Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 188. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Juni 2012 22751
(A) (C)
(D)(B)
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Anlage 2
Erklärungen nach § 31 GO
zu:
– namentliche Abstimmung über den Entwurf
eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 2. März
2012 über Stabilität, Koordinierung und
Steuerung in der Wirtschafts- und Wäh-
rungsunion
– namentliche Abstimmung über den Entwurf
eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 2. Fe-
bruar 2012 zur Einrichtung des Europäi-
schen Stabilitätsmechanismus
– namentliche Abstimmung über den Entwurf
eines Gesetzes zur finanziellen Beteiligung
am Europäischen Stabilitätsmechanismus
(ESM-Finanzierungsgesetz – ESMFinG)
– namentliche Abstimmung über den Entwurf
eines Gesetzes zu dem Beschluss des Euro-
päischen Rates vom 25. März 2011 zur Än-
derung des Artikels 136 des Vertrags über
die Arbeitsweise der Europäischen Union
hinsichtlich eines Stabilitätsmechanismus
für die Mitgliedstaaten, deren Währung der
Euro ist
(Tagesordnungspunkt 50 a bis e)
Veronika Bellmann (CDU/CSU): Ich werde dem
oben genannten Gesetz nicht zustimmen.
Heute treffen wir eine Richtungsentscheidung. Es
geht um die Frage, welche Gestalt das politische Europa
annehmen soll. Es geht um die Frage seiner Organisation
und die Frage, wo seine politischen Kompetenzen ange-
siedelt sein sollen. Es geht daher um die Frage, ob
Europa zentral oder dezentral organisiert wird und auf
welcher Ebene seinen Kern der Staatlichkeit liegt. Ge-
nau diese Entscheidung trifft heute das Parlament. Das
ist nicht zulässig, denn die Verlagerung des Kerns demo-
kratischer Staatlichkeit lässt das geltende Grundgesetz
nicht zu. Man kann nicht einmal das Grundgesetz dahin
gehend ändern. Dennoch wird heute die Überführung
von Staatlichkeit an eine höhere Ebene entschieden.
Diese höhere Ebene ist indes nicht die Europäische
Union, sondern ein neuer Euro-Staat, der keine Vorbilder
kennt.
Über diesen Umstand spricht niemand, weil die Dis-
kussion um die vorgebliche Rettung des Euro durch Fis-
kalvertrag und ESM den Blick auf die wahre Bedeutung
der heutigen Entscheidung im Plenum verstellt. Ich halte
dies für einen Fehler. Die Entscheidung über die Ver-
schiebung von Staatlichkeit von Deutschland in den
neuen Euro-Staat darf nicht unter dem Deckmantel von
ESM und Fiskalvertrag gefällt werden. Sie muss viel-
mehr als solche deutlich bezeichnet und mit mindestens
gleicher rechtlicher Qualität wie die über den Vertrag
von Lissabon getroffen werden.
Die heutige Entscheidung ist daher ein absoluter Tief-
punkt in der Geschichte des Deutschen Bundestages.
Niemals zuvor wurde eine bedeutendere Entscheidung
unter so falschen Voraussetzungen getroffen. In unser
Bewusstsein muss gerückt werden, dass der Deutsche
Bundestag mit der Zustimmung zum ESM auf sein Bud-
getrecht – das Königsrecht – bereitwillig verzichtet. Das
Budgetrecht ist Königsrecht, weil ein Parlament ohne
eine Letztentscheidungshoheit über Haushaltsmittel kas-
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Bär, Dorothee CDU/CSU 29.06.2012
Bätzing-Lichtenthäler,
Sabine
SPD 29.06.2012
Bockhahn, Steffen DIE LINKE 29.06.2012
Brandner, Klaus SPD 29.06.2012
Brinkmann
(Hildesheim),
Bernhard
SPD 29.06.2012
Granold, Ute CDU/CSU 29.06.2012
Hempelmann, Rolf SPD 29.06.2012
Kolbe (Leipzig),
Daniela
SPD 29.06.2012
Kramme, Anette SPD 29.06.2012
Krumwiede, Agnes BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
29.06.2012
Lay, Caren DIE LINKE 29.06.2012
Liebich, Stefan DIE LINKE 29.06.2012
Luksic, Oliver FDP 29.06.2012
Maisch, Nicole BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
29.06.2012
Nietan, Dietmar SPD 29.06.2012
Schmidt (Eisleben),
Silvia
SPD 29.06.2012
Walter-Rosenheimer,
Beate
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
29.06.2012
Zapf, Uta SPD 29.06.2012
Anlagen
22752 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 188. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Juni 2012
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triert, also seiner eigentlichen Aufgabe beraubt ist. Eine
Demokratie ist nicht denkbar ohne ein Parlament mit
voller Budgethoheit. Aus diesem Grund schlussfolgert
das Bundesverfassungsgericht aus Art. 38 GG, dass der
Bestimmungsgehalt des Demokratieprinzips missachtet
wird, wenn das parlamentarische Budgetrecht entleert
wird.
Indes führt der ESM aus sowohl rechtlichen wie öko-
nomischen Gründen zu unabsehbaren und unbegrenzten
finanziellen Verpflichtungen Deutschlands. Dadurch
saugt er das Budgetrecht des Bundestages aus und hin-
terlässt nicht mehr als dessen leere Hülle.
Rechtliche Grenzen sind dem Zugriff des ESM auf
den Bundeshaushalt nicht gesetzt. Denn die haushalts-
rechtliche Beschränkung auf 190 Milliarden Euro wirkt
nicht. Nach dem Vertrag über den Europäischen Stabili-
tätsmechanismus sind alle Entscheidungen seiner Gre-
mien völkerrechtlich verbindlich, bis auf die Erhöhung
des genehmigten Kapitals nach Art. 10 Abs. 1 ESMV.
Sie wird erst wirksam mit einer bundesgesetzlichen Er-
mächtigung zur Bereitstellung neuer Mittel für den
ESM. Doch diese einzige Vorkehrung gegen eine unge-
wollte völkerrechtlich begründete Zahlungspflicht reicht
nicht aus, wenn Deutschland auch auf andere Art und
Weise zur Zahlung verpflichtet werden kann. Dies ist
erstens der Fall beim Abruf genehmigten Kapitals zu
einem höheren Ausgabepreis als zum Nennwert.
Deutschland ist verpflichtet, jedem Abruf des genehmig-
ten Kapitals nachzukommen, selbst wenn dieses mit
einem Aufgeld auf den Nennwert, also zu einem höheren
Ausgabepreis erfolgt. Dadurch entsteht eine völkerrecht-
lich wirksame Zahlungspflicht, die Deutschland erfüllen
muss, selbst wenn ihre Höhe die haushaltsrechtliche
Vorsorge von 190 Milliarden Euro übersteigt. Dies ist
zweitens der Fall, wenn ein erhöhter Kapitalabruf zur
Verlustdeckung erfolgt, mit dem die Nichterfüllung der
Zahlungspflicht eines anderen ESM-Mitglieds ausgegli-
chen wird. Deutschland hat in diesen Fällen kein oder
jedenfalls kein abschließendes Vetorecht, da einerseits
Streitigkeiten über den Bestand von Zahlungspflichten
in letzter Instanz vom EuGH entschieden werden und
andererseits mit dem bestimmungsgemäßen Eintritt wei-
terer Staaten zur Euro-Zone der deutsche Kapitalanteil
am ESM absinken wird, wodurch sich die Sperrminorität
in Luft auflöst.
Ökonomisch und rechtlich zwingt uns der ESM mit
seinem Haftungs- und Leistungsautomatismus in eine
Transferunion. Denn jede Anleihe, die er auflegt, um
damit die Schuldenstaaten zu finanzieren, ist ein Euro-
Bond. Alle ESM-Mitglieder haften gemeinschaftlich mit
dem Vermögen des ESM. Die Anleihen des ESM wer-
den wegen der gemeinschaftlichen Haftung und größe-
ren Sicherheit attraktiver sein als die Anleihen seiner
Mitglieder. Die Nachfrage nach Staatsanleihen wird sin-
ken, wodurch die von den Mitgliedstaaten geforderten
Zinsen steigen werden. Das drängt weitere ESM-Mit-
glieder in Hilfsprogramme des ESM. Die Darlehen, die
der ESM an diese Schuldenländer vergibt, sind vorran-
gig gegenüber anderen Staatsschulden zu bedienen. Das
verteuert die Kreditaufnahme für die Programmländer
zusätzlich. Wenn ein ESM-Mitglied auch nur ein einzi-
ges Mal ein Darlehen vom ESM bekommen hat, wird es
sich nie mehr eigenständig am Kapitalmarkt finanzieren
können, weil seine Refinanzierung teurer und nicht billi-
ger wird. Andererseits bringen die Anpassungspro-
gramme des ESM geringere Sanierungsanreize als hohe
Kapitalmarktzinsen. Griechenland, Irland und Portugal
liegen jeweils hinter den Zielen ihres Anpassungspro-
gramms zurück. Das ist kein unglücklicher Zufall, son-
dern das zu erwartende ökonomische Ergebnis, wenn ein
Land sich nicht am Kapitalmarkt finanzieren muss. Der
ESM wird sich daher stetig ausweiten, schon bald die
Rolle einer europäischen Schuldenagentur einnehmen
und größeren Kapitalbedarf haben. Der ESM ist kein
Rettungsschirm, sondern ein Ansteckungsmechanismus.
Nicht das Fehlen der politischen Union bei Gründung
der Währungsunion war der Fehler, sondern der ab-
sichtsvolle Verstoß gegen die Nichtbeistandsklausel im
Jahr 2010. Dieser Rechtsbruch hat die aktuelle Krise ge-
radezu ausgelöst. Mit dem ESM wird diese Krise nicht
bekämpft, sondern die Saat gelegt, aus der die Schulden-
und Transferunion heranwachsen wird. Die Haftungsge-
meinschaft der ESM-Mitglieder ist nicht Zukunftsmusik,
sondern Gegenwart. Denn der ESM verfolgt ausweislich
seines Vertragsstatuts nicht nur den Zweck, die Euro-
Zone zu schützen, sondern auch die Finanzstabilität aller
seiner Mitgliedstaaten. Der ESM wird dadurch die
Staatsinsolvenz jedes einzelnen seiner Mitgliedstaaten
verhindern und als gemeinsame Bank zur Staatsschul-
denfinanzierung dienen. Dadurch werden Staatsinsol-
venzen innerhalb der Euro-Zone faktisch unmöglich.
Wenn die einzelnen Mitgliedstaaten nicht mehr bankrott
gehen können, dann kann nur noch der neue Euro-Staat
als Ganzes bankrott gehen. Es ist daher ökonomisch un-
vermeidlich, dass es zu einer Sozialisierung sämtlicher
Staatsschulden der ESM-Mitgliedstaaten kommen muss.
Dieser Sozialisierung des Insolvenzrisikos steht keine
adäquate Möglichkeit gegenüber, die Haushalte der Mit-
gliedstaaten zu kontrollieren. Denn der Fiskalvertrag ist
ein zahnloser Tiger, der als Medizin gegen die geradezu
perverse Anreizsituation herhalten soll, Schulden auf
Kosten der anderen Mitgliedstaaten zu machen. Doch
diese Medizin wird sich als wirkungslos erweisen. Es
gibt nur ein einziges Mittel, das Regierungen und Parla-
mente zu einem verantwortungsbewussten Umgang mit
den Staatsfinanzen veranlasst, nämlich die Drohung des
Kapitalmarkts, Schulden nicht länger zu finanzieren.
Doch genau dieses disziplinierende Mittel haben wir
plangemäß und absichtlich abgeschafft.
Die heutige Gründung des Euro-Staats als Haftungs-
union mit dem Euro-Bonds ausgebenden ESM als seiner
Schuldenagentur lehne ich ab. Dieser Euro-Staat ist
nicht demokratisch legitimiert, er hat kein Parlament,
und seine Organe sind weitgehend einer gerichtlichen
Kontrolle entzogen. Sein Machtzentrum ist eine Finanz-
institution, deren Gremien von Mitgliedern der nationa-
len Exekutiven besetzt werden. Sie müssen sich gegen-
über dem deutschen Gesetzgebungsorgan nicht
verantworten. Nicht einmal der deutsche Gouverneur
muss sich dem Bundestag verantworten, weil das Kabi-
nett nur der Bundeskanzlerin verantwortlich ist. Eine
politische Verantwortlichkeit ist daher nicht gegeben.
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Sie genießen überdies eine weitgehende und völker-
rechtlich abgesicherte strafrechtliche Immunität. Der
ESM ist ausführendes Organ des neuen Euro-Staats,
ähnelt in seiner Ausgestaltung aber einer herkömmlichen
Bank. Seine Organe unterliegen einer Schweigepflicht,
sein Archiv ist unverletzlich. In der Wirkung ist der
ESM somit durch das Bankgeheimnis geschützt, wel-
ches wir für alle anderen europäischen Banken abge-
schafft haben. Der ESM darf nicht nur Kredite vergeben
und Staatsanleihen aufkaufen, sondern alle Geschäfte in
Bezug auf Anleihen durchführen. Damit kann er den
Zins durch Geschäfte mit Derivaten auf Staatsanleihen
beliebig manipulieren. Aufgekaufte Staatsanleihen darf
er wiederum als Sicherheit hinterlegen, um sein Volu-
men durch die Aufnahme weiterer Gelder am Kapital-
markt zu hebeln. Seine Bediensteten zahlen keine Steu-
ern. Sie dürfen nach Handelserfolg bezahlt werden, also
umso höher, je größere Gewinne sie für den ESM am
Kapitalmarkt erzielen. Keines der vom ESM und seinen
Bediensteten durchgeführten Geschäfte ist transparent
oder in irgendeiner Weise kontrollierbar, sei es durch das
Parlament oder die Justiz.
Diese enorme Machtfülle eines Exekutivorgans ohne
„checks and balances“ ist ein Rückfall in eine vor-
moderne Staatsform. Sie ist ein veritabler Verstoß gegen
die hergebrachten Grundsätze der Gewaltenteilung, die
maßgebliches Kennzeichen unserer freiheitlich-demo-
kratischen Grundordnung sind. Ich kenne keine Um-
stände, unter denen wir davon auch nur ein Jota abwei-
chen dürften. Selbst in der Not gelten Gebote! Sogar und
gerade in der Not müssen Gebote gelten, denn sie sollen
genau in diesen schlechten Zeiten Orientierung geben. In
der Krise unserer Währung darf nichts anderes gelten.
Wenn die Ordnungsregeln der Währung gebrochen wer-
den, dann bricht die Währung. Ich muss daher abschlie-
ßend festhalten: Wenn Währung, Recht und freiheitlich-
demokratische Grundordnung durch politisches Handeln
gefährdet werden, dann ist dieses Handeln falsch.
Europa steht nicht unbedingt an einem Scheideweg,
ganz sicher aber an einem „Ent-Scheideweg“!
Die Kosten der kurzfristigen Euro-Stabilisierung für
den deutschen Steuerzahler sind enorm und ansteigend.
Schlägt die Rettung eines festen Euro fehl, was aufgrund
der politischen Gegebenheiten und Anreize absehbar ist,
wird Deutschland mit in den Abgrund gezogen. Eine ra-
sche Entflechtung des unseligen Euro-Konstrukts ist für
Deutschland die günstigere Lösung. Die Euro-Rettung
hat mit Ökonomie und Vernunft nichts mehr zu tun. Sie
ist mittlerweile zu einer Ideologie verkommen, die in ei-
ner Währungsunion nichts zu suchen hat. Es sei denn,
man nimmt einen Super-GAU in Kauf, der den Kollaps
Deutschlands nach sich zieht. Denn tagtäglich erhöht
sich durch die angebliche Stabilisierung der Euro-Zone
das Risiko für den deutschen Steuerzahler und seit den
gestrigen Gipfelbeschlüssen auch noch für den deut-
schen Sparer. Wir liegen mit den EZB-Verpflichtungen
in etwa bei 3,4 Billionen Euro. Mit 27,5 Prozent sind wir
auf jeden Fall beteiligt, wenn Verluste eintreten. Wenn
immer mehr Länder – Spanien, Italien, Belgien, Zypern,
Frankreich – unter die Rettungsschirme schlüpfen, steigt
der deutsche Haftungsanteil dramatisch an, gegegbenen-
falls auf 2 Billionen Euro. Jahrzehnte würden wir an die-
ser Schuld tragen und ganz sicher Steuern und andere
Einnahmen drastisch erhöhen müssen, was wiederum
die deutsche Wirtschaft in den Bankrott triebe und Infla-
tion bedeuten würde. In jedem Falle würde ein Großteil
des deutschen Sparvermögens einfach in den verschwen-
derischen Wohlfahrtsstaaten der Peripherie, in Löchern
von Bankbilanzen und Immobilienblasen verschwunden
sein.
Unter politischem Druck unterschreiben wir Schuld-
schein für Schuldschein zugunsten fremder Staaten, weil
die Solidarität und der Friede in Europa gefährdet seien.
Solidität, Eigenverantwortung und Eigenhaftung spielen
keine Rolle mehr. Wir können in Deutschland nicht
Wohlstand, Grundgesetz, Rechtsstaat und Demokratie
zugunsten eines imaginären Europas opfern und gleich
gar nicht, um eine nicht funktionierende Währungsunion
zu retten.
Wenn überhaupt, dann müssen wir das Projekt Europa
und das europäische Währungssystem, was nach den
jüngsten Erfahrungen nicht zwangsläufig eine Wäh-
rungsunion sein muss, neu verhandeln und dabei auf die
unverzichtbaren Rechte deutscher Verfassungsorgane
achten, vor allem das Haushaltrecht. Die Entscheidung
über die Zukunft der EU dürfen wir nicht Büro- und
Technokraten und auch nicht alleine den Staatschefs
überlassen. Im Sinne des Demokratieprinzips sind die
Parlamentsrechte zu verstärken und Volksabstimmun-
gen, auch über den Euro, unabdingbar. Ich stehe für ein
Europa der Vaterländer, einen Staatenbund, der mit sei-
nem freien Binnenmarkt und der verstärkten Zusammen-
arbeit ein Raum des Friedens, des Rechts, der Sicherheit
und der Demokratie bleiben soll. Ich stehe nicht für
einen Bundesstaat, in dem Gewinne privatisiert, Verluste
sozialisiert, Schulden und Risiken mit Deutschland als
Hauptverantwortungsträger vergemeinschaftet werden.
Der ESM ist der Anfang vom Ende eines solidarischen
und gleichberechtigten Europas. Deshalb lehne ich ihn
entschieden ab.
Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): Warum ich
dem Fiskalpakt und dem Europäischen Stabilitätsmecha-
nismus zustimme:
Was wir genau wissen: Seit einigen Jahren haben wir
dramatische Krisen in Europa, aber die bisherigen Maß-
nahmen der Bundesregierung, die bisherigen Verhand-
lungen, ob bilateral zwischen Merkel und Sarkozy, oder
auf EU-Gipfeln und in Räten, waren nicht ausreichend,
oft kontraproduktiv, kamen zu spät, waren zu schwach
und diplomatisch schlecht vorbereitet. Viele Maßnah-
men hätten Teil einer komplexen Lösung sein können
– deshalb haben wir auch zugestimmt –, leider sind die
Lösungsansätze der Kanzlerin in Unterkomplexen ste-
cken geblieben.
Im Ergebnis geraten die Menschen vieler Länder un-
ter extremen Druck. Die Gewinne Weniger steigen noch
immer, Arbeitslosigkeit, insbesondere Jugendarbeitslo-
sigkeit, und Armut vieler nehmen zu. Verantwortungslo-
ser Umgang mit hohen Risiken im Privaten – Banken,
Schattenbanken, Fonds, „Akteure“ im Finanzmarkt –
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hilft im Einzelfall, Einzelne zu bereichern. Zu oft müs-
sen aber die exorbitanten Verluste von Steuerzahlern
übernommen werden.
Mit dieser Erfahrung können wir, die SPD-Fraktion,
weder dem nackten Fiskalpakt noch dem nackten ESM
zustimmen. Wieder hat die Regierung Merkel vergessen,
dass Sparen allein in der Krise kein Lösungsansatz sein
kann; nicht einmal zur Senkung der staatlichen Neuver-
schuldung. Wenn die Arbeitslosigkeit steigt und das
Wirtschaftswachstum schwächelt, muss Sparen allein in
die Rezession führen. Und in Deutschland? Hätten wir
nach der Pleite von Lehman Brothers so agiert wie die
Kanzlerin nach der Griechenland-Pleite – Arbeitslosig-
keit und Wachstum wären auch hier ein riesiges
Problem. Aber in Deutschland haben wir nicht in die Re-
zession gespart, sondern mit dicken Konjunkturpro-
grammen, der Abwrackprämie und der richtig teuren
Kurzarbeiterregelung über die Krise hinweg geholfen. In
diesen Erfolgen – und wer sich erinnert, denkt an
Steinbrück, Steinmeier und Olaf Scholz – sonnt sich
heute die Kanzlerin.
Wer bei Haushaltssanierung nur an die Ausgabenseite
denkt, ist Teil des Problems. Zur Lösung gehört auch die
Einnahmeseite. Natürlich sollen jene, denen es vor, wäh-
rend und in den Krisen, womöglich noch durch die Kri-
sen, besonders gut gegangen ist, sich auch an deren Be-
kämpfung beteiligen. Ich denke an gerechte Steuern,
aber noch viel mehr an die Beteiligung derjenigen, die
durch ihre Spekulation mit dem Geld anderer Menschen
die Krise ausgelöst und ihre Verschärfung zu verantwor-
ten haben. Die Bundesregierung hat es immer noch nicht
geschafft, eigentlich auch nicht ernsthaft versucht, diese
verschiedenen losen Regulierungsstränge in die Hand zu
nehmen und zu einer integrierten Strategie zur Überwin-
dung der europäischen Schulden- und Finanzkrise zu
verknüpfen. Wir brauchen aber eine Gesamtperspektive
für den Finanzmarkt mit unterschiedlichen Werkzeugen,
die zur gleichen Zeit an unterschiedlichen Stellen anset-
zen und zusammenwirken.
Wer in einem virtuellen Spekulationsmarkt mit über
700 Billionen US-Dollar Risiken eingeht, der darf nicht
erwarten, dass jene Menschen, die reale Werte schaffen
– weltweit circa 70 Billionen US-Dollar – und Steuern
bezahlen, für die Fehlspekulationen im Investmentban-
king aufkommen. Das oberste Gebot ist es, Risiko und
Haftung, Entscheidung und Verantwortung wieder zu
verknüpfen. Wie schwer sich CDU/CSU und FDP damit
tun –, ob es um Bankenabgabe oder Finanztransaktion-
steuer geht, ob um Wachstumsimpulse für Europa oder
ein Programm gegen Jugendarbeitslosigkeit –: immer
war es ein langer Kampf, die Regierung und die Regie-
rungskoalition von solchen Maßnahmen zu überzeugen.
Im Regelfall war es so, dass die Vorschläge der SPD-
Fraktion zur Regulierung der Märkte etc. zunächst abge-
lehnt wurden, um sie dann doch zu akzeptieren. Mit
Blick auf diese Regel können wir getrost darauf warten,
bis Kanzlerin Merkel und im Gefolge auch die CDU/
CSU-FDP-Regierungskoalition den vom Sachverständi-
genrat empfohlenen Altschuldentilgungsfonds, Euro-
Bonds und ein Trennbankensystem akzeptieren werden.
Schade nur, dass solche Zickzackmanöver den Weg zur
Krisenbewältigung verlängern, komplizierter und auch
teurer machen.
Auch mit Blick auf diese Erfahrungen dürften wir we-
der dem Fiskalpakt noch dem ESM zustimmen. Aber
dürfen wir wirklich das Schicksal Europas von einer
Kanzlerin auf Zickzackkurs in Unterkomplexen abhän-
gig machen?
Ein Wort zum Fiskalpakt: Für den Fiskalpakt habe ich
eine schöne Beschreibung gelesen: Das Haus brennt
lichterloh, es sollte eilig gelöscht werden – stattdessen
nimmt man sich mit dem Fiskalpakt vor, künftig nicht
mehr mit dem Feuer zu spielen. In einigen Bürgerbriefen
wird die Sorge geäußert, mit dem Fiskalpakt, also der
Schuldenbremse in Europa, könnten die Zwangskräfte
zum Sparen so groß werden, dass die sozialen Siche-
rungssysteme unter Druck geraten, Armut und Alters-
armut in hochverschuldeten Ländern zunehmen könnten.
Deshalb wird empfohlen, den Fiskalpakt abzulehnen.
Das ist zu verstehen, und die Gefahr ist meines Erach-
tens nicht zu leugnen. Eine überbordende Staatsver-
schuldung jedoch hat im Regelfall ähnliche Effekte. Wie
wir in Griechenland gesehen haben, gibt es einen Punkt
der Staatsverschuldung, der das Gesamtsystem über
Nacht in die Insolvenz treiben kann. Ob mit oder ohne
Fiskalpakt – Schuldenbremse hinsichtlich der strukturel-
len Verschuldung –: eine solche Entwicklung muss ver-
mieden werden.
Dabei führt uns die reine Betrachtung der Staatsver-
schuldung an den Ursachen der Krisen vorbei. Peer
Steinbrück formuliert: „In diesem Zusammenhang gilt es
darauf hinzuweisen, dass keinesfalls nur Staaten mit ho-
her Verschuldung Probleme mit der Refinanzierung ihres
Staatshaushalts haben. Bis zur Finanzkrise hatten Spa-
nien (2008: 40,2 Prozent) und Irland (2008: 44,2 Pro-
zent) deutlich geringere Schuldenquoten als Deutschland
(2008: 66,7 Prozent). Die notwendigen Rettungsmaß-
nahmen im Zuge der Bankenkrise und die Bewältigung
der Konjunktureinbrüche im Anschluss daran tragen ei-
nen erheblichen Anteil an den Refinanzierungsproble-
men in einigen EU-Staaten. Die Schuld für die aktuelle
Krise einseitig den nationalen Regierungen anzuheften,
geht also fehl.“
Insgesamt ist es also fallweise viel wichtiger, sich um
die Regulierung der Banken und des Finanzplatzes zu
kümmern und darum, die „reine“ Spekulation ohne Bei-
trag zur volkswirtschaftlichen Wertschöpfung einzudäm-
men.
Exkurs: Für mich ist es eine wichtige Frage, wie das
strukturelle Defizit berechnet wird und wann welche
Konsequenzen aus den Feststellungen der EU-Kommis-
sion gezogen werden. Wenn die Folgen aus dem struktu-
rellen Finanzierungssaldo des Staatshaushalts im
europäischen Haushaltsüberwachungsverfahren zu pro-
zyklischen Maßnahmen führen, wäre das fatal. Deshalb
ist es wichtig, dass Konsequenzen bzw. Sanktionen bei
besonderen Ereignissen – Einmaleffekte – nicht greifen.
Dabei ist der strukturelle Finanzierungssaldo des Staats-
haushalts im europäischen Haushaltsüberwachungsver-
fahren der gesamtstaatliche Finanzierungssaldo – berei-
nigt um Konjuktur- und Einmaleffekte. Man könnte
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 188. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Juni 2012 22755
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sagen, die strukturellen Defizite in der Maastricht-Ab-
grenzung beziehen sich auf die Kurve des volkswirt-
schaftlichen Trendwachstums und nicht auf die Phase
der aktuellen Konjunkturlage.
Das BMF erläutert im Haushaltssauschuss am
27. Juni 2012: „Die Bereinigung um Konjunktureffekte
erfolgt mittels der von der Europäischen Kommission
angewendeten Methode, wonach sich der konjunkturell
bedingte Finanzierungssaldo als Produkt aus Budget-
elastizität und Produktionslücke ergibt. Die gesamtstaat-
liche Budgetelastizität gibt die Konjunkturreagibilität
des Staatshaushalts an; sie wurde empirisch als Durch-
schnittswert der Vergangenheit ermittelt. Die Schätzung
der Produktionslücke wird zu jeder gesamtwirtschaftli-
chen Vorausschätzung der Bundesregierung auf Basis
des Produktionsfunktionsansatzes der Europäischen
Kommission aktualisiert.
Als Einmaleffekte bezeichnet man temporäre fiskali-
sche Effekte, die keinen nachhaltigen Einfluss auf die
Situation der öffentlichen Haushalte haben. Als Bei-
spiele hierfür nennt der Verhaltenskodex zum Europäi-
schen Stabilitäts- und Wachstumspakt den Verlauf nicht-
finanzieller Forderungen, Erlöse aus der Versteigerung
öffentlicher Lizenzen, kurzfristige Kosten aufgrund von
Naturkatastrophen, Steueramnestien oder Einnahmen
aus der Übertragung von Pensionsverpflichtungen.“
In seinen grundsätzlichen Wirkungen entspricht der
Fiskalpakt der Schuldenbremse, wie sie in der deutschen
Verfassung verankert ist.
Ärgerlich, weil nichts anderes als eine primitive takti-
sche Variante der Kanzlerin, ihre eigene Regierungs-
koalition in Schach zu halten und jene in der CDU/CSU
und FDP einzubinden, die den Fiskalpakt aus allgemei-
ner Europaskepsis ablehnen wollen, ist die Forderung,
den Fiskalpakt mit einer Zweidrittelmehrheit zu ratifizie-
ren. In den Anhörungen des Bundestages wurde deut-
lich, dass der Fiskalpakt als völkerrechtlicher Vertrag
einfachgesetzlich, also mit einfacher Mehrheit ratifiziert
werden kann, also eine Zweidrittelmehrheit nicht erfor-
derlich ist. Damit wurde auch deutlich, dass das Kalkül
der Bundesregierung deutlich durch die Wahl des Ab-
stimmungsverfahrens eine Unabänderlichkeit der Rege-
lungen zur Schuldenbremse – Art. 109, 115 und 143 d
GG – zu konstruieren und damit den Verfassungsgeber
für die Zukunft zu binden. Bei einigen Kolleginnen und
Kollegen führt dieser unangemessene Übergang zu einer
„neuen Staatspraxis“ mit all seinen verfassungsrechtlich
nicht unbedenklichen Konsequenzen zur Ablehnung des
Fiskalpakts.
Pikant ist, dass der Wissenschaftliche Beirat beim
Bundesminister der Finanzen in seinem jüngsten Gut-
achten Kritik am Fiskalpakt und am sogenannten EU-
Sixpack übt, weil praktisch kein Land in Europa den er-
forderlichen Abbau der Staatsverschuldung schaffen
kann. Darin sieht der Beirat ein Glaubwürdigkeitspro-
blem mit Rückwirkungen auf den Finanzmarkt. Zur Er-
innerung: Das Europäische Parlament hat am 28. Sep-
tember 2011 das sogenannte EU-Sixpack von EU-
Währungskommissar Olli Rehn – Regeln zur Haushalts-
kontrolle und ein neues Verfahren gegen wirtschaftliche
Fehlentwicklungen – mit den Stimmen der Konservati-
ven und der Liberalen beschlossen. Sozialdemokraten
stimmten dagegen, weil einseitiges Sparen ohne Wachs-
tumskomponente schnell zu sozialen Verwerfungen füh-
ren kann. Nun haben wir also das Sixpack in Europa
ohne Beteiligung der nationalen Parlamente. Der Fiskal-
pakt hat inhaltlich eine große Ähnlichkeit mit dem Six-
pack. Den Fiskalpakt im deutschen Parlament abzuleh-
nen, wäre in dieser Hinsicht ein Symbol; denn auch ohne
Fiskalpakt gelten die meisten seiner Regeln schon durch
das Sixpack. Allerdings erhalte ich auch Post von Bürge-
rinnen und Bürgern, die großen Wert darauf legen, dass
dem Rettungsgedanken – Geld geben – der Haushalts-
sanierungsgedanke gegenübersteht. Insofern ist auch
eine Zustimmung ein Symbol im Spannungsfeld von Ge-
stalten und Sparen in den nationalen Haushalten der Mit-
gliedsländer.
Lange Zeit waren die innerstaatlichen Folgewirkun-
gen des Fiskalpakts auf die Länder und Kommunen un-
klar. Nach den Zusagen der Bundesregierung, alle durch
den Fiskalpakt induzierten Kosten für Länder und Kom-
munen zu übernehmen, haben die Länder keine fiskali-
schen Einwände gegen den Fiskalpakt und werden mei-
nes Wissens mit Zweidrittelmehrheit zustimmen.
Ein Wort zum ESM – dem Europäischen Stabilitäts-
mechanismus:
Infolge ihrer reflexartigen Verweigerungshaltung ge-
genüber sozialpolitischen, qualitativ wachstumsorien-
tierten und finanzmarktregulatorischen Vorschlägen
hatte die Kanzlerin stets nur eine Idee zur Lösung der
Krisen. Geld. Das liest sich dann als EFSF-Garantien
über 780 Milliarden Euro, EZB-Ankäufe in Höhe von
220 Milliarden Euro, IWF-Garantien im Wert von
250 Milliarden Euro, bilaterale Kredite über 110 Milliar-
den Euro, ESF-Garantien in einem Volumen von
700 Milliarden Euro, davon 80 Milliarden Euro Barmit-
tel.
Kein Gedanke an die soziale Situation: Sozialunion,
Bekämpfung der Armut, Überwindung der Arbeitslosig-
keit, Wirtschaftsförderung, Wirtschaftsunion und Kon-
junkturstimulation, Aufbau von Infrastruktur und Ver-
waltung, speziell Steuerverwaltung in Ländern mit
Vollzugsdefiziten. Es wurden Geld und Bürgschaften an
EU-Mitgliedsländer gegeben, die den Menschen, nicht
helfen konnten, wurden sie doch benötigt, um die Gläu-
biger – Spekulanten, Schattenbanken, aber auch öffentli-
che und private Banken, Versicherungen etc. – der Mit-
gliedsländer zu befriedigen. Und warum? Weil der
Eiertanz um die Beteiligung der Verursacher der Krisen
– Haircut – so lange andauerte, bis sich viele private In-
stitute von vielen Staatsanleihen, mit denen zuvor speku-
liert wurde, getrennt hatten. Erst sehr spät, zu spät und in
zu geringem Umfang wurden auch Spekulanten, Invest-
mentbanken etc. durch einen freiwilligen Forderungs-
verzicht am Schuldenabbau von zum Beispiel Griechen-
land beteiligt. Inzwischen war aber schon die EZB ohne
jede demokratische Kontrolle oder Beschlussfassung zu
einem riesigen Gläubiger geworden. Um zu verhindern,
dass der Markt, über den sich Länder Geld besorgen, zu-
sammenbricht, hat die EZB für 220 Milliarden Euro
22756 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 188. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Juni 2012
(A) (C)
(D)(B)
Staatsanleihen gekauft und für 1 Billion Liquidität zur
Verfügung gestellt; eine Notoperation als Ersatz für
Handlungsausfälle nationaler Regierungen mit zweifel-
hafter Legalität. Aber wenn es brennt, fragen wir auch
nicht, aus welchem Eimer das Löschwasser stammt. Für
diese Ankäufe und Risiken der EZB haften natürlich die
Anteilseigner der EZB, den größten Anteil hat die Deut-
sche Bundesbank mit 21 Prozent. Solche Verwerfungen
sind eine Konsequenz aus der Wankelmütigkeit einer
Kanzlerin mit dem Image der „Eisernen Lady“. Wir soll-
ten diesen deutschen Haftungsanteil an den Anleihekäu-
fen des Euro-Systems auch im Hinterkopf behalten,
wenn die Bundeskanzlerin wieder einmal Euro-Bonds
ablehnt.
Inzwischen ist die Kanzlerin umgefallen – in die rich-
tige Richtung, um von der SPD und den Grünen die
Stimmen für eine Zweidrittelmehrheit zu erhalten, eine
Mehrheit, die sie meines Erachtens taktisch fordert, weil
die Beteiligung der Opposition verhindert, dass die Re-
gierungskoalition auseinanderfliegt. Der ESM und der
Fiskalpakt werden also allein – nackt – nicht kommen.
Mit Wachstumsprogrammen, mit der Finanztransaktion-
steuer und Programmen gegen die Jugendarbeitslosig-
keit – mehr ist auf der Website der SPD-Fraktion zu fin-
den – werden der Fiskalpakt und der ESM in ein sozial-
und wirtschaftspolitisches Konzept eingebettet, das die
Hoffnung nährt, wir könnten Europa so aus der Krise
winden. Aber das geht nicht über Nacht, und selbst mit
den jetzigen Maßnahmen haben wir keine Erfolgsgaran-
tie, die Krisen zu überwinden. Wichtige Instrumente
– insbesondere solche, die den Staaten unter größtem
Druck mehr Zeit geben – fehlen noch. Mir fehlt es aller-
dings auch noch an Verbindlichkeit der Zusagen, dass
die Vorschläge der SPD-Fraktion seitens der Regierung
auch realisiert werden.
Mich ärgert, dass viel zu früh der Eindruck entstanden
ist, die SPD-Fraktion werde sowieso zustimmen. Da-
durch konnte die Kanzlerin den Eindruck erwecken, sie
habe ja schon immer Wachstumsimpulse setzen wollen,
schon immer Jugendarbeitslosigkeit im Blick gehabt,
schon immer die Finanztransaktionsteuer gewollt, schon
immer die Finanzmärkte und Finanzprodukte regulieren
wollen, und das füge ich zum besseren Verständnis die-
ser Kanzlerinnenlogik auch noch hinzu: schon immer die
Atomkraftwerke abschalten und die Wehrpflicht ab-
schaffen wollen. So gibt es fachliche, taktische und poli-
tische Gründe, die es der Opposition noch schwerer ma-
chen, dem ESM zuzustimmen.
Ich zitiere noch mal aus einem Bürgerbrief von Peer
Steinbrück: „Auch ich habe bei den Beschlüssen, die die
deutschen Steuerzahler in Mithaftung für die aktuelle
Krise nehmen, Bauchschmerzen. Sollte die eingeschla-
gene Strategie, mit den Finanzhilfen eine Stabilisierung
und Konsolidierung der Staatshaushalte in den betroffe-
nen Ländern zu erreichen, scheitern, wird der deutsche
Bundeshaushalt ohne Frage in erheblichem Maße belas-
tet.
Im konkreten Fall des ESM habe ich diese Bauch-
schmerzen jedoch nicht. Denn: Im Vergleich zu den ak-
tuellen Rettungsmaßnahmen stellt er eine deutliche Ver-
besserung dar. Der ESM überführt die provisorischen
Rettungsschirme in eine dauerhafte Institution und bietet
damit auch einen sicheren Rahmen für die Konditionie-
rung weiterer finanzieller Hilfen. Aus der hektisch ent-
worfenen provisorischen EFSF wird eine dauerhafte In-
stitution, die – ähnlich dem IWF – Staaten auf dem Weg
zu einer soliden Finanzpolitik langfristig begleitet. Der
ESM kann harte Auflagen und Bedingungen für die be-
troffenen Länder vereinbaren, aber auch Wachstum be-
fördern. Der ESM kann Not leidenden Staaten Darlehen
gewähren oder deren Staatsanleihen aufkaufen“. – So-
weit das Zitat.
Ärgerlich sind primitive Kampagnen, die auf einen
ernsthaften Abwägungsprozess in Pro und Contra ver-
zichten und mit halben oder falschen, weil aus dem Kon-
text herausgelösten Textfragmenten aus Vertragsentwür-
fen zitieren, um vielen Menschen Angst zu machen. Sie
formulieren dann nicht einmal einen eigenen Satz – ob-
wohl sie so sehr betroffen sind – und klicken sich via
Copy und Paste zu einer Massenmail an Hunderte Abge-
ordnete, oft ohne Absender, vielleicht sogar als Alias,
also anonym, und glauben ernsthaft, das würde Entschei-
dungsprozesse beeinflussen. Um Gelegenheit zu geben,
sich in die Empfängerseite einzufühlen: Solche Mails
landen im Spamfilter, werden bestenfalls in einem sepa-
raten Ordner gesammelt und gezählt, im Regelfall aber
einfach verworfen.
So erhalten wir auch ein Youtube-Video, Lobbyarbeit
von Abgeordnetencheck.de. Ich möchte nur auf einen
Aspekt eingehen, um Sie zu ermutigen, an dem Video zu
zweifeln. Wir bekommen dort den Eindruck vermittelt,
der Gouverneursrat könne bedingungslos und unwider-
ruflich Geld in beliebiger Höhe abrufen. Na ja, aber nur
insoweit zuvor genehmigt und insoweit die genehmigte
Summe noch nicht abgerufen ist. Abgesehen davon kann
überhaupt nur abgerufen werden, wenn der deutsche
Vertreter zustimmt. Er hat also eine Vetomöglichkeit. Im
Video klingt das doch anders; aber Abgeordneten-
check.de schickt seine User recht häufig auf den Pfad
der Massenpost, der gestohlenen Betroffenheit, der halb-
seidenen Informationen. Wenn ich dann die Leute an-
rufe, sind sie oft recht peinlich berührt und können die
Argumente der Plattform nicht verteidigen, fühlen sich
hinters Licht geführt.
Tatsächlich gilt gemäß Art. 9 Abs. 3 des ESM-Ver-
trags, dass der geschäftsführende Direktor Kapital von
den Mitgliedstaaten abrufen kann; wie gesagt, sofern be-
reits vom Deutschen Bundestag als zugesagt beschlossen
und noch nicht abgerufen. Eine Ausweitung des Ret-
tungsschirms über die vereinbarte Summe hinaus erfor-
dert nach Art. 10 Abs. 1 des ESM-Vertrags die erneute
Entscheidung des Bundestages. Hinzu kommen die bis-
her festgelegten Volumina aus dem deutschen Anteil der
EFSF und der Kredite aus dem Griechenland-Hilfspaket.
Der Gouverneursrat ist auch nicht ganz so frei, wie
über manche Onlineplattformen verbreitet. Der ESM,
der Notkredite und Bürgschaften zur Verfügung stellt,
beruht auf einem völkerrechtlichen Vertrag und braucht
nach Art. 59/2 Grundgesetz als Grundlage ein innerstaat-
liches Zustimmungsgesetz. In diesem Gesetz ist die
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 188. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Juni 2012 22757
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Parlamentsbeteiligung dadurch gegeben, dass die Richt-
linien, die der Gouverneursrat erlässt, vom Haushalts-
ausschuss des Bundestages kontrolliert werden. Wenn
wir bedenken, dass es hier um Wirkungen und Rückwir-
kungen mit fast 30 Staaten geht, wird schnell deutlich,
wie kompliziert die Abstimmungsprozesse sein werden.
Oder nehmen Sie die Behauptung, der Gouverneurs-
rat sei ein übermächtiges, durch nichts zu bremsendes,
fast anonym besetztes Gremium. Starke Worte im Video.
Aber der Gouverneursrat sind einfach die Finanzminis-
ter; sie müssen alle wichtigen Entscheidungen zunächst
in ihren Heimatparlamenten behandeln oder verabschie-
den. Yasmin El-Sharif schreibt bei Spiegel Online:
„Ohne Bundestag gibt es auch keinen Rettungsmecha-
nismus“. Deshalb ist es um die Souveränität der Mit-
gliedsländer auch mit ESM gut bestellt.
Auch die angeprangerte Immunität und Unantastbar-
keit verlieren ihren Schrecken, wenn wir bedenken, dass
es ohne unser Parlament, ohne nationales Recht auch
keinen ESM geben könnte. Auf dem gleichen Weg könn-
ten wir ihm seine Existenz wieder nehmen, wenn es
nicht mit rechten Dingen zugeht.
ESM-Gouverneursrat klingt so europäisch. Der Gou-
verneursrat besteht aus den Finanzministern der Mit-
gliedstaaten. Die Finanzminister sind natürlich gegen-
über ihren nationalen Parlamenten und Regierungen
rechenschaftspflichtig. Außerdem gelten entweder Ein-
stimmigkeitsprinzip oder Mehrheitsanforderungen von
85 Prozent, sodass der deutsche Finanzminister stets ein
Vetorecht hat, Art. 5 ESM-Vertrag. Mich ärgert dabei,
wie schon im Verhältnis zur Kommission und zum Rat,
dass wir bestimmte Kompetenzen abgeben – nicht an das
Europäische Parlament, sondern an Verwaltungsinstitu-
tionen, an den Beamtenapparat. Hier sind Kompetenz-
verschiebungen in Richtung Parlament, in Richtung De-
mokratie sehr wichtig.
Heute erhalte ich eine Postkarte von Attac: „Ermäch-
tigungsgesetz 2.0“. Dort wird das Ermächtigungsgesetz
aus dem Jahr 1933 in Beziehung gesetzt der Entschei-
dung über den ESM. Zur Postkarte gibt es ein Begleit-
schreiben, das, ähnlich fragmentarisch wie das oben er-
wähnte Video den ESM kritisiert. Und Attac wird „das
Abstimmungsverhalten jedes einzelnen Abgeordneten
veröffentlichen …“. Ich bin viele Jahre Mitglied bei At-
tac, weil ich schon immer eine Finanztransaktionsteuer
befürwortet habe und es für richtig halte, die Mittel im
Wesentlichen für die Armutsbekämpfung in der Welt
einzusetzen. Mit der SPD hatte Attac ja nun auch einen
Erfolg in dieser Hinsicht. Abgesehen davon, dass das
Abstimmungsverhalten im Bundestag sowieso öffentlich
ist und es nicht Attac bedarf, um hier Transparenz herzu-
stellen, ist bemerkenswert, dass bei Attac selbst irgend-
welche Arbeitsgruppen, Angestellte oder wer auch
immer ohne jegliche demokratische Rückbindung Kam-
pagnen fahren, von denen völlig unklar ist, in wessen In-
teresse und in wessen Auftrag sie erfolgen und wie sie fi-
nanziert sind? Als Mitglied frage ich Attac, wer diese
Leute eigentlich ermächtigt hat, mir solche Postkarten zu
schicken? Besonders infam wird die Kampagne auch
deshalb, weil andere Länder den ESM schon beschlos-
sen bzw. ratifiziert haben.
Leider sind manche Menschen nicht bereit, eine ab-
weichende, wenn auch begründete Entscheidung anzuer-
kennen, und werfen mir in Mails der vergangenen Tage
sogar Hochverrat vor oder drohen mir ihre Verachtung
an, für den Fall, dass ich ihre Ablehnung des ESM nicht
teile. Es wird zwar die Freiheit des Mandats beschworen,
an die Idee des unabhängigen Volksvertreters erinnert,
die Verpflichtung auf das Grundgesetz oder nationale In-
teressen eingefordert, aber wehe, der Abgeordnete ist an-
derer Ansicht.
Auch die ernsthafte Auseinandersetzung vieler Bür-
gerinnen und Bürger mit Fiskalpakt und ESM, die ihre
Bedenken über die Abgabe von Souveränitätsrechten,
ihre Sorgen um den Zusammenhalt in Europa, ihre Kri-
tik an der vermeintlichen Kritiklosigkeit der Abgeordne-
ten zum Ausdruck bringen, wird dadurch entwertet, ge-
hen im Strom der Massenmails und Kampagnen fast
unter.
Wenn ich Ihnen einen längeren Brief schreibe, soll
dies auch auf eine Entwicklung hinweisen, die ich mit
Sorge betrachte. Wir – damit meine ich mich, Sie, die
Politik, die Medien, eigentlich uns alle – erziehen uns
selbst und andere zu kurzen, knappen, (zu) einfachen
Botschaften nach dem Motto: „Ich stimme zu, weil …“;
manchmal müsste es aber richtigerweise heißen: „Ich
stimme zu, obwohl …“ – Diese Abwägung kriege ich
nicht in drei Zeilen unter. Eine Meinung zu haben, ist
meines Erachtens mehr, als Ja oder Nein sagen zu kön-
nen. Genauer über Zusammenhänge, Hintergründe, Ziele
nachzudenken, kann nicht schaden, auch wenn ich am
Ende vielleicht trotzdem nur zu einem Ergebnis komme,
das nicht gut, aber besser als die Alternativen ist.
Nachdem die Verfassungsressorts von der Verfas-
sungsfestigkeit des ESM-Ratifizierungsgesetzes und der
weiteren Begleitgesetze überzeugt sind, es aber gleich-
wohl Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht geben
soll, ist es gut, dass der Bundespräsident mit seiner Un-
terschrift unter die Gesetze noch warten will. Verfas-
sungswidrigkeit oder Verfassungskonformität wird vom
Verfassungsgericht festgestellt und liegt nicht im Ermes-
sen des Parlaments, das nach bestem Wissen und Gewis-
sen über Gesetze entscheidet.
Leider reduzieren die Absender von Massenschrei-
ben, auch einige Bürger, die individuell nachfragen,
Europa auf eine rein monetäre Angelegenheit. Das
kommt ein wenig geschichtsvergessen daher und ver-
drängt die enorme Bedeutung Europas für 60 Jahre Frie-
den, die Überwindung der deutschen Teilung und die
Entwicklung stabiler Demokratien.
Mit Blick auf diese Bedeutung Europas und mit Blick
auf die Bedeutung Europas für Deutschland stimme ich
dem Fiskalpakt und dem ESM zu. Meine diesbezügli-
chen Zweifel sind deutlich geringer als bei einer Ableh-
nung – deren langfristige Konsequenzen heute nicht ab-
schätzbar sind.
Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): Ich stimme da-
gegen, weil der Fiskalpakt die ohnehin schon bestehende
Finanzkrise der Länder und Kommunen weiter ver-
schärft. Die Folge ist, dass es noch mehr kaputte Schu-
22758 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 188. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Juni 2012
(A) (C)
(D)(B)
len, Schwimmbäder und Sportanlagen geben wird oder
sie gleich ganz geschlossen werden. Das ist unerträglich,
weil dann wieder und wieder Menschen unter den Fol-
gen der Finanzkrise leiden werden, die sie nicht verur-
sacht haben. Als Linker will ich, dass endlich diejenigen,
die schuld an der Krise sind, zur Verantwortung gezogen
werden.
Ich stimme dagegen, weil der Fiskalpakt drastischen
Sozialabbau zementiert und einen gnadenlosen Wettbe-
werb um die Demontage des Sozialstaats in Europa an-
heizt. Wer glaubt, die Idee von Europa mit immer neuen
Kürzungsdiktaten, mit Lohnkürzungen, Rentenkürzun-
gen und dem Abbau von Arbeitsrechten retten zu kön-
nen, lässt diese Idee in Wirklichkeit zu einer reinen
Marktideologie verkümmern. Diesen Weg halte ich für
grundfalsch.
Und ich stimme dagegen, weil insbesondere der Fis-
kalpakt ein Frontalangriff auf die Demokratie ist. In der
Demokratie muss es so sein, dass eine Regierung abge-
löst und ihre aus Sicht der Mehrheit falsche Politik rück-
gängig gemacht werden kann. Doch selbst wenn sich die
Mehrheit in Deutschland künftig für eine andere Politik
und eine andere Mehrheit entscheiden sollte, selbst dann
könnte eine neu gewählte Regierung den Fiskalpakt
nicht einfach kündigen. Die Schuldenbremse steht be-
reits im Grundgesetz. Doch eine neue Mehrheit könnte
sie dort wieder rausstreichen. Aber die Schuldenbremse
wird auch durch den Fiskalpakt festgeschrieben. Da der
Fiskalpakt nicht gekündigt werden kann, kann auch eine
neue Mehrheit, ein politisch anders zusammengesetztes
Parlament, ja selbst eine Volksabstimmung ihn nicht
wieder beseitigen. Das ist aus meiner Sicht ausgespro-
chen demokratiefeindlich und ein glatter Verfassungs-
bruch, an dem ich mich nicht beteiligen möchte.
Schulden müssen abgebaut werden. Kaputtkürzen ist
der falsche Weg. Stattdessen brauchen wir eine Finanz-
transaktionsteuer, eine Reichensteuer und eine Vermö-
gensabgabe auf die höchsten Geldvermögen.
Nicole Bracht-Bendt (FDP): Durch das Gesetz zur
Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus
wird der ESM als dauerhafter Rettungsschirm eingerich-
tet und institutionalisiert und so weitere Hilfsmaßnah-
men für überschuldete Euro-Staaten möglich. Ich habe
solche Hilfsmaßnahmen innerhalb der Euro-Zone bereits
in der Vergangenheit abgelehnt, weil dies meiner Auffas-
sung von Solidarität zwischen den Euro-Staaten zuwi-
derläuft. Am Beispiel Griechenlands sehen wir, dass die
eingeleiteten Rettungsmaßnahmen ohne durchgreifen-
den Erfolg blieben. Mittlerweile verschärft sich die Situa-
tion fast täglich. Zuletzt haben Spanien und Zypern die
EU um finanzielle Hilfe gebeten.
Ich habe mich klar gegen die Einrichtung eines dauer-
haften Rettungsschirms positioniert und für diese Posi-
tion beim FDP-Mitgliedsentscheid und innerhalb der
FDP-Bundestagsfraktion gekämpft. Die Mehrheit hat
anders entschieden. Das erkenne ich an.
Auch den Fiskalpakt sehe ich kritisch. Ich begrüße
ausdrücklich, dass er die Vertragsstaaten durch eine
Schuldenbremse zur Haushaltsdisziplin verpflichtet. Al-
lerdings fehlt es an verbindlichen Regelungen und Me-
chanismen, seine Einhaltung effektiv durchzusetzen.
Außerdem wurde er politisch erkauft mit der Finanz-
transaktionsteuer und den „Bundes-Bonds“, die der Ver-
schuldungspolitik einzelner Bundesländer Tür und Tor
öffnen.
Das parlamentarische Verfahren, mit dem die Ent-
scheidungen über den ESM und den Fiskalpakt nun ge-
troffen werden sollen, sehe ich kritisch. Ich teile die
Sorge des Bundesverfassungsgerichts um eine „Entparla-
mentarisierung“ von Entscheidungen in Angelegenhei-
ten der Europäischen Union. Die Verfassungsrichter haben
in ihrem Urteil vom 19. Juni 2012 die Mitwirkungs-
rechte des Deutschen Bundestages klar gestärkt. Die
Einstimmigkeit und Eindringlichkeit des Urteils machen
deutlich, wie zwingend die frühzeitige und umfassende
Information des Parlaments ist. Die Koalitionsfraktionen
haben Verbesserungen der Informations- und Unterrich-
tungspflichten in das parlamentarische Verfahren einge-
bracht, die diese Vorgaben aufgreifen. Dennoch lagen
uns Abgeordneten des Deutschen Bundestages auch
diesmal die entscheidenden Dokumente sehr spät vor.
Ich halte den eingeschlagenen Weg weiter für einen
Fehler und werde daher bei den namentlichen Abstim-
mungen über das ESM-Finanzierungsgesetz, über das
ESM-Ratifizierungsgesetz und über den Fiskalvertrag
mit Nein stimmen.
Die Gipfelerklärung der Mitglieder des Euro-Wäh-
rungsgebiets vom 29. Juni 2012 verstärkt meine Sorge
und bestätigt mich in meiner ablehnenden Haltung.
Agnes Brugger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Als
zutiefst überzeugte Europäerin ist für mich die heutige
Abstimmung zum Fiskalpakt von großer Bedeutung. Es
geht um die Frage, mit welcher Strategie die sich drama-
tisch verschärfende Schuldenkrise in Europa gelöst wer-
den kann und soll. Der Fiskalpakt gibt darauf die falsche
Antwort. Er zeigt keinen nachhaltigen Weg aus der
Schuldenkrise auf und kann sich negativ auf die wirt-
schaftliche Erholung der Krisenstaaten ebenso wie den
Wohlstand und das soziale Gleichgewicht in ganz
Europa auswirken.
Als junge Politikerin ist für mich Generationenge-
rechtigkeit ein grundlegendes Ziel, an dem sich Politik
orientieren sollte. Riesige Schuldenberge und die Ver-
schwendung von staatlichen Geldern sind nicht Aus-
druck einer zukunftsorientierten Politik. Schuldenbrem-
sen können bei richtiger Ausgestaltung und verbunden
mit anderen wirtschaftspolitischen Maßnahmen einen
Beitrag zur Konsolidierung leisten.
Als junge Politikerin und überzeugte Europäerin ma-
che ich mir vor diesem Hintergrund große Sorgen, dass
die mit dem Fiskalpakt verordnete Schuldenbremse in
den einzelnen Mitgliedstaaten dazu führt, dass das euro-
päische Projekt gerade aus Sicht der jüngeren Genera-
tion noch weiter in Gefahr gerät. Mit Blick auf die ak-
tuelle Entwicklung in Staaten wie Spanien,
Griechenland und Portugal fühle ich mich in dieser
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 188. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Juni 2012 22759
(A) (C)
(D)(B)
Sorge bestärkt. In seiner jetzigen Form, ohne flankie-
rende Maßnahmen für eine Senkung des Zinsdrucks und
eine Steigerung der Staatseinnahmen, ist der Fiskalpakt
der falsche Ansatz. Eine Politik, die einseitig auf das
Sparen setzt und zur Folge hat, dass Staaten ihre grund-
legenden Aufgaben insbesondere im Bildungs- und So-
zialbereich nicht mehr erfüllen können, hat für mich
ebenso wenig mit Generationengerechtigkeit zu tun.
Die schwarz-gelbe Bundesregierung hat diesen „Ka-
puttsparkurs“ auf der europäischen Ebene verfolgt. Des-
halb möchte ich heute bei der Abstimmung über den Fis-
kalpakt auch ein Zeichen setzen, dass diese Strategie der
deutschen Bundesregierung meine Unterstützung nicht
hat. Dieser Weg führt dazu, dass die Konzepte, die uns in
diese tiefe europäische Krise geführt haben, wieder sa-
lonfähig werden, die wahren Ursachen nicht angegangen
und die notwendigen Lösungsansätze verhindert werden.
Für nachhaltige Wege aus der Krise und die Vision eines
sozialen und demokratischen Europas haben wir Grüne
– sowohl in der Partei als auch in der Fraktion mit großer
Einigkeit – bereits viele konkrete Ideen formuliert, zu-
letzt in unserem Entschließungsantrag zur Abstimmung
über den Fiskalpakt.
Die mit dem Fiskalpakt falsch gewählte Strategie zur
Lösung der Krise hängt mit einer falschen Analyse des
Problems zusammen. Die Krise in Europa hat ihren Ur-
sprung nicht in einer gedankenlosen Ausgabenwut und
hemmungslosen Geldverschwendung der betroffenen
Staaten. Kann man beim Fall Griechenland noch davon
reden, dass die Klientelwirtschaft von Eliten auf Kosten
des Staates einen wichtigen Anteil an der desolaten
Haushaltslage hat, so ist diese verengte Analyse schon
hier nicht ausreichend, um die Lage des Landes zu erklä-
ren. Mit Bezug auf Spanien, Portugal oder Italien ist sie
einfach falsch. Es war vor allem die Finanzkrise, die
dazu führte, dass viele Staaten die Schulden ihres
Finanzsektors übernehmen mussten, um diesen vor dem
Kollaps zu bewahren. Hinzu kommt die Schwäche des
europäischen Bankensystems, die massive Überschul-
dung privater Haushalte, Immobilienblasen, massive
ökonomische Ungleichgewichte, die sich insbesondere
in der Außenhandelsbilanz äußern sowie die dramatische
Ungleichverteilung von Vermögen. Dies zu korrigieren,
müsste eigentlich im Vordergrund politischen Handelns
stehen.
Die Internationale Arbeitsorganisation warnt, dass die
Arbeitslosigkeit, insbesondere auch junger Menschen,
bis 2016 nicht sinken wird, wenn kein „dramatischer
Politikwechsel“ stattfindet. Massenarbeitslosigkeit in
diesem Ausmaß ist nicht nur für jede und jeden Einzel-
nen der Millionen betroffenen Menschen eine große Be-
lastung, sondern auch eine große Gefahr für den gesell-
schaftlichen Zusammenhalt insgesamt in Europa und die
soziale, wirtschaftliche und politische Teilhabe einer
ganzen Generation.
Zu einem deutlichen Politikwechsel gehören wirk-
same Maßnahmen zur Minderung des Zinsdrucks auf
Krisenstaaten. Ein Altschuldentilgungsfonds, wie ihn
der Sachverständigenrat der Bundesregierung vorge-
schlagen hat, eine Bankenunion und ein umfassendes
sozial-ökologisches Investitionsprogramm sind wich-
tige Bestandteile eines solchen Gesamtpakets.
Das Wachstumsprogramm, das als Ergänzung des Fis-
kalpakts beschlossen wurde, reicht nicht aus. Die Um-
widmung von Strukturfondsmitteln bringt keine zusätz-
lichen Investitionen, sondern schichtet lediglich um. Die
beabsichtigte Kapitalerhöhung der Europäischen Investi-
tionsbank und der beschlossene eng begrenzte Pilotver-
such von Projektanleihen ergeben bei einem Multiplika-
tor von circa 2 einen Impuls von rund 125 Milliarden
Euro bzw. 1,3 Prozent des EU-Bruttoinlandprodukts.
Zudem ist er auf mindestens vier Jahre verteilt und er-
reicht somit pro Jahr eine konjunkturelle Wirkung von
weit weniger als einem Prozentpunkt. Als Ausgleich der
Kürzungen in europäischen Krisenstaaten wären schät-
zungsweise 2 Prozent des EU-BIP notwendig, was rund
260 Milliarden in ein bis zwei Jahren entspräche.
Die Steuerpolitik der Bundesregierung setzt bislang
auf Steuersenkungen für Besserverdienende zulasten der
Allgemeinheit. Im Rahmen der Verhandlungen um den
Fiskalpakt ist es uns gelungen, diese Steuerpolitik aufzu-
brechen. Erstmals wurden konkrete Schritte für die Ein-
führung einer Finanztransaktionsteuer, FTT, verbindlich
vereinbart. Sie soll noch in diesem Jahr in den ersten
EU-Staaten auf den Weg gebracht werden. Nach vielen
Jahren politischen Engagements aus Zivilgesellschaft
und Parlamenten hat sich hiermit endlich eine relevante
Besteuerung des Finanzsektors durchgesetzt, mit der ein
Teil der durch den Fiskalpakt erzwungenen Konsolidie-
rung erreicht werden kann. Dies ist ein großer Erfolg.
Die positiven Ergebnisse der Verhandlungen zwi-
schen Bundesregierung und Opposition konnten nur er-
zielt werden, indem im Gegenzug eine Zustimmung zum
Fiskalpakt zugesagt wurde. Gleichzeitig bleibt der vor-
liegende Fiskalpakt, so sinnvoll Schuldenbremsen in der
richtigen Ausgestaltung und verbunden mit anderen
wirtschaftspolitischen Maßnahmen sein können, als In-
strument zur Bekämpfung der Krise der falsche Ansatz.
In abschließender Abwägung können aus meiner Sicht
die erzielten Verhandlungserfolge (insbesondere die
Finanztransaktionsteuer und das Investitionsprogramm)
die negativen ökonomischen und politischen Folgen, die
durch den Fiskalpakt in seiner jetzigen Ausgestaltung
entstehen, nicht aufwiegen.
Aufgrund der oben geschilderten inhaltlichen Argu-
mente und Überzeugungen lehne ich den Fiskalpakt, wie
er zur Abstimmung vorliegt, ab.
Christine Buchholz (DIE LINKE): Ich habe heute
gegen den von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP
eingebrachten Fiskalpakt gestimmt, weil er soziale und
demokratische Errungenschaften in ganz Europa und in
Deutschland bedroht. Der Fiskalpakt ist ein autoritärer
Vertrag, der Demokratie aushebelt und Parlamente zu-
gunsten von nicht gewählten EU-Technokraten entmach-
tet. Millionen von Arbeitnehmern in Europa wird mit
dem Fiskalpakt ein Verarmungsprogramm wie in Grie-
chenland aufgezwungen. Dort hat die Troika aus IWF,
EZB und EU-Kommission extrem unsoziale Kürzungs-
programme angeordnet. Löhne und Renten wurden dras-
22760 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 188. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Juni 2012
(A) (C)
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tisch gekürzt, öffentliches Eigentum privatisiert und Be-
schäftige im öffentlichen Dienst entlassen. Das
Gesundheitssystem kollabiert.
Nicht die griechische Bevölkerung ist Schuld an der
desolaten Situation. Die Bundesregierung musste einräu-
men, dass das Bild von den „faulen Griechen“ falsch ist.
Mit einer durchschnittlichen Wochenarbeitszeit von über
42 Stunden hielten die griechischen Arbeitnehmer schon
vor Ausbruch der Krise den Rekord in der EU. Deutsch-
land liegt mit knapp 36 Wochenstunden deutlich darun-
ter. Auch der öffentliche Sektor in Griechenland ist kei-
neswegs aufgebläht und umfasste in den Jahren 2008 bis
2011 zwischen 20,7 und 22,4 Prozent aller Beschäftig-
ten. In Deutschland lag der Anteil zwischen 24,7 und
25,6 Prozent.
Seit 2008 ist die Arbeitslosigkeit in allen EU-Ländern
mit Ausnahme von Deutschland und Luxemburg ge-
wachsen und erreichte 2011 fast 10 Prozent. Besonders
hart trifft es Jugendliche im Alter zwischen 15 und
25 Jahren. Traurige Spitzenreiter sind Spanien und Grie-
chenland mit 50 Prozent Jugendarbeitslosigkeit. Der Fis-
kalpakt ist ein Angriff auf Arbeitnehmerrechte, Löhne
und Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst. Angela Merkel
meint, die Krise in Europa mit einem Wettbewerb um
die niedrigsten Löhne überwinden zu können. Wir als
Linke streiten dagegen für einen Mindestlohn und den
Ausbau des Sozialstaats.
Durch den Fiskalpakt müssen Bund, Länder und
Kommunen auch in Deutschland ab nächstem Jahr min-
destens 25 Milliarden einsparen. In meinem Wahlkreis in
Offenbach sind wir jetzt schon mit den Auswirkungen
der klammen Kassen konfrontiert: Die Beschäftigten des
Klinikums wehren sich zu Recht gegen den Verkauf an
private Investoren. Jede Privatisierung bedeutet
Lohndumping und Personalabbau zulasten der Beschäf-
tigten und der Patienten. Der Fiskalpakt wird den Kür-
zungs- und Privatisierungsdruck in Ländern und Kom-
munen noch steigern. Der Wachstumspakt der
Bundesregierung umfasst nur 10 Milliarden, während
der Fiskalpakt europaweit 500 Milliarden Kürzungen be-
deutet.
Die Linke will die Verursacher und Profiteure der
Krise zu Kasse bitten. Die Banken und Finanzmärkte
müssen endlich entmachtet und Millionäre besteuert
werden. Meine Solidarität gilt der Bevölkerung in Grie-
chenland, Spanien und den anderen Krisenstaaten, die
sich gegen das Verarmungsprogramm wehrt. Ich möchte
kein Europa der Banken, sondern ein solidarisches Eu-
ropa, und deshalb habe ich heute gegen den Fiskalpakt
gestimmt.
Marco Bülow (SPD): Zu meinem Abstimmungsver-
halten zum heutigen Tage erkläre ich Folgendes: Ich
lehne die Gesetzentwürfe ab und möchte dazu eine per-
sönliche Erklärung zu Protokoll geben:
Ich kann dem vorliegenden Fiskalpakt und dem ESM-
Finanzierungsgesetz nicht zustimmen. Ich bin kein
Experte in diesen Fragen, habe aber versucht, mich in-
tensiv mit diesen Fragen auseinanderzusetzen. Bei allem
Respekt vor den von meiner Fraktion erreichten Verän-
derungen kann ich bei einer solch wichtigen Entschei-
dung mein Gewissen nicht ignorieren. Der Fiskalpakt
folgt einer Logik und Politik, welche die Krise auf den
Finanzmärkten und in Europa erst hervorgerufen hat. Ich
halte die Ausgestaltung für unsozial und undemokra-
tisch. Das ESM-Finanzierungsgesetz hat eine Dimen-
sion, die ich nicht überschauen kann, und die viel zu
kurze Diskussion über seine Wirkung und Konsequenz
war völlig unzureichend.
Der Fiskalpakt trägt weder zur Beruhigung der
Finanzmärkte noch zum Schuldenabbau bei und wirkt
kontraproduktiv. Das ergänzende Wachstumsprogramm
ist zwar eine wichtige Maßnahme, gleicht aber die Nach-
teile des Fiskalpaktes nicht aus.
Ich bin fest davon überzeugt, dass es intelligentere
Wege des Sparens gibt und dass ein technokratischer
Sparzwang, der wenig Rücksicht auf die soziale Situa-
tionen nimmt, sich sicher eher schädlich als nützlich aus-
wirken wird. Der Fiskalvertrag wird zu weiteren Ausga-
benkürzungen führen, welche nicht nur zu weiteren
sozialen Härten wie Sozial- und Lohnkürzungen führen
werden, sondern jede Möglichkeit auf eine notwendige
konjunkturelle Belebung zumindest bremsen werden.
Ich befürchte, dass so eine Politik Privatisierungen wei-
ter fördert und den Druck auf die Löhne erhöht. Die
Kaufkraft und Binnennachfrage würden weiter ge-
schwächt.
Die festgeschriebene europaweite Schuldenbremse
im Fiskalpakt wird zudem die öffentlichen Haushalte
weiter knebeln und vor allem die Kommunen weiter
finanziell unter Druck setzen. Ich befürchte, dass wir
dadurch in Zukunft noch weniger aktiv gestalten kön-
nen. Die Kommunen haben immer weniger Geld, um
ihre Aufgaben wahrzunehmen. Das gilt insbesondere für
die sogenannten freiwilligen Aufgaben, zum Beispiel die
Versorgung der Bevölkerung mit kulturellen Angeboten,
Sportanlagen oder Schwimmbädern. Mit der Schulden-
bremse verliert der Staat weitere Handlungsspielräume
für eine sozial gerechte Politik. Ich habe deshalb schon
im Bundestag die Schuldenbremse abgelehnt. Die euro-
päische Schuldenbremse im Fiskalpakt wäre bis 2020
noch einmal eine Verschärfung der im Bundestag be-
schlossenen deutschen Schuldenbremse.
Ich halte den Fiskalpakt und den Euro-Rettungs-
schirm ESM auch aus verfassungsrechtlichen und demo-
kratischen Gründen für problematisch. Diese wichtigen
Verträge werden erneut binnen weniger Tage zur Ab-
stimmung gestellt. In den neuen Verträgen geht es um
ungeheure Milliardensummen, es finden sich Rechts-
konstruktionen, wie sie das Recht bisher nicht kennt. Die
Eile, dieses Gesetz jetzt noch vor der Sommerpause zu
verabschieden, war nicht geboten. Es gab keine Zeit für
ausreichende und umfassende Diskussionen, die bei
solch wichtigen Gesetzen eingeräumt werden muss. Ich
glaube, dass kein Abgeordneter – vor allem, wenn er
kein Experte in diesen Fragen ist – die Konsequenzen
solcher Maßnahmen wirklich überschauen kann. Ich
halte es für unerträglich, dass der Bundestag immer häu-
figer weitreichende Gesetze in immer kürzerer Zeit und
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ohne ausreichende Beratung und Diskussion durch das
Parlament jagt. Damit werden wir unserer Verantwor-
tung als Volksvertreter nicht gerecht.
Die nationalen Parlamente können fatalerweise nichts
am Vertrag ändern, sondern nur noch Ja oder Nein sagen.
Eines der wichtigsten Rechte des Parlaments – das Haus-
haltsrecht – wird durch den Zwang, Schuldenbremsen in
die nationalen Verfassungen einzuführen, sowie durch
die automatischen Korrektur- und Sanktionsmechanis-
men massiv eingeschränkt. Bei Ländern im Defizitver-
fahren erhalten die Europäische Kommission und der
Rat künftig sogar ein Vetorecht gegenüber den nationa-
len Haushaltsplänen.
Eine ausführliche Diskussion nicht nur im Parlament,
sondern auch in der Bevölkerung wäre wünschenswert
gewesen. Der Zeitplan zur Verabschiedung dieser Ge-
setze folgt nicht dem Urteil des Bundesverfassungsge-
richts.
Auch die Kündigungsklausel ist problematisch. Da
die Aufhebung des Vertrags allenfalls einstimmig mög-
lich wäre und damit praktisch ausgeschlossen ist, gilt der
Fiskalpakt nach Inkrafttreten quasi für alle Ewigkeit.
Künftigen Generationen wird damit das Recht genom-
men, selbst über die Sinnhaftigkeit des Fiskalpakts zu
entscheiden. Das ist mit meinem demokratischen Grund-
verständnis nicht vereinbar.
Ebenfalls unvereinbar finde ich die Regelung, dass
sämtliche Entscheidungen des ESM geheim erfolgen,
dass die handelnden Organe und die Führungskräfte we-
der zivilrechtlich noch strafrechtlich für ihre Handlun-
gen belangt werden können und dass die Finanzminister
selbst darüber entscheiden, wann ein Interessenkonflikt
der Direktoren vorliegt. Der ESM hat keine Veröffent-
lichungspflichten, keine Finanzaufsicht wird ihn über-
wachen.
Wenn wir Europa bauen wollen, brauchen wir eine
sinnvolle Architektur. Europa braucht Gemeinsamkei-
ten, soziale, kulturelle, wirtschaftliche, finanzpolitische
Ideen. Mit einem Spardiktat werden die Menschen von
Europa abrücken; auch wenn man überlegt, dass euro-
päische Beamte und nicht das Europäische Parlament
über die Ausgestaltung des Fiskalpaktes entscheiden
werden.
Die Bundesregierung ist mit der Krisenbewältigung
völlig überfordert und politisch auf einem desaströsen
Kurs. Die SPD konnte in den Verhandlungen wichtige
Punkte durchsetzen, zum Beispiel die Einführung einer
Finanztransaktionsteuer. Neun EU-Partner sollen diese
Steuer ab Anfang 2013 auf den Weg bringen. Die SPD
hofft, dass damit die Verursacher der Krise substanziell
an den Kosten ihrer Überwindung beteiligt werden. Das
umfassende Modell einer Besteuerung insbesondere von
Aktien, Anleihen, Investmentanteilen, Devisentransak-
tionen sowie Derivatkontrakten liegt dabei zugrunde.
Klar ist aber nicht, wie diese Besteuerung genau ausse-
hen soll. Eine wirkungsvolle Finanztransaktionsteuer
müsste auf den Handel mit Devisen, Aktien und Anlei-
hen sowie auf die davon abgeleiteten Wertpapiere – De-
rivatgeschäfte – Steuern erheben, und zwar mit einem
Steuersatz von mindestens 0,1 Prozent. Nach den Vor-
stellungen der Kommission soll der Steuersatz auf Deri-
vatgeschäfte zum Beispiel nur 0,01 Prozent betragen.
Das wäre in dem Fall zu wenig. Auch stellt sich die
Frage, ob die durch die Steuer eingenommenen Gelder
wirklich in Zukunftsprojekte investiert werden oder nur
zur Haushaltsdeckung genutzt werden.
Zudem hat die SPD erreicht, dass die Bundesregie-
rung sich zu erheblichen Impulsen für höhere Investitio-
nen in Wachstum und Beschäftigung bekennt. Dazu ge-
hört unter anderem, dass nicht abgerufene Mittel aus den
Strukturfonds der laufenden Finanzperiode rasch und ge-
zielt für wachstums- und beschäftigungsfördernde Maß-
nahmen eingesetzt werden. Außerdem darf es bei den
Verhandlungen über den neuen mittelfristigen Finanz-
rahmen 2014 bis 2020 zu keinen Kürzungen bei den In-
vestitionen in den Struktur- und Kohäsionsfonds sowie
im Sozialfonds kommen. Weiter wird die Bundesregie-
rung eine Kapitalaufstockung der Europäischen Investi-
tionsbank um 10 Milliarden Euro anstreben, was zu In-
vestitionen von bis zu 180 Milliarden Euro führt.
Schließlich wird das Recht der Jugendlichen auf Ausbil-
dung und Arbeit gestärkt, wozu ein Ausbildungsplatz
oder ein Arbeitsangebot spätestens vier Monate nach
Verlassen der Schule oder nach Eintritt in Arbeitslosig-
keit gehört.
Auch über den Bundesrat wurden Veränderungen
erreicht. Zum Beispiel wird die verfassungsrechtlich
geschützte Haushaltsautonomie der Länder nicht be-
einträchtigt. Zudem erhalten die Länder zusätzliche
Investitionsmittel für den Kitaausbau in Höhe von
580,5 Millionen Euro und eine Erhöhung der Betriebs-
mittel um 75 Millionen Euro. Eine Neuordnung der Ein-
gliederungshilfe soll in der nächsten Legislaturperiode
erfolgen.
Aus meiner Sicht sind das wichtige Maßnahmen. Für
mich stellt sich allerdings die Frage, ob diese vereinbar-
ten Punkte auch wirklich so durchgesetzt werden. Häufig
genug wurden unter Druck Versprechungen und Verein-
barungen getroffen, die dann aber nicht in aller Konse-
quenz durchgesetzt wurden. Schon einmal hat die Bun-
desregierung versprochen, die Finanztransaktionsteuer
einzuführen, ist dann aber wieder davon abgerückt.
Ich glaube zudem, dass diese vereinbarten Punkte
nicht reichen werden, um die erheblichen Nachteile und
Risiken der vorliegenden Gesetze auszugleichen. Wir
bräuchten nachhaltige Maßnahmen, zum Beispiel einen
umfassenden Sozial- und Wachstumspakt. Ratingagentu-
ren bedürfen dringend einer gesetzlichen Regelung.
Euro-Bonds wären unter anderem auch eine faire Mög-
lichkeit, Ungleichgewichte angemessen zu verteilen. Vor
allem brauchen wir endlich eine umfassende Regulie-
rung des Finanzmarktes. Nur dann wird Europa wirklich
eine Chance haben zusammenzuwachsen. Notwendig
wäre auch eine europäische Wirtschaftsregierung, die für
eine bessere Abstimmung in der Wirtschaftspolitik und
für wirkungsvollere Verteilungs- und Ausgleichsmecha-
nismen sorgt, um die Ungleichgewichte in der EU aus-
zugleichen.
22762 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 188. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Juni 2012
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Wenn man gegen diese Verträge stimmt und der Fis-
kalpakt scheitert, wäre es kein endgültiges Scheitern.
Dann müsste neu verhandelt werden, und es würde die
Möglichkeit eröffnen, intensiver zu beraten und nachhal-
tigere Maßnahmen zu entwickeln. Zeitnot gibt es allen-
falls beim ESM, bei dem zu befürchten ist, dass er nur
ein Zwischenschritt ist und viele weitere Rettungsmaß-
nahmen noch folgen müssen.
Thomas Dörflinger (CDU/CSU): Nach den Erfah-
rungen aus der Anwendung bzw. Nichtanwendung der
Stabilitätskriterien aus dem Vertrag von Maastricht hätte
man sich für die Vorgaben des Fiskalvertrags eine we-
sentlich deutlichere Linie gewünscht. Dies gilt insbeson-
dere für die Klagemöglichkeiten vor dem Europäischen
Gerichtshof und die Sanktionen, die sich mit Verstößen
gegen den Fiskalvertrag verbinden. Leider sind die
Sanktionen, wie schon bei Maastricht, fast ausschließ-
lich materieller Natur. Zu klaren Regeln und der Einhal-
tung klarer Regeln hätte gehört, dass der andauernde
Verstoß gegen dieselben zum Beispiel den Verlust der
Stimmrechte oder auch die Möglichkeit des Ausschlus-
ses aus der Euro-Zone zur Folge haben muss. Wenn ich
dem Fiskalvertrag heute dennoch zustimme, dann in der
Anerkennung der Verhandlungsergebnisse der Bundes-
regierung, die etwa die Etablierung der Schuldenbremse
in nationalem Recht der Mitgliedstaaten bedeute. Be-
trachtet man die Positionen der Mitgliedstaaten vor dem
Eintritt in die Verhandlungen zum Fiskalvertrag, dann ist
der Verhandlungserfolg der Bundesregierung durchaus
bemerkenswert, auch wenn – wie gesagt – an einzelnen
Punkten deutlichere Regeln wünschenswert gewesen
wären. Fazit: Der Fiskalvertrag hat zwar Mängel, er deu-
tet aber wenigstens in die richtige Richtung.
Dem Gesetz über die Errichtung des Europäischen
Stabilitätsmechanismus, ESM, und den Ausführungs-
gesetzen hierzu vermag ich aber nicht zuzustimmen.
Hier wird ein Weg perpetuiert, der nach meiner Überzeu-
gung schon bei der Schaffung der Europäischen Finanz-
stabilisierungsfazilität, EFSF, falsch war. Wer sich aus
eigenem Verschulden in eine Situation manövriert hat, in
der seine Handlungsfähigkeit an den Kapitalmärkten
nicht länger gegeben ist, dem ist durch die Gewährung
neuer Kredite und Garantiezusagen nicht geholfen. Wie
auf dem privaten und unternehmerischen Sektor auch ist
dann ein Insolvenzverfahren angezeigt, verbunden mit
klaren Vorgaben zur Restrukturierung von Finanzmarkt,
Realwirtschaft und Verwaltung mit dem Ziel der Wettbe-
werbsfähigkeit. Ein solches Insolvenzverfahren für Staa-
ten liegt bis dato leider immer noch nicht vor; es hätte
längst geschaffen werden müssen, um einerseits den be-
troffenen Staaten einen Ausweg aus der Krise und einen
vernünftigen Neustart zu ermöglichen und andererseits
das klare Signal an die Märkte zu senden, dass der Euro-
Währungsraum seine eigene Existenz und sein Fortbe-
stehen durch die Schaffung klarer Regeln und die Sank-
tionierung von Verstößen sichert und sich nicht durch
das Aufspannen immer neuer und größerer Rettungs-
schirme lediglich Zeit erkauft.
Das für den Bundeshaushalt und damit für den Steu-
erzahler verbundene Risiko ist beträchtlich und aus mei-
ner Sicht nicht zu verantworten. Der Bundesrechnungs-
hof geht nach seinen jüngsten Darstellungen von einer
Summe von 310,3 Milliarden Euro aus, auf die sich die
Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland mitt-
lerweile belaufen. Auch wenn von dieser Summe bislang
nur ein vergleichsweise kleiner Teil tatsächlich kassen-
wirksam geworden ist, bestehen für mich erhebliche
Zweifel, ob die infolge der Rettungsschirme verausgab-
ten oder noch zu verausgebenden Mittel in den Bundes-
haushalt je wieder zurückfließen werden können.
Die Euro-Zone würde Glaubwürdigkeit und das Ver-
trauen der Märkte zurückgewinnen, wenn sie sich auf
ihre Stärke und ihre marktfähigen Mitglieder konzen-
trierte, und nicht, wenn sie ihre Schwächen und die
marktunfähigen Mitglieder durch die Rettungsschirmpo-
litik zu kaschieren suchte.
Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE): Ich kann
dem Gesetz zu dem Vertrag vom 2. März 2012 über Sta-
bilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts-
und Währungsunion, dem sogenannten Fiskalpakt, nicht
zustimmen.
Die Unterzeichnerstaaten sollen durch den Vertrag zu
einer dauerhaften Politik der Ausgabenkürzung und
Austerität verpflichtet werden. Dazu müssen sie Schul-
denbremsen – vorzugsweise in ihren Verfassungen – ein-
richten und Staatsschulden über 60 Prozent des Bruttoin-
landsprodukts, BIP, um jährlich 5 Prozent abbauen.
Die aufgelaufenen Staatsschulden gehen nicht auf
laxe Haushaltsführung und überhöhte Sozialausgaben
zurück, sondern auf fehlende Regulierung der Finanz-
märkte, die Abhängigkeit der Staatsfinanzen von den Fi-
nanzmärkten, die Leistungsbilanzüberschüsse innerhalb
des Euro-Raumes und die Bankenrettungspakete ab 2007.
Der Fiskalpakt wird den angestrebten Wachstumspakt
ins Leere laufen lassen. Wegen der harten Sparauflagen
wird ohnehin klammen EU-Ländern wie Griechenland
und Spanien zum Beispiel das Geld zur Kofinanzierung
der EU-Projekte fehlen. Auch werden keine neuen Gel-
der für den Wachstumspakt in die Hand genommen.
Ausreichen soll eine Absichtserklärung, die bisher in der
EU-Förderperiode bis 2013 nicht abgerufenen Gelder
umzuwidmen. Wie das Fördervolumen in der neuen Pe-
riode ab 2014 aussieht, darauf konnte die Bundesregie-
rung bisher keine Antwort geben.
Auch die von Bundesregierung, SPD und Grünen ver-
abredete Finanztransaktionsteuer wird es frühestens ab
2014 und nur in einem Teil der EU-Länder geben. Damit
fehlen aber die Einnahmen aus der Steuer für 2013. Un-
klar ist nach wie vor die Ausgestaltung der Finanztrans-
aktionsteuer. Kommt zum Beispiel nur eine Börsen-
steuer auf Aktien und Anleihen zustande, ergeben sich in
der Bundesrepublik Einnahmen von circa 2 Milliarden
Euro. Werden jedoch alle Finanzinstrumente und auch
Devisen berücksichtigt, könnten bis zu 27 Milliarden
Zusammenkommen. Das sind erhebliche Unterschiede.
Nicht der Rede wert sind auch die Zugeständnisse, die
die Bundesländer bei den Fiskalpaktverhandlungen mit
der Bundesregierung erreicht haben wollen. So war be-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 188. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Juni 2012 22763
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reits beim Hartz-IV-Kompromiss Anfang 2011 verein-
bart worden, dass der Bund die Kosten für die Grund-
sicherung im Alter übernimmt. Warum die Länder das
jetzt als Verhandlungserfolg in Sachen Fiskalpakt feiern,
erschließt sich nicht. Tatsächlich lassen die Länder ihre
Kommunen weitgehend im Regen stehen.
Leider haben es die anderen Oppositionsparteien im
Bundestag – SPD und Grüne – bei den Fiskalpaktver-
handlungen weitgehend bei einem Sturm im Wasserglas
belassen.
Alexander Funk (CDU/CSU): Mit der Einrichtung
eines sogenannten Europäischen Stabilitätsmechanismus
verstetigt die Bundesregierung ihren seit Mai 2010 ein-
geschlagenen Weg, durch Garantien und Bürgschaften
überschuldete Staaten aus der Euro-Zone weiter zu
finanzieren.
Diesen Weg kann und will ich nicht mitgehen und
lehne die zugrunde liegenden Gesetzentwürfe ab.
Ich beklage das Versagen der sogenannten parlamen-
tarischen Opposition aus SPD und Grünen; die willfäh-
rig jeder weiteren Vergrößerung der Gemeinschaftshaf-
tung das Wort redet und die Interessen unserer
Bürgerinnen und Bürger hinter eine ideologisch moti-
vierte Rhetorik von angeblicher europäischer Solidarität
stellt.
Damit und mit der Übernahme der Forderungen der
südeuropäischen Schuldenländer sind diese Kräfte mit-
verantwortlich dafür, dass selbst die großzügigen und für
mich nicht hinnehmbaren bisherigen Schuldenhaftungen
durch Deutschland als kleinlich und unzureichend darge-
stellt werden können. Eine Diskussion über mögliche
Alternativen wird und wurde durch diesen Opportunis-
mus erheblich erschwert. Vor diesem Hintergrund be-
kenne ich mich ausdrücklich zu den letzten verbliebenen
Zusagen der bürgerlichen Koalition, eine Kollektivhaf-
tung mittels Euro-Bonds, Euro-Bills oder Schuldentil-
gungsfonds entschieden abzulehnen. Ich unterstütze
darin die Haltung unserer Bundesregierung.
Die Fortführung des Bail-out-Wegs hat indes bereits
zur Übernahme von gigantischen Risiken zulasten des
Haushalts unseres Landes und seiner Bürgerinnen und
Bürger geführt. Indes bleiben die erhofften Wirkungen
der Maßnahmen aus: Die Schuldendynamik der betroffe-
nen Länder verschärft sich, Absprachen und Vereinba-
rungen können nicht eingehalten werden oder werden
willentlich gebrochen, der Rückgriff auf die EZB als
Staatsfinancier mittels Notenpresse ist zum Usus dieser
Ausrichtung geworden.
Noch vor Verabschiedung des ESM stehen mit Spa-
nien und Zypern zwei weitere Euro-Staaten vor massi-
ven Refinanzierungsproblemen. Die nächsten Jahre wer-
den nach meiner festen Überzeugung zum massiven
Abfluss der ESM-Mittel führen, ohne dass eine nachhal-
tige Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der betrof-
fenen Länder absehbar ist.
Der Kreditbedarf alleine Spaniens bis 2014 übersteigt
die Gesamtausgaben des Bundeshaushalts um beinahe
50 Milliarden Euro. Jeder, der dem ESM zustimmt,
sollte sich bereits auf eine weitere Erhöhung der Haf-
tungssummen einstellen.
Als Alternative werbe ich für folgende zehn Punkte
zur Bewältigung der Euro-Krise:
Erstens. Der temporäre Rettungsschirm EFSF muss
wie geplant 2013 auslaufen. Die dauerhafte Nachfolge-
einrichtung ESM darf es nicht geben. Jedes Mitglied der
Euro-Zone muss selbst für seine finanziellen Verpflich-
tungen einstehen. Haftung und Eigenverantwortung ge-
hören untrennbar zusammen.
Zweitens. Die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit
muss Schwerpunkt von Hilfen sein. Es darf nicht um die
Ansprüche privater Gläubiger gehen. Überschuldete
Staaten müssen sparen und gezielte Anreize für Investi-
tionen für den Wiederaufbau setzen. Dazu muss der
betroffene Staat seine Wirtschaft und Verwaltung wett-
bewerbsfähig machen. Das erfordert tiefgreifende struk-
turelle Reformen im Steuersystem und im Sozialver-
sicherungswesen, denn nur so entsteht dauerhaft
Wachstum.
Drittens. Regelverstöße müssen automatisch Konse-
quenzen haben. Der Klagemechanismus des Fiskalpakts
ist ein leeres Versprechen. Es bestehen politisch gewollte
Spielräume, um von einer Klage trotz Verstößen gegen
verbindliche Haushaltsvorgaben abzusehen. Diese Spiel-
räume werden sich nicht schließen, wenn nicht der Kreis
der vor dem EuGH zur Klage Berechtigten ausgeweitet
wird.
Viertens. Sowohl unkontrollierte Zahlungsausfälle als
auch dauerhafte Transfers über den ESM müssen ver-
mieden werden. Dazu etabliert die Euro-Zone anstelle
des ESM einen Europäischen Umschuldungsmechanis-
mus, EUM. Er erlaubt es der öffentlichen Hand in den
Krisenländern, ihre Aufgaben aufrechtzuerhalten, die
nationale Budgethoheit zu wahren und einen Ausgleich
zwischen Gläubigern und Schuldnern auszuhandeln. Der
EUM bietet den Rahmen für ein Schiedsverfahren, das
von einer unparteilichen und allgemein akzeptierten In-
stanz geleitet und durch den IWF begleitet wird. Eck-
punkte können auf dem US-lnsolvenzrecht aufbauen.
Private Gläubiger beteiligen sich unter dem Eindruck
einer möglichen Zahlungsunfähigkeit an allen Phasen
der Restrukturierung.
Fünftens. Finanzhilfen dienen lediglich als Ultima
Ratio. Sie können zeitlich befristet systemrelevante Kre-
ditinstitute rekapitalisieren sowie zur Einlagensicherung
dienen. Die zwangsweise Rekapitalisierung von Finanz-
instituten bleibt vorrangig den jeweiligen Sitzstaaten
überlassen. Sie kann nötigenfalls durch Finanzhilfen der
Euro-Staaten ergänzt werden. Diese erhalten angemes-
sene Gegenleistungen. Die bereits gewährten oder in
Aussicht gestellten Finanzhilfen sind kein Akt von euro-
päischer Solidarität. Sie entzweien uns: Die „Hilfen“
entlassen Gläubiger aus ihrer Verantwortung und gehen
zulasten der Steuerzahler.
Sechstens. Wo alle Maßnahmen nicht genügen, um zu
den Finanzmärkten zurückzukehren, muss das Ausschei-
den eines Staates aus der Euro-Zone ermöglicht werden.
22764 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 188. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Juni 2012
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Seine Wettbewerbsposition würde sich durch eine Ab-
wertung schnell spürbar verbessern. Außerdem hilft die
Aussicht auf Austritt bei den Verhandlungen der Staaten
mit ihren Gläubigern.
Siebtens. Geld- und Fiskalpolitik müssen wieder
strikt getrennt werden. Die Europäische Zentralbank hat
durch den Ankauf von Staatsanleihen und die Flutung
der Geldmärkte mit Mitteln aus den Langfristtender-
geschäften ihren Auftrag weit überdehnt. Sie finanziert
Staatsdefizite und nimmt Inflationsrisiken billigend in
Kauf. Die Geldpolitik muss der Entscheidungsmacht
politischer Mehrheiten entzogen und Inflation verhindert
werden.
Achtens. Die EZB muss die Bonitätsstandards für
Geschäftsbanken dringend überdenken und für die Tar-
get-2-Salden eine untadelige Besicherung sowie eine
marktnahe Verzinsung vorsehen. Erstrebenswert ist dazu
eine jährliche Ausgleichsverpflichtung nach dem Vor-
bild des Federal-Reserve-Systems der USA.
Neuntens. Die Stimmrechte in der EZB müssen den
Kapital- und Haftungsverhältnissen entsprechen.
Zehntens. Besonders Deutschland als stärkster Mit-
gliedstaat muss mit gutem Beispiel vorangehen und den
Stabilitätspakt endlich einhalten. Sonst ist er und sind
wir unglaubwürdig.
Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): In einer schwierigen Krisensituation hat der
Deutsche Bundestag heute mit der Entscheidung für den
ESM und den Fiskalpakt die Weichen in Richtung einer
Stabilisierung der Europäischen Union, des Euro und der
europäischen Finanzmärkte gestellt. Die gleichzeitig ge-
troffenen Vereinbarungen zur Einführung einer Finanz-
transaktionsteuer, die Zusagen für mehr nachhaltige In-
vestitionen in Klimaschutz und Energieeffizienz sowie
die stärkere parlamentarische Beteiligung bei Hilfsanträ-
gen an den ESM sind wichtige und notwendige Schritte
zur Stabilisierung der EU und zur Stärkung der Demo-
kratie. Wir stimmen damit heute über ein Maßnahmen-
paket zur wirtschaftlichen Belebung ab, das eine starke
grüne Handschrift trägt.
Die dogmatische Sparpolitik der letzten zwei Jahre
hat die Krisenstaaten nicht aus der Krise herausgeführt.
Eine tiefe Rezession, hohe Arbeitslosigkeit und am Ende
mehr statt weniger Schulden trotz aller Sparmaßnahmen
waren die Folge. Die Schuldenstände in Griechenland,
Spanien und Portugal sind nicht gefallen, sondern gestie-
gen, und die soziale Schieflage hat sich weiter ver-
schärft. Es zeigt sich: Wer nur spart, konsolidiert nicht.
Die Vereinbarungen müssen vor dem Hintergrund der
gesamtwirtschaftlichen Situation Europas sowie der glo-
balen Lage bewertet werden. Italien und Spanien haben
unverhältnismäßig hohe Refinanzierungskosten an den
Finanzmärkten. Japan und die USA, deren volkswirt-
schaftliche Kennzahlen keineswegs besser sind als die
der Euro-Zone, zahlen bei einer gleichermaßen hohen
Staatsverschuldung deutlich niedrigere Schuldzinsen.
Der Grund dafür ist einfach: Die EU und die Euro-Zone
sind anders als die Nationalstaaten Japan oder USA Zu-
sammenschlüsse von Staaten. Europa muss beweisen,
dass verschiedene Staaten gemeinsam zu entschlosse-
nem Handeln fähig sind. Der Rettungsschirm ESM in
Verbindung mit dem Fiskalpakt sind wichtige Zeichen
für ein solches entschlossenes Handeln.
Wichtige Bestandteile zur Krisenlösung sind der von
der EU beschlossene sogenannte Sixpack und die im Fis-
kalpakt verbindlich festgelegten Regeln zur Erzielung
eines ausgeglichenen Haushaltes. Sie sind eine notwen-
dige Ergänzung zum ESM. Die Mitgliedstaaten ver-
pflichten sich zur Haushaltskonsolidierung und zur Ver-
ankerung nationaler Schuldenbremsen. Die Abkehr von
der Toleranz gegenüber strukturellen Haushaltsdefiziten
ist für uns wichtig; denn nur ausreichend finanzierte
Haushalte sind nachhaltig. Eine Schuldenkrise kann man
nicht mit immer neuen Schulden bekämpfen.
In Deutschland wurde darüber hinaus sichergestellt,
dass Länder und Kommunen den Fiskalpakt mittragen
können. Auch dies ist richtig und notwendig, weil Län-
der und Kommunen im Vergleich zum Bund deutlich be-
grenztere Möglichkeiten zur Refinanzierung haben.
Zur Solidität gehört auch die Solidarität. Die Ver-
pflichtung zu mehr Haushaltsdisziplin in Verbindung mit
der Einführung einer Finanzmarkttransaktionsteuer, In-
vestitionsimpulsen für mehr wirtschaftliche Dynamik
und dem ESM stärken die wirtschaftliche Leistungsfä-
higkeit der EU und sind so in unserem ureigenen Inte-
resse. Gleichzeitig verhindern sie ein Auseinanderbre-
chen der Euro-Zone und damit einen großen Rückschritt
in der europäischen Integration mit unabsehbaren Folgen
nicht nur für die deutsche Volkswirtschaft, sondern für
Europa insgesamt. Die Ergebnisse des Euro-Gipfels vom
28. Juni 2012 gehen in die richtige Richtung, um den
Zinsdruck auf die Krisenländer zu senken und den Teu-
felskreis aus Banken- und Staatsschuldenkrise zu durch-
brechen. Wichtige Schritte zur Bereitstellung von not-
wendigen Investitionsmitteln wurden vereinbart.
Zusätzlich fordern wir weitere Schritte zur Lösung
der Euro-Krise. Ein konkreter und realistisch umsetzba-
rer Abbaupfad für die hohe Verschuldung ist zwingend
für eine erfolgreiche Bewältigung der Krise. Vorschläge
dazu liegen auf dem Tisch, wie der des Sachverständi-
genrates für einen Altschuldentilgungsfonds in der Euro-
Zone. Dabei werden wir uns auf lange Zeiträume des
Schuldenabbaus einrichten müssen. Es ist weltfremd,
wenn die Kanzlerin sich einer inhaltlichen Debatte um
konkret zu ergreifende Maßnahmen verweigert. Sie wird
in diesem Punkt umdenken müssen. Mit ihrer Weigerung
einer realistischen Altschuldenregelung gefährdet sie die
positive Wirkung von ESM und Fiskalpakt.
Zusätzlich müssen Investitionen in eine ökologische
und soziale Gesellschaft noch weiter ausgebaut werden.
Diese Investitionen erhöhen die Wettbewerbsfähigkeit
Europas und gehören zu unserer Strategie der Krisenbe-
wältigung. Nicht zuletzt müssen die demokratischen
Strukturen Europas deutlich weiterentwickelt werden.
Das Europäische Parlament muss in seiner Entschei-
dungsbefugnis gestärkt und eine geeignete Exekutive,
also eine europäische Regierung, etabliert werden. Dies
erfordert die Übertragung staatlicher Kompetenzen auf
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 188. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Juni 2012 22765
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Europa. Nur mit diesem Dreiklang aus realistischem
Schuldenabbaupfad, Stärkung von Investitionen und de-
mokratischer Entwicklung Europas wird die Krise über-
wunden werden können.
Diese Schritte können wir erst nach Lösung der ak-
tuellen Probleme gehen. Der Paradigmenwechsel in der
Haushaltspolitik ist Grundvoraussetzung für diese Lö-
sung. Deswegen stimmen wir heute für den Fiskalpakt
und den ESM zur Stabilisierung Europas. Deutschland
hat sich vor vielen Jahren für ein zusammenwachsendes
Europa entschieden. Nun gilt es, dafür einzustehen.
Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): Ich habe mit
Nein zum Fiskalvertrag und dem Vertrag über den dauer-
haften „Rettungsschirm“ ESM gestimmt – schon des-
halb, weil durch ESM- und Fiskalvertrag nicht die Mit-
gliedstaaten der EU und schon gar nicht die Menschen in
den verschiedenen Ländern gerettet, sondern die Groß-
banken und Finanzmarktzocker gesichert werden. Mit
meiner Fraktion werde ich im Organstreitverfahren und
mit Verfassungsbeschwerde das Bundesverfassungs-
gericht anrufen.
Ich habe mit Nein gestimmt, weil die Verträge gegen
das Demokratieprinzip des Grundgesetzes verstoßen.
Dieses Prinzip ist nach seinem Art. 79 Abs. 3 unabänder-
lich. Die weitgehende Übertragung des parlamentari-
schen Haushaltsrechts auf die EU-Kommission und auf
die Regierungen der Mitgliedstaaten verstößt gegen den
Grundsatz demokratischer Volkssouveränität.
Ich habe mit Nein gestimmt, weil die Verträge weiter-
hin gegen das ebenfalls verfassungsrechtlich geschützte
Sozialstaatsprinzip verstoßen. Der Fiskalpakt soll angeb-
lich ausgeglichene Haushalte durch Schuldenbremsen
sichern. Vor allem die Leistungen an wirtschaftlich und
sozial Schwache sollen eingeschränkt werden. Zusätz-
liche Staatseinnahmen werden allenfalls Lohnsteuer-
und Mehrwertsteuerzahler aufbringen, während die Rei-
chen und die Superreichen nicht zur Kasse gebeten wer-
den.
Ich habe mit Nein gestimmt, weil in den Ländern, die
Mittel aus dem ESM erhalten, Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer entlassen, ihre erkämpften sozialen
Rechte eingeschränkt werden. Die Memoranden führen
durch mangelnde Nachfrage zu weiter schrumpfendem
Wirtschaftswachstum und zu sozialem Elend.
Wer demokratische und soziale Verantwortung emp-
findet, muss Nein zu diesen Gesetzesvorlagen sagen.
Wer demokratische und soziale Verantwortung empfin-
det, muss auch die erforderlichen verfassungsrechtlichen
Schritte einleiten. Eines steht fest: Ohne die Verteidi-
gung von Demokratie und Sozialstaat wird die Europäi-
sche Union keine Zukunft haben. Dem widersetze ich
mich.
Nicole Gohlke (DIE LINKE): Ich stimme heute ge-
gen den von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP
eingebrachten Fiskalpakt, weil er soziale und demokrati-
sche Errungenschaften in ganz Europa und in Deutsch-
land bedroht. Der Fiskalpakt ist ein autoritärer Vertrag,
der die Demokratie aushebelt und Parlamente zugunsten
von nicht gewählten EU-Technokraten entmachtet. Ge-
rettet werden mit den mittlerweile kaum noch vorstell-
baren Milliardenbeträgen lediglich Banken und andere
Finanzmarktakteure. Die Zeche dafür zahlt die Bevöl-
kerung in ganz Europa durch soziale Kürzungen, Re-
zession und Arbeitslosigkeit. Um das zu verschleiern,
wurde und wird der ESM-Vertrag im Eiltempo durch die
nationalen Parlamente geschleust. Die fatale Kürzungs-
politik, die den Ländern bei Inanspruchnahme von soge-
nannten Hilfskrediten diktiert wird, soll durch den Fis-
kalpakt für alle Länder Europas unwiderruflich zur
Vorschrift werden. Ich halte das für verfassungswidrig.
Die radikal verschärfte Neuverschuldungsgrenze führt in
allen Ländern gleichzeitig zu einer deflationären Kür-
zungspolitik und wird so die Krise weiter verschärfen.
Allein Deutschland muss deshalb circa 30 Milliarden
Euro pro Jahr einsparen. Ein Kürzungsprogramm von
diesem Ausmaß werde ich niemals mittragen.
Der zunehmende Abbau sozialstaatlicher Leistungen
und die immer drastischeren Kürzungen werden sich
auch im Bildungsbereich bemerkbar machen. In Spanien
und Griechenland explodieren derzeit die Klassengrö-
ßen, und manche Schulen werden bereits geschlossen.
Die Jugendarbeitslosigkeit hat mit 50 Prozent in diesen
Ländern inzwischen Größenordnungen erreicht, dass ab-
sehbar Millionen von jungen Menschen über die kom-
menden Jahre in die totale Perspektivlosigkeit gezwun-
gen werden. Diese Auswirkungen werden auch die
Bundesrepublik treffen, da die Regierung mit dem Fis-
kalpakt den drastischen Schuldenabbau festschreibt. Der
Versuch, das für die Bankenrettung verpulverte Geld
durch immer drastischere Kürzungsprogramme einzu-
nehmen, ist nicht nur sozial ungerecht, sondern auch
volkswirtschaftlich schädlich. Aus Schulden können
sich öffentliche Haushalte nicht heraussparen. Die schon
jetzt geplanten Kürzungen und Schließungen bei Kitas,
Schulen, Hochschulen und Bibliotheken werden nicht zu
einer Lösung der Krise beitragen, sondern sie verschär-
fen. Die Bundesregierung legt damit auch ein bildungs-
politisches Kürzungsprogramm für Deutschland und
ganz Europa auf. Dabei ist doch gerade Bildung die
Grundlage für eine demokratische Entwicklung und den
sozialen Zusammenhalt.
Die Linke will die Verursacher und Profiteure der
Krise zu Kasse bitten. Dem privaten Geldvermögen von
4,7 Billionen Euro in Deutschland stehen 2 Billionen
Schulden gegenüber. Diese Krise ist keine Schulden-
krise, sondern eine Verteilungskrise. Die Banken und Fi-
nanzmärkte müssen deshalb endlich entmachtet und die
Millionäre besteuert werden. Mit meiner Gegenstimme
zum Fiskalpakt stehe ich auch an der Seite der kämpfen-
den Menschen in Griechenland, Spanien und Italien, die
sich seit Monaten mit Streiks und Massendemonstratio-
nen gegen die Abwälzung einer Politik von Korruption
und Profitgier auf ihre Schultern wehren. Meine Gegen-
stimme steht auch für den Erhalt des seit Jahrzehnten
beschnittenen Sozialstaats in Deutschland. Ich möchte
kein Europa der Banken, sondern ein solidarisches Eu-
ropa, und deshalb stimme ich heute gegen den Fiskal-
pakt!
22766 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 188. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Juni 2012
(A) (C)
(D)(B)
Josef Göppel (CDU/CSU): Deutschland übernimmt
mit dem dritten Rettungsschirm eine Garantieverpflich-
tung von rund 190 Milliarden Euro. Das entspricht
knapp 7,4 Prozent des deutschen Bruttoinlandsprodukts
im Jahr 2011. Allein das in jedem Fall einzuzahlende
Kapital beläuft sich auf gut 21,7 Milliarden Euro. Die
Übernahme dieser immensen Garantien geschieht, ohne
dass damit eine wirksame Regulierung spekulativer Fi-
nanzgeschäfte verbunden wäre.
Das Marktversagen auf dem Finanzsektor ist die we-
sentliche Ursache der gegenwärtigen Krise. Der deregu-
lierte Finanzmarkt ist der politischen Gestaltung entglit-
ten. Täglich wird an den Börsen und außerbörslich mehr
als das Hundertfache des Produktionswerts aller Güter
und Dienstleistungen der Welt gehandelt. Solche Sum-
men können mit Steuererträgen aus der Realwirtschaft
nicht mehr aufgefangen werden. Immer neue Anleihen
für immer neue Garantien treiben vielmehr die Schul-
denspirale weiter an und bieten Ansatzpunkte für neue
Spekulationsrunden. Die Rettungsmittel sind das Futter
für weitere spekulative Angriffe gegen Länder des Euro-
Verbunds.
Der beste Beweis dafür ist der Zwang zu fortlaufen-
den Erhöhungen der Bürgschaftssumme in den Jahren
seit 2008. Wenn das bloße Verlangen nach immer höhe-
ren Brandmauern eine ganze Staatengemeinschaft vor
sich hertreiben kann, dann liegt ein offenkundiger Sys-
temfehler vor. Das Kapital dominiert die Politik.
Auch der Anstieg der Staatsschulden geht zum großen
Teil auf die Bankenrettungsschirme des Jahres 2008 zu-
rück. Steuergelder aus der Realwirtschaft mussten da-
mals für die spekulative Gier von Banken und anderen
Finanzakteuren einstehen.
Deshalb ist das Aufspannen von Rettungsschirmen
ohne rechtliche Regulierung des Finanzsektors nutzlos
und nicht verantwortbar. Wir brauchen eine Finanz-
marktordnung, die spekulative Überhitzungen eingrenzt,
hochriskante Geschäfte verbietet und Finanzakteure zur
persönlichen Haftung heranzieht. Der Finanzsektor muss
seine Rettungsschirme in Zukunft selbst finanzieren.
Der wirksamste Schritt zur Stabilisierung des Finanz-
sektors ist international die Finanztransaktionsteuer. Sie
muss vor der Vergabe weiterer Bürgschaften rechtlich
verbindlich fixiert sein, damit ihre Einführung nicht wie-
der im Sande verläuft und Rettungsaktionen nicht immer
wieder verpuffen. Genau das ist aber durch das Vorzie-
hen des Beschlusses zur Errichtung des ESM nicht gege-
ben. Er schafft vollendete Tatsachen für die Zahlungs-
verpflichtungen Deutschlands, ohne die Beteiligung der
Finanzmärkte vorher abzusichern.
Die Studie der Finanzwissenschaftler Griffith-Jones
und Persaud vom Mai 2012 belegt, dass die oft behaup-
tete Verlagerung der Finanzgeschäfte aus Europa bei
Einführung einer Finanztransaktionsteuer wirksam ein-
gegrenzt werden kann. Der Ertrag der Steuer läge bei
60 Milliarden Euro jährlich. Damit würden endlich wie-
der Mittel für die Staatsaufgaben im sozialen, kulturellen
und ökologischen Bereich frei. Zusätzlich ergäben sich
positive Wachstumseffekte.
Ich bin entschieden für unsere Gemeinschaftswäh-
rung und deren Stützung. Das muss aber im Rahmen ei-
ner Finanzordnung geschehen, die den Grundwerten der
sozialen Marktwirtschaft entspricht. Das ist jetzt nicht
der Fall! Das Konzept des Europäischen Stabilisierungs-
fonds bindet in großem Umfang allgemeine Steuermit-
tel, die für andere öffentliche Aufgaben fehlen, und kon-
zentriert den Ertrag bei anonymen Finanzakteuren.
Dieser ordnungspolitischen Fehlsteuerung kann ich nicht
zustimmen. Die Politik muss ihre demokratische Gestal-
tungshoheit zurückholen, weil Machtlosigkeit gegenüber
dem Markt und die Duldung einer faktischen Nebenre-
gierung letztlich das Vertrauen in die repräsentative De-
mokratie zerstören. Die Entfesselung der Finanzmärkte
wurde mit dem Finanzmarktderegulierungsgesetz 1989
von der Politik ausgelöst. Die Politik hat deshalb auch
die Aufgabe, die dienende Funktion des Finanzsektors
für das Gemeinwohl wiederherzustellen. Der jetzt einge-
schlagene Weg schiebt eine durchgreifende Lösung auf,
anstatt sie zu beschleunigen.
Aus diesen Gründen lehne ich sowohl den Gesetzent-
wurf zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsme-
chanismus als auch den Gesetzentwurf zu seiner Finan-
zierung ab.
Annette Groth (Die Linke): Ich stimme gegen den
europäischen Fiskalpakt, da dieser Vertrag gegen demo-
kratische Prinzipien verstößt. Mit diesem Vertrag wird
die parlamentarische Demokratie deutlich eingeschränkt
und werden die öffentliche Infrastruktur und die sozialen
Errungenschaften in allen Unterzeichnerstaaten infrage
gestellt.
Dieser Vertrag ist eine deutliche Selbstentmachtung
der nationalen Parlamente und damit auch des Deut-
schen Bundestages. Das Haushaltsrecht ist eines der
wichtigsten Rechte eines Parlaments. Durch das Haus-
haltsrecht können gewählte Politikerinnen und Politiker
darüber entscheiden, welche Schwerpunkte im Haushalt
gesetzt werden und ob ein Staat zur Erreichung seiner
Ziele in einer Haushaltsperiode öffentliche Schulden
machen kann.
Durch die automatischen Sanktionsmechanismen in
diesem Vertrag wird die Möglichkeit der demokratischen
und freien Gestaltung der Haushalte in allen öffentlichen
Ebenen der Bundesrepublik, von den Kommunen bis
zum Bundeshaushalt, deutlich eingeschränkt.
Völlig inakzeptabel ist, dass bei einem Land, das sich
im sogenannten Defizitverfahren befindet, die Euro-
päische Kommission und der Rat künftig sogar ein Veto-
recht gegenüber den nationalen Haushaltsplänen erhal-
ten. Damit bekommt die Exekutive und eine nicht
demokratisch gewählte Institution wie die Europäische
Kommission Macht über die Gestaltung der Haushalte
von demokratisch gewählten Parlamenten.
Auch der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM)
ist kein Beitrag zur Überwindung der tiefen ökonomi-
schen Krise. Es handelt sich real um einen Banken-
rettungsschirm, der mit öffentlichen Mitteln der Steuer-
zahlerinnen und Steuerzahler bezahlt wird. Durch
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 188. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Juni 2012 22767
(A) (C)
(D)(B)
Sozialkürzungen und die weitere Einschränkung der öf-
fentlichen Handlungsspielräume wird ein milliarden-
schwerer Schutz für die Gewinne der Banken errichtet.
Beiden Verträgen werde ich nicht zustimmen, da
durch sie die Schaffung einer sozialen und demokra-
tischen Europäischen Union wesentlich erschwert wird.
Die wirtschafts- und finanzpolitische Ausrichtung dieser
Verträge bedient die Interessen einer bürokratischen
Elite, die von Wirtschaftslobbyisten gelenkt ist. Als
überzeugte Europäerin kann ich dem schleichenden Tod
der Demokratie in der Europäischen Union nicht zustim-
men, der durch diese Verträge befördert wird.
Petra Hinz (Essen) (SPD): Der Deutsche Bundestag
entscheidet heute über den Fiskalvertrag für mehr Haus-
haltsdisziplin in Europa und den dauerhaften Euro-Ret-
tungsschirm, dem Europäischen Stabilitätsmechanismus,
ESM. Mein Ja zum ESM und Fiskalvertrag ist jedoch
nicht ein Ja zur Merkel’schen Politik, die es bislang
nicht vermocht hat, die krisengeschüttelte EU dauerhaft
zu stabilisieren. Sie schadet mit ihren anonymen Gipfel-
treffen und ihrem nicht nachvollziehbaren Zickzackkurs
Europa und der Demokratie. Meine Zustimmung zeigt
vielmehr: Ich nehme meine Verantwortung für ein soli-
darisches und handlungsfähiges Europa auch als Opposi-
tion ernst. Dies ist nicht nur eine Entscheidung für
Deutschland, sondern eine historische Entscheidung für
ganz Europa.
Es ist ein Ja zu zwei Instrumenten gegen die Krise,
die sicher nicht in allen Belangen vollständig meinen
und sozialdemokratischen Vorstellungen entsprechen,
insbesondere der Euro-Rettungsschirm ist ein zentraler
Beitrag zur Krisenbewältigung. Ich bin davon überzeugt:
ESM und Fiskalvertrag sind nur Etappenziele auf dem
Weg zur Rettung der Euro-Zone. Zur Wahrheit gehört
auch: Von einer endgültigen Lösung der Krise sind wir
nach wie vor weit entfernt. Wir alle müssen die europäi-
sche Idee leben, doch über ihre Geschichte wird heute
kaum gesprochen. Aber jeden Tag erleben die Menschen
die überfrachtete Verwaltung und die Bürokratie der EU.
Es liegt an uns, über die eigentliche europäische Idee zu
sprechen und die Menschen für Europa zu begeistern.
Ich habe mir die Entscheidung zum Fiskalvertrag
nicht leicht gemacht. Ein Vertrag, der in strikter Haus-
haltsdisziplin und massivem Schuldenabbau die Lösung
aller Probleme der Euro-Zone sieht, trägt alles andere als
eine sozialdemokratische Handschrift. Ein kategorisches
Nein zum Fiskalvertrag wäre aber das falsche Signal in
der Krise: Für mich ist unbestritten, dass die Euro-Staa-
ten ihre Schuldenberge in den Griff bekommen müssen.
Schließlich können wir uns dauerhaft nur aus den Fän-
gen der Finanzmärkte befreien, wenn wir die öffentliche
Verschuldung nicht weiter ausufern lassen. Sowohl im
Bund als auch in einigen Ländern haben wir dazu beige-
tragen, Schuldenbremsen verfassungsrechtlich zu veran-
kern. Und wir haben dabei durchgesetzt, dass eben nicht
nur eine Verantwortung für die Ausgaben, sondern auch
Grundlagen für die Einnahmen bestehen.
Neben Haushaltsdisziplin brauchen die überschulde-
ten Staaten auch Impulse für nachhaltiges Wachstum
und Beschäftigung, um dauerhaft wieder auf eigenen
Beinen stehen zu können. Dem reinen Fiskalvertrag
hätte ich nicht zustimmen können, da er die Krise eher
verschärft als eingedämmt hätte. Deswegen haben wir
als SPD-Fraktion hart mit der Bundesregierung verhan-
delt – das Ergebnis kann sich sehen lassen. Die Ergän-
zung des Fiskalvertrages durch einen europäischen
Wachstums- und Beschäftigungspakt ist letztlich auch
das Eingeständnis der schwarz-gelben Koalition, dass
ihre bisherige fantasielose Sparpolitik krachend geschei-
tert ist. Das ist ein großer Erfolg der deutschen Sozialde-
mokratie. Es ist keine Selbstverständlichkeit, als Opposi-
tionspartei, einer Bundesregierung einen solchen
Kurswechsel abzuringen.
Erstens. Union und FDP haben die gerechte Besteue-
rung des Finanzsektors lange Zeit blockiert und damit
verhindert, dass auch die Verursacher der Krise an den
Kosten ihrer Überwindung beteiligt werden. Dank der
SPD wird die Finanztransaktionsteuer nun endlich kom-
men, leider nicht in allen, aber doch zumindest in vo-
raussichtlich zehn Partnerländern.
Zweitens. Wir haben erreicht, dass sich die Bundesre-
gierung zu erheblichen Impulsen für mehr Wachstum
und Beschäftigung in Europa bekennt. Dazu gehört, dass
nicht abgerufene Mittel aus den Strukturfonds der lau-
fenden Finanzperiode gezielt für wachstums- und be-
schäftigungsfördernde Maßnahmen eingesetzt werden.
Drittens. Die Bundesregierung hat in den Verhandlun-
gen zudem unserer Forderung zugestimmt, ein Sofort-
programm gegen Jugendarbeitslosigkeit auf den Weg zu
bringen. Mit einer Jugendgarantie soll jedem Jugendli-
chen spätestens vier Monate nach Schulabschluss oder
Eintritt in die Arbeitslosigkeit eine Arbeits- oder Ausbil-
dungsstelle angeboten werden.
Viertens. Die Bundesländer haben weiterhin bis 2020
Zeit, die Regeln der nationalen Schuldenbremse einzu-
halten. Der Bund hat sich verpflichtet, die Kommunen
im Sozialbereich finanziell um mehrere Milliarden Euro
zu entlasten.
Der dauerhafte Euro-Rettungsschirm ESM soll den
zeitlich befristeten Rettungsschirm EFSF endgültig ablö-
sen, bis dahin laufen beide Mechanismen zunächst paral-
lel. Deutschland geht durch die Gewährung von Bürg-
schaften für notleidende Staaten im Rahmen der
europäischen Rettungsschirme erhebliche finanzielle Ri-
siken ein. Diese Risiken sind jedoch vertretbar – denn
sie sind nicht nur ein Signal der innereuropäischen Soli-
darität, sondern auch ein Gebot der wirtschaftlichen Ver-
nunft.
Die Stabilität des Euro und unserer Partnerländer liegt
vor allem im deutschen Interesse, weil uns ein Zusam-
menbruch der Währungsunion am Härtesten treffen
würde. Der Exportnation Deutschland kann es auf Dauer
nicht gut gehen, wenn die Wirtschaft im Rest Europas
am Boden liegt Unser Wohlstand beruht auf den in
Deutschland hergestellten Produkten, die auch von unse-
ren europäischen Partnerländern gekauft werden. Wenn
es uns nicht gelingt, diese Länder dauerhaft zu stabilisie-
ren, dann droht die Krise auch auf Deutschland überzu-
22768 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 188. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Juni 2012
(A) (C)
(D)(B)
greifen. Wir retten nicht Griechenland oder Spanien,
sondern wir retten letztlich auch den Wohlstand und die
Arbeitsplätze in Deutschland.
Solidarität ist keine Einbahnstraße. Die betroffenen
Staaten müssen ihrer Verantwortung gerecht werden,
Fehlentwicklungen abstellen und Schulden abbauen.
Nur wenn die Euro-Zone stabilisiert wird, können die
Länder die gewährten Kredite zurückzahlen. Wer jetzt
aber ein Ausscheiden Griechenlands aus der Euro-Zone
fordert, beschleunigt damit nur einen Staatsbankrott und
vermindert so die Chance auf die vollständige Rückzah-
lung der deutschen Forderungen. Zudem hätte ein un-
kontrollierter Staatsbankrott auch verheerende Folgen
für andere Krisenstaaten, die dann ebenfalls zur Ziel-
scheibe spekulativer Angriffe würden.
Aus den oben genannten Gründen stimme ich dem
Europäischen Stabilitätsmechanismus, ESM, und dem
Fiskalvertrag zu. Mir ist sehr wohl bewusst, dass wir den
Menschen viel zumuten. Aber wir müssen diesen Schritt
gehen. Eine Enthaltung oder eine Ablehnung wäre ein
falsches Signal für die europäische Idee. Meine heutige
Zustimmung ist jedoch kein Freibrief für zukünftige Ein-
zelentscheidungen und Alleingänge der Bundesregie-
rung im Rahmen der EU-Finanzkrise.
Christian Hirte (CDU/CSU): Den Gesetzen zur Ein-
richtung eines dauerhaften Europäischen Stabilitätsme-
chanismus, ESM, sowie zum Fiskalpakt stimme ich zu.
Dem derzeit beschrittenen Weg zur weiteren europäi-
schen Rettungspolitik stehe ich weiterhin mit großer
Skepsis und Sorge gegenüber. Ich bin nicht überzeugt,
dass damit die Krise dauerhaft erfolgreich bekämpft
werden kann. Finanzhilfen und Bürgschaften allein wer-
den nicht helfen, um die teils massiven Rückstände der
Wettbewerbsfähigkeit einiger Länder zu überwinden.
Ich stimme den Gesetzen dennoch zu, weil die denkba-
ren – auch politischen – Alternativen deutlich problema-
tischer sind. Das entschiedene Bekenntnis der Bundes-
kanzlerin gegen eine Vergemeinschaftung der Schulden
in Europa stellt klar, dass bei aller notwendigen Solidari-
tät die nationalen Regierungen und Parlamente sich ih-
ren schwierigen Aufgaben stellen müssen. Kein Ret-
tungsschirm, kein gemeinsamer Tilgungsfonds und auch
kein gemeinsames Wachstumspaket kann die Staaten aus
dieser Verantwortung entlassen. Die notwendige Solida-
rität darf auch nicht dazu führen, dass am Ende alle über-
fordert sind. Kein Staat und insbesondere nicht Europa
als Ganzes wird stärker, indem die Stärkeren schwach
werden.
Der ESM, insbesondere in seiner Verbindung mit dem
Fiskalpakt, bildet, wie zuvor die EFSF, einen Rahmen,
dem ich grundsätzlich zustimme. Er unterstreicht, dass
die Euro-Staaten sich mit der gemeinsamen Währung zu
einer vertieften gegenseitigen Solidarität verpflichtet
haben. Ich halte den Euro und insbesondere die Idee
eines freiheitlichen, friedlichen und gemeinsamen
Europas für so wichtig, dass ich bereit bin, einen solchen
Rahmen mitzutragen. Es ist und bleibt wichtig, dass der
Deutsche Bundestag immer dann, wenn es um konkrete
Hilfen für einzelne Staaten geht, in die Entscheidung
eingebunden bleibt. Das Bundesverfassungsgericht hat
in seinen jüngsten Urteilen diese Rolle des Parlaments
immer wieder betont. Daher möchte ich auch in Zukunft
im Einzelfall trennen zwischen der Zustimmung zu
einem grundsätzlichen Rahmen und der konkreten Hilfs-
zusage für ein Land, für Banken oder andere Hilfsleis-
tungen. Insbesondere im Fall Griechenlands glaube ich,
dass ein Festhalten am Euro mit allen Mitteln keine dau-
erhafte Lösung ist. Kein konkretes Geld ohne Zustim-
mung des Bundestages bleibt daher auch mit dem ESM
für mich ein Maßstab meines politischen Handelns.
Gleichwohl zeigen gerade die Beispiele Portugal oder
Irland, dass vorübergehende Hilfen der europäischen
Partner eine wichtige und notwendige Unterstützung für
Staaten sein können, ihren Reformweg zu verfolgen und
umzusetzen. Diese Beispiele zeigen zugleich, dass Kre-
dite und Bürgschaften allein nicht helfen, in den betrof-
fenen Ländern einen Aufwärtspfad einzuschlagen. Nur
ein konsequenter Reformweg, der jeweils national die
Verschuldung absenkt und die Wettbewerbsfähigkeit der
Volkswirtschaften steigert, kann eine positive Perspek-
tive eröffnen. Ich war und bin bereit, diese Schritte zu
unterstützen, und halte es für richtig, dass auch Deutsch-
land verlässlicher Partner dabei ist, diese Wege zu ge-
hen. Wachstumsimpulse in Europa sind deshalb auch
eine richtige Ergänzung zu Reformen und Haushaltsdis-
ziplin. Sie können diese aber nicht ersetzen. Gerade
Deutschland hat in den zurückliegenden Jahren gezeigt,
dass beides zusammenkommen muss, um die Wettbe-
werbsfähigkeit zu erhöhen. Hinweise und Belehrungen
der Oppositionsparteien im Bundestag an die Regierung
zu Wachstum sind deshalb so unverständlich wie über-
flüssig und – im Rückblick auf den aktuellen Brüsseler
Gipfel – geradezu schädlich.
Frau Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel und die
Bundesregierung haben in den vergangenen Monaten
mit ihrer Haltung geholfen, in den Mitgliedstaaten wich-
tige Reformen anzustoßen und auf den Weg zu bringen.
Mit den Einzahlungen in den ESM, aber auch mit der
Übernahme der Haftungsrisiken übernimmt Deutschland
eine wichtige solidarische Rolle. Auch bei Wachstums-
impulsen über den EU-Haushalt ist letztlich die Bundes-
republik mit Zahlungen beteiligt.
Diese Solidarität halte ich dem Grunde nach auch für
richtig. Gerade Ostdeutschland, aber auch andere struk-
turschwache Regionen in Deutschland profitieren von
der Solidarität in Europa. Das wirtschaftliche, aber auch
das ideelle Europa, das uns Wohlstand, Frieden und Frei-
heit sichern soll, kann und sollte uns dies wert sein. Der
gleichzeitig notwendige Reformweg in den Ländern
muss aber von den jeweiligen Regierungen und Parla-
menten getragen werden. Subsidiarität und nationale
Eigenverantwortung waren bislang Grundprinzipien des
geeinten Europas. Sie sind keine Schönwetterregeln und
sollten auch in schwierigen Krisenzeiten Bestand haben.
Keine noch so große Krise darf dazu führen, dass wir
diese zentralen Bausteine Europas einfach en passant
aufgeben, um gegebenenfalls vorübergehend Zinsvor-
teile für die Refinanzierung einzelner Staaten zu gewin-
nen. Richtigerweise hat das Bundesverfassungsgericht
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 188. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Juni 2012 22769
(A) (C)
(D)(B)
erst aktuell darauf hingewiesen, dass wir unseren grund-
gesetzlichen Rahmen überdenken müssen, wenn ein an-
deres, intensiver integriertes Europa gebaut werden soll.
Nach meiner festen Überzeugung muss dieser Dis-
kussionsprozess in den politischen Institutionen
Deutschlands, aber auch und gerade mit unserer Bevöl-
kerung geführt werden. Was ist uns in Deutschland
Europa wert, ideell und ökonomisch? Was sind wir be-
reit und in der Lage, an nationalen Souveränitätsrechten
und finanziellen Ressourcen abzugeben, um Europa sta-
bil zu halten und auch selbst Vorteile aus dieser Stabilität
zu erlangen? Welche Rolle wollen und können wir Deut-
sche in Europa spielen?
Die aktuellen Entwicklungen machen deutlich, dass
wir über mehr als Transferleistungen reden, dass es um
mehr als tagespolitische Einzelentscheidungen geht. Wir
sind inmitten von Fragen nach einem Grundverständnis
von Europa, darüber, welche Lasten und Einschnitte wir
bereit sind, mitzutragen, um Wohlstand, Freiheit und
friedlichen Austausch dauerhaft zu sichern. Wir stehen
dabei an einschneidenden Weggabelungen. Die finan-
zielle Not wird dazu führen, uns den damit verbundenen
Fragen stellen zu müssen. Die Diskussion hierüber ist
notwendig und überfällig.
Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich
kann dem Fiskalpakt nicht zustimmen, weil er nicht aus-
reichend von Maßnahmen flankiert wird, die wirklich
den Zinsdruck von den europäischen Krisenländern neh-
men. Die Beschlüsse, die in der Nacht zum 29. Juni auf
dem EU-Gipfel in Brüssel gefasst wurden, gehen zwar
teilweise in die richtige Richtung, schwächen jedoch die
Rechte des Europaparlaments und werden in der Sache
nur temporär begrenzte Effekte haben.
Ich befürchte, dass die eiserne Sparpolitik, die mit-
hilfe des Fiskalpakts allen Vertragspartnern auferlegt
werden soll, die in Bedrängnis geratenen Länder noch
tiefer in die Krise treiben und dort zu Sozialabbau und
dem Verkauf staatlicher Infrastruktur (also unter ande-
rem zur Privatisierung von Krankenhäusern, Universitä-
ten und der Eisenbahn) führen wird.
Mir ist sehr wohl bewusst, dass in den Krisenländern
große Eigenanstrengungen notwendig sind (Stärkung ef-
fektiver Finanzämter, mehr Steuergerechtigkeit, Aufbau
eines funktionierenden Katasterwesens und auch Spar-
maßnahmen). Es dürfen aber keine Maßnahmen direkt
oder indirekt erzwungen werden, die die Aussicht auf
eine wirtschaftliche Erholung gen null laufen lassen und
die zu sozialen Verwerfungen führen.
Trotz großer Bedenken aufgrund seiner Konstruktions-
fehler und des Mangels an Transparenz und parlamentari-
scher Kontrolle werde ich in einem anderen Abstim-
mungsgang dem ESM zustimmen, weil mir das schnelle
Hochziehen einer Brandmauer zur Abwehr von Spekula-
tionsangriffen jetzt notwendig erscheint.
Der Fiskalpakt in seiner jetzigen Form richtet meines
Erachtens aber mehr Schaden als Nutzen an.
Ich fühle mich in der wirtschaftlichen Analyse und
der Bewertung des Fiskalpakts einig mit vielen Finanz-
expertinnen der grünen Bundestagsfraktion und der grü-
nen Fraktion im Europaparlament. Auch mit dem Ent-
schließungsantrag meiner Fraktion zum Fiskalpakt bin
ich einverstanden.
Unterschiede gibt es jedoch in der Interpretation bzw.
in den Schlussfolgerungen, die aus der äußerst knappen
Entscheidung der Sondersitzung des Länderrats von
Bündnis 90/Die Grünen gezogen werden können. In
meinen Augen ist es weder eine Missachtung des Län-
derrats noch eine Kritik an denjenigen, die für
Bündnis 90/Die Grünen die Kompromisse mit der Koali-
tion ausgehandelt haben (und dabei in Sachen Finanz-
transaktionsteuer auch wichtige Teilerfolge errungen ha-
ben), wenn eine Minderheit in der Fraktion nach
Abwägung aller Pros und Kontras dem Fiskalpakt die
Zustimmung verweigert.
Uns alle eint in der grünen Bundestagsfraktion und
überhaupt in allen Gliederungen von Bündnis 90/Die
Grünen die Überzeugung, dass die Krise in Europa nur
mit mehr und nicht mit weniger Europa gelöst werden
kann. Aus einer Währungsunion muss so schnell wie
möglich auch eine Wirtschafts- und Solidarunion wer-
den, die sich in Europa und weltweit für eine
menschenrechtsbasierte nachhaltige Entwicklung ein-
setzt.
Heiner Kamp (FDP): Vor dem Hintergrund von
Schuldenbergen und Bankenkrisen in vielen Ländern der
Europäischen Union machen sich die Menschen Sorgen
um ihre eigene Zukunft, ihr Erspartes und um die Zu-
kunft und Stabilität ihrer Länder und Europas.
Gleichzeitig werfen die Instrumente zur Bekämpfung
dieser Risiken viele Fragen auf, wie etwa: Reichen die
Maßnahmen aus? Ist es gerecht, sich anzustrengen, wenn
betroffene Länder nicht die notwendigen Reformen be-
ginnen? Sichern die Maßnahmen unser Geld, oder ver-
nichten sie es? Selbstverständlich teile ich diese Sorgen.
Aber diese Krisen sind erstmalig. Die Mechanismen
zur Bewältigung sind neu. Niemand kann definitiv Aus-
sagen darüber treffen, ob, wann und wie die Maßnahmen
greifen. Unterlassenes Handeln würde in dieser Situation
aber unkalkulierbare Kettenreaktionen auslösen.
Heute entscheiden wir nun über den Fiskalpakt und
den Europäischen Stabilitätsmechanismus. Ich stimme
beiden nach Abwägung aller Risiken aus folgenden
Gründen zu:
Ich bin erstens davon überzeugt, dass ein geeintes,
friedliches und stabiles Europa größter Anstrengungen
wert ist. Eine wichtige Grundlage, um diesen Zustand zu
erhalten und zu stärken, sind solide Staatsfinanzen der
einzelnen Mitgliedstaaten. Der Fiskalpakt legt hierfür
unter anderem durch die Einführung einer Schulden-
bremse die Grundlage. Dafür ist die Disziplin aller Be-
teiligten bei seiner Umsetzung notwendig.
Ich bin zweitens davon überzeugt, dass die Insolvenz
eines Mitgliedstaates unkalkulierbare Folgen für die
22770 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 188. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Juni 2012
(A) (C)
(D)(B)
Währungsunion und die Europäische Union als Ganzes
sowie letztlich für den einzelnen Bürger hätte. Die
Schutzwirkung des ESM gibt den Mitgliedstaaten die
nötige Zeit, Reformen umzusetzen. Gleichzeitig ist er
ein starkes Signal an die Finanzwelt, dass Europa ge-
schlossen zur Bewältigung der Krise bereit ist.
Eine weiter gehende europäische Integration darf al-
lerdings nicht unter dem Druck der Staatsschuldenkrise
ohne die Beteiligung der Bürger und deren gewählter
Vertreter geschehen. Ich fordere deshalb die Regierun-
gen der Mitgliedstaaten auf, der allgemein empfundenen
Furcht vor einem zentralistischen Europa mit Maßnah-
men auf europäischer Ebene entgegenzuwirken, die die
Mitbestimmungsrechte von Parlament und Volk stärken.
Europäische Integration darf aber nicht bedeuten, dass
wir die Fehler einzelner Mitgliedstaaten vergemein-
schaften. Ich will ein geeintes, aber kein vereinheitlich-
tes Europa. Es ist wichtig, die Vielfalt der Ideen und Lö-
sungen zu erhalten. Der Wettbewerb der Ideen und
verschiedenen Wege ist ein Grund für die kulturelle und
wirtschaftliche Stärke Europas.
Harald Koch (DIE LINKE): Ich lehne den Fiskalpakt
ab, weil ich weiter für ein demokratisches, soziales und
solidarisches Europa kämpfe.
Spardiktate sparen Europa kaputt. Die Kürzungspoli-
tik kürzt Demokratie und Arbeiterrechte. Sie verschärft
die Krise und führt tiefer in die Rezession. Ein weiterer
Abbau von Löhnen, Renten und Sozialleistungen be-
gräbt so langsam die europäische Idee. Ureigene Rechte
der Parlamente wie das Haushaltsrecht werden einge-
schränkt. Ist der Fiskalpakt ratifiziert, kann ihn kein
Land allein wieder aufkündigen. Austerität wird zum
Dogma der EU.
Dafür sind die Ursachen der derzeitigen Finanzkrise
in der fehlenden strikten Regulierung der Finanzmärkte,
in der fatalen Abhängigkeit der Staatsfinanzen von den
Finanzmärkten sowie in den Leistungsbilanzungleichge-
wichten innerhalb des Euro-Raumes zu suchen. Auch
der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) stellt ein
weiteres Bankenrettungspaket dar. Die Hilfsgelder kom-
men nicht den Menschen zugute. Wer Hilfsgelder will,
muss sich dem Kaputtsparzwang ergeben. Lasten der
Wirtschaftskrise werden mehr und mehr auf die Bürger
abgeschoben. Ihre demokratischen Mitbestimmungs-
rechte versiegen aber stärker als dass sie zunehmen. Die
ohnehin finanziell klammen Kommunen bluten zudem
vollends aus.
Ich fordere deshalb, die Profiteure und Verursacher
der Krise ausreichend an den Kosten zu beteiligen. Ohne
eine drastische Besteuerung hoher Vermögen, hoher Ein-
kommen und von Finanztransaktionen gibt es keinen
Weg aus der Krise. Europa braucht dabei nachhaltige
Wachstums- und Investitionsprogramme. In Deutschland
brauchen wir geeignete Maßnahmen zur Stärkung der
Binnennachfrage – unter anderem Mindestlohn – für
eine bessere Finanzausstattung der Kommunen – unter
anderem Gemeindewirtschaftsteuer – und für den Abbau
von Leistungsbilanzungleichgewichten.
Ich will ein solidarisches Eüropa mit mehr demokrati-
schen Mitwirkungs- und Entscheidungsrechten der Bür-
gerinnen und Bürger. Ich will mehr Demokratie und
mehr Sozialstaat. Deshalb verweigere ich dem Fiskal-
pakt meine Zustimmung.
Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Aus-
gangspunkt meiner Entscheidung ist meine politische
Überzeugung, dass die Europäische Integration für eine
solidarische, demokratische und ökologische Europäi-
sche Union vorangetrieben werden muss. Die friedens-
stiftende Idee Europas gilt es zu bewahren. Doch die
Krisen haben das Undenkbare plötzlich möglich ge-
macht: Das Auseinanderbrechen der Euro-Zone ist
wahrscheinlich, wenn nicht geeignete Gegenmaßnah-
men ergriffen werden.
Zunächst ist es aber wichtig, die Ursachen der Wirt-
schafts-, Finanz- und Verschuldungskrisen zu analysie-
ren. Es war vor allem die Finanzkrise, die dazu führte,
dass viele Staaten die Schulden ihres Finanzsektors
übernehmen mussten, um den Kollaps zu verhindern.
Hinzu kommt die Schwäche des europäischen Banken-
systems, die massive Überschuldung privater Haushalte,
Immobilienblasen und massive ökonomische Ungleich-
gewichte sowie die dramatische Ungleichverteilung von
Vermögen. Diese Ursachen wurden von der Bundesre-
gierung nicht konsequent bekämpft, was wir Grünen im-
mer heftig kritisiert haben. Inzwischen birgt die Krise
enorme Risiken mit unabsehbaren Folgen für unser Ge-
meinwesen.
Vor diesem Hintergrund sind die Signale zu bewerten,
die von den Abstimmungen im Deutschen Bundestag
ausgehen. Die vorliegenden Gesetze begleiten einen
Prozess, der noch nicht zum Ende gekommen ist. Viel
bleibt zu tun. Daher unterstütze ich ausdrücklich die von
der grünen Fraktion erreichten veränderten Ausrichtun-
gen der deutschen Politik. Doch es muss noch viel mehr
geschehen. Um einen deutlichen Politikwechsel einzu-
leiten, wären wirksame Maßnahmen zur Linderung des
Zinsdrucks auf Krisenstaaten nötig, vor allem durch
einen Altschuldentilgungsfonds. Es ist bitter, dass die
Kanzlerin bislang ihren törichten Weg weiterverfolgt, ei-
nen solchen Fonds nicht aufzusetzen. Außerdem tut sie
nichts, um in der deutschen Bevölkerung für den Weg
für ein besseres, integrativeres, solidarischeres und soli-
deres Europa zu werben.
Ich befürworte den ESM, weil er eine dauerhafte Fi-
nanzinstitution schafft, der alle Euro-Staaten angehören
werden. Er soll ab Juli dieses Jahres in Kraft treten, und
seine Aufgabe wird sein, am Markt Geld aufzunehmen
und Stabilitätshilfen zu günstigeren Konditionen an
Euro-Staaten mit gravierenden Finanzierungsproblemen
weiterzugeben. Das ist ein sehr wichtiges Signal für die
von den Krisen gepackten Länder wie Spanien, Italien
und Zypern. Aber auch beim ESM ist noch vieles ver-
besserungswürdig, auch der ESM muss weiter sehr kri-
tisch begleitet werden, weil noch zahlreiche Fallstricke
enthalten sind.
Ich stimme dem Fiskalpakt nach reiflichem Abwägen
zu. Es ist nicht leicht, einen stimmigen Weg durch die
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 188. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Juni 2012 22771
(A) (C)
(D)(B)
äußerst unterschiedlichen und sich widersprechenden
Argumente zu finden. Beim Abklopfen der Inhalte des
Fiskalpakts ist festzustellen, dass dieser für die jetzige
Situation in mehrfacher Hinsicht das falsche Instrument
ist. Der Pakt ist zum einen ein Ablenkungsmanöver der
Bundesregierung, um die verantwortungslose Verweige-
rung gegenüber wirklichen Lösungen zu legitimieren. So
tritt er erst zum 1. Januar 2013 in Kraft, obwohl es heute
darum gehen müsste, einen Ausweg aus der Krise für
Spanien, Italien und Zypern zu finden. Außerdem be-
steht durchaus die Gefahr, dass dieser Pakt in den Jahren
ab 2014 zu massiven wirtschaftlichen Problemen in Eu-
ropa führt.
Aber der Fiskalpakt ist so neu nicht – einige der Re-
gelungen – zum Beispiel die Beschreibung eines Schul-
denabbauplans – sind bereits durch das Sixpack be-
schlossen. Was den Fiskalpakt aber weniger dramatisch
macht, ist seine tendenzielle Unverbindlichkeit und Ab-
schwächungen, die auch durch den aktuellen EU-Gipfel
vorgenommen wurden. Der Fiskalpakt ist nicht in Stein
gemeißelt, er operiert zum Beispiel innerhalb der Regeln
zum ausgeglichenen Haushalt in den schon in Deutsch-
land gesetzten Grenzen oder verweist zum Beispiel beim
Korrekturmechanismus auf die uneingeschränkte Wah-
rung der Vorrechte der nationalen Parlamente. Er ist in
durchaus relevanten Bereichen pflaumenweich formu-
liert und hat deshalb voraussichtlich nicht die von vielen
befürchtete Wirkung. Dennoch müssen wir sehr auf-
merksam verfolgen, wie es weitergeht, denn ob die Risi-
ken, insbesondere bei der Frage der Schuldenbremse,
wirklich einzudämmen sind, wird künftig zu klären sein.
Meine Fraktion hat sich entschieden, die politischen
Prozesse konstruktiv und proeuropäisch voranzutreiben.
Was mir ein Ja auch ermöglicht, ist der Umstand, dass
die Verhandlungen Erfolge hatten. Nachdem unsere
Klage vor dem Bundesverfassungsgericht über die Mit-
wirkungsrechte des deutschen Bundestages erfolgreich
war, konnten wir durchsetzen, dass das entsprechende
Gesetz jetzt hinsichtlich des Fiskalpakts und ähnlicher
europäischer Konstruktionen eine ausdrückliche Klar-
stellung erhält.
Last, but not least – die Finanztransaktionsteuer. Eine
solche wird jetzt auf den Weg gebracht. Als Entwick-
lungspolitikerin freut mich das besonders, denn der jah-
relange Kampf für eine Steuer, die hoffentlich auch zur
Bekämpfung der Armut eingesetzt wird, zeigt endlich
Wirkung.
Dr. Tobias Lindner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Die Europäische Union und der Euroraum befinden sich
in einer der schwersten Krise seit Ende des Zweiten
Weltkrieges. Einige Mitgliedstaaten sind mit massiv
gestiegenen Zinsforderungen für ihre Kredite konfron-
tiert, ihnen droht der Staatsbankrott. Die wirtschaftlichen
Auswirkungen eines solchen Bankrotts auf andere mit
ihnen eng verwobene Volkswirtschaften sowie die poli-
tischen Konsequenzen für die weitere europäische Inte-
gration wären desaströs.
Die Ursachen der Krise sind mannigfaltig. Sie reichen
von fehlender Regulierung von Finanzmärkten und Ban-
ken, spekulativen Finanzgeschäften über mangelnde
Haushaltsdisziplin, der Finanzierung von Konjunktur-
paketen bis hin zu erheblichen Leistungsbilanzdefiziten.
Um der Krise zu begegnen, sind verschiedene Maß-
nahmen notwendig. Rettungsschirme müssen aufge-
spannt werden, um den betroffenen Ländern wieder eine
Refinanzierung zu ermöglichen und somit deren Zah-
lungsunfähigkeit abzuwenden. Verbindliche Regeln, wie
Grenzen für nationale Defizite und Schuldenbremsen,
müssen zur Sicherstellung nachhaltiger und stabiler
Haushaltspolitik eingeführt werden. Die Finanzmärkte
müssen reguliert und an den Kosten der Krise beteiligt
werden. Die bestehenden Schulden müssen konsequent
zurückgeführt werden. Nicht zuletzt müssen den ange-
schlagenen Volkswirtschaften wirtschaftliche Perspekti-
ven aufgezeigt werden – wir brauchen Investitionspro-
gramme in nachhaltige Technologien, beispielsweise in
den Bereichen Klimaschutz und erneuerbare Energien.
Der Deutsche Bundestag hat heute mit der Entschei-
dung für den Europäischen Stabilitätsmechanismus,
ESM, und den Fiskalpakt entlang dieser Linien die Wei-
chen in Richtung einer Stabilisierung der Europäischen
Union, des Euros und der Europäischen Finanzmärkte
gestellt.
Mit dem ESM wird dem Euro-Raum ein permanenter
Rettungsschirm zur Verfügung stehen. Ausgestattet mit
einem eigenen Kapitalstock wird er dazu in der Lage
sein, in Not geratene Staaten bei ihrer Refinanzierung zu
unterstützen.
Der Fiskalpakt ist eine notwendige Ergänzung des
ESM. Er stellt verbindliche Regeln zur Erstellung kon-
solidierter Haushalte auf. Die Mitgliedstaaten verpflich-
ten sich mit ihm zudem zur Einführung nationaler Schul-
denbremsen. Diese Abkehr von der Toleranz gegenüber
strukturellen Haushaltsdefiziten ist für uns wichtig, denn
nur ausreichend finanzierte Haushalte sind nachhaltig.
Eine Haushaltskonsolidierung muss sowohl aus der Stei-
gerung von Einnahmen als auch aus hoher Disziplin bei
den Staatsausgaben bestehen.
Im Zuge der Verhandlungen zu ESM und Fiskalpakt
konnten durch eine erfolgreiche grüne Verhandlungsfüh-
rung noch weitere wichtige Maßnahmen vereinbart wer-
den: Durch die Einführung einer Finanztransaktionsteuer
werden die Märkte endlich an den Kosten der Krise
beteiligt. Investitionsimpulse, vor allem für nachhaltige
Investitionen in Klimaschutz und Energieeffizienz wer-
den für mehr wirtschaftliche Dynamik sorgen. Nicht zu-
letzt wird es eine stärkere parlamentarische Beteiligung
bei Hilfsanträgen an den ESM geben. In Deutschland
wurde darüber hinaus sichergestellt, dass Länder und
Kommunen den Fiskalpakt mittragen können. Auch dies
ist richtig und notwendig, weil Länder und Kommunen
im Vergleich zum Bund deutlich begrenztere Möglich-
keiten zur Refinanzierung haben.
Mit der Einigung zu ESM und Fiskalpakt haben wir
viel erreicht. Gleichwohl stehen weitere wichtige Ent-
scheidungen aus. So konnten wir uns nicht auf die Ein-
führung eines gemeinschaftlichen Schuldenabbaus eini-
gen. Mit ihrer Blockadehaltung in dieser Frage gefährdet
22772 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 188. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Juni 2012
(A) (C)
(D)(B)
die Kanzlerin die positive Wirkung von ESM und Fis-
kalpakt. Sie wird in diesem Punkt umdenken müssen.
Weiterhin gilt es, Investitionen in eine ökologische
und soziale Gesellschaft noch weiter auszubauen. Solche
Investitionen erhöhen die Wettbewerbsfähigkeit Europas
und gehören zu unserer Strategie der Krisenbewältigung.
Nicht zuletzt müssen die demokratischen Strukturen
Europas deutlich weiterentwickelt werden. Das Europäi-
sche Parlament muss in seiner Entscheidungsbefugnis
gestärkt und eine geeignete Exekutive, also eine europäi-
sche Regierung, etabliert werden. Dies erfordert die
Übertragung staatlicher Kompetenzen auf Europa.
Ich habe mich dazu entschlossen, für ESM und Fis-
kalpakt zu stimmen. Die Initiativen enthalten nicht alle
unsere Forderungen. Ich bin dennoch davon überzeugt,
dass sie einen wichtigen Schritt in der Bekämpfung der
Schuldenkrise darstellen und wichtige grüne Forderun-
gen umsetzen. Ich will mit meiner Zustimmung das
europäische Projekt vor einem herben Rückschlag
bewahren. Ich bekenne mich klar zu Europa und will
nun auch dafür einstehen.
Dr. Carsten Linnemann (CDU/CSU): Durch die ak-
tuellen Ereignisse und Entwicklungen in der Euro-Zone
sehe ich mich in meiner kritischen Haltung zur bishe-
rigen Euro-Rettungsschirmstrategie bestätigt. Daher
werde ich auch dem permanenten Rettungsschirm, ESM,
nicht zustimmen. Wie alle Rettungsschirme zuvor löst
auch ein dauerhafter Rettungsschirm nicht die grund-
legenden Probleme der Euro-Zone.
Im Kern haben wir es mit einer Krise der preislichen
Wettbewerbsfähigkeit in den südlichen Mitgliedstaaten
zu tun. Dort sanken die Zinsen infolge der Euro-Einfüh-
rung auf das deutsche niedrige Niveau. Das wiederum
führte zu einem kreditfinanzierten Boom, die Löhne und
Preise explodierten in diesen Ländern innerhalb von
zehn Jahren um mehr als 30 Prozent.
Die jetzige Rettungsschirmpolitik zielt darauf ab, die
Zinsen auch auf lange Sicht künstlich niedrig zu halten.
Dies kann jedoch nicht gelingen; denn niedrige Zinsen
sind nicht die Lösung, sondern Auslöser der Krise gewe-
sen. Damit hat man zwar Zeit gekauft, aber gleichzeitig
auch einen Wettlauf gegen die ökonomische Realität be-
gonnen, den man nicht gewinnen kann. Das zeigt sich
nun mit voller Wucht; der viel befürchtete Dominoeffekt
ist längt da. Fast alle Südländer befinden sich im Ret-
tungsmodus. Die Euro-Krise hat sich zu einer umfassen-
den Vertrauenskrise weiterentwickelt, die die Währungs-
union nun als Ganzes gefährdet.
Deshalb wird es höchste Zeit, dass wir uns vom Man-
tra, wonach die 17-Euro-Länder eine nicht trennbare
Schicksalsgemeinschaft bilden, endlich befreien. Die
Finanzmärkte lassen sich nämlich nicht mit mehr Geld
beruhigen, sondern nur mit politischer Konsequenz. Mit
anderen Worten: Was wir brauchen, sind keine immer
größeren Brandschutzmauern, sondern eine Staaten-
insolvenzordnung und ein Verfahren zur Suspendierung
von der Euro-Zone, sodass es letztlich nur noch zwei
Möglichkeiten gibt: Sanierung oder Insolvenz. Dies
würde die Durchsetzbarkeit von Einsparungen und
Strukturreformen stärken. Zugleich würde einem Staat,
der auf absehbare Zeit seine Wettbewerbsfähigkeit in der
Euro-Zone nicht wiedergewinnen kann, ein gangbarer
Weg außerhalb der Euro-Zone eröffnet.
Der ESM geht in eine andere Richtung. Er setzt keine
Anreize für ein Umdenken. Mit der Erlaubnis zum An-
kauf von Staatsanleihen beispielsweise werden vielmehr
die Schulden vergemeinschaftet. Ich befürchte, dass da-
mit der Weg in die Transferunion zementiert wird, zumal
schon heute absehbar ist, dass viele der vergebenen Kre-
dite niemals zurückgezahlt werden.
Dr. Matthias Miersch (SPD): Ich halte den perma-
nenten Stabilitätsmechanismus für notwendig, um eine
erneute Verschärfung der Euro-Krise und einen Zusam-
menbruch der Staatshaushalte weiterer Mitgliedsländer
der Euro-Zone zu verhindern. Kernanliegen muss es der-
zeit sein, die Europäische Währungsunion vor den Aus-
wirkungen unverantwortlicher Spekulationen zu schüt-
zen. Das geht nur durch ein Zeichen der Solidarität der
einzelnen Mitgliedsländer der Euro-Zone untereinander
gegenüber den Akteuren des Finanzmarkts.
Eine weitere Destabilisierung des Euro könnte nicht
nur zum Zerfall der gemeinsamen Währung führen, son-
dern würde auch die Existenz der Europäischen Union
als solche gefährden. Eine derartige Entwicklung darf
niemand riskieren, dem die wirtschaftliche und soziale
Entwicklung der Europäischen Union und ihrer Bürge-
rinnen und Bürger am Herzen liegt.
Allerdings impliziert die Übertragung von elementa-
ren Rechten auf nicht demokratisch legitimierte Institu-
tionen – Gouverneursrat, Direktorium –, wie sie zurzeit
vorgesehen sind, grundlegende verfassungsrechtliche
Probleme. Es gilt, einen Ausgleich zwischen der Hand-
lungsfähigkeit entsprechender Institutionen und ausrei-
chender parlamentarischer Kontrolle herzustellen. Mei-
nes Erachtens ist deshalb vor allem bei der weiteren
Ausgestaltung der Institutionen des permanenten Stabili-
tätsmechanismus darauf zu achten, dass Hoheitsrechte
des Bundestages gewahrt und unter Berücksichtigung
der aktuellen Rechtsprechung des Bundesverfassungsge-
richts gestaltet werden. Es ist daher zwingend geboten,
bei der Implementierung des Vertrags dafür zu sorgen,
dass die demokratische Legitimation stets die Richt-
schnur bildet.
Den Fiskalpakt lehne ich jedoch ab, da er den Verfas-
sungsgesetzgeber völkerrechtlich im Rahmen seines
Budgetrechts ewig bindet. Damit wird in das Demokra-
tieprinzip unseres Grundgesetzes unverhältnismäßig ein-
gegriffen. Darüber hinaus erhält die Europäische Kom-
mission maßgebliche Befugnisse fiskalpolitischer Art
einschließlich einer Klagemöglichkeit vor dem Europäi-
schen Gerichtshof. Eine derartige Übertragung auf der-
zeit nicht ausreichend demokratisch legitimierte europäi-
sche Institutionen halte ich nicht für vertretbar.
Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten in Eu-
ropa sollten jenseits der aktuellen Rettungsmaßnahmen
ein Bild eines demokratischeren und handlungsfähigeren
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 188. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Juni 2012 22773
(A) (C)
(D)(B)
Europas entwickeln. Das setzt eine engere Zusammenar-
beit voraus, die letztlich eine Grundlage dafür bildet,
politische Mehrheiten zu schaffen, auch in Deutschland,
um das nachzuarbeiten, was in den letzten Jahrzehnten
nicht gelungen ist: nämlich eine wirkliche politische
Union, eine wirkliche Wirtschafts- und Sozialunion auf-
zubauen.
Die EU neu zu begründen, das ist notwendig, wenn
die politische Union geschaffen werden soll. Derartige
europäische Pläne werden letztlich auch die Übertragung
nationaler Souveränitätsrechte an dann geschaffene
demokratisch legitimierte, europäische Institutionen be-
inhalten müssen. Dieses wird die Weiterentwicklung des
deutschen Grundgesetzes mit einschließen. Die Mütter
und Väter des Grundgesetzes haben in ihrer Weisheit
bereits durch Art. 146 des Grundgesetzes diesen Weg
beschrieben, indem sie eine Öffnungsklausel aufgenom-
men haben, die die Weiterentwicklung der Verfassung
durch eine Entscheidung des deutschen Volkes vorsieht.
Eine solche Entscheidung muss sorgfältig vorbereitet
werden. Weite Teile des Grundgesetzes können beibe-
halten werden. Es gilt, ein neues Verhältnis von Europa,
der Bundesrepublik, den Bundesländern und den Kom-
munen zu entwickeln. Die Zeit sollte nicht fahrlässig
verschwendet werden. Die Zeit ist reif für einen solchen
Prozess.
Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): In ei-
ner schwierigen Krisensituation hat der Deutsche Bun-
destag heute mit der Entscheidung für den ESM und den
Fiskalpakt die Weichen in Richtung einer Stabilisierung
der Europäischen Union, des Euro und der Europäischen
Finanzmärkte gestellt. Die gleichzeitig getroffenen Ver-
einbarungen zur Einführung einer Finanztransaktion-
steuer, die Zusagen für mehr nachhaltige Investitionen in
Klimaschutz und Energieeffizienz sowie die Verpflich-
tung zur starken parlamentarischen Beteiligung bei
Hilfsanträgen an den ESM sind wichtige und notwen-
dige Schritte zur Stabilisierung der EU und Stärkung der
Demokratie. Wir stimmen damit heute über ein Maßnah-
menpaket zur wirtschaftlichen Belebung ab, das eine
starke grüne Handschrift trägt.
Die dogmatische Sparpolitik der letzten zwei Jahre
hat die Krisenstaaten nicht aus der Krise herausgeführt.
Eine tiefe Rezession, hohe Arbeitslosigkeit und am Ende
mehr statt weniger Schulden trotz aller Sparmaßnahmen
waren die Folge. Die Schuldenstände in Griechenland,
Spanien und Portugal sind nicht gefallen, sondern gestie-
gen und die soziale Schieflage hat sich weiter verschärft.
Es zeigt sich: Wer nur spart, konsolidiert nicht.
Die Vereinbarungen müssen vor dem Hintergrund der
gesamtwirtschaftlichen Situation Europas sowie der glo-
balen Lage bewertet werden. Italien und Spanien haben
unverhältnismäßig hohe Refinanzierungskosten an den
Finanzmärkten. Japan und die USA, deren volkswirt-
schaftliche Kennzahlen keineswegs besser sind als die
der Euro-Zone, zahlen bei einer gleichermaßen hohen
Staatsverschuldung deutlich niedrigere Schuldzinsen.
Der Grund dafür ist einfach: Die EU und die Euro-Zone
sind anders als die Nationalstaaten Japan oder USA Zu-
sammenschlüsse von Staaten, die bisher auf eigene
Rechnung handeln, auch wenn sie sich europäischen
Sparvorhaben unterwerfen. Europa muss beweisen, dass
verschiedene Staaten gemeinsam zu entschlossenem
Handeln fähig sind. Der Rettungsschirm ESM in Verbin-
dung mit dem Fiskalpakt sind wichtige Zeichen für ein
solches entschlossenes Handeln.
Wichtige Bestandteile zur Krisenlösung sind auch der
von der EU beschlossene sogenannte Sixpack und die im
Fiskalpakt verbindlich festgelegten Regeln zur Erzielung
eines ausgeglichenen Haushaltes. Sie sind eine notwen-
dige Ergänzung zum ESM. Die Mitgliedstaaten ver-
pflichten sich zur Haushaltskonsolidierung und der Ver-
ankerung nationaler Schuldenbremsen. Die Abkehr von
der Toleranz gegenüber strukturellen Haushaltsdefiziten
ist für uns wichtig, denn nur ausreichend finanzierte
Haushalte sind nachhaltig. Eine Schuldenkrise kann man
nicht mit immer neuen Schulden bekämpfen.
In Deutschland wurde darüber hinaus sichergestellt,
dass Länder und Kommunen die finanziellen Folgen des
Fiskalpakts mittragen können. Auch dies ist richtig und
notwendig, weil Länder und Kommunen im Vergleich
zum Bund deutlich begrenztere Möglichkeiten zur Refi-
nanzierung haben.
Zur Solidität gehört auch die Solidarität. Die Ver-
pflichtung zu mehr Haushaltsdisziplin in Verbindung mit
der Einführung einer Finanzmarkttransaktionsteuer, In-
vestitionsimpulsen für mehr wirtschaftliche Dynamik
und mit dem ESM stärkt die wirtschaftliche Leistungs-
fähigkeit der EU und ist so auch in unserem ureigenen
Interesse. Gleichzeitig verhindern sie ein Auseinander-
brechen der Euro-Zone und damit einen großen Rück-
schritt in der Europäischen Integration mit unabsehbaren
Folgen nicht nur für die deutsche Volkswirtschaft, son-
dern für Europa insgesamt. Die Ergebnisse des Euro-
Gipfels vom 28. Juni 2012 gehen in die richtige Rich-
tung, um den Zinsdruck auf die Krisenländer zu senken
und den Teufelskreis aus Banken- und Staatsschulden-
krise zu durchbrechen. Wichtige Schritte zur Bereitstel-
lung von notwendigen Investitionsmitteln wurden ver-
einbart.
Es sind aber weitere Schritte zur Lösung der Euro-
Krise nötig. Ein konkreter und realistisch umsetzbarer
Abbaupfad für die hohe Verschuldung ist zwingend für
eine erfolgreiche Bewältigung der Krise. Vorschläge
dazu liegen auf dem Tisch, wie der des Sachverstän-
digenrates für einen Altschuldentilgungsfonds in der Euro-
Zone.
Dabei werden wir uns auf lange Zeiträume des Schul-
denabbaus einrichten müssen. Es ist weltfremd und un-
verantwortlich, wenn die Kanzlerin sich einer inhalt-
lichen Debatte um konkret zu ergreifende Maßnahmen
verweigert. Sie wird schon bald in diesem Punkt umden-
ken müssen. Mit ihrer Weigerung einer realistischen Alt-
schuldenregelung gefährdet sie die positive Wirkung
von ESM und Fiskalpakt.
Zusätzlich müssen Investitionen in eine ökologische
und soziale Gesellschaft noch weiter ausgebaut werden.
Diese Investitionen erhöhen die Wettbewerbsfähigkeit
22774 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 188. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Juni 2012
(A) (C)
(D)(B)
Europas und gehören zu unserer Strategie der Krisenbe-
wältigung. Nicht zuletzt müssen die demokratischen
Strukturen Europas deutlich weiterentwickelt werden.
Das Europäische Parlament muss als europäischer Ge-
setzgeber und Kontrolleur europäischer exekutiver In-
stanzen gestärkt und eine echte Exekutive, also eine eu-
ropäische Regierung, etabliert werden. Dies erfordert die
Übertragung nationalstaatlicher Kompetenzen auf Eu-
ropa. Nur mit diesem Dreiklang aus realistischem Schul-
denabbaupfad, Stärkung von Investitionen und demokra-
tischer Entwicklung Europas wird die Krise überwunden
werden können.
Diese Schritte können wir erst nach Lösung der ak-
tuellen Probleme gehen. Der Paradigmenwechsel in der
Haushaltspolitik ist Grundvoraussetzung für diese Lö-
sung. Deswegen stimme ich heute für den Fiskalpakt
und den ESM zur Stabilisierung Europas. Deutschland
hat sich vor vielen Jahren für ein zusammenwachsendes
Europa entschieden. Heute gilt es, dafür einzustehen.
Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Wir sind in einer dramatischen Situation. Die
Krise, die mit der Finanzkrise 2008 begann, verschärft
sich. Die bisherigen Rettungsmaßnahmen der Bundes-
regierung waren nur Notmaßnahmen, die allerdings
jeweils zu spät kamen und zudem unzureichend waren.
Eine Politik, die nur auf der Ausgabenseite spart und den
strukturellen Reformbedarf im Finanz-, Steuer- und
Wirtschaftssystem ignoriert, verschärft die Krise, die
ähnliche Züge trägt wie die Weltwirtschaftskrise vor
80 Jahren. Auch diesmal wäre ein New Deal die richtige
Antwort, der allerdings aufgrund der nicht zu vergessen-
den Probleme wie Klimawandel, Ressourcenknappheit
und Energieversorgung eine ökologische Komponente
haben muss. Wir brauchen also einen „Green New
Deal“.
Nur Sparen allein hilft in der Krise nicht. Wir brau-
chen eine Richtungsänderung in der Politik. Deshalb hat
Bündnis 90/Die Grünen Verhandlungen über die Ratifi-
zierung des Fiskalpakts geführt und viel erreicht. Mit der
Verständigung auf ein Investitionsprogramm ist die
Bundesregierung ein Stück weit von ihrer falschen Spar-
politik abgerückt. Mit der geplanten Einführung der
Finanztransaktionsteuer wird es eine Wende in der Steu-
erpolitik geben. Damit werden die Finanzmärkte endlich
an den Kosten der Krise beteiligt.
Den Verhandlungsergebnissen gebührt Anerkennung
und Respekt. Dennoch konnten meine Bedenken über
die sozialen Folgen des Fiskalpakts auch mit den Ergeb-
nissen der Verhandlungen nicht ausgeräumt werden. Für
mich bleibt der Fiskalpakt in der gegenwärtigen Situa-
tion nicht der richtige Weg zur nachhaltigen Konsolidie-
rung der Haushalte der europäischen Länder. In diesem
Sinne besteht letztendlich die Gefahr, dass der Fiskal-
pakt die Euro-Krise verschärft. Vor allem aber richtet
sich der Fiskalpakt meiner Meinung nach gegen die Inte-
ressen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, der
Rentnerinnen und Rentner und der sozial Benachteilig-
ten in Europa. Er verschärft die soziale Schieflage in den
betroffenen Nationalstaaten und spitzt die Krise der
europäischen Integration weiter zu. Die Staaten der
Europäischen Union müssen gerade in der Krise zeigen,
dass sie das europäische Sozialmodell ernst nehmen. Sie
haben sich in den Verhandlungen der vergangenen Nacht
in der Tat bewegt. Die vereinbarten Punkte wie ein
erleichterter Zugang zu den Rettungsschirmen und eine
europäische Bankenaufsicht gehen in die richtige Rich-
tung. Aber auch diese Schritte sind aus meiner Sicht
noch nicht ausreichend.
Deshalb werde ich dem Fiskalpakt nicht zustimmen.
Der Fiskalpakt in seiner jetzigen Form gefährdet den
sozialen Zusammenhalt in Europa. Neben der Bundes-
republik Deutschland bindet der Fiskalpakt auch 24 wei-
tere Staaten der Europäischen Union. Gerade die schwä-
cheren Volkswirtschaften in Europa werden aber durch
eine zu rigide Sparpolitik der öffentlichen Haushalte
empfindlich getroffen. Schon heute sehen wir die sozial
unausgewogenen Auswirkungen dieser Sparpolitik – in
Griechenland, Portugal oder Spanien. Ich verfolge mit
Entsetzen die immer neuen Meldungen über die immens
steigende Jugendarbeitslosigkeit, Auswanderung, Per-
spektivlosigkeit, Armutstendenzen und den sozialen Un-
frieden in den genannten Ländern. Mich treibt die Sorge
um, dass dieser Prozess sich noch verstärken wird.
Der Fiskalpakt ändert nichts an den hohen Zinsen, die
insbesondere die Defizitländer nach wie vor bedienen
müssen. Hohe Zinsen führen dazu, dass die Wahrschein-
lichkeit, Schulden zurückzahlen zu können, sinkt. Da-
durch steigen die Zinsen noch weiter, ein Teufelskreis
entsteht. Es ist zu befürchten, dass der Fiskalpakt einen
noch stärkeren Druck auf die nationalen Regierungen
und damit auch auf die Sozialsysteme ausüben wird. Die
Defizitländer können nur mit radikalen und überstürzten
Sparprogrammen reagieren. Der Sparpolitik wurden
zwar durch die Verhandlungen Investitionen zur Seite
gestellt, um das Wirtschaftswachstum anzukurbeln. Der
einseitige Spardruck mit Blick auf die Ausgaben besteht
aber weiterhin ungebrochen und wurde auch nicht mit
sozial verträglichen Regeln unterlegt. Letztlich muss ich
nach wie vor davon ausgehen, dass der Fiskalpakt erheb-
liche soziale Lasten mit sich bringt, die für mich nicht
akzeptabel sind. Massive Einsparungen bei Sozialausga-
ben, Sozialversicherungen, im Gesundheits- und Bil-
dungsbereich werden den Zusammenhalt in den Ländern
Europas weiter untergraben und gerade die Menschen
treffen, die die Krise nicht verschuldet haben.
Ich stehe zu den sozialen Zielen, die sich Europa ge-
geben hat. So garantiert die europäische Sozialcharta
beispielsweise die Tarifautonomie. In der Realität wird
diese jedoch durch die Sparanstrengungen in Griechen-
land untergraben. Im Rahmen der EU-2020-Strategie
wurden wichtige Ziele zur Verhinderung von Arbeitslo-
sigkeit und Armut vereinbart. Auch hier ist die Wirklich-
keit eine andere. Durch den Fiskalpakt werden diese
Ziele unerreichbar. Natürlich müssen alle europäischen
Staaten langfristig ihre Schuldenquoten senken. Aber die
Konsolidierungspfade müssen den Möglichkeiten der
Staaten entsprechen und in der Konsequenz gestreckt
werden. Konsolidierungsanstrengungen müssen immer
auch die Einnahmeseite in den Blick nehmen, und Ein-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 188. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Juni 2012 22775
(A) (C)
(D)(B)
sparungen bei den Ausgaben müssen sozialverträglich
ausgestaltet werden. Die Grundwerte von Europa – so-
ziale Gerechtigkeit und Sozialstandards für alle – haben
für mich auch in der Krise Bestand. Sie dürfen nicht nur
hehre Worte bleiben, sondern müssen auch eingelöst
werden. Der Fiskalpakt in seiner jetzigen Ausgestaltung
wird dem nicht gerecht.
Der Fiskalpakt leistet auch keinen Beitrag zur Über-
windung der Euro-Krise. Denn die aktuelle Krise ist
keine Staatsschuldenkrise, denn die europäischen Schul-
denberge sind nicht das Ergebnis laxer Haushaltspolitik.
In den meisten EU-Ländern kam es vor der großen
Finanzmarktkrise 2008 zu keinem exzessiven Anstieg
der Staatsausgaben. Im Gegenteil: Die öffentlichen Aus-
gaben stiegen schwächer als das Sozialprodukt. In den
heutigen Krisenländern, beispielsweise in Irland und
Spanien, sank sogar die Schuldenlast. Die Schuldenquo-
ten – der Anteil der Staatsverschuldung am Sozialpro-
dukt – waren rückläufig.
Erst die große Finanzmarktkrise ließ die Staatsschul-
den europaweit explodieren. Die Bankenrettung machte
aus privaten Schulden im Handumdrehen öffentliche
Schulden. Konjunkturprogramme und Arbeitslosigkeit
belasteten die öffentlichen Kassen. In der Folge kletterte
die Schuldenquote aller Länder im Euro-Raum im Ge-
samtdurchschnitt von rund 66 Prozent auf über 85 Pro-
zent. Diese Auswirkungen der Finanzkrise dürfen nicht
verschwiegen werden.
Selbstverständlich müssen die Staatshaushalte konso-
lidiert werden. Heute droht aber die Gefahr, dass der Fis-
kalpakt den europäischen Staaten die Handlungsmög-
lichkeiten nimmt. Wenn der Staat zum falschen
Zeitpunkt kürzt, dann verlieren Firmen Aufträge und
drosseln die Produktion, die Binnennachfrage bricht ein,
und die Krise verschärft sich. Wenn staatliche Transfers
gekürzt werden, können Erwerbslose und Bedürftige
weniger Geld ausgeben. Damit verlängert dieser Nach-
frageentzug im Abschwung die wirtschaftliche Talfahrt.
In der Folge sinken Wachstum und Steuereinnahmen –
Arbeitslosigkeit und Schulden aber steigen. Die katas-
trophalen Folgen dieser einseitigen Sparmaßnahmen
werden in Südeuropa schon heute, beispielsweise durch
eine extrem hohe Jugendarbeitslosigkeit, sichtbar.
Schuldenabbau darf eben öffentliche Investitionen
nicht unmöglich machen. Die Staaten Europas müssen in
ökologische Nachhaltigkeit, Bildung, Gesundheit und
Infrastruktur investieren. Schließlich ist der langfristige
Wert dieser Zukunftsinvestitionen größer als ihre Finan-
zierungskosten. Defizite müssen auch über höhere Betei-
ligung von hohen Einkommen und Vermögen an den ge-
sellschaftlichen Belastungen abgebaut werden. Ebenso
wird die vordringliche Frage der makroökonomischen
Ungleichgewichte vom Fiskalpakt nicht gelöst. Hier
müsste sich auch Deutschland endlich zu seiner Verant-
wortung bekennen und eine Politik der Nachfragesteige-
rung im Inland betreiben.
Vor allem aber berührt der Fiskalpakt auch eine Kern-
frage der Demokratie in der Europäischen Union. So ist
der Fiskalpakt nicht innerhalb, sondern außerhalb der
Europäischen Institutionen entwickelt worden. Er hätte
seinen Platz innerhalb der Europäischen Vertragswerke
haben können. Stattdessen wird der Fiskalpakt durch
einen zwischenstaatlichen Vertrag in Kraft gesetzt. Dem
Europäischen Parlament wird keine entscheidende Rolle
zugedacht. Auch das lehne ich entschieden ab.
Explizit unterstütze ich die weitergehenden Forderun-
gen, die wir in einem Entschließungsantrag zur Abstim-
mung bringen, denn ESM und Fiskalpakt werden die
Krise kurzfristig nicht entschärfen.
Wir fordern einen europäischen Altschuldentilgungs-
fonds nach dem Vorschlag des Sachverständigenrats, um
den Zinsdruck auf die Krisenländer zu mindern.
Wir brauchen europaweite Vermögensabgaben, um
Schulden sozial gerecht abbauen zu können.
Notwendig sind insbesondere eine europäische Ban-
kenunion mit europäischer Aufsicht, ein gemeinsames
Einlagensicherungssystem und ein Bankenrestrukturie-
rungsfonds, um die Kapitalflucht aus dem Süden zu
beenden und die unselige Verquickung zwischen Ban-
ken- und Staatsschuldenkrise zu durchbrechen. Hier
gab es aktuell durch die Verhandlungen der EU-Staats-
und -Regierungschefs Bewegung. Allerdings ist wieder
nur ein Teil der notwendigen Maßnahmen vereinbart
worden.
Der ESM muss perspektivisch zu einem echten euro-
päischen Währungsfonds weiterentwickelt werden.
Dazu bedarf es einer direkten Refinanzierung des ESM
bei der Europäischen Zentralbank und der Möglichkeit,
Anleihen aufzukaufen.
Notwendig ist auf europäischer Ebene auch ein euro-
päischer Steuerpakt, um den unfairen Steuerwettbewerb
und das Steuerdumping innerhalb der EU zu vermeiden
und Steuerhinterziehung, -vermeidung und -flucht zu
bekämpfen.
Die Bundesregierung muss ihre Forderung nach Kür-
zung des EU-Haushalts 2014 bis 2020 um mindestens
100 Milliarden Euro aufgeben. Ansonsten wird ein Wan-
del zugunsten von Beschäftigung, Wachstum, Innova-
tion, Ausbildung und Forschung nicht zu erreichen sein.
Schlussendlich brauchen wir einen europäischen
Konvent, um mit breiter Beteiligung der Zivilgesell-
schaft und der Sozialpartner die notwendigen Vertrags-
änderungen hin zu einer Wirtschafts- und Solidarunion
zu diskutieren und auf den Weg zu bringen.
Alles zusammen zeigt: Meine Kritik am Krisenmana-
gement der Bundesregierung ist groß. Insbesondere der
Fiskalpakt ist für mich keine Antwort. Im Gegenteil, er
verschärft die Krise und wird einem sozialen Europa,
wie ich es mir vorstelle, in das ich Hoffnungen setze und
für das ich politisch kämpfe, nicht gerecht.
Mechthild Rawert (SPD): Ich werfe der Bundes-
regierung, insbesondere Bundeskanzlerin Merkel, vor,
das Parlament völlig unzureichend informiert und sich
der parlamentarischen Debatte gestellt zu haben. Dieses
nachweislich verfassungswidrige Verhalten ist unver-
züglich zu ändern.
22776 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 188. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Juni 2012
(A) (C)
(D)(B)
Nach intensiver Überlegung werde ich – obgleich das
politische, wirtschaftliche, finanz- und steuerpolitische
Agieren der Bundesregierung völlig falsch ist – dem
ESM und Fiskalpakt zustimmen. Ein Grund sind die
Verhandlungserfolge der SPD, unter anderem Finanz-
transaktionsteuer, Wachstums- und Investitionspakete,
aber auch die Stärkung der Kommunen. Ich erwarte eine
erstarkende Steuerpolitik durch den Bund, erwarte von
uns allen aktive Schritte für ein soziales und politisches
Europa. Ich werde meine Entscheidungsgründe in einem
Bürgerbrief in meinem Wahlkreis Tempelhof-Schöne-
berg ausführlich und transparent – vergleiche Website –
darlegen.
Gerold Reichenbach (SPD): Ich lehne den Fiskal-
pakt ab, weil er für die Finanzpolitik Europas und ihre
künftige Weiterentwicklung das völlig einseitige Signal
in Richtung einer reinen Austeritätspolitik setzt.
In dieser Einschätzung haben mich die eindringlichen
Warnungen vieler Ökonomen und führender Gewerk-
schafter, die sich besorgt an uns Bundestagsabgeordnete
gewandt haben, ebenso bestärkt wie diesbezügliche
Schreiben von Bürgerinnen und Bürgern. Das Ziel einer
nachhaltigen Konsolidierung der Haushalte der europäi-
schen Länder ist richtig und wichtig. Dieses Ziel wird
mit dem einseitigen Instrument des Fiskalpakts jedoch
nicht erreicht werden können, weil er die Frage gerecht
organisierter Steuereinnahmen und nachhaltigen und
umweltverträglichen Wachstums völlig ausklammert.
Der Fiskalpakt ignoriert den engen Zusammenhang
von Staatsfinanzen und Konjunktur. Wenn die Wirtschaft
schrumpft und der Staat auch noch drastisch kürzt, dann
beschleunigt sich die wirtschaftliche Talfahrt. Darum
wird entgegen den Versprechen der Verfechter des Fis-
kalpakts die Staatsverschuldung nicht sinken! Im Gegen-
teil! Schuldenabbau geht nur anders: mit Wachstum, In-
vestitionen, guter Arbeit und gerechten Steuern.
Eine Sanierung der europäischen Finanzen wird nicht
auf dem Weg des Sozialabbaus, der Einschränkung öf-
fentlicher Dienstleistungen, schlechterer Infrastruktur,
darbender Kommunalfinanzen, zunehmender Armut und
Ungleichheit gelingen. Diese Form der Sanierung dient
nur dazu, die Folgen der Finanzkrise einseitig auf die
Bürger Europas abzuladen und die Verursacher und Pro-
fitteure schadlos zu halten. Nicht laxe Haushaltspolitik
ist der Hauptverursacher der Krise. Vor der Finanzkrise
sind überall in Europa die Staatsschuldenquoten gesun-
ken. Erst infolge der Finanzkrise und der notwendigen
Rettungsmaßnahmen der Staaten gingen die Defizite in
die Höhe. Die notwendigen Regulierungen für den Fi-
nanzsektor und die finanzielle Beteiligung der Verur-
sacher an den Kosten der Krisenbewältigung blieben je-
doch weitgehend aus. Ersichtlich ist die Merkel’sche
Politik gescheitert. Ihre seit mehr als zwei Jahren verord-
nete Therapie macht den Patienten nicht gesund, sondern
kränker. Ganz Südeuropa stürzt immer mehr in den wirt-
schaftlichen und sozialen Ruin. Als Folge davon brechen
jetzt deutsche Exporte ein, auch für Deutschland kom-
men die Einschläge näher.
Ich begrüße und anerkenne ausdrücklich, dass es der
SPD und den europäischen Sozialdemokraten gelungen
ist, mit der Durchsetzung der Finanztransaktionsteuer
und der Etablierung eines europäischen Wachstumspro-
gramms eine Richtungswende in der europäischen Poli-
tik zu erreichen. Gleichwohl beschränkt sich die völker-
rechtliche Bindung des Fiskalpakts auf eine reine Politik
der Austerität.
Meine Befürchtung ist, dass lediglich der völkerrecht-
lich vereinbarte Mechanismus, so wie bei der Ausgestal-
tung Europas nach den Maastrichter Verträgen, zur
Grundlage der Weiterentwicklung der europäischen
Politik wird. So wie Maastricht nur zu einem Europa der
Märkte, des freien Waren- und Kapitalverkehrs und nicht
zu einem Europa der Bürger als Grundlage taugte, so
birgt der Fiskalpakt die reale Gefahr in sich, dass dem
erneut nur eine Weiterentwicklung in eine reine Fiskal-
politik folgt und das soziale Europa der Bürger wieder
außen vor bleibt.
Ein Europa, das aber nur dem Wirtschaftsverkehr und
den Finanzmärkten dient, wird die Akzeptanz seiner
Bürger endgültig verlieren. Aus dieser großen Sorge um
die europäische Idee eines Europas der Solidarität und
des Ausgleichs, das diesem kriegsgeplagten Kontinent
nachhaltigen Frieden beschert hat, kann ich persönlich
dem Fiskalpakt nicht zustimmen. Ich habe gleichwohl
hohen Respekt vor meinen Fraktionskollegen, die mehr-
heitlich in ihrer Güterabwägung zu einer anderen Ent-
scheidung gekommen sind.
Dr. Birgit Reinemund (FDP): Den ESM in Verbin-
dung mit dem Fiskalpakt erachte ich trotz aller Beden-
ken als notwendiges Instrumentarium, um der europäi-
schen Schuldenkrise mittelfristig begegnen zu können
und kurzfristig Hilfeleistungen gewähren zu können, im-
mer verbunden mit Auflagen zu Strukturreformen, die
auf lange Sicht die Wettbewerbsfähigkeit der Problem-
staaten wiederherstellen und diesen ermöglicht, sich
wieder selbst am Kapitalmarkt zu refinanzieren.
Große Zweifel haben die Gipfelbeschlüsse der letzten
Nacht aufgeworfen, die unter anderem eine direkte Re-
kapitalisierung von Banken ohne Einschaltung des je-
weiligen Staates enthalten – soweit dies heute aus der
Presse und aus den Gesprächen verifiziert werden
konnte. Dies ist im EFSF explizit ausgeschlossen und
auch in den heute zur Abstimmung stehenden Gesetzes-
entwürfen nicht vorgesehen (Art. 15 ESM).
Erstmals werde ich heute einem Vertrag zustimmen
im vollen Bewusstsein, dass ein für mich zentraler Be-
standteil bereits vor Vertragsunterzeichnung von den
Verhandlungsführern auf europäischer Ebene bereits
wieder infrage gestellt wird mit Zustimmung unserer
Kanzlerin.
Ich stimme dennoch zu, da ich
– erstens von der Richtigkeit von ESM/Fiskalpakt über-
zeugt bin,
– zweitens am Inhalt der Gesetzentwürfe selbst sich seit
gestern nichts geändert hat – allerdings an der poli-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 188. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Juni 2012 22777
(A) (C)
(D)(B)
tisch geäußerten mittelfristigen Zielsetzung, die ich
nicht teile, und
– drittens mir heute mehrfach unter anderem von unse-
rer Kanzlerin, unserem Außenminister und anderen
versichert wurde, dass eine Aushebelung des Art. 15
nicht möglich ist ohne eine neuen Parlamentsbe-
schluss
und obwohl heute keine rechtsverbindliche Erklärung
dazu vorlag, die ich in der Kürze der Zeit hätte prüfen
(lassen) können – im Vertrauen auf die Richtigkeit der
Ausführungen unserer Kanzlerin, die als Einzige den In-
halt der gestrigen Verhandlungen mitbestimmt und mit-
formuliert hat.
Einer Aushebelung der Konditionierung, das heißt der
Auflagen und Bedingungen für Staaten, die Hilfeleistun-
gen anfordern, werde ich heute und in Zukunft nicht zu-
stimmen.
René Röspel (SPD): Ich bin überzeugt, dass auch
innerhalb der EU Solidarität herrschen muss und wir als
größtes europäisches Land und eine der stärksten Wirt-
schaftsnationen in der Welt auch Verantwortung gegen-
über schwächeren Ländern haben. Das bedeutet nicht,
dass ich damit deren Steuereinnahme- oder Ausgabever-
halten gutheiße. Ich sehe einige Bestandteile des ESM
kritisch und andererseits die Notwendigkeit einiger Staa-
ten, Geld aus dem ESM bekommen zu müssen. In der
Abwägung dessen habe ich deshalb dem ESM zuge-
stimmt.
Mit dem sogenannten Fiskalpakt habe ich aus ökono-
mischen und grundsätzlichen Gründen große Probleme:
Ich halte den Fiskalpakt für ökonomisch falsch. Die
zentrale Zielsetzung, das jährliche strukturelle Haus-
haltssaldo des Gesamtstaates zu reduzieren und jedes
Jahr ein Zwanzigstel des gesamtstaatlichen Schulden-
standes abzubauen, der 60 Prozent des BIP überschrei-
tet, hört sich gut an. Nach meiner Einschätzung wird das
die wirtschaftliche und soziale Situation in vielen Län-
dern verschärfen und eher zu Stagnation als zu Wachs-
tum führen. Damit wird nicht nur das Ziel der Haus-
haltsanierung und des Schuldenabbaus verfehlt, sondern
mehr wirtschaftliche und soziale Probleme wie zum Bei-
spiel Arbeitslosigkeit werden hervorgerufen.
Bei der Krise des Euro-Raumes handelt es sich nicht
um eine Staatsschuldenkrise, aber der Fiskalpakt bezieht
sich nur auf diese.
Insofern war der Verhandlungserfolg der SPD unter
der Führung von Sigmar Gabriel sehr gut, der dazu ge-
führt hat, dass sich die Regierung Merkel nun für die Fi-
nanztransaktionsteuer und ein Wachstumsprogramm auf
europäischer Ebene einsetzt.
Es ist richtig und wichtig, was die SPD heraus ver-
handelt hat, aber unabhängig davon bleiben für mich
eine Reihe grundsätzlicher Probleme bestehen, unter an-
derem:
Erstens. Die Frage nach der Unabänderlichkeit und
Rechtswirksamkeit des Fiskalpaktes. Ich habe im Ver-
trag keine Möglichkeit zur Kündigung oder zum Aus-
stieg gefunden, und ich komme an der Frage nicht
vorbei, welchen Spielraum nachfolgende Parlamente
überhaupt noch haben werden. Auch bei den Anhörun-
gen sind dazu sehr unterschiedliche Auffassungen sei-
tens der Sachverständigen vertreten worden. Entweder
greifen die im Vertrag zudem unbestimmten „noch vor-
zuschlagenden“ Möglichkeiten der EU-Kommission
– am Bundestag vorbei – durch oder sie sind nicht
rechtsverbindlich, und es handelt sich um reine Symbol-
politik. Für beides stehe ich nicht zur Verfügung
Zweitens. Die ungeklärten Auswirkungen auf
Deutschland.
Nach der Ein-Zwanzigstel-Regelung des Fiskalpakts
muss der Bund jedes Jahr rund 25 Milliarden Euro
Schulden abbauen bzw. einsparen. Bundesfinanzminister
Schäuble plant für das Jahr 2013 eine Neuverschuldung
von 19 Milliarden Euro und den Haushaltsausgleich für
das Jahr 2015/16. Wie gleichzeitig 25 Milliarden Euro
eingespart werden sollen, um den Fiskalpakt zu erfüllen,
wird an keiner Stelle gesagt.
Darauf gibt es aber nur drei Antworten:
Erstens. Die Bundesregierung glaubt nicht an die Vor-
gaben und plant jetzt schon die Nichteinhaltung des Ver-
trages – das wäre eine üble Täuschung der Bevölkerung
und der europäischen Partner.
Zweitens. Um die 25 Milliarden Euro einzutreiben,
werden Steuern erhöht. Am einfachsten durchzusetzen
ist zum Beispiel die Erhöhung der Mehrwertsteuer um
3 Prozentpunkte. Dies trifft im Wesentlichen untere und
mittlere Einkommen und Familien.
Drittens. Es wird erhebliche Einsparungen im Haus-
halt geben müssen – dies geht nur zulasten des Sozialbe-
reiches und auf Kosten von Infrastruktur- und Bildungs-
maßnahmen.
Alle drei Antworten sind für mich nicht akzeptabel!
Viele Fragen sind offengeblieben. Vielleicht hätte es
noch Antworten geben können, aber die Bundesregie-
rung hat einen nicht nachvollziehbaren und nicht akzep-
tablen Zeitdruck aufgebaut, der das nicht zulässt.
Auch aus diesen Gründen konnte ich nicht guten Ge-
wissens zustimmen und habe daher beim Fiskalpakt mit
Nein gestimmt.
Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Die Einrichtung des ESM ist notwendig zum Zusam-
menhalt der Europäischen Union und des Euro. Mit der
Ratifikation des Gesetzes kommt der Bundestag seiner
Integrationsverantwortung im Sinne des Grundgesetzes
nach. Das Bundesverfassungsgericht hat die Integra-
tionsfreudigkeit des Grundgesetzes in seiner Rechtspre-
chung mehrfach betont. Der ESM dient dem Schutz der
europäischen Integration ebenso wie der Abwehr von
Gefahren, die die Stabilität der Euro-Währungszone als
Ganzes sowie des Euro als Währung bedrohen. Mit der
Einrichtung des ESM kommt der Bundestag ebenfalls
seiner Stabilitätsverantwortung nach. Gleichzeitig
22778 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 188. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Juni 2012
(A) (C)
(D)(B)
kommt der Bundestag mit den Regelungen des ESMFinG
zur fortlaufenden Beteiligung und Information des Bun-
destages seiner Haushaltsverantwortung nach. Die Be-
willigung von Gewährleistungen aus dem Bundeshaus-
halt nach Art. 115 GG wird ergänzt durch zahlreiche
fortlaufende Rechte des Bundestages, auf die Geschicke
und die Beschlüsse der Entscheidungsgremien des ESM
Einfluss zu nehmen. Insbesondere ist dieses der Fall,
wenn der Bundestag durch Parlamentsvorbehalte die
Politik der Bundesregierung im ESM vorab genehmigen
muss.
Es ist ein großer Erfolg gerade auch der Arbeit der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, eine solche umfas-
sende Beteiligung des Bundestages erreicht zu haben.
Gleichzeitig ist es für die Stabilität der Euro-Zone eben-
falls unerlässlich, dass der ESM als internationale Fi-
nanzorganisation effektiv handlungsfähig ist. Zur Wah-
rung der Rechte des Bundestages habe ich im
Beratungsverlauf des ESMFinG entschieden dafür ge-
stritten, einen Parlamentsvorbehalt vor der abschließen-
den Entscheidung über eine Stabilitätshilfe nach Art. 13
Abs. 3 Satz 3 (Vereinbarung über die Finanzhilfefazili-
tät) und Art. 13 Abs. 4 (Memorandum of Understanding)
des ESM-Vertrags vorzusehen. Erst zu diesem Zeitpunkt
ist es möglich, die wirtschaftspolitische Prognoseent-
scheidung im Lichte der ausgehandelten und festgeleg-
ten Konditionalitäten des hilfeersuchenden Staats zu
treffen. Genau diese Entscheidung sollte aber öffentlich
im Plenum stattfinden. Den Parlamentsvorbehalt für
Entscheidung nach Art. 13 Abs. 2 des ESM-Vertrags
halte ich hingegen für nicht angemessen. Eine obligato-
rische zweifache Befassung des Plenums ist meiner An-
sicht nach nicht notwendig, um die Mitwirkung des
Deutschen Bundestages am Verfahren zur Gewährung
einer Stabilitätshilfe sicherzustellen. Vielmehr errichtet
diese Regelung aus meiner Sicht eine unverhältnis-
mäßige politische Hürde für das Zustandekommen einer
Stabilitätshilfe, die dem Interesse eines effektiven und
raschen Zustandekommens von konkreten Verhandlun-
gen über Stabilitätshilfe zuwider laufen. Ein solches
effektives und rasches Handeln der ESM-Organe kann
aber von entscheidender Bedeutung in einer zugespitzten
Krisensituation sein. Zudem führt dieser Parlamentsvor-
behalt zu einer übermäßigen Inanspruchnahme von Ple-
narentscheidungen, ohne dass der Bundestag selber die
Möglichkeit hätte, im Einzelfall abzuwägen, wie ge-
wichtig bereits die Entscheidung des Art. 13 Abs. 2 des
ESM-Vertrags für seine Haushaltsverantwortung ist.
Meiner Ansicht nach wäre gerade im Lichte des Urteils
des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Juni 2012 eine
andere Regelung sinnvoller gewesen. Das Urteil betont
ausdrücklich, dass auch der ESM und seine Entschei-
dungen unter den Art. 23 GG fallen. Der im Art. 23 GG
vorgesehene Regelfall der Beteiligung des Deutschen
Bundestages über das Mittel der Stellungnahme und ins-
besondere in der einfachgesetzlichen Ausprägung des
EUZBBG mit dem Mittel der maßgeblichen Stellung-
nahme aus § 9 Abs. 4 EUZBBG stellen aus meiner Sicht
eine ausreichend starke Möglichkeit der Mitwirkung des
Bundestages für Entscheidungen nach Art. 13 Abs. 2
ESM-Vertrag dar. Tatsächlich ist es politisch kaum vor-
stellbar, dass ein deutscher Vertreter in Gremien des
ESM entgegen einer Stellungnahme des Bundestages ab-
stimmt, außer eventuell in einer absoluten Notsituation.
Eine heimliche Umgehung des Willens des Bundestages
durch Nichtinformation wäre aufgrund des Urteils vom
19. Juni 2012 verfassungswidrig und damit so gut wie
ausgeschlossen. Zudem kann der Bundestag durch das
Mittel der maßgeblichen Stellungnahme eine ab-
weichende Beschlussfassung des deutschen Vertreters
ohne vorherige Konsultation bzw. ohne das Bemühen,
ein Einvernehmen mit dem Bundestag herzustellen ver-
hindern. Eine heimliche Umgehung ist somit vollends
ausgeschlossen. Die Regelungen des Art. 23 in Verbin-
dung mit dem EUZBBG reichen also vollkommen aus,
um die Beteiligung des Bundestages vollumfänglich zu
gewährleisten. Der Parlamentsvorbehalt bringt keine zu-
sätzliche Qualität der Mitwirkung in Bezug auf eine
sachliche und inhaltliche Einflussnahme auf die an-
schließend stattfindenden Verhandlungen über Kondi-
tionalität und konkrete Ausgestaltung der Finanzhilfe-
fazilität. Der vorgesehene Parlamentsvorbehalt schließt
somit letztlich nur die Möglichkeit der Bundesregierung
aus, aus wichtigen außen- oder integrationspolitischen
Gründen abweichende Entscheidungen zu treffen. Diese
Möglichkeit ist meiner Ansicht nach mit einer solch
hohen politischen Hürde für eine von der Mehrheit des
Bundestages getragene Regierung verbunden, dass sie
ebenso nahezu ausgeschlossen ist. Ein Zuwiderhandeln
der Bundesregierung würde vor dem Hintergrund des
zweiten noch ausstehenden Parlamentsvorbehalts zur
endgültigen Entscheidung über eine Stabilitätshilfe
gemäß Art. 13 Abs. 3 Satz 3 (Vereinbarung über die
Finanzhilfefazilität) und Art. 13 Abs. 4 (Memorandum
of Understanding) des ESM-Vertrags zudem zu keinen
Konsequenzen für den Bundeshaushalt führen. Vor die-
sem Hintergrund halte ich ein Abweichen vom Re-
gelverfahren des Art. 23 GG für die Beteiligung des
Deutschen Bundestages, die zwangsläufige Befassung
des Plenums zu einem Zeitpunkt, zu dem eine fundierte
Debatte über die konkrete Ausgestaltung der Hilfe nur
begrenzt geführt werden kann, und vor dem Hintergrund
der unnötigen politischen Hürde für die Handlungsfähig-
keit einer Einrichtung wie des ESM, die im Notfall Hand-
lungsfähigkeit beweisen muss, um konkrete Risiken für
die Stabilität der Euro-Zone abzuwenden, für nicht an-
gemessen. Ebenfalls trägt dieses Verfahren auch im Par-
lament nicht zur Effizienz des Entscheidungsprozesses
bei. Mit dieser Position konnte ich mich im Laufe der
Beratungen nicht durchsetzen. Dennoch stimme ich
heute dem ESMFinG zu.
Swen Schulz (Spandau) (SPD): Ich stimme gegen
die Ratifizierung des sogenannten Fiskalpakts.
Er ist mit seiner reduzierten Sicht auf Ausgabenkür-
zungen Ausdruck und Kernstück einer vollkommen ver-
fehlten Politik. Das Ziel der Reduzierung der Staats-
verschuldung unterstütze ich. Doch die Entwicklung in
Europa zeigt, dass die Sparvorgaben zu untragbaren so-
zialen Verwerfungen führen und das Ziel der Haushalts-
konsolidierung eben nicht erreichen, sondern sogar kon-
terkarieren. Ausgeglichene Haushalte können nur durch
höhere Steuereinnahmen und Wachstum erzielt werden,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 188. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Juni 2012 22779
(A) (C)
(D)(B)
wie auch die Erfahrung Deutschlands in der Bankenkrise
vor wenigen Jahren zeigt. Die Auswirkungen der Krise
von Euro-Ländern erreichen bereits heute erkennbar
auch unsere Wirtschaft. Anstatt diese Politik zu ver-
schärfen, muss gegengesteuert werden.
Aber auch die Auswirkungen des Fiskalpakts auf
Deutschlands Haushalt werden erheblich sein. Die Ver-
einbarungen der Bundesregierung mit den Bundeslän-
dern zeigen, dass die europäische Schuldenbremse eben
nicht, wie von der Bundesregierung behauptet, durch die
Schuldenbremse des Grundgesetzes abgedeckt ist. Die
Lasten trägt nun einseitig der Bund. Die zusätzliche Re-
gel, wonach die Länder ihren Schuldenstand über der
Grenze von 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts um
jährlich ein Zwanzigstel verringern müssen, führt zu-
sätzlich zu Einsparvorschriften in Höhe von 25 Milliar-
den Euro jährlich. Es ist vollkommen unklar, wie und zu
wessen Lasten dieses Ziel erreicht werden soll.
Vor diesem Hintergrund begrüße ich ausdrücklich,
dass nach Verhandlungen von SPD und Bündnis 90/Die
Grünen auf europäischer Ebene eine Trendwende er-
reicht werden konnte zugunsten einer aktiven Politik der
Wachstumsimpulse und der Einführung einer Finanz-
transaktionsteuer, die geeignet ist, die Finanzmärkte zu
entschleunigen und an den Kosten der von ihnen verur-
sachten Krise zu beteiligen.
Allerdings ändert diese nun begonnene gute Entwick-
lung nichts an dem im Kern falschen Fiskalpakt. Über-
dies stehen die von mir positiv bewerteten Vereinbarun-
gen noch auf unsicherem Boden und sind von begrenzter
Haltbarkeit, während der Bundestag nun über ein festes,
verbindliches und unkündbares Vertragswerk abstimmt.
Die damit verbundenen Einschränkungen auch der
Handlungsmöglichkeiten des Deutschen Bundestages
– ohne dass etwa mit der Ausweitung der Kompetenzen
des Europäischen Parlaments ein demokratisches Ge-
gengewicht geschaffen wird – kann ich nicht akzeptie-
ren.
Frank Schwabe (SPD): Ich stimme dem heutigen
„europäischen Rettungspaket“ zu. Das mache ich nicht,
weil ich davon überzeugt bin, dass beides „die“ Lösung
der europäischen Krise ist. Ich will allerdings vor dem
Hintergrund der aktuellen politischen Lage nicht verant-
worten, dass die EU bei einer Ablehnung dieser beiden
Instrumente durch Deutschland in eine chaotische Lage
geraten könnte.
Im Kern ist die europäische Krise eben keine „Staats-
schuldenkrise“. Es fehlt vielmehr eine stärker ab-
gestimmte Wirtschafts-, Sozial-, Arbeitsmarkt- und
Finanzpolitik. Und es fehlen die klaren und unmissver-
ständlichen Signale an die Spekulanten, dass sie es nicht
schaffen, den Euro in die Knie zu zwingen. Dabei ist die
deutsche schwarz-gelbe, von Kanzlerin Merkel geführte
Bundesregierung Teil des Problems und nicht der
Lösung.
Dennoch habe ich den Eindruck und hoffe, dass sich
zurzeit ein Paradigmenwechsel in der Debatte über die
Lösung der europäischen Krise vollzieht. Es ist auch
meiner Partei und Fraktion in Deutschland – gemeinsam
mit europäischen Partnern – gelungen, die Richtung der
Debatte zu verändern. Die Finanztransaktionsteuer muss
kommen, um auch die zu beteiligen, die die Krise zu
verantworten haben und um Spekulationen unattraktiver
zu machen. Und wir brauchen wieder eine Zukunftsper-
spektive für Europa. Das geht nicht durch eine rigide
Sparpolitik, die die Spirale nach unten verstärken muss.
Jetzt geht es um Perspektiven für Jugendliche und nach-
haltiges Wachstum, zum Beispiel durch den Ausbau von
erneuerbaren Energien.
Zu einer gemeinschaftlichen Verantwortung auch in
Finanzfragen in der EU gibt es im Kern keine Alterna-
tive, die einen Fortbestand der so wichtigen Währungs-
union ermöglicht. Deshalb braucht es den ESM im
Grundsatz. Der Fiskalpakt ist geeignet, die so falsche
Sparspirale zu verschärfen und für die Zukunft festzule-
gen. Eine nachhaltige Haushaltspolitik ist richtig, sie
muss aber vor allem durch eine Verbesserung der Ein-
nahmebasis der Staaten erreicht werden. Vor dem Hin-
tergrund des Gesamtpakets stimme ich jedoch auch dem
Fiskalpakt mit durchaus großen Bedenken zu.
Bei alldem bleiben außerdem verfassungsrechtliche
Bedenken. Ich finde es ausdrücklich richtig, dass die
europäische Integration voranschreitet. Damit ist natür-
lich verbunden, dass die nationale Ebene an Gestaltungs-
möglichkeiten verliert. Dabei dürfen aber Entscheidun-
gen nicht an den demokratisch legitimierten Parlamenten
vorbei getroffen werden. Es geht also zum einen um
einen verfassungsrechtlich angemessenen Weg der wei-
teren Übertragung von Verantwortlichkeiten und Ent-
scheidungskompetenzen auf die Ebene der Europäischen
Union und zum anderen um eine Stärkung des Europäi-
schen Parlaments gegenüber dem Europäischen Rat.
Auch diese Bedenken stelle ich in der Abwägung
zurück.
Rolf Schwanitz (SPD): Wir halten die Stärkung der
Haushaltsdisziplin innerhalb der Europäischen Union
sowie die bessere Koordinierung der Fiskal-, Wirt-
schafts- und Sozialpolitik zwischen den Euro-Ländern
für richtig und geboten. Das von der Bundesregierung
und den Koalitionsfraktionen vorgelegte Ratifizierungs-
gesetz zum Fiskalpakt haben wir dennoch abgelehnt,
weil:
– die verfassungsrechtliche Wirkung des Ratifizierungs-
gesetzes unserer Rechtsauffassung widerspricht und von
uns nicht geteilt wird. Das Ratifizierungsgesetz gibt vor,
den Verfassungsgeber unmittelbar innerstaatlich zu bin-
den und insoweit eine Unabänderbarkeit der deutschen
Schuldenbremse im Grundgesetz (Versteinerung) zu be-
wirken. Diese behauptete innerstaatliche, verfassungs-
rechtliche Wirkung des Ratifizierungsgesetzes wurde bei
der Anhörung im Haushaltsausschuss von nahezu allen
Sachverständigen verneint. Sie verwiesen darauf, dass es
sich beim Fiskalpakt lediglich um die Ratifizierung eines
völkerrechtlichen Vertrags handelt, die nach der übli-
chen Staatspraxis einfachgesetzlich erfolgen kann, und
eine innerstaatliche Bindung des Verfassungsgebers in-
soweit nicht entsteht. Ergäbe sich aus diesem völker-
22780 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 188. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Juni 2012
(A) (C)
(D)(B)
rechtlichen Vertrag die Notwendigkeit der Anpassung
des innerstaatlichen Rechts, so erfolge dies in Deutsch-
land üblicherweise durch entsprechende Änderungsge-
setze.
– der Deutsche Bundestag mit der heute beschlossenen
verfassungsrechtlichen Wirkung des Ratifizierungsge-
setzes zum Fiskalpakt eine neue, von uns abgelehnte
Staatspraxis schafft. Nach bisheriger Staatspraxis wur-
den völkerrechtliche Verträge in Deutschland einfachge-
setzlich ratifiziert. Wenn sich aus diesen Verträgen die
Notwendigkeit einer Änderung des innerstaatlichen
Rechts ergab, so wurden entsprechende Änderungsge-
setze eingebracht, beraten und verabschiedet – im Falle
des Grundgesetzes erfolgten entsprechende Änderungen
mit den dafür erforderlichen Mehrheiten. Nach der nun
über den Fiskalpakt erstmals eröffneten neuen Staatspra-
xis erwachsen diese innerstaatlichen Wirkungen unmit-
telbar aus dem Ratifizierungsgesetz, ohne dass dafür ein
entsprechendes Änderungsgesetz vorgelegt, beraten und
beschlossen werden muss. Das halten wir auch im Blick
auf das Demokratieprinzip für eine äußerst fragwürdige
und bedenkliche Entwicklung; denn den Bürgerinnen
und Bürgern wird durch das Entfallen eines kompletten
Gesetzgebungsganges zur Änderung des geltenden
Rechts ein wesentliches Element der Transparenz und
der demokratischen Teilhabe genommen. Darüber hi-
naus können sich aus dieser neuen Staatspraxis viele,
bisher nicht diskutierte Weiterungen ergeben. Allgemei-
nen völkerrechtlichen Verträgen könnte nach dieser
neuen Staatspraxis generell eine unmittelbare innerstaat-
liche Wirkung zuerkannt werden, wie wir sie bisher nur
aus dem Prozess der europäischen Integration und dem
Recht nach Art. 23 Grundgesetz kennen. Dies könnte
sich zu einer neuen Methode für ein neues, völkerrechts-
basiertes Integrationsmodell entwickeln, an dessen Ende
vielleicht ein „Europa der zwei Geschwindigkeiten“ und
zugleich eine Relativierung der Europäischen Union ste-
hen könnte. In der deutschen Öffentlichkeit wurde dies
bisher jedoch in keiner Weise hinreichend diskutiert. Wir
sind deshalb nicht bereit, zu diesem Zeitpunkt und an
dieser Stelle eine dafür geeignete neue Staatspraxis zu
eröffnen.
Darüber hinaus kritisieren wir den Gesetzentwurf, weil:
– der fiskalpolitische Erfolg der neuen Schuldenregelung
mehr als zweifelhaft ist. Der Wissenschaftliche Beirat
beim Bundesministerium der Finanzen kritisiert in sei-
nem aktuellen Gutachten zu den fiskalpolitischen
Institutionen in der Euro-Zone insbesondere die mit dem
sogenannten Sixpack und dem Fiskalpakt verbundene
neue Regelung zum Schuldenstand. Länder, deren
Schuldenstand über der 60-Prozent-Grenze liegt, sollen
künftig den überschießenden Betrag jedes Jahr um ein
Zwanzigstel (5 Prozent) verringern müssen. Der Wissen-
schaftliche Beirat kritisiert, dass diese Regelung im
Blick der Finanzmärkte mit einem massiven Glaubwür-
digkeitsproblem behaftet ist, da außer Deutschland im
Jahr 2013 alle anderen betroffenen Mitgliedstaaten den
sich aus der neuen Regel ergebenden Defizitabbau nicht
realisieren werden. Darüber hinaus weist der Beirat auf
die stark prozyklische Wirkung der neuen Schulden-
standregel hin. Wir halten beide Kritikpunkte für berech-
tigt.
– dadurch die Finanzbeziehungen zwischen dem Bund
und den Ländern in bisher noch nicht überschaubarer Art
und Weise und nahezu ausschließlich zulasten des Bun-
des verändert werden. Die Bundesregierung hat über
Monate hinweg gegenüber dem Parlament und der Öf-
fentlichkeit erklärt, die deutsche Schuldenbremse sei im
Vergleich zum Fiskalpakt die strengere fiskalische Rege-
lung, weshalb aus dem Fiskalpakt keine zusätzlichen
Haushaltsbelastungen in Deutschland entstehen würden.
Die nun zwischen der Bundesregierung und den Ländern
getroffenen Vereinbarungen dokumentieren das genaue
Gegenteil. Durch die finanziellen Zugeständnisse der
Bundesregierung müssen die sich aus dem Fiskalpakt er-
gebenden zusätzlichen Konsolidierungsbedarfe nun al-
lein und vollständig vom Bund getragen werden.
Rolf Schwanitz (SPD): Wir halten die Weiterent-
wicklung der EFSF zu einem dauerhaften Rettungs-
schirm für richtig und geboten. Das von der Bundes-
regierung und den Koalitionsfraktionen vorgelegte
Ratifizierungsgesetz zum ESM haben wir dennoch abge-
lehnt, weil:
– mit dem ESM-Vertrag von Deutschland gegebenen-
falls ein Maß an finanzieller Haftung übernommen wer-
den muss, welches die nach dem Grundgesetz zulässige
Grenze übersteigt. Das Bundesverfassungsgericht hat
sich in seinem Urteil vom 7. September 2011 zu einer
unmittelbar aus dem Demokratieprinzip folgenden Ober-
grenze für die Übernahme von Gewährleistungen im
Rahmen der Währungsunion geäußert und deren Verlet-
zung bei einem Betrag von 170 Milliarden Euro ver-
neint. Der Entwurf zum ESM-Finanzierungsgesetz er-
mächtigt die Bundesregierung nun zu einer deutschen
Beteiligung am genehmigten Stammkapital des ESM in
einem Umfang von 190 Milliarden Euro. Zusammen mit
den bereits bisher bei der EFSF, beim EFSM sowie beim
Griechenland-Paket eingegangenen Verpflichtungen wird
der deutsche Anteil dadurch auf insgesamt 310,3 Mil-
liarden Euro ansteigen. Mit dem Art. 25 Abs. 2 des
ESM-Vertrags wird darüber hinaus eine weitere Fall-
konstellation eröffnet. Danach muss Deutschland gege-
benenfalls auch eine Haftung für den finanziellen Aus-
fall anderer ESM-Mitglieder übernehmen. Das kann
nach unserer Interpretation des Vertragstextes über den
Betrag von 190 Milliarden Euro weit hinausgehen und
beim Ausfall aller anderen Länder eine Gesamtsumme
von bis zu 700 Milliarden Euro umfassen. Zwar fehlt es
derzeit an einer innerstaatlichen Ermächtigung der Bun-
desregierung in einer solchen Höhe; völkerrechtlich wird
jedoch durch den ESM-Vertrag der Mechanismus für ein
solches Haftungsvolumen bereits eröffnet. Wir haben er-
hebliche Zweifel, ob diese Regelung noch innerhalb der
vom Bundesverfassungsgericht beschriebenen zulässi-
gen Obergrenze liegt.
Darüber hinaus kritisieren wir den Gesetzentwurf,
weil:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 188. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Juni 2012 22781
(A) (C)
(D)(B)
– entgegen der monatelang aufrechterhaltenen Behaup-
tung der Bundesregierung und der Koalitionsfraktionen
sowie im Gegensatz zur Fassung des eingebrachten ESM-
Ratifizierungsgesetzes durch den ESM tatsächlich auch
Kompetenzen und Hoheitsrechte übertragen werden.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom
19. Juni 2012 festgestellt, dass mit dem ESM den Orga-
nen der Europäischen Union zwar nicht in dem eigent-
lich dafür vorgesehenen Verfahren nach Art. 48 Abs. 1
EUV, aber dennoch in der Sache weitere Aufgaben und
Befugnisse übertragen werden. Das Gericht führt dazu
weiter aus: „Jede Zuweisung von Aufgaben und Befug-
nissen an die Europäische Union und/oder ihre Organe
ist daher in der Sache eine Übertragung von Hoheits-
rechten, und zwar auch dann, wenn die Organe für die
Erledigung der Aufgabe ‚nur‘ im Wege der Organleihe
in Anspruch genommen und mit Befugnissen ausgestat-
tet werden.“ Das eingebrachte ESM-Ratifizierungsge-
setz stellte im Gegensatz dazu hinsichtlich seiner verfas-
sungsrechtlichen Grundlage jedoch nicht auf Art. 23
Grundgesetz, sondern lediglich auf Art. 59 Abs. 2 Satz 1
ab. Es benannte des Weiteren im Rubrum die für den Be-
schluss einer kompetenzerweiternden Übertragung er-
forderliche verfassungsändernde Mehrheit nach Art. 23
Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 2 Grundge-
setz nicht. Das in erster Lesung beratene Ratifizierungs-
gesetz war deshalb unvollständig und fehlerhaft. Erst in
der Ausschussberatung – zwei Tage vor der Schlussab-
stimmung im Plenum – wurde dieser eklatante Fehler
durch einen Änderungsantrag zum Teil korrigiert. Auch
wenn ein solcher „Kurswechsel kurz vor Toresschluss“
nach den Regeln unserer repräsentativen parlamentari-
schen Demokratie als zulässig erscheint, so kritisieren
wir den Umstand, dass durch die monatelange Ignoranz
der Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen
während der Gesetzesberatung gegenüber den Bürgerin-
nen und Bürgern eine Verschleierung dieser Kompetenz-
übertragung eingetreten ist. Zusätzlich dazu hat die Bun-
desregierung das Recht des Bundesrates auf eine
neunwöchige Frist zur Stellungnahme nach Art. 76 Abs.
2 Satz 5 Grundgesetz verletzt.
– bei der Errichtung und Ausgestaltung des ESM dem
Deutschen Bundestag durch die Bundesregierung wich-
tige Beteiligungsrechte vorenthalten worden sind und
das Parlament dadurch seiner legitimen Einwirkungs-
rechte auf den Inhalt des Vertrags beraubt wurde. Das
Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom
19. Juni 2012 festgestellt, dass die Errichtung und Aus-
gestaltung des ESM eine Angelegenheit der Europäi-
schen Union ist und der Deutsche Bundestag dabei ge-
mäß Art. 23 Abs. 2 Grundgesetz Rechte auf Mitwirkung
sowie auf umfassende und frühestmögliche Unterrich-
tung besitzt. Das Gericht hat festgestellt, dass die Bun-
desregierung diese Rechte des Parlaments verletzt hat.
– der ESM im Vergleich zur EFSF deutlich an Wirkungs-
macht gewinnt, ohne dass im ESM-Vertrag zugleich ein
höheres Maß an Transparenz, Verantwortlichkeit und de-
mokratischer Kontrolle gesichert worden ist. Der Deut-
sche Bundestag sichert sich im ESM-Finanzierungsge-
setz richtigerweise zwar umfassende Entscheidungs-,
Kontroll- und Beteiligungsrechte gegenüber der Bundes-
regierung und ihrem Vertreter im ESM-Gouverneursrat.
Die Arbeit im ESM selbst bleibt aber nahezu vollständig
intransparent und ohne Kontrolle. So ist der ESM insbe-
sondere durch die Regelungen in Art. 32 ESM-Vertrag
der sonst üblichen Kontrolle, Überwachung und Auf-
sicht entzogen. Darüber hinaus können die Bediensteten
des ESM durch die in Art. 35 ESM-Vertrag enthaltene
Immunitätsregelung weder zivilrechtlich noch straf-
rechtlich für ihre Handlungen belangt werden. Es wird
sich zeigen, ob dies der vom Bundesverfassungsgericht
geforderten Sicherung eines hinreichenden parlamentari-
schen Einflusses auf die Art und Weise des Umgangs mit
den zur Verfügung gestellten Mitteln entspricht.
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN): Wir sind in einer dramatischen Situa-
tion. Die Krise, die mit der Finanzkrise 2008 begann,
verschärft sich. Die bisherigen Rettungsmaßnahmen wa-
ren nur Notmaßnahmen, die allerdings jeweils zu spät
kamen und unzureichend waren. Der Zug der Euro-Ret-
tung ging bisher an den Kernproblemen vorbei. Bei dem
bisherigen Kurs wird sich die Situation weiter ver-
schlechtern. Schlimmer noch: Wir drohen vor die Wand
zu fahren. Wir brauchen einen Richtungswechsel. Ohne
einen Richtungswechsel ist eine Zustimmung zum Fis-
kalpakt ein großer Fehler und nicht zu verantworten.
Auch in dem Länderratsbeschluss vom vergangenen
Wochenende heißt es „Voraussetzung für eine Zustim-
mung zum Fiskalpakt ist, dass die Bundesregierung ihr
Krisenmanagement korrigiert“. Für uns ist ein solcher
Richtungswechsel nicht zu sehen. Deshalb ist unsere
Einschätzung, dass der Fiskalpakt die Krise verschärft,
und es droht die Gefahr, dass der Euro scheitert. Dem
können wir als überzeugte Europäer nicht zustimmen.
Falsche Analysen führen zu falschen Diagnosen. Des-
wegen wäre für einen Kurswechsel zuallererst eine Ver-
änderung der Analyse notwendig. Die Analyse, wir hät-
ten eine Staatsschuldenkrise, ist falsch und greift zu
kurz. Die Höhe der Staatsschulden ist zweifellos ein Pro-
blem und muss angegangen werden. Aber nicht die
Staatsschulden alleine sind das Problem – so hat bei-
spielsweise Spanien eine geringere Staatsverschuldung
als Deutschland –, sondern die Gesamtverschuldung: des
Staates, der Unternehmen, der Konsumentinnen und
Konsumenten und nicht zuletzt der Banken. Das ökono-
mische Problem ist, dass diese Gesamtverschuldung
mittlerweile ein Vielfaches dessen beträgt, was produ-
ziert wird – übrigens auch bei uns.
Aber das ist nur die eine Seite des Problems: Wichtig
ist, zu verstehen, dass jedes Mal, wenn jemand Schulden
macht, auf der anderen Seite ein Guthaben entsteht, also
Vermögen. Wenn wir auf der einen Seite eine zu hohe
Verschuldung, eine Schuldenblase, haben, gibt es auf der
anderen Seite zu viel (Finanz-)Vermögen, eine Vermö-
gensblase. Wir haben also nicht nur eine Schuldenkrise,
sondern auch eine Vermögenskrise. Dieses überschüs-
sige Vermögen ist extrem ungleich verteilt. Es ist sogar
so weit, dass die Werte der Ungleichverteilung des Ver-
mögens ein ähnliches Ausmaß erreicht haben wie vor
der Weltwirtschaftskrise Ende der 20er, Anfang der 30er.
22782 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 188. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Juni 2012
(A) (C)
(D)(B)
Auch die Diskurse über Lösungen ähneln sich. So wurde
in Deutschland mit einem strikten Sparkurs die Krise
verschärft – mit bekannten politischen Folgen – während
die USA mit dem New Deal von Roosevelt mit den drei
Säulen Finanzmarktregulierung, Investitionen in Infra-
struktur und nicht zuletzt einer Politik von mehr Umver-
teilung und sozialer Sicherheit einen Weg aus der Krise
gefunden haben.
Zweitens brauchen wir sowohl einen Abbau der
Schulden als auch eine Verringerung der Vermögens-
blase. Wenn auf der einen Seite Schulden, auf der ande-
ren Seite Vermögen zu hoch sind, geht kein Weg daran
vorbei, gleichzeitig Schulden und Vermögen zu senken.
Wenn die Schulden in einem Sektor abgebaut werden,
aber dafür auf der anderen Seite entstehen, ändert sich an
dem ökonomischen Problem nichts. Um die gleichzei-
tige Senkung von Schulden und Vermögen zu erreichen,
sind im Grundsatz drei Wege möglich: erstens ein Schul-
denerlass, wie er in Griechenland stattgefunden hat.
Weitere Schuldenerlasse wären allerdings ein Problem,
weil dadurch das Vertrauen in den Euro für jeweils wei-
tere Länder sinken würde. Die Krise würde sich verstär-
ken. Zweite Möglichkeit ist Inflation, durch die der Wert
von Schulden und Vermögen gleichzeitig sinken würde.
Auch das ist kein erstrebenswerter und ökonomisch ris-
kanter Weg. Bleibt drittens: Abbau der Verschuldung
durch Umverteilung. Deswegen der Vorschlag der Grü-
nen einer Vermögensabgabe, die zur Schuldentilgung
verwendet werden soll. Damit sind die Grünen die ein-
zige Partei, die einen konkreten Vorschlag zum Abbau
der Schulden vorgeschlagen hat, und fordern Vermö-
gensabgaben auch in den anderen europäischen Ländern.
Einen noch weiter gehenden Vorschlag, den die Grü-
nen übernommen haben, hat der Sachverständigenrat für
Wirtschaft gemacht. Sie schlagen einen Schuldentil-
gungsfonds vor, mit dem über einen langen Zeitraum die
Schulden getilgt werden sollen, die über dem Maas-
tricht-Kriterium von 60 Prozent des Bruttoinlandspro-
dukts liegen. Idealerweise sollte dabei nach unserer Mei-
nung die Tilgung wieder durch eine Vermögensabgabe
erfolgen, weil das der ökonomisch sinnvollste Weg
wäre. Dadurch würde einerseits das oben beschriebene
Problem der Vermögensverteilung angegangen und an-
dererseits ein starkes Signal für einen Abbau der Schul-
den gesetzt, der Vertrauen schafft.
Ein solcher langfristiger Schuldenabbaupfad ist we-
sentlich wichtiger als eine Begrenzung der Neuverschul-
dung. Durch Letztere werden ja die Schulden nicht redu-
ziert. Im Gegenteil kann sich durch eine Begrenzung der
Neuverschuldung die Situation sogar verschlimmern,
wenn überwiegend auf der Ausgabenseite gekürzt wird
und Investitionen unterbleiben, wie das zurzeit in Grie-
chenland, aber auch in der Weltwirtschaftskrise vor
80 Jahren zu beobachten war. Dadurch wird der Abbau
der Verschuldung verhindert, und das Problem ver-
schärft sich. Gerade in einer ökonomischen Krise ist die-
ser Weg fatal.
Drittens brauchen wir einen Green New Deal für
Europa mit seinen drei Säulen Finanzmarktregulierung,
Investitionen in Infrastruktur und einen neuen sozialen
Ausgleich durch Umverteilung. Eine Politik, die nur auf
der Ausgabenseite spart, verschärft die Krise, die ähnli-
che Züge trägt wie die Weltwirtschaftskrise vor 80 Jah-
ren. Auch diesmal wäre ein New Deal die richtige Ant-
wort, der allerdings aufgrund der nicht zu vergessenden
Probleme wie Klimawandel, Ressourcenknappheit oder
Energieversorgung eine ökologische Komponente haben
muss, also ein Green New Deal sein muss. Dazu gehört
erstens endlich eine Regulierung der Finanzmärkte, der
Banken und die Austrocknung von Steueroasen, was
alles in den letzten Jahren vernachlässigt wurde. So sind
Banken immer noch „too big to fail“ und müssen schon
wieder gerettet werden, und reiche Griechen schaffen ihr
Vermögen in die Schweiz, damit sie nicht besteuert wer-
den können. Zweitens braucht es ein Investitionspro-
gramm in Infrastruktur, zum Beispiel in Stromnetze, in
Windräder, in Solaranlagen, um dadurch die Wirtschaft
in den Krisenstaaten zu stärken. Drittens ist aber auch
eine Politik für mehr Umverteilung notwendig. Neben
der beschriebenen Vermögensumverteilung braucht es
einen Aufbau bzw. eine Stärkung von Mindestsiche-
rungsleistungen und der Sozialversicherungen und nicht
einen Abbau.
Viertens braucht es Antworten auf eine wichtige
Ursache für die Krise: die sogenannten außenwirtschaft-
lichen Ungleichgewichte, die eng mit der Verschul-
dungskrise zusammenhängen. Insbesondere Deutsch-
land hat über Jahre mehr Güter exportiert als importiert,
während zum Beispiel Griechenland mehr Güter impor-
tiert als exportiert hat. Anders – und etwas vereinfacht
ausgedrückt – heißt das: Wir haben dauerhaft mehr pro-
duziert, als wir selbst konsumiert haben, während das in
Griechenland umgekehrt war. Wir haben also gespart
und Vermögen aufgebaut – allerdings nur bei einem Teil
der Bevölkerung –, während in Griechenland die Schul-
den gestiegen sind. Oft wird gelobt, dass wir Exportwelt-
meister sind. Ein dauerhafter Exportüberschuss ist aber
wohlfahrtsökonomisch nicht erstrebenswert. Wenn mehr
produziert als konsumiert wird, heißt das Konsumver-
zicht zugunsten von Sparen und Vermögensaufbau. Das
macht nur Sinn, wenn irgendwann das Vermögen wieder
abgebaut wird und dann mehr konsumiert werden kann.
Völlig abstrus wird das Ganze, wenn die Schulden,
durch die das Vermögen aufgebaut wurde, nicht voll
oder gar nicht zurückgezahlt werden können. Die Ex-
portüberschüsse in Deutschland sind nicht vom Himmel
gefallen und sind insbesondere die Folge einer Politik
für bessere „Wettbewerbsfähigkeit“ durch geringere
Löhne, um den Export zu steigern. Die außenwirtschaft-
lichen Ungleichgewichte und der starke Anstieg des Nie-
driglohnsektors hängen miteinander zusammen. Das
fällt jetzt wieder auf uns zurück. Deshalb wäre die Ein-
führung von Mindestlöhnen eine wichtige Forderung im
Rahmen der Verhandlungen um den Fiskalpakt gewesen.
Unter anderem wegen der außenwirtschaftlichen Un-
gleichgewichte ist eine koordinierte Wirtschafts- und
Fiskalpolitik der Europäischen Union unbedingt notwen-
dig, um aus der Krise zu kommen und, vor allem, um
weitere Krisen zu vermeiden. Eine gemeinsame Fiskal-
politik darf dabei nicht auf Haushaltspolitik beschränkt
bleiben, sondern muss, um effektiv zu sein, auch Kom-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 188. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Juni 2012 22783
(A) (C)
(D)(B)
petenzen in der Steuerpolitik beinhalten. Um zu einer
europäischen Wirtschafts- und Fiskalpolitik zu kommen,
sind umfangreiche institutionelle Veränderungen not-
wendig, die letztlich nur durch Veränderungen des Euro-
päischen Vertrags möglich sind. Dabei ist wichtig, dass
diese Veränderungen mit einer Stärkung des Europäi-
schen Parlaments und der nationalen Parlamente einher-
gehen müssen. Das ist alles nicht einfach und schnell zu
erreichen. Die Einberufung eines Europäischen Kon-
vents wäre aber ein starkes ökonomisches Signal, das so-
fort wirken würde, weil dadurch einer der Grundfehler
bei der Einführung des Euro beseitigt würde. Noch stär-
ker wäre das Signal, wenn deutlich gemacht würde, dass
das Ziel nicht nur eine Wirtschafts- und Fiskalunion,
sondern eine echte politische Union mit einer europäi-
schen Verfassung wäre.
Fünftens muss bereits kurzfristig das Problem gelöst
werden, dass die Krisenstaaten Zinsen zahlen müssen,
die dazu führen, dass sie gar nicht aus der Schuldenspi-
rale herauskommen können. Die hohen Zinsen führen
dazu, dass die Wahrscheinlichkeit, dass Schulden zu-
rückgezahlt werden, sinkt. Dadurch steigen die Zinsen
noch weiter usw. Dieser Teufelskreis muss unterbrochen
werden. Eine Möglichkeit wäre, dass wieder die EZB
einspringt und Staatspapiere kauft. Besser wäre es, wenn
der ESM eine Banklizenz erhält und dadurch die Staaten
mit Krediten zu bezahlbaren Zinsen versorgen kann.
Mittelfristig werden nur Euro-Bonds diesen Teufelskreis
durchbrechen können und das notwendige Vertrauen
herstellen können, dass die Schulden wieder zurückge-
zahlt werden können.
Darüber hinaus gibt es verfassungsrechtliche Beden-
ken gegen den Fiskalpakt; denn er überträgt hoheitliche
Rechte dauerhaft auf ein zwischenstaatliches – und nicht
demokratisches – Organ. Der Fiskalvertrag sieht keine
Kündigungsmöglichkeit vor, und dies bedeutet gemäß
Art. 56 der Wiener Vertragsrechtskonvention, dass er
grundsätzlich nicht einseitig kündbar ist – es gilt der
Grundsatz „pacta sunt servanda“. Diese unkündbare
Übertragung von Hoheitsrechten verstieße deshalb ge-
gen die rote Linie, die das Bundesverfassungsgericht im
Lissabon-Urteil gezogen hat. Es ist nicht zulässig, dass
zwischenstaatliche Einrichtungen permanent weitge-
hende Kontrollbefugnisse über den Haushalt der Bun-
desrepublik Deutschland erlangen, ohne dass dies zu-
nächst über eine Änderung des Grundgesetzes gemäß
Art. 146 GG erlaubt worden ist.
Wir sehen die Zukunft Deutschlands in einem verei-
nigten Europa – wir brauchen mehr Integration, nicht
weniger. Allerdings muss dies ein soziales Europa sein,
kein Europa der Banken und der Reichen. Nur ein soli-
darisches Europa wird den Herausforderungen der
Zukunft gewachsen sein – nicht nur in Bezug auf das
Finanzsystem, sondern auch zur Abwendung der Gefah-
ren für unsere globalen Ökosysteme.
Ohne eine Schuldentilgung, die vor allem an der Ein-
nahmeseite ansetzt, und ohne Maßnahmen gegen die
hohen Zinsbelastungen gefährdet der Fiskalpakt den so-
zialen Zusammenhalt in Europa. Schon heute sehen wir
die sozial unausgewogenen Auswirkungen dieser rigiden
Sparpolitik. Insbesondere in Defizitländern wird durch
die hohen Zinsen, die diese nach wie vor bedienen müs-
sen, in Verbindung mit den Vorgaben des Fiskalpakts ein
großer Druck auf die nationalen Regierungen und damit
auch auf die Sozialsysteme ausgeübt. Sie können nur mit
radikalen und überstürzten Sparprogrammen reagieren.
Der ausschließlichen Sparpolitik wurden zwar durch die
Verhandlungen Investitionen zur Seite gestellt, um das
Wirtschaftswachstum anzukurbeln. Der einseitige
Spardruck mit Blick auf die Ausgaben besteht weiterhin
ungebrochen und wurde auch nicht mit sozialverträg-
lichen Regeln unterlegt. Letztlich wird der Fiskalpakt
somit erhebliche soziale Lasten mit sich bringen, die wir
nicht hinnehmen können. Massive Einsparungen bei
Sozialausgaben, Sozialversicherungen, im Gesundheits-
und Bildungsbereich werden den Zusammenhalt in den
Ländern Europas weiter untergraben und gerade die
Menschen treffen, die die Krise nicht verschuldet haben.
Wir wollen ein soziales Europa und stehen zu den so-
zialen Zielen, die sich Europa gegeben hat. So garantiert
die europäische Sozialcharta beispielsweise die Tarif-
autonomie, und doch wird diese durch die Sparanstren-
gungen in Griechenland untergraben. Im Rahmen der
EU-2020-Strategie wurden wichtige Ziele zur Verhinde-
rung von Arbeitslosigkeit und Armut vereinbart. Durch
den Fiskalpakt werden diese Ziele unerreichbar. Natür-
lich müssen alle europäischen Staaten langfristig ihre
Schuldenquoten senken – das erwarten auch wir. Aber
die Konsolidierungspfade müssen den Möglichkeiten
der Staaten entsprechen und in der Konsequenz gestreckt
werden. Konsolidierungsanstrengungen müssen immer
auch die Einnahmeseite in den Blick nehmen. Einspa-
rungen bei den Ausgaben müssen sozialverträglich aus-
gestaltet werden. Die Grundwerte von Europa – soziale
Gerechtigkeit und Sozialstandards für alle – haben für
uns auch in der Krise Bestand.
Ohne die genannten weiteren Maßnahmen gefährdet
der Fiskalpakt unsere Vision eines sozialen Europas, er
verschärft die ökonomische Krise bis hin zu einem dro-
henden Scheitern des Euro.
Wir lehnen deswegen den Fiskalpakt ab.
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): ESM und Fiskalpakt stimme ich nicht zu. ESM
und Fiskalpakt sind die falschen Mittel. Mit ihnen ist die
europäischen Finanz- und Bankenkrise nicht zu bewälti-
gen. Sie sind die Fortsetzung der rigiden Sparpolitik,
vielleicht sogar ihr Höhepunkt. Aber dieses Sanierungs-
rezept ist gescheitert. Die Krise wurde nicht bewältigt,
sondern verschärft. Alle Befürchtungen, denen mit der
Einrichtung neuer Rettungsschirme und immer größerer
Milliardenhilfen entgegengewirkt werden sollte, haben
sich bewahrheitet. Immer mehr und größere Staaten ge-
raten in den Strudel der Krise und drohen darin unterzu-
gehen.
Der bisherige Weg war der falsche. Der gnadenlose
Sparkurs führt wie in Griechenland zur Verarmung gro-
ßer Teile der Bevölkerung und schadet der Entwicklung
der Wirtschaft und der Erholung der Staatsfinanzen. Er
ändert nichts daran, dass Finanzmärkte und Ratingagen-
22784 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 188. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Juni 2012
(A) (C)
(D)(B)
turen weiter die Richtlinien der Politik bestimmen. Kre-
dite und Garantien des ESM an die Staaten, die die Krise
nicht mehr bewältigen können, dienen ganz überwie-
gend nur der Bedienung der Geldinstitute und der Siche-
rung ihrer Gewinne. Von europäischen Insolvenzrege-
lungen, auch für zu große Banken, ist keine Rede mehr.
Diese gescheiterte Politik darf nicht fortgesetzt und nicht
durch Fiskalpakt und ESM unwiderruflich festgeklopft
werden.
ESM und Fiskalpakt sind nur schwer mit dem Grund-
gesetz zu vereinbaren. Beide Verträge sind vielfach mit-
einander verzahnt. So ist ab 2013 der ESM nur noch an-
wendbar für Länder, die den Fiskalpakt auch ratifiziert
haben. Die Regelungen beider Vertragswerke sind in
Teilen unklar und unbestimmt. Das Verhältnis zu EU-
Einrichtungen bleibt offen.
Die internationalen Finanzinstitutionen, die mit die-
sen Verträgen geschaffen werden, stärken die EU nicht.
Sie stehen neben den EU-Einrichtungen. Gleichwohl
werden EU-Institutionen wie der Europäische Kommis-
sion Aufgaben durch ESM-Vertrag und Fiskalvertrag zu-
gewiesen. Art und Umfang sind unklar und strittig. Der
EU-Kommission gehören aber auch Staaten an, die den
ESM ablehnen. Vor allem das Europäische Parlament
bleibt außen vor und hat keine Kontrollrechte. ESM und
Fiskalpakt haben außerdem schwerwiegende Folgen für
die Wirtschafts- und Währungsunion. Gleichwohl wird
nicht der Weg über eine Änderung der EU-Verträge ge-
gangen, nur weil der Konsens dafür nicht erreicht wurde.
ESM und Fiskalpakt schränken die Souveränität der
Vertragsstaaten und die konstitutiven Entscheidungs-
rechte ihrer Parlamente über den Haushalt, also über
Steuern und Abgaben, substanziell und auf Dauer unwi-
derruflich ein.
Im ESM und im Gesetz zum ESM-Vertrag ist die par-
lamentarische Beteiligung und Kontrolle von Entschei-
dungen über Erhöhungen des Stammkapitals und Sta-
bilitätshilfen durch den Bundestag nicht lückenlos
gesichert. Gouverneursrat und Direktorium sind bei al-
len Beschlüssen beschlussfähig, wenn zwei Drittel der
Stimmberechtigten anwesend sind. Auch wenn der
deutsche Vertreter abwesend ist, können sie also weit-
tragende Beschlüsse fassen. Dass Deutschland über
27,1 Prozent der Stimmanteile verfügt, hilft dann wenig.
Die Verpflichtungen, welche die Mitglieder des ESM
eingehen, sind nicht ausreichend bestimmt. Die Rege-
lungen zum Haftungsumfang sind unvollständig. Die
Mitglieder verpflichten sich unwiderruflich und unein-
geschränkt, ihren Beitrag zu leisten. Zwar bleibt grund-
sätzlich die Haftung eines jeden auf seinen Anteil am ge-
nehmigten Stammkapital begrenzt. Aber was ist, wenn
ein Mitglied selbst Finanzhilfe benötigt? Dann bleibt
dessen Verpflichtung zur Leistung erhalten. Das gilt bei-
spielsweise auch für Griechenland. Wenn ein Mitglied
trotzdem nicht einzahlt, so ergeht ein revidierter erhöhter
Kapitalabruf, um sicherzustellen, dass der ESM die Ka-
pitalzahlung in voller Höhe erhält. Dann kommen doch
weitere Verpflichtungen auf die Mitglieder zu. Offen
bleibt die Haftung für Defizitsünder und wer eigentlich
haftet, wenn ein oder mehrere Vertragspartner Beiträge
nicht zahlen wollen oder können.
Auch der Fiskalpakt beschränkt die Haushaltsrechte
der Vertragsstaaten und ihrer Parlamente. Die willkür-
lich festgesetzte Schuldengrenze wird zum unveränder-
baren Recht, möglichst sogar mit Verfassungsrang. Sie
geht weit über die Regelung im Grundgesetz hinaus, die
eine Übergangsphase für den Bund bis 2016 und für die
Länder bis 2020 vorsieht. Die Möglichkeiten der Staaten
zur Kreditaufnahme werden auf Dauer begrenzt. Der
Pakt ist in seiner Substanz nicht veränderbar. Daran än-
dert sich auch dadurch nichts, dass binnen fünf Jahren
die notwendigen Schritte unternommen werden, um den
Inhalt des Pakts in den Rechtsrahmen der EU zu über-
führen. Es geht nur darum, den jetzigen Inhalt in EU-
Recht zu überführen. Wird dieses Ziel aber nicht er-
reicht, gilt der Fiskalpakt weiter.
ESM und Fiskalpakt sind verfassungsrechtlich zwei-
felhaft und auch politisch nicht verantwortbar, weil sie
für die Bewältigung der Krise nicht zweckmäßig sind
und große Teile der Bevölkerung vor allem in ökono-
misch schwachen Ländern Europas der Gefahr von Ar-
mut und Elend aussetzen. Deshalb stimme ich mit Nein.
Kathrin Vogler (DIE LINKE): Wir stimmen heute
über den sogenannten Fiskalpakt ab, und ich möchte
meine Ablehnung hier deutlich machen und begründen.
Ich stimme dagegen, weil mit diesem Paket allen
Staaten der Europäischen Union sowie dem Bund, den
Ländern und Kommunen ein massives Sozialkürzungs-
paket aufgezwungen wird. Das ist ein massiver Eingriff
in die Budgethoheit der einzelnen Nationalstaaten, in-
dem die Neuverschuldung auf maximal 0,5 Prozent be-
grenzt wird.
Wir müssen doch nur einmal nach Griechenland
schauen, um zu sehen, was ein verordnetes Diktat für
Konsequenzen hat: Menschen werden entlassen und ver-
lieren zum Teil ihre Existenz, Löhne sinken, Sozialaus-
gaben werden zusammengestrichen, staatliche Konjunk-
turprogramme gibt es nicht, die Binnennachfrage sinkt
ins Bodenlose, wirtschaftliche Strukturen fallen zusam-
men, Armut steigt. Durch den Fiskalpakt würgen wir die
Binnennachfrage in Europa ab, was zur Folge haben
wird, dass mittelfristig auch unser Export einbricht und
die Menschen in Deutschland die gleichen Folgen erlei-
den werden wie die in Griechenland.
Wollen wir allen Ernstes griechische Verhältnisse in
ganz Europa? – Ich sage ganz deutlich Nein.
In meinem Wahlkreis Steinfurt III gibt es jetzt schon
massive Kürzungen in den Kommunen. Dass der Bund
die Kosten für die Eingliederungshilfe übernimmt, ist
richtig, aber nicht im Rahmen eines Kuhhandels, um die
Zustimmung zum Fiskalpakt zu ergattern. Viel zu lange
wurden das Konnexitätsprinzip nicht gewahrt und Auf-
gaben an Kommunen ohne jeglichen Finanzausgleich
weitergeben. Steuersenkungen tun ihr Übriges, um die-
sen Notstand der Städte und Gemeinden zu verschärfen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 188. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Juni 2012 22785
(A) (C)
(D)(B)
Und wer zahlt die Zeche für diese Finanzkrise der
Banken und Zocker? Die Bürgerinnen und Bürger, die
Arbeitslosen, die Hartz-IV-Empfängerinnen und -Emp-
fänger, die Rentner, Alleinerziehenden und auch die Ar-
beitnehmer. Schwimmbäder werden zugemacht, Sport-
förderung und Jugendarbeit zusammengestrichen und
vieles mehr. Reden Sie einfach mal mit Ihren kommuna-
len Mandatsträgern. Es ist ein wirklich düsteres Bild.
Und das ist das Problem: Die Verursacher kommen
mal wieder ungeschoren davon. Sie retten mit dem
Fiskalpakt nur die Banken, und was machen diese? Sie
zocken weiter. Diese müssen endlich zur Verantwortung
gezogen werden. Wir brauchen eine gerechte Besteue-
rung, und bei Krisen muss endlich das Verursacherprin-
zip gelten. Es darf nicht sein, dass Gewinne privatisiert,
Verluste oder Pleiten aber der Allgemeinheit aufgebürdet
werden.
Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD): Erstens. Ich
halte den permanenten Stabilitätsmechanismus für not-
wendig, um die Europäische Währungsunion vor den
Auswirkungen von Spekulationen zu schützen. Deshalb
werde ich bei dieser Abstimmung mit Ja stimmen.
Zweitens. Der Fiskalpakt geht von der falschen An-
nahme aus, dass die Verschuldung der europäischen
Länder eine Konsequenz übermäßiger Staatsausgaben
sei, während – bis auf Griechenland – für alle EU-Staa-
ten gilt, dass ihre gewachsene Verschuldung Ergebnis
der Rettungsaktionen der europäischen Staaten für die
Finanzmärkte 2008/2009 ist. Insofern wäre er als alleini-
ges Instrument angesichts der marktradikalen Politik ei-
ner Reihe von nationalen EU-Regierungen eine falsche
Weichenstellung der Austeritätspolitik.
Er lässt ein vergleichbares Rechtsinstrument vermis-
sen, das eine aktive makroökonomische Politik festlegt,
die auf Beschäftigungswachstum setzt.
Er ist ein zwischenstaatlicher Vertrag, der praktisch
die EU-lnstitutionen und auch das Europäische Parla-
ment aushebelt.
Drittens. Angesichts dieser falschen Grundorientie-
rung war es wichtig, die grundlegenden Fehler zu korri-
gieren. Das ist der Sozialdemokratischen Partei, das ist
den Ländern in zähen Verhandlungen in wichtigen Be-
reichen gelungen:
Endlich wird es eine Finanztransaktionsteuer geben,
für die ich mich bereits vor zehn Jahren starkgemacht
habe – damals noch als „exotische“, unrealistische Posi-
tion diffamiert und von der CDU noch im letzten Bun-
destagswahlkampf vehement bekämpft.
Die Initiative dieser „willigen“ europäischen Staaten
muss dazu beitragen, endlich diejenigen zur Kasse zu
bitten, die die Finanzmarktkrise verursacht haben.
Gleichzeitig wird es auch angesichts der politischen
Veränderungen in Frankreich Festlegungen auf einen
„Pakt für nachhaltiges Wachstum und Beschäftigung“
geben, verbunden mit einem Sofortprogramm gegen Ju-
gendarbeitslosigkeit. Damit kann endlich ein Kurswech-
sel in der verfehlten Austeritätspolitik eingeleitet wer-
den.
Viertens. Ungelöst ist nach wie vor der Umgang mit
den sogenannten Altschulden. Notwendig ist die ge-
meinschaftliche Sicherung für einen Teil der Anleihen
der Euro-Staaten. Eine gemeinschaftliche Währung hätte
ansonsten keine dauerhafte Zukunft angesichts der fort-
dauernden Spekulationen gegen den Euro. Der Erhalt
und die Sicherung des Euro ist aber sowohl unter dem
Gesichtspunkt der Erhaltung der Arbeitsplätze bei uns
als auch aus politischen Gründen für Deutschland von
zentraler Bedeutung.
Schließlich ist es notwendig, endlich die erforderli-
chen Schritte zu einer wirklichen Finanzmarktregulie-
rung voranzubringen. Hier besteht noch maßgeblicher
Handlungsbedarf.
Fünftens. Meine Abwägung bei der Entscheidung zur
Ratifizierung des Fiskalpakts sieht so aus: Bei einer Ab-
lehnung würde die Zweidrittelmehrheit im Bundestag
scheitern. Eine Phase der massiven Instabilität in der Eu-
ropäischen Union wäre die Folge. Die würde auch ge-
rade den Euro als Gemeinschaftswährung destabilisie-
ren, dies könnte die Europäische Union gefährden. Eine
derartige Entwicklung darf niemand riskieren, dem die
EU in der globalen Entwicklung und für die wirtschaftli-
che und soziale Entwicklung seiner Bürger und Bürge-
rinnen am Herzen liegt. Darum werde ich mit Ja stim-
men.
Wichtig ist es aus meiner Sicht, diese Instabilität zu
verhindern, die angesichts der Situation in Griechenland
und Spanien ohnehin eine Gefahr ist und durch sie noch
vergrößert würde.
Stattdessen sollten Sozialdemokraten und Sozialde-
mokratinnen in Europa enger zusammenarbeiten, politi-
sche Mehrheiten schaffen, auch in Deutschland, um das
nachzuarbeiten, was in den letzten Jahrzehnten nicht ge-
lungen ist, nämlich eine wirkliche politische Union, eine
wirkliche Wirtschafts- und Sozialunion aufzubauen.
Die EU neu zu begründen, das ist notwendig, wenn
die politische Union geschaffen werden soll. Derartige
europäische Pläne müssten einem Volksentscheid unter-
liegen. Für einen Volksentscheid zum Maastricht-Vertrag
bin ich übrigens schon zu Beginn der 90er-Jahre einge-
treten.
Anlage 3
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Dr. h. c. Jürgen Koppelin
und Joachim Günther (Plauen) (beide FDP) zu:
– namentliche Abstimmung über den Entwurf
eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 2. März
2012 über Stabilität, Koordinierung und
Steuerung in der Wirtschafts- und Wäh-
rungsunion
22786 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 188. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Juni 2012
(A) (C)
(D)(B)
– namentliche Abstimmung über den Entwurf
eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 2. Fe-
bruar 2012 zur Einrichtung des Europäi-
schen Stabilitätsmechanismus
– namentliche Abstimmung über den Entwurf
eines Gesetzes zur finanziellen Beteiligung
am Europäischen Stabilitätsmechanismus
(ESM-Finanzierungsgesetz – ESMFinG)
– namentliche Abstimmung über den Entwurf
eines Gesetzes zu dem Beschluss des Euro-
päischen Rates vom 25. März 2011 zur Än-
derung des Artikels 136 des Vertrags über
die Arbeitsweise der Europäischen Union
hinsichtlich eines Stabilitätsmechanismus
für die Mitgliedstaaten, deren Währung der
Euro ist
(Tagesordnungspunkt 50 a bis e)
Grundsätzlich ist die Einrichtung eines Europäischen
Stabilitätsmechanismus sinnvoll. Leider müssen wir er-
leben, dass Entscheidungen und Bedingungen des ESM
immer unklarer werden. Wir sind nicht bereit, in nur we-
nigen Stunden nach einer Sitzung in Brüssel Entschei-
dungen von so großer Tragweite für Deutschland zu tref-
fen. Wir können in so kurzer Zeit nicht beurteilen, ab die
direkten Bankenhilfen für Spanien oder mögliche Anlei-
henkäufe für Italien Folgen für unser Land und die Stabi-
lität des Euro haben.
Die Gipfelerklärung der Mitglieder des Euro-Wäh-
rungsgebiets vom 29. Juni 2012 kann uns unsere Sorge
nicht nehmen, sondern sie verstärkt sie eher noch. Wir
fordern auch weiterhin von den nehmenden Ländern Re-
formbereitschaft und Haushaltsdisziplin. Mit der Gipfel-
erklärung vom 29. Juni 2012 wird diese bisherige Linie
verlassen. Wir befürchten, dass nun auch bald die bishe-
rigen Entscheidungen betreffend Griechenland aufge-
weicht werden.
Anlage 4
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Günter Gloser und Martin
Burkert (beide SPD) zu:
– namentliche Abstimmung über den Entwurf
eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 2. März
2012 über Stabilität, Koordinierung und
Steuerung in der Wirtschafts- und Wäh-
rungsunion
– namentliche Abstimmung über den Entwurf
eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 2. Fe-
bruar 2012 zur Einrichtung des Europäi-
schen Stabilitätsmechanismus
– namentliche Abstimmung über den Entwurf
eines Gesetzes zur finanziellen Beteiligung
am Europäischen Stabilitätsmechanismus
(ESM-Finanzierungsgesetz – ESMFinG)
– namentliche Abstimmung über den Entwurf
eines Gesetzes zu dem Beschluss des Euro-
päischen Rates vom 25. März 2011 zur Än-
derung des Artikels 136 des Vertrags über
die Arbeitsweise der Europäischen Union
hinsichtlich eines Stabilitätsmechanismus
für die Mitgliedstaaten, deren Währung der
Euro ist
(Tagesordnungspunkt 50 a bis e)
Die Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmecha-
nismus, ESM, ist ein unterlässlicher Beitrag zur Stabili-
sierung der Euro-Zone und der Bewältigung der Folgen
der Finanzmarkt- und Hypothekenkrise, die 2008 be-
gann. Daher befürworten wir die Einrichtung dieser Fi-
nanzinstitution. Allerdings sehen wir einen unaufgelös-
ten Zielkonflikt zwischen der Notwendigkeit einer
parlamentarischen Kontrolle einerseits und der Unab-
hängigkeit des Gouverneursrates und des Direktoriums
andererseits. Die Nichtauskunftspflicht gegenüber dem
Europäischen Parlament und dem Deutschen Bundestag
sowie die Immunität der Leitungsgremien des ESM stel-
len einen großen Vertrauensvorschuss gegenüber den
Mitgliedern des Gouverneursrates und des Direktoriums
dar.
Anlage 5
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Josef Philip Winkler und
Tabea Rößner (beide BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN) zu:
– namentliche Abstimmung über den Entwurf
eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 2. März
2012 über Stabilität, Koordinierung und
Steuerung in der Wirtschafts- und Wäh-
rungsunion
– namentliche Abstimmung über den Entwurf
eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 2. Fe-
bruar 2012 zur Einrichtung des Europäi-
schen Stabilitätsmechanismus
– namentliche Abstimmung über den Entwurf
eines Gesetzes zur finanziellen Beteiligung
am Europäischen Stabilitätsmechanismus
(ESM-Finanzierungsgesetz – ESMFinG)
– namentliche Abstimmung über den Entwurf
eines Gesetzes zu dem Beschluss des Euro-
päischen Rates vom 25. März 2011 zur Än-
derung des Artikels 136 des Vertrags über
die Arbeitsweise der Europäischen Union
hinsichtlich eines Stabilitätsmechanismus
für die Mitgliedstaaten, deren Währung der
Euro ist
(Tagesordnungspunkt 50 a bis e)
Die Europäische Union und der Euro-Raum befinden
sich in einer der schwersten Krisen seit Ende des Zwei-
ten Weitkrieges. Einige Mitgliedstaaten sind mit massiv
gestiegenen Zinsforderungen für ihre Kredite konfron-
tiert, ihnen droht der Staatsbankrott. Die wirtschaftlichen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 188. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Juni 2012 22787
(A) (C)
(D)(B)
Auswirkungen auf andere mit ihnen eng verwobene
Volkswirtschaften sowie die politischen Konsequenzen
für die weitere europäische Integration wären desaströs.
Die Ursachen der Krise sind mannigfaltig. Sie reichen
von fehlender Regulierung von Finanzmärkten und Ban-
ken, spekulativen Finanzgeschäften über mangelnde
Haushaltsdisziplin, der Finanzierung von Konjunktur-
paketen bis hin zu erheblichen Leistungsbilanzdefiziten.
Um der Krise zu begegnen sind verschiedene Maß-
nahmen notwendig. Rettungsschirme müssen aufge-
spannt werden, um den betroffenen Ländern wieder eine
Refinanzierung zu ermöglichen und somit deren Zah-
lungsunfähigkeit abzuwenden. Verbindliche Regeln, wie
Grenzen für nationale Defizite und Schuldenbremsen,
müssen zur Sicherstellung nachhaltiger und stabiler
Haushaltspolitik eingeführt werden. Die Finanzmärkte
müssen reguliert und an den Kosten der Krise beteiligt
werden. Die bestehenden Schulden müssen konsequent
zurückgeführt werden. Nicht zuletzt müssen den ange-
schlagenen Volkswirtschaften wirtschaftliche Perspekti-
ven aufgezeigt werden – wir brauchen Investitionspro-
gramme in nachhaltige Technologien beispielsweise in
den Bereichen Klimaschutz und erneuerbare Energien.
Der Deutsche Bundestag hat heute mit der Entschei-
dung für den Europäischen Stabilitätsmechanismus,
ESM, und den Fiskalpakt entlang dieser Linien die Wei-
chen in Richtung einer Stabilisierung der Europäischen
Union, des Euros und der europäischen Finanzmärkte
gestellt. Mit dem ESM wird dem Euroraum ein perma-
nenter Rettungsschirm zur Verfügung stehen. Ausgestat-
tet mit einem eigenen Kapitalstock wird er dazu in der
Lage sein, in Not geratene Staaten bei ihrer Refinanzie-
rung zu unterstützen.
Der Fiskalpakt ist eine notwendige Ergänzung des
ESM. Er stellt verbindliche Regeln zur Erstellung kon-
solidierter Haushalte auf. Die Mitgliedstaaten verpflich-
ten sich mit ihm zudem zur Einführung nationaler Schul-
denbremsen. Diese Abkehr von der Toleranz gegenüber
strukturellen Haushaltsdefiziten ist für uns wichtig, denn
nur ausreichend finanzierte Haushalte sind nachhaltig.
Eine Haushaltskonsolidierung muss sowohl aus der Stei-
gerung von Einnahmen als auch aus hoher Disziplin bei
den Staatsausgaben bestehen.
Im Zuge der Verhandlungen zu ESM und Fiskalpakt
konnten durch eine erfolgreiche grüne Verhandlungsfüh-
rung noch weitere wichtige Maßnahmen vereinbart wer-
den: Durch die Einführung einer Finanztransaktionsteuer
werden die Märkte endlich an den Kosten der Krise be-
teiligt. Investitionsimpulse, vor allem für nachhaltige In-
vestitionen in Klimaschutz und Energieeffizienz, werden
für mehr wirtschaftliche Dynamik sorgen. Nicht zuletzt
wird es eine stärkere parlamentarische Beteiligung bei
Hilfsanträgen an den ESM geben. In Deutschland wurde
darüber hinaus sichergestellt, dass Länder und Kommu-
nen den Fiskalpakt mittragen können. Auch dies ist rich-
tig und notwendig, weil Länder und Kommunen im Ver-
gleich zum Bund deutlich begrenztere Möglichkeiten zur
Refinanzierung haben.
Mit der Einigung zu ESM und Fiskalpakt haben wir
viel erreicht. Gleichwohl stehen weitere wichtige Ent-
scheidungen aus. So konnten wir uns nicht auf die Ein-
führung eines gemeinschaftlichen Schuldenabbaus eini-
gen. Mit ihrer Blockadehaltung in dieser Frage gefährdet
die Kanzlerin die positive Wirkung von ESM und Fis-
kalpakt. Sie wird in diesem Punkt umdenken müssen.
Weiterhin gilt es, Investitionen in eine ökologische
und soziale Gesellschaft noch weiter auszubauen. Solche
Investitionen erhöhen die Wettbewerbsfähigkeit Europas
und gehören zu unserer Strategie der Krisenbewältigung.
Nicht zuletzt müssen die demokratischen Strukturen
Europas deutlich weiterentwickelt werden. Das Europäi-
sche Parlament muss in seiner Entscheidungsbefugnis
gestärkt und eine geeignete Exekutive, also eine europäi-
sche Regierung, etabliert werden. Dies erfordert die
Übertragung staatlicher Kompetenzen auf Europa.
Noch einige Anmerkungen zu den Rechten des Bun-
destages im Rahmen des ESM und des Fiskalpaktes:
Grundsätzlich darf keine wesentliche Entscheidung
– weder im Rahmen des ESM noch im Rahmen des Fis-
kalvertrags – ohne die vorherige Zustimmung oder Be-
teiligung des Deutschen Bundestages getroffen werden.
Im Einzelnen: Die Parlamentsbeteiligung beim ESM
wird geregelt im interfraktionellen Änderungsantrag
zum ESM-Finanzierungsgesetz, ESMFinG. Dieser ent-
hält die §§ 3 bis 7 zu den Parlamentsbeteiligungsrechten.
Diese beinhalten folgende Regeln:
a) Zustimmung Plenum erforderlich bei Veränderung
des Stammkapitals, Veränderung des maximalen Dar-
lehnsvolumens, Änderung der Finanzhilfeinstrumente
sowie zweimalige Zustimmung, bevor ein Land unter
den Rettungsschirm kommt. Dabei ist die erste Abstim-
mung erforderlich, um einem Mitglied grundsätzlich
Hilfe zu gewähren. Dafür müssen folgende Einschätzun-
gen von der KOM und der EZB vorliegen: Erstens.
Besteht eine Gefahr für die Finanzstabilität des Euro-
Währungsgebiets? Zweitens. Kann der Staat die Staats-
verschuldung tragen (Schuldentragfähigkeitsanalyse)?
Drittens. Wie hoch ist der tatsächliche oder potenzielle
Finanzierungsbedarf des Mitgliedstaats? Die zweite Ab-
stimmung ist erforderlich, um dem Land tatsächlich Hil-
fen zu zahlen. Dafür muss eine Einigung der Troika mit
dem Mitgliedstaat vorliegen über: Erstens. Ein Memo-
randum of Understanding mit detaillierten Auflagen
Zweitens. Eine Vereinbarung über eine Finanzhilfefazili-
tät, mit den Finanzierungsbedingungen und den einzel-
nen Instrumenten. Grundsätzlich gilt: Nur mit einem
vorherigen zustimmenden Votum des Bundestages darf
der deutsche Vertreter im Gouverneursrat einem entspre-
chenden Beschlussvorschlag zustimmen. Erteilt der
Bundestag dieses Votum nicht, muss der deutsche Ver-
treter den Beschlussvorschlag ablehnen.
b) Zustimmung Haushaltsausschuss erforderlich bei:
Änderungen an den Instrumenten innerhalb eines beste-
hendes Programms, Kapitalabrufen – von genehmigten
aber noch nicht eingezahlten Summen –, Annahme und
Änderung von Durchführungsbestimmungen bei Finanz-
hilfeinstrumenten. Auch hier gilt: Nur mit einem vorhe-
rigen zustimmenden Votum des Haushaltsausschusses
22788 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 188. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Juni 2012
(A) (C)
(D)(B)
darf der deutsche Vertreter im Gouverneursrat oder Di-
rektorium einem entsprechenden Beschlussvorschlag zu-
stimmen. Erteilt der Haushaltsausschuss dieses Votum
nicht, muss der deutsche Vertreter den Beschlussvor-
schlag ablehnen.
c) Zustimmung Sondergremium erforderlich bei
Staatsanleihenkäufen auf dem Sekundärmarkt.
Parlamentsbeteiligung im Rahmen des Fiskalvertrags:
Dank unseres grünen Siegs vor dem Bundesverfassungs-
gericht sind auch im Rahmen des Fiskalvertrags umfas-
sende Informations- und Mitwirkungsrechte sicherge-
stellt. Monatelang lehnte es die Koalition ab, das EU-
Beteiligungsgesetz, EUZBBG, an die Neuerungen des
Fiskalvertrags anzupassen. Neue Verfahren, Dokumente
und Steuerungsgruppen – wie beispielsweise der Euro-
Gipfel – wären ohne gesetzlich verankerte Parlaments-
rechte geblieben. Doch mit dem Rückenwind aus
Karlsruhe konnten wir uns trotz heftigen Widerstands
der Koalition durchsetzen: Das EUZBBG wird geän-
dert – verankert in Art. 2 des Fiskalvertragsratifizie-
rungsgesetzes – und regelt, dass alle Beratungsgegen-
stände, Vorschläge und Initiativen von den Informations-
und Mitwirkungsrechten des Bundestages erfasst sind
und die Bundesregierung den Bundestag zum frühest-
möglichen Zeitpunkt, umfassend, fortlaufend und in der
Regel schriftlich unterrichten muss, die Unterrichtungs-
und Übersendungspflichten der Bundesregierung auch
für Dokumente, Protokolle, Berichte von, für und über
wichtige Entscheidungsgremien wie den Euro-Gipfel,
die Euro-Gruppe, die Euro-Arbeitsgruppe gelten. Doch
nicht nur das. Auch bei allen künftigen intergouverne-
mentalen/völkerrechtlichen Vereinbarungen/Verträgen
muss der Bundestag frühestmöglich eingebunden wer-
den – inklusive der Übersendung erster Vertragsent-
würfe.
Dies alles führt uns zu folgender Schlussfolgerung:
Wir haben uns dazu entschlossen, für ESM und Fiskal-
pakt zu stimmen. Die Initiativen enthalten nicht alle un-
sere Forderungen. Wir sind dennoch davon überzeugt,
dass sie einen wichtigen Schritt in der Bekämpfung der
Schuldenkrise darstellen und wichtige grüne Forderun-
gen umsetzen. Wir wollen mit unserer Zustimmung das
europäische Projekt vor einem herben Rückschlag be-
wahren. Wir bekennen uns klar zu Europa und wollen
nun auch dafür einstehen.
Anlage 6
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Edelgard Bulmahn und
Dr. Ernst Dieter Rossmann (beide SPD)
zu:
– namentliche Abstimmung über den Entwurf
eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 2. März
2012 über Stabilität, Koordinierung und
Steuerung in der Wirtschafts- und Wäh-
rungsunion
– namentliche Abstimmung über den Entwurf
eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 2. Fe-
bruar 2012 zur Einrichtung des Europäischen
Stabilitätsmechanismus
– namentliche Abstimmung über den Entwurf
eines Gesetzes zur finanziellen Beteiligung
am Europäischen Stabilitätsmechanismus
(ESM-Finanzierungsgesetz – ESMFinG)
– namentliche Abstimmung über den Entwurf
eines Gesetzes zu dem Beschluss des Euro-
päischen Rates vom 25. März 2011 zur
Änderung des Artikels 136 des Vertrags
über die Arbeitsweise der Europäischen
Union hinsichtlich eines Stabilitätsmechanis-
mus für die Mitgliedstaaten, deren Währung
der Euro ist
(Tagesordnungspunkt 50 a bis e)
Ich halte den permanenten Stabilitätsmechanismus für
notwendig, um eine erneute Verschärfung der Euro-
Krise und einen Zusammenbruch der Staatshaushalte
weiterer Mitgliedsländer der Euro-Zone zu verhindern.
Kernanliegen muss es derzeit sein, die Europäische
Währungsunion vor den Auswirkungen unverantwort-
licher Spekulationen zu schützen. Das geht nur durch ein
Zeichen der Solidarität der einzelnen Mitgliedsländer
der Euro-Zone untereinander gegenüber den Akteuren
des Finanzmarkts.
Eine weitere Destabilisierung des Euro könnte nicht
nur zum Zerfall der gemeinsamen Währung führen, son-
dern würde auch die Existenz der Europäischen Union
als solche gefährden. Eine derartige Entwicklung darf
niemand riskieren, dem die wirtschaftliche und soziale
Entwicklung der Europäischen Union und ihrer Bürge-
rinnen und Bürger am Herzen liegt.
Allerdings impliziert die Übertragung von elemen-
taren Rechten auf nicht demokratisch legitimierte Insti-
tutionen – Gouverneursrat, Direktorium –, wie sie zur
Zeit vorgesehen sind, grundlegende verfassungsrecht-
liche Probleme. Es gilt, einen Ausgleich zwischen der
Handlungsfähigkeit entsprechender Institutionen und
ausreichender parlamentarischer Kontrolle herzustellen.
Meines Erachtens ist deshalb vor allem bei der weiteren
Ausgestaltung der Institutionen des permanenten Stabili-
tätsmechanismus darauf zu achten, dass Hoheitsrechte
des Bundestages gewahrt und unter Berücksichtigung
der aktuellen Rechtsprechung des Bundesverfassungsge-
richts gestaltet werden. Es ist daher zwingend geboten,
bei der Implementierung des Vertrags dafür zu sorgen,
dass die demokratische Legitimation stets die Richt-
schnur bildet.
Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten in
Europa sollten jenseits der aktuellen Rettungsmaßnah-
men ein Bild eines demokratischeren und handlungs-
fähigeren Europas entwickeln. Das setzt eine engere Zu-
sammenarbeit voraus, die letztlich eine Grundlage dafür
bildet, politische Mehrheiten zu schaffen, auch in
Deutschland, um das nachzuarbeiten, was in den letzten
Jahrzehnten nicht gelungen ist: nämlich eine wirkliche
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 188. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Juni 2012 22789
(A) (C)
(D)(B)
politische Union, eine wirkliche Wirtschafts- und Sozial-
union aufzubauen.
Die EU neu zu begründen, das ist notwendig, wenn
die politische Union geschaffen werden soll. Derartige
europäische Pläne werden letztlich auch die Übertragung
nationaler Souveränitätsrechte an dann geschaffene, de-
mokratisch legitimierte europäische Institutionen be-
inhalten müssen. Dieses wird die Weiterentwicklung des
deutschen Grundgesetzes einschließen. Die Mütter und
Väter des Grundgesetzes haben in ihrer Weisheit bereits
durch Art. 146 des Grundgesetzes diesen Weg beschrie-
ben, indem sie eine Öffnungsklausel aufgenommen ha-
ben, die die Weiterentwicklung der Verfassung durch
eine Entscheidung des deutschen Volkes vorsieht. Eine
solche Entscheidung muss sorgfältig vorbereitet werden.
Weite Teile des Grundgesetzes können beibehalten wer-
den. Es gilt, ein neues Verhältnis von Europa, der Bun-
desrepublik, den Bundesländern und den Kommunen zu
entwickeln. Die Zeit sollte nicht fahrlässig verschwendet
werden. Die Zeit ist reif für einen solchen Prozess.
Anlage 7
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Lisa Paus, Katja Dörner und
Sven-Christian Kindler (alle BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN) zu:
– namentliche Abstimmung über den Entwurf
eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 2. März
2012 über Stabilität, Koordinierung und
Steuerung in der Wirtschafts- und Wäh-
rungsunion
– namentliche Abstimmung über den Entwurf
eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 2. Fe-
bruar 2012 zur Einrichtung des Europäi-
schen Stabilitätsmechanismus
– namentliche Abstimmung über den Entwurf
eines Gesetzes zur finanziellen Beteiligung
am Europäischen Stabilitätsmechanismus
(ESM-Finanzierungsgesetz – ESMFinG)
– namentliche Abstimmung über den Entwurf
eines Gesetzes zu dem Beschluss des Euro-
päischen Rates vom 25. März 2011 zur Än-
derung des Artikels 136 des Vertrags über
die Arbeitsweise der Europäischen Union
hinsichtlich eines Stabilitätsmechanismus
für die Mitgliedstaaten, deren Währung der
Euro ist
(Tagesordnungspunkt 50 a bis e)
Die weitere Verschärfung der Finanz- und Wirt-
schaftskrise in Europa fordert von uns, grundlegende
Richtungsentscheidungen für die Zukunft der Europäi-
schen Union zu treffen. Die Krise in Europa spitzt sich
momentan dramatisch zu. Viele Staaten in Europa befin-
den sich in einer schweren Rezession. Millionen Men-
schen, vor allem Jugendliche, sind arbeitslos. Die soziale
Ungleichheit zwischen Arm und Reich nimmt weiter zu.
Der Zinsdruck auf Länder wie Italien oder Spanien ist
enorm. Die Kapitalflucht aus Südeuropa verschärft sich.
Noch nie war der Fortbestand der Währungsunion in ih-
rer bisherigen Form so stark gefährdet wie jetzt. Noch
nie war die Sorge während dieser Krise so groß, dass Eu-
ropa die Weltwirtschaft in eine Rezession reißt.
Wir streiten in dieser Situation für mehr Europa. Wir
wenden uns entschieden gegen nationalistische Ressenti-
ments und Anti-Europa-Populismus. Wir wollen ein
starkes, demokratisches, soziales und ökologisches Eu-
ropa, weil wir wissen, dass das unsere Zukunft ist und
nur so die Krise nachhaltig zu lösen ist.
Der Fiskalpakt ist in dieser Situation allerdings die
falsche Antwort. Die Analyse, die dem Fiskalpakt zu-
grunde liegt, trifft nicht zu. Europa leidet nicht an einer
durch staatliche Ausgabenwut entstandenen Krise. Kann
man beim Fall Griechenland noch davon reden, dass die
Klientelwirtschaft von Eliten auf Kosten des Staates ei-
nen wichtigen Anteil an der desolaten Haushaltslage hat,
so ist diese verengte Analyse schon hier nicht ausrei-
chend, um die Lage des Landes zu erklären. Mit Bezug
auf Spanien, Portugal oder Italien ist sie einfach falsch. Es
war vor allem die Finanzkrise, die dazu führte, dass viele
Staaten die Schulden ihres Finanzsektors übernehmen
mussten, um diesen vor dem Kollaps zu bewahren. Hinzu
kommen die Schwäche des europäischen Bankensys-
tems, die massive Überschuldung privater Haushalte
wie in Spanien, Immobilienblasen wie auch in den Nie-
derlanden und massive ökonomischen Ungleichge-
wichte in der Euro-Zone sowie die dramatische Un-
gleichverteilung von Vermögen, zu denen auch die
Politik der Maximierung von Exportüberschüssen, ge-
rade auch in Deutschland, beigetragen hat. Dies zu korri-
gieren, müsste eigentlich im Vordergrund politischen
Handelns stehen.
Der Fiskalpakt setzt dagegen nur auf die Einführung
nationaler Schuldenbremsen. Wir halten Schuldenbrem-
sen im Grundsatz für richtig und wollen Schulden des
Staats begrenzen. Sie sind aber nur unter zwei Bedin-
gungen hilfreich.
Erstens. Wenn ein strukturelles Einnahmeproblem des
Staats besteht, erzwingen Schuldenbremsen einen Rück-
bau des Staats durch Kürzungen in allen staatlichen Be-
reichen und umfangreiche Privatisierungen. Am Ende
einer solchen Entwicklung steht eine Gesellschaft, die
dem Wunsch von Marktradikalen entspricht: mit einem
schwachen Staat, der nicht einmal mehr im Kernbereich
der Daseinsversorgung handlungsfähig ist. Wir sind die
Partei der öffentlichen Güter, wir stehen für Zukunftsin-
vestitionen und einen leistungsfähigen öffentlichen Sek-
tor. Deswegen muss für uns gelten: kein Fiskalpakt ohne
Korrektur des strukturellen Einnahmeproblem der euro-
päischen Staaten.
Eine faire Lastenverteilung ist für uns kein Beiwerk
zu den nötigen ökonomischen und strukturellen Refor-
men, sondern muss im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit
stehen. Dafür muss ein europäischer Steuerpakt auf den
Weg gebracht werden. Als Grüne kämpfen wir auf allen
Ebenen dafür, dass Vermögende und Besserverdienende
22790 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 188. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Juni 2012
(A) (C)
(D)(B)
stärker an der Finanzierung des Gemeinwesens beteiligt
werden, dass Subventionen auf ökologisch schädliches
Verhalten abgebaut werden und Steuern auf Umwelt-
verbrauch erhöht werden. Bei der Beteiligung der Kri-
senverursacherinnen und -verursacher an den Kosten
zeichnet sich mit dem Verhandlungserfolg bei der Fi-
nanztransaktionsteuer ein erstes Umschwenken an. Zu-
sätzlich braucht es aber auch die Einführung von Vermö-
gensabgaben europaweit zum Abbau der Schulden, die
als „Verstärkte Zusammenarbeit“ koordiniert werden
könnte. Steuerdumping, Steuerhinterziehung und der le-
gale, aber unfaire Steuerwettbewerb durch Gewinnver-
rechnung über Briefkastenfirmen müssen beendet wer-
den. Ziel unserer Steuerpolitik ist ein steueroasenfreies
Europa ohne Bankgeheimnis. Wir wollen bei der Unter-
nehmensbesteuerung einen europäischen Mindeststeuer-
satz und eine gemeinsame konsolidierte Bemessungs-
grundlage.
Zweitens. Schuldenbremsen müssen wirtschaftlich
sensibel sein und dürfen nicht fiskalisch prozyklisch wir-
ken. Ansonsten verschärfen sie in konjunkturellen Kri-
sen die Rezession und führen so zu mehr Schulden. Wer
Schulden nachhaltig begrenzen will, muss gerade in Kri-
senzeiten Investitionen ermöglichen. Die Berechnungs-
methode für eine Schuldenbremse darf zudem nicht ge-
staltungsanfällig sein, da sie sonst zum einen dem Ziel,
der Schuldenbegrenzung entgegenwirken zu können,
schadet und zum anderen zu langwierigen juristischen
Auseinandersetzungen und damit zu Rechtsunsicherheit
führen.
Der Fiskalpakt erlaubt den Vertragsstaaten in Zukunft
nur noch eine strukturelle Nettokreditaufnahme in Höhe
von 0,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Diese Zah-
len und Regelungen erwecken den Anschein von Objek-
tivität und Stabilität, doch das Gegenteil ist der Fall. In
der Fachanhörung zum Fiskalpakt im Februar 2012 in
der grünen Bundestagsfraktion hat der Sachverständige
Daniel Gros vom Centre for European Policy Studies auf
die große Gestaltungsanfälligkeit der Schuldenbremsen-
regelung hingewiesen. So wird jeweils nach Vorgaben
der Europäischen Kommission das strukturelle und das
konjunkturelle Defizit ermittelt. Dabei müssen das Po-
tenzialwachstum, die Outputlücke und die Budgetsensi-
tivität durch die Europäische Kommission ermittelt bzw.
geschätzt werden; ein hochkomplexes mathematisches
Verfahren und damit eben auch gestaltbar. Das Institut
für Makroökonomie und Konjunkturforschung, IMK,
hat im Januar 2012 die Studie „Gestaltungsanfällig und
pro-zyklisch: Die deutsche Schuldenbremse in der De-
tailanalyse“ veröffentlicht und kommt zu dem Ergebnis,
dass diese Schuldenbremsenregelung intransparent,
komplex und gestaltungsanfällig ist und zudem prozy-
klisch wirkt und damit ökonomisch extrem gefährlich
werden kann. Für die Berechnung des strukturellen Defi-
zits ließen sich auf Grundlage der wissenschaftlichen Li-
teratur leicht 70 und mehr Varianten beschreiben, die
alle den maßgeblichen Vorgaben der EU-Kommission
genügen. Je nach verwendeter Variante ergaben sich für
das strukturelle Defizit Deutschlands im Jahr 2010
Werte zwischen 10 und 40 Milliarden Euro, rechneten
die IMK-Ökonomen Henner Will und Achim Truger vor.
Im Zusammenhang mit dem Fiskalpakt wird weiter-
hin behauptet, Vereinbarungen zwischen Staatsober-
häuptern seien besser als Beschlüsse der gesamteuropäi-
schen Volksvertreterinnen und Volksvertreter
gemeinsam mit dem Ministerrat. Dabei haben gerade
fehlender europäischer Ehrgeiz, die Vernetzung und Ab-
hängigkeit der Einzelstaaten in ihrer Konjunktur, ihren
Finanzmärkten, ihrem privaten und staatlichen Wirt-
schaften Europa an den Rand des Scheiterns gebracht.
Der Fiskalpakt verweist zurück in die Vergangenheit und
wühlt damit vieles vom Müllhaufen der Geschichte auf,
das schon überwunden geglaubt war: nationale Ressen-
timents, deutsche Sonderwege, eine darwinistische Inter-
pretation von wirtschaftlichen Unterschieden in Europa
und Szenarien von „Lieber ein Ende mit Schrecken“.
Er fördert die Einteilung in Geberländer und Nehmer-
länder, bei denen Geld immer nur in eine Richtung flie-
ßen soll und europäische Probleme vor allem die Pro-
bleme der Schwachen seien. Dabei ist die Bundesrepu-
blik ein Nehmer riesiger Vorteile durch den europäi-
schen Binnenmarkt, gerade auch in der Krise. Gut
50 Milliarden Euro Zinsvorteil ist für den Bundeshaus-
halt durch das überschießende Zinsgefälle 2009 bis
2012 für den Bundeshaushalt bereits entstanden. Weitere
rund 50 Milliarden Euro mehr an Exporteinnahmen dürf-
ten darauf zurückgehen, dass nur durch die Währungs-
union Exporte aus Deutschland, als dem einzigen öko-
nomisch prosperierenden Land, umgeben von Ländern
in Rezession nicht durch Währungsaufwertung verteuert
und dramatisch verringert wurden, sondern noch weiter
zulegen konnten. Wir finden es brandgefährlich, diese
riesigen Vorteile Deutschlands mit wortloser Selbstver-
ständlichkeit einzustreichen und mit dem Fiskalpakt aus-
schließlich Schuldzuweisungen zurückzugeben.
Während die EU dringend mehr Gemeinsamkeit und
mehr Demokratie braucht, führt der Pakt auf den grund-
falschen Weg fort von den Gemeinschaftsinstitutionen,
weg vom Europäischen Parlament. Dieses hat im Rah-
men des intergouvernementalen Fiskalpakts keine Betei-
ligungs- und Kontrollrechte. Die im Fiskalpakt nicht zu-
letzt auf Drängen des Europaparlaments aufgegriffene
Zielstellung, das Recht des Fiskalpakts binnen fünf Jah-
ren in das EU-Recht zu integrieren, ist wenig mehr als
eine unverbindliche Absichtserklärung. Man kann auch
sagen: Es ist weiße Salbe. Denn ohne Mitwirkung des
Vereinigten Königreiches wird das nicht gehen. Damit
droht der Fiskalpakt aber zum Parallelrecht auf Dauer zu
werden. Europarechtlich ist der Fiskalpakt ein Rück-
schritt, ein Rückfall in die Zeit des Intergouvernementa-
lismus und eine Blockade gegen mehr supranationale
Demokratie.
Die Demokratie ist in den Staaten der Europäischen
Union seit langem verankert, aber jahrelange Massenar-
beitslosigkeit hat bereits das Erstarken rassistischer, so-
gar faschistischer Kräfte in mehreren Ländern der EU
begünstigt. Zweifellos sind Reformen in den Wirt-
schaftssystemen und Arbeitsmärkten vieler EU-Mit-
gliedstaaten notwendig. Zu Recht erwarten die betroffe-
nen Menschen aber, dass dies mit der nötigen
demokratischen Mitbestimmung und Legitimität sowie
einem gerechten sozialen Ausgleich passiert. Die Inter-
nationale Arbeitsorganisation warnt, dass ohne einen
dramatischen Politikwechsel die Arbeitslosigkeit, insbe-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 188. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Juni 2012 22791
(A) (C)
(D)(B)
sondere auch für Jugendliche, vor 2016 nicht absinken
wird. Der Fiskalpakt enthält weder die nötige antizykli-
sche Flexibilität noch jeglichen sozialen Ausgleich mit
einer gerechten Steuerpolitik, um ein prognostiziertes
verlorenes Jahrzehnt für Millionen Menschen in vielen
Staaten Europas zu verhindern. Er schränkt Demokratie
weiter ein, statt sie auszuweiten.
Um einen deutlichen Politikwechsel einzuleiten, wä-
ren wirksame Maßnahmen zur Linderung des Zins-
drucks auf Krisenstaaten nötig, vor allem durch einen
Altschuldentilgungsfonds, wie ihn der Sachverständi-
genrat der Bundesregierung vorgeschlagen hat, eine
echte Bankenunion mit einer europäischen Aufsicht,
einem Restrukturierungsregime und einer Einlagen-
sicherung sowie durch ein sozial-ökologisches Investi-
tionsprogramm in einer Höhe, die mindestens den Haus-
haltskürzungen in den von Rezession betroffenen
Staaten entspricht. Außerdem brauchen wir europaweite
Vermögensabgaben und eine Korrektur der strukturellen
Unterfinanzierung der Staaten in Europa.
Diesen Politikwechsel wird es mit dem Fiskalpakt,
auch nach den grünen Verhandlungserfolgen, leider
nicht geben.
In den Verhandlungen mit der Bundesregierung ist es
gelungen, konkrete Schritte für die Einführung einer Fi-
nanztransaktionsteuer verbindlich zu vereinbaren. Hier
konnten wir also eine Richtungsveränderung durchset-
zen, die es ohne uns nicht gegeben hätte. Die Finanz-
transaktionsteuer soll noch in diesem Jahr im Wege der
Methode der „Verstärkten Zusammenarbeit“ in den ers-
ten EU-Staaten auf den Weg gebracht werden.
Außerdem wurde als Verhandlungsergebnis zwischen
Opposition und Regierung über eine Ergänzung des Fis-
kalpakts mit weiteren Maßnahmen vor diesem Hinter-
grund ein sogenanntes Wachstumsprogramm beschlos-
sen. Die Umwidmung von Strukturfondsmitteln führt
jedoch zu keinen zusätzlichen Investitionen; denn diese
Mittel sind in voller Höhe bereits Teil der bestehenden
Konjunkturschätzungen der mehrjährigen Finanzpla-
nung der Bundesregierung. Der Kommissionsvorschlag
einer Connecting Europe Faszilität mit 50 Milliarden
Euro wird von der Bundesregierung zwar nicht als sol-
che abgelehnt. Die Bundesregierung fordert aber weiter-
hin in den Verhandlungen zum mehrjährigen Finanzrah-
men der EU statt einer Ausweitung eine Kürzung um
rund 100 Milliarden Euro. Übrig bleibt die beabsichtigte
Kapitalerhöhung der Europäischen Investitionsbank und
ein eng begrenzter Pilotversuch von Projektanleihen. Bei
einem Multiplikator von circa zwei ergibt dies einen Im-
puls von rund 125 Milliarden Euro bzw. 1,3 Prozent des
EU-Bruttoinlandsprodukts, der sich aber über wenigs-
tens vier Jahre verteilt und pro Jahr eine konjunkturelle
Wirkung von weit weniger als einem Prozentpunkt er-
reicht. Dies ist zu wenig, um die Kürzungen in den euro-
päischen Krisenstaaten ausgleichen zu können. Histori-
sche Erfahrungen sprechen dafür, dass diese Kürzungen
so groß sind, dass die negativen Auswirkungen das Defi-
zit der Länder tatsächlich sogar vergrößern und ein ange-
messeneres Tempo der Sparprogramme sogar zur Be-
schleunigung des Schuldenabbaus beitragen könnte.
Die bisher bekannten Ergebnisse des Europäischen
Rates vom 28./29. Juni bremsen die Krise wahrschein-
lich für eine kurze Atempause, lassen aber leider vermu-
ten, dass auch auf europäischer Ebene die Defizite des
Fiskalpakts nicht ausgeglichen wurden. Angela Merkel
hat sich über ihre selbst beschriebenen Grenzen hinaus
auf von uns geforderte Fortschritte eingelassen: eine teil-
weise Vereinheitlichung der Bankenaufsicht bei der Eu-
ropäischen Zentralbank, die direkte Rekapitalisierung
von Banken durch den Europäischen Stabilitätsmecha-
nismus und die flexiblere Nutzung seiner Instrumente.
An wichtigen Stellen hat Merkel aber konsequentere
Fortschritte verhindert: Um ein wirklich gemeinsames
Vorgehen zu vermeiden, war die Bundesregierung bereit
zu einer Lösung, die auch große Kapitalgeber von Ban-
ken von jeder Haftung ausnehmen wird, wenn der ESM
Banken direkte Hilfe zukommen lässt. Die Übernahme
der Bankenaufsicht durch die Europäische Zentralbank
erfolgt wohl unvollständig nicht für alle grenzüber-
schreitend tätigen Institute, sondern für eine politisch ge-
kürzte Liste an Instituten. Auch hier fordern wir weiter-
hin eine stringent europäische Lösung, bei der die
Abwicklung von Banken, die Einlagensicherung und die
Aufsicht auf der gleichen, nämlich der Ebene der EU als
echte Bankenunion zusammengeführt werden sollte. Es
fehlt weiterhin an fast jeglicher parlamentarischer Mit-
wirkung und Kontrolle über das Abnicken vorher getrof-
fener Vereinbarungen hinaus. In diesem Mangel an Be-
reitschaft zu gemeinsamen europäischen Lösungen, an
diesen nationalen Vorbehalten sehen wir die falsche Lo-
gik des Fiskalpakts erneut auftauchen.
Wir haben als Partei gemeinsam die Ergebnisse dieser
Verhandlungen auf dem Länderrat am 24. Juni in Berlin
kontrovers diskutiert. Eine Mehrheit des Länderrats hat
nach einer kontroversen Debatte eine Zustimmung zum
Fiskalpakt empfohlen. Dieses Votum des Länderrats ha-
ben wir bei der Entscheidungsfindung für das heutige
Abstimmungsverhalten intensiv mit einbezogen. Aber
auch nach zwei Jahren Euro-Krise ist nach den intensi-
ven Verhandlungen in Deutschland zum Fiskalpakt und
nach dem Europäischen Rat am 28./29. Juni immer noch
keine dauerhafte und stabile Lösung der Krise erkenn-
bar. Der Fiskalpakt bleibt für uns immer noch als Instru-
ment zur Bekämpfung der Krise der grundsätzlich fal-
sche Ansatz. Ohne eine Minderung des Zinsdrucks und
eine Korrektur des strukturellen Einnahmeproblems
wird eine weitere Kaputtsparpolitik in Europa die Krise
weiter verschärfen und zu einem weiteren Abbau des So-
zialstaats führen. Außerdem ist der Fiskalpakt ein Rück-
schritt für die europäische Demokratie. Die Situation für
den Euro und Europa in dieser dramatischen Krise ist
sehr ernst. Wir tragen als Abgeordnete im Deutschen
Bundestag eine Verantwortung für Europa. Wir können
deshalb diesem Fiskalpakt nicht zustimmen und werden
uns bei der Abstimmung der Stimme enthalten.
Anlage 8
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Dr. Gerhard Schick, Maria
Klein-Schmeink und Sylvia Kotting-Uhl (alle
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zu:
– namentliche Abstimmung über den Entwurf
eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 2. März
22792 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 188. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Juni 2012
(A) (C)
(D)(B)
2012 über Stabilität, Koordinierung und
Steuerung in der Wirtschafts- und Wäh-
rungsunion
– namentliche Abstimmung über den Entwurf
eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 2. Fe-
bruar 2012 zur Einrichtung des Europäi-
schen Stabilitätsmechanismus
– namentliche Abstimmung über den Entwurf
eines Gesetzes zur finanziellen Beteiligung
am Europäischen Stabilitätsmechanismus
(ESM-Finanzierungsgesetz – ESMFinG)
– namentliche Abstimmung über den Entwurf
eines Gesetzes zu dem Beschluss des Euro-
päischen Rates vom 25. März 2011 zur Än-
derung des Artikels 136 des Vertrags über
die Arbeitsweise der Europäischen Union
hinsichtlich eines Stabilitätsmechanismus
für die Mitgliedstaaten, deren Währung der
Euro ist
(Tagesordnungspunkt 50 a bis e)
Die Analyse, die dem von der Bundesregierung aus-
gehandelten Fiskalpakt zugrunde liegt, ist irreführend.
Europa leidet nicht an einer durch staatliche Ausgaben-
wut entstandenen Krise. Kann man beim Fall Griechen-
land noch davon reden, dass die Klientelwirtschaft von
Eliten auf Kosten des Staates einen wichtigen Anteil an
der desolaten Haushaltslage hat, so ist diese verengte
Analyse schon hier nicht ausreichend, um die Lage des
Landes zu erklären. Mit Bezug auf Spanien, Portugal
oder Italien ist sie einfach falsch. Es war vor allem die
Finanzkrise, die dazu führte, dass viele Staaten die
Schulden ihres Finanzsektors übernehmen mussten, um
diesen vor dem Kollaps zu bewahren. Hinzu kommen
die Schwäche des europäischen Bankensystems, die
massive Überschuldung privater Haushalte wie in Spa-
nien, Immobilienblasen wie auch in den Niederlanden
und massive ökonomischen Ungleichgewichte in der
Euro-Zone sowie die dramatische Ungleichverteilung
von Vermögen, zu denen auch die Politik der Maximie-
rung von Exportüberschüssen, gerade auch in Deutsch-
land, beigetragen hat. Dies zu korrigieren, müsste ei-
gentlich im Vordergrund politischen Handelns stehen.
Die Demokratie ist in den Staaten der Europäischen
Union heute fest verankert, aber jahrelange Massen-
arbeitslosigkeit hat bereits zum Erstarken rechtsextre-
mer, sogar faschistischer Kräfte in mehreren Ländern der
EU geführt. Zweifellos sind Reformen in den Wirt-
schaftssystemen und Arbeitsmärkten vieler EU-Mit-
gliedstaaten notwendig. Zu Recht erwarten die betroffe-
nen Menschen aber, dass dies mit der nötigen
demokratischen Mitbestimmung und Legitimität sowie
einem gerechten sozialen Ausgleich passiert. Der Fiskal-
pakt enthält weder die nötige antizyklische Flexibilität
noch jeglichen sozialen Ausgleich, um ein prognostizier-
tes „verlorenes Jahrzehnt für Millionen Menschen“ in
vielen Staaten Europas zu verhindern. Er schränkt De-
mokratie weiter ein, statt sie auszuweiten.
Die Internationale Arbeitsorganisation warnt, dass
ohne einen „dramatischen Politikwechsel“ die Arbeits-
losigkeit, insbesondere auch für Jugendliche, vor 2016
nicht absinken wird. Massenarbeitslosigkeit in diesem
Ausmaß ist nicht nur für die Millionen betroffener Men-
schen unmittelbar schwierig, zu ertragen, sondern kann
große Teile einer Generation dauerhaft von einer aktiven
Rolle in der Gesellschaft entfremden und zu entspre-
chenden bleibenden Schäden auch in der politischen
Kultur führen. Auch ökonomisch und haushälterisch
kann dies zu einer Belastung weit über den Zeitraum der
akuten Rezession hinaus führen, well eine verfestigte
Entfremdung vom Arbeitsmarkt nicht einfach rückgän-
gig zu machen ist.
Um einen deutlichen Politikwechsel einzuleiten, wä-
ren wirksame Maßnahmen zur Linderung des Zins-
drucks auf Krisenstaaten nötig, vor allem durch einen
Altschulden-Tilgungsfonds, wie ihn der Sachverständi-
genrat der Bundesregierung vorgeschlagen hat, eine
Bankenunion sowie durch ein sozial-ökologisches Inves-
titionsprogramm in einer Höhe, die den Kürzungen in
den von Rezession betroffenen Staaten entspricht.
Auf dem Europäischen Rat wurden nun kurzfristige
Maßnahmen zur Linderung des Zinsdrucks bei Spanien
und Italien vereinbart. Sie bedeuten für Spanien, dass die
Bankenrettung – anders als bisher geplant – nicht über
eine zusätzliche Schuldenbelastung für Spanien, sondern
über direkte Hilfen aus dem ESM organisiert werden
soll. Das löst für Spanien, nicht aber für andere Staaten,
das Problem der gegenseitigen Verstärkung von Banken-
krise und Staatsschuldenkrise. Außerdem sollen italieni-
sche Staatsanleihen aufgekauft werden. Das kann den
Zinsdruck mildern, löst aber das grundsätzliche Problem
nicht, dass Italien in den nächsten Jahren immer wieder
einer neuen Welle von Investorenmisstrauen gegenüber-
stehen kann, die das Land in Schwierigkeiten bringen.
Als Verhandlungsergebnis zwischen Opposition und
Regierung über eine Ergänzung des Fiskalpaktes mit
weiteren Maßnahmen wurde vor diesem Hintergrund ein
„Wachstumspaket“ beschlossen. Beim Großteil der ver-
einbarten Maßnahmen handelt es sich nicht um zusätzli-
che Mittel, sondern lediglich um Umschichtungen und
bestenfalls einen Vorzieheffekt. Andere Maßnahmen wie
die Aufstockung der Mittel der Europäischen Investi-
tionsbank setzen darauf, einen Anreiz für private Investi-
tionen zu schaffen. Solange aber in den Krisenländern
die Unsicherheit über einen Fortbestand des Euro weiter-
besteht und die Länder bereits In der Rezession sind,
wird es dort nicht zu zusätzlichen privaten Investitionen
kommen.
In den Verhandlungen mit der Bundesregierung ist es
gelungen, konkrete Schritte für die Einführung einer Fi-
nanztransaktionsteuer verbindlich zu vereinbaren. Hier
konnten wir also eine Richtungsveränderung durchset-
zen, die es ohne uns nicht gegeben hätte. Die Finanz-
transaktionsteuer, FTT, soll noch in diesem Jahr im
Wege der Methode der „Verstärkten Zusammenarbeit“ in
den ersten EU-Staaten auf den Weg gebracht werden.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 188. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Juni 2012 22793
(A) (C)
(D)(B)
Damit gelingt es nach vielen Jahren politischen Drucks
aus Zivilgesellschaft und Parlamenten, eine relevante
Besteuerung des Finanzsektors voranzubringen. Gleich-
zeitig wird damit sichergestellt, dass ein Teil des Konso-
lidierungsbedarfs, den der Fiskalpakt erzwingt, durch
neue Einnahmen erreicht werden kann. Das mildert die
zu befürchtende einseitige Wirkung des Fiskalpakts.
Diese Veränderungen waren nur möglich um den
Preis einer Zustimmung zum Fiskalpakt. Auf diesen
Weg haben wir uns als Partei und Fraktion eingelassen.
Vor diesem Hintergrund habe ich dem Fiskalpakt zuge-
stimmt.
Was jetzt notwendig ist, sind weitere Maßnahmen, die
dafür sorgen, dass der Fiskalpakt seine potenziell schad-
haften Wirkungen nicht entfalten kann. Grundsätzlich ist
die ökonomisch verträgliche Rückführung staatlicher
Defizite sinnvoll, denn Staatsverschuldung ist immer
auch ein Verteilungsproblem: Einfache Arbeitnehmer fi-
nanzieren über ihre Steuern die Zinszahlungen des Staa-
tes mit, während Gutverdiener mit einer Anlage in
Staatsanleihen noch Geld verdienen können. Aber eine
ökonomisch vernünftige Schuldenbremse braucht Rah-
menbedingungen, die für eine Linderung des Zinsdrucks
der Altschulden sorgen. Sie muss insofern einhaltbar sein,
dass Anpassungsdruck nicht nur auf der Ausgaben-, son-
dern auch auf der Einnahmeseite entsteht, und sie muss
flexibel in Bezug auf Investitionen und wirtschaftliche
Schwächephasen sein. Diese Bedingungen erfüllt der
Fiskalpakt gegenwärtig noch nicht. Sie müssen jetzt als
Nächstes durchgesetzt werden.
Anlage 9
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten
Dr. Anton Hofreiter, Ulrich Schneider, Beate
Walter-Rosenheimer (alle BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):
zu:
– namentliche Abstimmung über den Entwurf
eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 2. März
2012 über Stabilität, Koordinierung und
Steuerung in der Wirtschafts- und Wäh-
rungsunion
– namentliche Abstimmung über den Entwurf
eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 2. Fe-
bruar 2012 zur Einrichtung des Europäischen
Stabilitätsmechanismus
– namentliche Abstimmung über den Entwurf
eines Gesetzes zur finanziellen Beteiligung
am Europäischen Stabilitätsmechanismus
(ESM-Finanzierungsgesetz – ESMFinG)
– namentliche Abstimmung über den Entwurf
eines Gesetzes zu dem Beschluss des Euro-
päischen Rates vom 25. März 2011 zur Än-
derung des Artikels 136 des Vertrags über
die Arbeitsweise der Europäischen Union
hinsichtlich eines Stabilitätsmechanismus
für die Mitgliedstaaten, deren Währung der
Euro ist
(Tagesordnungspunkt 50 a bis e)
Der Fiskalpakt – eigentlich: Vertrag über Stabilität,
Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und
Währungsunion – ist zu Recht umstritten. Man kann mit
guten Gründen gegen oder für den Vertrag sein, wie auch
das knappe Votum des Sonderländerrats der Grünen ge-
zeigt hat. In so einer Entscheidungssituation haben wir
als Abgeordnete nur die Wahl zwischen Zustimmung,
Ablehnung oder Enthaltung. Wir können den Vertrag
nicht ändern oder ergänzen oder eine ganz andere Lö-
sung fordern, sondern müssen abwägen, ob der Vertrag
mehr Nutzen oder mehr Schaden bewirkt. Der Fiskal-
pakt ist bei weitem nicht ideal: Er liefert weder eine
kurzfristige Lösung gegen den Zinsdruck noch geht er
die eigentlichen Ursachen der Banken- und Finanzkrise
an, sondern er zielt allein auf die Staatsschuldenkrise.
Dennoch stimmen wir mit Ja. Warum? Dazu ließe sich
viel sagen, wir möchten hier nur auf einige Hauptaspekte
eingehen, die gegen den Fiskalpakt vorgebracht werden.
Der Fiskalpakt schränkt die Autonomie der demokra-
tisch gewählten Parlamente über das Budgetrecht ein.
Das stimmt – aber nur, solange der Schuldenstand der
öffentlichen Haushalte über 60 Prozent des BIP liegt.
Seit den 70er-Jahren ist der Schuldenstand immer weiter
gewachsen. Offenbar sind die Parteienwettbewerbs-
demokratien kaum in der Lage, eine nachhaltige Haus-
haltspolitik zu machen. Man kann sagen, dass der Fiskal-
pakt eine Bindung der Parlamente ist, die – ähnlich wie
die politische Unabhängigkeit der Notenbank in der
Geldpolitik – den Regierungen und ihren Parlaments-
mehrheiten die Freiheit entzieht, eine Politik auf Pump
zu machen. Das Problem ist, dass die Phase, in der daran
gearbeitet wird, von den gegenwärtigen Schulden herun-
terzukommen, hart wird und sehr lange dauern wird.
Ein weiteres Problem ist der Entscheidungsmechanis-
mus des Fiskalpakts. Dieser ist intergovernmental. Dies
bedeutet, dass nur die Regierungschefs beschließen.
Dies ist im Kern der gleiche Mechanismus wie im Bun-
desrat in Deutschland. Beides ist problematisch, denn es
handelt sich um Exekutivdemokratie. Die Parlamente
entscheiden nur mittelbar durch Wahl und Kontrolle der
Regierung und nicht direkt, aber es ist nicht per se un-
demokratisch.
Es schließt sich die Frage an, ob der Fiskalpakt unso-
zial ist. Der Fiskalpakt ist dann unsozial, wenn ein aus-
geglichener Haushalt nur über Ausgabenkürzungen und
Sozialabbau erreicht wird. Viele befürchten, dass dies
eine automatische Folge des Fiskalpakts ist, weil Ein-
nahmeerhöhungen sich nicht durchsetzen ließen und der
Fiskalpakt hierzu keine Pflichten auferlege. Für uns gilt,
dass die Vermögenden einen wesentlichen Beitrag leis-
ten müssen und wir uns immer für solide Haushaltspoli-
tik ohne Sozialabbau einsetzen werden. Staatsschulden
sind Ausdruck der politischen Feigheit, die erforder-
lichen Finanzmittel durch ausreichende Besteuerung ein-
zuholen. Staatsschulden sind außerdem die ungerech-
22794 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 188. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Juni 2012
(A) (C)
(D)(B)
teste Art, den Staat zu finanzieren, denn Zins und
Zinseszins zahlen alle Bürgerinnen und Bürger und
künftige Generationen, und zwar an die Vermögenden,
die dem Staat das Geld leihen.
Nicht zuletzt können wir dem Fiskalpakt zustimmen,
weil die Grünen in den Verhandlungen mit der Bundes-
regierung einiges erreicht haben, vor allem ein seit Jah-
ren verfolgtes Ziel, nämlich den Einstieg in die Einfüh-
rung der Finanztransaktionsteuer. Selbst unter Rot-Grün
in der Ära Schröder wurden die grünen Vorstöße als un-
realistisch abgetan.
Natürlich reicht dies alles nicht aus, um die Banken-
und Finanzkrise in den Griff zu bekommen. Die starke
Zunahme der Staatsschulden ist nicht die Ursache der
seit 2008 herrschenden Krise, sondern in den meisten
Ländern eine Folge davon. Zum Beispiel hatte Irland vor
der Krise 2007 eine Verschuldung von 24,83 Prozent des
Bruttoinlandsprodukts und hat momentan, durch den Zu-
sammenbruch seines Bankensystems bedingt, eine Ver-
schuldung von 113,13 Prozent. In Spanien lag die Ver-
schuldung 2007 bei 36,30 Prozent. Die Verschuldung ist
dort nicht ganz so schnell gestiegen wie die Irlands, da
die Banken Spaniens erst in diesen Jahr am zusammen-
brechen sind. Die Verschuldung beträgt im Moment
circa 79 Prozent. Aber auch Länder wie Portugal hatten
vor der Banken- und Finanzkrise eine Verschuldung, die
sich kaum von der Deutschlands unterschied. Im Falle
Portugals waren es im Jahr 2007 68 Prozent, und jetzt
sind es 112 Prozent. In Deutschland hat sich der Schul-
denstand von 65 Prozent im Jahre 2007 auf 80 Prozent in
2012 erhöht.
Die Regierung Merkel bekämpft mit der Schulden-
krise nicht die Ursache der Krise, sondern deren Folgen.
Sie sorgt nicht für eine Regulierung der Finanzmärkte
und eine Beschränkung der Bankenmacht. Dies tut sie,
weil sie aus ideologischen Gründen und aus Feigheit vor
der Macht der Finanzmärkte lieber die Schuld populis-
tisch zum Beispiel auf die Rentner in Griechenland
schiebt. Griechenland hat einen Anteil von circa 2 Pro-
zent am gesamten Bruttoinlandsprodukt der EU. Die Be-
hauptung, dass die Menschen in Griechenland den Euro
in die Pleite führen könnten, ist genauso wenig logisch,
wie die Behauptung, eine mittelgroße Stadt wie Bremen,
Nürnberg oder Essen könnte Deutschland in die Pleite
führen. Nein! Frau Merkel will von ihrem Versagen und
dem der anderen Regierungschefs der EU ablenken, die
Banken und die Finanzmärkte zu regulieren.
Als dringlichste Maßnahme ist es jetzt notwendig, die
Staaten vom hohen Zinsdruck zu entlasten. Dies kann
über unterschiedliche Wege geschehen, zum Beispiel
über Euro-Bonds, eine Banklizenz für den ESM oder
über Interventionen der Zentralbank am Sekundärmarkt
für Staatsanleihen. Frau Merkel blockiert alle diese Aus-
wege. Die Folge ist: Die Staaten und damit die Bürger
dieser Staaten müssen immer höhere Zinsen für die alten
Schulden bezahlen. Diese hohen Zinsen führen zu Ge-
winnen für die Akteure an den Finanzmärkten, zum Bei-
spiel die Banken. Ein erheblicher Teil der Schulden ist
aber erst durch die Rettung der Banken entstanden. Die
deutsche Regierung zwingt mit ihrer Blockadehaltung
die Bürger vieler Staaten und am Ende auch die deut-
schen Bürger, gigantische Summen an die Banken zu be-
zahlen – für Schulden die es nur gibt, weil die Banken
gerettet wurden.
Ein erster Einstieg, die Finanzmärkte an den von ih-
nen verursachten Kosten der Krise zu beteiligen, ist die
Finanzmarkttransaktionsteuer. Dies reicht nicht aus. Wir
brauchen einen Abbau der Ungleichgewichte in der EU,
wir müssen die Banken verkleinern und regulieren, wir
müssen das EU-Parlament stärken und vieles Weitere.
Aber es ist den Grünen gelungen, in schwierigen Ver-
handlungen erste richtige Schritte zu erreichen. Deshalb
stimmen wir dem Gesamtpaket, trotz aller berechtigten
Bedenken, zu.
Anlage 10
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Inge Höger, Andrej Hunko,
Ulla Jelpke, Alexander Süßmair und Katrin
Werner (alle DIE LINKE) zu:
– namentliche Abstimmung über den Entwurf
eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 2. März
2012 über Stabilität, Koordinierung und
Steuerung in der Wirtschafts- und Wäh-
rungsunion
– namentliche Abstimmung über den Entwurf
eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 2. Fe-
bruar 2012 zur Einrichtung des Europäi-
schen Stabilitätsmechanismus
– namentliche Abstimmung über den Entwurf
eines Gesetzes zur finanziellen Beteiligung
am Europäischen Stabilitätsmechanismus
(ESM-Finanzierungsgesetz – ESMFinG)
– namentliche Abstimmung über den Entwurf
eines Gesetzes zu dem Beschluss des Europäi-
schen Rates vom 25. März 2011 zur Ände-
rung des Artikels 136 des Vertrags über die
Arbeitsweise der Europäischen Union hin-
sichtlich eines Stabilitätsmechanismus für
die Mitgliedstaaten, deren Währung der
Euro ist
(Tagesordnungspunkt 50 a bis e)
Der sogenannte Fiskalvertrag soll Anfang 2013 in
Kraft treten und die Europäische Union, EU, angeblich
in eine Stabilitätsunion verwandeln. Die Unterzeichner-
staaten sollen durch den Vertrag auf den Kurs einer dau-
erhaften Politik der Ausgabenkürzung und Austerität ge-
bracht werden, indem sie sich dazu verpflichten,
Schuldenbremsen – vorzugsweise in ihren Verfassun-
gen – einzurichten und Staatsschulden über 60 Prozent
des Bruttoinlandsprodukts, BIP, um jährlich 5 Prozent
abzubauen.
Ich lehne die Ratifizierung des Fiskalpakts aus den
folgenden Gründen ab:
Erstens. Der Fiskalpakt ist ein offener Angriff auf die
Demokratie in Europa: Er hebelt das Haushaltsrecht des
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 188. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Juni 2012 22795
(A) (C)
(D)(B)
Bundestages und der anderen nationalen Parlamente fak-
tisch aus. Einmal ratifiziert, kann ihn kein Land allein
wieder aufkündigen. Der Fiskalpakt soll so den maßgeb-
lich von der deutschen Bundesregierung forcierten Aus-
teritätskurs unumkehrbar machen. Auch das Europäi-
sche Parlament, EP, wird marginalisiert. Stattdessen
sollen Kompetenzen auf nicht ausreichend demokratisch
legitimierte Institutionen wie die EU-Kommission über-
tragen werden.
Zweitens. Der Fiskalpakt basiert auf einer falschen
Analyse der aktuellen Krise des Euroraums: Diese geht
nicht auf zu laxe Haushaltsführung und überhöhte Sozial-
ausgaben zurück, sondern auf die fehlende Regulierung
der Finanzmärkte, die Abhängigkeit der Staatsfinanzen
von den Finanzmärkten, die Leistungsbilanzüberschüsse
innerhalb des Euro-Raums und die Bankenrettungspakete
im Zuge der Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2007.
Drittens. Der Fiskalpakt ist wirtschaftlich unsinnig:
Die vermeintliche Lösung der Euro-Krise – strenge
Haushaltsdisziplin und Ausgabenkürzungen – hat die
Krise noch weiter vertieft. Das Beispiel Griechenland
zeigt, dass das Spardiktat der Troika aus Internationalem
Währungsfonds, lWF, Europäischer Zentralbank, EZB,
und Europäischer Kommission die Krise verschlimmert
hat. Diese fatale Politik soll nun im Fiskalpakt verewigt
werden.
Viertens. Der Fiskalpakt bedroht die Sozialstaatlich-
keit in ganz Europa: Weil eine Beteiligung der Krisen-
verursacher und -profiteure ausgeschlossen wird,
werden die darin vereinbarten haushaltspolitischen Re-
gelungen den Druck erhöhen, Sozialabbau, Privatisie-
rungen und Abbau öffentlicher Leistungen zu verschär-
fen.
Anlage 11
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Frank Schäffler, Sylvia
Canel und Dr. Lutz Knopek (alle FDP),
Manfred Kolbe und Klaus-Peter Willsch (beide
CDU/CSU) zu:
– namentliche Abstimmung über den Entwurf
eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 2. März
2012 über Stabilität, Koordinierung und
Steuerung in der Wirtschafts- und Wäh-
rungsunion
– namentliche Abstimmung über den Entwurf
eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 2. Fe-
bruar 2012 zur Einrichtung des Europäi-
schen Stabilitätsmechanismus
– namentliche Abstimmung über den Entwurf
eines Gesetzes zur finanziellen Beteiligung
am Europäischen Stabilitätsmechanismus
(ESM-Finanzierungsgesetz – ESMFinG)
– namentliche Abstimmung über den Entwurf
eines Gesetzes zu dem Beschluss des Euro-
päischen Rates vom 25. März 2011 zur Än-
derung des Artikels 136 des Vertrags über
die Arbeitsweise der Europäischen Union
hinsichtlich eines Stabilitätsmechanismus
für die Mitgliedstaaten, deren Währung der
Euro ist
(Tagesordnungspunkt 50 a bis e)
Heute treffen wir eine Richtungsentscheidung. Es
geht um die Frage, welche Gestalt das politische Europa
annehmen soll. Es geht um die Frage seiner Organisation
und die Frage, wo seine politischen Kompetenzen an-
gesiedelt sein sollen. Es geht daher um die Frage, ob
Europa zentral oder dezentral organisiert wird und auf
welcher Ebene sein Kern der Staatlichkeit liegt. Genau
diese Entscheidung trifft heute das Parlament. Das ist
nicht zulässig, denn die Verlagerung des Kerns demokra-
tischer Staatlichkeit lässt das geltende Grundgesetz nicht
zu. Man kann nicht einmal das Grundgesetz dahin ge-
hend ändern. Dennoch wird heute über die Überführung
der Staatlichkeit an eine höhere Ebene entschieden.
Diese höhere Ebene ist indes nicht die Europäische
Union, sondern ein neuer Euro-Staat, der keine Vorbilder
kennt.
Über diesen Umstand spricht niemand, weil die Dis-
kussion um die vorgebliche Rettung des Euro durch Fis-
kalvertrag und ESM den Blick auf die wahre Bedeutung
der heutigen Entscheidung im Plenum verstellt. Wir hal-
ten dies für einen Fehler. Die Entscheidung über die Ver-
schiebung der Staatlichkeit von Deutschland in den
neuen Euro-Staat darf nicht unter dem Deckmantel von
ESM und Fiskalvertrag gefällt werden. Sie muss viel-
mehr als solche deutlich bezeichnet und mit mindestens
gleicher rechtlicher Qualität wie die über den Vertrag
von Lissabon getroffen werden.
Die heutige Entscheidung ist daher ein absoluter
Tiefpunkt in der Geschichte des Deutschen Bundesta-
ges. Niemals zuvor wurde eine bedeutendere Entschei-
dung unter so falschen Voraussetzungen getroffen. In
unser Bewusstsein muss gerückt werden, dass der Deut-
sche Bundestag mit der Zustimmung zum ESM auf sein
Budgetrecht – das Königsrecht – bereitwillig verzichtet.
Das Budgetrecht ist Königsrecht, weil ein Parlament
ohne eine Letztentscheidungshoheit über Haushaltsmit-
tel machtlos, also seiner eigentlichen Aufgabe beraubt
ist. Eine Demokratie ist nicht denkbar ohne ein Parla-
ment mit voller Budgethoheit. Aus diesem Grund
schlussfolgert das Bundesverfassungsgericht aus Art. 38
GG, dass der Bestimmungsgehalt des Demokratieprin-
zips missachtet wird, wenn das parlamentarische
Budgetrecht entleert wird.
Indes führt der ESM aus sowohl rechtlichen wie öko-
nomischen Gründen zu unabsehbaren und unbegrenzten
finanziellen Verpflichtungen Deutschlands. Dadurch
saugt er das Budgetrecht des Bundestages aus und hin-
terlässt nicht mehr als dessen leere Hülle.
Rechtliche Grenzen sind dem Zugriff des ESM auf
den Bundeshaushalt nicht gesetzt; denn die haushalts-
rechtliche Beschränkung auf 190 Milliarden Euro wirkt
nicht. Nach dem Vertrag über den Europäischen Stabili-
tätsmechanismus sind alle Entscheidungen seiner Gre-
22796 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 188. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Juni 2012
(A) (C)
(D)(B)
mien völkerrechtlich verbindlich, bis auf die Erhöhung
des genehmigten Kapitals nach Art. 10 Abs. 1 ESMV.
Sie wird erst wirksam mit einer bundesgesetzlichen Er-
mächtigung zur Bereitstellung neuer Mittel für den
ESM. Doch diese einzige Vorkehrung gegen eine unge-
wollte völkerrechtlich begründete Zahlungspflicht reicht
nicht aus, wenn Deutschland auch auf andere Art und
Weise zur Zahlung verpflichtet werden kann. Dies ist
erstens der Fall beim Abruf genehmigten Kapitals zu
einem höheren Ausgabepreis als zum Nennwert.
Deutschland ist verpflichtet, jedem Abruf des genehmig-
ten Kapitals nachzukommen, selbst wenn dieses mit
einem Aufgeld auf den Nennwert, also zu einem höheren
Ausgabepreis erfolgt. Dadurch entsteht eine völkerrecht-
lich wirksame Zahlungspflicht, die Deutschland erfüllen
muss, selbst wenn ihre Höhe die haushaltsrechtliche
Vorsorge von 190 Milliarden Euro übersteigt. Dies ist
zweitens der Fall, wenn ein erhöhter Kapitalabruf zur
Verlustdeckung erfolgt, mit dem die Nichterfüllung der
Zahlungspflicht eines anderen ESM-Mitglieds ausgegli-
chen wird. Deutschland hat in diesen Fällen kein oder
jedenfalls kein abschließendes Vetorecht, da einerseits
Streitigkeiten über den Bestand von Zahlungspflichten
in letzter Instanz vom EuGH entschieden werden und
andererseits mit dem bestimmungsgemäßen Eintritt wei-
terer Staaten zur Euro-Zone der deutsche Kapitalanteil
am ESM absinken wird, wodurch sich die Sperrminorität
in Luft auflöst.
Ökonomisch bringt der ESM die Haftungsunion;
denn jede Anleihe, die er auflegt, um damit die Schul-
denstaaten zu finanzieren, ist ein Euro-Bond. Alle ESM-
Mitglieder haften gemeinschaftlich mit dem Vermögen
des ESM. Die Anleihen des ESM werden wegen der
gemeinschaftlichen Haftung und größeren Sicherheit
attraktiver sein als die Anleihen seiner Mitglieder. Die
Nachfrage nach Staatsanleihen wird sinken, wodurch die
von den Mitgliedstaaten geforderten Zinsen steigen wer-
den. Das drängt weitere ESM-Mitglieder in Hilfspro-
gramme des ESM. Die Darlehen, die der ESM an diese
Schuldenländer vergibt, sind vorrangig gegenüber ande-
ren Staatsschulden zu bedienen. Das verteuert die Kre-
ditaufnahme für die Programmländer zusätzlich. Wenn
ein ESM-Mitglied auch nur ein einziges Mal ein Darle-
hen vom ESM bekommen hat, wird es sich nie mehr ei-
genständig am Kapitalmarkt finanzieren können, weil
seine Refinanzierung teurer und nicht billiger wird. An-
dererseits bringen die Anpassungsprogramme des ESM
geringere Sanierungsanreize als hohe Kapitalmarktzin-
sen. Griechenland, Irland und Portugal liegen jeweils
hinter den Zielen ihres Anpassungsprogramms zurück.
Das ist kein unglücklicher Zufall, sondern das zu erwar-
tende ökonomische Ergebnis, wenn ein Land sich nicht
am Kapitalmarkt finanzieren muss. Der ESM wird sich
daher stetig ausweiten, schon bald die Rolle einer euro-
päischen Schuldenagentur einnehmen und größeren Ka-
pitalbedarf haben. Der ESM ist kein Rettungsschirm,
sondern ein Ansteckungsmechanismus.
Nicht das Fehlen der politischen Union bei Gründung
der Währungsunion war der Fehler, sondern der ab-
sichtsvolle Verstoß gegen die Nichtbeistandsklausel im
Jahr 2010. Dieser Rechtsbruch hat die aktuelle Krise ge-
radezu ausgelöst. Mit dem ESM wird diese Krise nicht
bekämpft, sondern die Saat gelegt, aus der die Schulden-
und Transferunion heranwachsen wird. Die Haftungsge-
meinschaft der ESM-Mitglieder ist nicht Zukunftsmusik,
sondern Gegenwart; denn der ESM verfolgt ausweislich
seines Vertragsstatuts nicht nur den Zweck, die Euro-
Zone zu schützen, sondern auch die Finanzstabilität aller
seiner Mitgliedstaaten. Der ESM wird dadurch die
Staatsinsolvenz jedes einzelnen seiner Mitgliedstaaten
verhindern und als gemeinsame Bank zur Staatsschul-
denfinanzierung dienen. Dadurch werden Staatsinsol-
venzen innerhalb der Euro-Zone faktisch unmöglich.
Wenn die einzelnen Mitgliedstaaten nicht mehr bankrott
gehen können, dann kann nur noch der neue Euro-Staat
als Ganzes bankrott gehen. Es ist daher ökonomisch un-
vermeidlich, dass es zu einer Sozialisierung sämtlicher
Staatsschulden der ESM-Mitgliedstaaten kommen muss.
Dieser Sozialisierung des Insolvenzrisikos steht keine
adäquate Möglichkeit gegenüber, die Haushalte der Mit-
gliedstaaten zu kontrollieren; denn der Fiskalvertrag ist
ein zahnloser Tiger, der als Medizin gegen die geradezu
widersinnige Anreizsituation herhalten soll, Schulden
auf Kosten der anderen Mitgliedstaaten zu machen.
Doch diese Medizin wird sich als wirkungslos erweisen.
Es gibt nur ein einziges Mittel, das Regierungen und
Parlamente zu einem verhandlungsbewussten Umgang
mit den Staatsfinanzen veranlasst, nämlich die Drohung
des Kapitalmarkts, Schulden nicht länger zu finanzieren.
Doch genau dieses disziplinierende Mittel haben wir
plangemäß und absichtlich abgeschafft.
Die heutige Gründung des Euro-Staats als Haftungs-
union mit dem Euro-Bonds ausgebenden ESM als seiner
Schuldenagentur lehnen wir ab. Dieser Euro-Staat ist
nicht demokratisch legitimiert, er hat kein Parlament,
und seine Organe sind weitgehend einer gerichtlichen
Kontrolle entzogen. Sein Machtzentrum ist eine Finanz-
institution, deren Gremien von Mitgliedern der natio-
nalen Exekutiven besetzt werden. Sie müssen sich ge-
genüber dem deutschen Gesetzgebungsorgan nicht
verantworten. Nicht einmal der deutsche Gouverneur
muss sich dem Bundestag gegenüber verantworten, weil
das Kabinett nur der Bundeskanzlerin verantwortlich ist.
Eine politische Verantwortlichkeit ist daher nicht gege-
ben. Sie genießen überdies eine weitgehende und völker-
rechtlich abgesicherte strafrechtliche Immunität. Der
ESM ist ausführendes Organ des neuen Euro-Staats,
ähnelt in seiner Ausgestaltung aber einer herkömmlichen
Bank. Seine Organe unterliegen einer Schweigepflicht,
sein Archiv ist unverletzlich. In der Wirkung ist der
ESM somit durch das Bankgeheimnis geschützt, wel-
ches wir für alle anderen europäischen Banken abge-
schafft haben. Der ESM darf nicht nur Kredite vergeben
und Staatsanleihen aufkaufen, sondern alle Geschäfte in
Bezug auf Anleihen durchführen. Damit kann er den
Zins durch Geschäfte mit Derivaten auf Staatsanleihen
beliebig manipulieren. Aufgekaufte Staatsanleihen darf
er wiederum als Sicherheit hinterlegen, um sein Volu-
men durch die Aufnahme weiterer Gelder am Kapital-
markt zu hebeln. Seine Bediensteten zahlen keine Steu-
ern. Sie dürfen nach Handelserfolg bezahlt werden, also
umso höher, je größere Gewinne sie für den ESM am
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 188. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Juni 2012 22797
(A) (C)
(D)(B)
Kapitalmarkt erzielen. Keines der vom ESM und seinen
Bediensteten durchgeführten Geschäfte ist transparent
oder in irgendeiner Weise kontrollierbar, sei es durch das
Parlament oder die Justiz.
Diese enorme Machtfülle eines Exekutivorgans ohne
„checks and balances“ ist ein Rückfall in eine vormo-
derne Staatsform. Sie ist ein veritabler Verstoß gegen die
hergebrachten Grundsätze der Gewaltenteilung, die
maßgebliches Kennzeichen unserer freiheitlich-demo-
kratischen Grundordnung sind. Wir kennen keine Um-
stände, unter denen wir davon auch nur ein Jota abwei-
chen dürften. Selbst in der Not gelten Gebote! Sogar und
gerade in der Not müssen Gebote gelten; denn sie sollen
genau in diesen schlechten Zeiten Orientierung geben. In
der Krise unserer Währung darf nichts anderes gelten.
Wenn die Ordnungsregeln der Währung gebrochen wer-
den, dann bricht die Währung. Wir müssen daher ab-
schließend festhalten: Wenn Währung, Recht und frei-
heitlich-demokratische Grundordnung durch politisches
Handeln gefährdet werden, dann ist dieses Handeln
falsch.
Anlage 12
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Werner Schieder (Weiden),
Klaus Barthel, Wolfgang Gunkel, Gabriele
Hiller-Ohm, Daniela Kolbe (Leipzig), Hilde
Mattheis, Ottmar Schreiner, Rüdiger Veit und
Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (alle SPD) zu:
– namentliche Abstimmung über den Entwurf
eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 2. März
2012 über Stabilität, Koordinierung und
Steuerung in der Wirtschafts- und Wäh-
rungsunion
– namentliche Abstimmung über den Entwurf
eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 2. Fe-
bruar 2012 zur Einrichtung des Europäi-
schen Stabilitätsmechanismus
– namentliche Abstimmung über den Entwurf
eines Gesetzes zur finanziellen Beteiligung
am Europäischen Stabilitätsmechanismus
(ESM-Finanzierungsgesetz – ESMFinG)
– namentliche Abstimmung über den Entwurf
eines Gesetzes zu dem Beschluss des Euro-
päischen Rates vom 25. März 2011 zur Än-
derung des Artikels 136 des Vertrags über
die Arbeitsweise der Europäischen Union
hinsichtlich eines Stabilitätsmechanismus
für die Mitgliedstaaten, deren Währung der
Euro ist
(Tagesordnungspunkt 50 a bis e)
Wir lehnen den Fiskalpakt ab, weil er politisch falsch,
ökonomisch unsinnig und sozial ungerecht ist – und weil
er zur Lösung der Euro-Krise nicht taugt. Wir nehmen
die eindringlichen Warnungen vieler Ökonomen und
führender Gewerkschafter, die sich besorgt an uns Bun-
destagsabgeordnete gewandt haben, ebenso ernst wie
diesbezügliche Schreiben von Bürgerinnen und Bürgern.
Deshalb stimmen wir beim Fiskalpakt mit Nein.
Der Fiskalpakt verschärft deutlich die schon im
Grundgesetz verankerte Schuldenbremse und ist deswe-
gen ein problematischer Eingriff in die Haushaltsautono-
mie von Bund und Ländern. Er bedeutet einen weiteren
Schritt der Entdemokratisierung Europas: mehr Macht
für die EU-Bürokratie ohne parlamentarische Gegenkon-
trolle. Wir plädieren ausdrücklich für ein Europa der So-
lidarität und für vertiefte Zusammenarbeit – die demo-
kratisch und parlamentarisch legitimiert sein muss.
Mit dem Fiskalpakt wird der Zwang zu Ausgabenkür-
zungen in fast ganz Europa regelrecht institutionalisiert,
die Frage gerecht organisierter Steuereinnahmen bleibt
völlig ausgeklammert. Auch wir treten dafür ein, dass
öffentliche Haushalte konsolidiert und zu hohe Staats-
schuldenquoten wieder zurückgeführt werden. Ohne
Wachstum geht das aber nicht. Der Fiskalpakt jedoch
ignoriert den engen Zusammenhang von Staatsfinanzen
und Konjunktur. Wenn die Wirtschaft schrumpft und der
Staat auch noch drastisch kürzt, dann beschleunigt sich
die wirtschaftliche Talfahrt. Unsere feste Überzeugung
ist: Prozyklische Haushaltspolitik und anhaltende Aus-
gabensenkungen führen Europa geradewegs in eine
lange Phase von Stagnation und Rezession. Der Fiskal-
pakt ist eine Wachstumsbremse! Entgegen den Erwar-
tungen der Verfechter des Fiskalpakts wird die Staatsver-
schuldung nicht sinken. Kurzum: Schuldenabbau geht
nur anders, mit Wachstum, Investitionen, guter Arbeit
und gerechten Steuern.
Stattdessen wird mit dem Fiskalpakt ein Weg des So-
zialabbaus, der Einschränkung öffentlicher Dienstleis-
tungen, schlechterer Infrastruktur, darbender Kommu-
nalfinanzen, zunehmender Armut und Ungleichheit
vorgezeichnet. Und das als Kernstück europäischer Poli-
tik! Unsere Vorstellung von Europa ist eine andere.
Die Krise im Euroraum spitzt sich gefährlich zu. Er-
sichtlich ist die Merkelsche Politik gescheitert. Ihre seit
mehr als zwei Jahren verordnete Therapie macht den Pa-
tienten nicht gesund, sondern kränker. Ganz Südeuropa
stürzt immer mehr in den wirtschaftlichen und sozialen
Ruin. Als Folge davon brechen jetzt deutsche Exporte
ein, auch für Deutschland kommen die Einschläge näher.
Falsche Diagnosen haben zu schädlichen Rezepten
geführt. Nicht laxe Haushaltspolitik hat uns in die Krise
getrieben; vor der Finanzkrise sind überall in Europa die
Staatsschuldenquoten gesunken. Erst infolge der Finanz-
krise und der notwendigen Rettungsmaßnehmen der
Staaten gingen die Defizite in die Höhe. Dass die Anle-
ger Staatsanleihen nicht mehr trauen, liegt nicht an unso-
lider Haushaltspolitik, sondern daran, dass die gemein-
same Garantie der Staatsanleihen – zusammen mit der
Zentralbank, wie das in allen Ländern der Fall ist (!) –
ausdrücklich politisch verweigert wird. Das muss sich
dringend ändern, und das fordern wir.
Die Währungsunion braucht eine Wachstumsperspek-
tive. Das wird zunehmend erkannt. Doch Wachstumspla-
cebos, die mit künstlich aufgeblähten Zahlen kommuni-
ziert werden, überzeugen uns nicht. Wer Wachstum will,
22798 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 188. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Juni 2012
(A) (C)
(D)(B)
muss die völlig überzogenen und deswegen kontrapro-
duktiven Konsolidierungsprogramme für die Südeuro-
päer zeitlich strecken, damit die Ökonomien dort wieder
atmen können. Wer Wachstum will, muss – gerade weil
auch Deutschland mit Niedriglohnpolitik zu erheblichen
Ungleichgewichten in der Währungsunion beigetragen
hat – in Deutschland dafür sorgen, dass es ordentliche
Löhne und mehr Binnennachfrage gibt. Genau dafür tre-
ten wir ein.
Anlage 13
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Alexander Süßmair und
Katrin Werner (beide DIE LINKE)
zu:
– namentliche Abstimmung über den Entwurf
eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 2. März
2012 über Stabilität, Koordinierung und
Steuerung in der Wirtschafts- und Wäh-
rungsunion
– namentliche Abstimmung über den Entwurf
eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 2. Fe-
bruar 2012 zur Einrichtung des Europäi-
schen Stabilitätsmechanismus
– namentliche Abstimmung über den Entwurf
eines Gesetzes zur finanziellen Beteiligung
am Europäischen Stabilitätsmechanismus
(ESM-Finanzierungsgesetz – ESMFinG)
– namentliche Abstimmung über den Entwurf
eines Gesetzes zu dem Beschluss des Euro-
päischen Rates vom 25. März 2011 zur Än-
derung des Artikels 136 des Vertrags über
die Arbeitsweise der Europäischen Union
hinsichtlich eines Stabilitätsmechanismus
für die Mitgliedstaaten, deren Währung der
Euro ist
(Tagesordnungspunkt 50 a bis e)
Mit dem Europäischen Stabilitätsmechanismus, ESM,
wollen 17 Länder der Euro-Zone eine neue Finanzinstitu-
tion gründen, die Staaten und Banken in finanziellen
Notsituationen mit Milliardenkrediten helfen soll. Er soll
eine Ausleihkapazität von 500 Milliarden Euro bekom-
men, während sich die Unterzeichner für insgesamt
700 Milliarden Euro haftbar machen. Der deutsche An-
teil beläuft sich auf 21,7 Milliarden Euro, die binnen
fünf Jahren eingezahlt werden müssen, und 168,3 Mil-
liarden Euro, für die Deutschland haftet. Ich lehne den
ESM aus den folgenden Gründen ab:
Erstens. Die Risiken, die den Steuerzahlerinnen und
Steuerzahlern durch den ESM aufgebürdet werden, sind
gigantisch: Der Anteil des deutschen Haftungsanteils in
Höhe von insgesamt 190 Milliarden Euro entspricht
etwa zwei Dritteln des Bundeshaushalts. Das Stamm-
kapital von anfänglich 700 Milliarden Euro kann darüber
hinaus jederzeit durch einen Beschluss des Gouverneurs-
rats und die Zustimmung der Mitgliedsländer ausgewei-
tet werden.
Zweitens. Die sogenannten Hilfsgelder, die der ESM
in Zukunft auszahlen soll, kommen nicht der Bevölke-
rung zugute, sondern werden für Zins- und Tilgungszah-
lungen der Staaten an Banken und andere Gläubiger auf-
gewendet werden. An keiner Stelle sind in dem Vertrag
Klauseln vorgesehen, die die Empfänger der Hilfsgelder
dazu verpflichten, soziale Standards einzuhalten. Der
ESM ist also ein weiteres Instrument zur Rettung von
Banken und der Vermögen von Superreichen – und nicht
zur Unterstützung der Menschen.
Drittens. Beantragt ein Land Gelder aus dem ESM, so
muss es den undemokratischen und unsozialen Fiskal-
pakt ratifiziert haben und sich zu rigiden Auflagen ver-
pflichten, die von der EU-Kommission, der Europäi-
schen Zentralbank, EZB, und nach Möglichkeit dem
Internationalen Währungsfonds, IWF, diktiert werden,
Art. 13.3. Die dramatischen Folgen dieses Spardiktats
können wir aktuell In Griechenland beobachten.
Viertens. Beim ESM ist praktisch keine parlamenta-
rische Kontrolle vorgesehen. Während in dem Vertrag
explizit begrüßt wird, Vertreterinnen und Vertreter des
IWF einzuladen, werden Vertreterinnen und Vertreter
der Parlamente ausgeschlossen. Die Entscheidungen des
ESM werden durch den Gouverneursrat, also allein
durch die Exekutive, getroffen, eine effektive parlamen-
tarische Kontrolle ist dadurch unmöglich.
Fünftens. Dem ESM wird volle Immunität gegenüber
Gerichten und Parlamenten zugesichert, während alle
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Schweigepflicht
unterliegen. Dadurch wird eine öffentliche Kontrolle der
Entscheidungen des ESM verunmöglicht.
Sechstens. Genauso wie im Fiskalpakt, ist im ESM-
Vertrag keine Kündigungsmöglichkeit für einzelne Ver-
tragspartner vorgesehen. Dem ESM soll damit ebenfalls
eine Ewigkeitsgarantie gegeben werden, die demokra-
tischen Grundsätzen Hohn spricht.
Anlage 14
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Inge Höger, Andrej Hunko,
Ulla Jelpke (alle DIE LINKE) zu:
– namentliche Abstimmung über den Entwurf
eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 2. März
2012 über Stabilität, Koordinierung und
Steuerung in der Wirtschafts- und Wäh-
rungsunion
– namentliche Abstimmung über den Entwurf
eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 2. Fe-
bruar 2012 zur Einrichtung des Europäi-
schen Stabilitätsmechanismus
– namentliche Abstimmung über den Entwurf
eines Gesetzes zur finanziellen Beteiligung
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 188. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Juni 2012 22799
(A) (C)
(D)(B)
am Europäischen Stabilitätsmechanismus
(ESM-Finanzierungsgesetz – ESMFinG)
– namentliche Abstimmung über den Entwurf
eines Gesetzes zu dem Beschluss des Euro-
päischen Rates vom 25. März 2011 zur Än-
derung des Artikels 136 des Vertrags über
die Arbeitsweise der Europäischen Union
hinsichtlich eines Stabilitätsmechanismus
für die Mitgliedstaaten, deren Währung der
Euro ist
(Tagesordnungspunkt 50 a bis e)
Mit dem Europäischen Stabilitätsmechanismus, ESM,
wollen 17 Länder der Euro-Zone eine neue Finanz-
institution gründen, die Staaten und Banken in finanziel-
len Notsituationen mit Milliardenkrediten helfen soll. Er
soll eine Ausleihkapazität von 500 Milliarden Euro be-
kommen, während sich die Unterzeichner für insgesamt
700 Milliarden Euro haftbar machen. Der deutsche An-
teil beläuft sich auf 21,7 Milliarden Euro, die binnen
fünf Jahren eingezahlt werden müssen, und 168,3 Mil-
liarden Euro, für die Deutschland haftet. Ich lehne den
ESM aus den folgenden Gründen ab:
Erstens. Die Risiken, die den Steuerzahlerinnen und
Steuerzahlern durch den ESM aufgebürdet werden, sind
gigantisch: Der Anteil des deutschen Haftungsanteils in
Höhe von insgesamt 190 Milliarden Euro entspricht
etwa zwei Dritteln des Bundeshaushaltes. Das Stammka-
pital von anfänglich 700 Milliarden Euro kann darüber
hinaus jederzeit durch einen Beschluss des Gouverneurs-
rats und der Zustimmung der Mitgliedsländer ausgewei-
tet werden.
Zweitens. Die so genannten Hilfsgelder, die der ESM
in Zukunft auszahlen soll, kommen nicht der Bevölke-
rung zugute, sondern werden für Zins- und Tilgungszah-
lungen der Staaten an Banken und andere Gläubiger ver-
wendet werden. An keiner Stelle sind in dem Vertrag
Klauseln vorgesehen, die die Empfänger der Hilfsgelder
dazu verpflichten, soziale Standards einzuhalten. Der
ESM ist also ein weiteres Instrument zur Bankenrettung –
und nicht zur Unterstützung der Menschen.
Drittens. Beantragt ein Land Gelder aus dem ESM, so
muss es den undemokratischen und unsozialen Fiskal-
pakt ratifiziert haben und sich zu rigiden Auflagen ver-
pflichten, die von der EU-Kommission, der Europäi-
schen Zentralbank, EZB, und „nach Möglichkeit“ dem
Internationalen Währungsfonds, IWF, diktiert werden
(Art. 13 Abs. 3). Die dramatischen Folgen dieses Spar-
diktats können wir aktuell in Griechenland beobachten.
Viertens. Beim ESM ist keine parlamentarische
Kontrolle vorgesehen. Während in dem Vertrag explizit
begrüßt wird, Vertreterinnen und Vertreter des IWF ein-
zuladen, werden Vertreterinnen und Vertreter der Par-
lamente ausgeschlossen. Die Entscheidungen des ESM
werden durch den Gouverneursrat allein durch die Exe-
kutive getroffen; eine effektive parlamentarische Kon-
trolle ist dadurch unmöglich.
Fünftens. Dem ESM wird volle Immunität gegenüber
Gerichten und Parlamenten zugesichert, während alle
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Schweigepflicht
unterliegen. Dadurch wird eine öffentliche Kontrolle der
Entscheidungen des ESM verunmöglicht.
Sechstens. Genauso wie der Fiskalpakt, ist im ESM-
Vertrag keine Kündigungsmöglichkeit für einzelne Ver-
tragspartner vorgesehen. Dem ESM soll damit ebenfalls
eine Ewigkeitsgarantie gegeben werden, die demokrati-
schen Grundsätzen Hohn spricht.
Anlage 15
Amtliche Mitteilungen
Der Bundesrat hat in seiner 897. Sitzung am 15. Juni
2012 beschlossen, den nachstehenden Gesetzen zuzu-
stimmen bzw. einen Antrag gemäß Artikel 77 Absatz 2
des Grundgesetzes nicht zu stellen:
– Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Arti-
kel 93)
– Gesetz zur Verbesserung des Rechtsschutzes in
Wahlsachen
– Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 2010/73/EU
und zur Änderung des Börsengesetzes
– Gesetz zur Regelung der Entscheidungslösung im
Transplantationsgesetz
– Gesetz zur Änderung des Transplantationsgeset-
zes
Der Bundesrat hat ferner die nachfolgende Entschlie-
ßung gefasst:
Der Bundesrat stellt mit Blick auf die unterschiedli-
chen regionalen Strukturen, insbesondere im Kranken-
haussektor, fest, dass die Berücksichtigung der spezifi-
schen regionalen Gegebenheiten von großer Bedeutung
ist, um den Organspendeprozess durch die Deutsche
Stiftung Organtransplantation und ihre regionalen Unter-
gliederungen bestmöglich zu organisieren.
Er bedauert, dass das Gesetz insofern hinter den Er-
wartungen zurückbleibt, weil es eine regionale Flexibili-
tät nicht in dem erforderlichen Maße gewährleistet.
Der Bundesrat fordert die Bundesregierung daher auf,
im Rahmen ihrer Möglichkeiten beiden Partnern des
Vertrags nach § 11 TPG auf eine Vertragsänderung mit
dem Ziel hinzuwirken, den regionalen Untergliederun-
gen der Koordinierungsstelle in geeigneter Weise stär-
kere Eigenverantwortlichkeit bei der Wahrnehmung der
Aufgaben in ihrem jeweiligen Zuständigkeitsbereich
einzuräumen.
Insbesondere soll den regionalen Untergliederungen
zur grundsätzlich eigenverantwortlichen Aufgabenerle-
digung ein Regionalbudget, das mit entsprechender
Budget- und Personalverantwortung verbunden ist, von
der Koordinierungsstelle zugewiesen werden. Dabei sol-
len im Vertrag nach § 11 TPG die Kompetenzen zwi-
schen regionalen Untergliederungen und überregionaler
Koordinierungsstelle sachgerecht austariert werden.
22800 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 188. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Juni 2012
(A) (C)
(D)(B)
Der Bundesrat bittet die Bundesregierung, ihm inner-
halb eines Jahres über ihre Bemühungen zu berichten.
– Gesetz zur Errichtung eines Nationalen Waffen-
registers (Nationales-Waffenregister-Gesetz –
NWRG)
– Gesetz zur Regelung der Arbeitszeit von selbst-
ständigen Kraftfahrern
– Gesetz zur Änderung des Kraft-Wärme-Kopp-
lungsgesetzes
Ferner hat der Bundesrat die nachstehende Entschlie-
ßung gefasst:
Erstens. Der Bundesrat hält folgende weitergehende
Maßnahme für geboten:
Anhebung der maximalen Fördersumme für Wärme-/
Kältespeicher in § 7 b KWKG von 5 Millionen Euro je
Projekt auf 10 Millionen Euro je Projekt.
Zweitens. Der Bundesrat stellt fest, dass mit dem Ver-
zicht auf KWK-Zuschläge für Anlagen, die aus indus-
trieller Abwärme Strom erzeugen – z. B. mit Hilfe von
ORC-Anlagen –, große Abwärmemengen für die Strom-
erzeugung weiterhin ungenutzt bleiben werden dürften.
Der Bundesrat bedauert es auch, dass kein Technolo-
giebonus für Brennstoffzellen als KWK-Anlagen ge-
währt wird. Dieser hätte zu einer Marktdurchdringung
und zu Skaleneffekten beitragen und somit dieser beson-
ders effizienten Technologie zum Durchbruch verhelfen
können.
Der Bundesrat bittet die Bundesregierung zu prüfen,
inwieweit die genannten Technologien nicht doch noch
bei einer zukünftigen Änderung des Kraft-Wärme-
Kopplungsgesetzes berücksichtigt oder in Förderpro-
gramme integriert werden können, um die damit verbun-
denen Energieeffizienzpotenziale auszuschöpfen.
Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben
mitgeteilt, dass der Ausschuss gemäß § 80 Absatz 3
Satz 2 der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung
zu den nachstehenden Vorlagen absieht:
Innenausschuss
– Unterrichtung durch die durch die Beauftragte der Bundes-
regierung für Migration, Flüchtlinge und Integration
Zweiter Integrationsindikatorenbericht
– Drucksachen 17/8540, 17/8959 Nr. 1.2 –
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
– Unterrichtung durch die Bundesregierung
Zweiter Nationaler Energieeffizienz-Aktionsplan der
Bundesrepublik Deutschland
– Drucksache 17/6927 –
Ausschuss für Gesundheit
– Unterrichtung durch die Bundesregierung
Fünfter Bericht über die Entwicklung der Pflegeversi-
cherung und den Stand der pflegerischen Versorgung in
der Bundesrepublik Deutschland
– Drucksachen 17/8332, 17/8641 Nr. 1.7 –
Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben
mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden
Unionsdokumente zur Kenntnis genommen oder von ei-
ner Beratung abgesehen hat.
Petitionsausschuss
Drucksache 17/8227 Nr. A.1
EP P7_TA-PROV(2011)0467
Auswärtiger Ausschuss
Drucksache 17/9475 Nr. A.11
EuB-BReg 31/2012
Drucksache 17/9475 Nr. A.12
EuB-BReg 32/2012
Innenausschuss
Drucksache 17/9647 Nr. A.3
EP P7_TA-PROV(2012)0073
Drucksache 17/9647 Nr. A.5
Ratsdokument 9122/12
Finanzausschuss
Drucksache 17/9475 Nr. A.13
Ratsdokument 7988/12
Drucksache 17/9647 Nr. A.7
Ratsdokument 6898/12
Drucksache 17/9647 Nr. A.8
Ratsdokument 8779/12
Haushaltsausschuss
Drucksache 17/6176 Nr. A.10
EuB-BReg 163/2011
Drucksache 17/9475 Nr. A.14
Ratsdokument 7565/12
Drucksache 17/10069 Nr. A.1
KOM(2012)342 endg.
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Drucksache 17/6985 Nr. A.29
Ratsdokument 12046/11
Drucksache 17/9797 Nr. A.5
Ratsdokument 8427/12
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Drucksache 17/8515 Nr. A.38
EP P7_TA-PROV(2011)0587
Drucksache 17/8515 Nr. A.39
EP P7_TA-PROV(2011)0589
Drucksache 17/8673 Nr. A.12
Ratsdokument 5166/12
Drucksache 17/8856 Nr. A.13
Ratsdokument 5582/12
Drucksache 17/8856 Nr. A.14
Ratsdokument 5733/12
Drucksache 17/9130 Nr. A.7
EP P7_TA-PROV(2012)0047
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 188. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Juni 2012 22801
(A) (C)
(D)(B)
Drucksache 17/9252 Nr. A.8
Ratsdokument 7293/12
Drucksache 17/9475 Nr. A.18
Ratsdokument 8239/12
Drucksache 17/9475 Nr. A.19
Ratsdokument 8241/12
Drucksache 17/9647 Nr. A.11
Ratsdokument 8552/12
Drucksache 17/9647 Nr. A.12
Ratsdokument 8553/12
Drucksache 17/9647 Nr. A.13
Ratsdokument 8554/12
Drucksache 17/9647 Nr. A.14
Ratsdokument 8555/12
Drucksache 17/9647 Nr. A.15
Ratsdokument 8556/12
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
Drucksache 17/9252 Nr. A.11
Ratsdokument 6893/12
188. Sitzung
Inhaltsverzeichnis
TOP 44 Reform der Pflegeversicherung
TOP 45 Wissenschaftsfreiheitsgesetz
TOP 46 Stärkung der deutschen Finanzaufsicht
TOP 47 Deutsche Bahn AG
TOP 48 Steuerabkommen mit der Schweiz
TOP 49 Tierschutz
ZP 10, TOP 50 Regierungserklärung zur Stabilitätsunion, Fiskalvertrag und Europäischer Stabilitätsmechanismus
Anlagen