Berichtigung
188. Sitzung, Seite 22745 A, das endgültige Ergebnis
der namentlichen Abstimmung zum ESM-Finanzierungs-
gesetz ist wie folgt zu lesen:
Abgegebene Stimmen: 601;
davon
ja: 495
nein: 101
enthalten: 5
Seite 22746 D, vierte Spalte, nach dem Namen „Tabea
Rößner“ ist der Name „Claudia Roth (Augsburg)“ einzu-
fügen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Juli 2012 22841
(A) (C)
(D)(B)
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Anlage 2
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Dr. Thomas Gambke, Kerstin
Andreae, Birgitt Bender, Viola von Cramon-
Taubadel, Harald Ebner, Katrin Göring-Eckardt,
Undine Kurth (Quedlinburg), Dr. Konstantin von
Notz, Dr. Harald Terpe und Daniela Wagner
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zu:
– namentliche Abstimmung über den Entwurf
eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 2. März
2012 über Stabilität, Koordinierung und
Steuerung in der Wirtschafts- und Wäh-
rungsunion
– namentliche Abstimmung über den Entwurf
eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 2. Fe-
bruar 2012 zur Einrichtung des Europäi-
schen Stabilitätsmechanismus
– namentliche Abstimmung über den Entwurf
eines Gesetzes zur finanziellen Beteiligung
am Europäischen Stabilitätsmechanismus
(ESM-Finanzierungsgesetz – ESMFinG)
– namentliche Abstimmung über den Entwurf
eines Gesetzes zu dem Beschluss des Europäi-
schen Rates vom 25. März 2011 zur Ände-
rung des Artikels 136 des Vertrags über die
Arbeitsweise der Europäischen Union hin-
sichtlich eines Stabilitätsmechanismus für die
Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist
(188. Sitzung, Tagesordnungspunkt 50 a bis e)
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Bär, Dorothee CDU/CSU 19.07.2012
Birkwald, Matthias W. DIE LINKE 19.07.2012
Brackmann, Norbert CDU/CSU 19.07.2012
Brandner, Klaus SPD 19.07.2012
Bülow, Marco SPD 19.07.2012
Dörmann, Martin SPD 19.07.2012
Dr. Enkelmann, Dagmar DIE LINKE 19.07.2012
Dr. Franke, Edgar SPD 19.07.2012
Golze, Diana DIE LINKE 19.07.2012
Groth, Annette DIE LINKE 19.07.2012
Dr. Gysi, Gregor DIE LINKE 19.07.2012
Höger, Inge DIE LINKE 19.07.2012
Humme, Christel SPD 19.07.2012
Dr. h. c. Kastner,
Susanne
SPD 19.07.2012
Kolbe, Daniela SPD 19.07.2012
Lay, Caren DIE LINKE 19.07.2012
Leidig, Sabine DIE LINKE 19.07.2012
Lötzer, Ulla DIE LINKE 19.07.2012
Müller (Köln), Kerstin BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
19.07.2012
Dr. Ott, Hermann E. BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
19.07.2012
Dr. Ratjen-Damerau,
Christiane
FDP 19.07.2012
Dr. Reimann, Carola SPD 19.07.2012
Dr. Ruppert, Stefan FDP 19.07.2012
Sager, Krista BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
19.07.2012
Schäfer (Köln), Paul DIE LINKE 19.07.2012
Schmidt (Eisleben),
Silvia
SPD 19.07.2012
Schreiner, Ottmar SPD 19.07.2012
Dr. Seifert, Ilja DIE LINKE 19.07.2012
Sharma, Raju DIE LINKE 19.07.2012
Staffeldt, Torsten FDP 19.07.2012
Tillmann, Antje CDU/CSU 19.07.2012
Ulrich, Alexander DIE LINKE 19.07.2012
Veit, Rüdiger SPD 19.07.2012
Zöller, Wolfgang CDU/CSU 19.07.2012
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Anlagen
22842 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Juli 2012
(A) (C)
(D)(B)
In einer schwierigen Krisensituation hat der Deutsche
Bundestag heute mit der Entscheidung für den ESM
und den Fiskalpakt die Weichen in Richtung einer Stabi-
lisierung der Europäischen Union, des Euro und der eu-
ropäischen Finanzmärkte gestellt. Die gleichzeitig
getroffenen Vereinbarungen zur Einführung einer Fi-
nanztransaktionsteuer, die Zusagen für mehr nachhaltige
Investitionen in Klimaschutz und Energieeffizienz sowie
die stärkere parlamentarische Beteiligung bei Hilfsanträ-
gen an den ESM sind wichtige und notwendige Schritte
zur Stabilisierung der EU und zur Stärkung der Demo-
kratie. Wir stimmen damit heute über ein Maßnahmen-
paket zur wirtschaftlichen Belebung ab, das eine starke
grüne Handschrift trägt.
Die dogmatische Sparpolitik der letzten zwei Jahre
hat die Krisenstaaten nicht aus der Krise herausgeführt.
Eine tiefe Rezession, hohe Arbeitslosigkeit und am Ende
mehr statt weniger Schulden trotz aller Sparmaßnahmen
waren die Folge. Die Schuldenstände in Griechenland,
Spanien und Portugal sind nicht gefallen, sondern gestie-
gen, und die soziale Schieflage hat sich weiter ver-
schärft. Es zeigt sich: Wer nur spart, konsolidiert nicht.
Die Vereinbarungen müssen vor dem Hintergrund der
gesamtwirtschaftlichen Situation Europas sowie der glo-
balen Lage bewertet werden. Italien und Spanien haben
unverhältnismäßig hohe Refinanzierungskosten an den
Finanzmärkten. Japan und die USA, deren volkswirt-
schaftliche Kennzahlen keineswegs besser sind als die
der Euro-Zone, zahlen bei einer gleichermaßen hohen
Staatsverschuldung deutlich niedrigere Schuldzinsen.
Der Grund dafür ist einfach: Die EU und die Euro-Zone
sind anders als die Nationalstaaten Japan oder USA Zu-
sammenschlüsse von Staaten. Europa muss beweisen,
dass verschiedene Staaten gemeinsam zu entschlosse-
nem Handeln fähig sind. Der Rettungsschirm ESM in
Verbindung mit dem Fiskalpakt sind wichtige Zeichen
für ein solches entschlossenes Handeln.
Wichtige Bestandteile zur Krisenlösung sind das von
der EU beschlossene sogenannte Sixpack und die im Fis-
kalpakt verbindlich festgelegten Regeln zur Erzielung
eines ausgeglichenen Haushaltes. Sie sind eine notwen-
dige Ergänzung zum ESM. Die Mitgliedstaaten ver-
pflichten sich zur Haushaltskonsolidierung und zur Ver-
ankerung nationaler Schuldenbremsen. Die Abkehr von
der Toleranz gegenüber strukturellen Haushaltsdefiziten
ist für uns wichtig; denn nur ausreichend finanzierte
Haushalte sind nachhaltig. Eine Schuldenkrise kann man
nicht mit immer neuen Schulden bekämpfen.
In Deutschland wurde darüber hinaus sichergestellt,
dass Länder und Kommunen den Fiskalpakt mittragen
können. Auch dies ist richtig und notwendig, weil Län-
der und Kommunen im Vergleich zum Bund deutlich be-
grenztere Möglichkeiten zur Refinanzierung haben.
Zur Solidität gehört auch die Solidarität. Die Ver-
pflichtung zu mehr Haushaltsdisziplin in Verbindung mit
der Einführung einer Finanzmarkttransaktionsteuer, In-
vestitionsimpulsen für mehr wirtschaftliche Dynamik
und dem ESM stärken die wirtschaftliche Leistungs-
fähigkeit der EU und sind so in unserem eigenen Inte-
resse. Gleichzeitig verhindern sie ein Auseinanderbre-
chen der Euro-Zone und damit einen großen Rückschritt
in der europäischen Integration mit unabsehbaren Folgen
nicht nur für die deutsche Volkswirtschaft, sondern für
Europa insgesamt. Die Ergebnisse des Euro-Gipfels vom
28. Juni 2012 gehen in die richtige Richtung, um den
Zinsdruck auf die Krisenländer zu senken und den
Teufelskreis aus Banken- und Staatsschuldenkrise zu
durchbrechen. Wichtige Schritte zur Bereitstellung von
notwendigen Investitionsmitteln wurden vereinbart.
Zusätzlich fordern wir weitere Schritte zur Lösung
der Euro-Krise. Ein konkreter und realistisch umsetzba-
rer Abbaupfad für die hohe Verschuldung ist zwingend
für eine erfolgreiche Bewältigung der Krise. Vorschläge
dazu liegen auf dem Tisch, wie der des Sachverständi-
genrates für einen Altschuldentilgungsfonds in der Euro-
Zone. Dabei werden wir uns auf lange Zeiträume des
Schuldenabbaus einrichten müssen. Es ist weltfremd,
wenn die Kanzlerin sich einer inhaltlichen Debatte um
konkret zu ergreifende Maßnahmen verweigert. Sie wird
in diesem Punkt umdenken müssen. Mit ihrer Weigerung
einer realistischen Altschuldenregelung gefährdet sie die
positive Wirkung von ESM und Fiskalpakt.
Zusätzlich müssen Investitionen in eine ökologische
und soziale Gesellschaft noch weiter ausgebaut werden.
Diese Investitionen erhöhen die Wettbewerbsfähigkeit
Europas und gehören zu unserer Strategie der Krisen-
bewältigung. Nicht zuletzt müssen die demokratischen
Strukturen Europas deutlich weiterentwickelt werden.
Das Europäische Parlament muss in seiner Entschei-
dungsbefugnis gestärkt und eine geeignete Exekutive,
also eine europäische Regierung, etabliert werden. Dies
erfordert die Übertragung staatlicher Kompetenzen auf
Europa. Nur mit diesem Dreiklang aus realistischem
Schuldenabbaupfad, Stärkung von Investitionen und de-
mokratischer Entwicklung Europas wird die Krise über-
wunden werden können.
Diese Schritte können wir erst nach Lösung der ak-
tuellen Probleme gehen. Der Paradigmenwechsel in der
Haushaltspolitik ist Grundvoraussetzung für diese Lö-
sung. Deswegen stimmen wir heute für den Fiskalpakt
und den ESM zur Stabilisierung Europas. Deutschland
hat sich vor vielen Jahren für ein zusammenwachsendes
Europa entschieden. Nun gilt es, dafür einzustehen.
Anlage 3
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Dr. Birgit Reinemund (FDP)
zur namentlichen Abstimmung über den Ent-
schließungsantrag: Verfassungsmäßigkeit der
bestehenden Ungleichbehandlung eingetrage-
ner Lebenspartnerschaften gegenüber Ehen
(187. Sitzung, Tagesordnungspunkt 11 a)
Die FDP hat in der Koalition mit der Union zahlrei-
che Schritte zur Gleichstellung eingetragener Le-
benspartner durchgesetzt, so die volle Gleichstellung im
Beamten-, Richter- und Soldatenrecht, bei der Erbschaft-
steuer und Grunderwerbsteuer sowie beim BAföG. Auf
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Juli 2012 22843
(A) (C)
(D)(B)
Initiative des Bundeswirtschaftsministers ist im aktuel-
len Entwurf des Jahressteuergesetzes die Gleichstellung
bei den vermögensbildenden Leistungen vorgesehen.
Die Bundesjustizministerien bereitet zudem ein Rechts-
bereinigungsgesetz für das Recht eingetragener Le-
benspartnerschaften vor, mit dem die Gleichstellung in
einer Reihe von weiteren Rechtsbereichen umgesetzt
werden soll.
Anders als im Koalitionsvertrag angelegt, ist die
steuerliche Gleichstellung der Lebenspartner mit der Ehe
immer noch nicht umgesetzt. Insbesondere im Einkom-
mensteuerrecht gibt es aus unserer Sicht ein verfassungs-
gemäßes Gebot, angesichts der gleichen Unterhalts- und
Einstandspflichten wie bei Ehegatten die Lebenspartner
auch in der Einkommensteuer wie Ehegatten zu behan-
deln.
Als Abgeordnete der FDP-Bundestagsfraktion teilen
wir das Ziel der völligen Gleichstellung eingetragener
Lebenspartnerschaften mit der Ehe, insgesamt können
wir aber wegen des bestehenden Koalitionsvertrages mit
CDU und CSU dem vorliegenden Entschließungsantrag
nicht zustimmen.
Wir fordern aber den Bundesminister der Finanzen
auf, als weiteren Schritt zur Gleichstellung unverzüglich
einen Gesetzentwurf vorzulegen, mit dem die Ungleich-
behandlung bei Einkommensteuer, Wohnungsbauprä-
mie und Riester-Rente aufgehoben wird.
Anlage 4
Erklärungen nach § 31 GO
zur Abstimmung über den Antrag: Finanzhilfe
zugunsten Spaniens; Einholung eines zustim-
menden Beschlusses des Deutschen Bundestages
nach § 3 Absatz 1 i. V. m. § 3 Absatz 2 Nummer 1
und 4 des Stabilisierungsmechanismusgesetzes
(StabMechG) für Notmaßnahmen der Europäi-
schen Finanzstabilisierungsfazilität zugunsten
Spaniens (Tagesordnungspunkt 1 b)
Veronika Bellmann (CDU/CSU): Dem Antrag der
Bundesregierung auf Finanzhilfen zugunsten Spaniens
kann ich nicht zustimmen.
Die Verletzung des Bail-out-Gebotes setzt sich auch
in diesem Antrag fort. Es gibt keinen Grund, allgemein-
europäische Steuergelder in spanische Kleinbanken, also
nicht systemrelevante Banken zu geben. Insofern ist dies
ein Verstoß gegen § 1 Abs. 2 StabMechG. Dort heißt es:
„Notmaßnahmen im Sinne von Abs. 1 können auf An-
trag eines Mitgliedstaates des Euro-Währungsgebietes
zum Erhalt seiner Zahlungsfähigkeit ergriffen werden,
wenn dies unabdingbar ist, um die Stabilität des Euro-
Währungsgebietes insgesamt zu wahren.“ Hilfen für
nicht systemrelevante Banken sind demnach unzulässig.
Falls also einzelne spanische Banken Insolvenz an-
melden müssten, ist dadurch nicht der Euro als Gemein-
schaftswährung gefährdet. Spanien hat auch nicht nur
ein Bankenproblem, sondern ein strukturelles Problem,
was sich im andauernden Defizitverfahren bezüglich des
Stabilitäts- und Wachstumspakts, der Arbeitslosenquote
usw. zeigt. Die Schieflage der Bankenbilanzen ist dem-
zufolge ein Spiegelbild der gesamtwirtschaftlichen
Lage. Es wäre deshalb erforderlich, wenn Spanien einen
Antrag auf Rettungshilfen nicht nur für seine Banken
stellen würde, auch wenn dadurch offensichtlich würde,
dass die bisher aufgespannten Rettungsschirme maßlos
überfordert würden. Außerdem wären dann natürlich die
Konditionalitäten sehr viel strenger. Diese werden durch
den Einstieg in eine direkte Bankenrekapitalisierung
– und als solche sehe ich den vorliegenden Antrag – um-
gangen bzw. gebrochen.
Insofern sehe ich einen starken Vertrauensverlust
auch zu den Beschlüssen der jüngsten Gipfelbeschlüsse
vom 28./29. Juni 2012. Dort wurde festgelegt, dass eine
direkte Bankenrekapitalisierung erst ermöglicht werden
kann, wenn eine gemeinsame europäische Bankenauf-
sicht besteht. Die Verhandlungen dazu sollen aber erst
im Herbst aufgenommen werden.
Ferner sehe ich eine Ungleichbehandlung von „Pro-
grammländern“. In den Gipfelbeschlüssen vom 29. Juni
2012 wird auf Gleichbehandlung ausdrücklich hingewie-
sen. Folgerichtig hat Irland bereits Anfragen gestartet,
sein allgemeines Restrukturierungsprogramm zu den Be-
dingungen eines sektoralen Bankenprogramms verglei-
che Spanien umzuwandeln, zumindest aber bereits ge-
troffene Vereinbarungen zurückzunehmen.
Sehr skeptisch stehe ich der vorgesehenen Eigentümer-
respektive Gläubigerbeteiligung bei der Rekapitalisie-
rung spanischer Banken gegenüber. Anders als in
Deutschland tragen spanische Banken nicht ausreichend
zur Bewältigung der Finanzkrise in Spanien bei; zumin-
dest sind bestehende Regelungen äußerst intransparent.
Aber nicht nur in dieser Hinsicht sind die Formulierun-
gen des Memorandum of Understanding, MoU, äußerst
dehnbar. So können die Finanzhilfen auch an bereits ver-
staatlichte Banken ausgereicht und zum Ankauf von
Staatsanleihen auf dem Primär- und Sekundärmarkt ver-
wendet werden. Nach Ziffer 14 Abs. 6 Buchstabe h ist
ein autonomes Vertragsveränderungsverfahren erlaubt.
Demnach können die Vertragsparteien die Finanzverein-
barung selbstständig ändern und dadurch unter Umstän-
den die Haftung Spaniens aushebeln. Damit ist die Fi-
nanzvereinbarung ein wesentlicher Schritt hin zu einer
Vergemeinschaftung der Bankschulden, die neben die
fortschreitende Vergemeinschaftung der Staatsschulden
tritt.
Außerdem halte ich es für kritisch, zum jetzigen Zeit-
punkt einen Vorratsbeschluss über bis zu 100 Milliarden
Euro zu fassen, wo einerseits der konkrete Bedarf des
spanischen Bankensektors erst im September/Oktober
2012 konkretisiert werden soll. Andererseits ist im Hin-
blick auf die geplante Überführung der spanischen Ban-
kensektorhilfe von EFSF in den ESM meines Erachtens
auch der Urteilsspruch des Bundesverfassungsgerichts
am 12. September 2012 abzuwarten.
Christine Buchholz (DIE LINKE): Ich stimme
heute mit Nein gegen die Finanzhilfen für die spanischen
22844 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Juli 2012
(A) (C)
(D)(B)
und europäischen Banken, weil nicht diejenigen belohnt
werden dürfen, die die Krise selbst mit zu verantworten
haben. Jahrelang haben die spanischen Banken Millio-
nenprofite mit der Immobilienspekulation erzielt. Nun
machen die europäischen Regierungen die privaten
Schulden der Banken zu Staatsschulden. Sie wollen,
dass die Arbeiterinnen und Arbeiter das Geld bezahlen,
was die Banken im Kasino verzockt haben.
Es ist unerträglich, dass die Allgemeinheit für Speku-
lationsverluste zur Kasse gebeten wird, während die
Banken so weiter wirtschaften können wie bisher. Was
wir brauchen, ist die Entmachtung der Banken und der
Finanzmärkte. Bevor man daran denken kann, Banken
mit Steuergeldern zu sanieren, müssen diese vergesell-
schaftet und unter demokratische Kontrolle gestellt wer-
den.
Kein einziger Cent der bereitgestellten 100 Milliarden
Euro wird der spanischen Bevölkerung zugutekommen.
Weil sie die Kredite an die Banken nicht mehr zahlen
konnten, mussten 400 000 Familien in den letzten Jahren
aus ihren Wohnungen ausziehen. Die Banken werden ge-
rettet, diese Familien nicht. Im Rettungspaket für die
Banken ist stattdessen ein Angriff auf soziale Errungen-
schaften der spanischen Arbeiterbewegung enthalten. Es
werden Arbeitsmarkt- und Steuerreformen, Privatisie-
rungen, Liberalisierungen und höhere Strompreise gefor-
dert. Die spanische Regierung hat vier Kürzungspakete
innerhalb von sechs Monaten verabschiedet. Sie hat Mil-
liarden in Bildung und Gesundheitswesen gekürzt, Leh-
rerinnen und Lehrer entlassen, Studiengebühren um
66 Prozent erhöht. Nun will sie unter anderem Eisen-
bahn, Flughäfen und Häfen privatisieren und die Mehr-
wertsteuer drastisch erhöhen.
Die letzte Arbeitsmarktreform machte Entlassungen
billiger und führte die Rente mit 67 ein. Die Beschäftig-
ten müssen die Folgen ertragen. Ein Drittel der Erwach-
senen und die Hälfte der Jugendlichen sind arbeitslos.
11 von 45 Millionen Einwohnern sind arm. Wie in Grie-
chenland bringen sich immer mehr Menschen aufgrund
von finanziellen Problemen selbst um.
2011 haben Aktivistinnen und Aktivisten der Indi-
gnados-Bewegung nach ägyptischem Vorbild Plätze in
70 Städten besetzt. Der Widerstand gegen die Kürzun-
gen wächst. Beim zweiten Generalstreik streikten im
März mehr als 10 Millionen Beschäftigte. Am 22. Mai
gab es den ersten Generalstreik der Geschichte im ge-
samten Bildungswesen, von den Kindergärten bis zu den
Unis. Derzeit befinden sich die Bergarbeiter im unbefris-
teten Generalstreik, denn die Regierung will die zuge-
sagten Kohlesubventionen streichen und Tausende ent-
lassen.
Auch die Beschäftigten in Deutschland zahlen für die
Finanzhilfen für die spanischen Banken. Es sind ihre
Steuergelder, die in die Bankenrettung fließen. Ich
stimme mit Nein, weil ich dagegen bin, dass die Be-
schäftigten von den Herrschenden in Europa gegenein-
ander ausgespielt werden.
Mein Nein im Bundestag ist ein Ja zum Widerstand.
Ich unterstütze den Widerstand der Gewerkschaften in
Spanien gegen das Verarmungsprogramm der spani-
schen Regierung und der Troika. Die Solidarität im Wi-
derstand ist es, die das Spardiktat der herrschenden Klasse
brechen kann.
Que la crisis la paguen los capitalistas!
Sevim Dağdelen (DIE LINKE): Ich habe heute ge-
gen den Antrag der Bundesregierung über die „Finanz-
hilfen zugunsten Spaniens“ gestimmt, weil durch diese
„Hilfen“ die Profite der spanischen Banken auf Kosten
der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Rentnerinnen
und Rentner und sozial Ausgegrenzten gesichert werden
sollen.
Mit diesem neuen „Rettungspaket“ für den spani-
schen Bankensektor ist der von den Herrschenden gepre-
digte Mythos von der sogenannten „Staatsschulden-
krise“ in Europa entlarvt: Nicht die Schulden der EU-
Staaten sind die Ursache der Krise, sondern der von den
entfesselten Finanzmärkten getriebene Kapitalismus.
Bevor die Wirtschafts- und Finanzkrise ausgebrochen
ist, lag die Staatsverschuldung Spaniens 2007 bei
36,3 Prozent. Auch heute ist sie niedriger als die der
Bundesrepublik. Die Finanzklemme, in der heute
Spanien steckt, wird durch die undemokratischen Rating-
agenturen immer enger gezogen und geht auf die Speku-
lationen der privaten Banken zurück, die sich mit
gewinnbringenden Immobilienkrediten verzockt haben.
Diesen privaten Banken und nicht dem spanischen Staat
oder der spanischen Bevölkerung soll jetzt „geholfen“
werden.
Dabei werden die Kosten erneut durch die Steuerzah-
ler getragen. Mit dem von der Euro-Gruppe gebilligten
sogenannten Memorandum of Understanding wird die
spanische Politik gezwungen, die massiven Sparpro-
gramme zu intensivieren und immer größere Teile des
Sozialstaats für den neoliberalen Umbau der Gesell-
schaft zu zerstören. Schon heute sind über 24 Prozent
der spanischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
arbeitslos. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt zwischenzeit-
lich bei über 50 Prozent. Die Ausgrenzung von Migran-
tinnen und Migranten aus dem spanischen Arbeitsmarkt
führt zu einer weiteren Verschlechterung ihrer Situation.
Wenn dann als Alternative für die spanischen Jugend-
lichen die deutsche Politik eine Anwerbeoffensive für
Ausbildungsplätze in Deutschland propagiert, ist dies
mehr als zynisch.
Diese verfehlte und versagende Wirtschafts- und
Finanzpolitik in Europa muss endlich beendet werden,
da sie zu Sozialabbau, Ausgrenzung und Zerstörung
ganzer Regionen und Branchen führt. Dieser neoliberale
Umbau des gesamten gesellschaftlichen Systems in Eu-
ropa ist nicht hinnehmbar. Stattdessen brauchen wir
dringender denn je einen Neustart der Europäischen
Union: demokratisch, sozial, friedlich und ökologisch.
Ein Neustart, in dem die Banken vergesellschaftet wer-
den und dem Wohl der Menschen dienen.
In diesem Sinne und mit meinem heutigen Nein zum
100-Milliarden-Paket für den spanischen Bankensektor
bin ich solidarisch mit dem Widerstand der spanischen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Juli 2012 22845
(A) (C)
(D)(B)
Bevölkerung gegen den erzwungenen Sozialabbau und
den Angriff auf die spanische Demokratie.
Dr. Peter Danckert (SPD): Zu meinem Abstim-
mungsverhalten am heutigen Tage erkläre ich Folgen-
des:
Ich bin davon überzeugt, dass wir unseren europäi-
schen Nachbarn in Not helfen müssen; jedoch sollten wir
sorgfältig unterscheiden, wem wir helfen. Keine direkte
Hilfe für Banken war immer unser Credo und sollte dies
auch bleiben. Zwar sind nach derzeitiger Rechtslage
– ESM, ESM-Finanzierungsgesetz – keine direkten Hil-
fen an Banken möglich, jedoch ist dies bereits konkret
geplant und Bestandteil des heute abzustimmenden Me-
morandum of Understanding sowie des Finanzhilfeab-
kommens zwischen dem Königreich Spanien und der
EFSF. Dies würde zweifelsohne in einem Fass ohne Bo-
den enden.
Die Kommission arbeitet gemeinsam mit der EZB
und der European Banking Authority – EBA – an der Er-
richtung einer Europäischen Bankenaufsicht, die laut der
Schlussfolgerung der Staats- und Regierungschefs vom
29. Juni 2012 die Voraussetzung für eine direkte Rekapi-
talisierung von Banken darstellt. Auch wenn Regie-
rungsvertreter gerne den Eindruck erwecken wollen,
dies läge noch in ferner Zukunft, so ist in Brüsseler Krei-
sen vielmehr davon die Rede, dass diese Bankenaufsicht
bereits Ende des Jahres arbeitsfähig sein wird.
Das bedeutet für uns Abgeordnete, dass wir heute ein-
mal mehr über etwas abstimmen sollen, was in absehba-
rer Zukunft überholt sein wird. Es bedeutet darüber hi-
naus ein Abrücken von sämtlichen politischen Zusagen,
die wir bisher getroffen haben.
Bei den Hilfen für Spanien handelt es sich nicht um
ein klassisches Hilfsprogramm wie bei Portugal oder Ir-
land, sondern um ein sektorbezogenes Programm für die
Finanzinstitute. Dies ist zwar ausdrücklich in den Leitli-
nien der EFSF vorgesehen, nicht aber die Möglichkeit,
die Kredite über Umwege und Tricksereien direkt an die
Banken fließen zu lassen. Vertragspartner muss immer
der antragstellende Staat, also Spanien, bleiben.
Die konkreten Ergebnisse der Stresstests liegen zum
jetzigen Zeitpunkt nicht einmal vor. Mit diesen wird erst
Ende September zu rechnen sein. Die Schätzungen der
Kapitaldefizite bei den betroffenen spanischen Banken
variieren zwischen 14 und 60 Milliarden Euro. Laut
Nachbericht zum Ecofin-Treffen am 10. Juli ist diese
„Unsicherheit“ der Grund dafür, dass man eine Sicher-
heitsmarge von 38 Milliarden Euro veranschlagt und so-
mit auf die zu genehmigenden 100 Milliarden kommt.
Ob es am Ende des Tages bei den 100 Milliarden bleibt,
ist in Anbetracht der Erfahrungen mit Griechenland
ebenso fragwürdig. Es handelt sich also um eine Art
Blankocheck.
Darüber hinaus kritisiere ich am vorliegenden Antrag,
dass eine Ermächtigung zu einem Darlehn in einer unbe-
stimmten Gesamthöhe von „bis zu“ 100 Milliarden Euro
erteilt werden soll, ohne dass der konkrete Finanzbedarf
ermittelt und dargestellt worden ist, dass die Bankenhilfe
ganz offensichtlich nicht oder nicht ausschließlich zur
Rekapitalisierung von systemrelevanten spanischen Ban-
ken bestimmt ist und dass die Bundesregierung bisher
keine substanziellen Fortschritte bei der Regulierung des
europäischen Banken- und Finanzmarktes erreicht hat
noch solche Regulierungen künftig beabsichtigt. Die im
Antrag aufgezeigte Bankenhilfe für Spanien ist ebenfalls
nicht an entsprechende Bedingungen geknüpft worden.
Wenn wir heute dem vorliegenden Antrag zustimmen,
schaffen wir mit Spanien einen Präzedenzfall inmitten
dieser Staatsschuldenkrise, der logischerweise zur Folge
haben wird, dass Länder wie Irland ebenfalls eine Lo-
ckerung ihrer Bedingungen fordern werden. Italien – als
drittgrößte Volkswirtschaft der Euro-Zone – liebäugelt
bereits mit der Möglichkeit, seine Staatsanleihen von der
EFSF auf dem Sekundärmarkt in einer Nacht-und-Ne-
bel-Aktion aufkaufen zu lassen, um die gefährlich hohen
spreads zu senken. Mit welcher glaubhaften Begründung
werden wir Italien nach einer Zusage an Spanien ähnli-
che Ersuchen verweigern können? Mit der Unterstüt-
zung von Spaniens Banken, die keineswegs alle system-
relevant sind, begeben wir uns in einen Teufelskreis und
eine Abhängigkeit der Finanzmärkte, aus der wir nicht
mehr herauskommen.
Deshalb werde ich bei der heutigen Abstimmung da-
gegen stimmen.
Dr. Carsten Linnemann (CDU/CSU): Nach wie vor
bin ich fest davon überzeugt, dass uns der beschrittene
Weg zur Euro-Rettung immer tiefer in die kollektive
Schieflage führt. Wir befördern derzeit den Dominoeffekt,
den wir eigentlich verhindern wollten – vergleiche meine
Protokollerklärung vom 29. Juni 2012. Trotzdem bin ich
dazu bereit, in jedem einzelnen Fall abzuwägen. So auch
im Fall Spanien. Aber hier sehe ich die Voraussetzungen
für eine Zustimmung aus folgenden Gründen nicht gege-
ben:
Erstens. Das zur Verabschiedung stehende Rettungs-
paket für Spanien unterliegt einem schweren Konstruk-
tionsfehler: Mit ihm soll eine sektorale Bankenhilfe
geleistet werden, ohne dass der spanische Staat dafür
Auflagen zu erfüllen hat. Und das, obwohl Bankbilanzen
grundsätzlich immer auch die gesamtwirtschaftliche
Lage eines Landes widerspiegeln. Damit wird ein Prin-
zip ausgehebelt, das bislang noch ein gewisses Maß an
Sicherheit in der Krisenbewältigung versprach: das Prin-
zip Hilfen nur für Gegenleistungen. Mit anderen Worten:
Wir geben das bisherige Gebot auf, Euro-Ländern nur zu
strikten Konditionen Unterstützung zu gewähren. Die
vereinbarten Auflagen beziehen sich nämlich aus-
schließlich auf den Bankensektor. Ich befürchte, dass da-
mit ein Präzedenzfall geschaffen wird, der einen Para-
digmenwechsel einleitet.
Zweitens. Auch das Versprechen, Spanien werde für
die gewährten Finanzhilfen haften, ist unrealistisch. Da-
für spricht einerseits, dass die Finanzhilfen auch an be-
reits verstaatlichte spanische Banken ausgereicht werden
sollen. Bei einer Insolvenz dieser Banken wäre Spanien
demzufolge in der Zwangslage, Finanzhilfen für das
ganze Land beantragen zu müssen.
22846 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Juli 2012
(A) (C)
(D)(B)
Andererseits sieht das Abkommen mit Spanien vor,
die Finanzhilfe auf den Europäischen Stabilitätsmecha-
nismus – ESM – zu übertragen und dann eine unmittel-
bare Rekapitalisierung von Finanzinstitutionen zu
ermöglichen, sobald „ein einheitlicher Aufsichtsmecha-
nismus für die Banken im Eurogebiet geschaffen worden
ist“ – Erwägungsgrund Nr. 5 der Präambel. Dies ist mei-
ner Meinung nach ein Versuch, den zweiten vor dem ers-
ten Schritt zu machen. Er widerspricht elementar den
ökonomischen Anreizen. Das Finanzhilfeabkommen
enthält sogar ein autonomes Vertragsänderungsverfah-
ren, das den Vertragsparteien die Kompetenz überträgt,
die Finanzhilfevereinbarung eigenständig zu ändern –
Ziffer 14 Abs. 6 Buchstabe h. Anders ausgedrückt: Die
Haftung Spaniens kann durch die Vertragsparteien selbst
ausgehebelt werden, sobald die Beschlüsse der EU-
Staats- und Regierungschefs vom 28./29. Juni 2012 um-
gesetzt sind. Damit wäre der Grundstein für eine künf-
tige Vergemeinschaftung von Bankenschulden gelegt.
Richtig wäre es jetzt, im Euro-Raum eine Insolvenzord-
nung für Banken zu etablieren, um die Restrukturierung
oder geordnete Abwicklung von Banken in einem vor-
hersehbaren und transparenten Verfahren zu ermögli-
chen.
Vor diesem Hintergrund kann ich dem vorliegenden
Antrag nicht zustimmen.
Rolf Schwanitz (SPD): Die Abstimmungen des
Deutschen Bundestages zum Fiskalpakt und zum ESM
am 29. Juni 2012 waren überschattet vom Ergebnis des
Gipfeltreffens der Euro-Länder vom gleichen Tage. In
der Gipfelerklärung der Mitglieder des Euro-Währungs-
gebiets vom 29. Juni 2012 wurden weitreichende Locke-
rungen für das gegenwärtige und künftige Euro-Ret-
tungsgeschehen beschlossen. Dazu gehörten vor allem
die Schaffung einer direkten, nicht über ein einzelnes
Mitgliedsland laufenden Rekapitalisierungsmöglichkeit
für Banken durch den ESM sowie neue, unkonditionier-
tere Hilfen aus dem EFSF/ESM, bei denen nicht mehr
auf der Grundlage von Troika-Berichten im Detail kon-
ditionierte Vollprogramme abgeschlossen werden, son-
dern lediglich die Einhaltung der Vorgaben des Europäi-
schen Semesters, des Stabilitäts- und Wachstumspaktes
sowie der länderspezifischen Empfehlungen zur Bedin-
gung gemacht wird. Da dies von der aktuellen Fassung
des ESM nicht gedeckt ist, erklärte die Bundesregierung
am 29. Juni 2012, hinsichtlich des Instruments einer di-
rekten Bankenhilfe zu einem späteren Zeitpunkt eine er-
neute Gesetzesänderung durch das Parlament erwirken
zu wollen.
Ich habe den von der Bundesregierung eingebrachten
Antrag zur Finanzhilfe zugunsten Spaniens heute abge-
lehnt, weil mit diesem Antrag in meinen Augen die mit
der Gipfelerklärung vom 29. Juni 2012 beschlossenen
Lockerungen ohne weitere parlamentarische Diskussion
bereits innerhalb des Rechtsrahmens des EFSF weitge-
hend vollzogen werden. Das mache ich an folgenden Be-
wertungen fest:
Zwar wird mit dem vorliegenden Antrag noch keine
direkte Bankenhilfe durch den EFSF ermöglicht. Den-
noch ist mit der vorgelegten Vereinbarung erstmalig
nicht allein der spanische Staat Vertragspartner des
EFSF. Der spanische Bankenrestrukturierungsfonds
FROB wird neben dem spanischen Staat Vertragspartner
und übernimmt ausweislich der Nr. 13 der Vereinbarung
gegenüber dem EFSF die letztendliche Haftung. Der
FROB ist deshalb viel mehr als nur ein Bevollmächtigter
– Agent – des spanischen Staates. Er ist vollwertiger
Vertragspartner des EFSF und tritt in letzter Konsequenz
bei der Haftung anstelle des spanischen Staates.
Die Hilfen werden dem spanischen Staat ohne weitere
auf den Staat bezogene Konditionen gewährt. Der Ab-
schluss eines Vollprogramms ist gerade nicht Vorausset-
zung für den Erhalt der – indirekten – Bankenhilfe durch
den EFSF. Der Verweis auf die Einhaltung der für Spa-
nien geltenden Empfehlungen des Rates zum nationalen
Reformprogramm – Ratsdrucksache 11273/12 – ist in
meinen Augen als Ersatz für konkrete Konditionen nicht
geeignet. Abzüglich der Erwägungsgründe werden hier
lediglich acht allgemeine Empfehlungen benannt, die ei-
nen Textumfang von zwei Seiten nicht überschreiten.
Das halte ich im Blick auf Darlehen in der beabsichtig-
ten Gesamthöhe von 100 Milliarden Euro für unzurei-
chend.
Darüber hinaus kritisiere ich am vorliegenden Antrag,
dass eine Ermächtigung zu einem Darlehen in einer unbe-
stimmten Gesamthöhe von – siehe Drucksache 17/10320,
Seite 1 – „bis zu“ 100 Milliarden Euro erteilt werden
soll, ohne dass der konkrete Finanzbedarf ermittelt und
dargestellt worden ist, dass die Bankenhilfe ganz offen-
sichtlich nicht oder nicht ausschließlich zur Rekapitali-
sierung von systemrelevanten spanischen Banken be-
stimmt ist und dass die Bundesregierung bisher keine
substanziellen Fortschritte bei der Regulierung des euro-
päischen Banken- und Finanzmarktes erreicht hat noch
solche Regulierungen künftig beabsichtigt. Die im An-
trag aufgezeigte Bankenhilfe für Spanien ist ebenfalls
nicht an entsprechende Bedingungen geknüpft worden.
Thomas Silberhorn (CDU/CSU): Im Grundsatz bin
ich bereit, Finanzhilfe für Spanien mitzutragen, wenn
dies unabdingbar ist, um die Stabilität des Euro-
Währungsgebiets insgesamt zu wahren. Die nun vorge-
sehene Finanzhilfe zugunsten Spaniens erfüllt jedoch
nicht die Voraussetzungen hierfür.
Das Gebot strikter Konditionalität wird durch-
brochen, indem die Finanzhilfe an Spanien gewährt
wird, ohne dass im Gegenzug angemessene Auflagen für
das Land selbst vereinbart wurden. Die sektorale Finanz-
hilfe für Banken kann nicht darüber hinwegtäuschen,
dass die Bankbilanzen ein Spiegelbild der gesamtwirt-
schaftlichen Lage des Landes sind. Im Übrigen ermög-
licht es die Vereinbarung mit Spanien grundsätzlich, die
Finanzhilfe auch für den Ankauf von spanischen Staats-
anleihen auf dem Primär- oder Sekundärmarkt einzuset-
zen (Ziffer 2 Abs. 2 Buchstabe h und i). Es wäre daher
ein nationales Reformprogramm für Spanien erforder-
lich, das selbstverständlich die bereits durchgeführten
substanziellen Reformschritte berücksichtigen könnte.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Juli 2012 22847
(A) (C)
(D)(B)
Die Haftung Spaniens für die gewährte Finanzhilfe
wird sich nicht wie vereinbart durchsetzen lassen. Zum
einen sollen Darlehen auch an bereits verstaatlichte spa-
nische Banken ausgereicht werden, bei deren Insolvenz
Spanien gehalten wäre, Finanzhilfe für das ganze Land
zu beantragen. Zum anderen sieht die Vereinbarung mit
Spanien bereits vor, die Finanzhilfe auf den Europäi-
schen Stabilitätsmechanismus zu übertragen und dann
eine unmittelbare Rekapitalisierung von Finanzinstitu-
tionen zu ermöglichen (Erwägungsgrund Nr. 5 der Prä-
ambel). Hierzu enthält die Finanzhilfevereinbarung so-
gar ein autonomes Vertragsänderungsverfahren, das den
Vertragsparteien die Kompetenz überträgt, die Finanz-
hilfevereinbarung eigenständig zu ändern (Ziffer 14
Abs. 6 Buchstabe h). Auf diesem Wege kann die Haf-
tung Spaniens durch die Vertragsparteien selbst ausgehe-
belt werden, sobald die Beschlüsse der EU-Staats- und
Regierungschefs vom 28./29. Juni 2012 umgesetzt sind.
Die Finanzhilfevereinbarung mit Spanien legt damit eine
Grundlage für die künftige Vergemeinschaftung von
Bankenschulden. Stattdessen wäre es geboten, im Euro-
Währungsgebiet eine Insolvenzordnung für Banken zu
etablieren, um die Restrukturierung oder geordnete Ab-
wicklung von Banken in einem vorhersehbaren und
transparenten Verfahren zu ermöglichen.
Aus diesen Gründen sehe ich mich nicht in der Lage,
dieser Finanzhilfevereinbarung zuzustimmen.
Arnold Vaatz (CDU/CSU): Ich lehne den Antrag ge-
mäß § 3 StabMechG auf Zustimmung des Bundestages
zum Abschluss einer Vereinbarung für Hilfen zugunsten
Spaniens mit dem Zweck einer Stabilisierung des dorti-
gen Finanzsektors ab.
Der vorliegende Antrag wird zwar unter den Regula-
rien der zeitlich befristeten Europäischen Finanzstabili-
sierungsfazilität, EFSF, gestellt, deren Errichtung ich zu-
gestimmt habe. Der heutige Antrag umfasst aber auch
die spätere Übertragung der Hilfen zugunsten Spaniens
auf den Europäischen Stabilisierungsmechanismus,
ESM. Der Errichtung des ESM habe ich meine Zustim-
mung verweigert, da ich den damit verbundenen Ein-
stieg in eine dauerhafte Stützung nicht wettbewerbsfähi-
ger Volkswirtschaften in der Euro-Zone ablehne. Ich
halte es für ausgeschlossen, auf diesem Weg die notwen-
digen strukturellen Veränderungen durchzusetzen, die
die Wettbewerbsfähigkeit dieser Länder innerhalb der
Euro-Zone wiederherstellen würden. Daher werden in
absehbarer Zeit die Transfers nicht beendet werden kön-
nen, ohne dass die betreffenden Staaten wieder densel-
ben Finanzierungsproblemen begegnen wie derzeit. Die
Kräfte der noch kreditwürdigen Kernstaaten der Euro-
Zone werden aber nur für eine sehr begrenzte Zeit aus-
reichen, Transfers zugunsten der Staaten zu garantieren,
die sich selbst am Kreditmarkt nicht mehr finanzieren
können.
Notwendig wäre statt fortgesetzter Transfers eine
Rückkehr zu einer strikten und umfassenden Beachtung
der Nichtbeistandsklausel (No-Bailout). Damit wäre un-
weigerlich verbunden, dass auch die Insolvenz eines
Staats der Euro-Zone und die gegebenenfalls zeitlich be-
grenzte Rückkehr zu einer eigenen Währung in Kauf zu
nehmen wäre. Für diesen Fall müssten international ak-
zeptierte Regelungen geschaffen werden. Die Auswir-
kungen auf den Finanzsektor müssten in ähnlicher Weise
wie nach der Finanzkrise 2007 eingegrenzt werden.
Ich halte die zwar erheblichen, aber eher kurz- und
mittelfristigen Risiken dieser Alternative für weniger
schwerwiegend als die langfristigen Gefahren für die
Stabilität unserer Währung und die politische Stabilität
Europas, die mit der Errichtung einer europäischen
Transferunion verbunden wären.
Anlage 5
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Dr. Gerhard Schick, Thilo
Hoppe, Uwe Kekeritz, Ute Koczy, Stephan
Kühn, Monika Lazar, Beate Müller-Gemmeke,
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Arfst Wagner
und Beate Walter-Rosenheimer (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) zur Abstimmung über den
Antrag: Finanzhilfe zugunsten Spaniens; Ein-
holung eines zustimmenden Beschlusses des
Deutschen Bundestages nach § 3 Absatz 1 i. V. m.
§ 3 Absatz 2 Nummer 1 und 4 des Stabilisie-
rungsmechanismusgesetzes (StabMechG) für
Notmaßnahmen der Europäischen Finanzstabi-
lisierungsfazilität zugunsten Spaniens (Tages-
ordnungspunkt 1 b)
Spanien hatte am Ausgangspunkt der Krise 2007 eine
überaus geringe Staatsverschuldung von 42 Prozent des
BIP. Erst aufgrund der notwendig gewordenen Rettungs-
aktionen für den spanischen Finanzsektor stieg die offi-
zielle Staatsschuldenquote auf über 80 Prozent an, liegt
damit aber immer noch unter der deutschen Schulden-
quote. Trotzdem hat Spanien ein akutes Refinanzie-
rungsproblem und muss vor weiteren Zinssteigerungen
geschützt werden. Das zeigt, dass die von den Regie-
rungsparteien geprägte Interpretation dieser Krise als
reine Staatsschuldenkrise sachlich falsch ist. Entspre-
chend ist auch die Politik, die daraus folgte und einseitig
die staatliche Ausgabenpolitik zu korrigieren versuchte,
kein geeigneter Ansatz zur Lösung dieser Krise. Im Ge-
genteil: Der spanische Staat wird so derzeit von Finanz-
märkten und europäischer Politik zu einer mittel- und
langfristig schädlichen Kürzungspolitik gezwungen.
Deswegen halten wir generell eine Unterstützung Spa-
niens auch für wichtig. Denn jeder Schuldner kann,
wenn die Zinsen hoch genug steigen, in die Insolvenz
gedrückt werden.
Gleichzeitig besteht der Ansteckungseffekt fort, der
von Griechenland über Irland und Portugal nun auch
Spanien und Zypern erfasst. Denn wieder einmal
beschränkt sich das von den europäischen Staats- und
Regierungschefs Vereinbarte auf das kurzfristig Notwen-
dige, erreicht aber nicht das mittelfristig Erforderliche.
Denn der Zinsdruck auf Spanien wird nur insofern
gemindert, als das derzeit für die Bankenrettung für nö-
tig erachtete Volumen von bis zu 100 Milliarden Euro
22848 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Juli 2012
(A) (C)
(D)(B)
zinsgünstig über die EFSF refinanziert werden kann.
Angesichts eines spanischen Refinanzierungsbedarfs
von 152 Milliarden Euro allein im Jahr 2013 wird aller-
dings unmittelbar deutlich, dass das nicht genügen kann,
um auch nur zwei Jahre Stabilität zu sichern,
Der eigentliche Grund für die dramatische Lage in
Spanien ist die hohe Verschuldung von Privathaushalten,
Unternehmen und Banken, die im Zusammenhang mit
der Immobilienblase entstand. Sie wird erst jetzt nach
und nach in ihrer vollen Höhe transparent, da die spani-
schen Aufsichtsbehörden – auch politisch motiviert –
versagt haben, das Problem frühzeitig anzugehen. Seit
Monaten nun verschleppt die spanische Regierung die
Sanierung des maroden Bankensektors. Das wird dazu
genutzt, Verbindlichkeiten der Institute dahin gehend
umzuschichten, dass eine Gläubigerbeteiligung immer
schwieriger wird. Derzeit bieten spanische Banken ihren
Nachrangkapitalgebern den Umtausch ihres Kapitals In
Verbindlichkeiten niedrigerer Haftungsränge an, um
diese Investoren vor etwaigen Beteiligungen zu schüt-
zen. Wie schädlich diese Entwicklung ist, zeigt sich da-
ran, dass Ende 2009 noch über 100 Milliarden Euro an
Nachrangkapital zur Verfügung standen, die Verluste im
Bankensektor hätten absorbieren können. Doch im April
2012 waren es nach Analystenschätzungen nur noch
rund 57 Milliarden Euro. Jetzt werden signifikante Teile
des verbleibenden Nachrangkapitals von Kleinanlegern
gehalten, die aufgrund von Falschberatung und Rück-
erstattungsansprüchen möglicherweise nicht so leicht
herangezogen werden können. Das heißt: Wären diese
Investoren frühzeitig beteiligt worden, wäre ein europäi-
sches Hilfspaket wahrscheinlich gar nicht nötig gewe-
sen. Heute jedoch ist Spanien auf die Unterstützung der
anderen europäischen Staaten angewiesen.
Dass die Hilfe zweckgebunden ausschließlich für den
Bankensektor gewährt wird, hat vor dem Hintergrund
der spanischen Situation zwar eine inhaltliche Plausibili-
tät. Letztlich ist es jedoch der Versuch zu vermeiden,
dass Spanien zum Programmland wird und damit als
Garantiegeber für die EFSF ausscheidet, sowie der Re-
gierung eines großen EU-Mitgliedslands die Schmach
einer allgemeinen Hilfsaktion und damit eines weitge-
henden Verzichts auf wirtschaftspolitische Souveränität
zu ersparen. Problematisch ist allerdings weniger dies,
sondern die Tatsache, dass damit kaschiert wird, dass
sich Spanien de facto doch zu weitgehenden Austeritäts-
maßnahmen verpflichten musste. So übernimmt der
Deutsche Bundestag eben nicht nur die Verantwortung
für die Freigabe der Mittel aus dem Bundeshaushalt;
sondern auch für die damit verbundenen Konditionen,
die Spanien weiter in die Rezession treiben, die Arbeits-
losigkeit erhöhen und die sozialen Kosten der Krise stei-
gern werden. Dem können wir nicht zustimmen.
In dem von der Euro-Gruppe und Spanien ausgehan-
delten Memorandum of Understanding, MoU, wird die
generelle Absicht geäußert, die Stabilisierung des spani-
schen Finanzsystems möglichst schonend für den Steu-
erzahler zu gestalten. Das ist zwar zu begrüßen,
allerdings sind die genauen Konditionen der Banken-
restrukturierung und -abwicklung bei der heutigen Be-
willigung der 100 Milliarden Euro Hilfsgelder noch
nicht spezifiziert. Denn erst nach dem angekündigten
Stresstest wird Klarheit darüber herrschen, wie viel zu-
sätzliches Kapital die Banken benötigen und welcher
Anteil davon vom spanischen Staat (über die Finanzie-
rung der EFSF) getragen werden muss und wie genau
Gläubiger beteiligt werden. Dabei ist wichtig zu bemer-
ken, dass die Ausgestaltung des Stresstests ein Politikum
und keine reine technische Übung von Experten ist.
Denn je nach zugrundegelegtem Szenario wird eine
Bank als überlebensfähig oder systemrelevant gelten und
dementsprechend staatliche Kapitalspritzen erhalten
oder nicht. Wir halten es vor diesem Hintergrund für
richtig, als Notmaßnahme der EFSF zugunsten Spaniens
zur möglicherweise kurzfristig notwendigen Rekapitali-
sierung von Finanzinstitutionen Mittel bis zu einer Ge-
samthöhe von 30 Milliarden Euro zuzustimmen, die bis
Ende Juli 2012 bereitgestellt und von der EFSF in Re-
serve gehalten werden. Für die weiteren 70 Milliarden
Euro wäre es hingegen richtig, dass der Bundestag ab-
stimmt, wenn das Restrukturierungsgesetz in Spanien
verabschiedet worden ist, die Ergebnisse des Stresstests
vorgelegt wurden und die Pläne für die Restrukturierung
und Abwicklung von Banken im Herbst dieses Jahres
über die tatsächlich benötigten Mittel bekannt sind. Jetzt
muss der Bundestag eine Generalvollmacht ausstellen,
die wir nicht für vertretbar halten. Im Herbst könnte er
hingegen im Lichte der genannten Schritte eine realisti-
sche Einschätzung über die Lasten und die geplanten
Maßnahmen vornehmen. Der dadurch entstehende
Anreiz für spanische Behörden und Troika, die Banken-
rettung tatsächlich im Sinne des Steuerzahlers zu gestal-
ten, wäre – gerade auch vor dem Hintergrund der Er-
fahrungen bei der Bankenrettung in Deutschland und
Irland – wichtig gewesen.
Weiterhin ist besonders problematisch, dass es soge-
nannte „Gruppe 3“-Banken geben soll, die bis Juni 2013
Zeit bekommen, sich über den Markt zu rekapitalisieren.
Angesichts der spanischen Marktsituation ist das nur die
Fortführung der Insolvenzverschleppung. Dies wird ne-
ben monatelanger Unsicherheit auch dazu führen, dass
diese Banken ihre Verbindlichkeiten weiter Richtung
minder haftendem Kapital umbauen werden. Um diesen
Prozess nicht fortzuführen, hätten wir eine simultane
Sofortkapitalisierung bei systemrelevanten Banken be-
fürwortet – und nicht einen stufenweisen Ansatz wie im
MoU vorgeschlagen. Bei allen anderen Instituten, die
sich nicht über den Markt rekapitalisieren können, be-
dürfte es einer geordneten Insolvenz.
Unklar bleiben auch die finanziellen Rahmenbedin-
gungen bei der Übertragung von notleidenden Aktiva
auf die Vermögensverwaltungsgesellschaft Asset Ma-
nagement Company, AMC, die zu einem nicht näher de-
finierten „tatsächlichen (langfristigen) wirtschaftlichen
Wert (real economic value, REV)“ übernommen werden
sollen.
Hinzu kommt die geringe Möglichkeit zur öffentli-
chen und parlamentarischen Kontrolle der vorgenomme-
nen Maßnahmen. Dem spanischen Parlament wurden
Memorandum of Understanding und andere Unterlagen
gar nicht vorgelegt, eine effektive Kontrolle der Maß-
nahmen zur Bankenstabilisierung ist so nicht möglich.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Juli 2012 22849
(A) (C)
(D)(B)
Wir halten eine Überprüfung durch den Europäischen
Rechungshof und das Europäische Parlament für erfor-
derlich. Die Überprüfung durch drei Institutionen, die
jeweils keiner effektiven parlamentarischen Kontrolle
unterliegen, nämlich EZB, EU-Kommission und IWF,
kann das Fehlen einer parlamentarischen Kontrolle nicht
wettmachen.
Unsere Perspektive ist eine andere:
– Mit einem Schuldentilgungsfonds kann nicht nur
Spanien, sondern auch anderen Ländern die notwen-
dige Stabilität gebracht werden, während zu stellende
Sicherheiten den deutschen Steuerzahler vor Überfor-
derung schützen.
– Mit einem europäischen Ansatz wird der europäische
Bankensektor gleichzeitig stabilisiert. Ein zügig ver-
einbarter EU-Restrukturierungsrahmen stellt sicher,
dass dafür vor allem die Kapitalgeber der Banken und
nicht die Steuerzahler herangezogen werden. Wo
trotzdem staatliche Rekapitalisierung erforderlich
werden sollte, übernimmt ein europäischer Restruk-
turierungsfonds die Eigentums- und Kontrollrechte.
– Mit europäisch koordinierten Vermögensabgaben
wird dafür gesorgt, dass die Lasten dieser Krise fair
verteilt werden und die soziale Schere nicht weiter
zunimmt.
Dafür braucht es endlich einen Kurswechsel in
Europa. Vor diesem Hintergrund enthalten wir uns bei
dieser Abstimmung.
Anlage 6
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Frank Schäffler (FDP),
Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU), Sylvia Canel
(FDP), Jens Ackermann (FDP), Lars
Lindemann (FDP) und Manfred Kolbe (CDU/
CSU) zur Abstimmung über den Antrag: Fi-
nanzhilfe zugunsten Spaniens; Einholung eines
zustimmenden Beschlusses des Deutschen Bun-
destages nach § 3 Absatz 1 i. V. m. § 3 Absatz 2
Nummer 1 und 4 des Stabilisierungsmechanis-
musgesetzes (StabMechG) für Notmaßnahmen
der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität
zugunsten Spaniens (Tagesordnungspunkt 1 b)
Beim durch die Rettungslogik angestoßenen Euro-
Domino fällt ein weiterer Stein. Nach Griechenland, Ir-
land und Portugal geht es nun um das Königreich Spa-
nien. Erstmals ist ein Staat mit so hohen Staatsschulden
betroffen, dass die einfache Übernahme seiner Staats-
schulden durch die Mitgliedstaaten der Euro-Zone nicht
ohne weiteres tragbar ist. Da man den bisherigen Weg
nicht weiter beschreiten kann, wird für Spanien erstmals
von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, Finanzhilfen in
Form einer Bankenrekapitalisierungsfazilität bereitzu-
stellen. Der genehmigte Betrag umfasst 100 Milliarden
Euro.
Einmal in Gang gesetzt, kann man das Fallen anderer
Dominosteine nur unterbinden, wenn man einen Stein
wegnimmt. Anders als von den Rettungseuropäern be-
hauptet, hört das Domino nicht auf, wenn man die Schul-
den weiterer Staaten und ihrer Banken subventioniert,
sondern wenn man diese ordnungspolitische Sünde nicht
mehr begeht. Erforderlich ist also, dass endlich Staaten
und ihre Banken die Folgen ihres Handelns tragen.
Für Staaten bedeutet dies, dass sie sich mit ihren
Gläubigern auf eine Umschuldung einigen müssen,
wenn sie die verlangten Zinsen nicht mehr zahlen kön-
nen oder wollen. Ob man diesen Vorgang Umschuldung,
Schuldenschnitt, Haircut, Resolvenz oder Insolvenz
nennt, ist unbedeutend. Entscheidend ist allein der Um-
stand, dass die Vertragsparteien ohne Subventionen und
Intervention von Dritten zu einer Einigung kommen.
Denn jede Einmischung Dritter zerstört den Effekt, den
eine Umschuldung haben muss: Sie soll sowohl Gläubi-
ger als auch Schuldner disziplinieren. Der Gläubiger soll
lernen, dass er nicht blindlings Staaten Kredit geben
kann, sondern soll das Insolvenzrisiko einpreisen müs-
sen. Die schuldenden Staaten sollen lernen, dass sie
nicht unentwegt und unbegrenzt ihre verantwortungslo-
sen Ausgaben von heute mit ungedeckten Schecks auf
die Zukunft finanzieren können.
Solange wir diesen Zusammenhang durch staatliches
Handeln negieren, so lange wird sich die desaströse Si-
tuation der Euro-Zone nicht verbessern. Die ökonomi-
schen Anreize einer Umschuldung ohne Beeinträchti-
gung von außen lassen sich nicht durch politische
Instrumente simulieren. Schon wegen dieser grundsätzli-
chen Überlegung müssen wir den Antrag der Bundesre-
gierung ablehnen, Spaniens Banken und ihre Gläubiger
auf Kosten des europäischen Steuerzahlers zu sanieren.
Daneben existieren weitere Gründe, diesen Antrag
abzulehnen:
Erstens. Abkehr von der strengen Konditionalität:
Legt man die bisherigen Maßstäbe der Rettungseuro-
päer an, so bedeutet die Rekapitalisierung von Banken
eine Abkehr von der versprochenen strengen Konditio-
nalität, woran die europäischen Finanzhilfen bislang ge-
koppelt waren. Spanien gehört anhand dieser bisherigen
Maßstäbe unter ein makroökonomisches Anpassungs-
programm. Es hat mit rund 50 Prozent die höchste
Jugendarbeitslosigkeit Europas und eine reguläre Ar-
beitslosenquote von circa 25 Prozent. Es verstößt fort-
während gegen die Kriterien des Stabilitäts- und Wachs-
tumspakts. Deswegen läuft gegen Spanien ein Verfahren
wegen übermäßigen Defizits. Die Abbauziele daraus hat
es verfehlt. Gerade wurde – wie in Griechenland – der
Umsetzungszeitraum verlängert. Doch selbst diese auf-
geweichten Abbauziele wird Spanien nach Prognosen
von Analysten verfehlen. Des Weiteren haben auch Spa-
niens Regionen enorme Haushaltslöcher. Schließlich lei-
det Spanien unter einem ständigen und hohen Kapitalab-
fluss. In der Gesamtschau ist festzustellen, dass Spanien
einen strukturellen Reformbedarf hat. Das lässt sich
nicht wegdiskutieren.
Zweitens. Immobilienblase noch nicht geplatzt:
Die spanische Immobilienblase ist nicht einmal zur
Hälfte abgebaut. Die Preise sind seit Sommer 2007 um
22850 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Juli 2012
(A) (C)
(D)(B)
nur 19 Prozent gefallen. Sie liegen aber noch zweiein-
halbmal so hoch wie Mitte der 90er-Jahre. Dagegen sind
in Irland die Häuserpreise während der Krise um 50 Pro-
zent eingebrochen. Dieser Einbruch bei den Häuserprei-
sen hat einen entsprechenden Wertberichtigungsbedarf
in den Bankbilanzen ausgelöst. Wenn man den Einbruch
beim irischen Kreditvergabevolumen, der im Zusam-
menhang mit dem Wertberichtigungsbedarf in den Bank-
bilanzen steht, mit dem spanischen Kreditvergabevolu-
men ins Verhältnis setzt, so ergibt sich für Spaniens
Banken ein Kapitalbedarf in der Größe von mehr als
400 Milliarden Euro. Das ist viel mehr als der Bedarf
von 52 bis 61 Milliarden Euro, von dem derzeit behaup-
tet wird, er sei eine realistische Schätzung der Höhe der
benötigten Subventionen. Es überrascht also nicht, wenn
Bankanalysten ebenfalls zu einem deutlich höheren
Wertberichtigungsbedarf kommen. So gibt es etwa eine
Studie, die einen Wertberichtigungsbedarf auf die verge-
benen Kredite der spanischen Banken in Höhe von
266 Milliarden Euro nennt. In jedem Fall ist das jetzige
Paket deutlich unterdimensioniert. Weitere werden fol-
gen müssen.
Drittens. Einstieg in die direkte Rekapitalisierung der
Banken:
Die Spanien-Hilfe ist keine direkte Rekapitalisierung
der spanischen Banken, aber doch ein Zwischenschritt
dorthin. Das liegt an der Anrechnung der Sanierungskre-
dite auf die spanische Staatsschuld. Kredite an Spanien
in Form der heute beschlossenen Bankenrekapitalisie-
rungsfazilität erhöhen die spanische Staatsschulden-
quote. Die jetzt bereitgestellten 30 bzw. 100 Milliarden
Euro werden spätestens bei Auszahlung die spanische
Schuldenquote erhöhen. Kalkuliert man in einem Ge-
dankenexperiment überschlägig die Staatsschuldenquote
Spaniens, wenn alle benötigten Subventionen zur Sanie-
rung des Bankensektors als Kredite an Spanien vergeben
würden, so ergäbe sich folgendes Bild:
Bei realistischen Wertberichtigungen in Höhe von
266 – bzw. 400 – Milliarden Euro erhöht sich die spani-
sche Staatsschuldenquote von 68,4 Prozent im Jahr 2011
auf 95 Prozent – bzw. 110 Prozent – im Jahr 2012. Die
Folgen sind klar: Ratingagenturen würden Spanien her-
abstufen und seine Anleihen als Ramsch beurteilen,
wenn dies Realität würde. Zusätzlich hat Spanien in ei-
ner unbekannten Größenordnung für spanische Bank-
schulden gebürgt, insbesondere auch deshalb, um
Abschreibungen in den spanischen Bankbilanzen zu ver-
hindern. Wenn Spaniens Kreditwürdigkeit auf Ramsch
absinkt, so müssten die spanischen Banken diese staat-
lich garantierten Forderungen wertberichtigen. Zusätz-
lich entfiele die Zentralbankfähigkeit dieser Forderun-
gen. Eine Erhöhung der spanischen Staatsschuldenquote
gefährdet daher das Rating Spaniens und in der Folge
das spanische Bankensystem insgesamt. Das ist der
Grund, warum in der Rettungslogik die spanischen Ban-
ken möglichst finanziert werden sollen, ohne die Schul-
den des Königreichs Spanien zu erhöhen. Eine direkte
Rekapitalisierung der spanischen Banken würde indes
die Staatsschuldenquote Spaniens nicht berühren.
Genau aus diesem Grund hat bislang kein maßgebli-
cher Politiker die direkte Bankenrekapitalisierung expli-
zit ausgeschlossen. Es wurde lediglich darauf verwiesen,
dass zunächst eine „gemeinsame europäische Banken-
aufsicht“ vorliegen müsse. An dieser wird bereits gear-
beitet, und konkrete Umsetzungsvorschläge sollen im
Herbst vorliegen. Zu diesem Sachverhalt passt auch,
dass die zunächst bereitgestellten 30 Milliarden Euro nur
als Reserve dienen und nicht ausgezahlt werden sollen –
denn jede Auszahlung an Spanien erhöht den spanischen
Schuldenstand. Man wartet mit der Auszahlung bewusst
ab, bis man die Möglichkeit der direkten Rekapitalisie-
rung geschaffen hat.
Viertens. Fehlende Systemrelevanz:
Der Beschluss der G-20-Staaten, keine systemrele-
vante Bank pleitegehen zu lassen, betrifft in Spanien
allein die Banco Santander, denn diese ist nach den Kri-
terien des Financial Stability Board die einzige system-
relevante Bank Spaniens. Die Banco Santander ist aus-
reichend kapitalisiert. Selbst gemäß dem Memorandum
of Understanding ist keine der drei größten spanischen
Banken zur Rekapitalisierung vorgesehen. Gerettet wer-
den also nur nichtsystemrelevante Banken, das sind lo-
kale und regionale Banken, vor allem Sparkassen. Ohne
Systemrelevanz besteht kein Anlass, eine Bank vor der
Insolvenz zu retten. Sie können pleitegehen, ohne das
Finanzsystem als Ganzes zu gefährden. In diesem Zu-
sammenhang erinnere ich an unsere gesetzlichen Vo-
raussetzungen für Hilfen aus der EFSF. In § 1 Abs. 2
StabMechG heißt es:
Notmaßnahmen im Sinne von Absatz 1 können auf
Antrag eines Mitgliedstaates des Euro-Währungs-
gebietes zum Erhalt seiner Zahlungsfähigkeit er-
griffen werden, wenn dies unabdingbar ist, um die
Stabilität des Euro-Währungsgebietes insgesamt zu
wahren.
Hilfen für nichtsystemrelevante Banken sind nach
deutschem Recht unzulässig.
Fünftens. Keine Beteiligung der systemrelevanten
Banken und des Bankensektors insgesamt:
Anders als in Deutschland tragen die spanischen Ban-
ken nicht zur Bewältigung der Finanzkrise in Spanien
bei. So leisten nach Auskunft unserer Bundesregierung
spanische Banken zwar Beiträge zum FROB, werden
aber weder über eine Bankenabgabe noch über eine frei-
willige Beteiligung an der Bewältigung der Krise betei-
ligt. In Deutschland haben die Privatbanken freiwillig
8,5 Milliarden Euro allein zur Abwicklung der Hypo
Real Estate beigetragen. Das auf die spanische Situation
übertragbare Argument war, dass die Stützung der Hypo
Real Estate der deutschen Kreditwirtschaft insgesamt
nutze.
Während die finanzielle Beteiligung der spanischen
Kreditwirtschaft an der Bankenrettung schwach ist, sind
die Mitspracherechte an der Mittelverwendung ausge-
prägt. Die Sanierung der spanischen Banken liegt in der
Hoheit des FROB, an den die Mittel der EFSF ausge-
zahlt werden. Mit der Auszahlung von Sanierungshilfen
zur Restrukturierung bzw. Abwicklung soll bei den Ban-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Juli 2012 22851
(A) (C)
(D)(B)
ken aus Gruppe 1 und Gruppe 2, die staatliche Hilfen be-
nötigen, noch vor Jahresende begonnen werden. Die
Gremien des FROB werden jedoch zumindest teilweise
von aktiven Bankmanagern besetzt. Gemäß Nr. 27 von
Anhang 2 zum Memorandum of Understanding sollen
die dadurch entstehenden Interessenkonflikte aber erst
zum 1. Januar 2013 ausgeräumt werden. Zu diesem Zeit-
punkt werden die europäischen Subventionen bereits zu
einem großen Teil verwendet worden sein.
Sechstens. Restrukturierung nicht nach ordnungspoli-
tischen Regeln:
Schließlich ist das Herausboxen der Eigentümer und
der Gläubiger ein schwerer Verstoß gegen ordnungspoli-
tische und marktwirtschaftliche Prinzipien. In erster Li-
nie müssen bei einer Überschuldungssituation die Eigen-
kapitalgeber haften. Dies geschieht technisch durch eine
Kapitalherabsetzung, aufgrund der sie ihre Beteiligung
am Unternehmen verlieren. Für diesen Fall steht das Ei-
genkapital als Haftungsreservoir zur Verfügung. Bevor
es zu einer Subventionierung durch den europäischen
Steuerzahler kommt, muss dieses Haftkapital vollständig
aufgebraucht werden. Entsprechend einer Antwort des
BMF beläuft sich „die Summe des haftenden Eigenkapi-
tals der spanischen Kreditwirtschaft … nach Angaben
der spanischen Zentralbank auf 249 300 Millionen Euro
(Stand 30. April 2012)“. Wenn die uns vorgelegten An-
gaben korrekt sind, dass mit einem Kapitalbedarf zwi-
schen 52 und 61 Milliarden Euro zu rechnen ist, dann
sollte diese Summe leicht aus dem haftenden Eigenkapi-
tal der spanischen Kreditwirtschaft aufzubringen sein.
Selbst wenn das Eigenkapital komplett verbraucht
werden sollte, bestünde kein Anlass, den europäischen
Steuerzahler sofort zu belasten. Denn erst müssen die
Gläubiger der Reihenfolge ihres Ranges nach zwingend
beteiligt werden. Dies sieht der Antrag des BMF aus-
drücklich nicht vor.
Äußerst intransparent vollzieht sich die Auslagerung
wertgeminderter Aktiva in die noch zu gründende Asset
Management Company, – AMC. Die wertgeminderten
Aktiva sind in den spanischen Bankbilanzen zu einem
bedeutenden Teil nicht wertberichtigt worden. Das liegt
unter anderem daran, dass per Sondergesetz das Bilanz-
recht für bestimmte Aktiva so verändert wurde, dass
Wertberichtigungen nicht mehr erforderlich waren. Die
Auslagerung dieser Aktiva erfolgt gemäß Nr. 21 des Me-
morandum of Understanding zum Real Economic Value.
Dieser ist indes nicht der Marktwert der Aktiva, sondern
wird durch eine Kommission unter Beteiligung von
Eurostat bestimmt. Dadurch ist einerseits eine verdeckte
Subventionierung eigentlich abzuwickelnder spanischer
Banken vorgezeichnet. Andererseits sind Verluste bei
der übernehmenden AMC vorprogrammiert, die sich aus
der Differenz zwischen Real Economic Value und tat-
sächlichem Erlös ergeben. Diese Verluste werden erst
über den Zeitraum vieler Jahre realisiert werden, da die
Aktiva bis zur Endfälligkeit gehalten werden können.
Dem FROB droht in Bezug auf die übernommenen spa-
nischen Aktiva ein ähnliches Schicksal wie der FMS
Wertmanagement in Bezug auf griechische Staatsanlei-
hen: Ihr Griechenland-Portfolio musste kürzlich zusam-
men mit den korrespondierenden Derivatepositionen
zum Jahresabschluss 2011 mit 8,9 Milliarden Euro wert-
berichtigt werden. Für den FROB sind schlimmere Haf-
tungssummen zu erwarten, die der europäische Steuer-
zahler auf Jahre hinaus bezahlen wird.
Siebtens. Anwendung der Regeln mit zweierlei Maß
spaltet Europa:
Erneut werden die rechtsstaatlichen Regeln Europas
mit Füßen getreten werden. Während Irland ein umfas-
sendes Restrukturierungsprogramm bewältigen muss
und dies ebenfalls Zypern droht, obwohl beide Länder
nur ein Bankenproblem haben, werden sie anders als
Spanien behandelt. Dabei hat Spanien neben seinem
Bankenproblem auch ein tiefgreifendes Strukturpro-
blem seiner Wirtschaft. Große und kleine Länder werden
in Europa unterschiedlich und ungleich behandelt. Bei
den Kleinen kommt der Sparkommissar, bei den Großen
kommt der Geldkoffer. Diese Ungleichbehandlung zer-
stört das Europa des Rechts und der Freiheit.
Anlage 7
Erklärungen nach § 31 GO
zur Abstimmung über den Antrag: Rechtliche
Regelung der Beschneidungen von Jungen (Zu-
satztagesordnungspunkt 1)
Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Das Urteil des Kölner Landgerichts vom 7. Mai 2012, in
dem die Beschneidung eines Jungen als rechtswidrige
Körperverletzung gewertet wurde, hat zu Verunsicherun-
gen einerseits bei jüdischen und muslimischen Reli-
gionsgemeinschaften, andererseits bei Ärzten geführt.
Dem Urteil kommt aber auch weit über die Religionsge-
meinschaften und Fachkreise hinaus große Aufmerk-
samkeit zu. Dies geschieht aus gutem Grund, denn die
Beschneidung – oder auch Zirkumzision – betrifft nicht
nur einen, sondern mehrere grundrechtsensible Bereiche.
Will man rechtliche Regelungen zur Beschneidung
treffen, müssen verschiedene miteinander kollidierende
grundrechtlich verbürgte Positionen gegeneinander ab-
gewogen werden: das Recht auf körperliche Unversehrt-
heit, die Religionsfreiheit und das Recht der Eltern auf
Erziehung. Das Wohl des Kindes ist ein zentraler Ge-
sichtspunkt: Seine körperliche Unversehrtheit und sein
Recht, als gleichberechtigtes Mitglied einer Religionsge-
meinschaft aufzuwachsen, müssen im Mittelpunkt der
Diskussion stehen.
Jede Operation erfüllt den Tatbestand der Körperver-
letzung. Durch rechtswirksame Einwilligung ist sie ge-
rechtfertigt und dann straffrei.
Religionsfreiheit umfasst die Freiheit, einen Glauben
zu haben, und die Freiheit, den Glauben ausüben zu kön-
nen.
Der Staat hat die schwierige und verantwortungsvolle
Aufgabe, sowohl die körperliche Unversehrtheit jedes
Einzelnen zu schützen als auch die Religionsfreiheit zu
22852 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Juli 2012
(A) (C)
(D)(B)
gewährleisten und hierbei auch das Elternrecht auf Er-
ziehung zu berücksichtigen.
In Deutschland muss muslimisches und jüdisches re-
ligiöses Leben weiterhin möglich sein. Ich begrüße die
religiöse Vielfalt, die es in unserem Land gibt. Gleich-
zeitig müssen wir sicherstellen, dass Eingriffe in die kör-
perliche Unversehrtheit nur in begründeten Fällen zuläs-
sig sind und vor allem medizinisch korrekt und ohne
unnötige Schmerzen durchgeführt werden.
Um eine gute Regelung zu finden, dürfen wir nicht
vorschnell zulasten des einen oder anderen Grundrechts
entscheiden. Statt dessen müssen wir eine intensive,
vielschichtige und facettenreiche Diskussion führen.
Hierbei müssen wir die Konsequenzen berücksichtigen,
die die verschiedenen Möglichkeiten mit sich bringen.
Dazu müssen wir das Gespräch mit Vertretern der Reli-
gionsgemeinschaften, Medizinerinnen und Medizinern
und anderen Fachleuten suchen, alle Argumente abwä-
gen und auswerten und alle möglichen Blickwinkel ein-
nehmen.
Eine nicht vollständig durchdachte Regelung kann
mehr Unruhe stiften als Rechtsfrieden bringen. Wir müs-
sen eine ausgewogene, dauerhafte Regelung finden und
nicht voreilige Entscheidungen treffen. Daher enthalte
ich mich in der Abstimmung über den Antrag.
Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE): Abwei-
chend vom Votum „Enthaltung“ der Linksfraktion
stimme ich diesem Antrag zu.
Die rechtliche Einordnung der Beschneidung muss in
der Tat so schnell und so gründlich wie möglich geklärt
werden.
Für mich ist dabei oberstes Gebot: Das jüdische und
muslimische Leben, für das die Beschneidung von Jun-
gen eine zentrale religiöse Bedeutung hat, muss weiter-
hin in Deutschland möglich sein.
Besonders wichtig ist mir in diesem Zusammenhang,
dass die Beschneidung männlicher Kinder nicht ver-
gleichbar ist mit weiblicher Genitalverstümmelung, die
ich verurteile.
Burkhardt Müller-Sönksen (FDP): Der vorgelegte
interfraktionell erarbeitete Antrag findet nicht meine Zu-
stimmung.
Das Landgericht Köln hat mit seinem Urteil vom
7. Mai 2012 die Beschneidung minderjähriger Jungen
aus religiösen Gründen als rechtswidrige Körperverlet-
zung gewertet. Grundsätzlich entfaltet die Entscheidung
über den konkreten Einzelfall hinaus keine rechtliche
Bindung; dennoch zeigt das Urteil, dass eine grundsätz-
liche öffentliche Diskussion und Bewertung der religiö-
sen Beschneidungen geboten ist.
Die Notwendigkeit in dieser grundsätzlichen Frage, in
Form eines Ad-hoc-Verfahrens zu einer zeitnahen ge-
setzlichen Regelung zu kommen, ist aus meiner Sicht
mit Blick auf die Komplexität der Thematik nicht ange-
messen.
Die Debatte über religiöse Beschneidungen sollte
ohne Präjudiz, wie die im Antrag vorgenommene Vor-
festlegung, die religiöse Beschneidung weiterhin zu er-
möglichen, erfolgen.
Grundsätzlich erkenne ich die Beschneidung als kon-
stitutives Element des jüdischen und muslimischen
Glaubens an. Aus meiner Sicht ist es jedoch geboten, zu
prüfen, ob die Beschneidung nicht auch in einem Alter
erfolgen kann, in dem das Kind selbst in der Lage ist,
seine Zustimmung zu geben.
Eine adäquate Auseinandersetzung mit der religiösen
Beschneidung sollte aus meiner Sicht neben den Bera-
tungen in den zuständigen Ausschüssen des Bundestages
auch eine Einbeziehung des Ethikrates und gegebenen-
falls durch die Einsetzung einer Enquete-Kommission
erfolgen. In einem solchen, breit angelegten Verfahren
könnte auch über weitere Grenzfälle zwischen religiöser
Praxis und rechtsstaatlichen Erfordernissen, wie den
Umgang mit dem rituellen Schlachten – Schächten – in
angemessener Form diskutiert werden.
Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Die Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Be-
schneidung kleiner Jungen ist eine sehr schwierige, denn
sie berührt mehrere Grundrechte: die Freiheit der Reli-
gion und das Erziehungsrecht der Eltern auf der einen
Seite, das Recht auf körperliche Unversehrtheit auf der
anderen.
Grundsätzlich bin ich fest davon überzeugt, dass man
es Religionsgemeinschaften in unserem Rechtsstaat
nicht erlauben sollte, in andere Grundrechte einzugrei-
fen, dass ihnen aber eine aktive und gegebenenfalls auch
institutionelle Rolle im öffentlichen Leben zukommt.
Wenn Religion, die für viele Menschen eine zentrale
Rolle in ihrem Leben spielt, Teil der politischen Debatte
wird, dann werden auch religiöse Traditionen mit Ge-
genmeinungen konfrontiert, dann müssen sie sich mit
der Realität der Gegenwart auseinandersetzen. Das hat
zum Beispiel dazu geführt, dass sich katholische Organi-
sationen am Verfahren der Schwangerschaftskonfliktbe-
ratung beteiligen.
Diese Diskussion im Hinblick auf die Beschneidung
von Jungen ist auch in den jüdischen und muslimischen
Religionsgemeinschaften im Gange. Dennoch, das zei-
gen auch die öffentlichen Meinungsäußerungen der letz-
ten Wochen, ist für die große Mehrheit der betroffenen
Gläubigen die Beschneidung noch immer ein essenziel-
les Element ihrer religiösen Identität. Sie zu verbieten,
bzw. ihre Ausführung im Zwielicht rechtlicher Unklar-
heit zu belassen, würde für viele Jüdinnen und Juden,
Muslima und Muslime eine Ausübung ihrer religiösen
Identität in diesem Land deutlich erschweren oder ver-
unmöglichen. Es bestünde zudem die Gefahr, dass der
Eingriff in die sprichwörtlichen Hinterzimmer verlagert
würde, wo das Kindeswohl in deutlich größerer Gefahr
ist, als das bei der gegenwärtigen Praxis der Fall ist.
Der körperliche Eingriff der männlichen Beschnei-
dung ist in seinen Auswirkungen zudem offensichtlich
nicht derart belastend, dass es klare medizinische War-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Juli 2012 22853
(A) (C)
(D)(B)
nungen davor gäbe. Für einige Regionen der Welt
– wenn auch nicht für unsere – wird die Beschneidung
gegenwärtig sogar noch von der Weltgesundheitsorgani-
sation als Standardeingriff indiziert und aus medizini-
schen Gründen auch hierzulande regelmäßig durchge-
führt. Zudem ist aus den jüdischen und islamischen
Religionsgemeinschaften selbst bislang noch kein nen-
nenswerter Widerstand gegen diese Praxis zu verneh-
men.
Deswegen ist es geboten, jetzt rechtliche Klarheit zu
schaffen und den Eingriff – unter Berücksichtigung des
größtmöglichen Schutzes der Kinder – zu regeln und zu
erlauben. Die genaue Ausgestaltung dieser gesetzlichen
Regelung sollte unter Einbeziehung medizinischen Rats
und verschiedener Stimmen aus den betroffenen Reli-
gionsgemeinschaften geschehen. Damit geben wir auch
den Debatten innerhalb dieser Gemeinschaften einen
größeren Platz in der Öffentlichkeit.
Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Ich stimme dem Antrag „Rechtliche Regelung
der Beschneidungen von minderjährigen Jungen“ zu.
Das Landgerichtsurteil vom 7. Mai 2012 entfaltet
zwar an und für sich keine Bindungswirkung, durch die
daraus resultierende Verunsicherung der jüdischen und
muslimischen Bevölkerung sowie die Reaktion der Bun-
desärztekammer ist ein Handeln aber nötig geworden.
Ich möchte nicht, dass religiöses Leben in diesem
Land im Untergrund stattfinden muss. Ein Komplettver-
bot der Beschneidung drängt die jüdischen und muslimi-
schen Gemeinschaften in den Untergrund.
Anlage 8
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Memet Kilic und Viola von
Cramon-Taubadel (beide BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN) zur Abstimmung über den Antrag:
Rechtliche Regelung der Beschneidungen von
Jungen (Zusatztagesordnungspunkt 1)
Der Grundrechtekatalog unseres Grundgesetzes ist
ein guter roter Faden für das Zusammenleben in unserer
heterogenen Gesellschaft. Dort werden die Grundfrei-
heiten und Grundrechte und ihre Schranken definiert.
Sowohl die Religionsfreiheit – Glaubensfreiheit,
Nichtglauben, Wechsel der Religionen –, aber auch kör-
perliche Unversehrtheit sind Grundrechtsgüter. Wenn sie
miteinander kollidieren, sind sie abzuwägen, und es
muss gegebenenfalls ein guter Kompromiss gefunden
werden. Sowohl die heiligen Schriften der Religionen,
aber auch die religiösen Riten, Gebräuche und Traditio-
nen beinhalten naturgemäß alte Elemente, die im Lichte
der Vernunft und der neuen Einsichten der Wissenschaft
neu zu verstehen und zu interpretieren sind.
Die Menschheit kann mit Glück und Stolz darauf zu-
rückblicken, dass wir keine Menschenopfer mehr brin-
gen, die Steinigung von Ehebrechern nicht mehr Teil un-
serer Rechtsprechung ist, verwitwete Hindufrauen seit
mehr als 100 Jahren nicht mehr mit ihren verstorbenen
Ehemännern verbrannt werden und die Beschneidung
von Mädchen weitgehend verpönt und strafbar ist. Bei
der Gleichberechtigung von Mann und Frau und der
Nichtdiskriminierung von gleichgeschlechtlichen Part-
nerschaften wurden einige Fortschritte erzielt, aber auch
einige Rückschritte verzeichnet.
Die Kinder sind nicht das Eigentum der Eltern, der
Religionsgemeinschaften oder des Staats. Sie sind Indi-
viduen mit vollen Rechten. Das Kindeswohl zu gewähr-
leisten, obliegt den Eltern und dem Staat in den gesetzli-
chen Rahmen.
Der säkulare Staat hat auch die Aufgabe, den Druck
der Religionsgemeinschaften oder Weltanschauung auf
einzelne Individuen abzuwenden oder dies zumindest
abzumildern, damit sich das Individuum frei entfalten
kann (Art. 2 Grundgesetz). Medizinisch notwendige Ein-
griffe in die körperliche Unversehrtheit stehen hierbei
außer Diskussion. Zur Disposition steht nur, inwieweit
die blutigen Rituale der Religionsgemeinschaften, die ei-
nen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit – sogar
bei Kleinkindern – darstellen, allein der Entscheidung
der Religionsgemeinschaften bzw. Eltern zu überlassen
sind.
Bei der Beschneidung stellt sich diese Frage vorder-
gründig. Es besteht sowohl wissenschaftliche wie politi-
sche Einigkeit darüber, dass die Zirkumzision einen irre-
versiblen und nicht zu bagatellisierenden Eingriff in die
Körper von Menschen darstellt. Es ist aber auch soziolo-
gischer Fakt, dass sich viele Eltern in der Religions- oder
Traditionspflicht sehen, diesen Vorgang bei ihrem Kind
vornehmen zu lassen.
Um eine selbstbestimmte Erwachsenenentscheidung
– im Idealfall zu einem unblutigen Religionsbekenntnis –
zu ermöglichen, kann der Gesetzgeber einen Übergangs-
kompromiss vorlegen. Solch eine gesetzliche Regelung
mit einer großen, gesellschaftlichen und grundrechtlichen
Reichweite darf nicht in einem Schnellverfahren erfol-
gen. Dafür müssen gründliche Anhörungsverfahren
durchgeführt werden.
Anlage 9
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Kerstin
Andreae, Marieluise Beck (Bremen), Ekin
Deligöz, Katrin Göring-Eckardt, Renate
Künast, Fritz Kuhn und Claudia Roth (Augs-
burg) (alle BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur
Abstimmung über den Antrag: Rechtliche Re-
gelung der Beschneidungen von Jungen (Zu-
satztagesordnungspunkt 1)
Wir stimmen der Forderung an die Bundesregierung,
einen Gesetzentwurf vorzulegen, der sicherstellt, dass
eine medizinisch fachgerechte Beschneidung von Jun-
gen ohne unnötige Schmerzen grundsätzlich zulässig ist,
zu.
22854 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Juli 2012
(A) (C)
(D)(B)
Die Rechtsauffassung eines Richters einer kleinen
Strafkammer des Kölner Landgerichts hat zu tiefgreifen-
der Verunsicherung bei Ärzten und jüdischen und musli-
mischen Eltern geführt. Bei der Beschneidung von Jungen
handelt es sich um einen klassischen Grundrechtskon-
flikt, der im Wege der praktischen Konkordanz auszu-
gleichen ist, wobei jede Grundrechtsposition optimal zu
verwirklichen ist.
Eine Beschneidung ist tatbestandlich – wie jede Ope-
ration – eine Körperverletzung, die durch rechtswirk-
same Einwilligung gerechtfertigt werden kann und dann
straffrei ist. Bei Minderjährigen handeln grundsätzlich
die Eltern stellvertretend für das Kind und sind dabei an
das Kindeswohl gebunden. Die Wahrung der körperli-
chen Unversehrtheit und das Recht des Kindes, als voll-
wertiges und gleichberechtigtes Mitglied einer Reli-
gionsgemeinschaft aufzuwachsen, sind jeweils Aspekte
des Kindeswohls. Der körperliche Eingriff bei einer Be-
schneidung ist ein irreversibler Eingriff mit niedriger Ein-
griffstiefe, soweit er medizinisch fachgerecht durchgeführt
wird. Er wird zum Teil auch aufgrund von hygienischen
und prophylaktischen Überlegungen durchgeführt. In den
abrahamitischen Religionen ist das Beschneidungsgebot
das erste und zugleich die Begründung des Bundes mit
Gott. Daher ist es für Juden zentral und für die meisten
Muslime unverzichtbar.
Der Staat muss bei einer rechtlichen Regelung darauf
achten, dass die Beschneidung medizinisch fachgerecht
von qualifizierten Fachleuten durchgeführt wird. Hier-
durch verwirklicht er das Kindeswohl und schützt die
Gesundheit des Kindes – Art. 2 GG. Im Falle einer Ille-
galisierung der Beschneidung käme es sicher häufiger zu
nicht fachgerechten Eingriffen durch unqualifizierte Be-
schneider. Dies gilt es zu vermeiden. Jüdischer Glaube,
Islam und Christentum gehören zu Deutschland. Dies
wollen wir heute mit unserer Abstimmung auch zum
Ausdruck bringen.
Anlage 10
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Rolf Schwanitz, Ingrid
Arndt-Brauer, Bärbel Bas, Angelika Graf
(Rosenheim), Angelika Krüger-Leißner, Caren
Marks, Marlene Rupprecht (Tuchenbach),
Bernd Scheelen und Andrea Wicklein (alle
SPD): zur Abstimmung über den Antrag:
Rechtliche Regelung der Beschneidungen von
Jungen (Zusatztagesordnungspunkt 1)
Wir haben heute gegen den Antrag gestimmt, weil das
Recht der Eltern auf religiöse Erziehung des Kindes
nach unserer Meinung keinen Vorrang hat gegenüber
dem Grundrecht des Kindes auf körperliche Unversehrt-
heit und Selbstbestimmung.
Seit einigen Wochen wird in der deutschen Öffent-
lichkeit das Urteil des Landgerichts Köln zur Strafbar-
keit der Beschneidung ohne medizinische Indikation
– Urteil vom 7. Mai 2012, Aktenzeichen 151 Ns 169/11 –
diskutiert. Das Landgericht Köln kam darin zu der Ein-
schätzung, dass dem Recht der Eltern auf religiöse
Erziehung in Abwägung zum Recht des Kindes auf
körperliche Unversehrtheit und auf Selbstbestimmung
kein Vorrang zukomme, sodass mit der Einwilligung in
die Beschneidung ein Widerspruch zum Kindeswohl
festzustellen ist. Begründet wurde diese in unseren Au-
gen richtige Entscheidung damit, dass die Grundrechte
der Eltern aus Art. 4 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 2 Grundge-
setz ihrerseits durch das Grundrecht des Kindes auf kör-
perliche Unversehrtheit und Selbstbestimmung gemäß
Art. 2 Abs. 1 und 2 Satz 1 Grundgesetz begrenzt sind.
Wir verkennen nicht, dass die Entscheidung des
Kölner Landgerichts mit erheblichen Irritationen und ge-
sellschaftlichen Verwerfungen, insbesondere bei Ange-
hörigen der jüdischen oder muslimischen Glaubens-
gemeinschaft, verbunden sein kann. Sie können nur
schwer oder überhaupt nicht verstehen, weshalb eine
über viele Generationen vollzogene Praxis ihres Glau-
bensbekenntnisses nun in Deutschland verboten und
strafrechtlich relevant sein soll. Dennoch können Grund-
rechtsfragen nach unserer Auffassung aber nicht allein
mit Verweis auf das tradierte Handeln und dadurch be-
antwortet werden, dass man ein rechtliches Problem auf
einen scheinbar rechtsfreien Raum verschiebt.
Tatsächlich ist die Frage der Strafbarkeit der religiös
motivierten, medizinisch nicht indizierten Beschneidung
von Kindern aber seit langem ein gesellschaftliches
Thema in Deutschland. Bei der religiös motivierten, me-
dizinisch nicht indizierten Beschneidung von Mädchen
– genitale Verstümmelung – hat sich in Deutschland in
den letzten Jahren ein breiter ablehnender gesellschaftli-
cher Konsens herausgebildet. Auch bei der religiös moti-
vierten, medizinisch nicht indizierten Beschneidung von
Jungen hat dessen kritische Reflexion in den letzten Jah-
ren erkennbar zugenommen. So verwies zum Beispiel
das „Deutsche Ärzteblatt“ bereits im Jahre 2008 auf die
strafrechtliche Relevanz solcher Eingriffe und empfahl
den Ärzten, diese abzulehnen. Das Urteil des Landge-
richts Köln ist deshalb in unseren Augen kein singuläres,
abweichendes Ereignis. Es ist in unseren Augen viel-
mehr nur ein vorläufiger Status einer neuen, auf dem
Grundgesetz fußenden und sich im Interesse des Kindes-
wohls vollziehenden rechtlichen Weiterentwicklung in
Deutschland. Ausdruck dieser Weiterentwicklung ist
nicht zuletzt auch die Verabschiedung der UN-Kinder-
rechtskonvention und deren Ratifikation in Deutschland.
Dass es sich bei der religiös motivierten, medizinisch
nicht indizierten Beschneidung von Jungen um einen
schädigenden, irreversiblen Eingriff im Sinne einer tat-
bestandlichen Körperverletzung handelt, erscheint uns
unstreitig und klar. Die Häufigkeit der damit verbunde-
nen, zum Teil sehr schweren gesundheitlichen Kompli-
kationen wird in der Literatur sehr unterschiedlich be-
schrieben. Wir halten eine Komplikationsrate von bis zu
10 Prozent für realistisch. Auch schwere gesundheitliche
Spätfolgen und Todesfälle werden in der Literatur be-
schrieben. Auch dies spricht für eine sorgsame und
umfängliche Diskussion des Themas im Interesse des
Kindeswohls und nicht für eine im Eilverfahren vollzo-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Juli 2012 22855
(A) (C)
(D)(B)
gene unkritische Legitimation der bisherigen Tradition,
wie sie im Antrag präjudiziert wird.
Die Mehrheit des Deutschen Bundestages hat sich mit
dem von uns abgelehnten Antrag dafür ausgesprochen,
in naher Zukunft eine gesetzliche Regelung zur Recht-
fertigung der religiös motivierten, medizinisch nicht
indizierten Beschneidung von Jungen zu schaffen. Ein
solches Gesetz stünde in unseren Augen auch im Wider-
spruch zum Grundgesetz. Dies vor allem deshalb, weil
das Grundgesetz weder einen Vorrang des elterlichen
Rechts auf religiöse Kindererziehung vor dem Recht des
Kindes auf körperliche Unversehrtheit und Selbstbestim-
mung kennt und weil im Grundgesetz durch die Rechte
der Religionsgemeinschaften nach Art. 140 GG in Ver-
bindung mit Art. 136 Abs. 1 WRV die staatsbürgerlichen
Rechte des Kindes richtigerweise nicht beschränkt
werden. Auch deshalb lehnen wir das Ansinnen des
Antrages ab.
Anlage 11
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Katja Dörner, Harald Ebner,
Dr. Thomas Gambke, Bettina Herlitzius, Uwe
Kekeritz, Katja Keul, Maria Klein-Schmeink,
Ute Koczy, Oliver Krischer, Markus Kurth,
Monika Lazar, Tabea Rößner, Ulrich Schneider
und Dorothea Steiner (alle BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN) zur Abstimmung über den Antrag:
Rechtliche Regelung der Beschneidungen von
Jungen (Zusatztagesordnungspunkt 1)
Der Deutsche Bundestag soll sich heute – ohne das üb-
liche Beratungsverfahren und damit völlig überstürzt –
zum sensiblen Thema der religiös motivierten Beschnei-
dung von Jungen verhalten. Diese Eile wird dem ge-
wichtigen Thema nicht gerecht. Nicht nur, dass das Ur-
teil des Landgerichts Köln, das ohne Frage für eine
Verunsicherung jüdischer und muslimischer Gläubiger
und auch in der Ärzteschaft gesorgt hat, keine rechtliche
Bindungswirkung entfaltet und zudem bereits vom Mai
2012 stammt, sondern auch, weil der heutige Beschluss
des Bundestages an der derzeitigen rechtlichen Situation
nichts ändert. Die öffentliche Diskussion über das Urteil
des Landgerichts Köln macht deutlich, dass es dem
Deutschen Bundestag gut anstünde, eine breite Diskus-
sion zum Thema Beschneidung von Jungen zu führen,
inklusive der Anhörung von Sachverständigen und der
Beratung in den Ausschüssen sowie der Kinderkommis-
sion des Deutschen Bundestages. So ist es üblich und bei
sensiblen Themen ganz besonders notwendig. Selbstver-
ständlich ist, dass jüdische und muslimische Traditionen
und Riten zu achten sind und jüdisches und muslimi-
sches religiöses Leben in Deutschland weiterhin möglich
sein muss – dies sollte keiner Erwähnung bedürfen.
In der derzeitigen Diskussion und auch im Antrag der
Fraktionen von CDU/CSU, der SPD und der FDP
kommt die Perspektive der Kinder und ihrer Rechte
deutlich zu kurz. Der Stellenwert religiöser Riten und
der Religionsfreiheit von Eltern wird einseitig über das
Recht der Kinder auf körperliche Unversehrtheit und
auch über ihr religiöses Selbstbestimmungsrecht gestellt.
Es ist unstrittig, dass es sich bei der Beschneidung eines
Menschen, wie bei vielen ärztlichen Behandlungen auch,
juristisch gesehen um eine Körperverletzung handelt.
Eine solche Körperverletzung ist nicht rechtswidrig,
wenn der Betroffene einwilligt; bei Minderjährigen wird
diese Zustimmung durch die Einwilligung der Eltern
bzw. der Sorgeberechtigten ersetzt. Eindeutig ist aber
auch, dass sich die Einwilligung der Eltern vor allem am
Kindeswohl orientieren muss; die Rechte der Eltern sind
durch Art. 2 Abs. 2 des Grundgesetzes verfassungsim-
manent begrenzt. Auch die UN-Kinderrechtskonvention,
der Deutschland beigetreten ist, gibt im Art. 3 vor, dass
das Kindeswohl vorrangig zu berücksichtigen ist. Das
Landgericht Köln kommt daher aus unserer Sicht hin-
sichtlich der verfassungsrechtlich gebotenen Güterabwä-
gung richtigerweise und stringent zu dem Schluss, dass
„die Beschneidung des nicht einwilligungsfähigen Kna-
ben weder unter dem Blickwinkel der Vermeidung einer
Ausgrenzung innerhalb des jeweiligen religiösen gesell-
schaftlichen Umfelds noch unter dem des elterlichen Er-
ziehungsrechts dem Wohle des Kindes entspricht. Die
Grundrechte der Eltern aus Art. 4 Abs. 1, 6 Abs. 2 GG
werden ihrerseits durch das Grundrecht des Kindes auf
körperliche Unversehrtheit und Selbstbestimmung ge-
mäß Art. 2 Abs. 1 und 2 Satz 1 GG begrenzt.“
Sicherlich wird diese rein juristische Brille einem
wertschätzenden Umgang mit wichtigen Riten und Tra-
ditionen von Weltreligionen nicht gerecht. Nichtsdesto-
trotz dürfen religiöse Riten aus unserer Sicht keinesfalls
per se Vorrang vor dem Recht eines Kindes auf körperli-
che Unversehrtheit haben. Eine verfassungsrechtlich
saubere Abgrenzung bestimmter religiöser Riten gegen-
über anderen – wie beispielsweise auch gegenüber der
Beschneidung von Mädchen – halten wir für schwer um-
setzbar. Daher haben wir die Sorge, dass die Intention
des interfraktionellen Antrags, die Beschneidung von
Jungen für grundsätzlich zulässig gesetzlich festschrei-
ben zu wollen, Türen öffnet, die sicherlich auch unsere
Kolleginnen und Kollegen, die den vorgelegten Antrag
begrüßen, nicht gutheißen, dies wird im Antrag auch
zum Ausdruck gebracht, verfassungsrechtlich nutzt dies
aber nichts.
Der Deutsche Bundestag sollte sich beim heiklen
Thema der religiös motivierten Beschneidung von Jun-
gen im Dialog mit den Religionsgemeinschaften, den
Ärzteverbänden, den Kinderrechteverbänden etc. um
eine kultursensible Lösung bemühen, die Kinder als Trä-
ger eigener Rechte in den Mittelpunkt stellt. Der vorge-
legte Antrag wird diesem Anspruch nicht gerecht.
Anlage 12
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Jerzy Montag, Marieluise Beck
(Bremen), Cornelia Behm, Manuel Sarrazin,
Beate Walter-Rosenheimer, Daniela Wagner und
Wolfgang Wieland (alle BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN) zur Abstimmung über den Antrag:
Rechtliche Regelung der Beschneidungen von
Jungen (Zusatztagesordnungspunkt 1)
22856 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Juli 2012
(A) (C)
(D)(B)
Die Beschneidung der Penisvorhaut, medizinisch:
Zirkumzision, bei männlichen Babys und Kleinkindern
wird auch in Deutschland hunderttausendfach prakti-
ziert. Die Gründe sind unterschiedlich, Juden und Mus-
lime sehen darin ein religiöses Gebot, weil dadurch das
männliche Kind in die Glaubensgemeinschaft aufgenom-
men und ein Bund zwischen ihm und Gott geschlossen
wird. Andere Eltern lassen ihren männlichen Nachwuchs
aus hygienischen und medizinpräventiven Gründen be-
schneiden.
In juristischen Fachkreisen wird schon lange über die
Frage diskutiert, ob die Beschneidung von der Vertre-
tungsmacht der Eltern und vom ihnen zustehenden Recht
der elterlichen Sorge gedeckt ist, ob sie unter dem
Schutz der grundrechtlich geschützten freien Religions-
ausübung steht oder ob sie eine strafbare Körperverlet-
zung ist. Diese Debatte hat aber bis zum Urteil einer
kleinen Strafkammer des Landgerichts Köln im Mai die-
ses Jahres nicht zu einer Strafbarkeit der Beschneidung
durch die Justiz geführt. Ganz im Gegenteil: In der zivil-
rechtlichen und sozialrechtlichen Rechtsprechung finden
sich vereinzelt Urteile, die von einer Rechtmäßigkeit ei-
ner hygienisch einwandfrei und vom medizinisch ge-
schulten Fachpersonal durchgeführten Beschneidung
ausgehen, soweit diese auf einer einvernehmlichen Er-
klärung der sorgeberechtigten Eltern beruht.
Das Kölner Urteil hat zu einer extremen Beunruhi-
gung bei den Muslimen und Juden in Deutschland ge-
führt. Auch Berufsverbände der Medizinerinnen und
Mediziner und große Krankenhäuser sprechen von einer
Rechtsunsicherheit, der sie nicht ausgesetzt sein wollen.
Eine eindeutige Klarstellung des Gesetzgebers ist des-
halb notwendig, um den bisher bestehenden Rechtsfrie-
den in Sachen Beschneidung minderjähriger Jungen zu
erhalten. Deshalb stimme ich dem vorgelegten Antrag
zu.
Ich halte, im Gegensatz zu vielen und viel zu lauten
Stimmen aus den Religionsgemeinschaften und den Arzt-
organisationen, die Rechtslage nicht für unklar. Dem Ur-
teil eines einzelnen Richters aus Köln, welches keinerlei
Bindungswirkung entfaltet und keinerlei neue Standards
setzt und welches im Ergebnis ja sogar zu einem Frei-
spruch des angeklagten Arztes führte, wird eine Bedeu-
tung zugemessen, welche ihm nicht gebührt. Die zum
Teil hysterischen Reaktionen auf dieses Urteil gilt es
nicht zu befeuern, sondern einzuhegen.
Dabei sind die juristischen Fragen bedeutsam. Ich
stehe in voller Überzeugung zum Schutz der körperli-
chen Integrität von Kindern durch den Staat und die Ge-
meinschaft. Ich achte und befürworte das Erziehungs-
recht der Eltern, die in der Verantwortung stehen, im
Rahmen der Rechtsordnung selbstverantwortlich zu be-
stimmen, was dem Kindeswohl ihrer Kinder entspricht.
Ich wende mich auch nicht gegen die grundrechtlich ga-
rantierte Religionsfreiheit. Zwischen diesen Rechtsgü-
tern gilt es einen alle Seiten schonenden Ausgleich zu
finden.
Dabei muss uns klar sein, dass die Lösung rechtlicher
Konflikte nicht im luftleeren Raum und auch nicht in se-
minaristischen Abhandlungen gefunden werden kann.
Wir müssen die politischen und gesellschaftlichen Aus-
wirkungen auf die Betroffenen und die Gesellschaft be-
denken.
Dabei erweist sich gerade das Strafrecht als besonders
ungeeignet für den erforderlichen Ausgleich. Mit dem
Strafrecht wird gebrandmarkt, was als schlichtweg uner-
träglich und sozialethisch unakzeptabel anzusehen ist.
Ein solches Zeichen in Richtung des Islam wie des Ju-
dentums in Deutschland zu setzen, würde den Rechts-
frieden in Deutschland erheblich schwerer beeinträchti-
gen, als es das besagte Urteil aus Köln tut. Ich halte es
für politisch undenkbar, gegenüber den Muslimen in
Deutschland eine Willkommenskultur einzufordern und
das Wiederaufleben jüdischen Lebens in Deutschland
wöchentlich zu zelebrieren und diesen Menschen gleich-
zeitig mitzuteilen, dass sie mit dem Staatsanwalt und mit
Verurteilungen rechnen müssen, wenn sie die Beschnei-
dung als ein zentrales Gebot ihrer Religionen befolgen
und praktizieren.
Skeptisch bin ich gegenüber der Ankündigung, in ei-
nem Gesetz die erlaubte Zirkumzision und ihre Grenzen
festzulegen. Die erhoffte Rechtssicherheit wird ein sol-
ches Gesetz schwerlich erbringen können, weil es not-
wendigerweise mit Begriffen befrachtet wird, die selbst
wiederum durch die freie und unabhängige Justiz ausge-
füllt werden müssen. Die in Deutschland gegebene
Rechtslage hat bisher weder im Zivilrecht noch im So-
zialrecht oder im Strafrecht zu einer Ablehnung der Be-
schneidung durch ein Bundesgericht oder das Bundes-
verfassungsgericht geführt. Mehr an Rechtssicherheit
kann es in einem Rechtsstaat nicht geben. Trotzdem
stimme ich dem vorliegenden Antrag zu, weil ich ihn in
seiner Ausrichtung, eine Botschaft an die muslimischen
und jüdischen Gemeinschaften, aber auch an die Medizi-
nerinnen und Mediziner auszusenden, dass der Bundestag
als legitimiertes Gesetzgebungsorgan die medizinisch
fachgerechte und vom einvernehmlichen Elternwillen
getragene Beschneidung für grundsätzlich zulässig und
nicht für strafbar erklärt, unterstütze.
Anlage 13
Amtliche Mitteilungen
Der Bundesrat hat in seiner 898. Sitzung am 29. Juni
2012 beschlossen, den nachstehenden Gesetzen zuzu-
stimmen bzw. einen Antrag gemäß Artikel 77 Absatz 2
des Grundgesetzes nicht zu stellen bzw. einen Einspruch
gemäß Artikel 77 Absatz 3 des Grundgesetzes nicht ein-
zulegen:
– Gesetz zur Demonstration und Anwendung von
Technologien zur Abscheidung, zum Transport
und zur dauerhaften Speicherung von Kohlen-
dioxid
– Gesetz zur Förderung der Mediation und anderer
Verfahren der außergerichtlichen Konfliktbei-
legung
– Gesetz zur Änderung des Rechtsrahmens für
Strom aus solarer Strahlungsenergie und zu wei-
teren Änderungen im Recht der erneuerbaren
Energien
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Juli 2012 22857
(A) (C)
(D)(B)
– Gesetz zu dem Vertrag vom 2. März 2012 über
Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der
Wirtschafts- und Währungsunion
Der Bundesrat hat ferner die nachstehende Entschlie-
ßung gefasst:
Eckpunkte einer innerstaatlichen Umsetzung der
neuen Vorgaben des Fiskalvertrags und des Stabili-
täts- und Wachstumspaktes
Die Bewältigung der Staatsschuldenkrise macht eine
verstärkte Haushaltsdisziplin für ganz Europa unabding-
bar. Gleichzeitig ist es erforderlich, die Rahmenbedin-
gungen für nachhaltiges Wachstum und Beschäftigung
durch gezielte, strukturelle Maßnahmen zur Stärkung der
wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit und Investitionen
zur Schaffung von Arbeitsplätzen zu verbessern. Der
Fiskalvertrag stellt dabei einen wesentlichen Baustein
dar, um die Zielsetzung einer Weiterentwicklung der
Wirtschafts- und Währungsunion zu einer fiskalpoliti-
schen Stabilitätsunion dauerhaft zu verwirklichen. Der
Bundesrat bekennt sich zur gemeinsamen Verantwortung
von Bund und Ländern, die Vorgaben des Fiskalvertrags
und des reformierten Stabilitäts- und Wachstumspaktes
zu erfüllen. Der Bundesrat begrüßt, dass Deutschland
mit den verfassungsrechtlich verankerten Schuldenre-
geln und der begleitenden Einrichtung des Stabilitätsrats
bereits umfassende institutionelle und rechtliche Rege-
lungen verabschiedet hat, die die langfristige Tragfähig-
keit der Haushalte von Bund und Ländern sichern.
Hinsichtlich der innerstaatlichen Umsetzung der Vor-
gaben des Fiskalvertrags und des Stabilitäts- und Wachs-
tumspaktes, SWP, weist der Bundesrat darauf hin, dass
Bund und Länder am 24. Juni 2012 folgende Eckpunkte
vereinbart haben:
– Durch den Fiskalpakt sowie die noch ausstehende
Konkretisierung bestimmter Vorgaben durch die
Kommission werden keine Anforderungen begrün-
det, die über die Vorgaben des verfassungsrechtli-
chen Rahmenwerks zur Begrenzung der Neuver-
schuldung in den Haushalten von Bund und Ländern
hinausgehen.
– Die innerstaatliche Umsetzung geschieht durch Festle-
gung der Obergrenze für das gesamtstaatliche struk-
turelle Defizit von maximal 0,5 Prozent des BIP ent-
sprechend den Vorgaben des Fiskalvertrags und des
Stabilitäts- und Wachstumspaktes im Haushaltsgrund-
sätzegesetz. Durch die noch zu konkretisierende inner-
staatliche Umsetzung wird die Haushaltsautonomie
von Bund und Ländern nicht beeinträchtigt werden.
– Zur Erfüllung der Vorgaben des Fiskalpaktes tragen
die Länder ausschließlich im Rahmen ihrer verfas-
sungsrechtlich garantierten Haushaltsautonomie durch
die Einhaltung ihrer bestehenden Verpflichtungen
aus Artikel 109 Absatz 3 und Artikel 143d Absatz 1
Satz 4 des Grundgesetzes bei. Die Länder treffen
keine darüber hinausgehenden Verpflichtungen. Ins-
besondere wird die den Ländern durch Artikel 143d
Absatz 1 Satz 3 und Satz 4 des Grundgesetzes einge-
räumte Handlungsfreiheit beachtet. Die Haushalte
der Länder sind so aufzustellen, dass im Haushalts-
jahr 2020 die Vorgabe aus Artikel 109 Absatz 3
Satz 5 des Grundgesetzes erfüllt wird. Die Vereinba-
rungen mit den Konsolidierungshilfeländern beste-
hen unverändert fort.
– Der Stabilitätsrat überwacht die Einhaltung der ge-
samtstaatlichen Defizitobergrenze. Bund und Länder
werden im Stabilitätsrat zusammenwirken, um einer
Überschreitung der gesamtstaatlichen Defizitober-
grenze nach Artikel 3 des Fiskalvertrags entgegenzu-
wirken. Im Rahmen der innerstaatlichen Umsetzung
des Fiskalvertrags sind die hierfür notwendigen Än-
derungen des Stabilitätsratsgesetzes vorzunehmen.
– Der Bund haftet im Fiskalvertrag im Außenverhält-
nis. Er ist bereit, für den Zeitraum bis 2019 das Ri-
siko etwaiger Sanktionszahlungen hinsichtlich des
präventiven Arms des SWP zu übernehmen.
– Intelligentes Schuldenmanagement:
Angesichts des Fiskalpaktes und des Verschuldungs-
verbots für die Länder ab 2020 können zukünftig ge-
meinsame Anleihen von Bund und Ländern vernünf-
tig sein. Vor diesem Hintergrund wird der Bund
zusammen mit den Ländern die Voraussetzungen da-
für schaffen, dass eine gemeinsame Kreditaufnahme
von Bund und Ländern („Huckepackverfahren“)
möglich ist. Eine erste Anleihe soll in 2013 emittiert
werden.
– Bund und Länder stimmen darin überein, dass der
Entwicklung der Sozialversicherungen und der kom-
munalen Finanzen bei der Einhaltung des Fiskalpak-
tes eine wichtige Rolle zufällt. Die Entwicklung der
Sozialversicherungen liegt dabei in der Verantwor-
tung des Bundes. Die Länder tragen im Rahmen des
Fiskalvertrags die Verantwortung für ihre Kommu-
nen. Infolge der expliziten Einbeziehung der kom-
munalen Verschuldung in die Defizitobergrenze des
Fiskalpaktes – im Gegensatz zur deutschen Schul-
denbremse – werden die Länder in ihrer Konsolidie-
rungspolitik vor deutlich größere Herausforderun-
gen gestellt. Deshalb werden Bund und Länder unter
Einbeziehung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen
ein neues Bundesleistungsgesetz in der nächsten Le-
gislaturperiode erarbeiten und in Kraft setzen, das die
rechtlichen Vorschriften zur Eingliederungshilfe in
der bisherigen Form ablöst.
– Bund und Länder stimmen darin überein, dass eine
Entscheidung über die Höhe der vom Bund für den
Zeitraum 2014 bis 2019 zur Aufgabenerfüllung der
Länder zu zahlenden Kompensationen nach Arti-
kel 143c des Grundgesetzes („Entflechtungsmittel“,
zum Beispiel zur Verbesserung der kommunalen Ver-
kehrsverhältnisse) im Herbst dieses Jahres erfolgt.
– Gesetz zu dem Beschluss des Europäischen Rates
vom 25. März 2011 zur Änderung des Artikels 136
des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäi-
schen Union hinsichtlich eines Stabilitätsmecha-
nismus für die Mitgliedstaaten, deren Währung
der Euro ist
und
22858 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Juli 2012
(A) (C)
(D)(B)
Gesetz zu dem Vertrag vom 2. Februar 2012 zur
Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmecha-
nismus
und
Gesetz zur finanziellen Beteiligung am Europäi-
schen Stabilitätsmechanismus (ESM-Finanzie-
rungsgesetz – ESMFinG)
Der Bundesrat hat ferner die nachstehende Entschlie-
ßung gefasst:
1. Der Bundesrat weist darauf hin, dass das Bundesver-
fassungsgericht mit seinem Urteil vom 19. Juni 2012
die Position des Bundesrates bestätigt hat, dass Er-
richtung und Ausgestaltung des Europäischen Stabi-
litätsmechanismus eine Angelegenheit der EU im
Sinne des Artikels 23 GG sind. Nach dem Bundes-
verfassungsgericht handelt es sich auch bei völker-
rechtlichen Verträgen um eine Angelegenheit der
EU, wenn diese in einem Ergänzungs- oder sonstigen
besonderen Näheverhältnis zum Recht der EU
stehen. Der Bundesrat verweist in diesem Zusam-
menhang auf seine Stellungnahmen in der Bundes-
ratsdrucksache 369/11 (Beschluss) und Bundesrats-
drucksache 164/12 (Beschluss).
2. Der Bundesrat betrachtet durch dieses Urteil auch
seine Position als bestätigt und begrüßt, dass die Zu-
stimmung des Bundesrates zu dem Gesetz zu dem
Vertrag vom 2. Februar 2012 zur Einrichtung des
Europäischen Stabilitätsmechanismus auf Grundlage
von Artikel 23 Absatz 1 GG erfolgt. Der Bundesrat
ist weiterhin der Auffassung, dass dies auch für zu-
künftige Änderungen des ESM-Vertrages gilt und die
Nutzung von Artikel 19 ESM-Vertrag, der eine Än-
derung der Finanzhilfeinstrumente durch einstimmi-
gen Beschluss im Gouverneursrat ermöglicht, nach
dem Rechtsgedanken aus den §§ 2 bis 4, 7 und 8
IntVG voraussetzt, dass der deutsche Vertreter im
ESM hierzu zuvor durch ein Gesetz im Sinne von
Artikel 23 Absatz 1 GG ermächtigt wurde.
3. Die Zustimmung des Bundesrates zu dem vorliegen-
den Gesetzespaket erfolgt in der Erwartung, dass die
Mitwirkungsrechte von Bundestag und Bundesrat in
Angelegenheiten der EU im Lichte dieses Urteils
weiter präzisiert werden. Dies erfordert eine Anpas-
sung der Gesetze über die Zusammenarbeit von Bun-
desregierung und Deutschem Bundestag, EUZBBG,
sowie von Bund und Ländern, EUZBLG, in Angele-
genheiten der EU. Der Bundesrat erwartet, dass diese
Anpassungen zügig erfolgen, und wird hierzu eine
überarbeitete Fassung des EUZBLG einbringen.
– Gesetz zur Änderung des Bundesschuldenwesen-
gesetzes
– Gesetz über die Feststellung eines Nachtrags zum
Bundeshaushaltsplan für das Haushaltsjahr 2012
(Nachtragshaushaltsgesetz 2012)
– Gesetz zur Besteuerung von Sportwetten
Der Bundesrat hat in seiner 899. Sitzung am 6. Juli
2012 beschlossen, den nachstehenden Gesetzen zuzu-
stimmen bzw. einen Antrag gemäß Artikel 77 Absatz 2
des Grundgesetzes nicht zu stellen:
– Gesetz zur Vereinfachung des Elterngeldvollzugs
– Gesetz zur Einführung eines pauschalierenden
Entgeltsystems für psychiatrische und psycho-
somatische Einrichtungen (Psych-Entgeltgesetz –
PsychEntG)
– Gesetz zur Erweiterung der jugendrechtlichen
Handlungsmöglichkeiten
– Gesetz zur Begleitung der Reform der Bundes-
wehr (Bundeswehrreform-Begleitgesetz – BwRef-
BeglG)
– Gesetz zu dem Protokoll vom 21. Oktober 2010
zur Änderung des Übereinkommens vom 9. Fe-
bruar 1994 über die Erhebung von Gebühren für
die Benutzung bestimmter Straßen mit schweren
Nutzfahrzeugen
– Achtes Gesetz zur Änderung eisenbahnrechtli-
cher Vorschriften
– Gesetz zu dem Übereinkommen vom 4. Oktober
2003 zur Gründung des Globalen Treuhandfonds
für Nutzpflanzenvielfalt
– Gesetz zu dem Markenrechtsvertrag von Singa-
pur vom 27. März 2006
– Gesetz zur Verbesserung der Bekämpfung des
Rechtsextremismus
Der Bundesrat hat ferner die nachstehende Entschlie-
ßung gefasst:
Der Bundesrat begrüßt das Gesetz zur Verbesserung
der Bekämpfung des Rechtsextremismus. Mit der Er-
richtung einer gemeinsamen Datei von Polizeibehörden
und Nachrichtendiensten wird auch eine wichtige und
richtige Konsequenz aus der unzureichenden Aufklärung
der NSU-Mordserie gezogen.
Dem Bundesrat erscheinen allerdings die behördli-
chen Befugnisse teilweise nicht weitgehend genug. Ins-
besondere reichen die vorgesehenen Befugnisse nicht
aus, um die Verbunddatei NADIS-neu als umfassendes
Analyseinstrument nutzen zu können. Zudem wird es im
Zusammenhang mit waffenrechtlichen Erlaubnissen als
geboten angesehen, auch Abfragen bei den Verfassungs-
schutzbehörden einzuführen.
Der Bundesrat hält damit an seiner in der 893. Sitzung
am 2. März 2012 beschlossenen Stellungnahme fest
(Bundesratsdrucksache 31/12 (Beschluss)) und bittet
Bundestag und Bundesregierung, diese Anliegen in
nachfolgenden Gesetzgebungsverfahren umzusetzen.
– Bundesbesoldungs- und -versorgungsanpassungs-
gesetz 2012/2013 (BBVAnpG 2012/2013)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 189. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Juli 2012 22859
(A) (C)
(D)(B)
Die Vorsitzende des Haushaltsausschusses hat mitge-
teilt, dass der Ausschuss gemäß § 80 Absatz 3 Satz 2 der
Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu den
nachstehenden Vorlagen absieht:
– Unterrichtung durch die Bundesregierung
Haushaltsführung 2010
Über- und außerplanmäßige Ausgaben und Verpflich-
tungsermächtigungen im ersten Vierteljahr des Haus-
haltsjahres 2010
– Drucksachen 17/2123, 17/2373 Nr. 1.3 –
– Unterrichtung durch die Bundesregierung
Haushaltsführung 2010
Über- und außerplanmäßige Ausgaben und Verpflich-
tungsermächtigungen im zweiten Vierteljahr des Haus-
haltsjahres 2010
– Drucksachen 17/2689, 17/2971 Nr. 1.12 –
– Unterrichtung durch die Bundesregierung
Haushaltsführung 2010
Über- und außerplanmäßige Ausgaben und Verpflich-
tungsermächtigungen im dritten Vierteljahr des Haus-
haltsjahres 2010
– Drucksachen 17/3781, 17/3956 Nr. 1.5 –
– Unterrichtung durch die Bundesregierung
Haushaltsführung 2010
Über- und außerplanmäßige Ausgaben und Verpflich-
tungsermächtigungen im vierten Vierteljahr des Haus-
haltsjahres 2010
– Drucksachen 17/5647, 17/5820 Nr. 1.9 –
189. Sitzung
Inhaltsverzeichnis
TOP 1Regierungserklärung zur Sicherung der Stabilität der Eurozone – Finanzhilfen für Spanien
ZP 1Rechtliche Regelung der Beschneidung minderjähriger Jungen
Anlagen