus sollte diese Ansiedlung für Brandenburg
auch ein Ausgleich sein, weil ein Forschungsstandort des
Friedrich-Löffler-Instituts in Wusterhausen geschlossen
werden soll. Argumente gegen die Abschaffung des Ber-
lin-Bonn-Gesetzes, welche sich auf bestehende Verträge
und darin getroffene Vereinbarungen berufen, verlieren
vor diesem Hintergrund ihre Glaubwürdigkeit.
Neben der besagten Studie möchte ich mich auf eine
Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes des Deut-
schen Bundestages aus dem Jahr 2007 zur möglichen
Änderung des Berlin/Bonn-Gesetzes und damit verbun-
dener Maßnahmen für einen Komplettumzug nach Ber-
lin beziehen. Diese kommt zu dem Schluss, dass für
einen Komplettumzug nach Berlin das Berlin-Bonn-Ge-
setz geändert werden müsse. Da die Gesetzgebungskom-
petenz beim Bund liegt, ist der Gesetzgeber grundsätz-
lich nicht gehindert, über ein Gesetz zu verfügen und
dieses zu ändern. Diese Tatsache ergibt sich aus dem De-
mokratieprinzip und gilt auch für das Berlin-Bonn-Ge-
setz. Zudem trifft der § 1 Abs. 2 Nr. 3 Berlin-Bonn-Ge-
setz keine Aussage, in welcher Form die genannten
Politikbereiche in Bonn angesiedelt sein sollen, etwa als
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012 24937
(A) (C)
(D)(B)
Ministerien oder nachgeordnete Behörden. Auch die
Sollvorschrift, dass laut § 4 Abs. 4 Berlin-Bonn-Gesetz
der größte Teil der Arbeitsplätze in Bonn erhalten wer-
den soll, schließt eine Reform der Ministerialverwaltung
und damit einhergehende weitere Verlagerungen von
Ministerien nach Berlin nicht aus. Soweit man davon
ausgeht, dass die Region Bonn aufgrund bisheriger Ver-
einbarungen Vertrauensschutz genießt, spricht dies nicht
generell gegen einen Umzug. Denkbar ist nur, laut Aus-
sage des Wissenschaftlichen Dienstes, dass hieraus die
Pflicht zu weiteren Ausgleichsmaßnahmen resultiert.
Hier ließe sich einwenden, dass derartige Pflichten, wie
im Falle der Neuruppin-Entscheidung im Haushaltsaus-
schuss, aber nicht unbedingt Bindungswirkung entfalten.
Um die Kosten der durch das Berlin-Bonn-Gesetz ge-
teilten Dienstsitze besser kontrollieren zu können, be-
schloss der Haushaltsausschuss am 20. November 2008
die Vorlage jährlicher Teilungskostenberichte. Laut Tei-
lungskostenbericht des Jahres 2012 belaufen sich die ge-
schätzten Gesamtkosten der geteilten Dienstsitze für das
Jahr 2013 auf 9,047 Millionen Euro. Im Vergleich zu
2012 erhöhen sich dabei die Ausgaben um 176 000 Euro.
Den umfangreichsten Ausgabeposten stellen die Dienst-
reisen mit 4,895 Millionen Euro in 2013 dar. Im Ver-
gleich zum Vorjahr entspricht das einer Kostensteige-
rung um rund 2,3 Prozent.
Vor diesen fiskal- und rechtspolitischen Aspekten
müsste die Frage, ob das Berlin-Bonn-Gesetz noch Sinn
macht, abschlägig beantwortet werden. Andererseits ha-
ben wir eine große Verantwortung für die Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer in der Region Bonn, die bei ei-
nem Komplettumzug nicht einfach ihrem Schicksal
überlassen werden dürfen. Hier stellt sich die Frage der
Zumutbarkeit einer kompletten Verlagerung der Dienst-
sitze nach Berlin für die dort lebenden Menschen und
der Wirtschaftsregion Bonn als Ganzes. Vielleicht ließe
sich hier eine Regelung finden, die über einen großzügig
angelegten Übergangszeitraum einen sukzessiven Um-
zug unter sozialverträglichen Aspekten umsetzen kann.
Möglicherweise wird das Parlament in der nächsten-
oder übernächsten Legislaturperiode beschließen, das
Berlin-Bonn-Gesetz abzuschaffen. Heute ist der Zeit-
punkt noch nicht gekommen.
Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der
Deutsche Bundestag hat vor etwas mehr als 21 Jahren,
im Juni 1991, beschlossen, das Parlament und Teile der
Regierung von Bonn nach Berlin zu verlegen, aber eine
dauerhafte – ich betone: „dauerhafte“ – Arbeitsteilung
zwischen den beiden Städten vorzusehen. Dieser Be-
schluss war denkbar knapp, er kam nach langer kontro-
verser Debatte mit 38 zu 320 Stimmen, also einer Mehr-
heit von gerade einmal 18 Stimmen, zustande. Und klar
ist: Diese Mehrheit hätte es ohne die Zusage einer dauer-
haften und fairen Arbeitsteilung zwischen der Bundes-
hauptstadt und der Bundesstadt Bonn gar nicht gegeben.
Die Linksfraktion belegt mit ihren permanenten Atta-
cken gegen das Bonn-Berlin-Gesetz nur ihre Ostfixiert-
heit und dass sie keinerlei Feeling und keinerlei Anerken-
nung für die Leistungen der westdeutschen Demokratie
während der Zeit der deutschen Teilung hat. Kollege
Claus hätte sich mal besser mit der Landtagsfraktion der
Linken im nordrhein-westfälischen Landtag unterhalten,
als es eine solche noch gab; die hätte ihm nämlich erzählt,
wie groß die Bedeutung des Bonn-Berlin-Gesetzes für die
Stadt und die Region ist. Aber wir erleben ja auch im
Haushaltsausschuss immer wieder, dass Anfang der 90er
für den Osten getroffene Vereinbarungen von der Linken
für sakrosankt erklärt und mit Zähnen und Klauen vertei-
digt werden, während es bei Vereinbarungen, die den
Westen und insbesondere Bonn angehen, mit einem Ach-
selzucken abgetan werden.
Der Stadt Bonn, der gesamten Region, den Menschen,
die in den Ministerien und Behörden arbeiten, aber auch
der gesamten Bevölkerung in Bonn und der Region
wurde eine klare Zusage gemacht, und zwar die einer
dauerhaften fairen Arbeitsteilung. Deshalb ist die Kern-
aussage im Antrag der Linken, das Bonn-Berlin-Gesetz
habe seinen Sinn erfüllt, einfach Humbug. Den Men-
schen in Bonn und der Region wurde eine dauerhafte
Absicherung zugesagt. Sie haben ein Recht darauf, dass
diese Zusage eingehalten wird. Veränderungen kann es
also nur im Dialog mit der Region geben. Das ist eine
Frage von Verlässlichkeit und von Vertrauen, das Men-
schen in die Politik haben können.
Direkt und indirekt sind in Bonn und der Region rund
60 000 Arbeitsplätze von der im Bonn-Berlin-Gesetz
verbürgten Arbeitsteilung abhängig. Zehntausende Men-
schen und ihre Familien haben ihre Lebensplanung auf
die Einhaltung von Zusagen aufgebaut, die die Politik ih-
nen gemacht hat. Das ist der angeblich auch so arbeitneh-
merfreundlichen Linken aber offensichtlich schnuppe.
Was mich besonders wundert, ist, dass die Forderung
nach einem Komplettumzug gerade von den Haushalts-
politikern der Linken so forciert wird. Dabei sprechen
die Zahlen eine glasklare Sprache – und gerade an den
Zahlen sollten sich Haushälterinnen und Haushälter
doch orientieren –: Der Bundesrechnungshof hat darge-
legt, dass die Arbeitsteilung zwischen Bonn und Berlin
sehr gut funktioniert und dauerhaft – ich betone wieder:
„dauerhaft“ – preisgünstiger ist als ein Komplettumzug.
Die Teilungskosten sind in den vergangenen Jahren kon-
tinuierlich gesunken. Der Komplettumzug würde rund
5 Milliarden Euro kosten – 5 Milliarden, die der Bund
nicht hat und deshalb auf Pump finanzieren müsste. Al-
leine die Zinsen wären höher als die Teilungskosten, von
Tilgung ganz zu schweigen.
Die nackten Zahlen zeigen: Die Forderung nach ei-
nem Komplettumzug lässt sich mit den Teilungskosten
nicht begründen. Einen weiteren Aspekt will ich anspre-
chen: Die Anzahl der Dienstreisen von Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern aus den Ministerien nach Brüssel ist in
den vergangenen Jahren kontinuierlich gestiegen. Auch
deshalb wäre ein Umzug des BMZ, des BMELV, des
BMU und auch der anderen Organisationen, für die die
Nähe zu Brüssel wichtig ist, finanziell und auch ökolo-
gisch kontraproduktiv. Von Berlin nach Brüssel wird ge-
flogen. Von Bonn fährt man mit dem Zug. Von Berlin
nach Brüssel kostet die eintägige Dienstreise 654 Euro,
von Bonn 179 Euro.
24938 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012
(A) (C)
(D)(B)
Bonn und die Region sind auf die Vereinbarungen aus
dem Bonn-Berlin-Gesetz angewiesen. Es kann keine
einseitige Aufkündigung fester Zusagen geben. Deshalb
sollten wir die nervige, fruchtlose Debatte um eine ein-
seitige Aufkündigung des Bonn-Berlin-Gesetzes endlich
beenden.
Anlage 4
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Ausführungs-
gesetzes zur Verordnung (EU) Nr. 648/2012
über OTC-Derivate, zentrale Gegenparteien
und Transaktionsregister (EMIR-Ausführungs-
gesetz) (Tagesordnungspunkt 15)
Dr. Axel Troost (DIE LINKE): Wie stark sich Fi-
nanz- und Realwirtschaft voneinander entkoppelt ha-
ben, lässt sich leicht mit einigen Zahlen veranschauli-
chen. Nach den letzten verfügbaren Daten ist der
globale außerbörsliche Derivatehandel auf ein Volumen
von 650 Billionen US-Dollar angewachsen – das Zehn-
fache der jährlichen Weltwirtschaftsleistung. Dahinter
stehen keine Absicherungsgeschäfte von Unternehmen,
sondern in erster Linie Spekulationen. Vor dieser Ent-
wicklung haben wir lange gewarnt. Welche Risiken sie
birgt, mussten wir infolge der Finanzkrise schmerzhaft
erfahren. Doch trotz Finanzkrise geht der Handel mit
Derivaten schwungvoll weiter.
Derivate versprechen als Hebelinstrumente hohe Ren-
diten bei hohem Verlustrisiko. Fehlspekulationen mit
Derivaten können leicht im Ruin enden. Noch gefährli-
cher wird der Derivatehandel dadurch, dass bis zu
90 Prozent des Derivatehandels außerhalb regulierter
Märkte stattfinden. Dort müssen keine Details wie Volu-
men oder Preis offengelegt werden. Niemand weiß, wer
welche Derivate hat und wie stark mit wem über Deri-
vate verflochten ist. Dadurch konnte sich die US-Immo-
bilienblase zu einer weltweiten Finanzkrise ausweiten.
Viele komplexe Derivate dienen nicht dazu, Risiken
auf viele Schultern zu verteilen und damit tragbar zu ma-
chen. Risiken werden stattdessen verschleiert. Ein erster
konsequenter Schritt wäre gewesen, den Dschungel der
Derivatemärkte zu lichten und nur diejenigen Derivate
zuzulassen, die offensichtlich einen gesamtwirtschaftli-
chen Nutzen haben, verständlich sind und deren Risiken
sich robust quantifizieren lassen. Dieser Schritt lässt
weiter auf sich warten. Darüber hinaus muss der Deriva-
tehandel sicherer und transparenter gemacht werden.
Hier hat sich tatsächlich etwas getan.
Mit EMIR hat die EU strengere Regeln für die Ab-
wicklung des außerbörslichen Derivatehandels erlassen.
Die Verordnung tritt 2013 in Kraft. Das hier debattierte
Gesetz klärt nur noch kleinere Details. Zwischen Käufer
und Verkäufer muss künftig eine Clearingstelle geschal-
tet werden. Diese springt dann ein, wenn eine der Ver-
tragsparteien ausfällt. Dies soll Ansteckungsrisiken min-
dern. Es hat jedoch zur Folge, dass die Clearinghäuser
eine systemische Funktion gewinnen.
Die Pleite eines Clearinghauses wäre ein Schock ver-
gleichbar mit einem Erdbeben. Sie sind systemisch rele-
vant, weswegen der Staat sie notgedrungen auffangen
müsste. Solange der Derivatedschungel weiterbesteht,
müssen die Clearinghäuser unnötig viele Risiken schul-
tern. Das ist für uns nicht akzeptabel.
Ein weiteres Problem: Die Clearingpflicht ist unnötig
löchrig, denn sie betrifft nur „standardisierte“ Derivate.
Diese müssen lediglich an ein Transaktionsregister ge-
meldet werden. Als „standardisiert“ soll ein Derivat
dann gelten, wenn ein Clearinghaus eine zentrale Ab-
wicklung dafür anbietet – der Markt setzt sich damit
wieder einmal selbst die Standards.
Eine Nebenbemerkung: Das erwähnte Transaktions-
register hat neben Transparenz noch eine zweite Funk-
tion: Es wird sehr einfach, die geplante Finanztransak-
tionsteuer zu erheben. Fehlende Informationen oder
Erhebungskosten werden kein Hindernis für die Finanz-
transaktionsteuer sein. Ich betone das deshalb, weil die
Finanzpolitiker der Koalition – FDP und Union – immer
noch wenig Begeisterung und Einsatz für die Pläne von
Finanzminister Schäuble für eine europäische Finanz-
transaktionsteuer zeigen. Doch bisher haben sich Argu-
mente gegen die Steuer immer als haltlos erwiesen.
Zusammenfassend: Wir fordern, die Finanzmärkte
auch in Bezug auf die Derivatemärkte drastisch zu
schrumpfen und ihre Komplexität zu reduzieren. Nur
diejenigen Finanzprodukte, die gesamtwirtschaftlich
nützlich, verständlich und von den Risiken beherrschbar
sind, sollten von einem „Finanz-TÜV“ zugelassen wer-
den. Die dann übrig gebliebenen Derivate wären stan-
dardisiert und könnten über regulierte Handelsplätze ge-
handelt werden. Der außerbörsliche Derivatehandel
wäre dann erst recht überflüssig.
Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Zweifellos: Die Umsetzung der European Market Infra-
structure Regulation, EMIR, gehört zu den wichtigen
Reformbaustellen der Finanzmarktregulierung. Denn
bisher ist der etwa 700 Billionen Dollar schwere Deriva-
temarkt nahezu unreguliert, intransparent und daher
stark missbrauchsanfällig. Daten sind Mangelware – bei
Aufsicht wie bei den Regulierten selbst. Man erinnere
sich nur an das Jahr 2010, als die deutsche Aufsicht auf
Auskünfte eines privaten Anbieters in den USA ange-
wiesen war, um die Position von auf Griechenland abge-
schlossenen Kreditausfallversicherungen zu erfahren.
Diese Intransparenz ist ein hohes systemisches Ri-
siko. Auch deshalb konnte die Pleite der Investmentbank
Lehman Brothers im September 2008 zu einer derartigen
Eskalation der Krise führen. Denn niemand wusste, wer
welche Derivatekontrakte eingegangen war und deshalb
von welchen etwaigen Dominoeffekten betroffen sein
könnte. Das wäre jedoch nötig gewesen, um die Folge-
wirkungen eines unkontrollierten Zusammenbruchs ab-
schätzen zu können. Stattdessen herrschte gefährliche,
krisenbeschleunigende Marktpanik.
Die Grundziele von EMIR sind daher richtig: Es ist
richtig, dass künftig sämtliche Derivate an sogenannte
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012 24939
(A) (C)
(D)(B)
Transaktionsregister gemeldet werden müssen, sodass
die Aufsicht einen Überblick über Vernetzungen und Ri-
siken, etwa zu hohe offene Position einzelner Akteure,
im Derivatemarkt erhält. Und es ist richtig, dass standar-
disierbare Derivate künftig über sogenannte Clearing-
häuser abgewickelt werden müssen.
Doch der Teufel steckt auch hier im Detail. Etliche
Fragen der Umsetzung, aber auch der sich aus der Regu-
lierung ergebenden künftigen Marktstruktur, sind noch
offen. So stellt sich mir die Frage, welche Art von Deri-
vaten wann überhaupt clearingpflichtig werden. Reden
wir hier von 10, 30, 50, oder sogar mehr als 70 Prozent
des Derivatemarktes? In der EMIR-Verordnung der
Kommission habe ich jedenfalls Ausnahmen von der
Clearingpflicht für große Teile der Realwirtschaft, für
Pfandbriefbanken, Pensionsfonds, Lebensversicherun-
gen und auch Landesbanken gefunden. Aus dem Markt
höre ich, die Clearingpflicht werde sich zunächst auf be-
stimmte Arten von Kreditausfallversicherungen sowie
Zins-Swaps, also nur einen Teil des Marktes, konzentrie-
ren.
Die Frage des Umfangs der Clearingpflicht ist aber
grundlegend und letztlich hochpolitisch. Denn vom An-
teil künftig geclearter Derivate hängt ab, zu welchem
Grad es gelingen wird, diesen billionenschweren Markt
einem transparenten Preisfindungsmechanismus zuzu-
führen. In den „dark pools“, in denen bisher relevante
Teile des Handels stattfinden, bleibt transparente Preis-
findung nämlich auf der Strecke. Einen Nutzen haben
davon letztlich nur die wenigen Insider, weil sie aus den
resultierenden Informationsvorteilen Profit schlagen
können. Anderen Marktteilnehmern fehlen hingegen die
sonst verfügbaren Preis- und Handelsinformationen. In
der Folge wird der Marktprozess als Ganzes behindert –
zulasten der Endkundinnen und Endkunden. Ferner
frage ich mich: Wer erhält künftig überhaupt Einblick in
die Transaktionsregister? Wie viele derartiger Register
wird es geben? Wie wird technisch deren korrekte inter-
nationale Konsolidierung sichergestellt?
Es dürfte unstrittig sein, dass mit den Clearinghäusern
neue „Risikoknoten“ systemischer Relevanz geschaffen
werden. Bei der weiteren parlamentarischen Beratung
dürfte vor diesem Hintergrund noch zu diskutieren sein,
ob in der deutschen Umsetzung diesem neuen systemi-
schen Risiko adäquat begegnet wird, und wie eigentlich
die Behörden im Fall der Schieflage eines Clearinghau-
ses vorgehen möchten. Mit der gerade erfolgten Ein-
grenzung des Soffin auf die Kreditwirtschaft kommt das
Finanzmarktstabilisierungsgesetz jedenfalls nicht mehr
infrage. Werden daher die Clearinghäuser im Notfall Zu-
gang zu Zentralbankliquidität erhalten?
Auch werden wir noch kritisch hinterfragen, ob die
Entscheidung der deutschen Bundesregierung eigentlich
richtig war, die Aufsicht über die Clearinghäuser letzt-
lich national zu organisieren. Ich habe da meine Zweifel.
Das europäische Parlament forderte hier eine starke
Rolle der ESMA. Denn Clearinghäuser werden grenz-
überschreitendes Geschäft betreiben. Deshalb wäre hier
eine grenzüberschreitende Aufsicht auch folgerichtig ge-
wesen.
Anlage 5
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung: Beschlussempfehlung und Be-
richt zu dem Antrag: Für einen wirksamen
Schutz und die Aufnahme syrischer Flüchtlinge
in der Europäischen Union und in Deutschland;
Beschlussempfehlung und Bericht zu dem An-
trag: Flüchtlinge aus Syrien aufnehmen (Tages-
ordnungspunkt 16)
Helmut Brandt (CDU/CSU): Aus Anlass der anhal-
tenden bewaffneten Auseinandersetzungen in Syrien soll
nach den Anträgen der Fraktion Die Linke und der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen der Deutsche Bundestag die
Bundesregierung auffordern, die Situation insbesondere
syrischer Flüchtlinge durch diverse Maßnahmen zu ver-
bessern. Es dürfte keine Überraschung sein, wenn ich Ih-
nen sage, dass wir Ihre Anträge ablehnen.
Ich wehre mich gegen den Eindruck, den Sie hier zu
vermitteln versuchen, dass wir nicht genug Flüchtlinge
aus Syrien aufnehmen oder nicht genug Unterstützung
leisten. In Deutschland sind die Asylbewerberzahlen aus
Syrien deutlich angestiegen. 2011 gab es insgesamt
3 436 Anträge, von Januar bis September 2012 waren es
5 156 Anträge. Das Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge gewährt syrischen Staatsangehörigen im
Rahmen der Asylverfahren zumindest einen sofortigen
Schutz in Form eines einjährigen Aufenthaltstitels, der
verlängert werden kann. Zudem werden bundesweit be-
reits seit Ende April 2011 keine Personen mehr nach Sy-
rien abgeschoben. Am Rande bemerkt: Diese Situation
stellt unsere Kommunen schon jetzt vor große logisti-
sche Probleme. Die ersten Bundesländer sind bereits an
ihre Kapazitätsgrenzen gestoßen, auch wegen der im
Übrigen stark ansteigenden Asylbewerberzahlen.
Nun zu einigen Ihrer Forderungen im Einzelnen.
Die von Ihnen geforderte Unterstützung der Anrainer-
staaten wird von uns bereits geleistet. Die Bundes-
regierung hat bislang humanitäre Soforthilfe für die
Flüchtlinge in der Region in Höhe von insgesamt
23,3 Millionen Euro zur Verfügung gestellt und ist damit
eines der größten Geberländer. Auch Einsatzkräfte des
Technischen Hilfswerks leisten Hilfe in der Region.
Weiterhin fordern Sie, dass wir in Absprache mit den
anderen europäischen Staaten ein bedeutendes Kontin-
gent syrischer Flüchtlinge aufnehmen. Wie ich eingangs
sagte, werden derzeit keine Abschiebungen nach Syrien
vorgenommen. Vor der aktiven Aufnahme von Flüchtlin-
gen hat für die Bundesregierung und die CDU/CSU-
Fraktion die Hilfe vor Ort Priorität. Denn die Flüchtlinge
wollen dort gar nicht weg, weil sie die Hoffnung haben,
dass die Kämpfe in absehbarer Zeit zu Ende gehen.
Zudem beabsichtigen auch die anderen EU-Mitglied-
staaten zurzeit keine Aufnahme von Flüchtlingen aus
Syrien. Ein nationaler Alleingang ist nicht sinnvoll.
Auch wenn eine Aufnahme rechtlich allein auf nationa-
ler Ebene grundsätzlich möglich wäre, so wäre die
Durchführung eines Aufnahmeverfahrens – Auswahl-
24940 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012
(A) (C)
(D)(B)
missionen, Interviews mit Flüchtlingen, Transport –
ohne Unterstützung des UNHCR logistisch sehr schwie-
rig.
Nun zu Ihrer Forderung, Visaanträge syrischer Staats-
angehöriger, insbesondere von Familienangehörigen in
Deutschland lebender Personen, schnell und wohlwol-
lend zu bearbeiten. Die Auslandsvertretungen prüfen
nach hiesiger Kenntnis jeden Einzelfall sorgfältig, müs-
sen sich dabei aber an die geltende Rechtslage halten.
Die Erteilung eines Kurzzeit-(Schengen-)Visums zu
Besuchszwecken setzt unter anderem voraus, dass die
Rückkehrabsicht des Antragstellers feststeht, er also
nicht die Absicht hat, mithilfe eines Schengen-Visums
nach Deutschland einzuwandern und sich hier niederzu-
lassen. Angesichts der augenblicklichen Lage in Syrien
wird die Rückkehrabsicht derzeit nur selten nachweisbar
sein.
Die Erteilung eines Langzeitvisums an Familienange-
hörige außerhalb der Kernfamilie, also an Ehepartner
und minderjährige Kinder, ist gemäß § 36 Abs. 2 Auf-
enthaltsgesetz nur möglich, wenn dies zur Vermeidung
einer außergewöhnlichen Härte erforderlich ist. Ungüns-
tige Verhältnisse im Heimatstaat und ausschließlich hu-
manitäre Gründe, die auf der Situation im Heimatstaat
beruhen, sowie politische Verfolgungsgründe können
nach der allgemeinen Anwendungspraxis nicht herange-
zogen werden, um eine Härte im Sinne des § 36 Abs. 2
zu begründen. Hiervon sollten wir auch nicht abweichen.
Wir wollen kein Asyl durch die Hintertür.
Nun zu Ihrer Forderung, sich für Regelungen einzu-
setzen, mit denen der Studienaufenthalt hier lebender sy-
rischer Studenten gesichert werden soll. Derzeit halten
sich circa 2100 syrische Staatsangehörige mit Aufent-
haltserlaubnissen nach § 16 und § 17 Aufenthaltsgesetz
zum Studium, zur Promotion, zur Facharztausbildung
etc. in Deutschland auf, die ihren Aufenthalt mit Stipen-
dien oder privaten Mitteln aus Syrien finanzieren. Auf-
grund der Situation in Syrien sind bei bislang 18 Perso-
nen die Zahlungen ausgeblieben. Vorerst kann mit
Mitteln des Auswärtigen Amtes über den Deutschen
Akademischen Auslandsdienst in Einzelfällen geholfen
werden. Dies kann aber keine dauerhafte Lösung sein, da
der Zahlungsausfall bei weitaus mehr Personen zu er-
warten ist.
Vorrangiges Ziel ist, die syrischen Staatsangehörigen
in dem bestehenden Aufenthaltsstatus zu belassen und
ihnen Möglichkeiten der Erwerbstätigkeit neben dem
Studium anzubieten. In den Fällen, in denen eine eigen-
ständige Lebensunterhaltssicherung dennoch nicht erfol-
gen kann, wird das Bundesinnenministerium den Län-
dern vorschlagen, über eine Länderanordnung nach § 23
Abs. 1 Aufenthaltsgesetz einen Aufenthaltstitel zu ertei-
len, der dann zum Bezug von BAföG berechtigt.
Abschließend möchte ich noch ein paar Worte zu Ih-
rer Forderung, das mit der Syrischen Arabischen Repu-
blik geschlossene Rücknahmeabkommen aufzukündi-
gen, sagen. Das bilaterale Rückübernahmeabkommen
mit Syrien beschränkt sich, wie andere Rückübernahme-
abkommen auch, auf rein prozedurale Regelungen und
konkretisiert verfahrensmäßig die ohnehin bestehende
völkergewohnheitsrechtliche Verpflichtung zur Rück-
übernahme eigener Staatsangehöriger. Es verpflichtet je-
doch weder die für Abschiebungen zuständigen Bundes-
länder zur Durchführung von Abschiebungen, noch
hindert es sie daran, Abschiebungen in Gefährdungssitua-
tionen auszusetzen. Die im deutschen Ausländerrecht
vorgesehenen Möglichkeiten zur Aussetzung einer Ab-
schiebung unter humanitären und menschenrechtlichen
Aspekten werden von dem Abkommen in keiner Weise
berührt oder gar eingeschränkt.
Die Innenministerkonferenz hat im März 2012 be-
schlossen, Abschiebungen nach Syrien für die Dauer
von sechs Monaten auszusetzen, und die Länder aufge-
fordert, umgehend einen Abschiebungsstopp anzuord-
nen. Der Bundesminister des Innern hat mittlerweile auf
entsprechende Bitte des Vorsitzenden der Innenminister-
konferenz sein Einvernehmen mit einer Verlängerung
der Aussetzung der Abschiebung nach Syrien um wei-
tere sechs Monate erklärt. Daher sehe ich für eine Kün-
digung des Abkommens keine Veranlassung. Überdies
hege ich immer noch die Hoffnung, dass dieser Bürger-
krieg in absehbarer Zeit endet. Dann aber werden wir
das Abkommen brauchen.
Ich bin überzeugt, dass die Bundesregierung die ak-
tuelle Situation aufmerksam verfolgt. Sollte es künftig
einer Aufnahme von syrischen Flüchtlingen bedürfen,
werden wir in Absprache mit dem UNHCR und unseren
europäischen Partnern unsere Verantwortung wahrneh-
men.
Ich weise jedoch schon jetzt darauf hin, dass, falls
Deutschland sich zu einem späteren Zeitpunkt zu einem
Aufnahmeprogramm entschließt, angesichts der Dimen-
sion des syrischen Flüchtlingsproblems kein Resett-
lement im technischen Sinn, also keine dauerhafte Auf-
nahme in Deutschland, in Betracht kommen wird.
Möglich wäre vielmehr eine vorübergehende humanitäre
Aufnahme für die Dauer des Konfliktes in Syrien.
Ute Granold (CDU/CSU): Wir debattieren heute
über zwei Anträge der Fraktionen Die Linke und Bünd-
nis 90/Die Grünen zur Situation der syrischen Flücht-
linge. Sie sprechen damit ein Thema an, das mich gerade
als Menschenrechtspolitikerin sehr beschäftigt. So hatte
ich die Gelegenheit, im Rahmen einer Delegationsreise
Flüchtlingslager in Jordanien und im Libanon zu besu-
chen und dort mit syrischen Flüchtlingen zu sprechen.
Lassen Sie mich zu Beginn noch einmal die Dimen-
sion des Leides der syrischen Bevölkerung in Erinne-
rung rufen: Mehr als 3 Millionen Menschen sind in Sy-
rien von den Kämpfen betroffen. Über 360 000 Syrer
sind bereits in die Nachbarländer Libanon und Jordanien
sowie in den Irak und in die Türkei geflohen. Der Sy-
rien-Koordinator des UN-Flüchtlingshilfswerks, Panos
Moumtzis, hat davor gewarnt, dass die Zahl der Flücht-
linge bis zum Jahresende auf 700 000 ansteigen könnte.
Der herannahende Winter wird die humanitäre Lage in
der Region weiter verschärfen.
Doch was ist nun zu tun, um diesen Menschen in Not
am besten zu helfen? Lassen Sie mich Ihnen erläutern,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012 24941
(A) (C)
(D)(B)
warum die von der Opposition in den beiden Anträgen
geforderte umfangreiche Aufnahme von syrischen Flücht-
lingen in Deutschland und in der EU zum jetzigen Zeit-
punkt nach meiner Auffassung nicht der richtige Weg ist.
In meinen Gesprächen mit syrischen Flüchtlingen vor
Ort und mit Vertretern von Hilfsorganisationen und Kir-
chen hier in Deutschland habe ich den Eindruck gewon-
nen, dass die große Mehrheit der Betroffenen in der Re-
gion bleiben und möglichst bald wieder in ihre Heimat
zurückkehren will. Wir sollten daher diesen Wunsch der
Flüchtlinge, nahe der Heimat zu bleiben, respektieren
und zunächst Unterstützung vor Ort leisten.
Darüber hinaus muss klar sein, dass die von der Op-
position geforderten umfangreichen Resettlementpro-
gramme Fakten schaffen würden, die ungewollt dem
Assad-Regime in die Hände spielen könnten.
Auch der UNHCR hat bislang nicht zur Aufnahme
syrischer Flüchtlinge außerhalb der Region aufgerufen
und konzentriert seine Anstrengungen auf eine Verbesse-
rung der Situation der Flüchtlinge in den Nachbarstaaten
Syriens.
Deshalb steht für uns zurzeit die humanitäre Hilfe vor
Ort im Zentrum des deutschen Engagements. Die Bun-
desrepublik hat ihre Hilfen für die Opfer des Syrien-
Konflikts um 12 Millionen Euro auf insgesamt 67,3 Mil-
lionen Euro aufgestockt. Wir sind damit eines der größ-
ten Geberländer. Von den 67,3 Millionen Euro werden
30,3 Millionen Euro durch das Auswärtige Amt für hu-
manitäre Hilfe in Syrien und für die Versorgung der
Flüchtlinge in den Nachbarländern finanziert. Auch
Einsatzkräfte des Technischen Hilfswerks sind im Ein-
satz und leisten Hilfe. So unterstützt das THW das
Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen bei der
Wasserversorgung sowie beim Aufbau der Sanitärver-
sorgung von Flüchtlingslagern in Jordanien. Dieser Bei-
trag des THW zur Versorgung der Flüchtlinge wird vom
Auswärtigen Amt finanziert. Außenminister
Westerwelle hat unseren Partnern in der Region, allen
voran der Türkei, signalisiert, dass Deutschland den sy-
rischen Nachbarländern auch weiterhin bei der Bewäl-
tigung des Flüchtlingsstromes helfen wird.
Die syrisch-orthodoxe Kirche in Deutschland und der
Jesuitenflüchtlingsdienst in der Region Mittlerer Osten
und Nordafrika haben mir davon berichtet, dass vor al-
lem die syrischen Christen der verschiedenen Konfessio-
nen oftmals zwischen die Fronten der Konfliktparteien
geraten und so von Hilfsmaßnahmen abgeschnitten wer-
den. Deshalb müssen wir besonders darauf achten, dass
die von Deutschland in Syrien geleistete humanitäre
Hilfe auch für alle Hilfsbedürftige uneingeschränkt zu-
gänglich ist.
Durch die Aufnahme einer wachsenden Zahl von
Asylbewerbern leistet Deutschland darüber hinaus be-
reits einen zusätzlichen Hilfsbeitrag. So sind die Asylbe-
werberzahlen aus Syrien deutlich angestiegen: Während
2011 insgesamt 3 436 Anträge verzeichnet wurden, sind
von Januar bis September 2012 bereits 5 267 Anträge
gestellt worden, davon 3 721 Erstanträge und 1 546 Fol-
geanträge.
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ge-
währt syrischen Staatsangehörigen im Rahmen der Asyl-
verfahren subsidiären Schutz. Zudem werden bundesweit
seit Ende April 2011 auf Beschluss der Innenminister-
konferenz hin keine Personen mehr nach Syrien abge-
schoben.
Die Bundesregierung geht davon aus und erwartet,
dass die Mitgliedstaaten der EU bei der Durchführung
von Asylverfahren die Rechtsakte zum EU-Flüchtlings-
recht und die Gewährleistungen des internationalen und
europäischen Rechts einhalten. Dazu gehören insbeson-
dere die Einhaltung der Europäischen Menschenrechts-
konvention und der Genfer Flüchtlingskonvention. Da-
her besteht mit Ausnahme von Griechenland, an das
derzeit ohnehin keine Dublin-Überstellungen erfolgen,
und Malta, wohin keine besonders schutzbedürftigen
Personen überstellt werden, keine Veranlassung, Über-
stellungen syrischer Asylbewerber in andere Dublin-
Staaten auszusetzen.
Zunächst ist es also richtig, dass Deutschland und
seine internationalen Partner versuchen, die Probleme
vor Ort zu lösen, weil die ganz überwiegende Zahl der
geflohenen Syrer in der Nähe ihrer Heimat bleiben und
so schnell wie möglich zurückkehren möchte. Allerdings
müssen wir die Lage weiterhin intensiv beobachten.
Auch wenn im Augenblick eine Flüchtlingsaufnahme
noch nicht ansteht, kann sich dies – wie von mir
erläutert – bei gemeinsamen, abgestimmten Initiativen
von UNHCR und EU ändern.
Wie Sie sehen, arbeiten die Koalitionsfraktionen und
die Bundesregierung intensiv daran, die syrischen
Flüchtlinge zu unterstützen. Diesen Weg werden wir
auch in Zukunft konsequent bestreiten. Vor diesem Hin-
tergrund lehnen wir beide Anträge der Opposition ab.
Rüdiger Veit (SPD): Heute befinden sich nach An-
gaben des Auswärtigen Amtes 340 000 Menschen aus
Syrien auf der Flucht. Doch wie viele es genau sind,
können wir nicht wissen. Stündlich werden es mehr.
Viele der Flüchtlinge sind vor den Gewalttaten und
Kampfhandlungen in ihrer Heimat in Nachbarländer ge-
flohen. Die Türkei hat bislang rund 100 000 Flüchtlinge
aufgenommen; zuvor hatte sie immer angekündigt, bei
Erreichen dieser Marke die Grenzen zu schließen. Auch
der Libanon hat nach Angaben des Auswärtigen Amtes
bis zu 100 000 Syrer aufgenommen. Andere Syrer sind
nach Jordanien und in den Nordirak geflohen. Die Tür-
kei hat mit der Unterbringung und Versorgung der
Flüchtlinge bislang Großes geleistet. Im Libanon wird
den Flüchtlingen keine Infrastruktur zur Verfügung ge-
stellt. In Jordanien werden sie in Camps untergebracht.
Im Nordirak wird es nach Angaben der EKD bald mehr
Flüchtlinge als Nordiraker geben.
Ein Ende der Kampfhandlungen ist nicht abzusehen.
Angesichts des Flüchtlingselends und des Ausmaßes der
Katastrophe muss gehandelt werden, und zwar sofort.
Natürlich wäre ein innerhalb der EU abgestimmtes ge-
meinsames Vorgehen am besten. Aber wenn das nicht so
schnell zu haben ist, dann muss Deutschland mit gutem
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Beispiel und im Sinne der dringend gebotenen Linde-
rung von konkreter Not vorangehen.
Wie die Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die
Grünen sind auch wir dafür, neben der notwendigen Un-
terstützung der Anrainerstaaten bei der Versorgung vor
Ort syrische Flüchtlinge in Deutschland aufzunehmen.
Wir halten es dabei für notwendig, drei Gruppen zu un-
terscheiden:
Erstens gibt es die Gruppe der Flüchtlinge, die aus an-
deren Ländern wie zum Beispiel dem Irak oder Somalia
ursprünglich nach Syrien als Flüchtlinge gekommen sind
und jetzt aufgrund der Entwicklung in Syrien selbst wei-
terfliehen müssen. Für diese Flüchtlingsgruppe brauchen
wir dringend ein Resettlementprogramm.
An dieser Stelle möchte ich sagen, dass wir schon
lange für den Aufbau von langfristigen Resettlementpro-
grammen mit einem bestimmten Kontingent sind. Be-
grüßenswert ist daher dem Grunde nach der Beschluss
der Innenministerkonferenz vom 8. und 9. Dezember
2011 über den Einstieg Deutschlands in ein institutiona-
lisiertes Resettlementprogramm. In diesem Rahmen ist
in den Jahren 2012 bis 2014 die Aufnahme von 300 Per-
sonen pro Jahr vorgesehen. 300 Menschen, das sind mei-
ner Ansicht nach zu wenige. Angesichts unseres Wohl-
stands und unserer wirtschaftlichen Lage als führende
Nation in Europa ist es unsere Pflicht, das Elend und die
Not von entwurzelten Flüchtlingen konkret zu lindern.
Ich könnte mir daher europaweit sehr gut die Aufnahme
von rund 100 000 Flüchtlingen pro Jahr vorstellen.
Zweitens gibt es eine Gruppe von Flüchtlingen, die in
Deutschland lebende Verwandte hat. Hier sollten die
Einreisebestimmungen erheblich erleichtert werden, um
eine großzügige Familienzusammenführung in Deutsch-
land zügig möglich zu machen.
Drittens gibt es die Gruppe der aus politischen Moti-
ven aus Syrien geflohenen Menschen. Für diese ist ein
längerer Aufenthalt in Europa eher nicht das Ziel, da sie
zum Teil ein Interesse daran haben, bei einer sich in Sy-
rien ändernden Lage schnell in das Land zurückkehren
zu können.
Schon 2010 haben wir in unserem Antrag „Syrien –
Abschiebungen beenden, politischen Dialog fortführen“
auf Drucksache 17/525 die Bundesregierung aufgrund
der massiven Verletzung von Menschenrechten in Syrien
dazu aufgefordert, einen Abschiebestopp nach Syrien zu
erlassen und das bilaterale Rückübernahmeabkommen
mit Syrien zu kündigen. Das ist heute, zwei Jahre später,
erst recht und weiterhin unsere Forderung, weil sich die
Zustände dramatisch verschlechtert haben.
Schließlich wollen und müssen wir uns im Rat der
Europäischen Union dafür einsetzen, dass in allen Mit-
gliedstaaten Abschiebungen nach Syrien ausgesetzt wer-
den und eine europäische Lösung für die Flüchtlinge ge-
funden wird.
Der Umgang mit den Flüchtlingen aus Syrien war
auch Thema des Rates der Justiz- und Innenminister am
25. und 26. Oktober dieses Jahres in Luxemburg. Die
Kommission erklärte, dass mehr als die Hälfte der bishe-
rigen Hilfen für die Region von der Europäischen Union
und den Mitgliedstaaten bereitgestellt worden sei. Auch
wenn Deutschland und Schweden bisher rund 90 Prozent
der syrischen Flüchtlinge innerhalb der Union aufge-
nommen haben, sind wir genauso wie die Justiz- und
Innenminister der EU der Ansicht, dass ein Massenzu-
strom nach Europa nicht ausgeschlossen werden kann
und man daher über die Gewährung von vorübergehen-
dem Schutz nachdenken muss.
In den von mir dargelegten Forderungen stimmen wir
mit der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und zum Teil
mit den Forderungen der Fraktion Die Linke überein.
Die Kollegen und Kolleginnen der Fraktion Die Linke
wollen über das hinaus jedoch ein dauerhaftes Bleibe-
recht unabhängig von der Sicherung des Lebensunter-
halts. Das ist zu weitgehend. Immerhin das Bemühen um
die Sicherung des eigenen Lebensunterhalts sollte nach-
gewiesen werden. Auch der Forderung nach einer unein-
geschränkten Öffnung der Grenzen in der Europäischen
Union können wir so nicht zustimmen.
Wenn die Linke mir ihrer Forderung nach Öffnung
der Grenzen allerdings auf das Problem des fehlenden
legalen Zugangs in die Europäische Union für Schutzsu-
chende zielt, so ist das in der Tat ein wichtiges Problem.
Dies betrifft jedoch nicht nur syrische Flüchtlinge, son-
dern Flüchtlinge allgemein. Hier brauchen wir eine Lö-
sung für alle.
Wenn wir auch nicht alle Positionen der Kolleginnen
und Kollegen der Fraktion Die Linke teilen, so teilen wir
doch ihr Grundanliegen. Wir werden uns ihrem Antrag
gegenüber daher der Stimme enthalten. Dem Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen werden wir zustim-
men. Auch die Kolleginnen und Kollegen von FDP und
CDU/CSU sollten dies tun. Angesichts der dramatischen
Lage in Syrien hat es ja immerhin Gespräche zwischen
Ihrem Fraktionschef Volker Kauder und dem Herrn In-
nenminister gegeben, was doch ein Zeichen dafür ist,
dass auch Sie sich um eine Lösung des Flüchtlingselends
bemühen wollen.
Auf dem Rat der Justiz- und Innenminister am 25. und
26. Oktober 2012 in Luxemburg hat der Parlamentarische
Staatssekretär Dr. Schröder zwar den Vorrang der Unter-
stützung und des Verbleibs der Flüchtlinge vor Ort betont,
jedoch unter bestimmten Umständen eine weitere Auf-
nahme von Flüchtlingen nicht ausgeschlossen. Anfang
letzter Woche sagte der Kollege Ruprecht Polenz bei
Phoenix – vor Ort, er begrüße Überlegungen, syrische
Bürgerkriegsflüchtlinge bei Angehörigen in Deutschland
aufzunehmen: „Es wäre eine Möglichkeit, wirklich zu
prüfen, ob man diese Art der vorübergehenden Familien-
zusammenführung nicht ermöglichen könnte. Das würde
wahrscheinlich auch ein paar tausend Syrern helfen, und
sie wären hier bei ihren Familienangehörigen in Deutsch-
land untergebracht.“ Dann lassen Sie uns das machen.
Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): Die Menschen-
rechtslage in Syrien hat sich in den vergangenen Mona-
ten dramatisch verschärft. Die syrische Regierung be-
kämpft ihr eigenes Volk. Der Bürgerkrieg bedroht alle
Menschen in dem Land.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012 24943
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Schon zuvor gab es erhebliche Probleme: Meinungs-
und Versammlungsfreiheit waren nicht gegeben, die In-
landsopposition starken Repressionen ausgesetzt. Dies hat
die Bundesregierung ebenso wie ihre Vorgängerin deut-
lich benannt.
Deshalb hat der Bundesinnenminister schon seit län-
gerem den zuständigen Ländern empfohlen, derzeit nicht
nach Syrien abzuschieben.
Die FDP unterstützt die konsequente Haltung des
Bundesinnenministers. Mehr kann auch eine Aufkündi-
gung des Rückübernahmeabkommens nicht bewirken.
Das Abkommen war bereits in Zeiten der Verhand-
lung heftiger Kritik ausgesetzt. Flüchtlingshilfeorganisa-
tionen haben Abschiebungen nach Syrien schon früher
generell abgelehnt. Es war die Vorgängerregierung mit
Vizekanzler Steinmeier, die sich dennoch für ein Ab-
kommen mit Syrien entschieden hat.
Wir alle hoffen, dass der Bürgerkrieg in Syrien mög-
lichst bald beendet wird.
Die Kündigung des Abkommens könnte auch so ver-
standen werden, dass wir nicht mehr an einen baldigen
Frieden in Syrien glauben. Wir sollten, meine ich, alles
vermeiden, was als Zeichen der Hoffnungslosigkeit ge-
deutet werden könnte.
An der Sachlage, dass wir nicht nach Syrien abschie-
ben, ändert sich durch die geforderte Kündigung ohne-
hin nichts. Der Bundesaußenminister hat klargemacht,
dass aktuell Hilfe vor Ort Priorität für die Bundesregie-
rung hat. Gleichzeitig hat er klargestellt, dass die Auf-
nahme syrischer Flüchtlinge in Deutschland nicht vom
Tisch ist. Diese Haltung unterstützen wir nachdrücklich.
Auch die Bundesjustizministerin hat durch ihren Be-
such in einem Flüchtlingslager in der Türkei in der letz-
ten Woche gezeigt, dass die Bundesregierung keines-
wegs – wie in den Oppositionsanträgen suggeriert –
wegschaut. Ganz im Gegenteil hat sie genau hingesehen
und ebenfalls eine Aufnahme von Flüchtlingen in der
EU nicht ausgeschlossen.
Auch UNHCR hat mittlerweile einen Aufruf gestartet
und um Hilfe gebeten: Es gibt auch Flüchtlinge aus Sy-
rien, die bereits in Syrien Flüchtlinge waren – Personen
aus Somalia oder dem Irak, die nun ein doppeltes Verfol-
gungsschicksal haben. Bei dieser Personengruppe sollte
der Bundesinnenminister zusammen mit seinen Länder-
kollegen in der Tat genauer hinsehen. Vielleicht bietet es
sich an, das Resettlement-Kontingent entsprechend zu
nutzen? Wir würden sie unterstützen.
Der Ansatz der Bundesregierung ist richtig, den Men-
schen nach Möglichkeit vor Ort zu helfen. Denn entge-
gen dem, was auch von den Kolleginnen und Kollegen
suggeriert wird, wünschen sich die meisten Flüchtlinge
nicht eine Aufnahme in Deutschland, sondern eine
Rückkehr in ein friedliches Syrien.
Die Bundesregierung hilft mit 25 Millionen Euro zur
Linderung der Not. Selbstverständlich greift bei persön-
licher Verfolgung auch das geltende deutsche Recht.
Für die FDP steht auch weiterhin die persönliche
Schutzbedürftigkeit eines Flüchtlings im Vordergrund,
nicht kollektive Gruppenmerkmale wie etwa die Reli-
gionszugehörigkeit. Religiöse Verfolgung kann ein Grund
für Schutzbedürftigkeit sein, ist aber sicher nicht der ein-
zige.
Selbstverständlich wird die Bundesregierung bei ei-
ner Verschärfung der Lage gemeinsam mit den europäi-
schen Partnern handlungsbereit sein. Die Dimensionen
des Konflikts machen ohnehin eine enge internationale
Abstimmung in EU und VN erforderlich.
Wir Liberalen setzen uns dafür ein, die Entwicklung
sensibel zu begleiten und im Zweifelsfall nicht primär
einer Umsiedlungsideologie zu folgen, sondern dem
praktisch und akut humanitär Gebotenen.
Ulla Jelpke (DIE LINKE): Derzeit befinden sich
schätzungsweise 400 000 Menschen aus Syrien auf der
Flucht. Die meisten haben in den umliegenden Staaten
Zuflucht gefunden, nur etwa 20 000 sind nach Europa
gekommen. Davon befinden sich 5 500 in Deutschland.
Viele warten allerdings noch auf ihre Entscheidung im
Asylverfahren. Im Schnitt müssen sie derzeit fünf Mo-
nate warten. Das ist aus Sicht der Fraktion Die Linke
viel zu lang. Sie alle werden Flüchtlingsschutz erhalten,
die Anerkennungsquote liegt derzeit bei 97 Prozent.
Deshalb sollten die Verfahren deutlich beschleunigt wer-
den. Es ist im Übrigen unglaublich demagogisch, wenn
derzeit von den Innenministern der Union darauf verwie-
sen wird, dass durch die vorgezogene Behandlung von
aussichtslosen Asylanträgen aus Serbien und Mazedo-
nien die syrischen Asylsuchenden noch länger warten
müssen. Die Zunahme von Asylsuchenden aus Syrien
war seit Monaten absehbar, ebenso die Zunahme aus
dem Westbalkan. Das Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge hätte rechtzeitig seine Ressourcen entspre-
chend planen können. Stattdessen machen Sie die
Schutzsuchenden zu Opfern des Behördenchaos in der
Bundesrepublik.
In den vergangenen Wochen wurde von der EU-
Grenzschutzagentur Frontex und Griechenland mit Stolz
verkündet, dass die griechisch-türkische Landgrenze am
Fluss Evros erfolgreich dichtgemacht ist. Dafür begeben
sich die Flüchtlinge nun auf deutlich gefährlichere Rou-
ten über das Meer. Mit dieser Grenzsicherung auf Kos-
ten der Flüchtlinge muss Schluss sein. Die europäischen
Grenzen müssen offengehalten werden. Das ist eine
klare Verpflichtung aus der Genfer Flüchtlingskonven-
tion. Dafür muss sich die Bundesregierung einsetzen,
statt noch mehr eigenes Personal zur Grenzsicherung
nach Griechenland zu schicken.
Seit Monaten fordern Pro Asyl und andere Flücht-
lingsorganisationen, ein Programm zur Aufnahme be-
sonders schutzbedürftiger Flüchtlinge aus den Anrainer-
staaten Syriens zu starten, ein sogenanntes Resettlement.
Der Bundesinnenminister wies diese Forderung zurück.
Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen habe
noch kein Resettlement-Programm beschlossen, so der
Minister. Das dürfte sich bald ändern, die Vorbereitun-
gen des UNHCR laufen schon. Wenn der UNHCR zur
24944 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012
(A) (C)
(D)(B)
Aufnahme von Flüchtlingen aufruft, müssen die EU-
Staaten dazu umgehend in der Lage sein. Das ist ein
wichtiges Signal der Solidarität an die Flüchtlinge und
an die syrischen Anrainerstaaten, die bislang die ganze
Last der Flüchtlingsaufnahme tragen. Doch dazu haben
die Innenminister der EU bei ihrem Treffen Ende Okto-
ber in Brüssel kein Wort verloren. Der gemeinsamen
Asylpolitik der EU-Staaten haben sie einen weiteren
Schandfleck hinzugefügt.
Es ist selbstverständlich begrüßenswert, wenn die
Bundesregierung die Nachbarstaaten Syriens bei der
Flüchtlingsaufnahme finanziell unterstützt. Pünktlich zu
dieser Debatte wurde die Hilfe auf 67 Millionen Euro
aufgestockt, was die Redner der Koalition hier sicherlich
ausführlich würdigen werden. Das darf aber keine Aus-
rede dafür sein, keine Menschen aufzunehmen, die zu-
nächst in diese Staaten geflohen sind. Bei den Resettle-
ment-Programmen des UNHCR geht es um die
Menschen, für die überfüllte Flüchtlingslager vollkom-
men ungeeignet sind, die Erholung und psychologische
oder medizinische Betreuung brauchen. Es geht um
Traumatisierte, um alleinstehende Frauen und Kinder,
um Verletzte und Kranke. Ihnen ist mit ein paar klimati-
sierten Zelten oder Decken nicht geholfen. Sie brauchen
eine Perspektive außerhalb dieser Lager, in denen die
Lebensbedingungen sich durch den nahenden Winter
noch einmal rapide verschlimmern werden. Diese Per-
spektive wollen wir ihnen bieten. Ich bitte Sie daher alle,
unserem Antrag zuzustimmen.
Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Im
März 2011 hat die syrische Freiheitsbewegung ihren An-
fang genommen. Seit nunmehr 19 Monaten schlägt das
syrische Regime jeden Protest für Menschenrechte und
Demokratie mit brutaler Gewalt nieder. Die systemati-
sche Gewalt gegen Zivilisten ist ein Verbrechen gegen
die Menschlichkeit und ein Kriegsverbrechen. Der syri-
sche Präsident Bashar al-Assad befehligt die Bombardie-
rung von Wohngebieten, die Tötung von unschuldigen
Zivilisten und Demonstranten, verhindert den Zugang zu
humanitärer Hilfe und billigt offenbar Folter, sexuelle
Gewalt und Misshandlungen, auch an Kindern.
Syrerinnen und Syrer zahlen einen hohen Preis für ih-
ren Wunsch nach Freiheit, Menschenrechten und Demo-
kratie. Bisher sind nach Angaben der Vereinten Nationen
mehr als 30 000 Menschen während des gewaltsamen
Konflikts in Syrien ums Leben gekommen. 1,2 Millio-
nen Menschen sind in Syrien auf der Flucht. Über
360 000 Menschen mussten das Land verlassen. Das
UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR geht davon aus, dass
bis zum Ende diesen Jahres die Zahl von syrischen
Flüchtlingen auf 710 000 anwachsen wird.
Ein Lösung des Bürgerkrieges in Syrien ist in abseh-
barer Zeit leider nicht in Sicht. Ein militärisches Eingrei-
fen würde die Situation der Menschen in Syrien vermut-
lich nur verschlimmern. Im Rahmen der humanitären
Hilfe ist jedoch noch vieles möglich. Die Vereinten Na-
tionen – insbesondere UN OCHA und der UNHCR –
und das Internationale Komitee vom Roten Kreuz benö-
tigen die Unterstützung der internationalen Gemein-
schaft. Wir müssen dauerhafte Lösungen für die Flücht-
linge aus Syrien finden.
Die Türkei, Jordanien, der Libanon und Irak stoßen
mit der Aufnahme und Versorgung der syrischen Flücht-
linge an ihre Grenzen. Diese vier Staaten allein haben
bisher 355 162 Flüchtlinge aufgenommen. Bei solchen
Zahlen frage ich mich, wo wir in Deutschland mit unse-
ren Maßstäben bleiben, wenn Bundesinnenminister
Friedrich zum Beispiel bei 1 500 Asylanträgen aus Ser-
bien und Mazedonien im September 2012 aufschreit und
auf dem Rücken dort und hier diskriminierter Roma und
Sinti eine hysterische Asyldebatte lostritt.
In unserem Antrag fordern wir die Bundesregierung
auf, die Anrainerstaaten Syriens bei der Aufnahme und
Versorgung syrischer Flüchtlinge zu unterstützen. Wir
begrüßen es, dass Bundesaußenminister Westerwelle
gestern in New York den Vereinten Nationen weitere
12 Millionen Euro für die Syrien-Hilfe zugesagt hat. An-
gesichts des bevorstehenden Winters ist diese Hilfe bit-
ter nötig. Bisher sind nur 29 Prozent des Hilfeplans der
Vereinten Nationen für syrische Flüchtlinge finanziert.
Die Bundesregierung ist auch aufgefordert, Flücht-
linge aus Syrien in Deutschland aufzunehmen. Die türki-
sche „Politik der offenen Türen“ ist richtig. Daran soll-
ten sich alle EU-Staaten ein Beispiel nehmen – auch
Deutschland. Mehr als 360 000 syrische Flüchtlinge
können nicht alle auf Dauer in Lagern in der Türkei, Jor-
danien, dem Libanon oder Irak leben. Besonders für
Kinder ist die Situation dort schwierig. Die Bundesregie-
rung sollte sich mit den aufnehmenden Anrainerstaaten
und mit den Flüchtlingen solidarisch zeigen und Syrerin-
nen und Syrern in Deutschland Schutz gewähren.
Es gibt auch Syrerinnen und Syrer, die von ihren An-
gehörigen nach Deutschland eingeladen werden. Für sie
muss die Visumsvergabe deutlich erleichtert werden, da-
mit sie wenigstens für eine Zeit lang Schutz in Deutsch-
land finden. Dies hat jüngst auch Integrationsbeauftragte
Maria Böhmer gefordert.
Das deutsch-syrische Rücknahmeabkommen sollte
sofort aufgekündigt werden. Jedes völkerrechtliche Ab-
kommen mit Syrien gibt Bashar al-Assad eine Legitima-
tion, die er nicht verdient.
Für die in Deutschland lebenden syrischen Flücht-
linge, die bereits vor dem Krieg nach Deutschland geflo-
hen sind, besteht zur Zeit zwar ein Abschiebestopp, der
bis März 2013 verlängert wurde, sie leben hier aber nur
unter Duldung. Das ist inakzeptabel. Sie müssen einen
rechtmäßigen Aufenthaltstitel bekommen.
Ich möchte hier auch die Gelegenheit ergreifen, das
Resettlement-Programm der Bundesregierung zu erwäh-
nen. Wir begrüßen es ausdrücklich, dass auf der Innen-
ministerkonferenz vor ungefähr einem Jahr beschlossen
wurde, in den nächsten drei Jahren jeweils 300 Flücht-
linge dauerhaft in Deutschland aufzunehmen. Wir mei-
nen aber, dass Deutschland mehr kann und diese Zahl
angesichts der vom UNHCR gesuchten 172 000 Resettle-
ment-Plätze für das Jahr 2012 beschämend gering ist.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012 24945
(A) (C)
(D)(B)
Unter Resettlement versteht man die dauerhafte Neu-
ansiedlung besonders verletzlicher Flüchtlinge in einem
zur Aufnahme bereiten Drittstaat. Bisher gibt es inner-
halb der EU nur 4 100 Resettlement-Plätze. Die USA
nimmt jedes Jahr 55 000 solcher Flüchtlinge aus Erstzu-
fluchtsländern auf. Die bisher in Deutschland aufgenom-
menen Resettlement-Flüchtlinge erhalten noch nicht ein-
mal einen Flüchtlingsstatus im Sinne der Genfer
Flüchtlingskonvention. Hier gibt es noch einigen Ver-
besserungsbedarf.
Es ist beschämend, dass Flüchtlinge kaum noch die
Möglichkeit haben, Europa auf sicherem Weg zu errei-
chen. Flüchtlinge gehen stattdessen lebensgefährliche
Risiken ein, um vor Krieg und Verfolgung zu fliehen und
Schutz in Europa zu finden. Letztes Jahr sind mehr als
1 500 Flüchtlinge im Mittelmeer ertrunken oder verdurs-
tet. 2011 war bisher das tödlichste Jahr in dieser Region
seit Beginn der Aufzeichnungen des UN-Hochkommis-
sars für Flüchtlinge im Jahr 2006. Dennoch gibt es kei-
nerlei Anstrengungen der deutschen Bundesregierung,
diese Situation zu beenden.
Seit die Landgrenze zwischen der Türkei und Grie-
chenland durch europäische Grenzsicherungsmaßnah-
men kaum noch passierbar ist, wählen syrische Flücht-
linge immer öfter die lebensgefährliche Route über das
Mittelmeer, um Zuflucht in Europa zu finden. Anfang
September ertranken 61 Menschen, die meisten von ih-
nen Kinder, als ein Boot mit Ziel Lesbos auf Grund ging.
Die Opfer waren fast alle Syrer. Keine Regierung, die
Menschenrechte ernst nimmt, kann das mit ansehen.
Eine Lösung zu finden, ist eine deutsche und europäi-
sche Herausforderung.
Aber europäische Maßnahmen dürfen nicht mit dem
Schutz der Grenzen und dem Verbarrikadieren der „Fes-
tung Europa“ beginnen. Es geht zuallererst um den
Schutz von Leib und Leben der Flüchtlinge an der
Grenze. Die Europäische Union mit ihrem Wertekanon
und Deutschland mit seinem Grundgesetz können es sich
nicht leisten, sehenden Auges die Menschen im Mittel-
meer ertrinken zu lassen. Europa muss sich entschieden,
der Tragödie zuzusehen oder zu helfen. Wenn wir nicht
handeln, werden uns nachfolgende Generationen zu
Recht vorwerfen, dass Deutschland zwar die Menschen-
rechte weltweit gepredigt, beim Drama im Mittelmeer
aber tatenlos zugesehen hat.
Anlage 6
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Ergänzung des Geldwäschegesetzes (GwGErgG)
(Tagesordnungspunkt 17)
Peter Aumer (CDU/CSU): Die Geldwäschepräven-
tion in Deutschland ist und bleibt ein wichtiges Thema
für die Sicherheit, Stabilität und Ordnung unseres gesell-
schaftlichen Zusammenlebens. Wie die Berichterstat-
tung in den Medien und der Ende Oktober von der BaFin
und dem BKA vorgestellten Jahresbericht 2011 der
Financial Intelligence Unit, FIU, zeigen, haben die Geld-
wäscheverdachtsmeldungen im Jahr 2011 um 17 Prozent
im Vergleich zum Vorjahr zugenommen. Diese Zahl
macht deutlich, dass die Adressaten des Geldwäschege-
setzes zunehmend sensibilisiert werden oder dies bereits
sind. Unsere Aufsichtsbehörden nehmen hier eine wich-
tige Rolle bei der Umsetzung und Einhaltung unserer
Gesetze war.
In den vergangenen Jahren haben wir eine Reihe neuer
Regelungen zur Prävention und Bekämpfung von Geld-
wäsche und Terrorismusfinanzierung auf den Weg ge-
bracht. Immer wieder sind wir dabei auf neue Trends und
technische Entwicklungen eingegangen, die Möglichkei-
ten zur Geldwäsche eröffnet haben. Von zentraler Bedeu-
tung ist dabei unser Gesetz zur Optimierung der Geldwä-
scheprävention, das wir vor circa einem Jahr hier in
diesem Hohen Hause verabschiedet haben. In diesem ha-
ben wir vor allem die Geldwäschegefahren bei elek-
tronischem Geld aufgegriffen. Die E-Geld-Industrie
stellt eine stark wachsende Branche in Deutschland dar.
Durch den immer weiter wachsenden e-Commerce sowie
Online-Games und weitere zahlungspflichtige Angebote
im Internet entwickelten sich diese Formen in den letzten
Jahren immer weiter. Den positiven Effekten für den
Kunden standen allerdings auch geldwäscherechtlich re-
levante Risiken entgegen, denen wir mit diesem Gesetz
begegneten. Durch höhere Identifizierungspflichten, ei-
nem Verbot, mehrere Karten zu einer einzelnen Karte zu-
sammenzuführen, und einer Beschränkung der Auszah-
lung von E-Geld Karten begegneten wir umfangreichen
Möglichkeiten zur Geldwäsche, hielten aber durch das
Einziehen von Schwellenwerten die Benutzung für den
„Normalkunden“ für praktikabel.
Mit dem Gesetz zur Ergänzung des Geldwäschegeset-
zes reagieren wir heute abermals auf einen in den letzten
Jahren stark wachsenden Markt im Internet: dem Online-
glücksspiel und den Onlinesportwetten. Nach Schätzun-
gen der Europäischen Kommission lagen allein die Ein-
nahmen der Onlineglücksspielanbieter innerhalb der Eu-
ropäischen Union im Jahr 2008 bei über 6 Milliarden
Euro. Die Kommission rechnet weiterhin, ausgehend
von 2008, mit einer Verdopplung dieser Zahl bis zum
kommenden Jahr. Das Onlineglücksspiel zählt somit zu
einem der stark wachsenden Segmente im Onlinemarkt.
In Deutschland war bis vor kurzem das Glücksspiel
im Internet ausnahmslos verboten. Mit Auslaufen des
Glücksspielstaatsvertrages aus dem Jahr 2007 und den in
die Zuständigkeit der Länder fallenden Neuregelungen
hat sich in diesem Bereich eine grundlegende Änderung
ergeben. Als erstes Bundesland erlaubte das Land
Schleswig-Holstein die Möglichkeit für Glücksspiel im
Internet. Auch der Erste Glücksspieländerungsstaatsver-
trag vom Dezember letzten Jahres eröffnet den unter-
zeichnenden Ländern die Möglichkeit zur Erlaubnis der
Veranstaltung und Vermittlung von Sportwetten im In-
ternet.
Ferner machte auch das öffentliche Fachgespräch, das
wir vor kurzem im Finanzausschuss des Deutschen Bun-
destages durchführten, deutlich, dass die Aufnahme des
Onlineglücksspiels in das Geldwäschegesetz eine not-
24946 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012
(A) (C)
(D)(B)
wendige Maßnahme ist. Selbst die Vertreter der bisher in
Deutschland lizensierten Anbieter begrüßten im Allge-
meinen die Aufnahme ins Geldwäschegesetz. Mehrere
Sachverständige bestätigten uns, dass Glücksspiel auf-
grund seiner Struktur von beiden am Spiel teilnehmen-
den Parteien dazu missbraucht werden kann, illegale
Gelder reinzuwaschen. Auch die Vielzahl von Transak-
tionen und die Möglichkeit, hohe Beträge in viele unauf-
fälligere kleinere Einzelbeträge zu stückeln, macht das
Online-Glücksspiel für Geldwäscher interessant.
Durch das heute zu beschließende Gesetz zur Ergän-
zung des Geldwäschegesetzes soll deshalb der Verpflich-
tetenkreis zukünftig auf die Veranstalter und Vermittler
von Glücksspielen im Internet erweitert werden. Diese
Erweiterung wird durch Sorgfalts- und Organisations-
pflichten ergänzt. Ferner werden für die die Glücks-
spielaufsicht zuständigen Länderbehörden die notwendi-
gen Aufsichtsbefugnisse geschaffen. Schließlich sieht
der Gesetzentwurf entsprechende Bußgeldvorschriften
zur Sanktionierung von Verstößen der Pflichtigen vor.
Das Onlineglücksspiel darf somit kein rechtsfreier
Raum sein. Auch hier ist sicherzustellen, dass Geldwä-
sche wirksam bekämpft wird. Entsprechend den europäi-
schen Vorgaben haben wir daher den Anwendungsbe-
reich des Geldwäschegesetzes entsprechend erweitert.
Für Veranstalter und Vermittler von Glücksspielen im In-
ternet gelten also künftig spezielle Sorgfaltspflichten.
Identifizierung und Verifizierung eines Spielers er-
folgt durch eine elektronisch versandte Kopie eines Aus-
weisdokumentes. Die Identifizierung kann somit in
Echtzeit vor Begründung der Geschäftsbeziehung abge-
schlossen und ein Spielerkonto sofort eröffnet werden.
Verstärkte Sorgfaltspflichten können durch zusätzliche
Sicherungsmaßnahmen nach Begründung der Geschäfts-
beziehungen wie etwa Post-Ident oder auf der Grundlage
von zusätzlichen Dokumenten, Daten oder Informatio-
nen, die von einer glaubwürdigen und unabhängigen
Quelle stammen und für die Überprüfung geeignet sind,
erfolgen. Mit dieser Regelung wird erstmals eine me-
dienbruchfreie und zugleich sehr sichere Identifizierung
eines Kunden möglich.
Eine weitere Hürde für Geldwäsche stellt in diesem
Zusammenhang die Verwendung der Zahlungsmethode
dar. So sind alle unbaren Zahlungsmethoden wie etwa
eine Lastschrift oder Kartenzahlung für die Einzahlung
auf ein Spielerkonto erlaubt, sofern es sich um ein ord-
nungsgemäß identifiziertes Zahlungskonto des Spielers
handelt. Davon kann bei der Führung eines Zahlungs-
kontos durch einen lizensierten Zahlungsdienstleister
mit Sitz in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union
ausgegangen werden. Die Verwendung anonymer Pro-
dukte wie etwa Prepaid-Karten, auf denen E-Geld ge-
speichert ist, ist somit ausgeschlossen.
So stellt der Dreiklang aus Übersendung eines gülti-
gen Ausweisdokumentes, der zusätzlichen Sicherungs-
maßnahme nach Begründung der Geschäftsbeziehung
und des vollidentifizierten Kontos, das auf den Namen
des Spielers lauten muss, einen hohen Schutz vor Miss-
brauch und damit zur Verhinderung von Geldwäsche dar.
Gleichzeitig halten wir aber den bürokratischen Auf-
wand gering und verhindern damit die Abwanderung ins
illegale Geschäft.
Abschließend möchte ich noch auf den in den Medien
sowie im öffentlichen Fachgespräch angesprochenen
Sachverhalt der Nichtaufnahme von Spielhallen in das
Geldwäschegesetz ansprechen. Die CDU/CSU- und die
FDP-Fraktion haben sich hier zu einer Klarstellung im
Bericht der Berichterstatter entschieden: Der Vorschlag
der Aufnahme in das GwG wurde im Gesetzentwurf der
Bundesregierung nicht weiterverfolgt, weil verfassungs-
rechtliche Zweifel bestehen, ob eine ausreichende Bun-
deskompetenz für diese spielhallenrechtlich konzipierte
Regelung vorhanden ist. Um das Geldwäscherisiko wei-
ter zu reduzieren, hat sich die Bundesregierung stattdes-
sen auf die Änderung der Spielverordnung geeinigt. Wir
fordern die Länder jedoch auf, eine flächendeckende ge-
werberechtliche Beaufsichtigung im Bereich der Spiel-
hallen sicherzustellen, bei der auch die Ausübung eines
Gewerbes von der zuständigen Behörde untersagt wer-
den kann, wenn Tatsachen vorliegen, welche die Unzu-
verlässigkeit des Spielhallenbetreibers oder einer mit der
Leitung des Gewerbebetriebes beauftragten Person in
Bezug auf dieses Gewerbe dartun. Darüber hinaus wer-
den die Länder aufgefordert, die Umsetzung des Geld-
wäschegesetzes weiterhin zu verbessern, um eine effek-
tive Beaufsichtigung und Verhinderung von Geldwäsche
im Nichtfinanzbereich zu gewährleisten. Damit bewegen
wir uns in unseren rechtlichen Möglichkeiten. Nun ist es
an den Ländern, eine kompetente Vollziehung des Geset-
zes sowie eine funktionierende Aufsicht sicherzustellen.
Die Erfolge der Umsetzung des Geldwäschegesetzes
wollen wir weiterhin durch eine Evaluierung des Geset-
zes vornehmen. Wir fordern daher die Bundesregierung
und die Bundesländer auf, die Evaluation in dem festge-
legten Rahmen durchzuführen; denn nur so können wir
die Wirksamkeit unseres Gesetzes überprüfen.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf greifen wir er-
neut das Thema der Geldwäscheprävention in Deutsch-
land auf und betonen abermals dessen Wichtigkeit. Die
Koalition schließt damit eine noch bestehende Lücke in
der Geldwäscheprävention. Die Geldwäschebekämp-
fung wird dadurch konsequent ausgebaut, auch im Sinne
der internationalen Standards. Wir machen damit deut-
lich, dass für Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung
in Deutschland kein Platz ist. Ich bitte Sie daher, dem
Gesetz zuzustimmen.
Martin Gerster (SPD): „Wenn ich Mafiosi wäre,
würde ich in Deutschland investieren.“ Das Zitat von
Roberto Scarpinato, der als Staatsanwalt intensiv mit
dem Kampf gegen das international vernetzte organi-
sierte Verbrechen kämpft, lässt aufhorchen.
Wie zahlreiche andere Sachverständige hat auch er im
Zuge der Anhörung zum vorliegenden Gesetzentwurf
unterstrichen, dass unser Land gegenwärtig massiv im
Visier von Kriminellen steht, die hierzulande Geld wa-
schen wollen. Geld, das unter anderem aus Drogen-,
Waffen-, und Menschenhandel, Betrug und illegalem
Glücksspiel stammt und das in den legalen Geldkreislauf
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012 24947
(A) (C)
(D)(B)
eingespeist werden soll, um seine Herkunft zu verschlei-
ern.
Bis zu 57 Milliarden Euro im Jahr werden nach
Schätzungen der OECD Jahr für Jahr in der Bundesrepu-
blik gewaschen.
Internationale Gremien, die sich dem Thema Geldwä-
schebekämpfung widmen, thematisieren bereits seit län-
gerem, dass mit dem Aufstieg der im Internet angebote-
nen Glücks- und Kasinospiele auch ein massives
Geldwäscherisiko einhergeht. Mittlerweile haben wir es
hier mit einem viele Milliarden schweren Wirtschafts-
zweig zu tun. Die Besonderheiten des Onlineumfelds,
vor allem der fehlende persönliche Kontakt zwischen
Spielern und Spielbetreibern, machen es findigen Krimi-
nellen leicht, anonym Gelder zu transferieren und deren
Spur zu verwischen.
Bis vor kurzem war es in Deutschland nicht möglich,
Onlineglücksspiele legal anzubieten, da der Glücksspiel-
staatsvertrag dies ausschloss. Doch schon im vergange-
nen Jahr war klar, dass sich dies mit dem Alleingang der
abgewählten schwarz-gelben Landesregierung in Kiel
ändern würde. Sie wollte Schleswig-Holstein auch virtu-
ell zum Glücksspieleldorado machen – ohne Rücksicht
auf Verluste.
Vor dem Hintergrund dieser bedenklichen Entwick-
lung haben wir seither konsequent auf die Notwendig-
keit verwiesen, hier aktiv zu werden. Und obwohl klar
abzusehen war, wie sich die Situation in Schleswig-Hol-
stein entwickeln würde, spielte die Bundesregierung auf
Zeit.
Während in Kiel bereits im März erste Konzessionen
vergeben werden sollten, verwies man von Regierungs-
seite noch im Februar 2012 darauf, dass eine Überarbei-
tung der europäischen Geldwäscherichtlinie anstehe und
die Diskussion um die Ausführung des Glücksspiel-
staatsvertrags abgeschlossen sei. Dann könne man im
Forum Geldwäscheprävention diskutieren: „Das ange-
sprochene Forum für Geldwäscheprävention wird sich
mit Fragen des Onlineglücksspiels befassen, wenn erste
Konzepte zur Ausführung dieses Staatsvertrags in den
Ländern vorliegen bzw. von der Europäischen Kommis-
sion gegenwärtig geprüfte Verschärfungen der geldwä-
scherechtlichen Anforderungen an das Onlineglücks-
spiel in einem Kommissionsvorschlag für eine vierte
Geldwäscherichtlinie konturiert sind“, so die Antwort
des Parlamentarischen Staatsekretärs Steffen Kampeter
vom 14. Februar 2012.
Mittlerweile wissen wir, dass das Thema Online-
glücksspiel in der Überarbeitung der Geldwäscherichtli-
nie voraussichtlich wohl nicht so klar geregelt wird, wie
wir uns das wünschen. Seit Juli erlauben nun auch die
restlichen Länder, Lotterien und bestimmte Formen von
Onlinesportwetten über das Internet anzubieten. Insofern
ist es vollumfänglich zu begrüßen, dass dieses Problem
nun angegangen wird und die Anbieter von Online-
glücksspielen als Verpflichtete in das GWG aufgenom-
men werden.
Erfolgreiche Geldwäscheprävention lebt davon, Geld-
ströme nachvollziehbar zu halten und die an Transaktio-
nen beteiligten Personen sowie die dahinter stehenden
wirtschaftlichen Berechtigten klar identifizieren zu kön-
nen. Hier geht das Gesetz in die richtige Richtung. Aber
es geht nicht weit genug und in letzter Sekunde hat es
Schwarz-Gelb sogar noch geschafft, die guten Ansätze
zu verwässern.
Wo ursprünglich eine frühzeitige und eindeutige Iden-
tifikation vorgesehen war, wird nun ein zweistufiges
Verfahren eingeführt, das die – ohnehin keineswegs un-
problematische – Verifikation der potenziellen Spieler
zeitlich hinter die Aufnahme der Geschäftsbeziehung
mit dem Spieleanbieter verlagert. Dies erscheint uns
nicht nur unter Aspekten der Geldwäscheprävention,
sondern auch unter suchtpräventiven Aspekten nicht
wünschenswert. Gerade die Debatte im Ausschuss war
entlarvend, da es wieder die FDP war, die sich in ihren
Beiträgen zum Sprachrohr der „Zockerlobby“ machte.
Und das, obwohl die Partei im Umgang mit den
Glücksspielanbietern erst in jüngster Zeit wenig For-
tune hatte. So drängt sich auch hier der Verdacht auf,
dass es bei der nachträglichen Änderung vor allem da-
rum geht, die Hürden für eine Spielteilnahme zu senken
und mehr Menschen mit den – mitunter hochgradig
suchtgefährdenden – Onlinewetten in Kontakt zu brin-
gen.
Das zeigt ein Blick auf jene Aspekte, die der Gesetz-
entwurf nicht angeht, obwohl sie auch in der Anhörung
überdeutlich zur Sprache kamen. Als wir im Mai 2012
bei der Bundesregierung nachfragten, ob denn durch die
geänderte Lage in Schleswig-Holstein eine Regelung
notwendig sei, antwortete uns die Bundesregierung:
„Die Landesverordnung über die Genehmigung des
Glücksspielbetriebs (Glücksspielgenehmigungsverord-
nung – GGVO) vom 11. Januar 2012 beinhaltet alle er-
forderlichen Instrumente für eine wirksame Verhinde-
rung der Geldwäsche in diesem Aufsichtssektor.“
Mittlerweile wissen wir: Die Bundesländer geben
offen zu, dass sie sich mit der Beaufsichtigung des
Nichtfinanzsektors tendenziell überfordert sehen. Die
Stellungnahme des Bundesrates zum vorliegenden Ge-
setzentwurf spricht da eine klare Sprache.
Nun sollen sie zusätzlich die Aufsicht im Bereich On-
lineglücksspiel übernehmen. Und ihre Behörden dürfen
dank der Änderungsanträge der Koalition auch noch da-
rüber entscheiden, ob überhaupt besondere Sorgfalts-
pflichten anzuwenden sind, weil sie in bestimmten Be-
reichen ein geringes Geldwäscherisiko vermuten.
Es bleibt ein ungutes Gefühl, dass die seit langem be-
kannten Probleme in Zukunft eher nicht abnehmen dürf-
ten. Umso dringender stellt sich die Frage, wie die Pro-
bleme einer mangelhaften Aufsicht im Nichtfinanzsektor
endlich überwunden werden können. Wir unterstützen
den gemeinsamen Appell, die Länder hier verstärkt mit
ins Boot zu holen und eine transparente, strukturierte
und effektive Aufsicht sicherzustellen. Leider konnte
sich Schwarz-Gelb nicht entschließen, dieser Forderung
durch Zustimmung zu unserem Entschließungsantrag im
Ausschuss mehr Nachdruck zu verleihen.
24948 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012
(A) (C)
(D)(B)
Gerade mit Blick auf die Länder gilt es überdies anzu-
merken, dass wir nach wie vor keine zufriedenstellende
Lösung für den Umgang mit Spielhallen und Automa-
tenkasinos haben. Die Mahnungen der Sachverständigen
sollten deutlich gemacht haben, dass es noch immer
dringend notwendig ist, auch im Sinne des Spieler- und
Jugendschutzes eine effektive Gewerbeaufsicht der Be-
treiber von Spielhallen sicherzustellen. Die angekün-
digte Änderung der Spielverordnung und die Einführung
einer personenungebundenen Spielerkarte sind keines-
wegs der Weisheit letzter Schluss. Die Haltung der Bun-
desregierung, die Aufnahme der Spielhallenbetreiber in
das GWG aus verfassungssystematischen Gründen nicht
weiterzuverfolgen, erscheint allerdings nachvollziehbar.
Wir begrüßen ausdrücklich, dass sich auch die Koali-
tionsfraktionen der Brisanz des Themas bewusst sind.
Auch hier wurde jedoch die Gelegenheit vertan, durch
die Zustimmung zu unserem Entschließungsantrag ein
deutlicheres Signal in Richtung der Länder zu geben.
Ein Gesetz voller verpasster Chancen. Insofern setzen
wir als Sozialdemokraten auf Enthaltung.
Björn Sänger (FDP): Das vorliegende Gesetz ist
erstens erforderlich, weil die Verhinderung von Geldwä-
sche im Onlineglückspielsektor ein übergeordnetes
Thema darstellt, das nicht nur wirtschaftlich, sondern
auch verbrauchertechnisch in sicheres Fahrwasser ge-
lenkt werden sollte. Die wirtschaftliche Bedeutung des
Onlineglückspielsektors ist hoch und es bildet sich ein
schnell wachsender Markt zugunsten der Glückspielin-
dustrie. Laut einer Schätzung der EU-Kommission ha-
ben die Onlineglücksspielanbieter 2008 innerhalb der
Europäischen Union über 6 Milliarden Euro eingenom-
men. Und das sind allein die legalen Zahlen.
Erforderlich auch deshalb, da aufgrund der Neurege-
lungen und des Auslaufens geltender Verträge das
Glückspiel im Internet vom Gesetzgeber „neu“ zu be-
werten ist. Es war also erforderlich, das Geldwäschege-
setz nun auch auf die Onlinevarianten des Glücksspiels
zu erstrecken und Veranstalter und Vermittler von
Glücksspielen im Internet in den Verpflichtetenkreis des
Geldwäschegesetzes einzubeziehen.
Was gibt dieses Gesetz vor? Was wird verändert? Wir
müssen auf die Besonderheiten des Onlineglückspiels
mit großer Vorsicht Rücksicht nehmen. Es finden tagtäg-
lich, ja stündlich und minütlich Geschäftsbeziehungen
zwischen Personen statt, die sich niemals persönlich ge-
genüberstehen werden. Wir müssen hier den erhöhten
Risiken in Bezug auf die Identifizierung des Spielers so-
wie die Finanzströme gezielt Rechnung tragen. Gerade
im Onlineglückspielsektor gilt es daher, dass künftig Be-
treiber von Glücksspielen im Internet verstärkt ihre
Sorgfaltspflichten nach dem Geldwäschegesetz erfüllen
müssen. Insofern begrüßt die FDP die verstärkten Anfor-
derungen, die der Gesetzentwurf aufstellt.
Gleichwohl schauen wir mit Bedacht auch darauf, das
legale Glücksspiel im Internet nicht derart zu regulieren
und mit Vorsicht-Schildern zu versehen, dass keiner
mehr die gut gepflasterten Straßen nutzt. So halten wir
eine Zuordnung als Verpflichtete unter das GWG je nach
Geldwäscheanfälligkeit für sachgerecht. Sofern sich ein
geringes Geldwäscherisiko ergibt – wie beispielsweise
bei Lotteriespielen, wo allein bei einem Maximaleinsatz
von 1 000 Euro eine statistische Verlustquote von 80 Pro-
zent gegeben ist –, soll eine Freistellung durch die Län-
der stattfinden.
Der Gesetzentwurf nennt in der Entwurfsfassung vier
Wege der Spieleridentifizierung: Die Identifizierung an-
hand eines Originalausweises, anhand einer beglaubig-
ten Kopie des Ausweises, anhand des elektronischen
Identitätsnachweises nach dem Personalausweisgesetz
(Elektronischer Personalausweis) oder anhand einer quali-
fizierten elektronischen Signatur.
Das Problem ist für den Verbraucher: Wer bei einem
Onlineglücksspielanbieter spielt, will dies in aller Regel
unmittelbar tun und nicht erst deutlich später. Was ist die
Folge? Nur die wenigsten Spieler werden wegen der Re-
gistrierung bei einem Glücksspielanbieter gleich einen
neuen (elektronischen) Personalausweis beantragen, und
nur die wenigsten Spieler, die etwa auf ein Bundesliga-
spiel wetten möchten, werden sich stattdessen auch mit
einer Wette auf den übernächsten Spieltag zufrieden ge-
ben. Vielmehr bedeutet der Gesetzentwurf derzeit noch
ein Konjunkturprogramm für den unregulierten Markt,
wo Spieler nach der Anmeldung sofort spielen können,
aber jeglicher behördlicher Zugriff verwehrt ist und auch
die internen Sicherheitsstandards der Anbieter alles an-
dere als gewährleistet sind.
Wir wollen keine leblose Wettbewerbssituation für
die 20 konzessionierten Anbieter des regulierten Mark-
tes entstehen lassen und die Angebote mehr als erheblich
beschränken. Zudem müssen wir die konkurrierende An-
gebote von nicht konzessionierten Anbietern im Online-
bereich im Blick behalten, die weiterhin für jedermann
erreichbar sind.
Wir wollen kein Gesetz, welches Spieler ermutigt,
den regulierten Markt zugunsten eines unregulierten
Marktes zu verlassen.
Leider wissen wir alle, dass die Verhinderung von
unregulierten Angeboten aus dem Grau- oder Schwarz-
markt sehr schwierig bis praktisch unmöglich zu verhin-
dern ist. Erst recht bei Anbietern, die ihren Sitz in Über-
see haben. Insofern haben wir nach praktikablen
Lösungen gesucht, die den Spielern keinen Anreiz bie-
ten, aus praktischen Erwägungen Anbieter aus dem un-
regulierten Markt vorzuziehen – und den regulierten
Markt dadurch zu schwächen.
Da gerade bei Onlineglücksspielen Spieler leicht mit
falschen Identitäten auftreten können, setzen wir uns für
sinnvolle und sichere Vorgaben zur Spieleridentifizie-
rung sowie Anforderungen an die Errichtung eines
Spielerkontos ein. Wir schlagen daher eine Option vor,
die erstmals die Identifizierung und Verifizierung an-
hand einer elektronisch versandten Kopie des Passes
oder Personalausweises nur für die sofortige Eröffnung
von Spielerkonten, jedoch nicht etwa für Zahlungskon-
ten und andere Geschäftsbeziehungen zulässt. Mit der
vorgeschlagen Zulassung der elektronisch versandten
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012 24949
(A) (C)
(D)(B)
Kopie kann die Identifizierung und Verifizierung des
Kunden/Spielers anhand dieses Dokuments in Echtzeit
vor Begründung der Geschäftsbeziehung abgeschlossen
und ein Spielerkonto vom Verpflichteten sofort eröffnet
werden.
Die vom Gesetzeszweck verlangte Erfüllung ver-
stärkter Sorgfaltspflichten durch zusätzliche Sicherungs-
maßnahmen bei nicht physischer Präsenz des Vertrags-
partners kann auch dadurch erbracht werden, dass die
Zahlung von einem Kunden des Vertragspartners erfolgt
und unverzüglich nach Begründung dieser Geschäftsbe-
ziehung die Überprüfung der Identität etwa durch die
Nutzung des Post-Ident-Verfahrens wiederholt oder aber
auf der Grundlage von zusätzlichen Dokumenten, Daten
oder Informationen vorgenommen wird, die von einer
glaubwürdigen und unabhängigen Quelle stammen und
für die Überprüfung geeignet sind. Es handelt sich beim
letzteren Verfahren um Dokumente und Daten (Internet-
adresse, Telefonnummer etc.), die ohnehin im Anschluss
an die Kundenidentifizierung für die durchzuführende
kontinuierliche Überwachung der Geschäftsbeziehung
(Monitoring) mit herangezogen werden müssen.
Insofern sichern wir die von einer Freistellung nicht
betroffenen Verpflichteten und Spieler von einem Geld-
wäscherisiko ab, indem wir ein doppeltes Sicherheits-
netz aufspannen.
Zunächst verfügt der Spieler bereits über ein Zah-
lungskonto, welches ihn identifiziert und verifiziert.
Zahlungskonten sind, soweit sie bei Kreditinstituten in
Deutschland geführt werden, einer erfahrungsgemäß zu-
friedenstellenden Überwachung unterworfen.
Zudem erfolgt unmittelbar nach Übersendung der
Kopie des Personalausweises an den Verpflichteten ein
Identifizierungs- und Verifizierungsprozess, der bereits
weitläufig angewendet und erprobt ist und keinerlei Un-
sicherheiten über die Identität des Spielers offenlässt.
Seit Inkrafttreten des Geldwäschegesetzes sind laut
der bei der im Bundeskriminalamt, BKA, angesiedelten
Financial Intelligence Unit, FIU, in Deutschland im Jahr
2011 12 868 Verdachtsanzeigen eingegangen. Das ist ein
neuer Höchststand seit Inkrafttreten des Gesetzes 1993.
Dass sich dieser Trend auch 2012 fortsetzen könnte,
lassen die im ersten Halbjahr 2012 eingegangenen
6 798 Verdachtsanzeigen erwarten, ein Anstieg von circa
5 Prozent gegenüber dem vergleichbaren Vorjahreszeit-
raum.
Wir sehen also, wir sind auf einem guten Wege. Nun
werden wir diesen Weg auch für den Onlineglücksspiel-
sektor vorzeichnen. Wir wollen gemeinsam verhindern,
dass Geld von illegaler Herkunft durch Transaktionen
über mehrere Spielerkonten und Konten der Betreiber
gewaschen werden kann. Die Illegalität muss bestmög-
lich unterbunden werden, da gerade in der Glücksspiel-
branche hohe Risiken der Geldwäsche bestehen.
Wir setzen uns mit aller Kraft dafür ein, dass auch für
den Onlineglücksspielsektor mit dem richtigen regula-
tiven Rahmen ein Weg gezeichnet wird, der Geldwäsche
in Deutschland die Stirn bieten wird.
Richard Pitterle (DIE LINKE): Die Fraktion Die
Linke begrüßt die Schließung einer wesentlichen Lücke
für die Verhinderung von Geldwäsche durch die Einbe-
ziehung von Glücksspielen im Internet. Doch sind die
daraus resultierenden praktischen Auswirkungen über-
schaubar, denn es existiert kaum ein lizensierter und re-
gulierter deutscher Onlineglücksspielmarkt, was wir
auch nicht bedauern. Das Onlineglücksspiel findet fast
ausschließlich im illegalen Bereich statt. Da sich daran
auch nach Meinung von Sachverständigen in der Anhö-
rung vom 22. Oktober 2012 aufgrund der vorhandenen
Angebots- und Nachfragestrukturen in Zukunft kaum et-
was ändern wird, ist eine Reduzierung der Geldwäsche
bei Onlineglücksspielen kaum zu erwarten.
Allerdings bleibt ein zentraler Ort für Geldwäsche
weiter außen vor: Die Spielhallen und Spielotheken. Die
Ausschüsse des Bundesrates haben in ihren Empfehlun-
gen vom 11. September 2012 die Einbeziehung der
Spielhallen in das Geldwäscheergänzungsgesetz befür-
wortet, jedoch dabei übersehen, dass bei der letzten Fö-
deralismusreform die Zuständigkeit an die Länder abge-
geben wurde. Als Maßnahmenkatalog verwiesen sie
analog auf die Instrumente der Bundesanstalt für Finanz-
dienstleistungsaufsicht (BaFin) im Rahmen der geldwä-
scherechtlichen Aufsicht gemäß § 25 c Abs. 4 Kreditwe-
sengesetz. Aufgrund der hohen Bargeldeinsätze sowie
des großen Umsatzpotenzials der Automatenspielgeräte
in den Spielhallen wäre deren Einbeziehung dringend
geboten gewesen. Die Risikostruktur von Spielhallen
und der Automatenspiele der Spielbanken rechtfertigen
keine unterschiedliche geldwäschepräventive Beurtei-
lung. Die Spielbanken sind Verpflichtete des Geldwä-
schegesetzes mit erhöhten Sorgfaltspflichten, dagegen
werden die Spielhallen dem Geldwäschegesetz weiter
nicht unterliegen. Das offiziell von der Bundesregierung
aufgeführte Gegenargument, dass in vielen Fällen die
Betreiber der Spielhallen selbst die Geldwäscher seien,
steht dem nicht entgegen, sondern den Betreibern der
Spielhallen wären spezifische Maßnahmen zur Geldwä-
scheprävention vorzugeben. Die Berücksichtigung der
Spielhallen allein im Rahmen der Gewerbeordnung
reicht nicht aus.
An das Kernproblem der Geldwäschebekämpfung in
Deutschland traut sich die Bundesregierung auch weiter-
hin nicht heran: die völlig unzureichende Durchführung
der Geldwäscheaufsicht und -kontrollen im Nichtfinanz-
sektor – trotz umfassender Kritik von vielen Seiten, zum
Beispiel des Bundes Deutscher Kriminalbeamter oder
der Financial Action Task Force on Money Laundering,
FATF.
Im Nichtfinanzsektor liegt die Zuständigkeit für die
Aufsicht bei den Bundesländern. Diese gaben sie in vie-
len Ländern an die Kommunen weiter. Mit der Zustän-
digkeit der Länder und Kommunen ging allerdings keine
(wesentliche) finanzielle Unterstützung einher. Darüber
hinaus kommt es bei länderübergreifenden Fällen zu er-
heblichem Abstimmungs- und Koordinierungsaufwand.
Dieser Auffassung ist auch der Bundesrat. Er hat in sei-
ner Stellungnahme vom 21. September 2012 der Bun-
desregierung mitgeteilt, dass die Länder nicht in der
24950 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012
(A) (C)
(D)(B)
Lage sind, das Geldwäschegesetz umzusetzen. Das sind
klare Worte.
Der Bundesrat begründet seine Meinung unter ande-
rem mit einer möglichst einheitlichen und effektiven Vor-
gehensweise und verweist auf Positivbeispiele wie Ban-
kenaufsicht (BaFin) und Zoll. Da der Gesetzgeber die
Aufsichtsbehörden nicht spezifizierte, wurden in den
Bundesländern die Zuständigkeiten unterschiedlich gere-
gelt und verortet. Während einige Länder die Aufsicht auf
ministerieller Ebene beließen, delegierten andere Länder
die Zuständigkeit auf die Mittelinstanzen oder auf die ört-
lichen Ordnungsbehörden. Die Erfassung von länder-
übergreifenden Sachverhalten verursacht einen erhebli-
chen Abstimmungs- und Koordinierungsaufwand. Die
Zersplitterung bei den föderalen Zuständigkeiten führt zu
einer Vervielfachung der vorzuhaltenden Ressourcen und
zu Vollzugsdefiziten. Den Bundesländern wurden zudem
keine hinreichenden Finanzmittel zur Verfügung gestellt.
Eine Sachverständige hat aus der Praxis der Geldwäsche-
prävention überzeugend dargelegt, warum die Geldwä-
scheprävention im Nichtfinanzsektor bisher kaum erfolgt
ist. Es fehlt an allem: Schulungen, Organisationsanwei-
sungen, Fachkenntnissen, Koordination, Vorgaben zur
Auslegung, Kapazitäten, Ressourcen.
Die Linke schlägt eine Zentralisierung der Aufga-
benwahrnehmung durch den Bund vor, zumindest der
Geldwäscheprävention, zum Beispiel Auslegungs- und
Anwendungshinweise, Konzernbezug, Auslandsbezug.
Dass eine Aufsicht auf Bundesebene gut funktionieren
kann, sieht man im Finanzsektor. Seitdem Geldwäsche-
prävention und -bekämpfung der Bankenaufsicht über-
tragen wurde, ist dieser Weg Geldwäschern weitestge-
hend verschlossen. Eine Zentralisierung von Aufgaben
lehnt die Bundesregierung jedoch ab.
Darüber hinaus fehlt immer noch eine Gesamtstrate-
gie, wie die weiter zunehmende Geldwäsche bekämpft
werden kann. Doch die Bundesregierung bleibt ihrer be-
kannten Politik der kleinen Tippelschritte treu. Es werden
lediglich kleine, insgesamt als bescheiden anzusehende
Anpassungen des Geldwäschegesetzes vorgenommen
– allein 2011 wurden in diesem Gebiet drei Gesetze ver-
abschiedet: das Gesetz zur Optimierung der Geldwäsche-
prävention, das Gesetz zur Verbesserung der Bekämp-
fung der Geldwäsche und Steuerhinterziehung und das
Gesetz zur Umsetzung der Zweiten E-Geld-Richtlinie –
und alles nur aufgrund des Drucks aus Europa. So ist es
auch bei diesem Gesetz.
Als Fazit ist festzustellen, dass das Geldwäschegesetz
auch 20 Jahre nach Inkrafttreten nicht umgesetzt wird,
Deutschland weiterhin die EU-Geldwäscherichtlinie ver-
letzt und die FATF-Empfehlungen nicht umsetzt.
Beim letzten Berichterstattergespräch hatte ich den
Eindruck, dass sich alle Berichterstatter einig waren,
dass vor allem im Nichtfinanzsektor hinsichtlich der
Umsetzung des Geldwäschegesetzes weiterhin dringen-
der Handlungsbedarf besteht. Wir waren uns einig, über
das Bundesfinanzministerium die Länder zu bitten, uns
die Daten zu liefern, um uns einen Überblick über den
Vollzug der Geldwäschevorschriften in den Bundeslän-
dern zu verschaffen. Wir sehen, dass auch die Regie-
rungsparteien daran arbeiten wollen, dass Deutschland
seinen Status als Europameister in der Geldwäsche nicht
weiter erfolgreich verteidigt. Daher werden wir Ihren
Gesetzentwurf auch nicht ablehnen, sondern uns enthal-
ten.
Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Das heute vorliegende Geldwäscheergänzungsgesetz be-
trifft nur einen kleinen Bereich im Gesamtkomplex
Geldwäsche. Es ist aber vor allem dieser Gesamtkom-
plex, der mehr Aufmerksamkeit braucht, als er derzeit
bekommt. Genau deswegen hatten wir zur Anhörung zu
diesem Gesetz im Finanzausschuss den italienischen
Staatsanwalt Scarpinato als Sachverständigen benannt,
der sehr eindrücklich den Zusammenhang zwischen
Geldwäsche in Deutschland und Mafiaaktivitäten in Ita-
lien darlegen konnte. Dies ist nur ein Beispiel für die
problematische Auswirkung zu geringer Geldwäsche-
prävention. Denn Geldwäsche macht Wirtschaftskrimi-
nalität, Drogenhandel oder Menschenhandel möglich.
Vor diesem Hintergrund sind wir uns ja auch einig,
dass die Prävention gegen Geldwäsche gestärkt werden
muss und dass das Ausmaß dessen, was in Deutschland
an Geldern gewaschen wird, nicht hinnehmbar ist. Die
Zahlen des Bundeskriminalamts von vergangener Woche
haben dies erneut bestätigt. Vor allem aber ist es proble-
matisch, dass wir feststellen müssen, wenn in diesen Ta-
gen eine Untersuchung des Bundesnachrichtendienstes
zu Geldwäsche in Zypern diskutiert wurde, dass
Deutschland selbst bei den letzten internationalen Über-
prüfungen in vielen Punkten nicht gut dastand. Die Fi-
nancial Action Task Force, die international bei der
OECD gegen Geldwäsche operiert, kam in ihrem
Deutschlandbericht 2010 zu einem erheblich schlechte-
ren Zeugnis, als es Zypern ein Jahr später erhielt. Damit
lässt sich schwer Druck aufbauen. Man könnte die Be-
richte und ihre Kriterien infrage stellen. Dann müsste
man aber auch erklären, warum alle Novellen zur Geld-
wäsche in Deutschland keinen Fingerbreit weitergehen
als das, was von FATF oder EU eingefordert wird. Vor
allem fehlt es in Deutschland nach wie vor an einer Ge-
samtstrategie zur Geldwäsche. Das Abarbeiten interna-
tionaler Kritik selbst ist noch keine Strategie. Es wird
Zeit, dass wir vom Reagieren zum Agieren übergehen.
Dass Deutschland sogar mehrfach von FATF und EU
wegen der mangelhaften Geldwäschebekämpfung ange-
mahnt wurde, hatte wiederum oft mit Missständen im
Nichtfinanzbereich zu tun, der im Verantwortungsbe-
reich der Länder liegt. Nicht zuletzt scheinen die perso-
nellen Ressourcen, die der Geldwäscheprävention ge-
widmet werden, zu gering zu sein. Ein Schwerpunkt
unserer Arbeit bei den Ausschussberatungen war des-
halb erneut, die Umsetzung der bestehenden Normen der
Geldwäscheprävention zu thematisieren. Deutschland
hat seit 1993 die EU-Normen nicht umgesetzt, und noch
immer bestehen massive Defizite in der Umsetzung. Zu-
letzt hat eine Studie im Auftrag des Bundeskriminalam-
tes zur Geldwäschethematik im Immobiliensektor dies
deutlich gemacht.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012 24951
(A) (C)
(D)(B)
Ich bin sehr dankbar, dass wir gemeinsam einen Im-
puls geben, diese Defizite systematisch zu überwinden,
indem wir als Berichterstatter aller Fraktionen gemein-
sam deutlich gemacht haben, dass in Bezug auf die Um-
setzung des Geldwäschegesetzes insbesondere im Nicht-
finanzsektor weiterhin dringender Handlungsbedarf
besteht. Dies hatte ja auch der Bundesrat in seiner Stel-
lungnahme zum vorliegenden Gesetz hervorgehoben.
Zweckmäßig ist dafür ein aussagekräftiges Benchmar-
king. Wir haben uns deshalb im Finanzausschuss darauf
verständigt, das Bundesministerium der Finanzen und
die Regierungen der Länder zu bitten, vorhandene Ver-
gleichszahlen zum Vollzug der Geldwäschenormen in
den Ländern noch in diesem Jahr zu veröffentlichen.
Dazu gehören etwa Personalaufwand in Vollzeitäquiva-
lenten, Information von Verpflichteten, durchgeführte
Kontrollen, insgesamt bearbeitete Fälle, Verdachtsanzei-
gen von Verpflichteten, Beanstandungen und Ordnungs-
maßnahmen gegen Verpflichtete etc. Soweit die für ein
aussagekräftiges Benchmarking notwendigen Vergleichs-
zahlen heute noch nicht vorliegen, wird gebeten, diese
zeitnah zu erheben und zu veröffentlichen.
Sinnvollerweise schließt der vorliegende Gesetzent-
wurf mit dem Online-Glücksspielmarkt eine Lücke in
der bisherigen Geldwäschegesetzgebung. Es wurde da-
bei viel um Sorgfaltspflichten gerungen, was durch die
Kombination von Non-face-to-face-Geschäften mit elek-
tronischen Zahlungsmitteln eine schwierige Aufgabe
bleibt, die uns weiter ständig beschäftigen wird. Das Ge-
setz beinhaltet daher eine Rechtsverordnungsermäch-
tigung, um auf den schnellen Wandel von Kundenan-
nahmeprozessen reagieren zu können. Die Diskussion
bestätigt, wie wichtig es war, dass die Berichterstatter
bei der letzten Novelle fraktionsübergreifend eine Eva-
luation der informationstechnischen Aspekte vereinbart
haben. Es wird nicht nur die zuständigen Behörden, son-
dern auch uns als Parlament weiter in Anspruch nehmen,
wenn wir Geldwäscheprävention, zeitgemäße Geschäfts-
abwicklung und Datenschutz in ein stabiles Gleichge-
wicht bringen wollen. Beim Onlineglücksspiel kommt
selbstverständlich die Suchtprävention hinzu. Als Finanz-
ausschussmitglieder stehen wir vor der Herausforde-
rung, diese Aspekte stets mit zu berücksichtigen.
Im aktuellen Gesetzgebungsprozess wurde keine
rechtlich wasserdichte Lösung für das Geldwäscherisiko
der Spielhallen gefunden, die als allgemein befriedigend
empfunden wird. Der im Referentenentwurf des Bundes-
ministeriums der Finanzen vorgeschlagene Paragraf zur
geldwäscherechtlichen Aufsicht über Spielhallen wurde
laut Bundesregierung aus verfassungsrechtlichen Grün-
den fallen gelassen, da ein Eingriff in Länderkompeten-
zen vorliege und außerdem die Kompetenzen der Phy-
sikalisch-Technischen Bundesanstalt ausgehöhlt werden
würden. Die Tatsache, dass der Finanzausschuss des
Bundesrats den vorgeschlagenen Paragrafen jedoch befür-
wortete, sollte als Anlass genommen werden, schnellst-
möglich eine wirksame Lösung zu erarbeiten. Auch hier
müssen Bund und Länder koordiniert von den gesetz-
lichen Grundlagen bis zu einem praktikablen Vollzug zu-
sammenarbeiten. Der Verweis auf Gesetzgebungskom-
petenzen der Länder ist noch lange keine Lösung des
Problems. Vor allem aber reicht der Verweis auf den
neuen Entwurf der Spielverordnung nicht aus. Zum ei-
nen liegt uns dieser Entwurf nicht vor. Ich weiß also
nicht, ob er die Problematik der Zulassung manipulier-
barer Geräte und manipulierbaren Zubehörs wirklich
löst. Zum anderen reicht der Fokus auf die Geräte allein
nicht aus. Notwendig sind deswegen, wenn die bundes-
gesetzliche Regelung nicht funktioniert, landesgesetz-
liche Regelungen.
Vor diesem Hintergrund werden wir uns enthalten.
Wir stellen uns darauf ein, dass schon bald die nächste
Gesetzgebung im Geldwäschebereich kommen wird.
Insbesondere werden die Defizite im Immobilienbereich
anzugehen sein.
Anlage 7
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Zweiten Ge-
setzes zur Änderung des Energiesteuer- und des
Stromsteuergesetzes (Tagesordnungspunkt 18)
Norbert Schindler (CDU/CSU): In zweiter und drit-
ter Lesung wird heute der Gesetzentwurf der Bundes-
regierung zur Änderung des Energiesteuer- und Strom-
steuergesetzes abschließend beraten.
Lassen Sie mich vorab noch einmal betonen, wie
zwingend notwendig es war, eine Nachfolgeregelung für
die bestehenden Steuerbegünstigungen für Unternehmen
des produzierenden Gewerbes einzuführen, um einem
ersatzlosen Wegfall ab dem 1. Januar 2013 zuvorzukom-
men. Der bisherige Spitzenausgleich, der im Rahmen der
ökologischen Steuerreform über die Parteigrenzen hin-
weg eingeführt worden war, ist von der EU-Kommission
beihilferechtlich nämlich nur bis 31. Dezember 2012 ge-
nehmigt.
Mit diesem Gesetzentwurf wird eine vernünftige und
tragfähige Nachfolgeregelung eingeführt, die den in
Deutschland energieintensiv produzierenden Unterneh-
men ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit erhält. Ge-
mäß der Vorgaben der Europäischen Kommission war
eine Eins-zu-Eins-Fortführung der steuerlichen Regelun-
gen nur in Verbindung mit Energieeffizienzsteigerung
möglich, was ich auch einhellig begrüße. Schlussendlich
konnten wir damit sowohl den Kreis der Begünstigten
als auch das Gesamtentlastungsvolumen erhalten.
Zwei Ziele galt es bei der Gesetzgebung im Auge zu
behalten, um auch die Notifizierung bei der Kommission
zu gewährleisten: Erstens das Ziel, das produzierende
Gewerbe von einem Teil der Strom- und Energiesteuer-
erhöhungen im Rahmen der ökologischen Steuerreform
zu entlasten. Zweitens das Ziel, die Unternehmen des
produzierenden Gewerbes entsprechend der Vorgaben
aus dem Energiekonzept der Bundesregierung zu ver-
pflichten, einen größeren Beitrag zu Energieeinsparun-
gen zu leisten.
In der Umsetzung haben wir nun festgelegt, dass die
Gewährung des Spitzenausgleichs nur noch dann mög-
lich ist, wenn die Unternehmen Energiemanagement-
24952 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012
(A) (C)
(D)(B)
oder Umweltmanagementsysteme betreiben und mit die-
sen nachweisen können, dass sie jährlich festgeschrie-
bene Mindesteffizienzziele einhalten. Gleichzeitig wird
der Geltungszeitraum dieser Nachfolgeregelung für den
sogenannten Spitzenausgleich ab dem 1. Januar 2013 auf
einen Zeitraum von zehn Jahren erweitert, was wir sehr
begrüßen. Somit ergibt sich für die betroffenen Unter-
nehmen Planungssicherheit in Bezug auf die Steuerent-
lastung, aber auch auf die Kosten für Implementierung
und Überwachung von Energie- und/oder Umweltma-
nagementsystemen.
Lassen Sie mich in einem kurzen Exkurs noch einmal
auf die grundsätzliche Notwendigkeit der Entlastung der
Unternehmen des produzierenden Gewerbes von der
Energie- und Stromsteuer zurückkommen. Als die
Steuer 1999, damals noch Ökosteuer (welch schönes
Wort) genannt, von der rot-grünen Regierung eingeführt
wurde, hatte diese schon damals ein Einsehen, dass die
rund 25 000 energieintensiven Unternehmen in Deutsch-
land eine Befreiung von dieser Steuer benötigen. Schon
damals wurde eine Ökosteuerbefreiung bzw. -ermäßi-
gung eingeführt. Wenn Rot, Grün und Links uns heute
vorwerfen, die deutsche Industrie würde mit dem Spit-
zenausgleich subventioniert, so entbehrt das jeder
Grundlage. Es geht hier um nicht weniger als um den Er-
halt der internationalen Wettbewerbsfähigkeit energiein-
tensiv produzierender Unternehmen in Deutschland.
Anders als bei der von Rot-Grün eingeführten Vor-
gängerregelung werden nun die Unternehmen, die einen
Spitzenausgleich haben wollen, stark an die Kandare ge-
nommen. Die zu erreichenden Zielwerte der jährlichen
Reduzierung des Energieverbrauchs für die Antragsjahre
2015 bis 2017 belaufen sich auf jeweils 1,3 Prozent, da-
nach auf jährlich 1,35 Prozent, was ambitioniert ist und
sich von der „alten“ Regelung maßgeblich unterscheidet;
denn nun sind die Unternehmen gezwungen, Systeme
zur Verbesserung der Energieeffizienz einzuführen und
diese entsprechend nachzuweisen.
Gleichzeitig sind diese Zielwerte Grundlage für die
beihilferechtliche Genehmigung durch die Europäische
Kommissio bzw. für die Notifizierung bei der Europäi-
schen Kommission. Abweichend vom Gesetzentwurf
der Bundesregierung haben die Koalitionsfraktionen der
CDU/CSU und FDP mit dem Änderungsantrag zur Fort-
schreibung der Zielwerte für die zu erreichende Reduzie-
rung der Energieintensität für die Jahre 2019 bis 2022
diese Zielwerte über das Antragsjahr 2018 hinaus auch
für die Antragsjahre 2019 bis 2022 bereits jetzt gesetz-
lich fixiert. Damit kann die Prüfung für die oben angege-
bene Genehmigung schon für die gesamte Laufzeit von
zehn Jahren erfolgen. Es bleibt jedoch weiterhin bei der
Überprüfung der Zielwerte im Jahr 2017 im Rahmen ei-
ner Evaluation.
Um kleinere und mittlere Unternehmen nicht über
Gebühr zu belasten, sollen für diese die Möglichkeit be-
stehen, alternative, kostengünstigere Systemen zur Ver-
besserung der Energieeffizienz einführen zu können.
Hierzu bedarf es einer praktikablen Lösung für den deut-
schen Mittelstand, die jedoch hier im Energiesteuer- und
Stromsteuergesetz nicht fixiert werden kann. Eine ent-
sprechende, in Arbeit befindliche Rechtsverordnung des
Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie soll
demnächst in Kraft treten; für eine zeitnahe Umsetzung
im Sinne des deutschen Mittelstandes mache ich mich
hier noch einmal stark. Die kleinen und mittleren Unter-
nehmen müssen bald den Aufwand für die Implemen-
tierung und das Betreiben der oben angegebenen Über-
wachungssysteme berechnen können, um über eine
mögliche Inanspruchnahme des Spitzenausgleichs ent-
scheiden zu können.
Mit der Branchenlösung, die gerade auch auf die klei-
nen und mittleren Unternehmen zugeschnitten ist, wer-
den auch die Unternehmen berücksichtigt, die sich
– auch aus wirtschaftlichen Gründen – schon in der Ver-
gangenheit um Energieeinsparungen bemüht haben und
zum heutigen Zeitpunkt so gut dastehen, dass weitere
Energieeffizienzsteigerungen auf absehbare Zeit nicht
mehr wirtschaftlich zu stemmen sind. Bei Einzelbetrach-
tung des Unternehmens könnten sie nicht vom Spitzen-
ausgleich profitieren, da sie die geforderte jährliche Ein-
sparung nicht mehr erbringen; mit der Glockenlösung
für ihre Branche sind sie jedoch als Vorreiter in Effi-
zienzfragen mit dabei.
Mit der Nachfolgeregelung für den Spitzenausgleich
wurde ein sinnvoller Ausgleich zwischen Ökologie und
Ökonomie geschaffen, und die Wettbewerbsfähigkeit
auch der kleinen und mittleren Unternehmen kann so ge-
sichert werden. Gerade in meinem Wahlkreis, im Grenz-
gebiet zu Frankreich gelegen, machen die circa 2 Cent
Stromsteuer pro Kilowattstunde zahlen oder nicht zahlen
einen großen Unterschied. Eine Zusatzbelastung um die-
sen Betrag für ein auf deutscher Seite gelegenes Unter-
nehmen, das ein Großverbraucher ist – und um die geht
es hier ja –, führt dazu, dass sich dieses dem grenzüber-
schreitenden Wettbewerb nicht mehr stellen kann. Denn
neben den nicht existierenden oder niedrigen Stromsteu-
ern in den Nachbarländern sind gerade in Frankreich die
Strompreise deutlich niedriger als bei uns und auch nicht
mit einer EEG-Umlage belastet. Aber das ist nicht das
heutige Thema, auch wenn es dazu viel zu sagen gäbe.
Neben den Regelungen zum „neuen“ Spitzenaus-
gleich haben wir weitere Änderungen am Energiesteuer-
und Stromsteuergesetz vorgenommen. Ein wichtiger
Punkt ist die Steuerentlastung für die Stromerzeugung
und die gekoppelte Erzeugung von Kraft und Wärme,
KWK-Anlagen. Die Auszahlung der Steuerentlastung
war seit 1. April 2012 eingestellt, da sich die beihilfe-
rechtlichen Vorschriften des Unionsrechts geändert hat-
ten und eine Fortführung im vorherigen Maße nicht
mehr möglich war. Nach der Neuregelung kann die Aus-
zahlung auch rückwirkend bis April 2012 vorgenommen
werden. Die Steuerentlastung kann aber nur bis zum
möglichen Auslaufen der Genehmigung durch die Euro-
päische Kommission, die neue Kriterien dafür festlegt,
erfolgen.
Darüber hinaus wird nun im Gesetzentwurf eine Re-
gelung zur Steuerbefreiung von verflüssigtem Erdgas, li-
quefied natural gas – LNG, für die gewerbliche Schiff-
fahrt getroffen. Da der Einsatz von verflüssigtem Erdgas
als Kraftstoff für die Schifffahrt aufgrund umweltpoliti-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012 24953
(A) (C)
(D)(B)
scher Aspekte weltweit an Bedeutung gewinnt – im Ver-
gleich zu herkömmlichem Schweröl lassen sich mit ver-
flüssigtem Erdgas die Schwefel- und Partikel-
Emissionen sowie der Stickoxidausstoß signifikant ver-
ringern –, wurde der Kreis der Energieerzeugnisse, die
steuerfrei in Wasserfahrzeugen für die gewerbliche
Schifffahrt verwendet werden dürfen, deshalb auf ver-
flüssigtes Erdgas ausgedehnt. Damit sollen insbesondere
Wettbewerbsnachteile gegenüber den bestehenden Ver-
sorgungsmöglichkeiten mit steuerfreiem Flüssigerdgas
in anderen EU-Mitgliedstaaten vermieden werden.
Lassen Sie mich als letzten Punkt noch auf die Erwei-
terung des Gesetzentwurfes um die Änderungen des
Luftverkehrsteuergesetzes eingehen: Natürlich räume
ich ein, dass durch die Erweiterung der zu regelnden Tat-
bestände im Luftverkehrsteuergesetz die Verabschie-
dung des Zweiten Gesetzes zur Änderung des Energie-
steuer- und Stromsteuergesetzes verzögert worden ist.
Da jedoch im Hinblick auf das Inkrafttreten des Luftver-
kehrsteuergesetzes zum 1. Januar 2013 kein eigenständi-
ger Gesetzentwurf mehr eingebracht werden konnte, war
eine Ergänzung des vorliegenden Gesetzentwurfes not-
wendig geworden. Die Entscheidung der Opposition, ein
weiteres Fachgespräch zu verlangen, hat den Gesetzge-
bungsprozess nun aber auch nicht gerade beschleunigt.
Aber sei’s drum, das Ergebnis ist dafür aus meiner Sicht
hochgradig zufriedenstellend.
Mit der Anpassung des Luftverkehrsteuergesetzes
werden die abgesenkten Steuersätze bei der Luftverkehr-
steuer, die sich aus der Einbeziehung des Luftverkehrs in
den europäischen Emissionshandel ergeben, dauerhaft
fortgeführt. Die Anpassung ist deshalb notwendig, da im
ersten Halbjahr 2012 keine Versteigerung von CO2-Zer-
tifikaten stattgefunden hat, auf deren Grundlage die
Steuersätze berechnet werden können. Damit wurde eine
vom Gesetzgeber nicht gewollte Erhöhung der Gesamt-
belastung der Luftfahrtunternehmen vermieden und
diese bei etwa 1 Milliarde Euro im Jahr 2013 gedeckelt.
Sicherlich lässt sich über den grundsätzlichen Sinn
und die Wirkung der Luftverkehrsteuer trefflich streiten,
so wie dies auch im Fachgespräch am letzten Montag
passiert ist. Dabei ist zu konstatieren, dass die Änderun-
gen den Umweltverbänden nicht weit genug gehen. Ih-
nen wäre eine höhere Luftverkehrsteuer deutlich lieber,
um damit eine größere Steuerungswirkung zu entfalten.
Dies wäre im innerdeutschen Bereich der Umstieg auf
die Bahn und im internationalen ein möglicher Verzicht
auf Flugreisen und damit einhergehend auch eine Redu-
zierung der Flugbewegungen in Deutschland. Die Luft-
verkehrsunternehmen fühlen sich durch die Luftverkehr-
steuer über Gebühr belastet und plädieren auf eine
Reduzierung bzw. Abschaffung.
Im Lichte dieser Anhörung und der diametral gegen-
sätzlichen Positionen kann ich nur feststellen: Die Ände-
rungen im Luftverkehrsteuergesetz sind genauso ausge-
wogen und vernünftig wie die im Energiesteuer- und
Stromsteuergesetz. Auch hier stehen die Maßnahmen im
Einklang mit der Nachhaltigkeitsstrategie der Bundes-
regierung und der Europäischen Union, indem sie
Anreize zu einem weniger extensiven Umgang mit Ener-
gieressourcen bieten. Und auch hier ist uns ein ausgewo-
gener und gelungener Schritt zum Erhalt der internatio-
nalen Wettbewerbsfähigkeit gelungen.
Sabine Bätzing-Lichtenthäler (SPD): Zum Ende
einer Legislaturperiode wird im Parlament manches un-
erfreulich. Die Regierung verabschiedet sich endgültig
von all den großen Vorhaben, die sie mal im Koalitions-
vertrag vereinbart hatte. Erinnern sich die Koalitionäre
noch an den großen Wurf, mit dem sie das Chaos bei den
ermäßigten Mehrwertsteuersätzen beseitigen wollten?
Gegen eigene Überzeugungen, sowohl haushalteri-
scher, als auch inhaltlicher Natur werden nun noch ein
paar Steuergeschenke gemacht. Diesmal nicht nur an die
eigene Klientel als Dankeschön, sondern an möglichst
viele Menschen in der Hoffnung, dass dies die ein oder
andere Wählerstimme mehr bringt.
Aber auch für uns in der Opposition wird es ungemüt-
lich. In der Vergangenheit haben wir uns zwar auch nur
über, nicht mit dieser Regierung amüsiert, aber jetzt will
sie plötzlich die Versäumnisse der letzten Jahre nachho-
len und noch schnell ganz ganz viel durchdrücken. Sie
wählt dabei Verfahren, die eine ordentliche parlamenta-
rische Prüfung unmöglich machen. Bei dieser Regierung
muss man leider inzwischen davon ausgehen, dass sie so
etwas auch ausnutzt.
Wohl oder übel machen wir in der Opposition das
Verfahren mit. Was bleibt uns anderes übrig? Wir könn-
ten beleidigt nicht mehr mitarbeiten. Oder wir können,
wie es unsere Aufgabe ist, die inhaltlichen Fehler und
die Fehler im System benennen und auf den mündigen
Wähler zählen.
Meine Damen und Herren von Schwarz-Gelb, eine
mündige Wählerin, ein mündiger Wähler kann Sie doch
nicht mehr ernsthaft wählen. Das Verfahren beim Jahres-
steuergesetz 2013 und beim Verkehrsteueränderungsge-
setz waren schlimm genug, aber hier mit dem Verfahren
zum Energiesteuer- und Stromsteuergesetz setzen Sie
dem ganzen doch die Krone auf. Oder wollen Sie das
etwa in Zukunft noch mal steigern?
An Ihrem eigentlichen Gesetzentwurf gab es bereits
genug Kritik. Zum Beispiel die, dass er mit dem ersten
fachlichen Referentenentwurf aus dem Bundesfinanz-
ministerium nichts mehr gemeinsam hatte. Warum ist
dieser erste Entwurf eigentlich verschwunden? Konnten
Sie dem Druck der Wirtschaft nicht standhalten? Umso
glücklicher war die Wirtschaft bestimmt, als die Bundes-
regierung ihr vertraglich zugesichert hat, dass es so
schlimm nicht werden würde, sondern dass sich die
Wirtschaft auf moderate Einsparforderungen verlassen
könne und – falls politisch mal anders regiert würde –
der Vertrag ja eine gute Basis für Schadenersatzansprü-
che darstellen würde.
Glücklich war die Wirtschaft auch, als die Glockenlö-
sung beschlossen wurde und als klar war, dass die Ein-
sparungen an Energieeffizienz, die mit 1,3 Prozent jähr-
lich erwartet werden, von selbst eintreten würden, ohne
eigene Anstrengung der Wirtschaft. Es ist wirklich
24954 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012
(A) (C)
(D)(B)
schade, dass man dem Gesetz als verantwortungsvolle
Politikerin einfach nicht zustimmen kann.
Den Spitzenausgleich für energieintensive Wirt-
schaftsunternehmen wollen wir nämlich. Energiema-
nagementsysteme und Energieeffizienzsteigerung als
Gegenleistung für den Spitzenausgleich sind richtig. Die
Umsetzung, gemessen an den Energiesparzielen, ist aber
mangelhaft bis ungenügend.
Aber richtig schlimm wird es dann erst bei den Ände-
rungsanträgen, die uns die Regierungskoalition vorlegt.
Dass die Luftverkehrssteueränderung aus Zeitgründen
mit ins Gesetz gezogen wird, mag man noch verstehen.
Inhaltlich ist der Entwurf jedoch Mist. Die Deckelung
der Einnahmen auf 1 Milliarde Euro ist pure Klientel-
politik. Oder machen wir das in anderen Bereichen jetzt
auch so? Die Einnahmen aus der Mineralölsteuer könnte
man doch auch deckeln, oder?
Wenn man das verkürzte Verfahren bei der Luftver-
kehrsteuer akzeptiert, müsste man das nicht auch bei den
Änderungen zur Kraft-Wärme-Koppelung tun? Das Ge-
setz ist ohne Zweifel eilbedürftig. Der Clou liegt jedoch
im Detail. Dass das Gesetz eilbedürftig ist, hat nämlich
die schwarz-gelbe Bundesregierung zu verantworten, die
sehr spät bei der EU den Antrag auf Verlängerung der
Beihilfe gestellt hat. Der EU einen Knochen hinzuhalten
und ihr zu sagen: „Nun spring aber bitte jetzt“, funktio-
niert eben nicht. Die EU prüft in ihrem eigenen Rhyth-
mus, und die Bundesregierung muss das auch wissen.
Dass die Steuerbeihilfe für Kraft-Wärme-Koppelung
seit März ohne beihilferechtliche Genehmigung im Ge-
setz steht, ist die Schuld der Bundesregierung. Vor die-
sem Hintergrund versteht man jetzt natürlich, dass Sie
von der Koalition die Neuregelung nach erteilter Beihil-
fegenehmigung schnellstens auf den Weg bringen wol-
len. Und man kann Ihnen auch fast verzeihen, dass Sie
den Antrag erst in der Woche der Beratung vorlegt. Im
Vergleich zur letzten Sitzungswoche, wo über 30 Ände-
rungsanträge erst am Dienstag um 20 Uhr vorlagen und
andere erst Minuten vor Beginn der Ausschusssitzung,
ist das ja auch fast geruhsam.
Nicht nachgesehen werden kann Ihnen aber der Än-
derungsantrag zur Fortschreibung der Zielwerte. Er
wurde am Tag vor der Beratung dem Ausschuss über-
reicht. Das war nach den Sitzungen der Arbeitsgruppen,
die darüber beraten wollen und sollen. In diesem Fall ist
das Verfahren aber noch die kleinere Unverschämtheit.
Denn es geht Ihnen nicht um zeitliche Eilbedürftigkeit,
sondern darum, durch die Hintertür und ohne großes
Aufsehen die Wirtschaft noch besser abzusichern.
Ich würde, wenn ich nicht per se gegen jede Art von
Glücksspiel wäre, Ihnen eine Wette anbieten. Ich würde
wetten, dass die Wirtschaft nach dem Fachgespräch zum
Energiesteuer- und Stromsteuergesetz noch einmal auf
Sie zugekommen ist. Denn wir hatten es in der Anhö-
rung gewagt, die Möglichkeit anzudeuten, dass nach ei-
nem Regierungswechsel die Energieeffizienzeinsparun-
gen hinsichtlich der Höhe noch einmal überprüft werden
könnten. Das muss wohl so sauer aufgestoßen sein, dass
die Wirtschaft die Regierung gebeten hat, sie möge dann
doch – Evaluierung 2017 hin oder her – lieber die Stei-
gerungswerte bis 2022 festlegen. Sicher sei sicher.
Ich müsste garantiert kein Fortuna-Düsseldorf-T-Shirt
anziehen. Die Wette gewänne ich nämlich. Die Evaluie-
rung wird dadurch fast eine solche Farce, wie Ihr gesam-
tes Gesetzgebungsverfahren es ist.
Dr. Birgit Reinemund (FDP): Die EU-beihilferecht-
liche Genehmigung des Spitzenausgleichs im Energie-
und Stromsteuergesetz läuft am 31. Dezember 2012 aus.
Um unseren energieintensiven produzierenden Unter-
nehmen ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit und
damit Arbeitsplätze in Deutschland zu erhalten, besteht
dringender Handlungsbedarf, um die Fortführung zum
Jahreswechsel zu gewährleisten. Gemäß EU-Kommis-
sion ist die beihilferechtliche Genehmigung nur noch in
Verbindung mit dem Nachweis von Energieeffizienzstei-
gerung möglich.
Nach langen konstruktiven Gesprächen mit allen Be-
teiligten beschließen wir heute eine sowohl für unseren
Wirtschaftsstandort Deutschland als auch für die Be-
lange der Umwelt gute und praktikable Lösung. Die
steuerlichen Regelungen der bisherige Spitzenaus-
gleich, die ja erst 2010 abgesenkt wurden, werden eins
zu eins fortgeführt: sowohl der Kreis der Begünstigten
als auch das Gesamtentlastungsvolumen in Höhe von
rund 2,3 Milliarden Euro bleiben gleich.
Damit die beihilferechtlichen Voraussetzungen von
der Europäischen Kommission bereits jetzt für insge-
samt zehn Jahre abschließend geprüft werden können,
schreiben wir die Zielwerttabelle bis 2022 fort. Damit
schaffen wir Rechts- und Planungssicherheit für die Un-
ternehmen. Eine eventuelle Verschärfung der Effizienz-
ziele nach der Evaluation 2017 bleibt dennoch jederzeit
möglich.
Mit diesem Gesetzentwurf werden wir die Wettbe-
werbsfähigkeit von rund 25 000 energieintensiven Un-
ternehmen in Deutschland sicherstellen und gleichzeitig
diesen Unternehmen Anreize geben, ihren Energiebedarf
effizient zu gestalten. Solange wir die europaweit und
international überdurchschnittlichen Belastungen durch
die Ökosteuer haben, so lange brauchen wir die Entlas-
tung durch den Spitzenausgleich. Die Industriestrom-
preise in Deutschland bewegen sich im internationalen
Vergleich am oberen Ende. Zusätzlich wird die Wettbe-
werbsfähigkeit unserer Unternehmen durch die EEG-
Umlage und den Zertifikatenhandel weiter geschwächt.
Der durchschnittliche Strompreis im Jahr 2011 lag in
Deutschland ohne Berücksichtigung von Abgaben und
Steuern um 10 Prozent höher als im Mittel der EU. Unter
Mitberücksichtigung von Abgaben und Steuern ist der
Strompreis in Deutschland um 38 Prozent höher als im
EU-Durchschnitt. Der Industriestrompreis liegt in Deutsch-
land bei 12 Cent pro Kilowattstunde, im Vereinigten Kö-
nigreich hingegen wurden weniger als 10 Cent pro Kilo-
wattstunde fällig. Noch geringere Kosten haben die
Unternehmen in Frankreich, wo der Strompreis bei etwa
8 Cent pro Kilowattstunde beträgt und somit rund ein
Drittel unter dem deutschen Strompreis liegt.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012 24955
(A) (C)
(D)(B)
Die Fortführung des Spitzenausgleiches bei der
Stromsteuer ist daher notwendig, um die internationale
Wettbewerbsfähigkeit des Industriestandorts Deutsch-
land mit seinen 600 000 direkten Arbeitsplätzen und ins-
gesamt 2,5 Millionen Arbeitsplätzen in der Wertschöp-
fungskette nicht zu gefährden.
Mit der Weiterführung des Spitzenausgleichs handeln
wir im Sinne der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
wie im Sinne der Unternehmen. Sie ist ein Gebot des so-
zialen Friedens und der volkswirtschaftlichen Vernunft.
Um dem EU-Beihilferecht zu genügen und weil es
ökologisch richtig ist, setzen wir Anreize für Unterneh-
men zu einem effizienten Energieverbrauch. Den Spit-
zenausgleich gibt es nicht zum Nulltarif. Die betroffenen
Unternehmen des Produzierenden Gewerbes müssen
– wenn sie vom Spitzenausgleich profitieren wollen –
Energie- und Umweltmanagementsysteme nach deut-
lich anspruchsvollerer DIN-Norm einführen und die Ver-
besserung der Energieeffizienz nachweisen. Um auch
kleinen und mittleren Unternehmen die Möglichkeit zu
eröffnen, vom Spitzenausgleich zu profitieren, werden
von ihnen weniger kostenintensive alternative Manage-
mentsysteme gefordert. Das war uns Liberalen ein gro-
ßes Anliegen. Eine Überforderung wäre für viele kleine
und mittlere Unternehmen existenzgefährdend. Auch die
dreijährige Übergangsfrist ist eine vernünftige Zeit-
spanne für solche kosten- und arbeitsintensive Einfüh-
rungsphasen von Energie- oder Umweltmanagementsys-
temen.
Die Übergangsregelung ist auch deshalb notwendig,
um die bisher nicht flächendeckend bestehende Infra-
struktur für die Bereitstellung der Gutachter sowie die
Zertifizierung aufzubauen.
Stellen Unternehmen in den Jahren 2013 und 2014
Anträge, um den Spitzenausgleich zu erhalten, müssen
sie nachweisen, dass sie mit der Einführung eines Ener-
giemanagementsystems, EMS, begonnen haben.
Ab dem Antragsjahr 2015 muss das EMS vollständig
implementiert sein. Zusätzlich müssen die Unternehmen
ambitionierte Effizienzziele von 1,3 Prozent in 2013 und
von 1,35 Prozent pro Jahr ab 2016 erreichen.
Wie ambitioniert die definierten Mindesteffizienz-
ziele sind, war durchaus strittig unter den Experten. Ein
Gutachten der Energy Environment Forecast Analysis,
EEFA, vom April 2012 kommt zum Ergebnis, dass Un-
ternehmen bei den jetzigen Vorgaben ihre Effizienz-
anstrengungen künftig verdreifachen müssen. In der Zeit
zwischen 2010 und 2020, so das Gutachten, würde die
Energieeffizienz der Industrie als Ganzes im „business
as usual“-Szenario lediglich mit einer durchschnittlichen
Rate von 0,41 Prozent pro anno zunehmen.
Den Grünen ist das dennoch nicht genug. So drohte
Frau Paus offen im Finanzausschuss, den Spitzenaus-
gleich bei einem eventuellen Regierungswechsel sofort
abzuschaffen. Unglaublich! Damit nimmt sie billigend
in Kauf, dass deutsche Unternehmen ins Ausland ab-
wandern. Ein solches Risiko für die Arbeitsplätze in die-
sem Land wollte seinerzeit nicht einmal Herr Trittin ein-
gehen.
Ein weiterer Bestandteil des Gesetzentwurfs betrifft
die KWK-Anlagen.
Die bislang vollständige Steuerentlastung für KWK-
Anlagen wurde von der Europäischen Kommission nur
bis 31. März 2012 genehmigt. Ausdrücklich begrüße ich,
dass es gelungen ist, die steuerliche Förderung von
KWK-Anlagen weiter sicherzustellen. Das ist wichtig
vor dem Hintergrund, dass im Zuge der Energiewende
die Bedeutung der KWK-Anlagen deutlich zugenommen
hat. Nach der nun aufgenommenen Regelung können
künftig alle KWK-Anlagen unter den bisherigen Voraus-
setzungen eine Steuerentlastung bis auf die Mindeststeu-
ersätze nach der Energiesteuer-Richtlinie erhalten. Eine
vollständige Steuerentlastung bleibt künftig auf diejeni-
gen KWK-Anlagen beschränkt, die zusätzlich das Hoch-
effizienzkriterium der KWK-Richtlinie erfüllen. Dies
wäre auf die Dauer der steuerlichen Absetzung für Ab-
nutzung beschränkt.
Mit der Anpassung des Luftverkehrssteuergesetzes
schreiben wir die Steuersätze für das Jahr 2013 fort. Na-
türlich gibt es über die Notwendigkeit dieser Abgabe
diametral entgegengesetzte Aussagen. Über Sinn und
Unsinn oder Lenkungswirkung einer solchen Abgabe
lässt sich grundsätzlich diskutieren. Darum geht es heute
jedoch nicht.
Die vorgesehene Fortschreibung der Abgabenstaffe-
lung wurde notwendig, da im ersten Halbjahr 2012 keine
Einnahmen aus der Einbeziehung der Luftverkehrsteuer
in den europäischen Emissionshandel vorhanden waren,
auf deren Grundlage die Steuersätze hätten realistisch
berechnet werden können. Daher werden die Steuersätze
2013 gedeckelt auf dem Niveau von 2012. Und das ist
gut so.
Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Für die Linke
bleibt auch nach der Anhörung festzustellen: Die Fort-
führung des Spitzenausgleichs über das Jahr 2012 hinaus
ist an keine relevante Anstrengung der Industrie ge-
knüpft, die Energieeffizienz zu steigern. Darum lehnen
wir sie ab.
Der – erst ab dem Jahr 2015 – zu erreichende Zielwert
für die Minderung der Energieintensität von 1,3 Prozent
pro Jahr entspricht laut Trendprognose der EU exakt der
ohnehin erwartbaren Effizienzsteigerung. Das BMU
geht in Hauspapieren sogar von 1,6 bis 1,8 Prozent aus!
Die Regelung ist also nichts anderes als ein Geschenk an
die Wirtschaft.
Im Übrigen wurde in der Anhörung ja deutlich, dass
bei der Berechnung des Energieeffizienzindikators auch
die Energieversorgungsunternehmen einbezogen wer-
den. Das DIW machte klar, dass durch den Ersatz von
fossilen und Kernbrennstoffen durch Solar- oder Wind-
energie statistisch große Effizienzverbesserungen vorge-
gaukelt werden, ohne dass bei der Industrie tatsächlich
etwas passiert. Denn die alten Brennstoffe weisen in der
Umwandlung Effizienzverluste von 45 bis 70 Prozent
auf, für die Erzeugung von CO2-freiem Ökostrom dage-
gen wird für diesen Zweck statistisch eine Effizienz von
100 Prozent unterstellt.
24956 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012
(A) (C)
(D)(B)
Zudem werden in der Vorgabe keine individuellen
Einzelnachweise der Unternehmen über erzielte Ener-
gieeinsparungen verlangt. Das wurde ja auf Druck des
Bundeswirtschaftsministeriums aus dem Gesetzentwurf
gestrichen. Den Nachweis muss nun nur noch der Wirt-
schaftszweig insgesamt liefern. Ferner wird das Verfah-
ren nicht vom Gesetzgeber geregelt, sondern über die am
1. August 2012 zwischen Bundesregierung und Industrie
abgeschlossene „Effizienzvereinbarung“. Diese läuft am
Parlament vorbei über zehn Jahre, in denen der Bundes-
tag dreimal neu gewählt wird.
Ohnehin sind die darin festgelegten Verpflichtungen
zur Einführung und zum Betrieb von Energiemanage-
mentsystemen bzw. zur Durchführung von Energieaudits
bereits europarechtlich vorgeschrieben – die EU-Ener-
gieeffizienz-Richtlinie wurde im Juni dieses Jahres ver-
abschiedet! Insofern erfolgt der Spitzenausgleich auch in
dieser Hinsicht ohne Gegenleistung, wie auch die Deut-
sche Umwelthilfe in ihrer lesenswerten Stellungnahme
feststellt. Das Ganze erfüllt also den Tatbestand einer
reinen Subvention. Nicht zuletzt werden aufgrund der
Architektur des Spitzenausgleichs einer bestimmten
Gruppe von Unternehmen Vorteile bei der Steuerlast ein-
geräumt, welche andere Unternehmen hingegen tragen
müssen. Dies dürfte eine Wettbewerbsverzerrung dar-
stellen.
Das Vorhaben der Bundesregierung, den Spitzenaus-
gleich bis 2022 ohne adäquate umweltpolitische Gegen-
leistung zu verlängern, ist nur eine Facette unberechtig-
ter Privilegien für die energieintensive Industrie. Weitere
gibt es im EEG, bei den Netzentgelten oder beim EU-
Emissionshandel, das hat Arepo Consult in seiner Stel-
lungnahme noch einmal deutlich gemacht. In der Summe
führen diese Begünstigungen zu enormen Umverteilun-
gen von den privaten Haushalten und kleinen Firmen hin
zu energieintensiven Unternehmen sowie zu zusätzlichen
Haushaltsbelastungen, wie bereits der Antrag unserer
Fraktion „Unberechtigte Privilegien der energieintensi-
ven Industrie abschaffen – Kein Sponsoring der Kon-
zerne durch Stromkunden“ auf der Drucksache 17/8608
feststellte. Wir haben darum heute einen Entschließungs-
antrag in den Ausschuss eingebracht, der dies erneut the-
matisiert.
Die Bundestagsfraktion Die Linke will nicht leicht-
fertig Arbeitsplätze auf Spiel setzen. Wir fordern jedoch,
Privilegien abzubauen, die mit Standortsicherung nicht
das Geringste zu tun haben. Unterstützung soll es künf-
tig nur noch dann geben, wenn Unternehmen ansonsten
nachweislich Wettbewerbsnachteile erleiden müssten,
die mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Produktionsverla-
gerungen ins außereuropäische Ausland oder Schließun-
gen führen würden. Zum Nachweis müssen zwei Krite-
rien gleichzeitig erfüllt sein: Erstens. Sie produzieren
trotz einer Produktion nach „Stand der Technik“ techno-
logiebedingt überdurchschnittlich energie- bzw. CO2-in-
tensiv. Zweitens. Sie stehen mit dem Hauptteil dieser
Produkte im Wettbewerb mit außereuropäischen Unter-
nehmen, welche keinen adäquaten umweltpolitischen
Regelungen unterliegen.
Zur Luftverkehrsteuer: Wir befürworten ihre Beibe-
haltung, allerdings haben wir etliche Kritikpunkte zur
derzeitigen Ausgestaltung dieser Steuer. Einige davon
wurden auch in dem Fachgespräch am 5. November im
Finanzausschuss durch Sachverständige bestätigt. Ange-
sichts der Tatsache, dass der Luftverkehr einer der am
meisten subventionierten Verkehrsträger ist – es fällt
zum Beispiel keine Kerosinbesteuerung an, auch gilt für
internationale Flüge eine Mehrwertsteuerbefreiung –,
obwohl der Flugverkehr wesentlich zur Erderwärmung
beiträgt, sollten alle Möglichkeiten in Betracht gezogen
werden, dieses Missverhältnis zu reduzieren. Das Um-
weltbundesamt bezifferte diese fragwürdigen Subventio-
nen auf rund 11,5 Milliarden Euro im Jahr 2010.
Daher ist es absolut unverständlich, dass die Einnah-
men aus dem Einbezug des Luftverkehrs in den EU-
Emissionshandel mit denen aus der Luftverkehrsteuer
verrechnet werden und die Gesamteinnahmen insgesamt
auf nur 1 Milliarde Euro gedeckelt sind. Die Begrenzung
ist paradox. Das bedeutet, je mehr Menschen fliegen,
desto mehr müssten die Steuersätze entsprechend ge-
senkt werden. Das Fliegen würde also tendenziell billi-
ger werden. Das widerspricht der ökologischen Len-
kungswirkung, die mit dieser Steuer ja eigentlich
erreicht werden soll.
Allerdings sind laut Gutachten der TU Chemnitz
diese Lenkungswirkungen ohnehin marginal. Daher be-
fürworten wir, eine Erhöhung der Steuersätze vorzuneh-
men und ebenso eine Steuersatzgestaltung nach Sitzklas-
sen, wie es zum Beispiel auch in Frankreich und
Großbritannien gehandhabt wird. Ein höherer Steuersatz
insbesondere für Kurzstreckenflüge wäre angebracht,
das würde auch der Deutschen Bahn zugutekommen.
Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Bereits
seit geraumer Zeit befindet sich das fossile ökonomische
System international im Umbruch. Es ist jetzt eine vor-
dringliche politische Aufgabe, die Blockade einer sol-
chen Transformation zu beenden und den Übergang zu
beschleunigen. Dies sagt der Wissenschaftliche Beirat
der Bundesregierung „Globale Umweltveränderung“.
Dass der Beirat damit recht hat, wissen oder ahnen mitt-
lerweile alle. Doch die Transformation zu einer emis-
sionsarmen und ressourcensparenden Wirtschaftsweise
wird nur gelingen, wenn nicht gleichzeitig umweltschäd-
liches Verhalten durch Steuervergünstigungen in Milliar-
denhöhe gefördert wird. In Deutschland gibt es da noch
einiges zu tun. Hier beläuft sich nach Erhebungen des
Umweltbundesamtes die Summe der umwelt- und kli-
maschädlichen Subventionen auf über 48 Milliarden
Euro jährlich.
Bei der Reform des 2,3 Milliarden Euro teuren Spit-
zenausgleichs für 23 000 Unternehmen hat die Regie-
rung die Chance vertan, zumindest einen kleinen Teil
dieser Subventionen abzubauen. Unternehmen, die we-
der besonders energieintensiv sind noch im internationa-
len Wettbewerb stehen, brauchen keine Ausnahmen.
Und die Voraussetzungen, die die Bundesregierung nun
als Voraussetzung für die weitere Gewährung der Sub-
ventionen stellt, sind kein echter Anreiz für einen sparsa-
men Umgang mit Energie.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012 24957
(A) (C)
(D)(B)
Das von der Bundesregierung vorgegebene Effizienz-
ziel von 1,3 Prozent ist deutlich zu unambitioniert und
unterliegt einer völlig unzureichenden wissenschaftli-
chen Überprüfung. Bereits in den vergangenen Jahren
hat sich die Energieeffizienz der Industrie ohne beson-
dere Anstrengungen bereits um 1,4 Prozent pro Jahr ver-
bessert. In den Ausschussberatungen wurde zudem klar,
dass Experten deutlich höhere Einsparziele für möglich
halten und der Indikator ungeeignet ist, um zusätzliche
Effizienzanstrengungen darzustellen. So werden die oh-
nehin sehr niedrigen Effizienzzielwerte voraussichtlich
allein durch autonome statistische Effekte aufgrund des
Ausbaus der erneuerbaren Energien, der Wahl der Basis-
periode – Verzerrung der Statistik durch die Wirtschafts-
krise 2008/2009 – und der Auswahl der betrachteten
Wirtschaftssektoren übererfüllt. Das Berechnungsver-
fahren ist bislang völlig intransparent und anfällig für
politisch motivierte Beeinflussung.
Das einheitliche Effizienzziel für das gesamte produ-
zierende Gewerbe, die sogenannte Glockenlösung, ist
ein völlig ungeeignetes Verfahren. Damit wird eine Art
Gruppenhaftung für Unternehmen eingeführt. Wird das
Effizienzziel erreicht, profitieren besonders die Unter-
nehmen, die für die Erreichung des Zieles nichts geleis-
tet haben. Wird das Ziel hingegen nicht erreicht, werden
dafür auch die Unternehmen bestraft, die dies überhaupt
nicht zu verantworten haben und die aktiv in die Errei-
chung der Ziele investiert haben.
Der Vorschlag des ersten Referentenentwurfs war an
diesem Punkt deutlich besser, da er branchenindividuelle
Effizienzziele vorgegeben hat, die unternehmensindivi-
duell nachgewiesen werden mussten. Doch dieser erste
Entwurf wurde im Gezerre innerhalb der Koalition zer-
rieben. Am Ende hat sich die FDP – als Anwalt von
alten, überkommenen Strukturen in der Industrie – weit-
gehend durchgesetzt. Das geht auf Kosten von Energie-
effizienz einerseits, aber auch auf Kosten der Teile der
Wirtschaft, die die Herausforderungen des Klimaschut-
zes bereits verstanden haben und entsprechend handeln.
Die Pflicht zur Einführung von Energiemanagement-
systemen wird durch umfangreiche Ausnahmeregelun-
gen für kleine und mittlere Unternehmen aufgeweicht.
Das hat keinen sachlichen Grund, da Energiemanage-
mentsysteme nach DIN ISO 50001 geringere und ange-
messene Anforderungen an kleine und mittlere Unter-
nehmen stellen als an Großunternehmen. Der Verzicht
auf unternehmensindividuelle Effizienznachweise min-
dert die Anreize, im Rahmen von Energiemanagement-
prozessen gefundene Einsparpotenziale auch umzuset-
zen.
In letzter Minute haben sich die Lobbyisten der ener-
gieintensiven Industrie noch einmal durchgesetzt. Per
Änderungsantrag werden die wenig ambitionierten Ziel-
werte bis 2022 festgeschrieben, unter denen die Bundes-
regierung 2,3 Milliarden Euro an umweltschädlichen
Subventionen weiter gewährt. Doch keine milliarden-
schwere Subvention darf für ein Jahrzehnt im Voraus be-
schlossen werden. Die Industrie sollte nicht davon aus-
gehen, dass der Gesetzgeber in den nächsten zehn Jahren
den Spitzenausgleich nicht mehr antastet. Ein Gutachten
des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundes-
tags im Auftrag meiner Fraktion kommt zu dem klaren
Ergebnis, dass eine baldige Änderung des Spitzenaus-
gleichs keinen Bruch des Vertrauensschutzes darstellt.
Diese Möglichkeit sollte unbedingt genutzt werden, um
diese Gesetzesnovelle so schnell wie möglich durch eine
bessere Regelung abzulösen.
Wie diese Neuregelung aussehen sollte, legen wir in
einem Entschließungsantrag zu diesem Gesetz dar. Mit
einer Konzentration der Energie- und Stromsteuersub-
ventionen nur auf solche Unternehmen, die gleichzeitig
energieintensiv sind und im internationalen Wettbewerb
stehen, können dabei mindestens 2 Milliarden Euro an
umweltschädlichen Subventionen abgebaut werden.
Mehrere Gutachten zeigen, dass der Spitzenausgleich
auch solchen Unternehmen zugute kommt, denen nicht
der Verlust der Wettbewerbsfähigkeit droht und bei de-
nen es noch erhebliches Effizienzpotenzial gibt. Wir sind
deshalb dafür, den Spitzenausgleich abzuschaffen, um
ihn durch eine Härtefallregelung zu ersetzen, die nur sol-
che energieintensiven Unternehmen unterstützt, die
wirklich von einer Verlagerung in Drittstaaten bedroht
sind.
Daneben fordern wir eine Abschaffung der allgemei-
nen Strom- und Energiesteuerrabatte für das produzie-
rende Gewerbe und die Land- und Forstwirtschaft.
Bislang profitieren 100 000 Unternehmen von dieser
Subvention. Sie haben stärker von der Reduzierung der
Lohnnebenkosten durch die Absenkungen der Renten-
beitragssätze profitiert, als sie durch die Anhebung der
Steuersätze auf Strom und Energie belastet wurden.
Kaum ein Unternehmen, das diese Rabatte in Anspruch
nimmt, ist energieintensiv, da in diesen Unternehmen die
Wertschöpfung in hohem Maße durch das Personal ge-
schaffen werden muss.
Ungefähr 3 500 energieintensive Unternehmen des
produzierenden Gewerbes profitieren heute von der
2006 eingeführten und 1,2 Milliarden Euro teuren Rege-
lung, nach der die Steuern auf Strom, Gas und andere
Energieträger vollständig erlassen werden, wenn sie für
bestimmte energieintensive Prozesse und Verfahren ver-
wendet werden, etwa bei der Metallherstellung, in der
Papierindustrie, in Zementfabriken und der Chemie-
industrie. Hier wollen wir das Energie- und Stromsteuer-
recht so umgestalten, dass auch eine nach Wettbe-
werbsintensität differenzierte Besteuerung möglich ist.
Ein kleiner Lichtblick in diesem Gesetzgebungsver-
fahren ist der erste Änderungsantrag der Koalition zu
diesem Gesetzentwurf. Hier begrüßt die Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen die Änderungen und wird deshalb
dem Änderungsantrag zustimmen. Die Aufnahme von
bestimmten Additiven in das elektronische EMCS-Ver-
fahren macht Sinn ebenso wie die Steuerbefreiung von
Flüssigerdgas für die gewerbliche Schifffahrt. Dies senkt
die Hürden, Schiffe mit umweltfreundlichem Erdgas zu
betanken. Auch die Neuregelung der Steuerentlastung
für die gekoppelte Erzeugung von Kraft und Wärme ist
vernünftig, weil dies eine dezentrale und effiziente Art
der Energieerzeugung mit fossilen Brennstoffen fördert.
24958 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012
(A) (C)
(D)(B)
Seit Monaten quengelt die Luftfahrtindustrie und for-
dert von der Regierung die Abschaffung der 2011 einge-
führten Luftverkehrsteuer. Dabei war die Verabschie-
dung des Luftverkehrsteuergesetzes eine der wenigen
klugen steuerpolitischen Entscheidungen der schwarz-
gelben Koalition in dieser Legislaturperiode. Denn die
Luftverkehrsteuer trägt dazu bei, wenigstens einen klei-
nen Teil der Wettbewerbsverzerrung zwischen den Ver-
kehrsträgern abzubauen. Während Dieselloks, Autos und
Busse selbstverständlich versteuerten Kraftstoff tanken,
müssen die Fluggesellschaften keine Kerosinsteuer zah-
len. Bei Flügen ins Ausland verzichtet der Fiskus auf
Einnahmen aus der Mehrwertsteuer. Die Steuerausfälle
durch die Subventionierung des Luftverkehrs summieren
sich so auf mehrere Milliarden Euro.
Trotz der Einführung der Luftverkehrsteuer im letzten
Jahr wuchs die Branche um 4,8 Prozent. 2012 werden
voraussichtlich nochmal 2,7 Prozent mehr Tickets ver-
kauft. Von einer echten Lenkungswirkung ist also nichts
zu spüren; dies wurde bei der Expertenanhörung im
Finanzausschuss sehr deutlich. Trotzdem hat sich die
schwarz-gelbe Koalition entschieden, die Luftverkehr-
steuern dauerhaft abzusenken. Das ist ein Schritt in die
falsche Richtung. Die Bundesregierung wollte mit der
Einführung der Luftverkehrsteuer Anreize für umwelt-
gerechtes Verhalten setzen. Wenn sie dieses Ziel ernst
nimmt, darf sie die Ticketsteuern nicht senken und muss
den Konstruktionsfehler bei der Einnahmedeckelung
korrigieren. Laut Gesetz sind die Einnahmen aus der
Luftverkehrsteuer bei 1 Milliarde Euro gedeckelt. Die
Bundesregierung argumentiert nun, die Steuersätze im-
mer weiter absenken zu müssen, um bei steigenden Steu-
ereinnahmen durch mehr Ticketverkäufe diese Vorgabe
zu halten. Dieser perverse Wirkmechanismus gehört ab-
geschafft, indem der Deckel aus dem Gesetz gestrichen
wird.
Alles in allem ist dieses Gesetz ein weiterer Beleg da-
für, dass die Regierung zwar gerne über die Energie-
wende spricht, aber wirklich jede Chance auslässt, kon-
krete Schritte auch umzusetzen. Das ist enttäuschend;
denn dieses Gesetz wäre eine sehr gute Gelegenheit ge-
wesen, unsere Wirtschaft energieeffizient und damit fit
für die Zukunft zu machen. Wir werden deshalb dieses
Gesetz ablehnen.
Anlage 8
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Anträge:
– Keine Modernisierung der US-Nuklearwaf-
fen in Europa und Deutschland – Abrüs-
tungschancen nicht ungenutzt verstreichen
lassen
– Abzug statt Modernisierung der US-Atom-
waffen in Deutschland
(Tagesordnungspunkte 19 a und 19 b)
Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU): Wir reden
heute über zwei Anträge der Opposition, die das außen-
politische Handeln der Bundesrepublik Deutschland in-
frage stellen oder irritieren würden. Beides ist mehr als
unnötig. Worum geht es? Niemand in diesem Hohen
Hause wird die Abrüstung ablehnen, und auch die Bun-
desregierung hat Abrüstung, Rüstungskontrolle und
Nichtverbreitung als einen Pfeiler der Außen- und Si-
cherheitspolitik ihres Handelns beschrieben.
Das Kernanliegen der Unionsfraktion ist eine Frie-
denspolitik, die auf Abrüstung setzt und regionale sowie
internationale Sicherheit gewährleistet. Die Bürgerinnen
und Bürger der USA haben die Obama-Administration
wiedergewählt. Es war auch Barack Obama, der in Prag
eine Welt frei von Atomwaffen forderte – eine Forde-
rung, die wir vor 20 Jahren niemals für möglich gehalten
hätten. Ich möchte hier betonen, dass Barack Obama mit
dieser Forderung nicht allein dasteht. Seit seiner Prag-
Rede hat auch ein Umdenken im Sicherheitsrat der Ver-
einten Nationen und in der Überprüfungskonferenz zum
Atomwaffensperrvertrag stattgefunden. Wir müssen aber
frei von allen Ideologien in den Fraktionen zur Kenntnis
nehmen, dass die Welt nach dem Ende des Kalten Krie-
ges nicht sicherer geworden ist. Auch die nuklearen Ge-
fahren sind nicht kleiner, sondern größer geworden.
Gefährdungen des globalen Nichtverbreitungsre-
gimes und der regionalen Stabilität durch Staaten wie
Iran und Nordkorea sind weiterhin ernst zu nehmen.
Nicht zuletzt hier ist die Vision der Bundesregierung
über eine nuklearwaffenfreie Welt begründet. Die CDU/
CSU-Fraktion begrüßt die Bemühungen der Bundesre-
gierung bei ihren Abrüstungsbestrebungen. Wir begrü-
ßen das Inkrafttreten des New-START-Vertrages zwi-
schen den Vereinigten Staaten und Russland. Darüber
hinaus setzt sich die Bundesrepublik gemeinsam mit ih-
ren Partnern in der Initiative für Nichtverbreitung und
Abrüstung für eine rasche Aufnahme von Verhandlun-
gen über ein Verbot der Produktion von Spaltmaterial für
Waffenzwecke und das Inkrafttreten des Vertrags über
das umfassende Verbot von Nuklearversuchen ein.
Uns allen ist klar, dass die taktischen Nuklearwaffen
ein Relikt des Kalten Krieges sind und dass sie keinen
militärischen Zweck per se erfüllen. Wir werden dieses
Problem jedoch nur gemeinsam mit unseren Verbünde-
ten lösen können. Auch die europäische Ebene dürfen
wir hier nicht aus den Augen verlieren. Unsere östlichen
Nachbarn hegen in dieser Debatte andere Vorstellungen,
und sie haben auch andere begründete Sicherheitsinte-
ressen, die wir berücksichtigen müssen. Ein Abzug der
Nuklearwaffen aus der Bundesrepublik wird eine Dis-
kussion in Polen oder den baltischen Staaten auslösen.
Diese Diskussion wiederum wird Russland auf den Plan
bringen. Ich warne eindringlich vor diesen Debatten und
vor einer Destabilisierung unseres Verhältnisses zu unse-
ren östlichen Nachbarn.
Auch die Türkei hat weiterhin ein vitales Interesse an
den US-Nuklearwaffen. Wir müssen als Teil des NATO-
Bündnisses auf diese Interessen eingehen, und wir dür-
fen unsere Positionen nicht unnötig schwächen oder gar
preisgeben. Nicht zuletzt möchte ich hier in Erinnerung
rufen, dass die Modernisierung der US-Nuklearwaffen
keinesfalls eine Aufrüstung bedeutet. Nein, es ist eine
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012 24959
(A) (C)
(D)(B)
Anpassung der Bestände an die neuen technischen Vo-
raussetzungen.
Unsere Bundesregierung hat einen klugen Weg einge-
schlagen. Man macht einen Schritt nach dem nächsten.
Es war richtig, dass unsere Bundesregierung die Diskus-
sion über die substrategischen Nuklearwaffen innerhalb
des Bündnisses angestoßen hat. Der NATO-Gipfel in
Chicago war ein Aufbruch in Richtung Abrüstung. Die
NATO setzt massiv auf Abrüstung und hat diese zur ent-
scheidenden Säule der Sicherheitsstrategie erklärt. Da-
her ist eine Modernisierung und Lebensdauerverlänge-
rung, die mit einer Abrüstung einhergeht, der einzig
richtige Weg.
Ungeachtet aller Abrüstungsbestrebungen ist die
CDU/CSU-Bundestagsfraktion der Meinung, dass die
Bundesrepublik zur Sicherheit ihrer Bürgerinnen und
Bürger vorübergehend und nach wie vor auf eine Ab-
schreckungskomponente angewiesen ist. Auch unsere
Wahrnehmung durch unsere Verbündeten darf nicht in
Mitleidenschaft gezogen werden. Die Bundesrepublik
muss als NATO-Partner stark bleiben. Ich bin mir ganz
sicher, dass die nukleare Teilhabe Deutschlands auch die
Qualität und die Ernsthaftigkeit bestimmt, wenn es da-
rum geht, wie die Bundesrepublik als internationaler Ak-
teur wahrgenommen wird.
Ihre Anträge schaden den sicherheits- und außenpoli-
tischen Interessen der Bundesrepublik Deutschland, die
ein verlässlicher internationaler Partner ist und bleiben
wird. Wir lehnen sie daher ab.
Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU): Die SPD macht
bei diesem Thema gemeinsame Sache mit der Fraktion
Die Linke und wirft der Bundesregierung vor, sich von
ihrer Zielsetzung, für weltweite nukleare Abrüstung ein-
zutreten, verabschiedet zu haben. Das Gegenteil ist der
Fall. Wie im Jahresabrüstungsbericht 2011 beschrieben,
sind Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbrei-
tung wichtige Pfeiler der deutschen Außen- und Sicher-
heitspolitik. Während des letzten Jahres war das deut-
sche Engagement vor allem auf Postkonfliktszenarien
und präventive Krisenpolitik ausgerichtet. So hat
Deutschland vor allen Dingen mit seinen aktiven Bemü-
hungen, die Verhandlungen der internationalen Staaten-
gemeinschaft mit dem Iran voranzutreiben, wesentlich
dazu beigetragen, dass die Diplomatie in dem Konflikt
um das iranische Atomprogramm bislang die Oberhand
behalten hat. Nichtsdestoweniger besteht die Gefahr un-
verändert fort, die von Staaten wie Iran oder Nordkorea
ausgeht.
Vor diesem Hintergrund ist die CDU/CSU-Fraktion
ungeachtet aller Abrüstungsbestrebungen der Ansicht,
dass wir zur Gewährleistung der Sicherheit Deutsch-
lands nach wie vor auf eine nukleare Abschreckungs-
komponente der NATO angewiesen sind. Zu dieser Ein-
schätzung gelangten auch alle NATO-Partner anlässlich
der Überprüfung des Verteidigungs- und Abschre-
ckungsdispositivs der NATO.
Über Monate hinweg hatten sich während dieses
Überprüfungsprozesses dieses Jahr die NATO- Mitglied-
staaten auf unterschiedlichen militärischen und politi-
schen Ebenen intensiv mit der Frage beschäftigt, mit
welchen strategischen Mitteln und Fähigkeiten die Si-
cherheit der Allianz im 21. Jahrhundert am besten ge-
währleistet werden kann. Als Ergebnis dieses Überprü-
fungsprozesses sind alle NATO Partner, wie in der
Gipfelerklärung von Chicago festgehalten, im Konsens
zu dem Ergebnis gelangt, dass dem heutigen Sicherheits-
umfeld am besten durch eine vorläufige Beibehaltung
der nuklearen Abschreckungskomponente Rechnung ge-
tragen werden könne. Wie es in der entsprechenden Er-
klärung heißt, sind atomare Waffen eine zentrale Kom-
ponente aller Kapazitäten und Fähigkeiten, mit denen
die NATO die Sicherheit ihrer Mitglieder zu gewährleis-
ten sucht.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die SPD-Frak-
tion wirft der NATO in ihrem Antrag unter anderem vor,
die Bedrohungen, die sie auf dem Gipfel von Chicago
definiert hat, nicht mit Nuklearwaffen bekämpfen zu
können. Natürlich können Atomwaffen nicht die Ant-
wort auf Cybersicherheit, Terrorismus oder scheiternde
Staaten sein. Aber im Falle eines Falles, der hoffentlich
nie eintritt, können sie als Abschreckung gegen staatlich
unterstützte Cyberkriege, Terrorangriffe oder Gewalt-
akte korrupter Potentaten dienen.
Unserer Meinung nach steht die Allianz gegenwärtig
vor einer doppelten Herausforderung. Sie muss sowohl
den neuen Sicherheitsrisiken begegnen als auch den her-
kömmlichen Bedrohungen gewachsen sein. Vor diesem
Hintergrund haben sich alle NATO-Partner dazu ver-
pflichtet, sicherzustellen, dass alle Komponenten der nu-
klearen Abschreckung der NATO sicher und effektiv
bleiben, solange die NATO sich als nukleare Allianz ver-
steht.
Exakt in diesem Kontext ist die Modernisierung der
US-Nuklearwaffen auf deutschem Boden zu sehen. Es
handelt sich hierbei nicht, wie von der Fraktion Die
Linke behauptet, um eine „Neustationierung“ von ato-
maren Waffen, die „einen Wiedereinstieg in eine hoch
riskante atomare Aufrüstungspolitik“ darstellt. Es geht
hier um eine Modernisierung der atomaren Sprengköpfe
und Trägersysteme, die zur Erhaltung der Einsatzfähig-
keit der atomaren Waffen dient und somit in unser aller
Interesse ist. Unabhängig von dieser Verpflichtung hal-
ten die NATO-Mitgliedstaaten, wie in der Erklärung von
Chicago vereinbart, weiterhin an ihrem Ziel fest, danach
zu streben, geeignete Bedingungen und Optionen für
weitere Reduzierungen nuklearer Waffen der NATO zu
erwägen.
Abschließend möchte ich noch einmal betonen, dass
wir an unserem im Koalitionsvertrag verankerten Be-
kenntnis festhalten, uns im Bündnis sowie gegenüber
den amerikanischen Verbündeten dafür einzusetzen, dass
die in Deutschland verbliebenen Atomwaffen abgezogen
werden, sobald die Bedingungen hierfür gegeben sind.
Dies ist, wie die Opposition zu Recht bemerkt, eines der
übergeordneten Ziele deutscher Außen- und Sicherheits-
politik, das die außenpolitische Agenda auf absehbare
Zeit prägen wird.
24960 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012
(A) (C)
(D)(B)
Anlage 9
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zu
dem Fakultativprotokoll vom 19. Dezember
2011 zum Übereinkommen über die Rechte des
Kindes betreffend ein Mitteilungsverfahren
(Tagesordnungspunkt 20)
Dr. Peter Tauber (CDU/CSU): Mit der zweiten und
dritten Lesung des Gesetzes zum Fakultativprotokoll
können wir das parlamentarische Verfahren zur Ratifika-
tion heute abschließen. Ich freue mich, dass wir über alle
Fraktionen dieses Hauses hinweg bei dieser Frage an ei-
nem Strang ziehen und somit ein schnelles und reibungs-
loses Verfahren ermöglichen. Auch die Aussprache im
Ausschuss für Familie, Frauen, Senioren und Jugend in
dieser Woche hat gezeigt, dass die Bundesregierung mit
ihrem Engagement zur besseren Verankerung der Kin-
derrechte auf internationaler Ebene die volle Rücken-
deckung des Deutschen Bundestages hat. Dies ist sehr
erfreulich, und dafür bedanke ich mich bei meinen Kol-
leginnen und Kollegen des Fachausschusses. Ein Dank
gilt gleichzeitig den Vertreterinnen und Vertretern des
Bundesrats für ihre kooperative Zusammenarbeit.
Mit der Ratifikation senden wir ein starkes Signal
zum weltweiten Schutz der Kinder. Dieser Schritt reiht
sich ein in eine ganze Reihe von Maßnahmen, die die
christlich-liberale Bundesregierung auf den Weg ge-
bracht hat, um die Stellung der Kinder in unserer Gesell-
schaft zu verbessern. Ich nenne hier die Rücknahme der
Vorbehaltserklärung gegenüber der UN-Kinderrechts-
konvention genauso wie die Einführung des Kinder-
schutzgesetzes, die Familienhebammen und die deutli-
che Verbesserung der rechtlichen Stellung von Kindern
bei Lärmstreitigkeiten. Hinzu kommen eine ganze Reihe
sozialpolitischer Maßnahmen wie das Bildungs- und
Teilhabepaket sowie die Erhöhung des Kindergelds. In-
sofern können wir heute einen weiteren Erfolg dieser
Koalition festhalten. Dies ist umso erfreulicher, da die
Bundesregierung zu einer der Initiatoren dieses Vorha-
bens zählt und der Deutsche Bundestag eines der
schnellsten nationalen Parlamente bei der Ratifikation
des Fakultativprotokolls ist.
Mit der Ratifikation verbinden wir die Hoffnung, dass
weltweit möglichst vielen Kindern die Chance eröffnet
wird, sich an die Vereinten Nationen zu wenden, wenn
der innerstaatliche Rechtsweg erschöpft ist und dabei
keine adäquate Abhilfe geschaffen wurde, um die indivi-
duellen Rechte der Kinder zu wahren. Wenn die Kolle-
gin der Linkspartei dann das Wort „Symbolpolitik“ im
Munde führt, verkennt sie die Chancen, die in einem sol-
chen Verfahren stecken, um die Rechte der Kinder welt-
weit zu stärken. Ich empfehle hier einen Blick über den
nationalen Tellerrand. Denn ein besonders dringender
Bedarf besteht ja insbesondere dort, wo die Kinder nicht
schon auf nationaler Ebene ein so hohes Schutzniveau
haben wie bei uns in Deutschland.
Wenn es beispielsweise darum geht, zukünftig eine
bessere internationale Handhabe gegen die unsägliche
Praxis des Einsatzes von Kindersoldaten zu haben, oder
wenn es darum geht, die systematische sexuelle Ausbeu-
tung von Kindern auch auf individueller Ebene zu be-
kämpfen, bietet das Fakultativprotokoll neue Chancen.
Für die Betroffenen ist dies insofern alles andere als
Symbolpolitik. Es gilt daher, nun auf internationaler
Ebene für die Ratifikation des Protokolls in möglichst
vielen Staaten zu werben. Durch eine breite internatio-
nale Akzeptanz wird das Gremium gleichzeitig gestärkt
und erhält ein stärkeres Gewicht. Dies ist im Sinne unse-
rer Politik, dies ist im Sinne der Kinder.
Aber auch für die nationale Ebene hat die Ratifikation
nichts mit Begriffen wie Symbolpolitik zu tun. Denn es
handelt sich um die Einrichtung zusätzlicher Schutzme-
chanismen, die die nationale Gerichtsbarkeit, aber auch
exekutives Handeln auf den Prüfstand stellen können
und somit staatliches Handeln in Deutschland überprüf-
barer machen.
Es bleibt festzuhalten: Mit der Ratifikation des Fakul-
tativprotokolls unterstreicht diese Koalition, dass ihr der
Schutz der Kinder ein wichtiges Anliegen ist – national
wie international. Und sie zeigt, dass sie ganz konkret
aktiv ist und vieles angegangen hat, was gerade die rot-
grüne Bundesregierung nicht hinbekommen hat. Einige
zentrale Beispiele habe ich genannt.
Unser Einsatz für die Kinder darf mit diesem Schritt
jetzt nicht aufhören. Ich bin zuversichtlich, dass es uns
auch in Zukunft gelingen wird, durch konkrete Maßnah-
men die Situation von Kindern in Deutschland und in
der Welt zu verbessern und zu stärken.
Norbert Geis (CDU/CSU): Die Kinderrechtskon-
vention will den Kindern weltweit zu ihren Rechten ver-
helfen.
In vielen Teilen der Welt haben die Kinder keine
Rechte. Sie leben in Armut. Sie müssen ihr tägliches
Brot durch schwere Arbeit verdienen. Sie gehen in keine
Schule, bekommen keine Bildung, bleiben Analphabe-
ten. Sie werden missbraucht und werden sogar als Kin-
dersoldaten in kriegerischen Auseinandersetzungen ein-
gesetzt. Oft leben sie in der Gosse, schließen sich schon
als Kinder zu gewalttätigen Banden zusammen und gera-
ten schon sehr früh in die Kriminalität. Die Kinder-
rechtskonvention will hier ein Bollwerk aufbauen, einen
Beitrag zum Schutz der Kinder leisten.
Sicher ist der Einwand richtig, dass dies vor allem für
die Entwicklungsländer gilt. Aber auch wir gehören
nicht zu den kinderfreundlichsten Ländern. Wir sind ein
kinderarmes Land. Wir haben eine der niedrigsten Ge-
burtenraten der Welt. Familien mit mehr als zwei Kin-
dern tun sich bei der Wohnungssuche schwer. Wenn die
Mutter ihre Kleinkinder selbst versorgt, verliert sie den
Anschluss im Beruf, hat Nachteile am Arbeitsplatz und
erhält obendrein später eine geringere Rente als ihre
Kolleginnen, die keine Kinder haben. Die Erziehungs-
leistung der Eltern für ihre Kinder wird bei uns gering
geachtet. Auch wir sind in der Tat kein kinderfreundli-
ches Land.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012 24961
(A) (C)
(D)(B)
Allerdings sind die Kinder bei uns nicht rechtlos. Sie
haben die gleichen Menschenrechte wie die Erwachse-
nen auch.
Durch die Kinderrechtskonvention mit den beiden Fa-
kultativprotokollen sollen den Kindern überall auf der
Welt die Menschenrechte zugesprochen werden. Die
Konvention fasst diese Rechte in vier Grundsätzen zu-
sammen: das Recht auf Leben und Gesundheit, das
Recht auf Entwicklung, das Verbot der Diskriminierung
und die Wahrung der Interessen der Kinder sowie das
Recht auf Beteiligung und Mitbestimmung.
Zu dieser Kinderrechtskonvention mit den zwei Fa-
kultativprotokollen kommt nun ein drittes Fakultativpro-
tokoll hinzu. Dabei geht es darum, dass diese Rechte für
die Kinder nicht nur auf dem Papier stehen, sondern die
Kinder bzw. ihre Vertreter die Möglichkeit haben, sich
direkt an den UNO-Ausschuss zu wenden, um ihre
Rechte durchzusetzen, wenn dies im eigenen Staat nicht
möglich ist. Voraussetzung ist, dass der nationale
Rechtsweg erfolglos war. Dies ist auch anders nicht
machbar, weil dies einmal die Achtung vor der Souverä-
nität des jeweiligen Staates gebietet und weil aus prakti-
schen Gründen natürlich eine Vorklärung durch die ört-
lich zuständigen Gerichte zu erfolgen hat. Allerdings
muss in dringenden Fällen der Zugang zum Ausschuss
sofort möglich sein. Der Ausschuss kann auch von sich
aus, ohne dass eine Beschwerde vorliegt, tätig werden,
wenn besonders schwere Verletzungen von Kinderrech-
ten in einem Staat bekannt werden. Der Ausschuss hat
nur die Möglichkeit, in Staaten tätig zu werden, die dem
Abkommen beigetreten sind.
Deutschland ist auf Betreiben unserer Familienminis-
terin einer der ersten Staaten gewesen, die dieses dritte
Fakultativprotokoll, das wir heute ratifizieren wollen,
unterzeichnet haben.
In dieser Kinderrechtskonvention kommt klar zum
Ausdruck, dass das Kind nicht nur eine Vorstufe des Er-
wachsenen ist, sondern auch als Kind Mensch ist, dem
die Menschenrechte in vollem Umfang zustehen. Die
Kindheit ist eine eigene Lebensphase des Menschen.
Das Kind ist nicht ein halber Mensch, nur weil es noch
nicht selbstständig und noch unwissend ist, seine Fähig-
keiten noch nicht entwickelt hat, noch schwach und un-
erfahren und ungeschickt ist. Das Kind ist in seiner
Kindheit ebenso vollständig Mensch wie der Erwach-
sene auch. Diese Erkenntnis muss sich erst noch in den
Entwicklungsländern durchsetzen, aber auch in der
westlichen Welt.
Der Mensch tritt, wie alles Lebendige, als Keim ins
Dasein und macht verschiedene Phasen der Entwicklung
durch. Er beginnt als Embryo. Schon dann hat er Würde
und steht unter dem Schutz von Art. 1 und 2 GG. Dies
hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom
25. Februar 1975 festgestellt und in seinem Urteil vom
23. Mai 1993 nochmals bestätigt. Diese Erkenntnis hat
sich in den Gesellschaften des Westens noch nicht
durchgesetzt.
Es ist nicht erforderlich, Kinderrechte im Grundge-
setz zu verankern. Für Kinder gilt das Grundgesetz
ebenso wie für jeden Erwachsenen. Sie haben nach
Art. 2 GG das Recht auf Freiheit, auf körperliche Unver-
sehrtheit und auf Entfaltung ihrer Persönlichkeit. Sie
sind durch Art. 5 GG in ihrer Meinungsfreiheit ge-
schützt. Nach Art. 6 GG haben zuerst die Eltern die
Pflicht, die Kinder zu pflegen und zu erziehen. Daraus
ergibt sich aber auch umgekehrt das Recht der Kinder
gegen ihre Eltern auf Pflege und Erziehung. Dies hat das
Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 1. April
2008 klargestellt.
Im Übrigen kann die Aufnahme von Kinderrechten
im Grundgesetz keine Misshandlung von Kindern ver-
hindern. Zielgenauer kann dies vielmehr durch einfach-
gesetzliche Maßnahmen geschehen, so zum Beispiel
durch das Strafrecht. Im Bildungsbereich haben wir jetzt
schon die allgemeine Schulpflicht. Eine allgemeine Kin-
dergartenpflicht für Kinder ab drei Jahren einzuführen,
halte ich für übertrieben und entspricht auch nicht dem
Kindeswohl. Diese Entscheidung sollten wir den Eltern
überlassen.
Die Betonung der Rechte der Kinder durch die Kin-
derrechtskonvention hat in vielerlei Richtung Bedeutung
auch für unser Land. Wir haben zu prüfen, wie wir den
Anspruch der Kinder gegenüber unserer Gesellschaft auf
Einhaltung und Gewährung ihrer Rechte noch besser
durchsetzen können.
Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD): Die Stär-
kung der Kinderrechte war und ist ein besonderes Anlie-
gen der SPD-Bundestagsfraktion, und sie liegt mir als
Kinderbeauftragter natürlich besonders am Herzen.
Starke Kinderrechte müssen durchsetzbar sein. Wir haben
ein Individualbeschwerderecht für Kinder lange gefor-
dert und freuen uns ausdrücklich über die nun anstehende
Ratifizierung des entsprechenden Zusatzprotokolls zur
UN-Kinderrechtskonvention. Dieses Instrument ist ein
Rechtsmittel zur Durchsetzung der UN-Kinderrechtskon-
vention. Denn Betroffene könnten sich an den UN-Aus-
schuss für die Rechte des Kindes wenden, um auf die Ver-
letzung ihrer Rechte aufmerksam zu machen.
Bei anderen UN-Abkommen wie dem UN-Zivilpakt
oder der UN-Frauenrechtskonvention gab es ein solches
Beschwerderecht bereits. Endlich gibt es auch zur
UN-Kinderrechtskonvention ein ergänzendes Beschwer-
deverfahren. Die Einführung dieses Instrumentes in
Deutschland ist weltweit ein wichtiges Signal für starke
Kinderrechte. Ein Beschwerderecht hilft dabei, darauf
hinzuwirken, dass die Vertragsstaaten ihr Rechtssystem
konsequenter den in der Konvention anerkannten Kin-
derrechten anpassen und auf deren Einhaltung achten.
Recht zu haben, reicht alleine nicht aus. Rechte müs-
sen auch durchsetzbar sein. In einem Beschwerdeverfah-
ren kann sich das Kind selbst oder eine Person in seinem
Namen an den Ausschuss für die Rechte des Kindes
wenden, der die Menschenrechtsverletzung untersucht.
Auch wenn die Entscheidung des Ausschusses rechtlich
nicht bindend sein wird, kann er auf Abhilfe drängen
und für den Kläger gegebenenfalls eine Entschädigung
fordern. Wie bei allen internationalen Beschwerdeme-
chanismen muss vorher der innerstaatliche Rechtsweg
24962 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012
(A) (C)
(D)(B)
ausgeschöpft sein. Was sich bei Erwachsenen mit einem
etablierten System von Beschwerdemöglichkeiten be-
währt hat, muss für Kinder erst mit Leben erfüllt werden.
Auf allen Ebenen brauchen Kinder altersgerechte
Möglichkeiten der Partizipation und auch der Be-
schwerde. So setze ich mich auf Bundesebene für einen
unabhängigen Kinderbeauftragten ein. Auf kommunaler
Ebene wollen wir Ombudschaftsstellen für Kinder eta-
blieren, um den Kindern da, wo sie leben, beim Vertreten
ihrer Interessen direkt beizustehen.
Kinderrechte müssen stärker bekannt gemacht wer-
den. Wer nicht um die eigenen Rechte weiß, kann sich
bei einem Verstoß gegen diese Rechte auch nicht be-
schweren. Hier ist noch viel zu tun. Wir hätten uns eine
Fortschreibung des nationalen Aktionsplans zur Umset-
zung der UN-Kinderrechtskonvention gewünscht. Ich
hoffe, dass die Bundesregierung die Stärkung der Kin-
derrechte auch auf einem anderen Gebiet voranbringt.
Die Verankerung der Kinderrechte im Grundgesetz ist
im Sinne der UN-Kinderrechtskonvention ebenso sinn-
voll und geboten wie das Individualbeschwerdeverfah-
ren.
Bisher scheiterte die Stärkung der Kinderrechte im
Grundgesetz leider am Widerstand der Union. In letzter
Zeit habe ich jedoch erfreuliche Signale vernommen. Ich
hoffe, dass es uns gemeinsam gelingt, unsere Verfassung
im Interesse unserer Kinder zu modernisieren. Kinder
sind Rechtssubjekte und sollten als solche auch im
Grundgesetz genannt und behandelt werden. Wer Kin-
derrechte wirklich stärken will, kann sich dieser Forde-
rung nicht verschließen.
Miriam Gruß (FDP): Zugegeben, der Name dieses
Gesetzes ist ein echter Zungenbrecher. Tatsächlich ist
aber heute ein historischer Tag für die Kinderrechte in
Deutschland; denn wenn dieses Hohe Haus dem Fakulta-
tivprotokoll heute zugestimmt hat und der Bundesrat
keine Einwände erhebt, dann gilt es als von Deutschland
ratifiziert.
Deutschland geht diesen Schritt als drittes Land welt-
weit nach Thailand und Gabon – sobald sieben weitere
Staaten folgen, tritt das Protokoll in Kraft. Dann be-
kommt die UN-Kinderrechtskonvention endlich, als letz-
tes von allen Menschenrechtsabkommen, ihren eigenen
Beschwerdemechanismus. Das Fakultativprotokoll leis-
tet einen wichtigen Beitrag zur besseren Umsetzung der
Rechte der Kinder weltweit und bestätigt Kinder in ihrer
Eigenschaft als Träger eigener Rechte.
Deutschland wird durch seine Rolle in diesem Prozess
zu einem echten Vorreiter unter den UN-Mitgliedstaaten.
Am 28. Februar 2012 hat Deutschland – vertreten durch
die Familienministerin Dr. Kristina Schröder – das Fakul-
tativprotokoll als einer der ersten Staaten überhaupt ge-
zeichnet. Ich war im Februar 2012 bei der Unterzeich-
nung in Genf dabei. Dort konnte ich live erleben, wie bei
den anderen Staaten noch gerungen wurde, ob man unter-
schreibt oder nicht. Letztendlich haben dann 20 Staaten
unterzeichnet – ein großer Erfolg auch für Deutschland
und die schwarz-gelbe Regierung.
Wir haben es aber nicht nur früh unterzeichnet, son-
dern auch stark darauf hingewirkt, dass es überhaupt
dazu gekommen ist. Ohne Deutschlands Werbung für
diese Angelegenheit wäre das Protokoll kaum noch im
Jahr 2011 von der UN-Generalversammlung angenom-
men worden. Daher möchte ich an dieser Stelle noch
einmal ausdrücklich auch dem Außenminister Dr. Guido
Westerwelle für seinen Einsatz danken.
Wenn Deutschland noch in diesem Jahr ratifiziert,
wäre das die schnellste Zeichnung und Ratifikation eines
Menschenrechtsabkommens der UN. Ich hoffe sehr, dass
diese Formalität noch in diesem Jahr zu schaffen ist.
Die Details des Fakultativprotokolls haben wir bereits
vor zwei Wochen diskutiert; ich will mich daher nicht
wiederholen. Dennoch möchte ich noch einmal darauf
hinweisen: Ohne die FDP an der Regierung wäre es nie
dazu gekommen. Ich kämpfe seit langem für die bessere
nationale und internationale Durchsetzung von Kinder-
rechten. Deshalb haben wir Liberalen vor drei Jahren da-
rauf bestanden, das Individualbeschwerdeverfahren in
den Koalitionsvertrag aufzunehmen. Diesen Punkt kön-
nen wir jetzt abhaken. Damit haben wir unsere Regie-
rungsarbeit für Kinderrechte um einen wichtigen Erfolg
erweitert.
Diana Golze (DIE LINKE): Es steht außer Zweifel:
Die Einführung des Rechts auf Individualbeschwerde für
Kinder und Jugendliche ist ein weiterer wichtiger Schritt
für die bessere Umsetzung der UN-Kinderrechtskonven-
tion. Es steht auch außer Zweifel, dass das Engagement
der Bundesregierung, die sich von Beginn an hinter die-
ses Zusatzprotokoll gestellt hat und den Prozess der Er-
arbeitung intensiv begleitet hat, von großer Bedeutung
für das Gelingen des Vorhabens war. Und es ist natürlich
sehr zu begrüßen, dass das Gesetz zur Ratifizierung den
Bundestag so zügig und mit großem Einvernehmen pas-
sieren konnte.
Schaut man sich aber an, welche Gründe für die Ein-
führung einer Individualbeschwerde für Kinder und Ju-
gendliche auch in Deutschland sprechen, wird schell
deutlich, wie viel noch zu tun ist.
Kinder müssen als schutzbedürftige Mitglieder unse-
rer Gesellschaft mit allem zur Verfügung Stehenden ge-
fördert werden, das ist zumindest in Talkshows, in Re-
den und in Interviews wieder und wieder zu hören. In
der Umsetzung allerdings muss ich feststellen, dass zum
Beispiel Kindern ohne deutschen Pass nach wie vor
nicht die gleichen Rechte eingeräumt werden, wie sie
deutschen Kindern zur Verfügung stehen. Sie können
auch nach der Rücknahme des letzten Vorbehaltes gegen
die UN-Kinderrechtskonvention als Minderjährige abge-
schoben werden, in Sammelunterkünften untergebracht
und zu entwürdigenden Untersuchungsverfahren zur Al-
tersfeststellung gezwungen werden. Für mich ein klarer
Fall für die Verletzung der UN-Kinderrechtskonvention
und somit für eine anzustrengende Beschwerde.
Noch immer ist in Deutschland der soziale Status der
Eltern wie in keiner anderen europäischen Wirtschafts-
nation ein entscheidender Faktor für die Schulbiografie
von Kindern, für mich eine klare Verletzung der UN-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012 24963
(A) (C)
(D)(B)
Kinderrechtskonvention und einer anzustrengenden Be-
schwerde würdig.
Die Kinderarmut ist in einem reichen Land wie
Deutschland trauriger Teil des Alltags geworden. Kinder
gehen hungrig zur Schule, eine gesunde Ernährung ist
vom bestehenden Regelsatz aus meiner Sicht unmöglich,
Geld für Schulbücher und -materialien können von den
Eltern in komplizierten Antragsverfahren nur zweimal
im Jahr extra beantragt werden, obwohl Schule zum All-
tag eines jeden Kindes gehört und somit auch alltägliche
Kosten verursacht. Jeder weiß das – die Bundesregie-
rung aber ignoriert dies genauso wie die Tatsache, dass
Nachhilfe nur schwer über eine Arbeitsvermittlungs-
agentur vermittelt werden kann. Für mich ist das Aus-
grenzung vom Zugang zu Bildung und somit eine ein-
deutige Verletzung der UN-Kinderrechtskonvention und
somit Grund genug für ein anzustrebendes Beschwerde-
verfahren.
Ja, ich bin sehr glücklich darüber, dass der Bundestag
heute seine Zustimmung zu einem Individualbeschwer-
deverfahren für Kinder geben wird. Denn eine solche
Möglichkeit für Kinder, ihre Rechte einzuklagen, sorgt
am Ende für eine bessere Umsetzung der Kinderrechte.
Dazu muss viel getan werden. Wir brauchen mehr Anlauf-
stellen, um Kinder über ihre Rechte zu informieren und
ihnen da Unterstützung anbieten zu können, wo diese
verletzt werden. Wir brauchen eine verbesserte Rechts-
stellung von Kindern in unserer Gesellschaft, damit eine
Individualbeschwerde für Kinder nicht an unüberwind-
baren Hürden scheitert. Darum sage ich: Kinder stärken,
heißt ihre Rechte stärken. Das Individualbeschwerde-
recht für Kinder war überfällig. Die Verankerung von
Kinderrechten im Grundgesetz ist es leider immer noch.
Es bleibt also viel zu tun.
Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir
werden heute Abend voraussichtlich einen der seltenen
Momente großer Einigkeit zwischen den Fraktionen er-
leben, da wir alle durch die Bank weg die Einführung
des Individualbeschwerdeverfahrens begrüßen und als
einen wichtigen Schritt zur Stärkung der Kinderrechte in
Deutschland betrachten. Umso bedauerlicher ist es, dass
die Bundesregierung ihrem Gesetzentwurf in beiden Le-
sungen keinen Debattenplatz hier im Bundestag einge-
räumt hat, der seiner Bedeutung angemessen gewesen
wäre.
Das Beschwerdeverfahren zu ratifizieren, ist ein wich-
tiger Schritt. Aber er muss auch Folgen haben. Die Erfah-
rungen, die wir mit der ursprünglich von allen Seiten
– auch von uns – hochgelobten Rücknahme der Vorbe-
haltserklärung gemacht haben, lassen mich skeptisch
werden. Denn die Rücknahme der Vorbehalte ist bis heute
ohne Konsequenzen geblieben, die relevanten Gesetze im
Bereich des Asyl- und Aufenthaltsrechts wurden nicht
geändert, und deshalb hat sich an der konkreten Lebens-
situation minderjähriger unbegleiteter Flüchtlinge auch
nichts verbessert. Weiterhin können Sechzehnjährige im
Asylverfahren wie Erwachsene behandelt werden, sie
können in Sammelunterkünften – auch gemeinsam mit
Erwachsenen – untergebracht werden, haben keinen An-
spruch auf weitergehende Leistungen aus dem Gesund-
heitssystem und der Kinder- und Jugendhilfe. Das wider-
spricht eklatant der UN-Kinderrechtskonvention, die für
alle Kinder, alle Minderjährige gilt, und es ist ein echtes
Armutszeugnis für die schwarz-gelbe Koalition und für
unser gesamtes Land.
Die Einführung des Beschwerdeverfahrens muss Fol-
gen haben, und diese notwendigen Folgen müssen be-
inhalten, dass die Bundesregierung viel mehr dafür tut,
dass Kinder ihre Rechte überhaupt kennen. Denn nur
wer die eigenen Rechte kennt, kann sich auf diese bezie-
hen und im Zweifelsfall auf das Individualbeschwerde-
verfahren zurückgreifen. Vor diesem Hintergrund war es
eine grundfalsche Entscheidung der Bundesregierung,
den Aktionsplan für ein kindergerechtes Deutschland
sang- und klanglos auslaufen zu lassen. Hier wäre eine
Weiterentwicklung und Fortführung wichtig gewesen,
insbesondere mit Blick auf die dringend notwendige Be-
kanntmachung der Kinderrechte bei den Kindern selbst.
Aber auch darüber hinaus darf die Bundesregierung
sich jetzt keineswegs einen schlanken Fuß machen.
Denn bei der Umsetzung der UN-Kinderrechtskonven-
tion in unserem eigenen Land sieht es längst nicht so ro-
sig aus, wie Ministerin Schröder es gerne darstellt. Al-
lem voran sollten wir endlich die Kinderrechte im
Grundgesetz verankern und deutlich machen, dass bei
allem staatlichen Handeln die Interessen der Kinder be-
sonders zu beachten sind. Hier hat der UN-Ausschuss
für die Rechte der Kinder der Bundesrepublik bereits
mehrfach deutliche Hinweise gegeben, dass diese not-
wendige Konsequenz der UN-Kinderrechtskonvention
endlich angegangen werden sollte.
Aber es geht auch um sehr konkrete, schnell umsetz-
bare Maßnahmen: beispielsweise die Rechte von Kin-
dern inhaftierter Eltern endlich in den Fokus zu nehmen
und gemeinsam mit den Ländern die Verantwortung da-
für zu übernehmen, dass die Haftbedingungen so gestal-
tet sind, dass Kinder ihre Eltern regelmäßig besuchen
können. Beispielsweise die freiwillige Rekrutierung von
Minderjährigen in die Bundeswehr zu beenden und
„Straight 18“ umzusetzen.
Heute gehen wir gemeinsamen einen wichtigen
Schritt. Wir lassen die Regierung aber nicht aus der Ver-
antwortung, ihre weitergehenden Hausaufgaben zu ma-
chen.
Anlage 10
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Begleitung der Verordnung (EU) Nr. 260/2012
zur Festlegung der technischen Vorschriften
und der Geschäftsanforderungen für Überwei-
sungen und Lastschriften in Euro und zur Än-
derung der Verordnung (EG) Nr. 924/2009
(SEPA-Begleitgesetz) (Tagesordnungspunkt 22)
Peter Aumer (CDU/CSU): Heute beraten wir ab-
schließend über das Begleitgesetz zur Umsetzung der
SEPA-Verordnung in Deutschland. Mit ihm wird das
24964 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012
(A) (C)
(D)(B)
deutsche Recht an die europäische SEPA-Verordnung
angepasst, die den bargeldlosen Zahlungsverkehr inner-
halb der EU vereinheitlicht. Die Umsetzung ist eines der
wichtigsten Gesetze der letzten Jahre zur Harmonisie-
rung des europäischen Binnenmarkts für Zahlungs-
dienstleistungen.
Die SEPA-Verordnung ist ein essenzieller Bestandteil
zur weiteren Integration in der Europäischen Union.
Zahlungssysteme sollen damit an die Wirklichkeit
grenzübergreifender Zahlungsströme angepasst werden.
Einheitliche Regelungen auf europäischer Ebene sind
gerade im Hinblick auf die zunehmende Bedeutung bar-
geldloser Zahlungen, wie Überweisungen und Last-
schriften, sinnvoll. Die Verordnung beendet damit das
kostenintensive Nebeneinander von inländischen Zah-
lungsverkehrsprodukten. SEPA wird zu einer Vereinfa-
chung und Vergünstigung für die Verbraucher und die
Industrie führen.
Der christlich-liberalen Koalition ist es gelungen, bei
der Gestaltung des einheitlichen europäischen Zahlungs-
verkehrs die deutschen Interessen bestmöglich einzu-
bringen. Der Bundesregierung ist es bei den Verhandlun-
gen auf europäischer Ebene gelungen, sich mit nahezu
allen Forderungen der christlich-liberalen Koalition
durchzusetzen. Die Trilog-Verhandlungen haben dabei
ebenfalls gezeigt, dass sich kein anderes Mitgliedsland
so vehement für die die Verbraucher- und Endnutzerinte-
ressen eingesetzt hat wie Deutschland.
Die europäische SEPA-Verordnung ist am 31. März
2012 in Kraft getreten. Sie sieht vor, dass Überweisun-
gen und Lastschriften im europäischen Zahlungsraum ab
dem 1. Februar 2014 einheitliche Anforderungen erfül-
len müssen. Deshalb müssen auch die in Deutschland
gebräuchlichen Überweisungs- und Lastschriftverfahren
ab dem 1. Februar 2014 den SEPA-Formaten genügen.
Mit dem SEPA-Begleitgesetz bringen wir nun wich-
tige Regelungen auf den Weg, um eine reibungslose Um-
stellung der Verbraucherinnen und Verbraucher, der
Wirtschaft und der Kreditinstitute von den vertrauten
Zahlverfahren auf die europaweit einheitliche SEPA-
Lastschrift und SEPA-Überweisung zu gewährleisten.
Mit dem Begleitgesetz machen wir nun von den
Übergangsbestimmungen der EU-Verordnung, die auf-
grund des Einsatzes der Bundesregierung erreicht wer-
den konnten, Gebrauch. Um den Verbraucherinnen und
Verbrauchern ausreichend Zeit zu geben, sich auf die
Neuerungen einzustellen, erhalten sie die Möglichkeit,
die ihnen geläufige Kontonummer und Bankleitzahl bis
zum 1. Februar 2016 weiter zu verwenden. Banken und
Sparkassen dürfen für ihre Privatkunden bis zu diesem
Zeitpunkt die Kontokennungen bei Inlandszahlungen
kostenlos in das neue IBAN-Format umwandeln. Wir er-
warten von der Kreditwirtschaft, dass sie die Bürgerin-
nen und Bürger sowie Unternehmen frühzeitig über die
anstehenden Änderungen informiert und sie bei der Um-
stellung auf SEPA aktiv unterstützt.
Auch das im Handel übliche elektronische Last-
schriftverfahren kann aufgrund einer Sonderregelung bis
zum 1. Februar 2016 weitergeführt werden. Handel und
Kreditwirtschaft sollten diese Übergangsfrist nutzen, um
ein praktikables Nachfolgeprodukt für das elektronische
Lastschriftverfahren auf Basis der SEPA-Lastschrift zu
entwickeln. Von der Übergangsbestimmung sind eben-
falls weitere elektronische Lastschriftverfahren erfasst,
die durch anderweitige Verfahren, wie etwa Sign-Pads
oder Fingerabdruck, wie sie bereits in einigen Super-
märkten und Warenhäusern zu finden sind, initiiert wur-
den.
Im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens tauchten
noch einige Unklarheiten bezüglich der telefonisch er-
teilten Lastschrift und der Internetlastschrift auf. Die
CDU/CSU und FDP haben sich hierzu entscheiden, eine
Klarstellung vorzunehmen: Nach der SEPA-Verordnung
und nach ihrem Inkrafttreten und auch nach dem SEPA-
Begleitgesetz können weiterhin wirksame Lastschrift-
mandate im Internet erteilt werden. Für die Nutzung der
Übergangsregelung gemäß Art. 16 Abs. 4 der SEPA-Ver-
ordnung (Nischenprodukte) fehlen nach unserer Auffas-
sung jedoch die rechtlichen Voraussetzungen.
In diesem Zusammenhang möchte ich nochmals an
die deutsche Kreditwirtschaft appellieren, moderne ver-
gleichbare Zahlverfahren zu entwickeln und zur Verfü-
gung zu stellen, die nach Ablauf der Übergangsfrist an-
stelle des elektronischen Lastschriftverfahrens zum
Einsatz kommen können.
Darüber hinaus steht vorrangig die deutsche Kredit-
wirtschaft in der Pflicht, Bürgerinnen und Bürger sowie
Unternehmen frühzeitig über die anstehenden Änderun-
gen zu informieren und sie bei der Umstellung auf SEPA
aktiv zu unterstützen.
An das SEPA-Begleitgesetz hängen wir außerdem
einige neue Regelungen für die deutsche Versicherungs-
branche. Ursprünglich sollten diese Regelungen im Rah-
men des Zehnten Gesetzes zur Änderung des Versiche-
rungsaufsichtsgesetzes (VAG), mit dem vor allen Dingen
die europäische Solvency-II-Richtlinie national umge-
setzt werden soll, verabschiedet werden.
Nun hat sich die Verabschiedung der Regelungen zu
Solvency II auf europäischer Ebene weiterhin verscho-
ben, sodass mit einer Umsetzung dieser Regelungen in
nationales Recht nicht mehr in diesem Jahr zu rechnen
ist. Wir wollen daher einige Regelungen aus dem Zehn-
ten Gesetz zur Änderung des VAG herauslösen und diese
aufgrund ihrer Dringlichkeit bereits jetzt im Rahmen des
SEPA-Begleitgesetzes umsetzen.
Die vorgezogenen Regelungen betreffen zum einen
die Umsetzung des Urteils des Europäischen Gerichtsho-
fes zu Unisextarifen. Ab dem 21. Dezember 2012 dürfen
die Versicherungsunternehmen bei Prämien und Leistun-
gen ausnahmslos nicht mehr zwischen Männern und
Frauen differenzieren.
Zum anderen wollen wir dafür sorgen, dass im Be-
reich der Lebensversicherung angesichts der anhalten-
den Niedrigzinsphase in zwei Bereichen noch Änderun-
gen erfolgen werden: Es soll sichergestellt werden, dass
Bewertungsreserven auf Kapitalanlagen, die das Versi-
cherungsunternehmen zur Sicherstellung der Garantien
an die Versicherungsnehmer erworben hat und weiter be-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012 24965
(A) (C)
(D)(B)
nötigt, bei sinkenden Kapitalmarktzinsen im Unterneh-
men verbleiben können. Des Weiteren soll die bisherige
Trennung der Überschussbeteiligung von vor und nach
1994 abgeschlossenen Lebensversicherungsverträgen
aufgehoben werden. Damit stärken wir die Leistungsfä-
higkeit der Lebensversicherungsunternehmen.
Wieder einmal hat sich gezeigt, dass sich der Einsatz
der Regierungskoalitionen der CDU/CSU und FDP be-
zahlt gemacht hat. Wir konnten für unsere Bürgerinnen
und Bürger sowie für unsere Unternehmen einen deutli-
chen Erfolg bei den Verhandlungen auf europäischer
Ebene erreichen.
Mit SEPA werden Zahlungen in Euro in das europäi-
sche Ausland künftig genauso einfach und kostengünstig
wie im Inland. Die europäische Integration geht nach der
Euro-Bargeldeinführung mit der Vereinheitlichung des
bargeldlosen Euro-Zahlungsverkehrs einen weiteren
Schritt voran.
Die vorzuziehenden Änderungen aus dem VAG ent-
halten zudem wichtige und notwendige Regelungen für
die Versicherungsbranche in Deutschland.
Ich bitte Sie daher, dem Gesetz zuzustimmen.
Martin Gerster (SPD): Eine der Erfahrungsweishei-
ten des politischen Geschäfts lautet: Wo Gesetze, die ei-
gentlich nichts miteinander zu tun haben, zu Paketen
verschnürt werden, kommt selten das Optimum heraus.
Diese Regel gilt auch im Falle des SEPA-Begleitgeset-
zes. Eigentlich sollte das Werk der Umsetzung der am
31. März 2012 in Kraft getretenen SEPA-Verordnung
dienen, mit der ein einheitlicher europäischer Zahlungs-
raum geschaffen werden soll – eine Idee, die wir grund-
sätzlich unterstützen. Indem Sie, liebe Kolleginnen und
Kollegen der schwarz-gelben Koalition, das Vorhaben
aber zum Huckepackgesetz für unausgewogene Ände-
rungen im VAG gemacht haben, ist es uns leider nicht
mehr möglich, dem Gesamtwerk zuzustimmen.
Bevor ich auf die problematischen Zusatzpunkte ein-
gehe, ein paar Worte zu SEPA.
Ein harmonisierter Binnenmarkt für Zahlungsdienste
stellt, wie Sie im Bericht zu den Gesetzesberatungen zu
Recht unterstreichen, durchaus ein wirtschaftspolitisch
sinnvolles Ziel dar. Dies setzt aber voraus, dass er ver-
braucherfreundlich ausgestaltet und von allen Beteilig-
ten entsprechend getragen wird. Da ist es wenig hilfreich,
wenn prominente Unionspolitiker das Gesamtprojekt öf-
fentlich und in höchst polemischer Art und Weise verun-
glimpfen. Geben Sie mal in einer Internetsuchmaschine
„CDU“ und „SEPA“ ein. Sofort stoßen Sie auf Ihren
Kollegen Gunther Krichbaum, der als Vorsitzender des
Europaausschusses SEPA mit den Worten kommentiert:
„Das ist der größte Schwachsinn aller Zeiten“.
Um diesen Eindruck aus der Welt zu schaffen, reicht
es nicht, SEPA in Plenarreden und Ausschussdruck-
sachen demonstrativ zu loben. Im Bericht zum vorlie-
genden Gesetz betonen Sie, dass SEPA zu einer Verein-
fachung und Vergünstigung für die Verbraucher und die
Industrie führen dürfte. Bei allem Optimismus sollte
man aber auch die Bemerkung des zuständigen Referats-
leiters beim BMF berücksichtigten, der bei der zitierten
Sitzung des Europaausschusses im Mai 2011 erklärte:
„Es ist sicher kein Geheimnis, wenn ich verrate, dass vor
allem international tätige Unternehmen, die grenzüber-
schreitende Überweisungen tätigen, von SEPA profitie-
ren werden.“ Sofern diese Einschätzung zutreffend ist,
rückt das Ziel einer wirklich verbraucherorientierten
Umsetzung der SEPA-Standards umso mehr in den Vor-
dergrund. Wir alle kennen die zahlreichen Befürchtun-
gen, mit denen wir uns im vergangenen Jahr angesichts
der drohenden Komplikationen mit bestehenden Ein-
zugsermächtigungen und der Änderung vertrauter Kon-
tonummern konfrontiert sahen.
Auch vor diesem Hintergrund haben wir Sozialdemo-
kraten gemeinsam mit Ihnen die Entschließung vom
12. Mai 2011 mit dem Titel „Europäischen Zahlungsver-
kehr bürgerfreundlich gestalten“ mitgetragen. Denn es
war richtig und wichtig, als deutsches Parlament ein ge-
meinsames Signal in Richtung Brüssel zu geben und
vonseiten der profitierenden Wirtschaftszweige mehr öf-
fentliche Unterstützung für das Projekt SEPA einzufor-
dern.
Insgesamt können wir mit den Ergebnissen zufrieden
sein. Wir freuen uns, dass gerade mit Blick auf die Um-
stellung von wiederkehrenden Lastschriftmandaten auf
den SEPA-Standard eine Lösung über die AGBs gefun-
den werden konnte, die alle Zweifel zerstreut haben
dürfte. Sicher wäre es schön gewesen, auf dem Verhand-
lungswege weitere bewährte Instrumente des deutschen
Zahlungsverkehrs noch länger zu bewahren. Aber
manchmal muss sich Politik auf das Mögliche und
Durchsetzbare beschränken.
Insofern begrüßen wir es, dass mit dem Gesetz die
zeitlichen Spielräume zur Weiternutzung des elektroni-
schen Lastschriftverfahren, ELV, genutzt werden. Auch
die befristete Option für Zahlungsdienstleister, kosten-
lose Konvertierungsdienstleistungen für Kontokennun-
gen zur Verfügung zu stellen, damit Kunden ihre bis-
herige Kontokennung für Inlandszahlungen weiterhin
nutzen könnten, begrüßen wir ausdrücklich. Wo noch
Schwierigkeiten bestehen, wenn es um SEPA-kompa-
tible Nachfolgeprodukte für das ELV und die Nutzung
des Internets für die Erteilung von Lastschriften geht, se-
hen wir vor allem die Marktteilnehmer in der Pflicht.
Vor allem die Kreditwirtschaft, die über den European
Payments Council, EPC, die treibende Kraft hinter
SEPA war, ist aufgefordert, zeitnah entsprechende Pro-
dukte und Verfahren zu entwickeln, die auf die Bedürf-
nisse des Handels, der Industrie sowie speziell der Ver-
braucherinnen und Verbraucher abgestimmt sind.
So viel zu dem, was im Gesetzentwurf in Sachen
SEPA umgesetzt wird. Problematischer gestalten sich
die mit Blick auf die Versicherungsbranche vorgenom-
menen Änderungen.
Wie wir wissen, verschieben sich die Verhandlungen
um Solvency II, die auch die Versicherungsbranche ins-
gesamt krisenfester machen soll, auf europäischer Ebene
weit nach hinten. Mittlerweile ist von 2014 die Rede.
Der ursprüngliche Gesetzentwurf der Bundesregierung
24966 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012
(A) (C)
(D)(B)
zum Entwurf eines Zehnten Gesetzes zur Änderung des
Versicherungsaufsichtsgesetzes ist daher in großen Tei-
len auf Eis gelegt; jedoch sind aus dem Gesetzentwurf
einige Aspekte herausgelöst worden oder gehen auf die
Stellungnahme des Bundesrates zurück und sind wiede-
rum mit dem SEPA-Begleitgesetz verbunden worden.
Die nunmehr aus dem Gesetzentwurf der Bundesregie-
rung zum Entwurf eines Zehnten Gesetzes zur Änderung
des Versicherungsaufsichtsgesetzes herausgelösten Ele-
mente sollen noch dieses Jahr in Kraft treten. Wir begrü-
ßen es, dass die Änderungen in § 8 die Rechtsschutzver-
sicherungen betreffend von den Koalitionsfraktionen
zurückgezogen wurden. Offensichtlich gibt es völlig un-
terschiedliche Interessenlagen einzelner Unternehmen.
Vorrang sollte der Schutz der Verbraucherinnen und Ver-
braucher haben, und wir konnten feststellen, dass sich
der Status quo durchaus bewährt hat.
Unstrittig ist die Umsetzung des Urteils des Europäi-
schen Gerichtshofs zur Gleichbehandlung von Männern
und Frauen auch beim Zugang zu und bei der Versor-
gung mit Gütern und Dienstleistungen, des sogenannten
Unisexurteils. Zudem sollen Maßnahmen ergriffen wer-
den, die die Leistungsfähigkeit der deutschen Lebens-
versicherer in einer Niedrigzinsphase betreffen.
Wir haben hierzu am 17. Oktober 2012 ein Fachge-
spräch geführt, in dem wir viele Punkte kritisch hinter-
fragt haben. Insgesamt gibt es für uns hier Licht und
Schatten im Gesetzentwurf.
Die Änderungen im Hinblick auf die Unisexrecht-
sprechung des EuGH sind für uns in Ordnung und sach-
gerecht. Die Rahmenbedingungen für eine Umsetzung
des Urteils müssen gesetzlich gestaltet werden. Im Hin-
blick auf die Maßnahmen zur Risikotragfähigkeit der
Lebensversicherungsunternehmen blieben bei uns auch
nach der Anhörung noch Fragen offen. Es ist auch aus
unserer Sicht wichtig, Lösungen zu finden, damit die
Versicherungsunternehmen in der aktuellen Niedrigzins-
phase die dadurch entstehenden Belastungen bewältigen
können. Es ist aber trotz der kürzlich überreichten wei-
teren Erläuterungen des Bundesfinanzministeriums vom
26. Oktober für uns nicht nachvollziehbar, dass der
Rückgriff auf die Bewertungsreserven und die Trennung
bei der Überschussbeteiligung die einzigen Mittel sind,
um die aktuellen Probleme der Versicherer zu lösen. Aus
unserer Sicht werden in recht einseitiger Weise die Pro-
bleme, die im Grunde jedes vorausschauende Versiche-
rungsunternehmen bei Langfristverträgen beachten muss,
weil wir stets mit Konjunkturzyklen mit unterschied-
lichem Zinsniveau konfrontiert sind, einseitig auf die
Versicherten abgewälzt, und eine Kompensation wurde
dafür offenbar weder geprüft noch angedacht.
Sicherlich ist es eine Tatsache, dass die Versiche-
rungsunternehmen im derzeitigen Kapitalmarktumfeld
Probleme haben, die notwendigen Erträge zur Erfüllung
ihrer langfristigen Garantien zu erwirtschaften. Das trifft
aber auch die Versicherungsnehmer besonders massiv;
denn ihre Überschussbeteiligungen gehen spürbar zu-
rück und werden auch in den kommenden Jahren voraus-
sichtlich noch weiter absinken. Wenn sie nun auch noch
auf die Beteiligung auf Bewertungsreserven verzichten
sollen, geht die aktuelle Kapitalmarktsituation einseitig
zu ihren Lasten und insbesondere zulasten langfristig
agierender Vorsorgesparer, deren Verträge jetzt fällig
werden.
Man hätte aus unserer Sicht bedenken können, dass es
neben den kapitalmarktabhängigen Gewinnen ja auch
kapitalmarktunabhängige Gewinnquellen, wie zum Bei-
spiel Kostengewinne und Risikogewinne, gibt, und da-
ran könnten die Versicherungsnehmer zum Ausgleich für
den Verzicht auf einen Teil der Bewertungsreserven zum
Beispiel stärker als bislang beteiligt werden. Wenn sich
die Versicherungsnehmer vor dem Hintergrund der Ka-
pitalmarktkrise nunmehr mit einer geringeren Beteili-
gung an den mit ihren Beiträgen geschaffenen Vermö-
genswerten zugunsten der langfristigen Finanzierbarkeit
der Verträge begnügen müssen, sollten auch aus unserer
Sicht die Unternehmen ihrerseits einen Beitrag leisten.
Das wurde im Gesetz unter anderem nicht beachtet, so-
dass wir diesem Teil nicht zustimmen können und uns,
wie dargelegt, insgesamt enthalten werden.
Der Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke
geht nach unserer Auffassung grundsätzlich in die rich-
tige Richtung. Die sehr konkreten Forderungen werden
jedoch nicht begründet, mögliche Konsequenzen für die
Betroffenen werden nicht analysiert. Dies wäre aber
dringend notwendig. Angesichts dessen lehnen wir den
Antrag ab.
Frank Schäffler (FDP): Wir begleiten mit dem vor-
liegenden Gesetzentwurf die SEPA-Verordnung und sor-
gen für ihre Einpassung in den nationalen Rechtsrah-
men. Im Mittelpunkt der Verordnung steht die Schaffung
eines einheitlichen Euro-Zahlungsverkehrsraums. Das ist
uns gelungen, der Grundstein ist gelegt. Eigenständiger
Platz zum rechtlichen Manövrieren steht uns hier nicht
zur Verfügung. Die meisten Fragen sind auf europäischer
Ebene von den Regierungen im europäischen Gesetz-
gebungsverfahren entschieden worden. Die Bundesregie-
rung hat unsere Vorgaben, die wir mit dem Ihnen be-
kannten Entschließungsantrag gemacht haben, zu ihrem
Verhandlungsauftrag gemacht. Und es freut mich, zu sagen:
Die Bundesregierung hat erfolgreich verhandelt. Ausge-
füllt wird der durch die Verordnung beschriebene euro-
päische Rechtsrahmen des Weiteren durch untergesetz-
liche Standards, die vom SEPA-Rat gesetzt werden. In
ihm sind die Nutzer und Anbieter von Zahlungsver-
kehrslösungen versammelt.
Im Gesetzgebungsverfahren hat uns vor allem ein
Problem beschäftigt: Das ein wenig unglückliche Zu-
sammenspiel von Verordnung und untergesetzlichen
Standards führt zu Problemen bei der Form der SEPA-
Mandatserteilung. Wir wollen nämlich Lastschriften
ohne schriftlich erteiltes Mandat erhalten. Betroffen sind
die telefonisch erteilte und die Internetlastschrift. Sie
spielen bedeutende Rollen im deutschen Markt und sind
ein günstiges Konkurrenzprodukt zu anderen Zahlungs-
verfahren. Doch die von uns vorgefundene europäische
Rechtslage stellt es nicht ins Ermessen des deutschen
Gesetzgebers, an welche qualitativen Voraussetzungen
die gültige Erteilung eines SEPA-Mandats geknüpft ist.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012 24967
(A) (C)
(D)(B)
Diese Entscheidung wird nach unserem Verständnis im
SEPA-Rat getroffen. Wir haben sichergestellt, dass ein
Verstoß gegen vom SEPA-Rat gesetzte Standards keine
Ordnungswidrigkeit ist. Es gibt also keine ordnungswid-
rigkeitsrechtlichen Konsequenzen, wenn die Standards
aus welchen Gründen auch immer nicht eingehalten wer-
den.
Deswegen erinnere ich an die Aufgabe des SEPA-Ra-
tes. Er soll die Akzeptanz der SEPA-Produkte fördern.
Wir vertrauen darauf, dass die Nutzer und die Anbieter
von SEPA-Produkten dort entsprechende Lösungen fin-
den, mit denen die Erteilung eines Mandats bei mög-
lichst geringen Transaktionskosten auch weiterhin ge-
währleistet bleibt. Die im SEPA-Rat vertretenen Nutzer
haben dieses Interesse ohnehin. Die Anbieterseite for-
dern wir ausdrücklich auf, ihre Fachkenntnis einzubrin-
gen, um dies zu ermöglichen. In diesem Zusammenhang
ist weiterhin daran zu erinnern, dass kartellrechtliche
Bedenken gegen von den Kartensystemen vorgegebene
Interbankenentgelte geltend gemacht worden sind. Die
Existenz der elektronischen Lastschrift mit ihren niedri-
gen Gebühren diente als wichtiges Argument dafür, dass
hier bislang kein Missbrauch einer marktbeherrschenden
Stellung vorgelegen hat.
Während des Gesetzgebungsverfahrens haben wir die
unproblematischen, aber zeitkritischen Elemente der
VAG-Novelle angefügt. Es handelt sich einerseits um
die fristgerechte Umsetzung des Unisex-Urteils des Eu-
ropäischen Gerichtshofs. Das Geschlecht darf danach
zukünftig kein Anknüpfungspunkt mehr für tarifliche
Diskriminierung sein. Nun sind die Akteure gefordert,
neue Tarife zu berechnen.
Doch im Vordergrund stehen Maßnahmen zur Stär-
kung der Leistungsfähigkeit der deutschen Lebensversi-
cherer. Die Probleme der deutschen Lebensversicherer
sind uns nicht verborgen geblieben. Sie leiden unter den
aktuellen und voraussichtlich auch zukünftigen Niedrig-
zinsen. Um es klar zu sagen: Wir haben es hier mit Pro-
blemen zu tun, die eine unmittelbare Folge der Euro-
Schuldenkrise von Banken und Staaten sind. Die Ret-
tungseuropäer wollen weder Banken- noch Staatspleiten
zulassen. Wenn dies die Prämisse allen Denkens und
Handelns ist, dann ist eine Politik des billigen Geldes die
zwangsläufige Folge. Man könnte auch sagen: Wer
Staaten und Banken rettet, der schadet dem Sparer. Denn
wir erleben eine Kollisionslage von Geld- und Fiskalpo-
litik – die eine lässt die andere nicht unberührt. Die fis-
kalischen Entscheidungen der Rettungseuropäer können
für die Geldpolitik nicht folgenlos bleiben.
Trotz aller Lippenbekenntnisse für höheres Wachs-
tum, eine Sparpolitik und für ausgeglichene Haushalte
sieht die Lage hier ganz, ganz düster aus. Gestern hat die
Kommission ihre Herbstprognose vorgelegt. In diesem
Jahr wird das Haushaltsdefizit der Euro-Zone 3,3 Pro-
zent betragen. Die Maastricht-Latte wird kollektiv geris-
sen. Das ist ein nahezu unglaublicher Vorgang, wenn
ganz Europa unter einem angeblichen Spardiktat steht.
Die ganze Misere macht der Schuldenstand im Verhält-
nis zum BIP deutlich. 2012 beträgt die Schuldenquote
des Euro-Raums 93 Prozent vom BIP. Nächstes Jahr soll
sie 95 Prozent betragen. Der Punkt ohne Wiederkehr soll
bei einer Staatsschuldenquote von 90 Prozent liegen.
Aber dieses Mal könnte es ja anders sein.
Diese ungesunde Fiskalpolitik dominiert die Geldpo-
litik. Da auch die Europäische Zentralbank den schwar-
zen Peter nicht haben möchte, sieht sie sich genötigt,
niedrige Zinsen und eine Geldmengenausweitung zu ver-
ordnen. Das nutzt den verschuldeten Staaten, schädigt
aber alle Marktteilnehmer, die auf eine rentierliche Ver-
zinsung ihrer Anlagen angewiesen sind. Es geht also ins-
besondere um Gläubiger von Geldforderungen. Die Le-
bensversicherungen als Inhaber von Staatsanleihen sind
neben den Sparern am stärksten betroffen. Die Lebens-
versicherer können die Renditen unter den bislang gülti-
gen Rahmenbedingungen nicht halten. Zehnjährige Bun-
desanleihen rentieren heute – ich habe nachgeschaut –
bei 1,38 Prozent. Der Garantiezins für Neukunden liegt
bei 1,75 Prozent. Altverträge versprechen gar 4 Prozent.
Unter diesen Bedingungen ist das System gefährdet. Der
daraus geborenen Not der Lebensversicherer begegnen
wir, indem wir ihnen mehr Gestaltungsfreiheit bei
der Verteilung der Bewertungsreserven einräumen. Das
kommt letztendlich der Versichertengemeinschaft zu-
gute.
Eine echte Lösung der Problematik ist indes auch dies
nicht. Wir operieren hier an Symptomen. Krankheitsaus-
löser ist die staatliche Geld- und Fiskalpolitik. Inzwi-
schen ist klar, dass die Unabhängigkeit der Notenbanken
nur noch auf dem Papier besteht. Stattdessen sind sie vor
den staatlichen Karren gespannt. In der Krise wird offen-
bar, dass die rechtliche Unabhängigkeit der Notenbank
nicht vor einer politischen Instrumentalisierung schützt.
Wenn es überhaupt einen Schutz vor einer solchen
Instrumentalisierung gibt, dann liegt er in einer entspre-
chenden geldpolitischen Kultur. Es mag sein, dass die
Bundesbank stärkere Widerstandskräfte gehabt hätte.
Die Europäische Zentralbank hat diese Kultur innerhalb
eines eng gesetzten Rechtsrahmens und innerhalb ihres
Mandats, zu handeln, jedenfalls nicht. Auch daran haben
die Rettungseuropäer eine Teilschuld. Sie haben Recht
zur Beliebigkeit verkommen lassen. Regeln werden nach
situativem Ermessen gebeugt und ausgelegt. Das begann
mit dem kollektiven Rechtsbruch im Frühjahr 2010, als
die Nichtbeistandsklausel verletzt wurde, um Griechen-
lands Gläubigern helfen zu können. Es setzt sich bis
heute fort, wenn die Konditionen für Hilfen aus den Ret-
tungsschirmen an die Umstände angepasst werden. Nun
zahlen die Kunden von Lebensversicherern einen ersten
Preis. Spätestens jetzt kann es jeder wissen: Die Politik
der Rettungseuropäer kostet uns nicht nur die Stabilität
des Rechts, sondern wir bezahlen auch mit unseren Ver-
mögen.
Harald Koch (DIE LINKE): Ich finde es äußerst
schade, dass dem SEPA-Begleitgesetz noch einige Rege-
lungen der 10. Novelle des Versicherungsaufsichtsgeset-
zes, VAG, beigefügt wurden. So werden jedenfalls zwei
ganz unterschiedliche Themen miteinander verwurstet,
wobei man am Ende aber nur ein einziges Votum abge-
ben darf. Dies ist umso bedauerlicher, als die Linke zu
den jeweiligen Themenkomplexen unterschiedlich ab-
24968 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012
(A) (C)
(D)(B)
stimmen würde. Wenn das schon so gemacht wird, hätte
ich wenigstens erwartet, dass wir ausreichend Raum be-
kommen, um über diese für Verbraucher wichtigen Neue-
rungen im Plenum debattieren zu können, und zwar zu
einer Tageszeit, zu der die Menschen draußen es mitbe-
kommen können, dass hier auch entscheidende Weichen,
die nicht in die richtige Richtung weisen, gestellt wer-
den. Es scheint eher die Absicht der Bundesregierung zu
sein, die Aufmerksamkeit der Verbraucher nicht allzu
sehr auf die angestrebten Neuregelungen zu richten.
Dies kann ich beim SEPA-Begleitgesetz nicht ganz
verstehen. Wenn dieses heute allein zur Abstimmung
stünde, hätte sich die Linke aufgrund durchaus positiver
Entwicklungen enthalten. Es ist nämlich erfreulich, dass
einige verbraucherschutzrelevante Regelungen auf dem
Weg zu einem einheitlichen Euro-Zahlungsverkehrs-
raum umgesetzt wurden.
Die bekannte, kurze Kontonummer kann bis 2016
weiter genutzt werden. Diese lange Übergangsfrist ist
gut. Nun müssen den Menschen nur noch die Bedenken
gegenüber den langen IBAN-Kontokennungen genom-
men werden. Man muss vermitteln, dass lediglich vier
neue Stellen hinzukommen, auch wenn das besonders
für ältere Menschen sicher nicht gerade eine Vereinfa-
chung darstellt. Aber Furcht erscheint fehl am Platze.
Gut ist auf alle Fälle auch das bedingungslose, gebüh-
renfreie Rückgaberecht für Abbuchungen vom eigenen
Konto durch Lastschrift. Dies muss aus unserer Sicht
aber weiterhin dauerhaft gewährleistet werden.
Es war ebenfalls unbedingt erforderlich, zu regeln,
dass Vereine nicht sämtliche Einzugsermächtigungen
neu einholen müssen.
Sinnvoll ist ferner, dass im deutschen SEPA-Rat Ver-
braucherschützer, Wohlfahrtsverbände sowie Genossen-
schaftsbanken oder Sparkassen sitzen.
Schließlich unterstützen wir die Einführung von Nega-
tivlisten bei Lastschriften: Der Verbraucher soll dem
kontoführenden Institut anweisen können, wer auf keinen
Fall auf sein Konto zugreifen darf.
Zusammenfassend sage ich: Der gesamte Umstellungs-
prozess muss einfach, transparent und verbraucher-
freundlich erfolgen. Dies geschieht aber leider nicht
durchgängig.
Kritisch sehen wir am SEPA-Begleitgesetz unter an-
derem dies:
Das bewährte kartenbasierte elektronische Last-
schriftverfahren hätten wir gerne länger als bis 2016 ge-
nutzt. Noch steht in den Sternen, ob für die Zeit danach
ein vergleichbares europäisches Produkt angeboten wird
und wie dieses ausgestaltet ist. Ich bezweifle stark, dass
ein lediglich schwacher Appell an die deutsche Kredit-
wirtschaft, eine solche Produktentwicklung voranzutreiben
(siehe Begründung der Änderung im Zahlungsdienste-
aufsichtsgesetz (ZAG) zu § 7c, S.17 SEPA-BegleitG),
fruchtet. Es ist einfach nur tragisch, wenn Sinnvolles, Be-
währtes und Verbraucherfreundliches „wegharmonisiert“
wird.
Des Weiteren sollte eine Pflicht – keine Kann-Rege-
lung – bestehen, dass Kreditinstitute mit Verbraucher-
konten Konvertierungsleistungen anbieten müssen. Nie-
mand soll wegen Problemen im anfänglichen Umgang
mit SEPA säumig werden müssen, wenn er in der Über-
gangszeit noch die alten statt der neuen Kontokennungen
verwenden muss.
Nicht ganz geklärt ist nach wie vor, ob Konvertie-
rungsdienstleistungen für die Kontokennungen den Ver-
brauchern wirklich ganz kostenfrei zur Verfügung ge-
stellt werden. Ich sage: Weder direkte noch indirekte
Gebühren dürfen dafür erhoben werden! Die Linke
stimmt mit der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfa-
len überein, dass die Bundesanstalt für Finanzdienstleis-
tungsaufsicht, BaFin, bis zum Ende des Konvertierungs-
zeitraumes sicherstellen muss, dass die Kunden keinerlei
Entgelterhöhung ausgesetzt werden. Eine effektive Kon-
trolle der Kreditwirtschaft ist hier notwendig!
Ein großes Problem stellt für uns der Punkt „Benach-
richtigungsgebühren“ dar: Bislang dürfen Banken von
ihren Kunden keine Gebühr verlangen, wenn sie bei einer
Einzugsermächtigung eine Zahlung nicht ausführen und den
Kunden hierüber benachrichtigen. So entschied auch der
Bundesgerichtshof am 22. Mai 2012 (Az. XI ZR 290/11).
Er wies aber zugleich darauf hin, dass nach den neuen
Vorschriften zur SEPA-Lastschrift eine solche Gebühr
wohl in Zukunft als zulässig angesehen wird; denn es
soll sich die Abwicklung von Einzugsermächtigungen
ändern. Mit SEPA muss im Gegensatz zur bisherigen
Regelung bei Einzugsermächtigungen vorab eine Autori-
sierung durch den Kunden erfolgen. Kann neuerdings
eine Zahlung nicht ausgeführt werden, weil nicht genug
Geld auf dem Konto ist, dürfen die Banken dank SEPA
nun eine Benachrichtigungsgebühr verlangen. Seit dem
9. Juli gibt es solche Gebühren wieder! Ein Skandal!
Meine Damen und Herren von der Regierungsbank,
dass Sie hingegen die Aufmerksamkeit der Verbraucher
lieber nicht auf den zweiten Regelungskomplex im Rah-
men des SEPA-Begleitgesetzes – sprich: Die Neurege-
lungen im Versicherungsaufsichtsgesetz – lenken wol-
len, kann ich hingegen voll und ganz nachvollziehen.
Hier geht es ja nicht nur um die Umsetzung des Unisex-
Urteils des Europäischen Gerichtshofs. Sie wollen Rege-
lungen verabschieden, die Versicherte, die Verbraucher
ganz klar benachteiligen! Sie erliegen dem Gejammer
der Versicherungsindustrie, unterwerfen sich zum wie-
derholten Male finanzstarken Lobbyinteressen und be-
treiben dadurch erneut Klientelpolitik zulasten der ver-
sicherten Menschen in diesem Land! Die Linke steht
aber an der Seite der Versicherten!
An den geplanten Regelungen finden wir vor allem
Folgendes bedenklich:
Versicherungsnehmer sollen künftig nur noch An-
spruch auf bestimmte Teile der Bewertungsreserven aus
festverzinslichen Wertpapieren haben. Für alle Verträge
im Bestand eines Versicherungsunternehmens, bei denen
der Rechnungs- bzw. Garantiezins – dieser beträgt seit
Anfang 2012 historisch niedrig 1,75 Prozent, ältere Ver-
träge haben einen höheren Rechnungszins – oberhalb der
Umlaufrendite – diese beträgt am heutigen Tag circa
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012 24969
(A) (C)
(D)(B)
1,08 Prozent – im Zeitpunkt der Berechnung der Bewer-
tungsreserven liegt, soll die Beteiligung ausgeschlossen
werden. Ich wiederhole: …soll eine Beteiligung an den
Bewertungsreserven ausgeschlossen werden.
Sie benutzen einen üblen Taschenspielertrick und ver-
letzen bewusst vertragliche Ansprüche der Versicherten!
Dies ist für mich als Verbraucherschützer nicht hinnehm-
bar!
Letztlich zielen Ihre Regelungen darauf ab, die Über-
schussansprüche insbesondere ausscheidender Altkunden
zu reduzieren und möglichst viel von den Bewertungsre-
serven aus festverzinslichen Papieren zu bunkern, um
weniger Nachreservierungen vornehmen zu müssen. Da-
mit will die Branche zulasten der bereits Versicherten,
aber auch derjenigen, die einen Vertrag kündigen, das
lahmende Neugeschäft stärker ankurbeln. Versicherer
können und wollen die Ansprüche der Verbraucher aus
bestehenden Verträgen reduzieren, um dafür künftigen
Kunden mehr versprechen zu können. Da kann man als
Verbraucherschützer doch nicht untätig bleiben!
Es werden zudem mit den Änderungen des Versiche-
rungsaufsichtsgesetzes präventive Regelungen geschaf-
fen, die es Versicherungsunternehmen erlauben, auf
noch nicht gutgeschriebene Überschussanteile inklusive
der Beteiligung an den Bewertungsreserven zurückgrei-
fen zu können, um im sogenannten Notstand die Zah-
lungsfähigkeit des Unternehmens zu sichern (vgl. § 56 b
Abs.1 VAG neu). Neben der BaFin müssen unbedingt
Verbraucherschutzverbände und andere mit einbezogen
werden, um einen – vorher klar zu definierenden – „Not-
stand“ feststellen zu können. Mit solch einem butterwei-
chen Begriff wird doch sonst der Selbstbedienung der
Versicherer Tür und Tor geöffnet.
Man muss gewiss die Zahlungsfähigkeit der Versiche-
rungsunternehmen im Auge haben, um massenhafte In-
solvenzen zu verhindern, aber es kann nicht angehen,
dass die Risikotragfähigkeit der Versicherer absolut ein-
seitig nur dadurch finanziert wird, dass bestehende An-
sprüche der Versicherten stetig vermindert werden.
Auch hier sieht man: Die Bundesregierung hofiert nur
die Versicherungswirtschaft und verringert auf diesem
Weg das Eigentum der Versicherten!
Die Linke hat deshalb für heute einen Entschlie-
ßungsantrag zum Versichertenschutz vorgelegt. In dem
fordern wir, die Beteiligung der Versicherungsnehmer am
gesamten Rohüberschuss, Kapitalanlageergebnis plus
Risikoergebnis plus Kosten und sonstiges Ergebnis, auf
insgesamt 90 Prozent anzuheben. Die Mindestzufüh-
rungsverordnung muss daneben auch so geändert wer-
den, dass eine verbindliche Beteiligung der Versicherten
an der freien Rückstellung für Beitragsrückerstattung,
RfB, und dem Schlussüberschussanteilsfonds von min-
destens 50 Prozent geschaffen wird.
Wir werben daher für unsere Vorschläge zum Ver-
sichertenschutz und müssen aus genannten Gründen das
SEPA-Begleitgesetz – vor allem wegen der Neuregelun-
gen im Versicherungsaufsichtsgesetz – insgesamt ableh-
nen.
Es ist an der Zeit, dass die Bundesregierung den fi-
nanziellen Verbraucherschutz endlich ernst nimmt und
sich bedingungslos auf die Seite der Versicherten und ih-
rer Rechte stellt. Wie lange wollen Sie denn noch Spiel-
ball der Versicherungslobby bleiben?
Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Wir Grüne haben es stets befürwortet und unterstützt,
den europäischen Zahlungsverkehr durch einen einheitli-
chen Euro-Zahlungsverkehrsraum, Single Euro Pay-
ments Area, SEPA, im Sinne der Harmonisierung des
europäischen Binnenmarktes zu vereinfachen. Gleich-
zeitig war uns wichtig, dass die Umstellung auf die
neuen Zahlungsverfahren rechtssicher und reibungslos,
kurzum: so verbraucherfreundlich wie nur möglich, ver-
läuft.
Deshalb war es ein Erfolg, dass grüne Kernforderun-
gen zu zentralen Themen wie Verbraucherschutz,
Rechtssicherheit und Effizienz in den Verordnungstext
aufgenommen werden konnten. Beispielsweise hatten
wir uns auf europäischer Ebene dafür eingesetzt, dass
Verbraucherinnen und Verbraucher die ihnen geläufige
Kontonummer und Bankleitzahl statt der Zahlungskon-
tonummer IBAN bis zum 1. Februar 2016 weiter ver-
wenden können. Von dieser befristeten Option für
Zahlungsdienstleister, kostenlose Konvertierungsdienst-
leistungen für Kontokennungen anzubieten, und von an-
deren Übergangsregelungen macht das SEPA-Begleitge-
setz, das wir heute abschließend beraten, Gebrauch.
Es ist damit im Großen und Ganzen geeignet, eine
verbraucherfreundliche Umstellung der bisherigen natio-
nalen Zahlungsverfahren auf die SEPA-Zahlungsverfah-
ren sicherzustellen. Es kommt nun in den nächsten Mo-
naten darauf an, die Verbraucherinnen und Verbraucher
zu informieren und sie nicht mit den bevorstehenden
Umstellungen auf SEPA alleinzulassen. Hier sehe ich die
deutsche Kreditwirtschaft in der Pflicht.
Ich möchte kurz auf das Thema Internetlastschriften
eingehen. Im Laufe der Beratungen hatten sich Endnut-
zer besorgt gezeigt, dass das Lastschriftverfahren im
Internet nach der SEPA-Verordnung mit Ablauf der na-
tionalen Regelungen bereits zum 1. Februar 2014 zu ent-
fallen drohe. Nach Auffassung der Koalitionsfraktionen
können allerdings sowohl nach der SEPA-Verordnung
als auch nach dem Inkrafttreten des SEPA-Begleitgeset-
zes wirksame Lastschriftmandate im Internet weiterhin
erteilt werden. Die Banken in Deutschland sollten nach
Auffassung der Koalitionsfraktionen das Internetlast-
schriftverfahren ohne Schriftform auf Grundlage der
vertraglichen Vereinbarungen mit ihren Kunden oder in
ähnlicher Weise gewährleisten.
Verstehen kann ich hier jedoch die Unklarheit und die
Unsicherheit aufseiten der Nutzer über die Zukunft der
Internetlastschrift vor dem Hintergrund, dass die deut-
sche Kreditwirtschaft nach Auskunft des Handelsver-
bandes Deutschland e. V. gemäß ihrer Inkassobedingun-
gen ausschließlich papierhafte Mandate bei der SEPA-
Lastschrift akzeptiert. Es bleibt zu hoffen, dass das bei
Verbraucherinnen und Verbrauchern beliebte Bezahlen
mittels Internetlastschrift nicht durch andere, in der Re-
24970 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012
(A) (C)
(D)(B)
gel teurere Zahlungsweisen (beispielsweise Kreditkarte)
ersetzt werden muss. Und auch mit Blick auf das elek-
tronische Lastschriftverfahren möchte ich nochmals
betonen, dass es insbesondere Aufgabe der deutschen
Kreditwirtschaft ist, die Entwicklung eines dem elektro-
nischen Lastschriftverfahren vergleichbaren Nachfolge-
produktes aktiv voranzutreiben.
Darüber hinaus haben die Koalitionsfraktionen einen
sachfremden Änderungsantrag eingebracht, mit dem im
Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens zum SEPA-Be-
gleitgesetz Teile der geplanten Novelle des Versiche-
rungsaufsichtsgesetzes vorgezogen werden. Im Wesent-
lichen handelt es sich dabei zum einen um die
Umsetzung des Urteils des Europäischen Gerichtshofs
vom 1. März 2011 in der Rechtssache C-236/09 (soge-
nanntes Unisexurteil). Zum anderen handelt es sich um
Maßnahmen zur Stärkung der Leistungsfähigkeit der
deutschen Lebensversicherer. Diese beinhalten unter an-
derem eine aufsichtsrechtliche Neuregelung der Beteili-
gung der Versicherten an den Bewertungsreserven der
Lebensversicherer. Künftig sollen – in Abhängigkeit von
der Umlaufrendite – nur noch bestimmte Teile der Be-
wertungsreserven festverzinslicher Wertpapiere in der
Überschussbeteiligung nach § 153 Versicherungsver-
tragsgesetz in Ansatz kommen. Diesem erheblichen Ein-
griff in die Ansprüche der Versicherten können wir aus
den nachfolgenden Gründen nicht zustimmen:
Es ist unbestritten, dass das Niedrigzinsumfeld für die
Lebensversicherungsbranche eine große Herausforde-
rung darstellt. Es ist auch richtig, darauf zu reagieren.
Nachdem jedoch in den letzten Jahren bereits der Garan-
tiezins gesenkt wurde und Steuererleichterungen in den
Jahressteuergesetzen 2010 und 2013 in Bezug auf die
Rückstellungen für Beitragsrückerstattung vorgenom-
men wurden, wird heute zum vierten Mal eine Maß-
nahme zur Stabilisierung des Lebensversicherungssek-
tors beschlossen, ohne dass konkret dargelegt bzw.
quantifiziert wird, welche Maßnahmen warum wirklich
notwendig sind und zu wessen Lasten diese Maßnahmen
erfolgen.
Die Begründung des Bundesfinanzministeriums in ei-
ner angeforderten Aufzeichnung, dass aufgrund der
anhaltenden Niedrigzinsphase nicht ausgeschlossen wer-
den könne, dass einzelne Unternehmen künftig in
Schwierigkeiten geraten können, ist alles andere als
überzeugend. Die in der Aufzeichnung zitierte Studie
der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht aus
dem Jahr 2011, aus der hervorgeht, dass die Kapital-
erträge der Lebensversicherer nicht ausreichen, um die
Garantie sowie die Zuführungen zu Zinszusatzreserven
zu tragen, berücksichtigt beispielsweise nur Kapital-
erträge und weder die anderen Ertragsquellen noch deren
Reserven.
Festzustellen ist vielmehr, dass die Lebensversiche-
rungsbranche in der Summe immer noch sehr profitabel
ist. Stärkere Unternehmen erzielen immer noch Eigenka-
pitalrenditen von über 25 Prozent. Solange viele Versi-
cherungsunternehmen aber gute Eigenkapitalrenditen,
gute Ratings und hohe Ausschüttungen aufweisen und
nur Teile der Versicherungsbranche vor wirtschaftlichen
Problemen stehen, sollte doch lediglich dort spezifisch
eingriffen werden, wo die Probleme tatsächlich liegen.
Es ist schwer verständlich, weshalb die Profitabilität des
gesamten Sektors zulasten der Versicherten angehoben
werden soll, nur um wenige schwache Unternehmen zu
schützen. Gleichzeitig ist nicht sichergestellt, dass die
Maßnahmen zur Stärkung der Lebensversicherer auch
wirklich deren Stabilisierung zugutekommen. Die Paral-
lele zum Bankensektor zeigt doch eins: Mit Blick auf
Ausschüttungen und Boni sind Auflagen und zusätzliche
Regelungen notwendig.
Nach alledem ist derzeit jedenfalls nicht erkennbar,
dass der von der Bundesregierung gewählte regulatori-
sche Ansatz der geeignetste ist. Berücksichtigt man nun
noch, dass bereits das geltende Recht zur Beteiligung
von Versicherten an den Bewertungsreserven bei Le-
bensversicherungen nicht einmal geeignet ist, Transpa-
renz herzustellen – wie es die Bundesregierung auf eine
Kleine Anfrage meiner Fraktion offen eingesteht –, kann
man diese Maßnahme nur ablehnen.
Anlage 11
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines … Gesetzes
zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes (Ta-
gesordnungspunkt 35)
Ansgar Heveling (CDU/CSU): Wir beraten heute in
erster Lesung einen von den Fraktionen der CDU/CSU
und FDP eingebrachten Entwurf zur Änderung des Ur-
heberrechtsgesetzes. Konkret geht es um § 52 a UrhG,
der die Nutzung geschützter Werke in Wissenschaft und
Forschung regelt und eine in der Praxis bedeutsame
Schranke des Urheberrechts darstellt.
Mit dem Gesetzentwurf erreichen wir zwei wesentli-
che Dinge: Zum einen erhalten wir vorläufig die für
Wissenschaft und Forschung wichtige Geltung des
§ 52 a UrhG, zum anderen schaffen wir die Vorausset-
zung für die Einrichtung einer dauerhaften einheitlichen
Wissenschaftsschranke im deutschen Urheberrecht.
Die Wissenschaft leistet in unserer Gesellschaft einen
maßgeblichen Beitrag zur Erweiterung unseres Wissens-
horizonts. Dabei sind Wissenschaftler wie Studenten,
Lehrer wie Schüler auf die Nutzung urheberrechtlich ge-
schützter Werke angewiesen. Deswegen ist mit den
§§ 52 a ff. UrhG eine besondere Schranke für die Berei-
che Schule, Studium und Lehre, Wissenschaft und For-
schung geschaffen worden. Kleine Teile eines Werkes
oder Werke von geringem Umfang sowie Zeitungs- und
Zeitschriftenbeiträge können für Unterrichtszwecke ver-
vielfältigt und öffentlich zugänglich gemacht werden.
Diese Wissenschaftsschranke wurde seinerzeit jedoch
bewusst befristet, da die Anwendung in der Praxis noch
nicht absehbar war. Diese Befristung wurde nun bereits
zweimal verlängert, und es wurde jedes Mal vorher ein
Evaluierungsbericht vorgelegt.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012 24971
(A) (C)
(D)(B)
Das Bundesjustizministerium ist leider auch in sei-
nem dritten Evaluierungsbericht zu keinem Ergebnis ge-
kommen und hat – außer einer weiteren Befristung der
Schranke – ebenso wenig einen Lösungsvorschlag unter-
breitet.
Deshalb haben wir von CDU und CSU gemeinsam
mit der FDP einen Gesetzentwurf eingebracht, der eine
erneute Befristung von § 52 a UrhG in § 137 k UrhG bis
zum 31. Dezember 2014 vorsieht. Gleichzeitig fordern
wir aber die Bundesregierung auf, bis spätestens sechs
Monate vor Ablauf dieser Befristung einen Gesetzent-
wurf vorzulegen, durch den § 52 a UrhG in eine dauer-
hafte Urheberrechtsschranke überführt wird.
Das Ziel sollte es sein, eine neue einheitliche Wissen-
schaftsschranke zu schaffen. Damit ließe sich endgültig
Rechtssicherheit für alle Beteiligten erreichen. Zudem
sind viele der Regelungen in §§ 52 a ff. UrhG heute auf-
grund der fortschreitenden Digitalisierung nicht mehr
angemessen und teilweise überholt.
Das Bundesjustizministerium hätte jedenfalls lange
Zeit gehabt – drei Jahre, um genau zu sein –, eine Lö-
sung vorzulegen. Da dies immer noch nicht geschehen
ist, haben wir nun aus der Mitte des Parlaments heraus
einen Gesetzentwurf eingebracht.
Im Bereich der Schulen funktioniert die Anwendung
des § 52 a UrhG bereits gut. Probleme gibt es jedoch an
den Hochschulen. Es ist fatal, dass seit der Einführung
des § 52 a UrhG noch kein einziger Cent seitens der
Länder an die am stärksten betroffene Verwertungsge-
sellschaft, die VG Wort, geflossen ist. Mit der Einrich-
tung einer dauerhaften Wissenschaftsschranke muss ge-
währleistet sein, dass die Urheber für die Nutzung ihrer
geschützten Werke angemessen vergütet werden.
Mit der letztmaligen Erneuerung der Befristung wol-
len wir die Entscheidung des Bundesgerichtshofs zur
Vergütung sowie zur Reichweite der Schranke abwarten,
damit dann die Erkenntnisse der Rechtsprechung in die
Formulierung einer einheitlichen Wissenschaftsschranke
einfließen können und die Reichweite der Schranke auf
das erforderliche Maß reduziert werden kann. Bis Ende
2014 sollten wir mit einer Entscheidung durch den Bun-
desgerichtshof rechnen können. Nach diesem Urteil wird
sich absehen lassen, wie die Regelung in § 52 a UrhG
auf Grundlage der Entscheidung des BGH in den Hoch-
schulen praktisch angewandt wird.
Der vorliegende Gesetzentwurf wird nicht nur den
Unterricht an Schulen und Hochschulen sowie die wert-
volle Arbeit von Wissenschaft und Forschung in unse-
rem Land in den kommenden beiden Jahren sichern. Er
ist vor allem eine solide Grundlage für die Einrichtung
einer dauerhaften, einheitlichen Wissenschaftsschranke
im deutschen Urheberrecht. Damit leisten wir einen
wichtigen Beitrag für Lehre und Forschung in Deutsch-
land und schaffen gleichzeitig einen Ausgleich zwischen
Urhebern, Werkmittlern und der Wissenschaft.
Tankred Schipanski (CDU/CSU): Der Gesetzent-
wurf, den wir heute in erster Lesung debattieren, sieht
eine nochmalige Verlängerung des § 52 a UrhG um wei-
tere zwei Jahre, bis zum 31. Dezember 2014, vor. Diese
Regelung erlaubt es, kleine Teile eines Werkes, Werke
geringen Umfangs und einzelne Beiträge aus Zeitungen
oder Zeitschriften zur Veranschaulichung im Unterricht
an Schulen, Hochschulen und weiteren Einrichtungen ei-
nem bestimmten abgegrenzten Kreis von Personen für
Unterrichtszwecke oder für Forschungszwecke öffent-
lich zugänglich zu machen. Nach derzeit noch gelten-
dem Recht läuft diese Sonderregelung für den Bildungs-
und Wissenschaftsbereich zum 31. Dezember 2012 aus.
Mit dieser Gesetzesänderung schaffen wir für weitere
zwei Jahre Rechtssicherheit für alle betroffenen Akteure:
für Lehrer und Wissenschaftler, für Forscher und Biblio-
thekare, aber auch für Autoren und Verleger. Wir sind
uns jedoch auch bewusst, dass sich die angesprochenen
Akteure dauerhafte Rechtssicherheit wünschen. Lassen
Sie es mich klar sagen: Auch wir streben eine dauerhafte
Lösung an. Jedoch fehlt es derzeit noch an den notwen-
digen Voraussetzungen für eine langfristige Lösung.
Warum ist das so? Zwei wichtige Entscheidungen des
Bundesgerichtshofs stehen noch aus. Die eine betrifft die
Höhe der von den Ländern zu entrichtenden Vergütun-
gen an die Verwertungsgesellschaft VG Wort, die andere
die Reichweite von § 52 a UrhG. Im ersten Verfahren hat
zunächst das OLG München am 24. März 2011 einen
Gesamtvertrag zwischen Kultusministerkonferenz und
der VG festgesetzt, gegen den beide Parteien Revision
eingelegt haben. Nun befasst sich der BGH mit diesem
Verfahren. Ein Termin für die Entscheidung steht noch
nicht fest.
Im zweiten Verfahren, basierend auf einer Entschei-
dung des OLG Stuttgart vom 4. April 2012, erwarten wir
eine Entscheidung über die inhaltliche Reichweite des
§ 52 a UrhG. Die Nutzung außerhalb des Semesterapparats
oder außerhalb der Vorlesung sei von dieser Schranke
ausdrücklich nicht erfasst, so das OLG Stuttgart – eine
Auffassung, die meines Erachtens zu eng ist. Auch hier
steht die Entscheidung des BGH noch aus.
Solange wir kein auf Dauer belastbares rechtliches
Fundament haben, können wir auch keine langfristigen
politischen Richtungsentscheidungen treffen. Wir müs-
sen als Gesetzgeber zunächst wissen, wie § 52 a UrhG
auf der Grundlage der Entscheidungen des BGH künftig
anzuwenden ist. Aus diesem Grund halten wir eine letzt-
malige Verlängerung der Befristung für richtig. Deshalb
erhält die Bundesregierung in dem heute vorliegenden
Gesetzentwurf auch den Auftrag, bis spätestens 30. Juni
2014 – sprich: bis ein halbes Jahr vor dem erneuten Aus-
laufen der Befristung – einen Gesetzentwurf vorzulegen,
mit dem die befristete Sonderregelung des § 52 a UrhG
in eine neu gefasste, dann dauerhafte Wissenschafts-
schranke überführt wird.
Mit der Verlängerung der bestehenden Sonderrege-
lung haben wir für Schulen und Hochschulen, Bibliothe-
ken und Verlage ein wichtiges Etappenziel erreicht. Un-
sere Arbeit geht aber weiter. Ziel ist es, bis Ende 2014
die in § 52 a UrhG geregelte Ausnahme zusammen mit
anderen urheberrechtlichen Regelungen in den Berei-
chen Unterricht und Forschung zu einer einheitlichen
Wissenschaftsschranke im Urheberrecht zusammenzu-
24972 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012
(A) (C)
(D)(B)
führen. Ich werbe dafür, die notwendigen Diskussionen
hierzu früh zu beginnen und im nächsten Koalitionsver-
trag die Richtung für die nächste Legislaturperiode mög-
lichst präzise festzuschreiben.
Das von der CDU/CSU-Fraktion am 26. Juni 2012
veröffentlichte Diskussionspapier „Urheberrecht in der
digitalen Gesellschaft“ ist hierzu ein wichtiger erster
Schritt. In diesem Papier hat meine Fraktion klarer und
weitgehender als alle anderen Fraktionen im Deutschen
Bundestag Stellung zu vielfältigen Fragen des Urheber-
rechts bezogen. Wir sind uns der maßgeblichen Rolle
von Bildung und Wissenschaft zur Erweiterung unseres
Wissens bewusst. Um diese Aufgabe zu erfüllen, sind
Bildungs- und Wissenschaftseinrichtungen auf die Nut-
zung urheberrechtlich geschützter Werke angewiesen.
Als Bildungs- und Wissenschaftspolitiker bin ich
überzeugt, dass die Bedeutung von Bildung und Wissen-
schaft für die Weiterentwicklung unserer Gesellschaft in
Zukunft nicht geringer werden wird; ganz im Gegenteil.
Deshalb sollten Bildungs- und Forschungseinrichtungen
auch in Zukunft im Sinne des jetzigen § 52 a UrhG eine
Sonderstellung einnehmen.
Ich weiß aus zahlreichen Gesprächen um die Unsi-
cherheiten, die Sorgen und die Probleme, die in vielen
Bildungs- und Forschungseinrichtungen im Hinblick auf
das Urheberrecht vorherrschen. So hat die mediale Mo-
dernisierung dazu geführt, dass § 52 a UrhG in Wissen-
schaft und Forschung zunehmend als zu eng empfunden
wird und auf eine deutliche Ausweitung gedrängt wird.
Stark gestiegene Preise und die Bündelung in Daten-
banken haben dazu geführt, dass es für die öffentliche
Hand immer schwerer wird, wissenschaftliche Werke für
Hochschulen und Forschungseinrichtungen zu lizenzie-
ren. Die Hochschulbibliotheken beschweren sich über
Marktversagen und punktuelle Monopolbildung durch
wissenschaftliche Großverlage. Die Länder wiederum be-
klagen enorme Preissteigerungen bei wissenschaftlicher
Literatur. Diese und weitere Punkte wurden bereits in
der zweiten Anhörung des BMJ zum sogenannten Drit-
ten Korb des UrhG am 13. Juli 2010 sehr deutlich.
In den bevorstehenden Verhandlungen zu einer ein-
heitlichen Wissenschaftsschranke gilt es, auch diese Pro-
bleme zu berücksichtigen. Dabei muss es uns insbesondere
gelingen, der wachsenden Bedeutung der elektronischen
Kommunikation für Wissenschaft, Forschung und aka-
demische Lehre Rechnung zu tragen. Nur so können wir
ein modernes, zeitgemäßes und nutzerfreundliches Ur-
heberrecht schaffen.
René Röspel (SPD): Der hier zu debattierende Ge-
setzentwurf der Koalitionsfraktionen stellt ein weiteres
Mal ein Armutszeugnis für Schwarz-Gelb dar: Von Ge-
staltungswille kann hier keine Rede sein. Der § 52 a des
Urheberechtsgesetzes soll nach dem Willen der Koalitio-
näre ein weiteres Mal um zwei Jahre verlängert werden.
Damit vergibt die Bundesregierung – und mit ihr die Ko-
alitionsfraktionen – die Chance, endgültig Rechtssicher-
heit für die Bildungs- und Wissenschaftslandschaft in
Deutschland zu schaffen. Aber warum ist eine solche
Regelung im Urheberrecht von solcher Bedeutung für
Bildung und Lehre in Deutschland?
Die Bedeutung der in § 52 a Urheberrecht kodifizier-
ten Wissenschaftsschranke für den Bildungs- und Wis-
senschaftsstandort Deutschland ist nicht zu unterschät-
zen. Nur durch diese Regelung ist es öffentlichen
Bildungs- und Wissenschaftseinrichtungen in Deutsch-
land möglich, einen kleinen Teil eines geschützten Wer-
kes zum Zwecke der Lehre einem begrenzten Personen-
kreis zugänglich zu machen. Der von fast allen
Hochschullehrern an deutschen Hochschulen zum Ein-
satz kommende Semesterapparat – in analoger oder digi-
taler Form – ist hierfür das beste Beispiel. Aber auch die
vereinzelte Kopie eines Fach- oder Zeitungsartikels, die
von Lehrern den Schülern als ergänzendes Unterrichts-
material zur Verfügung gestellt wird, wird von dieser
Regelung erfasst. Selbstverständlich erfolgt dies nicht
gänzlich kostenfrei. Vielmehr sieht das Gesetz hierfür
eine unbürokratische Lösung in Form der pauschalen
Vergütung der Urheber mittels der Verwertungsgesell-
schaften vor.
Anhand dieser Beispiele wird deutlich, welche zen-
trale Rolle diese Ausnahmeregelung im Urheberrechts-
gesetz für Einrichtungen der Bildung und Lehre hat.
Ohne den § 52 a Urheberrechtsgesetz wäre eine effektive
und qualitativ hochwertige Lehre in Deutschland kaum
denkbar.
Umso bedauerlicher ist es, dass den von dieser Rege-
lung profitierenden Einrichtungen nicht dauerhaft
Rechtssicherheit durch diese Bundesregierung geboten
wird. Denn diese wichtige Regelung steht auf wackeli-
gen Füßen: So wurde sie bei ihrer Einführung 2003 mit
einer Befristung versehen, die den Zweck hatte, nach ei-
ner angemessenen Frist – von damals drei Jahren – die
Regelung zu evaluieren und dann gegebenenfalls anzu-
passen bzw. zu entfristen. Nach erneuten Befristungen in
den Jahren 2006 und 2008, das heißt nach nunmehr fast
zehn Jahren, läuft die derzeitige Befristung zum Ende
des Jahres aus.
Dies hat die SPD-Bundestagsfraktion zum Anlass ge-
nommen, um bereits vor der Sommerpause einen Ge-
setzentwurf auf den Weg zu bringen, der eine endgültige
Entfristung dieser in der Praxis wohl bewährten Rege-
lung vorsieht. Denn nur auf diese Weise kann für die be-
troffenen Akteure dauerhaft Rechtssicherheit geschaf-
fen werden. Dabei folgt die SPD-Bundestagsfraktion mit
ihrer Forderung nach einer Entfristung nicht nur der
Empfehlung der Allianz der Wissenschaftsorganisatio-
nen oder dem Bündnis für Urheberrecht. Vielmehr hat
sich das Bundesministerium der Justiz bereits bei seiner
Evaluation im Jahr 2008 für eine Entfristung der Rege-
lung ausgesprochen. Umso verwunderlicher ist es, dass
das gleiche Haus bei seiner dritten Evaluation erstmalig
zur Auffassung kommt, von einer Entfristung zugunsten
einer weiteren Befristung – es wäre die vierte in Folge –
abzusehen, und dass es damit zu einem anderen Ergebnis
kommt. Begründet wird diese abweichende Meinung mit
der Empfehlung zur weiteren Befristung um zwei Jahre
mit dem Hinweis, dass derzeit noch ein Revisionsverfah-
ren beim Bundesgerichtshof anhängig ist, welches die
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012 24973
(A) (C)
(D)(B)
Frage der Höhe der pauschalen Vergütung zwischen
Nutzern im Hochschulbereich und den Rechteinhabern
bzw. Verwertern endgültig klären soll.
Diese Bewertung ist nur schwer nachvollziehbar.
Würde man eine solche Begründung zu Ende denken,
dann hieße dies, dass der Gesetzgeber in jeder Sach-
bzw. Rechtsfrage, die derzeit vor deutschen Gerichten
verhandelt wird, für die Dauer des Verfahrens seinen ge-
setzgeberischen Gestaltungsanspruch aufgibt.
Das zuständige Fachressort scheint demnach in dieser
Frage der Rechtsprechung Vorrang vor der Rechtsetzung
zu geben, mit der Folge, dass das Primat der Politik vor
der Judikative zurücktritt. Zwar ist es grundsätzlich be-
grüßenswert, wenn die Exekutive die verfassungsge-
mäße Unabhängigkeit der Judikative anerkennt, doch
sollte just jenes Haus, welches die gesamte juristische
Fachkompetenz der Bundesregierung bündelt, sich da-
rüber im Klaren sein, dass das Richterrecht lediglich
dazu dient, Unklarheiten in der Gesetzgebung zu
klären – nicht jedoch die tatsächliche Gesetzgebung der
Exekutive zu ersetzen. Allerdings ist eher davon auszu-
gehen, dass das zuständige Ministerium sich seiner
Kompetenz und Aufgabe bewusst ist. Vielmehr scheint
hier die politische Spitze des Fachressorts die Uneinig-
keit zwischen Bildungs- und Rechtspolitikern der Koali-
tionsfraktionen über die künftige Ausgestaltung des Ur-
heberrechts mit fadenscheinigen Begründungen zu
decken bzw. den durch Uneinigkeit geschwächten Koali-
tionsfraktionen mehr Zeit zu verschaffen.
Diese Uneinigkeit hat letztlich eine Handlungsunfä-
higkeit zur Folge, die den Interessen der Bildungs- und
Wissenschaftslandschaft in Deutschland nicht gerecht
wird. Diese Handlungsunfähigkeit hat etwa dazu ge-
führt, dass der vorliegende Gesetzentwurf nur in aller-
letzter Minute seinen Weg ins Parlament gefunden hat.
Abgesehen von dem Umstand, dass der vorliegende Ge-
setzentwurf der Koalitionsfraktionen den Mitgliedern
des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technik-
folgenabschätzung erst unmittelbar vor Beginn der Aus-
schusssitzung übermittelt und somit eine inhaltliche
Auseinandersetzung im parlamentarischen Raum er-
heblich erschwert wurde, werden die von der Regelung
betroffenen Bildungseinrichtungen im Ungewissen ge-
lassen, auf welcher rechtlichen Basis die Wissensver-
mittlung ihrer Lehrtätigkeit ab dem 1. Januar 2013 be-
ruht. Zudem birgt diese Vorgehensweise die Gefahr,
dass eine mögliche unerwartete Verzögerung im parla-
mentarischen Verfahrensablauf – man denke an dieser
Stelle etwa an die Vorgänge rund um das Be-
treuungsgeld – zu unabsehbaren Folgen für den Bil-
dungs- und Wissenschaftsstandort Deutschland führt.
Dies scheint diese Regierungskoalition offenbar billi-
gend in Kauf zu nehmen.
Es ist daher mit angemessener Bestürzung festzustel-
len, mit welcher Leichtfertigkeit diese Regierung und
mit ihr die Koalitionsfraktionen das Wohl und Wehe der
betroffenen Einrichtungen und der auf sie angewiesenen
meist jungen Menschen in Bildungsfragen riskieren.
Denn die Betroffenen haben in Fragen, die so grundle-
gend für ihre Arbeit sind, Anspruch auf Rechtssicher-
heit, sei sie befristet oder unbefristet.
Aber es wird offenbar Prinzip dieser Koalition, selbst
in eindeutigen Angelegenheiten so lange zu feilschen,
bis Probleme für die Betroffenen entstehen.
Marianne Schieder (Schwandorf) (SPD): Wie oft
will uns die schwarz-gelbe Koalition noch beweisen,
dass sie nicht regierungsfähig ist? Die Ergebnisse des
letzten Koalitionsausschusses bildeten nur den Auftakt
in dieser Woche für die Beweisführung. Der vorliegende
Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Urheber-
rechtsgesetzes, die erneuten Befristung des § 52 a, ist ein
weiterer Beleg für die Unentschlossenheit von Schwarz-
Gelb.
Statt eine längst überfällige umfassende Novellierung
des Urheberrechtsgesetzes vorzulegen, wird jetzt schnell
mit einem Einzelvorhaben reagiert, bevor in zwei Mona-
ten die bisherige Regelung nicht mehr gültig ist. Jetzt
müssen wir nur hoffen, dass bis zur zweiten und dritten
Lesung des aktuellen Entwurfs nicht noch ein Koali-
tionsgipfel ansteht, bei dem einer der Partner Verhand-
lungsmasse braucht und den eingebrachten Gesetzent-
wurf wieder infrage stellt. Das haben wir ja bei anderen
Vorhaben in den letzten Monaten schon erleben dürfen –
ich nenne hier nur das Betreuungsgeld.
Im Sinne der Rechtssicherheit für Forschung und
Lehre hoffe ich, dass uns wenigstens ein solcher Schild-
bürgerstreich erspart bleibt. Denn dann müssten unsere
Hochschulen im laufenden Semester ihren kompletten
Lehrbetrieb über den Haufen werfen. Bildungspolitisch
wäre dies ein Fiasko und rechtspolitisch ein endgültiger
Todesstoß für diese Koalition.
Nach der letzten Bundestagswahl hat Schwarz-Gelb
vollmundig angekündigt, dass ab jetzt durchregiert
werde, weil endlich die richtigen Partner zusammen
seien. Wenn Sie diese Ansage nur in Ansätzen ernst neh-
men würden, liebe Kolleginnen und Kollegen von
Schwarz-Gelb, dann müsste zumindest der vorliegende
Entwurf anders aussehen. Dann würden wir wenigstens
über eine dauerhafte Entfristung des § 52 a diskutieren.
Dann hätten wir endlich verlässliche und dauerhafte
Regelungen für Unterricht, Lehre und Forschung. Einen
entsprechenden Gesetzentwurf haben wir bereits im Juni
dieses Jahres – Drucksache 17/10087 – eingebracht.
Wenn Sie mehr Mumm in den Knochen hätten, liebe
Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und FDP,
dann hätten Sie einfach unserem Entwurf zugestimmt.
Stattdessen verweigert die Koalition eine dauerhafte Lö-
sung mit der Begründung, dass man noch ausstehende
Gerichtsurteile abwarten wolle. Mit solider Gesetzge-
bung und verlässlichem Regierungshandeln hat das we-
nig zu tun.
Wie dringend notwendig für Schulen und Hochschu-
len eine dauerhafte verlässliche Regelung ist, zeigt
schon die jüngste Evaluierung des Bundesjustizministe-
riums. Im Vergleich zum Sommersemester 2007 wurden
im Sommersemester 2011 doppelt so viele Werke nach
Maßgabe von § 52 a Abs. 1 Nr. 1 UrhG genutzt – insge-
24974 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012
(A) (C)
(D)(B)
samt 1 142 939 Werke. 2007 waren es noch 597 400
Werke. In der Auswertung des BMJ wurde auch klar be-
nannt, was passieren würde, wenn § 52 a Abs. 1 Nr. 1 UrhG
dauerhaft wegfallen würde: „Nach Mitteilung der KMK
für Hochschulen in öffentlicher Trägerschaft werde der
Wegfall … zu Einschränkungen bzw. zur Abschaffung
des Angebots von elektronischen Internetapparaten und
damit zu spürbaren Beeinträchtigungen der Lehre füh-
ren“, heißt es dort. Das ist nachzulesen in der Drucksa-
che des Rechtsausschusses Nr. 17(6)201. Dies belegt
doch mehr als deutlich, wie dringend wir eine dauerhafte
verlässliche Regelung brauchen. Mit einer Entfristung,
wie wir sie von der SPD mit unserem Gesetzentwurf for-
dern, wäre dies gegeben.
Bereits vor vier Jahren, damals noch unter anderer
Führung, hat das Bundesjustizministerium eine dauer-
hafte Entfristung empfohlen. Nachzulesen ist das in der
Unterrichtung an den Rechtsausschuss des Deutschen
Bundestages „Bericht zu den praktischen Auswirkungen
des § 52 a des Urheberrechtsgesetzes und Empfehlung
zum weiteren Vorgehen“ vom 2. Mai 2008.
Die großen deutschen Wissenschaftsorganisationen
hatten sich im September 2009 ebenfalls für eine Entfris-
tung des § 52 a UrhG ausgesprochen. Darin wurde au-
ßerdem darauf hingewiesen, dass sich die wiederholte
Befristung der Regelung negativ auf den Ausbau netzge-
stützter Lehr- und Forschungsstrukturen auswirke. Des
Weiteren wurde darauf aufmerksam gemacht, dass mit
einem Wegfall des § 52 a gerade ältere Literatur nur in
einem sehr geringen Umfang auf elektronischen Lehr-
und Forschungsplattformen zur Verfügung gestellt wer-
den könnte.
In den Reihen der Befürworter für eine Entfristung
findet sich außerdem der Deutsche Bibliotheksverband e. V.
Bereits 2008 hat er in einem Schreiben an unterschied-
lichste politische Akteure dafür geworben. Warum also
jetzt wieder eine zeitlich befristete Lösung?
Liebe Abgeordnete der sogenannten christlich-libera-
len Koalition: Aufgrund zahlreicher interner Querelen
waren Sie nicht in der Lage, eine umfassende und zeitge-
mäße Novellierung des Urheberrechts auf den Weg zu
bringen. Leider fehlte Ihnen auch die Größe, unserem
Entwurf für die dauerhafte Entfristung des § 52 a zuzu-
stimmen. Ich appelliere daher an Sie: Bringen Sie jetzt
wenigstens die Befristung für weitere zwei Jahre
schnellstmöglich und ohne weitere Zankereien auf den
Weg. Dann können die Akteure im Bereich Unterricht,
Lehre und Forschung wenigstens darauf vertrauen, dass
im nächsten Jahr eine von der SPD geführte Bundesre-
gierung für mehr Rechtssicherheit sorgen wird.
Stephan Thomae (FDP): Das Urheberrecht, dessen
Änderung wir heute debattieren, wurde 1965 verabschie-
det. Damals wie heute war und ist das Ziel des Urheber-
rechts, den Urhebern und Inhabern verwandter Schutz-
rechte eine angemessene Vergütung zu sichern. Dieses
Ziel muss insbesondere in Deutschland immer wieder
in Erinnerung gerufen werden: Das Urheberrecht soll
in erster Linie den Urheber schützen. Wir haben in
Deutschland wenige Bodenschätze. Umso mehr sind wir
darauf angewiesen, dass die Menschen mit ihren Ideen,
mit ihrem geistigen Eigentum ihr Auskommen verdienen
können. Deswegen setzt sich die FDP für ein starkes Ur-
heberrecht und einen starken Schutz geistigen Eigen-
tums ein. Eine gute und umfassende (Aus-)Bildung ist
für die Menschen von ebenso großer Bedeutung wie der
möglichst weitreichende Schutz der Urheber. Bildung lebt
davon und ist darauf angewiesen, dass die Menschen Zu-
gang zu Inhalten und Informationen erhalten.
An dieser Stelle treffen die beiden Belange des Schut-
zes des geistigen Eigentums, durch den eine angemes-
sene Vergütung der Urheber gesichert werden soll, und
des Zugangs zu Informationen und Inhalten, um eine
gute Bildung zu ermöglichen, aufeinander. Der deutsche
Gesetzgeber hat durch das erste Gesetz zur Regelung
des Urheberrechts in der Informationsgesellschaft vom
10. September 2003 den § 52 a UrhG in das deutsche
Urheberrecht eingefügt. Ziel der Novellierung war es,
beide Interessen in Einklang zu bringen. Die Norm ge-
stattet es, kleine Teile eines Werkes, Werke geringen
Umfangs und einzelne Beiträge aus Zeitschriften oder
Zeitungen zur Veranschaulichung im Unterricht an Schu-
len, Hochschulen und weiteren Einrichtungen einem be-
stimmten abgegrenzten Kreis von Personen öffentlich
zugänglich zu machen. Voraussetzungen hierfür sind, dass
dies zu Unterrichts- oder Forschungszwecken geschieht,
die Maßnahmen zu dem jeweiligen Zweck geboten und
zur Verfolgung nichtkommerzieller Zwecke gerechtfer-
tigt sind.
Im Zuge der Einfügung der Norm wurden Bedenken
laut, die Regelung könne zu nicht hinnehmbaren Beein-
trächtigungen der Verlage führen. Hier ist zu berücksich-
tigen, dass Schrankenregelungen schon begrifflich eine
Beschränkung der Urheberrechte darstellen. Vor diesem
Hintergrund wurde § 137 k UrhG eingeführt, durch den
§ 52 a UrhG zunächst bis zum 31. Dezember 2006 be-
fristet wurde. Die Auswirkungen der Norm auf die Pra-
xis sollten anhand einer Evaluierung ermittelt werden.
Da eine abschließende Beurteilung bislang nicht mög-
lich war, wurde die Befristung bislang zweimal verlän-
gert. Stand heute würde die Regelung des § 52 a UrhG
am 31. Dezember 2012 auslaufen, wenn der Deutsche
Bundestag vorher nicht anders entscheidet.
Für den Bereich der Schulen sind die Nutzungsbedin-
gungen für die genannten Werke im Rahmen von Ge-
samtverträgen zwischen den Ländern und den betroffe-
nen Verwertungsgesellschaften geregelt. Auch für die
Nutzung an Hochschulen wurden mit nur einer Aus-
nahme zwischen den Ländern und den Verwertungsge-
sellschaften Gesamtverträge geschlossen. Einzig die VG
Wort verhandelt mit der Kultusministerkonferenz noch
über die Höhe und die Berechnungsweise der angemes-
senen Vergütung. Hierzu ist ein Verfahren vor dem Bun-
desgerichtshof anhängig. Darin wird auch über die
Reichweite der sogenannten Wissenschaftsschranke ent-
schieden werden.
Eine Entfristung des § 52 a UrhG zum jetzigen Zeit-
punkt, wie es die SPD fordert, wäre daher verfrüht. Denn
eine Entscheidung des Bundesgerichtshofes wird erst für
2013, also nicht vor dem bislang vorgesehenen Auslau-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012 24975
(A) (C)
(D)(B)
fen von § 52 a UrhG, erwartet. Das Urteil des Bundesge-
richtshofes sollte abgewartet und anhand dessen geprüft
werden, ob der rechtliche Rahmen bereits jetzt ausreicht,
um die Interessen von Urhebern und Bildungsanstalten
in Einklang zu bringen, oder ob hier gesetzgeberisch
nachgebessert werden muss. Aus diesen Gründen ist der
Antrag der SPD abzulehnen.
Die Bundestagsfraktionen von CDU/CSU und FDP
schlagen stattdessen eine nochmalige Verlängerung der
Befristung von § 52 a UrhG bis zum 31. Dezember 2014
vor. Gleichzeitig wird die Bundesregierung aufgefordert,
bis spätestens sechs Monate vor Ablauf der erneuten Be-
fristung einen Gesetzentwurf zu erarbeiten, mit dem die
Norm in eine dauerhafte Urheberrechtsschranke über-
führt werden kann. Dabei soll der Wissenschaft der digi-
tale Zugang zu wissenschaftlichen Publikationen durch
eine Wissenschaftsschranke für den Fall gesichert wer-
den, dass die Verlage keine Onlineangebote zu angemes-
senen Bedingungen bereitstellen. Diese Lösung wird den
berechtigten Interessen aller Beteiligten gerecht. Wir
sind damit auf einem guten Weg, in absehbarer Zeit ei-
nen endgültigen Schlussstrich unter die Frage nach der
Zukunft von § 52 a UrhG zu ziehen und Rechtssicherheit
für alle Parteien zu schaffen.
Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Quasi in letzter Minute
wollen die Kolleginnen und Kollegen von CDU, CSU
und FDP nun doch noch die Geltungsdauer des § 52 a
Urheberrecht um zwei Jahre verlängern. Sollte das nicht
noch in diesem Jahr geschehen, wird es 2013 an Schu-
len, Hochschulen und anderen nichtgewerblichen Bil-
dungsstätten unmöglich sein, beispielsweise Texte, Bil-
der oder Filmausschnitte für den Unterricht zu
vervielfältigen und für Lehr- und Forschungszwecke in
digitalisierter Form zur Verfügung zu stellen. Sie bewah-
ren damit, vorausgesetzt der parlamentarische Gang
kommt nicht doch noch ins Stolpern, die Bildungsein-
richtungen mit einer erneuten Befristungsverlängerung
des § 52 a haarscharf davor, nach aktuellem technischen
Standard arbeitsunfähig zu werden. Vor fünf Wochen al-
lerdings sah es noch so aus, als ob Sie es genau darauf
ankommen lassen wollen.
Während mir die Justizministerin Anfang Oktober
schriftlich versicherte, sie hätte bereits im Juli eine Frist-
verlängerung vorschlagen lassen, meldete sich zeitgleich
der CDU-Kollege Kretschmer in der Presse mit der Auf-
forderung an das Justizministerium, endlich etwas vor-
zulegen. Zu verstehen ist das alles nicht mehr. Selbst ei-
nen zaghaften halben Schritt verstolpern Sie, liebe
Kolleginnen und Kollegen der Regierungskoalition. Kei-
ner will Verantwortung übernehmen. Warum spreche ich
von einem halben Schritt? Weil die neuerliche Befris-
tungsverlängerung von § 52 a das absolute Minimum
dessen ist, was unabdingbar notwendig ist, um Wissens-
und Informationszugang an Bildungseinrichtungen nicht
wieder in die Ära der Kopiergeräte zu beamen. Sie wis-
sen das selbst ganz genau. Warum sonst fordern Sie die
Bundesregierung in Ihrem vorliegenden Gesetzentwurf
auf, bis Mitte 2014 eine dauerhafte Lösung für die digi-
tale öffentliche Zugänglichmachung von Lehr- und
Lerninhalten zu erarbeiten? Mehr noch: Sie wollen sogar
prüfen lassen, ob eine umfassende Bildungs- und Wis-
senschaftsschranke im Urheberrecht, also besondere
Nutzungsfreiheiten für die Wissensgesellschaft, hier die
Lösung sein könnte. Genau das hat beispielsweise CDU-
Kollege Tankred Schipanski vor wenigen Tagen selbst
noch in einer öffentlichen Stellungnahme wieder einmal
gefordert. Das begrüße ich sehr; denn im Kern nimmt
Kollege Schipanski unsere Forderung, die Forderung der
Linken, auf, die wir übrigens in mehreren Anträgen hier
bereits vorgestellt haben.
Zunächst einmal klingen diese Forderungen, die Ihren
Gesetzentwurf begleiten, alle recht mutig und wissens-
freundlich. Bei genauerem Hinsehen aber erhärtet sich
der Verdacht, dass es sich doch um Verzögerung und Au-
genwischerei handelt: Wie soll eine neue Bundesregie-
rung, wie von Ihnen gefordert, Mitte 2014, neun Monate
nach der Wahl und ungefähr ein halbes Jahr nach Auf-
nahme der Amtsgeschäfte, ein solch umfassendes Pro-
jekt stemmen können, wenn es Ihnen in drei Jahren nicht
gelingt? Doch wohl nur, wenn Sie, liebe Kolleginnen
und Kollegen der CDU/CSU und FDP nicht mehr betei-
ligt sind. Oder wie soll ich Ihre Zeitvorgaben verstehen?
Eine Bildungs- und Wissenschaftsschranke lässt sich
nicht von heute auf morgen ins Urheberrecht schreiben.
Dazu bedarf es nicht zuletzt dank europarechtlicher Vor-
gaben sehr detailreicher Arbeit. Es wäre also angebracht
gewesen, den bestehenden Paragrafen mindestens zu
entfristen, um Zeit zu gewinnen für die längst überfälli-
gen Änderungen am Urheberrecht für Bildung und Wis-
senschaft. Diese hätten ja – daran will ich Sie erinnern –
ursprünglich in einem sogenannten dritten Korb in dieser
Legislaturperiode kommen sollen. Die Kolleginnen und
Kollegen der SPD waren so freundlich und haben einen
entsprechenden Gesetzentwurf bereits im vergangenen
Juni eingebracht. Dem müssten Sie, verehrte Kollegin-
nen und Kollegen der Regierungsfraktionen, nur zustim-
men. Eine solche Entfristung wäre zwar immer noch
weitaus weniger als eine echte Bildungs- und Wissen-
schaftsschranke, wie sie uns Linken und Tankred
Schipanski vorschwebt, aber sie hätte immerhin Pla-
nungssicherheit für die Bildungs- und Forschungspoli-
tik, vor allem aber für unsere Schulen, Hochschulen und
Ausbildungsstätten gebracht. Oder meinen Sie all die
Lyrik zum vorliegenden Gesetzentwurf gar nicht ernst?
Sie verweisen auf die laufenden Rechtsstreitigkeiten
rund um § 52 a, die noch abzuwarten sind. Hier klagen
Verlage gegen Universitäten auf Grundlage des beste-
henden und nun einmal unzureichenden § 52 a, in der
Hoffnung auf möglichst restriktive Auslegung dieses Pa-
ragrafen, um ihn damit de facto vor Ende der neuen Frist
für seine Geltungsdauer für gescheitert erklären zu kön-
nen. Statt also, wie von Ihnen angedeutet, gegen alle
selbstverschuldete Blockiererei eventuell doch noch auf
umfassende und notwendige Privilegien für Bildung und
Wissenschaft im Urheberrecht zu setzen, können Sie
auch einfach die laufenden Klagen abwarten, um dann
am Ende sogar den kleinen § 52 a zumindest für die
Hochschulen doch wieder abzuschaffen. Auch diese
schäbige Option lassen Sie sich mit ihrem vorliegenden
Last-Minute-Gesetzchen peinlicherweise offen.
24976 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012
(A) (C)
(D)(B)
Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Wir haben es hier heute allein deshalb mit einer
Protokolldebatte zu tun, weil es Ihnen, meine Damen
und Herren von der Koalition, zutiefst peinlich sein
dürfte, was Sie uns vorlegen, und Sie deshalb ganz offen-
sichtlich das Licht der breiteren Öffentlichkeit scheuen.
Die Pein, die Sie sich aber auch uns mit dieser Vorlage
antun, möchte ich in drei Punkten erläutern.
Erstens. So viel Sonnenuntergang war noch nie: Die
Schranke des § 52 a Urheberrechtsgesetz trat zwar vor
einem knappen Jahrzehnt in Kraft. Sie ist aber eine soge-
nannte Sunset Clause. Sie wurde bereits dreimal verlän-
gert, ist also noch immer befristet. Höflich ausgedrückt
haben wir das, wie es das Bundesministerium der Justiz
in seinem Schreiben vom Juli dieses Jahres an den
Rechtsausschuss formuliert, „den Befürchtungen insbe-
sondere der wissenschaftlichen Verleger vor unzumutba-
ren Beeinträchtigungen durch die neue Regelung“ zu
verdanken und einer Bundesregierung, die mehr Wert
auf Stimmen einzelner Interessensgruppen zu legen
scheint, als dass sie Wert darauf legt, dass die von allen
sonstigen Akteuren für höchst sinnvoll erachteten Er-
leichterungen für Wissenschaft und Lehre zumindest
endlich entfristet werden.
So scheint es leider bis heute noch immer nicht im
Bewusstsein der Bundesregierung angekommen zu sein,
dass gerade Bildung und Wissenschaft ebenso faire wie
praktikable Urheberrechtsregelungen dringend benöti-
gen. Die Bundesregierung hat nicht erkannt, dass gerade
§ 52 a Urheberrechtsgesetz einen zwingenden und wich-
tigen Schritt für den Bildungsstandort Deutschland dar-
stellt. Denn er erleichtert die Zugänglichmachung von
urheberrechtlich geschützten Inhalten im schulischen
und universitären Umfeld. Die um ihre Einnahmen
fürchtenden Verlagshäuser waren es, die immer wieder
mit entsprechendem Lobbydruck und Drohszenarien die
Befristungen plus aufwendige, die Steuerzahlerinnen
und Steuerzahler belastende Evaluationen dieser einen
Vorschrift erzwungen hatten. Sie haben sich offenbar
auch diesmal erneut durchgesetzt.
Wir sind mittlerweile bei der dritten Evaluation ange-
langt. Sie liegt auch bereits vor. Auch diese Evaluation
soll aber angeblich keine endgültige Aussage darüber er-
lauben, ob eine endgültige Entfristung der bereits seit
zehn Jahren rechtskräftigen Norm möglich erscheint.
Die fadenscheinige Begründung: Zum einen könne man
heute noch nicht entfristen, weil noch eine Entscheidung
des BGH – von der niemand weiß, wann diese tatsäch-
lich kommen wird – zu einem der umstrittenen materiell-
rechtlichen Tatbestandsmerkmale der Norm abgewartet
werden soll. Zum anderen warte man noch ab, da ver-
mutlich schon 2013 der BGH das Revisionsverfahren
gegen den Gesamtvertrag zur Festsetzung einer ange-
messenen Vergütung entscheiden wird. Angesichts die-
ser Begründung aber fragt man sich, warum überhaupt
jemals Evaluationen durchgeführt wurden, wenn diese
für sich ohnehin nicht für wert befunden werden, eine
Grundlage für die Entscheidung über die Entfristung zu
bilden.
Meine Damen und Herren von der Koalition, werte
Frau Justizministerin, nahezu sämtliche Tatbestands-
merkmale des § 52 a Urheberrechtsgesetz sind in einem
Hagelsturm aus Klageverfahren von Verwertungsseite
streitig gestellt worden. Das zeigt doch: Die Verlage
wollen diese Norm eben nicht, weil damit potenzielle
Einnahmeverluste einhergehen. Das Vorgehen der Ver-
lage ist, das sage ich hier in aller Deutlichkeit, ihr gutes
Recht. Doch wenn wir mit Hinweis auf diese Klagen
jetzt jede gesetzgeberische Tätigkeit einstellen, dann
werden wir definitiv bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag
auf die Entfristung von § 52 a Urheberrechtsgesetz war-
ten müssen. Das ist inakzeptabel.
Noch befremdlicher erscheint das Zuwarten bei der
Schlichtung um den Gesamtvertrag. Denn auch die Ver-
wertungsgesellschaften ziehen es derzeit vor, in nahezu
allen aktuell auszuhandelnden Fällen der notwendigen
Festsetzung einer angemessenen Vergütung den oft jah-
relangen Rechtsweg einzuschlagen. Eine Justizministe-
rin aber kann und darf ihre Entscheidungen nicht von der
gerichtlichen Streitlust einzelner Beteiligter abhängig
machen. Es ist die Aufgabe der Justizministerin, hier
endlich eine Entscheidung in der Sache zu treffen und
sich inhaltlich zu dieser Wissenschaftsschranke zu be-
kennen – oder dies eben nicht zu tun. Als grüne Bundes-
tagsfraktion haben wir diese Entscheidung bereits vor
längerer Zeit getroffen und einen entsprechenden Antrag
inklusive der Aufforderung zur Entfristung des § 52 a
schon in der letzten Legislaturperiode gestellt; Bundes-
tagsdrucksache 16/10566. Wir freuen uns, dass sich ins-
besondere die SPD mittlerweile ebenso positioniert hat.
Die Dauerdiskussionen um die Entfristung wirken
auch deshalb geradezu grotesk, weil wir in der Sache
längst eine viel weiter gehende Debatte um diese Norm
führen. Mit guten und von uns geteilten Argumenten for-
dert etwa die Allianz der Hochschulorganisationen eine
Erstreckung des Anwendungsbereichs der Schranke
auch auf das weiter an Bedeutung gewinnende E-Lear-
ning, also die Verfügbarkeit der Inhalte auch für das
Selbststudium oder das unterrichtsbegleitende Studium
in digitaler Form. Selbst wer so weit nicht gehen will,
muss doch einräumen, dass die gegenwärtige Rechtsun-
sicherheit hinsichtlich der unbestimmten Rechtsbegriffe
des § 52 a Urheberrechtsgesetz in der Praxis zu Behinde-
rungen der Lehrkräfte beim Einsatz neuer Medien führt.
Es ist also eine Rechtsunsicherheit, die Wissenschaft und
Bildung behindert und nicht befördert. Daraus ist aber
eben gerade nicht zu folgern, dass die Vorschrift des
§ 52 a Urheberrechtsgesetz abgeschafft gehört, sondern
sie ist perspektivisch so zu reformieren, dass sie ihrem
Zweck der verbesserten Zugänglichmachung von Inhal-
ten endlich wirklich gerecht wird.
Zweitens. Wenn wir den Rahmen der Betrachtung der
Peinlichkeiten dieser Bundesregierung in diesem Be-
reich erweitern, sollten wir uns die Grundhaltung des
Justizministeriums zum Bereich Wissenschaft und Urhe-
berrecht insgesamt näher anschauen. Bereits unmittelbar
nach Verabschiedung des sogenannten zweiten Reform-
korbes wurden in der Wissenschaft konkrete Forderun-
gen nach einem dritten Korb laut. Eine alles in allem
moderate Zusammenstellung dieser sorgfältig begründe-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012 24977
(A) (C)
(D)(B)
ten Reformforderungen stellen die dazu vorgelegten Pa-
piere der Allianz der Hochschulorganisationen dar. Es
war damit von Beginn an klar, dass es sich beim dritten
Korb primär um einen „Bildungs- und Wissenschafts-
korb“ handeln sollte. Das Ziel einer Urheberrechtsre-
form im Bereich von Bildung und Wissenschaft muss
durch eine verbesserte Zugänglichmachung von Inhalten
erreicht werden. Am besten ist dies über eine allge-
meine, im Urheberrecht zu verwirklichende Wissen-
schaftsschranke zu erreichen, die letztlich hilft, die Ar-
beitsmöglichkeiten für Lehrende und Forschende zu
beflügeln.
Die schwarz-gelbe Bundesregierung hat von Beginn
dieser Legislatur an versucht, den Eindruck zu erwe-
cken, sie teile dieses Anliegen. Sie hat in einem aufwen-
digen Anhörungsverfahren der interessierten Kreise sug-
geriert, sie werde konkret liefern. Um die sich seitdem
ausbreitende Leere zu überspielen, streute die Justiz-
ministerin dann auch noch eine groß angekündigte Urhe-
berrechtsrede ein, die allerdings inhaltlich eher ent-
täuschte und der zudem eben nichts Konkretes folgte.
In ihrem Koalitionsvertrag hieß es noch, man werde
zügig die Arbeit am „Dritten Korb“ aufnehmen. Tja, und
heute? Es besteht Anlass, zu erwarten, dass von dieser
Bundesregierung rein gar nichts mehr zum Wissen-
schaftskorb kommen wird – außer der heute diskutierten
erneuten Befristung des § 52 a Urheberrechtsgesetz. Das
ist erbärmlich angesichts des drängenden Reformbe-
darfs, und zwar bei § 52 b Urheberrechtsgesetz, dessen
Beschränkung der Verfügbarmachung von Werken allein
an eigens dafür eingerichteten elektronischen Leseplätzen
vor Ort sowie an den vorhandenen analogen Bestand
anachronistisch und wissenschaftsfeindlich wirkt, bei
§ 53 Urheberrechtsgesetz, der einer effektiven digitalen
Langzeitarchivierung völlig unnötige Steine in den Weg
legt und damit das kulturelle Gedächtnis der Archive ge-
fährdet, bei § 53 a Urheberrechtsgesetz, der den digitalen
Kopienversand mittlerweile eher behindert als befördert
und für eine Regelung der Zugänglichmachung verwais-
ter Werke und eines unabdingbaren Zweitveröffentli-
chungsrechts.
Weil diese Bundesregierung hier nichts zustande
bringt, werden wir deshalb dazu selbst weitere konkrete
Vorschläge vorlegen. Denn Bildung und Wissenschaft
sind auch zukünftig tragende Säulen unserer Wissensge-
sellschaften. Sie stehen in einem internationalen Wettbe-
werb der Standorte, und wir drohen durch Ihre Unfähig-
keit, Progressives und Zeitgemäßes in diesem wichtigen
Bereich auf den Weg zu bringen, einen unserer wert-
vollsten Wettbewerbsvorteile überhaupt zu verlieren.
Drittens. Damit komme ich – ich kann es Ihnen leider
nicht ersparen – zu guter Letzt zum Verhältnis dieser
Bundesregierung zum Urheberrecht ganz allgemein. Wir
alle wissen doch, dass der Kampf um das Urheberrecht
mit harten Bandagen gespielt wird. Vermeidungsverhal-
ten seitens der Justizministerin ist da durchaus erklärbar,
wobei wir nicht so naiv sind, zu vermuten, dass der wirt-
schaftsliberale Teil Ihrer Partei hier keine Rolle spielt.
Doch diese hasenfüßige Haltung ist alles andere als klug.
Sie schadet langfristig den Urheberinnen und Urhebern
und wird am Ende auch für die Unterhaltungswirtschaft
alles andere als von Vorteil sein. Denn wir wissen
gleichzeitig doch auch, dass die aus der Sache selbst fol-
genden Notwendigkeiten der Reform überhaupt nicht
mehr zu übersehen sind. Die Akzeptanz des Urheber-
rechts in seiner ganzen Kleinteiligkeit und dogmatischen
Unübersichtlichkeit droht angesichts der digitalen Revo-
lution verloren zu gehen. Wer meint, mit einem rein re-
pressiven Vorgehen und einem weiter ausufernden Ab-
mahnverfahren die Entwicklung aufhalten zu können,
der irrt.
Wer glaubt, dass das Recht der Immaterialgüter in
erster Linie und vorrangig allein den Urhebern zu dienen
habe, der verkennt nicht nur die verfassungsrechtlichen
Grundlagen dieses Rechtsgebietes, sondern auch den
Kern des Urheberrechts, der längst und über einen lan-
gen Zeitraum zu einem komplexen Recht des Ausgleichs
einer großen Anzahl unterschiedlicher und zum Teil
deutlich gegenläufiger Interessen gewachsen ist. Man
mag in vielen Details in der Sache streiten können, doch
insgesamt sind die Forderungen nach Reform und weite-
rer Anpassung an die digitalen Veränderungen unüber-
hörbar und auch begründet. Die eigens dafür in dieser
Legislatur vom Bundestag eingerichtete Enquete-Kom-
mission „Internet und digitale Gesellschaft“ hat dies in
ihrer Projektgruppe Urheberrecht und den dazu erfolgten
Anhörungen von Sachverständigen eindrucksvoll bestä-
tigt.
Anstelle weiterer Verschärfungen des Vollzugsappa-
rats des Urheberrechts, die ohnehin nur um den Preis der
weitestgehenden Abschaffung der Privatheit zu haben
wären, bedarf es innovativer Konzepte, die auf die nicht
mehr ganz so neuen Entwicklungen in der Sache Ant-
worten geben. Wenn der private Tausch und Konsum
von urheberrechtlich geschützten Inhalten nicht in den
Griff zu bekommen sind, dann müssen wir doch über Al-
ternativmodelle nachdenken, die auf anderen Wegen
eine angemessene Vergütung der betroffenen Urheberin-
nen und Urheber sicherstellen. Wenn eine Remix- und
Mashup-Kultur entstanden sind, die einen ganz neuen ei-
genen kreativen Gehalt haben, dann müssen wir doch
über Mittel und Wege nachdenken, wie wir diese kreati-
ven neuen Formen ermöglichen, anstatt sie zu unterbin-
den.
Wenn die Einigung über angemessene Vergütungen
zwischen Verwertungsgesellschaften und Wirtschaft re-
spektive Staat zu scheitern drohen, dann muss doch auf
allen Seiten klar sein, dass wir uns in einer Phase des
Wandels und des Übergangs befinden, in der starre Ma-
ximalpositionen nur zu Stillstand führen, in der also von
allen Seiten mehr Beweglichkeit erwartet werden kann.
Die Bundesregierung schweigt zu alledem weitge-
hend. Sie zieht es vor, im Vorwahlkampf vollkommen in
die falsche Richtung gehende Weihnachtsgeschenke in
Gestalt eines in die Blöcke diktierten Leistungsschutz-
rechts für einige wenige große Presseverlage zu vertei-
len. Mit einem solchen Vorgehen beweist sie nur, wie
sehr sie noch immer eine Politik verfolgt, die nicht das
Gemeinwohl im Blick hat, sondern sich damit begnügt,
Partikularinteressen zu bedienen. Statt sich endlich, poli-
24978 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012
(A) (C)
(D)(B)
tisch gestaltend, den drängenden Herausforderungen un-
serer Zeit zu stellen, beweist die Bundesregierung mit
dem Leistungsschutzrecht nur ihre Rückwärtsgewandt-
heit. Diese wird Veränderungen nicht aufhalten, nicht
bremsen und noch nicht einmal abfedern. Darum brau-
chen wir dringend auch in diesem Bereich einen politi-
schen Neustart.
Anlage 12
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– Entwurf eines Sechzehnten Gesetzes zur Än-
derung des Arzneimittelgesetzes;
– Beschlussempfehlung und Bericht zu dem
Antrag:
– Einsatz von Antibiotika in der Tierhaltung
reduzieren
(Tagesordnungspunkt 38)
Dieter Stier (CDU/CSU): Mit dem heute vorliegen-
den Entwurf des 16. Gesetzes zur Änderung des Arznei-
mittelgesetzes sollen Maßnahmen eingeleitet werden,
welche den Einsatz von Antibiotika in der Nutztierhal-
tung in Zukunft deutlich reduzieren. Gleichzeitig muss
gewährleistet sein, dass die Entscheidung über eine An-
tibiotikavergabe im Stall in hohem Maße von Sorgfalt
und Verantwortungsbewusstsein der Verantwortlichen
geprägt ist.
Ein übermäßiger Einsatz von Antibiotika begünstigt
bekanntlich die Entstehung und Verbreitung von Resis-
tenzen. Da solche Resistenzen nicht nur in der Human-
medizin, sondern auch in der Tierhaltung nicht ge-
wünscht sein können, ist es unser aller erklärtes Ziel,
einer entsprechenden Entwicklung auf diesem Sektor
schnell und wirksam Einhalt zu gebieten.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf hat die Bundes-
regierung ein Antibiotikaminimierungskonzept vorge-
legt, welches eine deutliche Absenkung der Antibioti-
kaanwendungen in der Tierhaltung verfolgt, sehr viel
mehr Transparenz beim Einsatz von Antibiotika bietet
und eine konsequente Ahndung von Verstößen ermög-
licht.
Mit dem vorliegenden Gesetz wird der Weg für eine
bundesweite Datenbank freigemacht. Damit soll den Be-
hörden vor Ort die staatliche Befugnis erteilt werden,
auffällig gewordenen Tierhaltern Maßnahmen zur Sen-
kung des Antibiotikaverbrauches aufzugeben, wie bei-
spielsweise konkrete Anweisungen zur Haltung der
Nutztiere.
Durch die amtliche Auswertung auf Basis einer soli-
den und überbetrieblichen Datengrundlage ist es erst-
mals auch bundesweit möglich, Vergleichszahlen zur
Therapiehäufigkeit vorzulegen. Sobald ein Betrieb signi-
fikant von den bundesweiten Durchschnittswerten ab-
weicht, können die Veterinärämter vor Ort einschreiten
und Reduzierungsstrategien auferlegen.
Offen ist noch die Frage, ob die meldepflichtigen Da-
ten zur Therapiehäufigkeit in einer behördlichen zentra-
len Datenbank gespeichert werden sollen oder ob dieses
Antibiotikamonitoring über das QS-System – Qualität
und Sicherheit GmbH – erfasst werden soll. Das QS-
System führt bereits seit dem 1. April 2012 die Antibio-
tikadatenbank „VetProof“, ein Monitoring- und Reduzie-
rungsprogramm, welches mehr als 25 500 Schweine-
mast- und über 4000 Geflügelmastanlagen aus dem In-
und Ausland in seiner Datenbank führt. Mehr als 420
Tierärzte haben sich für die Teilnahme am QS-Monito-
ring angemeldet. Jegliche Antibiotikagabe in diesen
Mastbetrieben wird von den behandelnden Tierärzten an
die QS-Datenbank gemeldet. Nach Auskunft des QS-
Systems mit Stand von September 2012 werden bereits
jetzt etwa 90 Prozent der Schweinemast und 95 Prozent
der Geflügelmast in Deutschland erfasst.
Da bisher noch keine staatliche Datenbank existiert
und das QS-System das Antibiotikamonitoring offen-
sichtlich recht erfolgreich durchführt, bleibt zu überle-
gen, ob man im Hinblick auf die Vermeidung unnötiger
Bürokratiekosten die Datenerfassung bei QS belassen
sollte. Das Nebeneinander zweier Datenbanksysteme
halte ich für ineffizient und schlichtweg zu kosteninten-
siv. Über Zugriffsmöglichkeiten der Überwachungsbe-
hörden auf die QS-Datenbank könnten wir eine zufrie-
denstellende Lösung finden. Bisher überwacht die QS
Qualität und Sicherheit GmbH die stufenweise Überwa-
chung und Rückverfolgbarkeit landwirtschaftlicher Er-
zeugnisse und der daraus produzierten Lebensmittel.
QS-Vertreter haben bereits öffentlich kundgetan, dass sie
im Falle einer Übertragung der Antibiotikadatenbank
eng mit den Behörden kooperieren werden. Warum soll-
ten wir also zusätzliche Bürokratie schaffen? Ich persön-
lich favorisiere deshalb die Übertragung des Antibiotika-
monitorings auf das QS-System.
Die vorliegende 16. AMG-Novelle beinhaltet eben-
falls eine Kontrollverpflichtung für Tierhalter von be-
stimmten lebensmittelliefernden Tieren ebenso wie für
die behandelnden Tierärzte. Betriebe mit auffälliger
Therapiehäufigkeit müssen von sich aus initiativ werden
und den Antibiotikaeinsatz entsprechend minimieren.
Liegt der Verbrauch von Antibiotika höher als die bun-
desweit ermittelte Kennzahl für den Betriebstyp, muss
gemeinsam mit dem behandelnden Tierarzt und der Kon-
trollbehörde die Therapiehäufigkeit überprüft werden.
Mit dem Ziel einer Reduzierung des Antibiotikaeinsatzes
können die Betriebe verpflichtet werden, Maßnahmen
zur Verbesserung der hygienischen Bedingungen, der
Gesundheitsvorsorge oder der Haltungsbedingungen zu
ergreifen. Dabei wissen wir alle: Je gesünder die Tiere
sind, umso weniger Medikamenteneinsatz ist notwendig.
Die Gesundheit der Tiere steht in direktem Zusammen-
hang mit den Haltungsbedingungen im Stall.
Gleichzeitig werden die Tierärzte per Gesetz dazu
verpflichtet, auf Anweisung der Überwachungsbehörden
der Bundesländer Daten zur Abgabe und Anwendung
von Antibiotika zusammengefasst zu übermitteln. Die
Kontrollen für die Überwachung der Betriebe werden
somit vereinfacht und beschleunigt.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012 24979
(A) (C)
(D)(B)
Ich befürworte die im Gesetz festgeschriebene Erwei-
terung der Befugnisse der zuständigen Kontroll- und
Überwachungsbehörden der Bundesländer. Nur mit der
engen Zusammenarbeit von Bund und Ländern sowie
den Behörden vor Ort erreichen wir die notwendige
Kontrolldichte. Durch entsprechende Verordnungser-
mächtigte sollen zudem die unzulässigen Umwidmun-
gen von Antibiotika eingeschränkt werden, indem zu-
nächst ein „Antibiogramm“ über die Wirksamkeit des
betreffenden Antibiotikums erstellt werden muss. Die in
der Vergangenheit leichtfertig praktizierte Umwidmung
von Medikamenten, indem diese entgegen ihrer ur-
sprünglichen Anwendungsbestimmung verabreicht wur-
den, birgt die große Gefahr einer Resistenzbildung.
Auch angesichts der knapp werdenden Reserveantibio-
tika, die nur im äußersten Notfall zur Anwendung kom-
men, müssen Tierhalter und Tierärzte bei Verstößen
gegen arzneimittelrechtliche Vorschriften von den zu-
ständigen Stellen der Tierarzneimittelüberwachung stär-
ker zur Verantwortung gezogen werden. Ich halte es für
richtig, die wenigen schwarzen Schafe der Branche
schnell ausfindig zu machen und entsprechend zu sank-
tionieren.
Trotz verschärfter Restriktionen und engmaschiger
Kontrollen bei der Antibiotikavergabe plädiere ich wei-
terhin für eine fachgerechte Vergabe der Medikamente,
allein beschränkt auf Krankheitsfälle. Es muss weiterhin
möglich sein, kranke Tiere entsprechend zu behandeln.
Wer als Tierhalter und Tierarzt einen verantwortungsvol-
len Umgang mit seinen Tieren pflegt, darf schon aus
Tierschutzgründen einem behandlungsbedürftigen Tier
die ihm zustehende, medizinisch notwendige Behand-
lung nicht verwehren.
Vielfach wird derzeit auch eine prozentuale Reduzie-
rung der Gesamtmenge der verordneten Antibiotika ge-
fordert. Eine solche pauschale Mengenregulierung durch
eine fiktiv vorgegebene Prozentzahl halte ich für nicht
sachgerecht, weil sie nur an den Symptomen ansetzt und
die Ursachen einer übermäßigen Antibiotikaanwendung
außer Acht lässt.
Eines möchte ich an dieser Stelle ausdrücklich beto-
nen: Wenn wir uns hier auch mit Antibiotikamissbrauch
in der Tierhaltung beschäftigen, dann müssen wir uns
immer vergegenwärtigen, dass für die Mehrheit der
Nutztierhalter das Wohlergehen und die Gesundheit je-
des einzelnen Tieres im Vordergrund stehen. Nur wenn
Tiere gesund sind, kann Tierhaltung auch zu entspre-
chendem wirtschaftlichen Erfolg der Betriebsinhaber
führen.
Mit der 16. AMG-Novelle wird der rechtliche Rah-
men für Vorgaben beim Einsatz von Antibiotika in der
Tiermedizin weiterentwickelt. Damit ist eine gute
Grundlage geschaffen, um das gemeinsame Ziel, den
Antibiotikaverbrauch in der Tierhaltung nachhaltig zu
senken, zu erreichen. Ich lade Sie herzlich ein, den mit
dem heute in erster Lesung eingebrachten Gesetzentwurf
eingeschlagenen Weg gemeinsam zu diskutieren und zu
einem guten Ergebnis im Verlauf der parlamentarischen
Debatte zu führen.
Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD): Endlich hat die Re-
gierung gehandelt. Das wurde auch Zeit; denn noch
mehr Zeitverzug können wir uns angesichts der Brisanz
des Themas nicht leisten.
Schön, dass die Bundesregierung eine Vielzahl der
Punkte in den heute vorliegenden Gesetzentwurf aufge-
nommen hat, die die SPD-Bundestagsfraktion bereits im
Dezember 2011 in ihrem Antrag eingefordert hatte. Die
SPD-Bundestagsfraktion hat Ihnen die Blaupause für ein
effektives Antibiotikaminimierungskonzept auf nationa-
ler Ebene vorgelegt. Die SPD fordert ein Antibiotika-
minimierungskonzept mit klaren und eindeutigen Ziel-
vorgaben. Und ich gehe noch weiter; denn ich fordere
die Bundesregierung auf, alles zu unternehmen, um in
den nächsten zwei Jahren den Antibiotikaverbrauch in
der landwirtschaftlichen Nutztierhaltung um 30 Prozent
zu senken. Wir brauchen Klarheit und vollständige
Transparenz beim Einsatz von Antibiotika in der Nutz-
tierhaltung. Dazu sollten alle Daten zu den verabreichten
Antibiotika für jeden Betrieb und jeden Tierbestand in
einer bundeseinheitlich zentralen Datenbank genau er-
fasst und ausgewertet werden. Nur so lässt sich schnell
ermitteln, welche Tierhalter überhöhte Antibiotikamen-
gen einsetzen.
Zukünftig sollten Landwirte und ihre betreuenden
Tierärzte gesetzlich dazu verpflichtet werden, unmittel-
bar Gegenmaßnahmen zu ergreifen, wenn der Antibioti-
kaeinsatz in einer Tierhaltung signifikant erhöht ist. Die
Experten, Praktiker und ich als Tierarzt wissen doch ge-
nau, dass sehr oft der Hygienezustand im Stall darüber
entscheidet, welche Mengen an Antibiotika eingesetzt
werden. Manch ein Landwirt scheut die erforderlichen
Investitionen, etwa in eine bessere Lüftungsanlage, und
nimmt dafür Erkrankungen der Tiere bewusst in Kauf.
Es ist daher Aufgabe von Landwirt und Tierarzt, ge-
meinsam ein Konzept zur Verbesserung des Hygiene-
und Gesundheitszustandes im betroffenen Tierbestand
zu entwickeln. Geschieht das nicht oder bleibt dies ohne
Erfolg, müssen in einer zweiten Stufe die amtlichen
Kontrollbehörden einen rechtlich verbindlichen Sanie-
rungsplan vorschreiben können. Bleibt auch diese Maß-
nahme erfolglos, muss die Produktionseinstellung die
letzte Konsequenz sein.
Von einem effektiven Antibiotikaminimierungskon-
zept ist diese Bundesregierung meilenweit entfernt. Ihr
Gesetzentwurf reicht bei weitem nicht aus, um das Pro-
blem des überhöhten Antibiotikaverbrauchs in der land-
wirtschaftlichen Tierhaltung in den Griff zu bekommen.
Überhaupt hat diese Bundesregierung ein grundsätzli-
ches Problem; denn sie will zwar die Anwendung von
Antibiotika zukünftig stärker überwachen, aber sie nicht
anhand klarer Zielvorgaben senken. Aber mehr als 1 700
Tonnen eingesetzte Antibiotika sind einfach zu viel. Die
Bundesregierung vermeidet es, in der Gesetzesvorlage
eindeutige Zielvorgaben festzuschreiben, an denen sich
die Landwirte und Tierärzte orientieren müssen.
Auch an anderer Stelle muss die Bundesregierung
nachbessern, damit sich in den nächsten Jahren spürbare
Erfolge gegen den Antibiotikamissbrauch einstellen. So
sollte sie die Datenbank des Deutschen Instituts für
24980 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012
(A) (C)
(D)(B)
Medizinische Dokumentation und Information, DIMDI,
ausbauen. Zukünftig sollten Apotheken mit einbezogen
und die vollständigen Adressen der Tierärzte und die be-
zogenen Mengen an Antibiotika erfasst werden. Tier-
ärzte und nicht die Landwirte sollten verpflichtet wer-
den, in die zentrale Datenbank die Daten zur Antibio-
tikaanwendung einzustellen. So lässt sich auch über
Bundesländergrenzen hinweg ermitteln, welcher Tierarzt
für welche Zwecke wann welche Antibiotika verabreicht
hat.
Ausländische Tierärzte, die auch in Deutschland Tier-
bestände betreuen, werden von der AMG-Novelle bisher
nicht erfasst, was insbesondere in grenznahen Regionen
zu Überwachungslücken führt.
Die Meldeintervalle der Tierärzte müssen in jedem
Fall verkürzt werden. Die Meldung des Antibiotikaein-
satzes an die zentrale Datenbank muss zeitnah erfolgen.
Technisch ist das heute überhaupt kein Problem mehr; es
ist auch mit keinen zusätzlichen Kosten verbunden, da
die Daten auf Grundlage der Abgabe- und Anwendungs-
belege bereits erfasst und vorhanden sind. Spätestens
sieben Tage nach Abschluss der Behandlung sollten die
Daten in der Datenbank verfügbar sein.
Es reicht natürlich auch nicht aus, sich nur um die
Mastbetriebe und um Masthühner, Puten und Schweine
zu kümmern. Wir müssen eine verlässliche Übersicht
über alle Antibiotikaverbrauchsmengen in allen land-
wirtschaftlichen Nutztierhaltungsanlagen erhalten: Milch-
kühe, Sauen, Legehennen und Fischzuchten müssen in
ein novelliertes Arzneimittelgesetz einbezogen werden.
Auch halte ich den im Gesetz vorgesehenen Index
über die Therapiehäufigkeit für wenig zielführend. Er er-
möglicht keine eindeutige Zuordnung, welche Betriebe
denn nun wirklich Beratung und Unterstützung benöti-
gen.
Zur Luftnummer wird die AMG-Novelle spätestens
dann, wenn der Gesetzgeber den auffälligen Betrieben
Auflagen machen will. Beispielsweise gibt es keine aus-
reichende gesetzliche Grundlage, um konkrete Auflagen
zur Verbesserung des Startklimas zu machen. Dafür
brauchen wir eine verbindliche Rechtsgrundlage. Die
bisherige Schweinehaltungshygieneverordnung ist dafür
ein untaugliches Instrument.
Die aufgeführten Punkte zeigen, wie unausgegoren
und lückenhaft der gesamte Gesetzentwurf ist. Das hat
der Bundesrat durch 47 Änderungsanträge sehr deutlich
gemacht. Die Agrarministerkonferenz kritisiert die
AMG-Novelle als nicht ausreichend. Die AMK fordert
die lückenlose Verknüpfung der Daten vom Antibiotika-
hersteller bis zum Stall. Auch die Verbraucherminister-
konferenz fordert ein eindeutiges Antibiotikaminimie-
rungskonzept auf Grundlage einer zentralen, bundesein-
heitlichen, amtlichen Datenbank mit automatisierten
Melde-, Berechnungs- und Informationsprozessen, die
auf Betriebs-, Landes- und Bundesebene zeitnahe Aus-
wertungen des Einsatzes von Antibiotika ermöglicht.
Wir müssen entlang der gesamten Produktionskette
den Einsatz von Antibiotika minimieren, und dazu brau-
chen wir die Grunddaten. Die Wirtschaft und das QS-
System machen uns vor, wie kostengünstig und effektiv
die Datenerhebung und -auswertung erfolgen können.
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt liefern 4 050 Geflügelhal-
ter und mehr als 25 000 Schweinehalter sowie mehr als
800 Tierärzte Daten für das Antibiotikamonitoring im
QS-System. Das System liefert bereits heute relevante
Daten, anhand deren die Landwirte und Tierärzte Maß-
nahmen ergreifen müssen.
In diesem Zusammenhang gebe ich zu bedenken: Ich
halte es für problematisch, wie sich das AMG in den
letzten Jahren entwickelt hat. Es ist für den Rechtsbe-
troffenen kaum noch lesbar. An dieser Stelle appelliere
ich an die Bundesregierung, das komplexe AMG lesba-
rer und damit vollzugsfähig zu gestalten. Nur wer ver-
steht, welche Rechte und Pflichten er hat, kann auch
handeln.
Ich möchte an dieser Stelle auch die Gelegenheit nut-
zen und darauf hinweisen, dass der Antibiotikaeinsatz in
der landwirtschaftlichen Tierhaltung nicht isoliert be-
trachtet werden darf. Wir müssen ganzheitlicher denken:
Tierhaltungssysteme müssen an die Tiere angepasst wer-
den und nicht die Tiere an die Haltungsbedingungen.
Die gesamte landwirtschaftliche Nutztierhaltung in
Deutschland muss sich stärker an den gesellschaftlichen
Anforderungen ausrichten, wenn sie ihre Akzeptanz
nicht verlieren will. Die SPD spricht sich dafür aus, zu-
sammen mit der Wissenschaft und der Wirtschaft die
Haltungssysteme weiterzuentwickeln. Seit Jahren blo-
ckiert die Koalition die Umsetzung des Tierschutz-
TÜVs für serienmäßig hergestellte Stallsysteme. Wir
fordern neue Forschungsansätze zu tiergerechten Hal-
tungsformen und für mehr Tierschutz in der Nutztierhal-
tung. Die Finanzierung muss durch die Umschichtung
von Mitteln aus dem Haushalt des BMELV gewährleis-
tet werden. Dazu haben wir in den diesjährigen Haus-
haltsberatungen entsprechende Anträge vorgelegt.
Die SPD-Bundestagsfraktion unterstützt in diesem
Zusammenhang auch die Deutsche Agrarforschungsalli-
anz, DAFA, die mit ihrer aktuellen Forschungsstrategie
einen Weg aufzeigt, um den Dialog zwischen Gesell-
schaft, Wirtschaft und Wissenschaft voranzutreiben. Die
DAFA definiert Forschungsfelder, die dringend bearbei-
tet werden sollten, damit auf wissenschaftlicher Grund-
lage der Zustand in der Nutztierhaltung verbessert wird.
Die SPD hinterfragt auch die bisherigen Züchtungs-
konzepte. Beispielsweise belasten eine sehr kurze Mast-
dauer und hohe tägliche Gewichtszunahmen den Orga-
nismus von Mastgeflügel bis an die Grenzen. Hier
müssen wir zu anderen Lösungen kommen; denn ein gu-
ter Gesundheitsstatus der Tiere senkt den Einsatz von
Antibiotika weiter.
Bei den vielen Unzulänglichkeiten in der Gesetzesno-
velle werden wir in den kommenden Wochen intensiv an
Verbesserungen arbeiten müssen. Die SPD-Bundestags-
fraktion wird ihre Vorschläge durch Änderungsanträge
einbringen. Ich hoffe, dass am Ende etwas Anständiges
herauskommen wird, damit wir nicht jene im Regen ste-
hen lassen, die das Gesetz am Ende umsetzen müssen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012 24981
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Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Erstmalig hat
das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittel-
sicherheit die Antibiotikamenge erfasst und veröffent-
licht, die in einem Jahr an Tierärzte und Großhandel
abgegeben wurde. Im Jahr 2011 wurden 1 734 Tonnen
Antibiotika abgegeben. Selbst angesichts der rund
28,1 Millionen Schweine, 12,5 Millionen Rinder, darun-
ter 4,2 Millionen Milchkühe, und der rund 115 Millionen
Hühner und 1 Million Pferde, die laut Statistischem
Bundesamt in Deutschland gehalten werden, ist diese
Menge hoch. Sie ist deutlich höher, als dies von Exper-
ten erwartet worden war. Dass diese Informationen jetzt
vorliegen, ist nach meiner Ansicht ein wichtiger Fort-
schritt. Gemeinsam mit den Untersuchungsergebnissen
des niedersächsischen Landwirtschaftsministeriums be-
legen sie einen hohen Antibiotikaeinsatz in der landwirt-
schaftlichen Tierhaltung. Allerdings ist auch festzustel-
len, dass der Antibiotikaeinsatz in der Humanmedizin
mit 816 Tonnen ebenfalls sehr hoch ist.
Gut geführte Bestände von gesunden Nutztieren brau-
chen in der Regel keine oder nur in geringem Umfang
Antibiotika. Die Zahlen aus Niedersachsen zeigen je-
doch, dass dennoch der Einsatz von Antibiotika in der
Mast die Regel und nicht die Ausnahme ist. So wurden
in der Kälbermast 92 Prozent der Kälber, bei Puten
84 Prozent, bei Hühnern 76 Prozent und bei Schweinen
68 Prozent der Tiere mit Antibiotika behandelt. Es ist of-
fensichtlich: Die bestehenden, unverbindlichen Leitli-
nien der Bundestierärztekammer allein haben auf die
Anwendung von Antibiotika keinen großen Einfluss ge-
habt. Um zu einer Verringerung der Anwendung von
Antibiotika in der Nutztierhaltung zu kommen, brauchen
wir daher weitere Kontroll- und Anreizsysteme.
Resistenzen gegen Antibiotika entwickeln sich in
Bakterien spontan. Dies ist unvermeidbar. Je länger und
häufiger ein Antibiotikum in Gebrauch ist, desto schnel-
ler verbreiten sich Bakterien, die gegen diesen Wirkstoff
resistent sind. Insbesondere multiresistente Keime, die
unempfindlich gegen mehrere Antibiotika sind, können
nur schwer behandelbare Infektionskrankheiten verursa-
chen. Die bekanntesten Beispiele hierfür sind MRSA
(Methicillin-resistenter Staphylococcus aureus) und
ESBL-Keime (Extended Spectrum beta-Lactamase).
Deswegen sind Antibiotikaresistenzen ein bedeutendes
Problem für die öffentliche Gesundheit. Es ist ein Gebot
des vorsorgenden Gesundheitsschutzes, Antibiotika
sachgerecht, das heißt bei Vorliegen einer bakteriellen
Infektion, anzuwenden, um sicherzustellen, dass wirk-
same Antibiotika im Notfall zur Verfügung stehen.
Angesichts der beschriebenen Situation ist eine Über-
arbeitung des Arzneimittelgesetzes dringend erforder-
lich. Die niedersächsischen Untersuchungen deuten da-
rauf hin, dass in vielen Tierhaltungen Antibiotika
eingesetzt werden, um Mängel in der Haltung der Tiere,
im Betriebsmanagement und in der Hygiene zu überde-
cken. Das kann nicht länger geduldet werden. Die FDP
unterstützt im Kern die vorliegende Novelle. Es sollen
Kennzahlen erhoben werden, die die im Normalfall er-
forderlichen Antibiotikagaben beschreiben. Die Kenn-
zahlen verbessern die Möglichkeiten der Eigenkontrolle
für Landwirte und schaffen Anreize zur Eigeninitiative.
Dabei müssen wir die bereits durch QS privatwirtschaft-
lich erhobenen Daten einbinden, um unnötige Bürokratie
und Belastungen – insbesondere für kleinere Betriebe –
zu vermeiden. Werden diese Kennzahlen überschritten,
ist der Tierhalter verpflichtet, einen Managementplan
vorzulegen, in dem beschrieben wird, in welcher Weise
das Hygiene- und Haltungsmanagement verbessert wer-
den soll. Der Plan ist in Zusammenarbeit mit dem be-
treuenden Tierarzt zu erarbeiten. Die Tierärzte müssen
verstärkt durch Beratungsleistungen in das Bestands-
und Hygienemanagement eingebunden und dafür ange-
messen entlohnt werden. Damit wird automatisch der
Anreiz sinken, Medikamente zu verkaufen. Gleichzeitig
ist die Ressortforschung gefordert, Alternativen zum
Antibiotikaeinsatz, wie beispielsweise markergestützte
Impfungen, zu erforschen.
Der im Gesetz vorgeschlagene Ansatz dient der prob-
lemorientierten, nachhaltigen Lösungsfindung. Gut ge-
führte Betriebe geben das Vorbild und nicht am grünen
Tisch festgelegte Reduktionsziele.
Ein Verbot des Einsatzes von Antibiotika für Tiere
lehnt die FDP ab. Ein krankes Tier muss behandelt wer-
den. Ein Verbot begünstigt einen grauen Markt und ver-
hindert damit, dass Haltungsprobleme gelöst werden.
Ebenso lehnen wir ein abstraktes Ziel der Mengenredu-
zierung ab. Solche abstrakten Ziele werden der sehr un-
terschiedlichen Situation der verschiedenen Tierhaltun-
gen nicht gerecht.
Das neue Gesetz erschwert zudem das Umwidmen
von Antibiotika und schafft die Möglichkeit, den Einsatz
von wichtigen Reserveantibiotika einzuschränken oder
zu verbieten. Dies leistet einen wichtigen Beitrag dazu,
Resistenzbildungen zu verringern.
Die Bundesregierung hat bereits Maßnahmen einge-
leitet, um den Antibiotikaeinsatz in der Tierhaltung zu
vermindern. Auf der Agrarministerkonferenz wurde die
Schaffung einer bundeseinheitlichen amtlichen Daten-
bank beschlossen, die zeitnah die Meldungen des
Antibiotikaeinsatzes bei landwirtschaftlichen Nutztieren
erfassen soll.
Wir müssen im parlamentarischen Verfahren darauf
dringen, die Erfassung der Kennzahlen transparent zu
organisieren und zu verhindern, dass parallele Datenban-
ken geführt werden. Gleichwohl ist schon jetzt klar, dass
alle diese Maßnahmen Geld kosten. Verbraucherinnen
und Verbraucher müssen sich darauf einstellen, in Zu-
kunft mehr Geld für Fleischprodukte zu bezahlen. Er-
höhte Standards im Hygiene- und Haltungsmanagement
von Nutztieren verursachen höhere Kosten. In der
Charta für Landwirtschaft haben wir erfahren, dass in
der Gesellschaft höhere Standards erwünscht sind. Wir
hoffen, dass die sich daraus ergebenden Konsequenzen
der Kostensteigerung ebenfalls getragen werden. Gleich-
zeitig ist zu befürchten, dass die Umsetzung der Maß-
nahmen größeren Betrieben leichter fallen wird als klei-
neren Betrieben. Deshalb fühlen wir uns verpflichtet, mit
Augenmaß die Verringerung der Antibiotikaanwendung
zu verfolgen. Dann kann eine für Verbraucherinnen und
Verbraucher wie auch die Tierhalter gute Novellierung
des Gesetzes gelingen.
24982 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012
(A) (C)
(D)(B)
Hans-Michael Goldmann (FDP): Bei dem Ziel, die
Antibiotikaabgabemengen in der Tierhaltung zu reduzie-
ren, sind wir uns doch hier im Bundestag über alle Frak-
tionen hinweg einig. Das Ziel haben im Übrigen auch
alle vernünftigen Tierhalter. Das ist einmal wichtig, fest-
zustellen. Denn Antibiotika kosten viel Geld, und es
liegt im ökonomischen Eigeninteresse der Tierhalter,
Kosten zu sparen, wenn dies der Tiergesundheit nicht
entgegensteht.
Die Änderungsanträge des Bundesrates zeigen, dass
wir an der einen oder anderen Stelle noch über Anpas-
sungen diskutieren müssen. Das geht jedoch nur im
Dialog mit den Praktikern vor Ort. Denn wir brauchen
praktikable Lösungen. Reichen wir also den Tierhaltern
die Hand und erkennen sie als konstruktive Partner an,
die die Minimierungsziele bei der Antibiotikavergabe
ebenso anstreben wie wir hier in Berlin.
Was ich aber wirklich strengstens ablehne, ist eine
pauschale Verunglimpfung der deutschen Tierhalter, wie
es hier nun von mancher Seite als großes Wahlkampf-
thema genutzt wird. Natürlich gibt es schwarze Schafe.
Die finden wir leider überall. Das ist aber eine Minder-
heit. Und genau diese Minderheit müssen wir durch eine
Novellierung des Arzneimittelgesetzes erreichen und
fachlich durch die praktizierenden Tierärzte und mit ei-
nem praxistauglichen Minimierungskonzept begleiten.
Ich betone aber, nicht als Politiker, sondern als ausge-
bildeter Tierarzt, dass es eben die praktizierenden Tier-
ärzte sind, die die fachliche Eignung für eine Beurtei-
lung der Antibiotikaverabreichung und der Stallsysteme
aufweisen. Diese müssen wir durch die Novellierung
stärken und rechtzeitig in die Prozesse einbinden.
Ferner müssen wir noch im parlamentarischen Pro-
zess diskutieren, ob es nicht auch sinnvoll ist, den vorge-
lagerten Bereich, also die Aufzucht, in das Monitoring
zu integrieren, um die gesamte Wertschöpfungskette im
Blick zu haben. Denn gerade bei den Muttertieren und
der Aufzucht ist eine fachliche Beratung von großer Be-
deutung, um keine negativen Folgeerscheinungen in die
Mast zu verschleppen. Auch hier müssen wir die Tier-
ärzte rechtzeitig einbinden.
Aber eines muss auch noch erwähnt werden: Durch
das privatwirtschaftliche QS-System erfassen wir bereits
seit einiger Zeit Daten. Diese schon existenten Struktu-
ren müssen wir nutzen und integrieren, um Doppelerfas-
sungen und unnötige Kosten zu vermeiden.
Halten wir also fest: Die Koalition stellt sich dem
wichtigen Thema in der Nutztierhaltung und wird eine
gute Basis für die Problemlösung bei der Vergabe von
Antibiotikaabgabemengen finden. Dabei wissen wir,
dass es viele Tierhalter gibt, die nach der guten fach-
lichen Praxis und im Sinne der Tiergesundheit handeln
und letztlich ein gutes, qualitativ hochwertiges Lebens-
mittelprodukt erzeugen. Wir wissen aber auch, dass es
einige Problembetriebe gibt. Das wird keiner bestreiten.
Genau die wollen wir nun zu Verbesserungen anleiten,
ohne dabei einen gesamten Berufsstand mit Unterstel-
lungen in Verruf zu bringen.
Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): „K. O. den
Tierfabriken!“ heißt die aktuelle Kampagne des BUND.
Man kann trefflich darüber streiten, was „Tierfabriken“
sind und welchen Beitrag solche Skandalisierungen zur
Problemlösung leisten können. Für die Linke sind aber
zwei Dinge viel entscheidender: Erstens ist anzuerken-
nen, dass es in Teilen der Nutztierhaltung Gesundheits-
probleme gibt. Und zweitens können wir die Probleme
nur lösen, wenn wir ihre Ursachen und die Verbesserung
des Tierwohls in den Mittelpunkt der Debatte rücken. Es
muss vor allem um die Qualität der Nutztierhaltung ge-
hen. Das ist weit mehr als nur ein Zählappell im Stall.
Oder sind 30 000 Legehennen an einem Standort schon
deshalb keine Tierfabrik, weil dort Bioeier produziert
werden?
Als Gesetzgeber tragen wir dabei eine doppelte Ver-
antwortung. Wir müssen die Interessen der Konsumen-
tinnen und Konsumenten berücksichtigen, die gesunde
und bezahlbare Lebensmittel wollen. Gleichzeitig will
die Gesellschaft völlig zu Recht eine Tierhaltung, die
tierwohlgerecht ist und die natürlichen Lebensbedingun-
gen nicht unnötig belastet. Zumindest bezüglich der Pro-
duktionskosten ist das ein gewisser Interessenkonflikt,
solange zum Beispiel die durch Umweltbelastungen ver-
ursachten Kosten nicht in die Erzeugungskosten einge-
rechnet, sondern von der Gesellschaft getragen werden.
Ohne soziale und ökologische Marktregeln steigt der
Druck, möglichst billig zu produzieren, also möglichst
viel und möglichst schnell auf derselben Fläche. Be-
schleunigt wird diese Entwicklung durch den Trend zur
gewerblichen Nutztierhaltung, denn das trennt sie nicht
nur von der Landbewirtschaftung, sondern entfremdet
sie von landwirtschaftlichen Grundlagen. Multifunktio-
nale Betriebe mit Tier- und Pflanzenproduktion werden
immer seltener und weichen einer Agrarstruktur, in der
die einen nur noch Marktfrüchte anbauen und die Tier-
produktion als Lohnarbeit für Lebensmittelkonzerne
stattfindet. Das halte ich für hochproblematisch und be-
trifft nicht nur die konventionelle Landwirtschaft, son-
dern zunehmend auch den Ökolandbau.
Wenn die Agrarwirtschaft nicht mehr zuallererst als
Versorger im Hinblick auf das öffentliche Gut Ernäh-
rungssicherung verstanden wird, sondern nur noch als
Rohstofflieferant für die Weiterverarbeitung, hat das
schwerwiegende Folgen. Denn das entfremdet sie von
den natürlichen Produktionsgrundlagen und von den
Verbraucherinnen und Verbrauchern.
Unter diesen Rahmenbedingungen erscheint es einfa-
cher, drohende oder bestehende Bestandserkrankungen
systematisch mit Antibiotika zu bekämpfen, statt ihre
Ursachen zu suchen und zu beseitigen. Das ist das ei-
gentliche Problem, das hinter der Zahl von über 1 700
Tonnen Antibiotika steht, die 2011 in deutschen Nutz-
tierbeständen angewandt wurden. Auch wenn die Zahl
selbst noch nicht viel über das Ausmaß des Problems
aussagt, ist unstrittig, dass sie für einen teilweise syste-
matischen Missbrauch spricht. Denn Antibiotika sind so-
wohl in der Human- als auch in der Tiermedizin so wert-
voll, dass sie nur im unvermeidlichen Notfall eingesetzt
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012 24983
(A) (C)
(D)(B)
werden dürfen. 1 700 Tonnen Antibiotika sprechen eine
andere Sprache.
Es ist doch nicht hinnehmbar, wenn 2011 neun von
zehn Masthühnern in NRW in ihrem sehr kurzen Leben
mit Antibiotika behandelt wurden. Die Untersuchungen
aus NRW und Niedersachsen erhärteten den Verdacht,
dass Antibiotika zu oft und regelwidrig verabreicht wer-
den, zum Beispiel zur Verhütung von Infektionen, zur
ungezielten Steigerung der Tiergesundheit oder auf Ver-
dacht. Das ist unverantwortlich. Stattdessen müssen die
Ursachen von erhöhten Infektionsrisiken beseitigt wer-
den. Dazu zählen Mängel beim Stallklima, bei der Stall-
hygiene, bei der Bestandsbetreuung oder zu große Tier-
dichten im Stall oder in der Region. Dazu gehört aber
auch mangelndes Wissen über sogenannte Faktoren-
krankheiten, die neben den klassischen Infektionskrank-
heiten zunehmend zur wirtschaftlichen Bedrohung in der
Tierhaltung werden. Unter anderem deshalb fordere ich
schon lange ein epidemiologisches Zentrum; denn diese
Fragestellungen sind eine andere wissenschaftliche
Herausforderung als die Grundlagenforschung zu den
klassischen Tierseuchen, die am FLI den Schwerpunkt
bildet.
Aber auch der Deutsche Bundestag als Gesetzgeber
muss dringend handeln. Der vorliegende Gesetzentwurf
ist ein erster, aber viel zu zaghafter Schritt. Den
Missbrauch durch eine Datenbank besser zu lokalisieren,
reduziert ihn noch nicht, erst recht, wenn die Entdeckung
so wenig verbindliche Konsequenzen hat.
Die Stellungnahme des Bundesrates weist auf Defi-
zite des Gesetzentwurfs hin und schlägt vernünftige Ver-
besserungen vor, zum Beispiel die Berücksichtigung der
Antibiotika-Leitlinien der Bundestierärztekammer oder
die Dokumentation der verabreichten Tagesdosis statt
nur der Arzneimittelmenge in der bundesweiten Daten-
bank.
Noch besser hätte es der Novelle getan, wenn
noch mehr Vorschläge meiner Fraktion Die Linke be-
rücksichtigt worden wären. Unser Antrag liegt ja bereits
seit Januar 2012 auf dem Tisch (Bundestagsdrucksache
17/8348).
Dazu ein paar Beispiele:
Erstens. Exzessive und unsachgemäße Antibiotika-
Anwendungen sind auch deshalb ein Problem, weil sie
das Resistenzrisiko erhöhen. Durch Resistenzen wird die
Wirksamkeit der Antibiotika reduziert. Das ist insbeson-
dere bei den Wirkstoffen gefährlich, die bei Menschen
und Tieren verwendet werden. Deshalb fordern wir, dass
Humanantibiotika nicht in Tierställen eingesetzt werden.
Zweitens. Eine integrierte veterinärmedizinische Be-
standsbetreuung kann zu wesentlich gesünderen Tieren
beitragen. Die Tierärzteschaft muss als Verbündete der
Tierhalterinnen und Tierhalter sowie der staatlichen
Behörden gestärkt werden. Tierärztinnen und Tierärzte
wissen, wie Infektionskrankheiten vermieden werden
können. Allerdings muss ihre epidemiologische Aus-
und Fortbildung gestärkt werden, und die berufsständi-
schen Vertretungen müssen konsequent gegen schwarze
Schafe in der Tierärzteschaft vorgehen.
Drittens. Die geplante Beschränkung der bestandsge-
nauen Dokumentation der Antibiotika-Anwendungen
auf den Mastbereich ist unsinnig.
Viertens. Die Dokumentation allein ist noch kein
Fortschritt, sondern muss zu einer umfassenden Problem-
analyse und daraus abgeleiteten effektiven und verbind-
lichen Kontroll- und Vollzugsmaßnahmen führen. Ziel
muss eine risikoorientierte Überwachung als Frühwarn-
system für Bestandserkrankungen bei Nutztieren sein.
Fünftens. Die Linke fordert eine tierwohlorientierte
Neubewertung aller Haltungssysteme. Maximale Besatz-
dichten, bezogen auf Stallanlagen, Tierhaltungsstandorte
und Regionen, sollten entsprechend der Ergebnisse einer
epidemiologischen Bewertung der Infektionsrisiken ge-
regelt werden.
Sechstens. Die für Beratung und Überwachung zu-
ständigen Behörden müssen proaktiv agieren und ihre
Vollzugsmöglichkeiten deutlich verbessert werden.
Siebtens. Es wird qualifiziertes Betreuungspersonal in
der Tierhaltung gebraucht. Die Qualifikation muss min-
destens per Sachkundenachweis belegt werden.
All dies werden wir in der Anhörung am 28. Novem-
ber diskutieren müssen. Leider bleibt nur wenig Zeit zur
Debatte. Nachdem sich seitens der Koalition monate-
lang nichts getan hat, soll nun der Gesetzentwurf durch
das Parlament gepeitscht werden. Anscheinend will
Schwarz-Gelb die Antibiotika-Debatte zur Grünen Wo-
che 2013 vom Tisch haben. Aber das wird nicht gelin-
gen, denn es ist bereits wieder eine große agrarpolitische
Demo unter dem Motto „Wir haben es satt!“ in Berlin
angekündigt. Und das Motto bezieht sich sicher nicht
nur auf die Agrarpolitik, sondern auf Schwarz-Gelb ins-
gesamt.
Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Fast auf den Tag genau vor einem Jahr hat NRW-Minis-
ter Johannes Remmel seine Studie zum skandalösen An-
tibiotikaeinsatz in der Geflügelhaltung präsentiert – eine
Studie, die gezeigt hat, dass der übergroßen Mehrzahl
der Tiere teilweise mehrfach Antibiotika verabreicht
wurden, eine Studie, die alle Experten noch einmal in ih-
rer Einschätzung bestätigt hat, dass es ein massives Anti-
biotikaproblem in deutschen Tierhaltungen gibt, eine
Studie, die selbst Sie, Frau Ministerin Aigner, dazu
brachte, den Antibiotikaskandal in der Tierhaltung an-
zuerkennen. Leider haben Sie, Frau Aigner, die damals
geäußerte Betroffenheit wieder einmal nicht in ent-
schlossenes Handeln umgesetzt. Stattdessen haben Sie
ein geschlagenes Jahr weiter gebremst, gezögert und
verschleppt.
Mühsam haben Ihnen die Expertinnen und Experten,
die Bundesländer und vor allem die empörte Öffentlich-
keit nun einen Gesetzentwurf abgerungen. Bei den darin
enthaltenen Maßnahmen geht es jedoch nur darum, den
Status quo weiterhin staunend zu betrachten und zu ze-
mentieren. Auf massiven Druck der Länder haben Sie
nun wenigstens den Gedanken einer zentralen Daten-
bank aufgenommen. Die Erfassung, die Sie vorsehen, ist
jedoch hochkompliziert, intransparent und völlig un-
24984 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012
(A) (C)
(D)(B)
praktikabel. Wir unterstützen daher die Länder, ange-
führt von NRW, wenn sie sagen: Wir wollen, dass Tier-
halter oder Tierärzte ihre Daten unmittelbar in eine
zentrale Datenbank eingeben; die Länder sollen sofort
Zugriff haben und Raster entwickeln können, um Be-
triebe mit auffällig hohem Antibiotikaeinsatz herauszu-
filtern. Ihre Hürden und Hemmnisse für die Landeskon-
trollbehörden müssen raus aus dem Gesetz!
Wenn Antibiotika prophylaktisch eingesetzt werden,
ist das illegal und kriminell, und der Staat muss dement-
sprechend reagieren. Es kann nicht sein, dass die Täter
mit Samthandschuhen angefasst werden. Wer kriminell
handelt, muss mit Konsequenzen rechnen. Die Reduk-
tionsmaßnahmen, die Sie vorgeben, sind jedoch zahn-
lose Tiger. Wenn in Ställen ein überdurchschnittlicher
Antibiotikaeinsatz festgestellt wurde, sollen die Tier-
ärzte mit den Tierhaltern Reduktionspläne erarbeiten.
Ziel ist es, den Einsatz auf den ohnehin skandalös hohen
Durchschnittswert zu senken. Gelingt das nicht, sind
nicht einmal Sanktionen vorgesehen. Wohin wollen Sie
mit diesem Gesetz? Wir müssen den massiven prophy-
laktischen Antibiotikaeinsatz entschlossen bekämpfen.
Mit Ihren Maßnahmen kommen wir diesem Ziel keinen
Schritt näher. Wir knipsen nur einige weitere Lichter an,
um den Antibiotikaskandal noch besser auszuleuchten,
der schon heute offensichtlich ist.
Frau Ministerin Aigner, mit Ihrem Agieren seit einem
Jahr machen Sie deutlich, dass Ihnen ein Masterplan
fehlt. Getrieben von der öffentlichen Debatte, schlagen
Sie ein paar Maßnahmen im AMG vor, nur um einen Ar-
beitsnachweis zu haben. Aber daran werden Sie nicht
gemessen. Die Menschen fragen: Was tun Sie, um den
massiven Antibiotikaeinsatz in der Tierhaltung zu be-
kämpfen – laut BVL 1 734 Tonnen im Jahr 2011? Was
tun Sie, um der Expansion von Tierfabriken entgegen-
zuwirken, für deren Produktion Antibiotika die Schmier-
mittel sind? Was tun Sie gegen die Ausbreitung von
multiresistenten Keimen und die zunehmende Unwirk-
samkeit von Antibiotika?
Nichts, nichts und noch einmal nichts. Sie erstarren,
weil Sie Angst davor haben, Verantwortung zu überneh-
men, und regelmäßig vor der Interessenlobby einknicken.
Dabei wissen Sie genau, dass wir nur mit Änderungen
im System den Antibiotikaeinsatz wirksam senken wer-
den.
Wir müssen endlich die Haltungssysteme umbauen.
Runter mit den Tierplatzzahlen! Mehr Platz, mehr Aus-
lauf, mehr Außenklimabereiche! Wir müssen raus aus
der bedingungslosen Bestandsbehandlung – gerne durch
den Begriff Metaphylaxe vernebelt. Was ist Metaphy-
laxe für ein Rechtsbegriff, Frau Ministerin? Glauben
Sie, dass dieser Begriff justiziabel ist? Ich glaube das
nicht. Wir brauchen endlich Festpreise für Antibiotika.
Die Subventionierung der Autobahntierärzte muss been-
det werden.
Frau Ministerin Aigner, das sind die zentralen Fragen,
die Sie angehen müssten. Leider akzeptieren Sie jedoch
ohne Protest den engen Gestaltungsrahmen, den Ihnen
die Agrarlobby setzt. Wir werden sehen, ob Sie selbst
Ihre Schmalspurmaßnahmen zum AMG am Ende kom-
plett einstampfen, wie Sie es gerade mit dem Tierschutz-
gesetz gemacht haben, als Ihnen der Lobbydruck aus den
eigenen Reihen zu groß wurde. Gut für Sie, dass Sie bald
in Bayern sind und hoffentlich mehr politischen Frei-
raum in der Opposition haben. Noch besser für die Bür-
gerinnen und Bürger, dass sie 2013 mit ihrer Stimme
Schwarz-Gelb abwählen können und Ihnen die Verant-
wortung entziehen, vor der Sie sich ohnehin immer ge-
drückt haben.
Peter Bleser, Parl. Staatssekretär bei der Bundes-
ministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucher-
schutz: Ich spreche heute zu einem Thema, das mir auch
als Landwirt sehr am Herzen liegt.
Tiergesundheit ist eine entscheidende Voraussetzung
für das Wohlergehen und die Leistung von Tieren. Si-
chere Lebensmittel können nur von gesunden Tieren ge-
wonnen werden. Den Einsatz von Antibiotika in einigen
Arten der Tierhaltung betrachten wir mit Sorge. Dabei
ist es eine Selbstverständlichkeit: Der Einsatz von Anti-
biotika ist auf ein Minimum – nämlich auf das therapeu-
tisch Notwendige – zu beschränken.
Bereits heute ist der Einsatz von Antibiotika als
Wachstumsförderer verboten. Und der Einsatz von Anti-
biotika – prophylaktisch, also zur Vorsorge gegen eine
mögliche Erkrankung – ist ebenfalls bereits verboten.
Damit ist klar: Wer Antibiotika bei Tieren einsetzt, die
nicht erkrankt sind, verstößt gegen geltendes Recht.
Wir verschließen nicht die Augen vor den bestehen-
den Problemen. Wir wollen sie lösen. Sowohl die aus
den Ländern vorliegenden Erkenntnisse zum Antibiotika-
einsatz vor Ort, als auch die kürzlich veröffentlichte
Gesamtmenge der antimikrobiellen Wirkstoffe in der
Tierarztpraxis von 1 734 Tonnen unterstreichen die Be-
deutung des Antibiotikaminimierungsprogramms der
Bundesregierung. Wir gehen kontinuierlich und ent-
schlossen vor. Der Kampf gegen die Entwicklung und
Ausbreitung von Antibiotikaresistenzen in der Tierhal-
tung wurde bereits vor mehr als zehn Jahren aufgenom-
men und durch strenge Vorgaben im Umgang mit Tier-
arzneimitteln im AMG festgeschrieben. 2008 hat die
Bundesregierung eine Antibiotikaresistenzstrategie be-
schlossen. Jetzt legen wir einen weiteren Gesetzentwurf
zur Minimierung des Antibiotikaeinsatzes vor.
Um den Missbrauch von Antibiotika in der Tierhal-
tung einzudämmen, hat die Bundesregierung einen Ent-
wurf zur Änderung des Arzneimittelgesetzes vorgelegt.
Wir werden den Ländern noch mehr Möglichkeiten ge-
ben. Nach meiner Meinung schöpfen die Länder die be-
reits heute vorhandenen Möglichkeiten nicht aus. Sie
werden künftig Ihre Überwachungsaufgaben – noch ef-
fektiver – erfüllen können.
Wir alle verfolgen in diesem Zusammenhang dasselbe
Ziel. Das wird unterstrichen durch den Beschluss des
Bundesrates vom 10. Februar 2012 sowie die Beschlüsse
der Agrarministerkonferenz vom Januar 2012 und vom
April 2012. Wir haben diese Beschlüsse mit dem Ent-
wurf eines 16. Gesetzes zur Änderung des Arzneimittel-
gesetzes zielgerichtet aufgegriffen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012 24985
(A) (C)
(D)(B)
Als Kernstück enthält der Gesetzentwurf einen
Rechtsrahmen für ein innovatives betriebsgestütztes An-
tibiotikaminimierungskonzept. Die in den §§ 58 a bis
58 d getroffenen Maßnahmen sind ein ineinandergrei-
fendes System und gezielt darauf ausgerichtet, den Anti-
biotikaeinsatz im Betrieb transparent und bundesweit
vergleichbar zu machen. Ziel ist es, den Einsatz von Anti-
biotika in Betrieben, die Rinder, Schweine, Huhn und
Pute mästen, zu überprüfen und, sofern erforderlich, zu
minimieren. Der auf wissenschaftlich-epidemiologischer
Grundlage ermittelte Parameter der „Therapiehäufig-
keit“ ermöglicht eine Beurteilung des quantitativen Ein-
satzes von Arzneimitteln auf Betriebsebene. Neben einer
betriebsbezogenen Therapiehäufigkeit gibt es auch bun-
desweite Kennzahlen für die Therapiehäufigkeit. Der
Tierhalter muss feststellen, ob die Kennzahl für seinen
Betrieb im Vergleich zur bundesweiten Kennzahl über-
schritten ist. Beim Überschreiten soll er eine Ur-
sachenprüfung durchführen sowie die Minimierung des
Antibiotikaeinsatzes überprüfen. Der Tierhalter muss ge-
gebenenfalls einen schriftlichen Antibiotikaminimie-
rungsplan erstellen und durchführen.
Es macht an dieser Stelle keinen Sinn, konkrete Pro-
zentvorgaben für die Reduktion des Antibiotikaeinsatzes
festzulegen. Denn es muss stets möglich sein, dass ein
krankes Tier behandelt werden kann. Dies ist aus Tier-
schutzaspekten der einzig richtige Weg.
Insgesamt ermöglicht es das Antibiotikaminimie-
rungskonzept der §§ 58 a bis 58 d, die Überwachungs-
maßnahmen risikoorientierter zu planen und somit wei-
ter zu verbessern.
Als Weiteres werden Ermächtigungen für neue Rege-
lungen geschaffen. Die Regelungen sollen insgesamt ei-
nen wichtigen Beitrag zur Wahrung der Lebensmittel-
sicherheit und zur Optimierung der Tierhaltung leisten.
Um auf meine Eingangsbemerkung zurückzukom-
men: Im Zusammenhang mit diesem Thema verfolgen
wir alle dasselbe Ziel. Ich freue mich, dass der Bundesrat
in seiner Stellungnahme vom 2. November 2012 aus-
drücklich den mit dem Gesetzentwurf beabsichtigten
Einstieg in ein Antibiotikaminimierungskonzept be-
grüßt. Er macht deutlich, dass eine schrittweise Umset-
zung des Konzeptes, beginnend mit dem Mastbereich,
eine intensivere Begleitung der auffälligen Betriebe er-
möglicht. Die Bundesregierung bereitet zurzeit die Ge-
genäußerung zur Stellungnahme des Bundesrates vor.
Der Weg der Bundesregierung ist klar:
– Wir verschärfen die rechtlichen Bestimmungen, um
den Antibiotikaeinsatz in der Nutztierhaltung auf das
absolut notwendige Maß zu beschränken.
– Wir erweitern deutlich die Befugnisse der zuständi-
gen Kontroll- und Überwachungsbehörden der Län-
der.
Wir können unser gemeinsames Ziel – die Minimie-
rung des Antibiotikaeinsatzes – nur dann erreichen,
wenn wir alle an einem Strang ziehen. Wir hoffen auf
eine zügige Beratung in den Gremien des Bundestages.
Anlage 13
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung des AZR-Gesetzes (Zusatztagesord-
nungspunkt 8)
Reinhard Grindel (CDU/CSU): Der Europäische
Gerichtshof hat in seinem Urteil vom 16. Dezember
2008 entschieden, wie und welche Daten von Bürgern
der Europäischen Union, die nicht Bundesbürger sind,
im Ausländerzentralregister, AZR, gespeichert und wei-
ter übermittelt werden dürfen. Mit dem vorliegenden
Gesetzentwurf setzt die Bundesregierung das Urteil
konsequent in geltendes Recht um. Es wird festgelegt,
welche Daten von Unionsbürgern im AZR gespeichert
werden und an welche Behörden Daten von Unionsbür-
gern übermittelt werden dürfen.
Schon nach Urteilsverkündung hat die Bundesregie-
rung die für die Führung des AZR zuständigen Behörden
angewiesen, die Daten von Unionsbürgern nur noch
nach Maßgabe des Urteils zu speichern und zu übermit-
teln. Die momentane Praxis entspricht somit größtenteils
dem vorliegenden Gesetzentwurf und wird durch diesen
auf eine solide gesetzliche Grundlage gestellt.
Die Wichtigkeit des Ausländerzentralregisters bleibt
dabei unbestritten. Es ist wichtige Informationsquelle für
mehr als 6 500 Partnerbehörden. Es dient den Verwal-
tungsbehörden zur Erfüllung von Aufgaben im auslän-
der- und asylrechtlichen Bereich, hat Unterstützungs-
funktion als Instrument der öffentlichen Sicherheit und
wird für ausländerpolitische Planungen sowie für die Er-
mittlung steuerungsrelevanter Daten verwendet. Ohne
diese Daten aus dem AZR wäre es zum Beispiel kaum
möglich, die Integrationsindikatorenberichte der Bun-
desregierung zu erstellen und die Lage der Ausländer
und Migranten in unserem Land aufgrund einer soliden
Datenbasis zu ermitteln und zu beurteilen.
Unsere Fraktion begrüßt sehr, dass durch die vorlie-
genden Änderungen ein weiterer Schritt getan wird, um
Unionsbürger und Bundesbürger auf eine gleiche Stufe
zu stellen. Aufgrund der Europäischen Einigung ist es
zudem geboten, zwischen Bürgern aus anderen EU-Staa-
ten und Bürgern aus Drittstaaten zu differenzieren. Im
Ausländerzentralregister wird daher nun konsequent
zwischen Unionsbürgern und Menschen aus Drittstaaten
unterschieden.
Die Speicherung von personenbezogenen Daten der
Unionsbürger soll nun nur noch möglich sein, wenn die
Daten zur Anwendung aufenthaltsrechtlicher Vorschrif-
ten benötigt werden. Dies ist der Fall, wenn der Unions-
bürger zum Beispiel einen Antrag auf Asyl stellen sollte
oder gegen ihn aufenthaltsrechtliche Entscheidungen ge-
troffen worden sind oder er zur Festnahme oder zur
Zurückweisung an der Grenze ausgeschrieben ist. In die-
sen Fällen werden die Daten unbedingt benötigt und im
AZR erfasst. Der Sicherheitsaspekt bleibt hier sehr
wichtig, damit Kriminelle und Terroristen sich nicht hin-
ter einer möglichen Unionsbürgerschaft verstecken kön-
nen.
24986 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012
(A) (C)
(D)(B)
Entsprechend der Zielsetzung der Datenerfassung re-
gelt das Änderungsgesetz, dass die Daten nur an solche
Behörden und öffentliche Stellen weitergegeben werden
dürfen, die mit einem asyl- oder aufenthaltsrechtlichen
Anliegen befasst sind. Nur solche Stellen dürfen entspre-
chend Suchvermerke verfassen.
Dabei gelten diese Regelungen nicht für Unionsbür-
ger, bei denen die Freizügigkeitsrechte nicht bestehen
oder die diese verloren haben. Es gilt auch hier der
Grundsatz, dass es die Bürgerrechte nur bei Einhaltung
der Bürgerpflichten gibt. Wer seine Freizügigkeitsrechte
durch kriminelles Handeln verspielt, muss die entspre-
chenden Konsequenzen tragen.
Dank dieser Neuregelung wird es so sein, dass bei ei-
ner Polizeikontrolle die Polizei der Länder direkt fest-
stellen kann, ob ein kontrollierter Ausländer aus anderen
EU-Staaten seine Freizügigkeitsrechte besitzt oder nicht
und dann eventuell gegen Recht und Gesetz verstößt.
Sollte alles seine Richtigkeit haben und die Freizügig-
keitsrechte vorliegen, zeigt die Datenbank den Polizei-
beamten keine persönlichen Daten an, sondern nichts an-
deres als diese entscheidende Information. Damit wird
der Datenschutz auf höchstem Niveau gewahrt.
Eine wichtige Gleichstellung zwischen Unionsbür-
gern im AZR und Bundesbürgern im sonstigen Erfas-
sungswesen ist die Regelung, dass von den Bürgern aus
den EU-Staaten nur die sogenannten Grunddaten gespei-
chert werden dürfen. Also hauptsächlich Name, An-
schrift, Geburtsdatum und -ort, Geschlecht und Staats-
angehörigkeit.
Natürlich ist es weiterhin wichtig, zu wissen, wie
viele Ausländer auch aus EU-Ländern in Deutschland
leben und sich hier aufhalten. Daher regelt das Gesetz
zum AZR auch ausdrücklich, dass die Daten für statisti-
sche Zwecke aufbereitet werden dürfen. Hierzu müssen
die Daten anonymisiert werden.
In diesem Zusammenhang halte ich die sogenannte
Forschungsklausel für wichtig. Sie ist nicht Bestandteil
der Urteilsumsetzung des EuGH, sondern Ausdruck der
positiven Erfahrung mit Studien, Berichten und Analy-
sen auf wissenschaftlicher Basis zu den in der Bundesre-
publik lebenden Ausländern.
Zur Durchführung von wissenschaftlichen Studien
und für Repräsentativbefragungen dürfen die personen-
bezogenen Daten, so auch die Anschriften von Auslän-
dern, die nicht freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger
sind, aus dem AZR übermittelt werden. Damit der wis-
senschaftliche Zweck und die Vertraulichkeit der Daten
gesichert bleiben, wird diese Vorschrift auf das Bundes-
amt für Migration und Flüchtlinge beschränkt, wo dies
vollumfänglich durch die Kontrolle der Bundesregierung
gewährleistet werden kann. So können wissenschaftliche
Forschungsvorhaben durch das BAMF durchgeführt
werden. Die Veröffentlichung der Ergebnisse muss
selbstverständlich in anonymisierter Form erfolgen.
Ich halte solche Studien für sehr wichtig, um eine
gute Politik für die in Deutschland lebenden Ausländer
machen zu können. Auf Grundlage einer solchen soliden
Datenbasis und wissenschaftlichen Betrachtungen kann
man als Politiker verantwortungsvoll Entscheidungen
treffen. Es reicht eben nicht, sich von emotionalen Ein-
zelschicksalen oder lokalen persönlichen Beobachtun-
gen leiten zu lassen, wie es mancher Kollege der Oppo-
sition gerne mal tut – so hat man zumindest häufiger mal
den Eindruck.
Eine weitere Neuregelung nimmt den Fall auf, dass
ein Gerichtsvollzieher Daten über einen Schuldner beim
AZR anfragt, ein Umstand, der durchaus realistisch ist.
Hier wurde ein wertvoller Hinweis des Bundesrates auf-
genommen und in modifizierter Form in das Gesetz ein-
gefügt. Dies wird durch eine Änderung der Zivilprozess-
ordnung erreicht.
Ein Gerichtsvollzieher darf nur in Ausnahmefällen
eine Anfrage für die personenbezogenen Daten eines
Unionsbürgers beim AZR stellen, nämlich dann, wenn er
begründete Anhaltspunkte hat, dass bei dem Unionsbür-
ger, der der Schuldner ist, die Freizügigkeitsrechte nicht
bestehen oder verloren sind. Auf diese Weise soll zum
Ausdruck gebracht werden, dass die Anfrage ausschließ-
lich auf konkrete Veranlassung hin unternommen wird.
Da sich ein Gerichtsvollzieher mit dem Schuldenfall
und den Gläubigern intensiv auseinandersetzen muss,
glaube ich, dass solche Anhaltspunkte realistischerweise
sehr schnell auf der Hand liegen können, wenn die Frei-
zügigkeitsrechte tatsächlich nicht bestehen. Dadurch,
dass das Bestehen solcher Anhaltspunkte vorausgesetzt
wird, werden offensichtlich aussichtslose Anfragen an
das AZR vermieden und damit Kosten und Verwaltungs-
aufwand im erheblichen Umfang eingespart.
Die Daten aus dem AZR dürfen dem Gerichtsvollzie-
her natürlich nur dann übermittelt werden, wenn sich der
begründete Verdacht als richtig herausstellt, dass der be-
troffene Unionsbürger die Freizügigkeitsrechte momen-
tan nicht besitzt.
Abschließend möchte ich betonen, dass die christlich-
liberale Bundesregierung ein sehr gutes Gesetz vorgelegt
hat, das die Vorgaben der europäischen Rechtsprechung
konsequent umsetzt und sinnvolle Regelungen zur wis-
senschaftlichen Forschung, zum Datenschutz und zum
Zivilprozessrecht enthält.
Die rechtliche Unterscheidung zwischen Unionsbür-
gern und Drittstaatsangehörigen ist wichtig. Die weitere
Angleichung der Stellung von Unionsbürgern und deut-
schen Staatsangehörigen bedeutet einen weiteren Schritt
voran in der Europäischen Einigung und zur Stärkung
der Europäischen Nachbarschaft.
Rüdiger Veit (SPD): Wie die Bundesregierung ein-
leitend zu ihrem Gesetzesentwurf ausführt, dient der Ge-
setzentwurf in erster Linie dazu, die deutsche Rechtslage
dem Urteil des EuGH vom 16. Dezember 2008 anzu-
passen. Der EuGH hatte in seinem Urteil ausgeführt,
dass die personenbezogene Speicherung von Daten von
Unionsbürgern im AZR nur unter bestimmten Vorausset-
zungen zulässig ist. Aufgrund dieser Vorgabe ist eine
Einschränkung der Nutzung und Speicherung von Daten
von Unionsbürgern europarechtlich geboten und wird
nun in dem vorliegenden Gesetzentwurf von der Bun-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012 24987
(A) (C)
(D)(B)
desregierung vorgenommen. Wir unterstützen das. Und,
da die Entscheidung des EuGH schon vier Jahre zurück-
liegt, ist eine solche Änderung des AZR auch überfällig.
In dem Gesetzentwurf will die Bundesregierung aller-
dings auch eine eigene Ermächtigungsgrundlage zur
Verarbeitung personenbezogener Daten für das Bundes-
amt für Migration und Flüchtlinge, BAMF, schaffen.
Diese Ermächtigungsgrundlage soll es dem BAMF er-
möglichen, auf Daten des AZR zuzugreifen, um „wis-
senschaftliche Studien und Repräsentationsbefragungen
über in Deutschland lebende Ausländer … durchführen
zu können“.
Nach dem Gesetzentwurf sind die personenbezoge-
nen Daten des AZR zu diesem Zweck zu pseudonymi-
sieren, allerdings nur, wenn dies „nach dem Forschungs-
zweck möglich ist und keinen im Verhältnis zu dem
angestrebten Schutzzweck unverhältnismäßigen Auf-
wand erfordert“. Das ist uns zu weitgehend. Aus Daten-
schutzgesichtspunkten finden wir eine grundsätzliche
Anonymisierung besser als eine Pseudonymisierung;
denn bei der Pseudonymisierung ist die Zuordnung der
Daten zu einer konkreten Person unter Zuhilfenahme des
richtigen Schlüssels weiterhin möglich. Bei der Anony-
misierung ist dies nicht mehr der Fall.
Als weitere Schutzmaßnahme für die im AZR gespei-
cherten Daten von Ausländern wäre für uns auch die Zu-
sammenfassung von anonymisierten Datensätzen nach
bestimmten Merkmalen denkbar. Diese von uns ange-
regte Schutzmaßnahmen sollten nicht unter einem derart
weiten Vorbehalt stehen, wie es im vorliegenden Gesetz-
entwurf die Pseudonymisierung betreffend der Fall ist.
Wir stehen dem Gesetzentwurf daher insgesamt ab-
lehnend gegenüber.
Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): Durch den vor-
liegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung wird das
Ausländerzentralregistergesetz angepasst.
Notwendig geworden ist die Anpassung durch eine
Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs, die be-
sagt, dass personenbezogene Daten von Unionsbürgern
nur unter bestimmten Voraussetzungen in einem Regis-
ter wie dem Ausländerzentralregister gespeichert und
genutzt werden dürfen.
Daten von Unionsbürgern, die nicht Staatsangehörige
der Bundesrepublik Deutschland sind, dürfen demnach
in einem Register wie dem Ausländerzentralregister nur
dann gespeichert und genutzt werden, wenn diese Daten
für die Anwendung aufenthaltsrechtlicher Vorschriften
durch die hierfür zuständigen Behörden erforderlich sind
und der zentralisierte Charakter des Ausländerzentral-
registers eine effizientere Anwendung der aufenthalts-
rechtlichen Vorschriften in Bezug auf das Aufenthalts-
recht von Unionsbürgern erlaubt.
Auch den entsprechenden Änderungswunsch des
Bundesrates hat die Regierungskoalition übernommen:
Auf diese Weise soll zum Ausdruck gebracht werden,
dass die Anfrage an das Ausländerzentralregister durch
den Gerichtsvollzieher bei Unionsbürgern lediglich auf
eine konkrete Veranlassung hin unternommen wird.
Der Gesetzentwurf schafft so für alle Beteiligten mehr
Rechtssicherheit.
Ulla Jelpke (DIE LINKE): Es geht heute um den
Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Ausländerzen-
tralregisters, wodurch die Speicherung der Daten von
EU-Bürgerinnen und -Bürgern mit dauerhaftem Aufent-
halt in Deutschland eingeschränkt werden soll. Das Aus-
länderzentralregister ist eine wesentliche Säule der da-
tenmäßigen Totalerfassung von Ausländerinnen und
Ausländern in Deutschland. Es bestehen insgesamt fast
30 Dateien und Zentralregister, in denen diese Gruppe
erfasst wird. Hinzu kommen die Dateien und Daten-
sammlungen der kommunalen Ausländerbehörden und
der zentralen Ausländerbehörden der Länder. Am lau-
fenden Band kommen neue Dateien hinzu, wie die von
der Koalition in dieser Wahlperiode beschlossene Visa-
warndatei. Diese Datei zeigt ganz deutlich, dass die zen-
trale Sondererfassung von Ausländerinnen und Auslän-
dern überflüssig ist. Alle Daten sind auch in anderen
zentralen Registern und bei den kommunalen Meldebe-
hörden erfasst und verfügbar. Die zentrale Erfassung von
Ausländerinnen und Ausländern, viele davon mit dauer-
haftem Aufenthalt in Deutschland, ist eine Diskriminie-
rung dieser Menschen. Die Linke setzt sich deshalb
grundsätzlich für die Abschaffung des Ausländerzentral-
registers ein.
Nun hat die Bundesregierung einen Gesetzentwurf
vorgelegt, mit dem zumindest die Speicherung der Daten
von EU-Bürgerinnen und -Bürgern mit dauerhaftem
Aufenthalt in Deutschland eingeschränkt werden soll.
Auch diese Einschränkung erfolgt nicht freiwillig. Sie
geht zurück auf eine Vorlageentscheidung des Europäi-
schen Gerichtshofs, der vor einigen Jahren die Frage zu
klären hatte, ob die generelle Erfassung und Verarbei-
tung personenbezogener Daten von EU-Bürgerinnen und
-Bürgern in einem zentralen Ausländerregister über-
haupt mit EU-Recht vereinbar ist. Die Antwort war ganz
eindeutig: Es dürfen nur die Daten gespeichert werden,
die erforderlich sind, um die Voraussetzungen des Auf-
enthaltsrechts in Deutschland festzustellen. Diese Daten
dürfen auch nur dann weitergegeben werden, wenn die
mit dieser Feststellung betrauten Behörden sie abfragen.
Diese Beschränkungen werden durch das vorliegende
Gesetz weitgehend umgesetzt. Das ist im Sinne der EU-
Bürgerinnen und -Bürger sicherlich zu begrüßen. Bei
dieser Gelegenheit hätten aber die insgesamt im Auslän-
derzentralregister gespeicherten Daten und die Zahl der
zugriffsberechtigten Behörden stark eingeschränkt wer-
den müssen. Für alle anderen Ausländerinnen und Aus-
länder in Deutschland ändert sich durch diesen Gesetz-
entwurf nichts. Weiterhin sind neben den Angaben zur
Person viele weitere Daten enthalten, beispielsweise
zum Verdacht auf Straftaten oder zu Verurteilungen,
Lichtbilder, sogar sozialrechtliche Daten. Alle diese Da-
ten gibt es bereits bei anderen Behörden, in deren Zu-
ständigkeitsbereich sie fallen: Polizei, Staatsanwalt-
schaft, Bundesagentur für Arbeit und Meldebehörden.
24988 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 204. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012
(A) (C)
(D)(B)
Eine doppelte und dreifache Speicherung dieser Daten
ist überflüssig und aus datenschutzrechtlicher Sicht da-
mit auch nicht verhältnismäßig.
Die genannten Daten sind von anderen Behörden, bei-
spielsweise der Polizei, in einem automatisierten Verfah-
ren abrufbar. Das bedeutet, dass nicht geprüft wird, ob
die abrufende Stelle, also die Polizei oder andere, diese
Daten auch wirklich zu ihrer Aufgabenerfüllung benö-
tigt. Im Ausländerzentralregister ist sogar vorgesehen,
Gruppenauskünfte zu bestimmten Ausländerinnen und
Ausländern abrufbar zu halten. Das ist nichts weniger als
die rechtliche und technische Grundlage für Rasterfahn-
dungen. Damit sind Ausländerinnen und Ausländer be-
sonders anfällig für Maßnahmen der Sicherheitsbe-
hörden, die weit in ihr Recht auf informationelle
Selbstbestimmung eingreifen.
Das Ausländerzentralregister ist nichts anderes als
Diskriminierung per Gesetz. Mit dem vorliegenden Ge-
setzentwurf wird diese Diskriminierung für einen Teil
der Betroffenen abgemildert – und damit nur neue Dis-
kriminierung geschaffen. Das ist schlicht Murks und
sicherlich nicht im Sinne der Entscheidung des EuGH.
Die Linke lehnt diesen Gesetzentwurf deshalb ab.
Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir
werden uns bei der Abstimmung über den Gesetzentwurf
der Bundesregierung zur Änderung des Ausländerzen-
tralregisters enthalten. Positiv ist zwar die Umsetzung
des Urteils des Europäischen Gerichtshofes. Jedoch wi-
dersprechen wir der Verarbeitung und Nutzung von per-
sonenbezogenen Daten zu Forschungszwecken, die dem
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, BAMF, ge-
stattet werden sollen.
Der Europäische Gerichtshof hat im Jahr 2008 ent-
schieden, dass personenbezogene Daten von Unionsbür-
gerinnen und -bürgern nicht für Sicherheits- und Strafver-
folgungszwecke im Ausländerzentralregister gespeichert
und genutzt werden dürfen. Die Ungleichbehandlung ge-
genüber Deutschen sei nicht zu rechtfertigen und daher
diskriminierend. Der vorliegende Gesetzentwurf der
Bundesregierung dient im Wesentlichen der Umsetzung
dieser Entscheidung des EuGH.
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung setzt unseres
Erachtens die europäischen Vorgaben sachgerecht um.
Das kann man von der Bundesregierung auch erwarten.
Schließlich hat sie sich dafür mehr als vier Jahre Zeit ge-
lassen. So wurde insbesondere der Umfang der von frei-
zügigkeitsberechtigten Unionsbürgern zu speichernden
Daten hinreichend begrenzt. Zum Beispiel sollen keine
Lichtbilder mehr gespeichert werden. Außerdem wurde
die Weitergabe der Daten an Behörden auf die unmittel-
bare Durchführung ausländer- und asylrechtlicher Vor-
schriften begrenzt. Daten dürfen jetzt nicht mehr an den
Verfassungsschutz weitergegeben werden. Auch sind für
Unionsbürgerinnen und -bürger keine sogenannten Grup-
penanfragen mehr möglich. Im Rahmen von Polizeikon-
trollen wird bei freizügigkeitsberechtigten Unionsbür-
gern lediglich festgehalten, dass eine Feststellung über
das Nichtbestehen bzw. den Verlust des Freizügigkeits-
rechts nicht erfolgt ist.
Kritisch sehen wir dagegen die Vorschrift über die
Verarbeitung und Nutzung personenbezogener Daten zu
wissenschaftlichen Zwecken nach § 24 a AZR-GE. Diese
neue Ermächtigungsgrundlage des BAMF hat nichts mit
dem in Rede stehenden Urteil des EuGH zu tun. Sie ist
zu weitgehend und lässt viele Fragen offen. So müssen
nach dem Vorschlag der Bundesregierung die Daten
nicht zwingend anonymisiert oder auch nur pseudonymi-
siert werden. Die personenbezogenen Daten dürfen
schon dann gespeichert und genutzt werden, wenn eine
Anonymisierung bzw. Pseudonymisierung mit einem
unverhältnismäßigen Aufwand verbunden wäre. Außer-
dem ergibt sich nicht aus dem Gesetzestext, sondern erst
aus der Gesetzesbegründung, dass das BAMF gegebe-
nenfalls zusätzliche Daten erheben soll und zu diesem
Zweck die betroffenen Personen anschreiben darf. Offen
bleibt, zu welchem Zweck hier welche Daten erhoben
werden können. Und wie steht es eigentlich mit der Frei-
willigkeit der Datenherausgabe? Das ist jedenfalls kein
seriöser Vorschlag, wie der Staat Informationen seiner
größten Datenbank der Forschung zugänglich machen
will.
Abschließend möchte ich darauf hinweisen, dass wir
die umfassenden Zugriffsmöglichkeiten von Polizei,
Nachrichtendiensten und Ordnungsbehörden auf das
AZR insgesamt für sehr problematisch halten und diese
eingrenzen möchten. Das Ausländerzentralregister ist mit
rund 20,5 Millionen personenbezogenen Datensätzen eine
der größten staatlichen Datenbanken in Deutschland. Es
dient der Erfüllung von Aufgaben im aufenthalts- und
asylrechtlichen Bereich, zusätzlich aber auch Sicher-
heitszwecken. Im AZR werden Daten von Ausländerin-
nen und Ausländern gespeichert, die in Deutschland le-
ben bzw. gelebt haben, aber auch Visadaten oder Infor-
mationen über Ausweisungen. Polizei und Nachrichten-
dienste können über Gruppenanfragen die Daten aller
Personen mit bestimmten Merkmalen wie etwa Religi-
onszughörigkeit oder Geburtsort abfragen und zur Ras-
terfahndung nutzen.
204. Sitzung
Inhaltsverzeichnis
TOP 3 Entbürokratisierung des Gemeinnützigkeitrechts
TOP 4 Umgang mit der NS-Vergangenheit
TOP 49, ZP 2 Überweisungen im vereinfachten Verfahren
TOP 50, ZP 3 Abschließende Beratungen ohne Aussprache
ZP 4 Aktuelle Stunde zur Zwischenbilanz ein Jahr nachBekanntwerden der NSU-Terrorzelle
TOP 5 Finanzierung der Grundsicherung (SGB XII)
TOP 6 Transatlantische Beziehungen
TOP 11 Bundeswehreinsatz in Darfur (UNAMID)
ZP 5, TOP 46, ZP 6 Nebentätigkeiten von Abgeordneten, Parteispenden
TOP 13 Bundeswehreinsatz in Südsudan (UNMISS)
TOP 10 Bekämpfung des Dopings
TOP 9 Recht der Sicherungsverwahrung
TOP 12 Menschenrechte in Zentralasien
TOP 7 Markttransparenzstelle für Gas- und Stromhandel
TOP 14 Beendigungsgesetz zum Berlin/Bonn-Gesetz
TOP 15 Regelung des OTC-Derivate-Handels (EMIR)
TOP 16 Aufnahme syrischer Flüchtlinge
TOP 17 Ergänzung des Geldwäschegesetzes
TOP 18 Energiesteuer- und Stromsteuergesetz
TOP 19 US-Nuklearwaffen in Europa und Deutschland
TOP 20 Fakultativprotokoll über Rechte des Kindes
TOP 21 EU-Notfallpläne und Kontrollen im Seeverkehr
TOP 22 SEPA-Begleitgesetz
TOP 23 Mitwirkungsrecht von Kommunen bei Gesetzgebung
TOP 24 Änderung des Mikrozensusgesetzes 2005
TOP 25, ZP 7 Offenlegungspflichten für Unternehmen
TOP 26 Änderung des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes
TOP 27 Truppenübungsplatz Altmark
TOP 28 Umsetzung der Richtlinie über Industrieemissionen
TOP 29 Anbindung deutscher Seehäfen
TOP 30 Seeschifffahrt in Deutschland
TOP 31 Kommunale Kosten für Eisenbahnkreuzungen
TOP 32 Internationales Privatrecht
TOP 33 Rechtsbehelfsbelehrung im Zivilprozess
TOP 34 Kleinstkapitalgesellschaften-Bilanzrecht
TOP 35 Änderung des Urheberrechtsgesetzes
TOP 36 Schlichtung im Luftverkehr
TOP 37 EU-Vorschlag für Datenschutz-Grundverordnung
TOP 38 Änderung des Arzneimittelgesetzes
TOP 39 Außenwirtschaftsrecht
TOP 40 Änderung agrarmarktrechtlicher Bestimmungen
ZP 8 Änderung des AZR-Gesetzes
Anlagen