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    Plenarprotokoll 17/169 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 169. Sitzung zugleich 894. Sitzung des Bundesrates Berlin, Freitag, den 23. März 2012 I n h a l t : Eidesleistung des Bundespräsidenten ge- mäß Art. 56 Grundgesetz Ansprache des Präsidenten des Deutschen Bundestages Prof. Dr. Norbert Lammert . . Ansprache des Präsidenten des Bundesrates Horst Seehofer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eidesleistung des Bundespräsidenten Dr. h. c. Joachim Gauck . . . . . . . . . . . . . . . Ansprache des Bundespräsidenten Dr. h. c. Joachim Gauck . . . . . . . . . . . . . . . Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 20079 A 20080 D 20081 D 20082 A 20085 A Inhaltsverzeichnis Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 169. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. März 2012 20079 (A) (C) (D)(B) 169. Sitzung zugleich 894. Sitzung des Bundesrates Berlin, Freitag, den 23. März 2012 Beginn: 9.01 Uhr
  • folderAnlagen
    Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 169. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. März 2012 20085 (A) (C) (D)(B) Anlage zum Stenografischen Bericht Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Bär, Dorothee CDU/CSU 23.03.2012 Barchmann, Heinz- Joachim SPD 23.03.2012** Barnett, Doris SPD 23.03.2012* Blumenthal, Sebastian FDP 23.03.2012 Brinkmann (Hildesheim), Bernhard SPD 23.03.2012 Bülow, Marco SPD 23.03.2012 Bulling-Schröter, Eva DIE LINKE 23.03.2012 Ehrmann, Siegmund SPD 23.03.2012 Ferner, Elke SPD 23.03.2012 Fritz, Erich G. CDU/CSU 23.03.2012* Dr. Fuchs, Michael CDU/CSU 23.03.2012 Gehrcke, Wolfgang DIE LINKE 23.03.2012 Goldmann, Hans- Michael FDP 23.03.2012 Granold, Ute CDU/CSU 23.03.2012 Groschek, Michael SPD 23.03.2012 Groß, Michael SPD 23.03.2012 Dr. Hein, Rosemarie DIE LINKE 23.03.2012 Dr. Hendricks, Barbara SPD 23.03.2012 Hunko, Andrej DIE LINKE 23.03.2012* Dr. h. c. Koppelin, Jürgen FDP 23.03.2012 Kossendey, Thomas CDU/CSU 23.03.2012 Kramme, Anette SPD 23.03.2012 Krischer, Oliver BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 23.03.2012 Kuhn, Fritz BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 23.03.2012 Lanfermann, Heinz FDP 23.03.2012 Lay, Caren Nicole DIE LINKE 23.03.2012 Lindner, Christian FDP 23.03.2012 Luksic, Oliver FDP 23.03.2012 Menzner, Dorothée DIE LINKE 23.03.2012 Dr. Middelberg, Mathias CDU/CSU 23.03.2012 Möller, Kornelia DIE LINKE 23.03.2012 Müller (Köln), Kerstin BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 23.03.2012 Müller (Aachen), Petra FDP 23.03.2012 Nahles, Andrea SPD 23.03.2012 Nestle, Ingrid BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 23.03.2012 Nietan, Dietmar SPD 23.03.2012 Nord, Thomas DIE LINKE 23.03.2012 Dr. Ott, Hermann E. BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 23.03.2012 Pieper, Cornelia FDP 23.03.2012 Poland, Christoph CDU/CSU 23.03.2012 Dr. Ratjen-Damerau, Christiane FDP 23.03.2012 Sager, Krista BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 23.03.2012 Schaaf, Anton SPD 23.03.2012 Schäfer (Saalstadt), Anita CDU/CSU 23.03.2012 Schieder (Schwandorf), Marianne SPD 23.03.2012 Schlecht, Michael DIE LINKE 23.03.2012 Schmidt (Bochum), Frithjof BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 23.03.2012 Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Anlagen 20086 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 169. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. März 2012 (A) (C) (D)(B) * für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver- sammlung des Europarates ** für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver- sammlung der Union für den Mittelmeerraum Schwanitz, Rolf SPD 23.03.2012 Seif, Detlef CDU/CSU 23.03.2012 Senger-Schäfer, Kathrin DIE LINKE 23.03.2012 Steinbach, Erika CDU/CSU 23.03.2012 Stracke, Stephan CDU/CSU 23.03.2012 Tressel, Markus BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 23.03.2012 Ulrich, Alexander DIE LINKE 23.03.2012 Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Wagenknecht, Sahra DIE LINKE 23.03.2012 Wellenreuther, Ingo CDU/CSU 23.03.2012 Werner, Katrin DIE LINKE 23.03.2012 Dr. Westerwelle, Guido FDP 23.03.2012 Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich 169. Sitzung zugleich 894. Sitzung des Bundesrates Inhaltsverzeichnis Eidesleistung des Bundespräsidenten gemäßArt. 56 Grundgesetz Anlage
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    Herr Präsident des Deutschen Bundestages! Meine

    sehr verehrten Damen und Herren! Liebe verehrte Mit-
    bürgerinnen und Mitbürger aus dem In- und Ausland!
    Zunächst Ihnen, Herr Präsident, meinen allerherzlichen
    Dank für die unnachahmliche Führung dieser Sitzung
    und für das leuchtende Beispiel in unser Land hinein,
    dass Politik Freude machen kann.


    (Beifall)


    Herr Bundesratspräsident, Sie haben Worte gefunden,
    die bei mir und sicher auch bei Herrn Bundespräsidenten
    Wulff ein tiefes und nachhaltiges Echo hinterlassen ha-
    ben. Ich danke Ihnen.

    Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, wie soll es denn
    nun aussehen, dieses Land, zu dem unsere Kinder und
    Enkel einmal sagen sollen „unser Land“? Geht die Ver-
    einzelung in diesem Land weiter? Geht die Schere zwi-
    schen Arm und Reich weiter auf? Verschlingt uns die
    Globalisierung? Werden Menschen sich als Verlierer
    fühlen, wenn sie an den Rand der Gesellschaft geraten?
    Schaffen ethnische oder religiöse Minderheiten in ge-
    wollter oder beklagter Isolation Gegenkulturen? Hat die
    europäische Idee Bestand? Droht im Nahen Osten ein
    neuer Krieg? Kann ein verbrecherischer Fanatismus in
    Deutschland wie in anderen Teilen der Welt weiter fried-
    liche Menschen bedrohen, einschüchtern und ermorden?

    Jeder Tag, jede Begegnung mit den Medien bringt
    eine Fülle neuer Ängste und Sorgen hervor. Manche er-
    sinnen dann Fluchtwege, misstrauen der Zukunft, fürch-
    ten die Gegenwart. Viele fragen sich: Was ist das eigent-
    lich für ein Leben, was ist das für eine Freiheit? Mein
    Lebensthema Freiheit ist dann für sie keine Verheißung,
    kein Versprechen, sondern nur Verunsicherung. Ich ver-
    stehe diese Reaktion, doch ich will ihr keinen Vorschub
    leisten. Ängste – so habe ich es gelernt in einem langen
    Leben – vermindern unseren Mut wie unser Selbstver-
    trauen, und manchmal so entscheidend, dass wir beides
    ganz und gar verlieren können, bis wir gar Feigheit für
    Tugend halten und Flucht für eine legitime Haltung im
    politischen Raum.

    Stattdessen – da ich das nicht will – will ich meine Er-
    innerung als Kraft und Kraftquelle nutzen, mich und uns
    zu lehren und zu motivieren. Ich wünsche mir also eine
    lebendige Erinnerung auch an das, was in unserem Land
    nach all den Verbrechen der nationalsozialistischen Dik-
    tatur und nach den Gräueln des Krieges gelungen ist. In
    Deutschlands Westen trug es, dieses Gelungene, als Ers-
    tes den Namen „Wirtschaftswunder“. Deutschland kam
    wieder auf die Beine. Die Vertriebenen, gar die Ausge-
    bombten, erhielten Wohnraum. Nach Jahren der Entbeh-
    rung nahm der Durchschnittsbürger teil am wachsenden
    Wohlstand, freilich nicht jeder im selben Maße.

    Allerdings sind für mich die Autos, die Kühlschränke
    und all der neue Glanz einer neuen Prosperität nicht das

    Wunderbare jenes Jahrzehnts. Ich empfinde mein Land
    vor allem als ein Land des „Demokratiewunders“. An-
    ders als es die Alliierten damals nach dem Kriege fürch-
    teten, wurde der Revanchismus im Nachkriegsdeutsch-
    land nie mehrheitsfähig. Es gab schon ein Nachwirken
    nationalsozialistischer Gedanken, aber daraus wurde
    keine wirklich gestaltende Kraft. Es entstand stattdessen
    eine stabile demokratische Ordnung. Deutschland West
    wurde Teil der freien westlichen Welt.

    Die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte
    in dieser Zeit blieb allerdings defizitär. Die Verdrängung
    eigener Schuld, die fehlende Empathie mit den Opfern
    des Naziregimes prägten den damaligen Zeitgeist. Erst
    die 68er-Generation hat das nachhaltig geändert. Damals
    war meine Generation konfrontiert mit dem tiefschwar-
    zen Loch der deutschen Geschichte, als die Generation
    unserer Eltern sich mit Hybris, Mord und Krieg gegen
    unsere Nachbarn im Inneren wie im Äußeren vergingen.
    Es war und blieb das Verdienst dieser Generation, der
    68er: Es war ein mühsam errungener Segen, sich neu,
    anders und tiefer erinnern zu können. Trotz aller Irr-
    wege, die sich mit dem Aufbegehren der 68er auch ver-
    bunden haben, hat sie die historische Schuld ins kollek-
    tive Bewusstsein gerückt.


    (Beifall)


    Diese auf Fakten basierende und an Werten orientierte
    Aufarbeitung der Vergangenheit wurde nicht nur rich-
    tungsweisend für uns nach 1989 in Ostdeutschland. Sie
    wird auch als beispielhaft von vielen Gesellschaften
    empfunden, die ein totalitäres oder despotisches Joch ab-
    geschüttelt haben und nicht wissen, wie sie mit der Last
    der Vergangenheit umgehen sollen.

    Das entschlossene Ja der Westdeutschen zu Europa ist
    ein weiteres kostbares Gut der deutschen Nachkriegsge-
    schichte, ein Erinnerungsgut, das uns wichtig bleiben
    sollte. Konrad Adenauer, Kanzler des Landes, das eben
    noch geprägt und dann ruiniert war vom Nationalismus,
    wird zu einem der Gründungsväter einer zukunftsgerich-
    teten europäischen Integration. Dankbarkeit und Freude!

    So wie später – 1989, dieser nächste Schatz in unse-
    rem Erinnerungsgut. Da waren die Ostdeutschen zu ei-
    ner friedlichen Revolution imstande, zu einer friedlichen
    Freiheitsrevolution. Wir wurden das Volk, und wir wur-
    den ein Volk. Und nie vergessen: Vor dem Fall der
    Mauer mussten sich die vielen ermächtigen. Erst wenn
    die Menschen aufstehen und sagen: „Wir sind das Volk“,
    werden sie sagen können: „Wir sind ein Volk“, werden
    die Mauern fallen.


    (Beifall)


    Damals wurde auf ganz unblutige Weise auch der jahr-
    zehntelange Ost-West-Gegensatz aus den Zeiten des
    Kalten Krieges gelöscht, und die aus ihr erwachsende
    Kriegsgefahr wurde besiegt und beseitigt.

    Wenn ich so spreche, ist der Sinn dessen, dass ich
    nicht nur über die Schattenseiten, über Schuld und Versa-
    gen sprechen möchte. Auch jener Teil unserer Geschichte
    darf nicht vergessen sein, der die Neugründung einer
    politischen Kultur der Freiheit, die gelebte Verantwor-





    Bundespräsident Dr. h. c. Joachim Gauck


    (A) (C)



    (D)(B)


    tung, die Friedensfähigkeit und die Solidarität unseres
    Volkes umfasst. Das ist kein Paradigmenwechsel in der
    Erinnerungskultur. Das ist eine Paradigmenergänzung.
    Sie soll uns ermutigen: Das, was mehrfach in der Vergan-
    genheit gelungen ist, all die Herausforderungen der Zeit
    anzunehmen und sie nach besten Kräften – wenn auch
    nicht gleich ideal – zu lösen, das ist eine große Ermuti-
    gung auch für uns in der Zukunft.


    (Beifall)


    Wie soll es nun also aussehen, dieses Land, zu dem
    unsere Kinder und Enkel „unser Land“ sagen? Es soll
    „unser Land“ sein, weil „unser Land“ soziale Gerechtig-
    keit, Teilhabe und Aufstiegschancen verbindet. Der Weg
    dazu ist nicht der einer paternalistischen Fürsorgepolitik,
    sondern der eines Sozialstaates, der vorsorgt und er-
    mächtigt. Wie dürfen nicht dulden, dass Kinder ihre Ta-
    lente nicht entfalten können, weil keine Chancengleich-
    heit existiert. Wir dürfen nicht dulden, dass Menschen
    den Eindruck haben, Leistung lohne sich für sie nicht
    mehr und der Aufstieg sei ihnen selbst dann verwehrt,
    wenn sie sich nach Kräften bemühen. Wir dürfen nicht
    dulden, dass Menschen den Eindruck haben, sie seien
    nicht Teil unserer Gesellschaft, weil sie arm oder alt oder
    behindert sind.

    Freiheit ist eine notwendige Bedingung von Gerech-
    tigkeit. Denn was Gerechtigkeit – auch soziale Gerech-
    tigkeit – bedeutet und was wir tun müssen, um ihr näher-
    zukommen, lässt sich nicht paternalistisch anordnen, nur
    in intensiver demokratischer Diskussion und Debatte
    klären. Umgekehrt ist das Bemühen um Gerechtigkeit
    unerlässlich für die Bewahrung der Freiheit. Wenn die
    Zahl der Menschen wächst, die den Eindruck haben, ihr
    Staat meine es mit dem Bekenntnis zu einer gerechten
    Ordnung in der Gesellschaft nicht ernst, sinkt das Ver-
    trauen in die Demokratie. „Unser Land“ muss also ein
    Land sein, das beides verbindet: Freiheit als Bedingung
    für Gerechtigkeit und Gerechtigkeit als Bedingung da-
    für, Freiheit und Selbstverwirklichung erlebbar zu ma-
    chen.


    (Beifall)


    Sodann: In „unserem Land“ sollen auch alle zu Hause
    sein können, die hier leben. Wir leben inzwischen in ei-
    nem Staat, in dem neben die ganz selbstverständliche
    deutschsprachige und christliche Tradition Religionen
    wie der Islam getreten sind, auch andere Sprachen, an-
    dere Traditionen und Kulturen, in einem Staat, der sich
    immer weniger durch nationale Zugehörigkeit seiner
    Bürger definieren lässt, sondern durch ihre Zugehörig-
    keit zu einer politischen und ethischen Wertegemein-
    schaft, in dem nicht ausschließlich die über lange Zeit
    entstandene Schicksalsgemeinschaft das Gemeinwesen
    bestimmt, sondern zunehmend das Streben der Unter-
    schiedlichen nach dem Gemeinsamen: diesem unseren
    Staat in Europa.


    (Beifall)


    Und wir finden dieses Gemeinsame in diesem unseren
    Staat in Europa, in dem wir in Freiheit, Frieden und in
    Solidarität miteinander leben wollen.

    Wir wären allerdings schlecht beraten, wenn wir aus
    Ignoranz oder falsch verstandener Korrektheit vor realen
    Problemen die Augen verschließen würden. Hierauf hat
    bereits Bundespräsident Johannes Rau in seiner Berliner
    Rede vor zwölf Jahren eindrücklich und deutlich hinge-
    wiesen. Aber in Fragen des Zusammenlebens dürfen wir
    uns eben nicht letztlich von Ängsten, Ressentiments und
    negativen Projektionen leiten lassen. Für eine einladende,
    offene Gesellschaft hat Bundespräsident Christian Wulff
    in seiner Amtszeit nachhaltige Impulse gegeben. Herr
    Bundespräsident Wulff, dieses Ihr Anliegen wird auch
    mir beständig am Herzen liegen.


    (Beifall)


    Unsere Verfassung, meine Damen und Herren, spricht
    allen Menschen dieselbe Würde zu, ungeachtet dessen,
    woher sie kommen, woran sie glauben oder welche
    Sprache sie sprechen. Sie tut dies nicht als Belohnung
    für gelungene Integration, sie versagt dies aber auch
    nicht als Sanktion für verweigerte Integration. Unsere
    Verfassung wie unser Menschsein tragen uns auf, im An-
    deren geschwisterlich uns selbst zu sehen: begabt und
    berechtigt zur Teilhabe wie wir.


    (Beifall)


    Der Philosoph Hans-Georg Gadamer war der Ansicht,
    nach den Erschütterungen der Geschichte erwarte spe-
    ziell uns in Europa eine „wahre Schule“ des Miteinan-
    ders auf engstem Raum. „Mit dem Anderen leben, als
    der Andere des Anderen leben“ – darin sah er die ethi-
    sche und politische Aufgabe Europas. Dieses Ja zu Eu-
    ropa gilt es nun ebenfalls zu bewahren. Gerade in Kri-
    senzeiten ist die Neigung, sich auf die Ebene des
    Nationalstaats zu flüchten, besonders ausgeprägt. Das
    europäische Miteinander ist aber ohne den Lebensatem
    der Solidarität nicht gestaltbar.


    (Beifall)


    Gerade in der Krise heißt es deshalb: Wir wollen mehr
    Europa wagen.


    (Beifall)


    Mit Freude sehe ich, dass gerade auch die Mehrheit der
    Deutschen diesem europäischen Gedanken wieder und
    weiter Zukunft gibt.

    Europa war für meine Generation Verheißung – auf-
    bauend auf abendländischen Traditionen, dem antiken
    Erbe einer gemeinsamen Rechtsordnung, dem christli-
    chen und jüdischen Erbe. Für meine Enkel ist Europa
    längst aktuelle Lebenswirklichkeit mit grenzüberschrei-
    tender Freiheit und den Chancen und Sorgen einer offe-
    nen Gesellschaft. Nicht nur für meine Enkel ist diese Le-
    benswirklichkeit ein wunderbarer Gewinn.

    Wie kann es noch aussehen, dieses Land, zu dem un-
    sere Kinder und Enkel „unser Land“ sagen sollen? Nicht
    nur bei uns, sondern auch in Europa und darüber hinaus
    ist die repräsentative Demokratie das einzig geeignete
    System, Gruppeninteressen und Gemeinwohlinteressen
    auszugleichen.


    (Beifall)






    Bundespräsident Dr. h. c. Joachim Gauck


    (A) (C)



    (D)(B)


    Das Besondere dieses Systems ist nicht seine Vollkom-
    menheit, sondern dass es sich um ein lernfähiges System
    handelt.

    Neben den Parteien und anderen demokratischen In-
    stitutionen existiert aber eine zweite Stütze unserer
    Demokratie: die aktive Bürgergesellschaft. Bürgerinitia-
    tiven, Ad-hoc-Bewegungen, auch Teile der digitalen
    Netzgemeinde ergänzen mit ihrem Engagement, aber
    auch mit ihrem Protest die parlamentarische Demokratie
    und gleichen Mängel aus. Und: Anders als die Demokra-
    tie von Weimar verfügt unser Land über genügend De-
    mokraten, die dem Ungeist von Fanatikern, Terroristen
    und Mordgesellen wehren. Sie alle bezeugen – aus un-
    terschiedlichen politischen oder religiösen Gründen –:
    Wir lassen uns unsere Demokratie nicht wegnehmen, wir
    stehen zu diesem Land.


    (Beifall)


    Wir stehen zu diesem Land, nicht weil es so vollkommen
    ist, sondern weil wir nie zuvor ein besseres gesehen ha-
    ben.

    Speziell zu den rechtsextremen Verächtern unserer
    Demokratie sagen wir mit aller Deutlichkeit: Euer Hass
    ist unser Ansporn. Wir lassen unser Land nicht im Stich.


    (Beifall)


    Wir schenken euch auch nicht unsere Angst. Ihr werdet
    Vergangenheit sein, und unsere Demokratie wird leben.


    (Beifall)


    Die Extremisten anderer politischer Richtungen wer-
    den unserer Entschlossenheit in gleicher Weise begeg-
    nen. Und auch denjenigen, die unter dem Deckmantel
    der Religion Fanatismus und Terror ins Land tragen und
    die hinter die europäische Aufklärung zurückfallen, wer-
    den wir Einhalt gebieten. Ihnen sagen wir: Die Völker
    ziehen in die Richtung der Freiheit. Ihr werdet den Zug
    vielleicht behindern, aber endgültig aufhalten könnt ihr
    ihn nicht.


    (Beifall)


    Mir macht allerdings auch die Distanz vieler Bürge-
    rinnen und Bürger zu den demokratischen Institutionen
    Angst: die geringe Wahlbeteiligung, auch die Gering-
    schätzung oder gar Verachtung von politischem Engage-
    ment, von Politik und Politikern. „Was?“, so hören wir
    es oft im privaten Raum, „du gehst zur Sitzung eines
    Ortsvereins?“ „Wie bitte, du bist aktiv in einer Gewerk-
    schaft?“ Manche finden das dann „uncool“. Ich frage
    mich manchmal: Wo wäre eigentlich unsere Gesellschaft
    ohne derlei Aktivitäten?


    (Beifall)


    Wir alle haben nichts von dieser Distanz zwischen Re-
    gierenden und Regierten. Meine Bitte an beide, an Re-

    gierende wie Regierte, ist: Findet euch nicht ab mit die-
    ser zunehmenden Distanz.

    Für die politisch Handelnden heißt das: Redet offen
    und klar, dann kann verlorengegangenes Vertrauen wie-
    dergewonnen werden.


    (Beifall)


    Den Regierten, unseren Bürgern, muten wir zu: Ihr seid
    nicht nur Konsumenten. Ihr seid Bürger, das heißt Ge-
    stalter, Mitgestalter. Wem Teilhabe möglich ist und wer
    ohne Not auf sie verzichtet, der vergibt eine der schöns-
    ten und größten Möglichkeiten des menschlichen Da-
    seins – Verantwortung zu leben.


    (Beifall)


    Zum Schluss erlaube ich mir, Sie alle um ein Ge-
    schenk zu bitten – um Vertrauen. Zuletzt bitte ich Sie um
    Vertrauen in meine Person. Davor aber bitte ich Sie um
    Vertrauen zu denen, die in unserem Land Verantwortung
    tragen, wie ich diese um Vertrauen zu all den Bewohnern
    dieses wiedervereinigten und erwachsen gewordenen
    Landes bitte. Und davor wiederum bitte ich Sie alle, mu-
    tig und immer wieder damit zu beginnen, Vertrauen in
    sich selbst zu setzen. Nach einem Wort Gandhis kann
    nur ein Mensch mit Selbstvertrauen Fortschritte machen
    und Erfolge haben. Dies gilt für einen Menschen wie für
    ein Land, so Gandhi.

    Ob wir den Kindern und Enkeln dieses Landes Geld
    oder Gut vererben werden, das wissen wir nicht. Aber
    dass es möglich ist, nicht den Ängsten zu folgen, son-
    dern den Mut zu wählen, davon haben wir nicht nur ge-
    träumt, das haben wir gelebt und gezeigt. Gott und den
    Menschen sei Dank: Dieses Erbe dürfen sie erwarten.


    (Langanhaltender Beifall)




Rede von Dr. Norbert Lammert
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

Ich danke Ihnen, Herr Bundespräsident. – Für die

Wahrnehmung Ihrer Aufgaben in den kommenden Jah-
ren wünsche ich Ihnen im Namen des ganzen Hauses die
Autorität dieses Amtes, eine glückliche Hand, das Ver-
trauen der Menschen und vor allem Gottes Segen.

Wir singen nun unsere Nationalhymne.


(Nationalhymne)


Mit den besten Wünschen für ein hoffentlich noch ge-
mütlicheres Wochenende schließe ich die gemeinsame
Sitzung von Bundestag und Bundesrat.

In einer halben Stunde ist wieder Alltag. Ich berufe
die nächste Sitzung des Bundestages ein für heute,
10.30 Uhr.

Diese Sitzung ist geschlossen.


(Beifall)