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chende Gesetzesvorhaben in NRW lassen dies schon er-
kennen.Zöller, Wolfgang CDU/CSU 27.10.2011
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Barnett, Doris SPD 27.10.2011
Bülow, Marco SPD 27.10.2011
Caesar, Cajus CDU/CSU 27.10.2011
Dörflinger, Thomas CDU/CSU 27.10.2011
Gloser, Günter SPD 27.10.2011
Gohlke, Nicole DIE LINKE 27.10.2011
Heil, (Peine) Hubertus SPD 27.10.2011
Dr. Hoyer, Werner FDP 27.10.2011
von Klaeden, Eckart CDU/CSU 27.10.2011
Dr. Koschorrek, Rolf CDU/CSU 27.10.2011
Kunert, Katrin DIE LINKE 27.10.2011
Dr. Lehmer, Max CDU/CSU 27.10.2011
Ludwig, Daniela CDU/CSU 27.10.2011
Merkel (Berlin), Petra SPD 27.10.2011
Pfeiffer, Sibylle CDU/CSU 27.10.2011
Philipp, Beatrix CDU/CSU 27.10.2011
Dr. Ruppert, Stefan FDP 27.10.2011
Scheel, Christine BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
27.10.2011
Seiler, Till BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
27.10.2011
Senger-Schäfer, Kathrin DIE LINKE 27.10.2011
Wagenknecht, Sahra DIE LINKE 27.10.2011
Weinberg, Harald DIE LINKE 27.10.2011
Wolff (Wolmirstedt),
Waltraud
SPD 27.10.2011
Wunderlich, Jörn DIE LINKE 27.10.2011
Zapf, Uta SPD 27.10.2011
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Anlage 2
Erklärungen nach § 31 GO
zur Abstimmung über den Entwurf eines Geset-
zes zur Stärkung der Finanzkraft der Kommu-
nen (Tagesordnungspunkt 12 a)
Otto Fricke (FDP): Der Gesetzentwurf, nach dem der
Bund ansteigend und ab 2014 dauerhaft 100 Prozent der
Nettoausgaben des Vorvorjahres für die Grundsicherung
für Ältere und Erwerbsgeminderte für die Kommunen
übernimmt, bürdet dem Bundeshaushalt dauerhaft Mehr-
belastungen auf, für die es faktisch keine Gegenfinanzie-
rung gibt. Damit wird vom Bund eine zusätzliche Belas-
tung übernommen.
Ich halte dies aufgrund der noch immer schwierigen
finanziellen Lage des Bundes für nicht gerechtfertigt und
den gefundenen Kompromiss für systemwidrig. Zudem
belastet er die Verpflichtung des Bundes aus der Schul-
denbremse der Verfassung erheblich.
Im Besonderen halte ich dies für falsch, weil letztlich
eine Finanzierung über ehedem für die Bundesagentur
für Arbeit vorgesehene Umsatzsteuermittel vorgenom-
men wird. Nach meiner Auffassung wird hierdurch mal
wieder ein Finanzierungsweg beschritten, der eine Ent-
wicklung befördert, durch die die Ausgabenstruktur des
Bundeshaushalts, aber auch anderer Haushalte zuneh-
mend vernebelt wird. Der Anteil am Bundeshaushalt, der
originär bundeseigenen Zuständigkeiten zugeschrieben
werden kann, wird zunehmend geringer. Dieses mindert
die Klarheit und systematische Stringenz des Haushalts,
was dazu führt, dass in einem gewissen Umfang die kor-
rekte Kontrolle über Ausgaben verloren geht. Zudem
kann der Bürger immer weniger erkennen, mit welcher
Steuer er welche Ebene und welche Ausgabe finanziert.
Dies ist gerade vor dem Hintergrund der Tatsache pro-
blematisch, dass Länder und Kommunen seit Jahren ins-
gesamt weit mehr Steuereinnahmen haben als der Bund.
Gerade weil auch ich erkenne, dass die Kommunen
mit ihrer aktuellen Finanzausstattung nicht zurechtkom-
men können, halte ich es für wichtig, diesen einen eige-
nen Weg der Finanzierung zu ermöglichen, indem sie ei-
nen höheren Anteil an der Mehrwertsteuer sowie ein
eigenes Hebesatzrecht bei der Lohn- und Einkommen-
steuer unter Wegfall der Gewerbesteuer erhalten. Hier-
durch würde zum einen Verlässlichkeit geschaffen, in-
dem die Kommunen sich darauf unabhängig von
verwobenen Konstruktionen verlassen könnten. Zum an-
deren würde der Bundeshaushalt freigehalten von weite-
ren komplizierten Umverteilungen, die gar keine Bundes-
zuständigkeiten betreffen.
Schließlich sei noch darauf hingewiesen, dass nun-
mehr die Gefahr droht, dass die den Kommunen mit die-
sem Gesetz zugewiesenen Mittel von den Ländern zum
Anlass genommen werden, für eine Umverteilung der
Finanzmittel auch an anderer Stelle zu sorgen. Entspre-
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Da es sich bei dieser Entscheidung für mich jedoch
nicht um eine Gewissensentscheidung handelt, werde
ich den Beschlussvorschlag meiner Fraktion und damit
der Koalition mittragen.
Gisela Piltz (FDP): Der heute verabschiedete Ge-
setzentwurf der Bundesregierung zur Stärkung der
Finanzkraft der Kommunen ist geeignet, den Städten
und Gemeinden dringend benötigte finanzielle Hand-
lungsspielräume zurückzugeben.
Doch auch wenn die in dem Gesetz getroffenen Rege-
lungen ein probates Mittel zur punktuellen Konsolidie-
rung der kommunalen Haushalte darstellen, können
diese nicht die dringend benötigte große Lösung bei der
Reform der Gemeindefinanzen ersetzen. Vorzugswürdig
und dem Grundsatz der kommunalen Selbstverwaltung
mehr Rechnung tragend wäre in diesem Zusammenhang
ein Konzept zur eigenverantwortlichen Ausgestaltung
der kommunalen Haushalte durch die Städte und Ge-
meinden gewesen. Mittels der Ersetzung der Gewerbe-
steuer durch einen höheren Anteil an der Umsatzsteuer
sowie einen Zuschlag auf die Einkommen- und Körper-
schaftsteuer mit eigenem Hebesatzrecht könnte den
Kommunen über punktuelle Lösungen hinaus eine ver-
lässliche und vor allem planbare Grundlage zur Eigen-
finanzierung an die Hand gegeben werden. Die nur noch
schwer nachvollziehbaren Umverteilungskonstruktio-
nen des bestehenden Systems gehörten dann der Vergan-
genheit an. Das Scheitern der entsprechenden Verhand-
lungen innerhalb der Kommission zur Reform der
Gemeindefinanzen bedaure ich insoweit ausdrücklich.
Damit die heute verabschiedete Hilfe jedoch tatsäch-
lich auch den Adressaten erreicht, müssen die zur Verfü-
gung gestellten Mittel auf direktem Wege den Adressa-
ten, das heißt allen Kommunen, ohne Einschränkungen
zugeleitet werden. Tendenzen in einigen Bundesländern,
so etwa in Nordrhein-Westfalen, wonach zweckgebun-
dene Mittel des Bundes nach eigenem Gutdünken der
Landesregierungen umgewidmet werden sollen, sind
deshalb nicht akzeptabel.
Entscheidendes Kriterium für eine Beteiligung des
Bundes an Aufwendungen in den Kommunen muss des-
halb das Kostenerstattungsprinzip bleiben. Eine Umwid-
mung der zur Verfügung gestellten Mittel, zum Beispiel
zur Gesundung einzelner kommunaler Kassen, stünde
den Haushaltsgrundsätzen von Wirtschaftlichkeit und
Sparsamkeit, die in den jeweiligen Gemeindeordnungen
festgelegt sind, ersichtlich entgegen und wäre nach ein-
heitlicher Bewertung schlechterdings rechtswidrig.
Durch die Landesregierungen intendierte Einbußen auf
der Einnahmeseite für finanziell gut aufgestellte Kom-
munen sind vor dem Hintergrund des Gesetzes damit
nicht legitimierbar, die rechtmäßige Haushaltswirtschaft
darf nicht durch Steuerung von dritter Seite konterkariert
werden.
Infolge der positiven Auswirkungen, die das Gesetz
bei rechtskonformer Umsetzung durch die Länder haben
wird, stimme ich für die Beschlussempfehlung der Ko-
alitionsfraktionen.
Anlage 3
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
Bundesverfassungsschutzgesetzes
– Beschlussempfehlung und Bericht zu den
Anträgen:
– Evaluierung befristeter Sicherheitsge-
setze
– Evaluierung von Sicherheitsgesetzen –
Kriterien einheitlich regeln, Unabhängig-
keit wahren
(Tagesordnungspunkt 14 a und b)
Clemens Binninger (CDU/CSU): Mit der Verab-
schiedung dieses Gesetzes leisten wir einen wichtigen
Beitrag zur inneren Sicherheit in Deutschland. Wir stel-
len damit sicher, dass die bewährten Instrumente aus
dem Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz nicht
Anfang 2012 auslaufen, sondern weiterhin von den
Sicherheitsbehörden in unserem Land angewandt wer-
den können. Ein Blick in die jüngere Vergangenheit
zeigt uns, dass es eine ganze Reihe von sicherheitsrele-
vanten Vorkommnissen, von bekannt gewordenen An-
schlagsplänen und verhinderten Anschlägen gab. Bei-
spielhaft genannt sei hier nur die Düsseldorfer Zelle, die
einen Anschlag vorbereitet und geplant hatte und deren
Festnahme nur möglich war, weil die Sicherheitsbehör-
den unter anderem auf diese Instrumente zurückgreifen
konnten, über die wir heute sprechen.
Der Gesetzentwurf ist dadurch geprägt, dass wir ers-
tens alle bewährten Instrumente für die Nachrichten-
dienste erhalten und auch über Januar 2012 hinaus be-
reitstellen. Zweitens streichen wir Befugnisse, die nie
angewandt wurden und auf die daher offensichtlich ver-
zichtet werden kann. Drittens sind im Gesetzentwurf
auch weiterhin eine Befristung und eine Evaluation vor-
gesehen. Und darüber hinaus werden viertens Änderun-
gen bei den Mitteilungspflichten vorgenommen.
Ganz besonders die Auskunftsbefugnisse im Bereich
der Telekommunikation, der Flugbuchungen und des
Geldverkehrs sind für die Nachrichtendienste von beson-
derer Bedeutung. Wenn wir die Bekämpfung des Terro-
rismus ernst nehmen, müssen wir den Sicherheitsbehör-
den Instrumente an die Hand geben, um Informationen
über Terrorverdächtige zu erhalten, über ihr Kommuni-
kationsverhalten, ihre Reisebewegungen und ihre Fi-
nanztransaktionen. Gerade in einer Szene, die sich ab-
schottet und sehr konspirativ agiert, sind diese
Befugnisse oftmals der einzige Ansatz für die Sicher-
heitsbehörden, um Terrornetzwerke oder auch Einzel-
täter zu entdecken. Es ist deshalb gut und richtig, dass
wir diese Befugnisse beibehalten.
Betroffen von diesen Maßnahmen sind lediglich Ter-
rorverdächtige, bei denen tatsächliche Anhaltspunkte
und Tatsachen für diesen Verdacht vorliegen. Wer etwas
anderes behauptet und den Eindruck erweckt, 80 Millio-
nen Menschen in unserem Land seien von dem Gesetz
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betroffen, sagt schlicht die Unwahrheit. Wer es schwarz
auf weiß nachlesen möchte, dem empfehle ich den Be-
richt zu den Maßnahmen nach dem Terrorismusbekämp-
fungsgesetz, der dazu detailliert Auskunft gibt und für
jeden als Bundestagsdrucksache 17/4277 zugänglich ist.
Wir haben im Vorfeld intensive Diskussionen darüber
geführt, wie der Gesetzentwurf ausgestaltet werden soll.
Die in der Sachverständigenanhörung in der vergange-
nen Woche gewonnenen Erkenntnisse haben wir eben-
falls diskutiert und zu einem nicht unerheblichen Teil be-
rücksichtigt. Gegenüber der ersten Lesung haben wir
den Gesetzentwurf noch einmal angepasst. Dabei geht es
insbesondere um die Erhebung von Vertragsdaten bei
Telediensten im Zusammenhang mit einem Terrorver-
dacht. Anders als bisher wird nun auch für diese Befug-
nis der Sicherheitsbehörden eine Mitteilungspflicht an
den Betroffenen eingeführt. Wir haben uns dabei von der
Überzeugung leiten lassen, dass Informationen, die in
Zusammenhang mit einem konkreten Terrorverdacht
von einem Nachrichtendienst erhoben werden, dem Be-
troffenen mitgeteilt werden sollen, sobald dies ohne Ge-
fährdung der Maßnahme möglich ist. Dies gilt mit der
vorliegenden Änderung des Terrorismusbekämpfungser-
gänzungsgesetz unabhängig vom Medium der gewonne-
nen Daten. Entscheidend ist aber, und das will ich noch
einmal betonen, dass wir die Datenerhebung bei den Te-
lediensten deshalb ausnahmsweise in diese Mitteilungs-
pflicht mit aufgenommen haben, weil sie aufgrund tat-
sächlicher Anhaltspunkte für einen Terrorverdacht durch
einen Nachrichtendienst erfolgt. In vergleichbaren Be-
stimmungen im Bereich der Gefahrenabwehr oder Straf-
verfolgung ist diese Mitteilung auch nach der Rechtspre-
chung des Bundesverfassungsgerichts nicht gefordert.
Es handelt sich hier also um einen besonderen Fall.
Wir stärken auch die Rolle der G-10-Kommission, die
als unabhängige Instanz diese Maßnahmen kontrolliert.
In der Begründung des Änderungsantrags haben wir des-
halb zum Ausdruck gebracht, dass es unser gemeinsa-
mes Ziel sein muss, die G-10-Kommission personell und
organisatorisch auch entsprechend auszustatten, damit
sie ihre Aufgaben erfüllen kann. Ich denke, wir sollten
uns angesichts der wachsenden Aufgabenvielfalt und des
Aufgabenspektrums der Kommission auch insgesamt
einmal Gedanken darüber machen, ob die Bezeichnung
G-10-Kommission noch zutreffend ist, handelt es sich
doch um eine Begrifflichkeit, die noch aus einer Zeit
stammt, in der Telekommunikation fast ausschließlich
mit dem Wählscheibentelefon stattfand und die Kom-
mission über Briefe und abgehörte Analogtelefonie zu
befinden hatte. Heute dagegen hat Kommunikation eine
ganz andere Dimension. Ich denke an Mobiltelefonie,
mobile Internetdienste auf dem Smartphone, E-Mails,
Voice over IP, verschlüsselte Telefonie, die Kommunika-
tion im Chat, in Foren usw. Diesem technischen Fort-
schritt, der ja auch die Ermittlungs- und Sicherheitsbe-
hörden immer wieder vor neue Herausforderungen stellt,
müssen wir aus meiner Sicht mittelfristig auch dadurch
Rechnung tragen, dass wir über Anpassungen des Auf-
gabenkatalogs der G-10-Kommission sprechen.
Es ist ein deutliches und gutes Zeichen, dass wir heute
ein Gesetz verabschieden, das nicht nur von den Regie-
rungsfraktionen mitgetragen wird, sondern auch die Zu-
stimmung der SPD findet, zeigt es doch, dass die Sicher-
heitsgesetzgebung in diesem Bereich über die letzten zehn
Jahre von allen Fraktionen, außer der Linken, wechsel-
weise mitgetragen wurde. Dass die SPD sich hier zu ih-
rer Verantwortung bekennt, begrüße ich ausdrücklich.
Ich bedanke mich bei den Kolleginnen und Kollegen.
Dass die Grünen zu diesem Schritt nicht in der Lage sind
und sich nur dann als Bürgerrechtspartei gerieren, wenn
sie in der Opposition sind, ist für mich Heldentum nach
Ladenschluss. Unter Rot-Grün haben die Grünen dem
TBG, also genau dem Gesetz zugestimmt, das die
Grundlage für den heute vorliegenden Gesetzentwurf ist.
Es ist unbestritten, dass wir in Deutschland seit Jahren
eine hohe abstrakte Bedrohung durch den Terrorismus
haben. Die Vergangenheit hat aber auch immer wieder
gezeigt, dass die abstrakte Bedrohung sehr schnell
konkret werden kann. Deshalb müssen wir unsere
Sicherheitsbehörden so aufstellen und ausstatten, dass
sie in der Lage sind, Sicherheit zu gewährleisten – sei es
in der Strafverfolgung, bei der Gefahrenabwehr oder im
Rahmen der nachrichtendienstlichen Arbeit im Vorfeld.
Genau dazu leisten wir mit dem vorliegenden Gesetz
einen wesentlichen Beitrag.
Frank Hofmann (Volkach) (SPD): Wir sprechen
heute über die Verlängerung von einem Bündel an Si-
cherheitsgesetzen, für das fast alle Fraktionen im Bun-
destag Verantwortung tragen. Die SPD hat es zusammen
mit den Grünen auf den Weg gebracht und mit der Union
verlängert. Nun ist Schwarz-Gelb zuständig.
Ich kann mich noch genau an die Wochen erinnern,
als wir im Deutschen Bundestag im Jahr 2001 erstmals
über die neuen Sicherheitsgesetze diskutiert haben. Wir
standen unter dem Eindruck eines der schlimmsten An-
schläge der neueren Geschichte. Wir standen in der
Pflicht, eine Antwort zu finden auf eine neue Form terro-
ristischer Bedrohung. Wir waren fest entschlossen und
tief getroffen. Es wäre naiv zu glauben, dass sich in die-
ser Zeit das so wichtige Gleichgewicht zwischen Sicher-
heit und Freiheit nicht verschoben hat. Einiges davon
kann man zu Recht kritisieren. Aber ich glaube, alles in
allem haben die beteiligten Fraktionen im deutschen
Bundestag Augenmaß gehalten.
Bei uns gab und gibt es keinen Patriot Act. Die flä-
chendeckende Videoüberwachung hat sich in Deutsch-
land – anders als in Großbritannien – nicht durchgesetzt.
Und das ist auch gut so.
Weil die Regierungskoalition diesen maßgeblich von
der SPD mitbestimmten Kurs fortsetzt und es keine Ver-
schiebung des Koordinatensystems von Freiheit und Si-
cherheit zulasten der Freiheit gibt, stimmen wir heute Ih-
rem Gesetzentwurf zu. In der Sachverständigenanhörung
des Innenausschusses hat sich gezeigt, dass die Instru-
mente in der Sicherheitspolitik verfassungsgemäß ausge-
legt und angewandt wurden.
Das heißt aber nicht, dass man sie alle auch weiter
fortsetzen muss. Vor zehn Jahren glaubten wir noch, dass
den Polizeibehörden der Eingriff in den Postverkehr
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wichtige Erkenntnisse bringen würde. Mittlerweile hat
sich gezeigt, dass sie überhaupt nicht benötigt wird. Im
Sinne einer effizienten Sicherheitspolitik ist es klug,
diese Grundrechtseingriffe in Zukunft nicht mehr zu er-
lauben. Der technische Fortschritt hat das Kommunika-
tionsverhalten komplett verändert. Dem müssen wir in
unseren Entscheidungen Rechnung tragen, sowohl in der
einen als auch in der anderen Richtung.
In der Innen- und Rechtspolitik stehen wir völlig
neuen Bedrohungen gegenüber. Gleichzeitig verändert
sich das tägliche Leben der Menschen so sehr, dass wir
mit den herkömmlichen Ermittlungsmethoden alleine
nicht mehr weiterkommen. Unsere Aufgabe ist es, einen
Kompromiss zu finden zwischen der Kriminalitätsbe-
kämpfung und dem Recht der Bürger an den eigenen Da-
ten. Hier ist kein Platz für Extremisten. Die Ausgewo-
genheit muss Maßgabe jedes innenpolitischen Handelns
sein. Das ist in der Koalition nicht der Fall. Es ist glei-
chermaßen unverantwortlich, wenn einerseits die FDP
die Vorratsdatenspeicherung blockiert und Teile der
Union die rechtswidrige Nutzung von Staatstrojanern öf-
fentlich verteidigen. Politik aus einem Guss sieht anders
aus. Ich bitte beide Seiten: Kommen Sie hier zur Ver-
nunft.
Zur Ausgewogenheit gehört aber auch die Transpa-
renz polizeilichen Handelns gegenüber der Politik, aber
auch gegenüber jedem Bürger. Wenn ein wichtiges
Grundrecht durch den Staat heimlich verletzt wird, muss
der betroffene Bürger davon erfahren – solche Dinge
dürfen nicht im Dunkeln bleiben. Hier gab und gibt es
immer noch Defizite im Allgemeinen. Bei diesem Ge-
setz ist aber zu begrüßen, dass die Koalition die Benach-
richtigungspflichten bürger- und grundrechtsfreundli-
cher gestaltet hat.
Auch die wichtige Evaluation der Sicherheitsgesetze
fasse ich unter den Punkt der Transparenz. Bedauerlich
ist es, dass diese nur gegenüber uns Abgeordneten und
nicht der gesamten Öffentlichkeit gilt. Wie Sie alle wis-
sen, sind die Unterlagen, die wir bekommen, „nur für
den Dienstgebrauch“ bestimmt. Hier hätte ich vor allem
vom Kollegen Uhl etwas mehr Engagement erwartet.
„Wer nichts zu verbergen hat, hat auch nichts zu be-
fürchten“, sagt er immer – eine Maxime, die sich staatli-
che Behörden zu eigen machen sollten. Der Bürger da-
gegen hat ein Recht auf Privatheit, nicht nur dem
Nachbarn, sondern gerade auch dem Staat gegenüber.
Meine Damen und Herren von der Koalition, auch
wenn Sie mit Ihrem Antrag im Prinzip die richtige Rich-
tung eingeschlagen haben: Einige Dinge gibt es dennoch
zu kritisieren.
Erstens. Die Evaluierung ist nicht im Sinne des Geset-
zes verlaufen. Sie ist nur für das Jahr 2009 gemacht wor-
den. Es ist aber eindeutig vorgeschrieben, dass der ge-
samte Auswertungszeitraum betrachtet werden muss.
Wissenschaftliche Sachverständige wurden nur für die
Überprüfung der Methoden, nicht der Inhalte eingesetzt.
Das entspricht in keiner Weise der Gesetzeslage. Dafür
ist der Innenminister massiv zu kritisieren. Ein Behör-
denleiter, der sich in solchem Maße einer von ihm erlas-
senen Verordnung widersetzen würde, wäre seinen Job
innerhalb weniger Tage los.
Zweitens. Sie haben die G-10-Kommission mit neuen
Aufgaben überfrachtet. Hier ist möglicherweise sogar
ein neues Gesetz notwendig. Das haben Sie vernachläs-
sigt. Hier muss nachgebessert werden.
Und Drittens. Sie verschenken mit der Gründung Ih-
rer Regierungskommission die Chance, einmal grund-
sätzlich über unsere Arbeit hier im Deutschen Bundestag
zu diskutieren.
Doch statt hierfür ein Gremium zu schaffen, das mit
Sachverstand auf die wichtigen innenpolitischen Fragen
unserer Gegenwart blickt, verlagern Sie lediglich Ihren
immerwährenden Streit in einen von der Öffentlichkeit
abgeschotteten Raum. Frau Leutheusser-
Schnarrenberger und Herr Friedrich schicken ihre Ge-
sandten, damit die weiter in ihrem Namen streiten dür-
fen.
Dabei täte uns allen hier ein unabhängiger und aus-
führlicher Blick auf unsere Arbeit gut. Der Fokus hat
sich komplett verschoben. Das merkt man allein an der
Wortwahl. In den 70er- und 80er-Jahren waren die
Schlagwörter in der Kriminalpolitik „Repression“ und
„Prävention“. Es ging gleichermaßen um die Strafverfol-
gung und die Frage, wie man Kriminalität mit Gesell-
schaftspolitik verhindern und vorbeugen kann.
Diesen Dualismus würde ich mir heute auch wün-
schen. Aber Prävention und Prophylaxe als Überschrif-
ten auf der Suche nach gesellschaftlichen Ursachen von
Terrorismus sind out. Strafverfolgung und Gefahrenab-
wehr werden mit einem ausschließlich repressiven Cha-
rakter ausgefüllt.
Wir schauen zu stark auf die Sicherheit. Wie es Pro-
fessor Gusy einmal richtig formuliert hat, ist in Deutsch-
land eine neue Form der Gewaltenteilung entstanden:
Der Gesetzgeber kümmert sich um die Sicherheit, das
Bundesverfassungsgericht kümmert sich um die Frei-
heit. Das darf nicht zur Gewohnheit werden. Wir müssen
die Prävention in der Terrorismus- und Kriminalitätsbe-
kämpfung wieder stärker in den Vordergrund stellen.
Nicht alles geht mit Polizei- und Sicherheitspolitik, man-
ches geht nur über die Gesellschaftspolitik. Hier wün-
sche ich mir einen offenen Dialog, gerne auch in einer
Kommission.
Ergebnisse, die uns weiterbringen, erwarte ich von
der Regierungskommission nicht. Die Kommission ist
vor allem ein Alibi für Frau Leutheusser-
Schnarrenberger, nur ihr genehme Gesetze beschließen
zu müssen. Dazu reicht der Innenminister mit diesem
Gesetz unverständlicherweise die Hand.
Gisela Piltz (FDP): „Freiheit ist für die Gesellschaft
das, was die Gesundheit für den einzelnen ist. Ohne
Freiheit kann es kein Glück für die Gesellschaft geben.“
Bereits Anfang des 18. Jahrhunderts sagte das der briti-
sche Philosoph, Aufklärer und Staatsmann St. John
Bolingbroke. Es ist immer noch aktuell.
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Auch wenn man dementsprechend vermuten könnte,
das vorliegende Gesetz stamme aus der Feder des libera-
len Gesundheitsministers, gleichsam als Therapie für
eine grundrechtsschonende Innenpolitik, gebührt an die-
ser Stelle die Anerkennung dem Bundesinnenminister.
Schon der Gesetzentwurf der Bundesregierung enthielt
zahlreiche Verbesserungen und eine deutliche Stärkung
rechtsstaatlicher Hürden für Eingriffsbefugnisse der
Nachrichtendienste. In den parlamentarischen Beratun-
gen konnte nun sogar noch mehr erreicht werden. So ha-
ben die Koalitionsfraktionen mit ihrem Änderungsantrag
eine weitere Stärkung von Grundrechten Betroffener ins
Gesetz geschrieben.
Es ist in unserem Rechtsstaat unabdingbar, dass staat-
liches Handeln überprüfbar ist, insbesondere dann, wenn
es sich um Grundrechtseingriffe handelt. Bei nachrich-
tendienstlichen, also heimlichen Maßnahmen setzt dies
zwingend voraus, dass die Betroffenen informiert wer-
den. Die Mitteilungspflicht ist – so auch in ständiger
Rechtsprechung das Bundesverfassungsgericht – die Vo-
raussetzung für die grundgesetzlich garantierte Rechts-
weggarantie. Deshalb ist es eine zentrale Verbesserung,
dass nunmehr die Mitteilungspflicht erweitert und durch
die Einbindung der G-10-Kommission untermauert
wurde. Die Einbeziehung der Abfrage von Bestandsda-
ten bei Telediensten in die Mitteilungspflicht dient
ebenso der Stärkung des Grundrechtsschutzes wie die
Einbeziehung der G-10-Kommission in Fällen, in denen
eine Mitteilung beispielsweise seitens des Nachrichten-
dienstes aufgeschoben wurde. Das Verfahren, das bis-
lang nur bei der Telekommunikationsüberwachung ein-
schlägig war, bei dem nämlich eine unabhängige
Kommission objektiv die Verhältnismäßigkeit der weite-
ren Geheimhaltung prüft und darüber entscheidet, gilt
künftig auch für Abfragen von Bank- oder Fluggastdaten
sowie von Teledienste-Bestandsdaten.
Die Kur, die die schwarz-gelbe Koalition dem ehema-
ligen Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz – nicht
nur sprachlich ein Monstrum – verpasst hat, ist also nicht
nur „weiße Salbe“. Im Gegenteil war die breit geführte
öffentliche Debatte durchaus heilsam. Die gründliche
Evaluierung und die konstruktive Auseinandersetzung
zwischen Bundesinnenminister und Bundesjustizminis-
terin haben dazu geführt, dass wir heute über ein Gesetz
entscheiden können, bei dem ein paar offene Wunden
des Rechtsstaats geheilt werden. Die deutlich angehobe-
nen rechtsstaatlichen Hürden für Eingriffsbefugnisse, die
Abschaffung nicht benötigter und damit unverhältnismä-
ßiger Maßnahmen wie des Lauschangriffs zur Eigen-
sicherung sowie die verbesserte Transparenz und Über-
prüfbarkeit der Maßnahmen oder auch das
grundrechtsfreundlichere Verfahren bei Sicherheitsüber-
prüfungen – all dies ist klares Zeugnis einer erfolgrei-
chen Therapie.
Die Veränderungen, die bei der Abfrage von Fluggast-
daten und Bankkontostammdaten eingeführt wurden,
sind – auch wenn das von Teilen der Opposition versucht
wird anders darzustellen – keine Verschärfungen. Viel-
mehr werden die Befugnisse effizienter ausgestaltet.
Statt die personenbezogenen Daten von Terrorverdächti-
gen x-mal bei verschiedenen Fluggesellschaften abzufra-
gen, wird nun eine Abfrage im Flugbuchungssystem ge-
macht, um dann gezielter zu ermitteln. Das ist im
Grunde sogar grundrechtsschonender.
Die technischen Details der Abfragen an Flugbu-
chungssysteme wie Amadeus werden noch in einer Ver-
ordnung des Bundesinnenministeriums geregelt werden.
Den Koalitionsfraktionen war und ist es in diesem Zu-
sammenhang wichtig, zu betonen, dass sich dabei die ge-
setzlichen Vorschriften an den technischen Systemen,
die von den Flugbuchungssystemen verwendet werden,
orientieren müssen – und nicht umgekehrt. Wir erwarten
von der Bundesregierung, dass sie in der Verordnung be-
rücksichtigt, dass für die Unternehmen, die diese Sys-
teme betreiben, keine unverhältnismäßigen Kosten ent-
stehen, dass eine Kostenerstattung vorgesehen wird und
dass – auch im Sinne gezielter und auf eine konkrete
Reise begrenzter Abfragen – immer mindestens ein wei-
teres Suchkriterium zusätzlich zum Namen der Person
angegeben werden muss.
Was es nicht gegeben hat, sind hingegen Wiederbele-
bungsversuche für Ideen, die verfassungsrechtlich frag-
würdig waren. So gibt es keine Sanktionsbewehrung für
Anfragen der Nachrichtendienste. Das ist gelebtes Tren-
nungsgebot: Es passt nicht in unseren Rechtsstaat, dass
Nachrichtendienste solche repressiven Mittel an die
Hand bekommen.
Zugleich wurde mit dem Beschluss des Kabinetts zur
Einrichtung einer Kommission zur Evaluierung der Si-
cherheitsgesetze eine langfristig wirksame Maßnahme
beschlossen. In der Innenpolitik galt leider viel zu lange
das Motto „viel hilft viel“. Wir wollen das jetzt auf den
Prüfstand stellen. Die Gesamtschau, die nun erarbeitet
wird, ist notwendige Voraussetzung, um insgesamt die
Balance von Freiheit und Sicherheit wiederherzustellen.
Das ist wirklich neu in der Innenpolitik.
Ich sage es deshalb noch einmal ganz deutlich: Das
neue Gesetz, welches dann ab Mitte Januar das bisherige
Recht ablösen wird, ist ein Erfolg für Freiheit und Si-
cherheit zugleich. Die Nachrichtendienste können ihre
erfolgreiche Arbeit gegen den internationalen Terroris-
mus fortsetzen. Aber die Grundrechte werden mehr ge-
achtet als vorher. Das ist ein Erfolg.
Petra Pau (DIE LINKE): Vor kurzem haben sich die
Anschläge vom 11. September 2001 in den USA zum
zehnten Mal gejährt. Damals wurden auch im Deutschen
Bundestag zahlreiche Sicherheitsgesetze beschlossen. In
Anlehnung an Bundesinnenminister Schily hießen sie
„Otto-Pakete“. Dazu gehörten auch weitgehende Befug-
nisse für den Bundesnachrichtendienst und das Bundes-
amt für Verfassungsschutz. Ich hatte dies damals schon
abgelehnt; denn sie bedeuteten praktisch immer Ein-
griffe in verbriefte Bürgerrechte.
Alle anderen Fraktionen, CDU/CSU, SPD, FDP und
Grüne waren bzw. sind an diesen Gesetzen beteiligt. Das
gehört zur Geschichte und zum Umfeld der aktuellen
Aussprache. Denn auch heute geht es um Befugnisse für
geheime Dienste. Sie sollen fortgeschrieben und erwei-
tert werden. Die Linke wird erneut mit Nein stimmen.
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Wir sind in der Sache dagegen, ebenso ob des einge-
schlagenen Verfahrens. Denn bevor überhaupt über eine
Verlängerung und Erweiterung geheimdienstlicher Be-
fugnisse gesprochen wird, sollten die bislang geltenden
Gesetze evaluiert werden. Das ist praktisch nie passiert,
jedenfalls nicht durch unabhängige Gutachter.
Mit den Terroranschlägen vor zehn Jahren wurde ein
Ausnahmezustand begründet. Mit dem vorliegenden Ge-
setz versucht die Bundesregierung, diese Ausnahme zur
Regel zu machen, und das mit Zustimmung der FDP. In
das selbst beanspruchte Bild einer Freiheitsstatue
Deutschlands passt das nicht – im Gegenteil.
Jetzt gab es eine Expertenanhörung im Innenaus-
schuss. Ich lasse einmal die Gutachter weg, die irgend-
wie mit dem Bundesinnenministerium oder den betroffe-
nen Diensten verbandelt sind. Alle anderen
bemängelten, dass Bürgerrechte überhaupt keine Rolle
gespielt haben und dass die Kontrolle der Geheimdienste
mit ihren Befugnissen nicht Schritt hält. Nun habe ich
zur Möglichkeit, Geheimdienste überhaupt kontrollie-
ren zu können, ohnehin eine andere Auffassung als viele
hier. Aber das will ich jetzt gar nicht vertiefen. Ich finde
nur: Geheim arbeitende Dienste, die sich nur schwer
oder gar nicht in die Karten gucken lassen, darf eine De-
mokratie nicht mit immer mehr Befugnissen ausstatten.
Die umstrittenen Gesetze waren mit einer Frist verse-
hen. Sie läuft zum 31. Dezember 2011 ab. Die zugesagte
unabhängige Evaluierung fand nicht statt. Es gibt also
keinen sachlichen Grund, die Laufzeit der Gesetze er-
neut zu verlängern und sie auch noch anzureichern. Es
gibt hingegen gute politische Gründe, genau das abzu-
lehnen. Die Linke tut es.
Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Vorweg sei gesagt: Das Gesetz, das wir hier debattieren,
firmiert unter einer Tarnbezeichnung; denn es sind neben
dem Verfassungsschutz auch die anderen Nachrichten-
dienste betroffen. „Friedrich-Katalog“ wäre ehrlicher;
denn es handelt sich um die zweite Erweiterung und Ver-
längerung des „Otto-Katalogs“, des Terrorismusbekämp-
fungsgesetzes.
Die Große Koalition hatte dieses Gesetz 2006 pro
forma selbst evaluiert und entsprechend alle Maßnah-
men verlängert. Dabei wurden die Hürden für ihre An-
wendung erheblich gesenkt und der Anwendungsbereich
über den Bereich des Terrorismus hinaus beinahe auf die
gesamte Palette der nachrichtendienstlichen Betätigung
ausgeweitet. Da war es ehrlich, das Gesetz „Terroris-
musbekämpfungsergänzungsgesetz“ zu nennen, auch
wenn „Ergänzung“ freundlicher klingt, als das Gesetz
war. Immerhin: Diese Ehrlichkeit hat die Große Koali-
tion damals gehabt.
Das neue Gesetz müsste „Verlängerungs- und Erwei-
terungsgesetz“ im Namen haben; denn das ist es, was
hier passiert. Die bestehenden Befugnisse der Sicher-
heitsbehörden werden fast in vollem Umfang verlängert
und eben noch um den direkten Zugriff auf die zentralen
Kontostammdaten und die elektronischen Buchungssys-
teme für Flüge erweitert.
Die FDP behauptet nun, dass der Zugriff auf die zen-
tralen Datenbanken die Grundrechte der Betroffenen
schont; denn es müsse ja nur einmal gefragt werden und
nicht auf Verdacht hin bei mehreren Banken und Airlines.
Das Gegenteil ist der Fall: Das hatte auch die Bundesjus-
tizministerin erkannt. Sie schrieb im Mai, dass der Zu-
griff auf Buchungssysteme „nicht akzeptabel“ und eine
„neue Qualität des Grundrechtseingriffs“ sei. Recht hatte
sie, aber sie hat nicht das Recht durchgesetzt. Das gilt
auch für die Bankdatenabfrage. Die war vor wenigen
Monaten noch „klar abzulehnen“, sogar in alter Fassung,
und wird nun in Turbofassung Gesetz.
Die Gründe für die Ablehnung dieser Befugnisse sind
dabei klar: Der Zugriff auf Buchungssysteme und zen-
trale Bankdaten beim Finanzministerium ermöglicht die
Bildung umfassender Persönlichkeitsprofile. Gerade
dies verbietet unsere Verfassung. Es wird auch nir-
gendwo überzeugend dargelegt, dass die Grundrechtebe-
schränkungen dieses Gesetzes wirklich erforderlich sind.
Die vorgesehene Evaluierung hätte darüber Auskunft ge-
ben können. Sie wurde aber eindeutig nach den Interes-
sen der Sicherheitsbehörden selbst ausgerichtet.
Bei der ersten Verlängerung hatte die Regierung
selbst evaluiert und naturgemäß alle Kompetenzen für
nötig erachtet und verlängert. Eine grundrechtliche Prü-
fung fand nicht statt. Deshalb wurde für die Evaluierung
im letzten Jahr per Gesetz „wissenschaftlicher Sachver-
stand“ vorgeschrieben. Den hat sich die Bundesregie-
rung aber nur in Form einer methodischen Beratung,
nicht aber einer grundrechtlichen ins Haus geholt. Das
nachträgliche Gutachten eines Staatsrechtlers und die
Sachverständigenanhörungen vor ein paar Wochen ha-
ben aber gezeigt: Das wäre dringend nötig gewesen!
Wir fordern für die Zukunft die Evaluierung durch ein
vom Bundestag, dem Gesetzgeber, dauerhaft bestelltes
Expertengremium, und zwar nach den Maßstäben der
Grundrechte, nicht einfach nur nach praktischen Erwä-
gungen. Das ist der richtige Weg, nicht die unsinnige,
von der FDP in letzter Zeit immer favorisierte unabhän-
gige Regierungskommission. Denn die wäre nur von ei-
nem unabhängig: vom demokratisch gewählten Parla-
ment.
Schließlich wirft das Gesetz einige sehr grundlegende
Fragen auf. Zwar gibt es einzelne Verbesserungen be-
züglich der Kontrolle der Anwendung der neuen Instru-
mente durch die G-10-Kommission. Aber auch das ist
zweischneidig: Nicht nur sprengt dies den Rahmen, den
Titel und die gesetzliche Zweckzuschreibung dieses bis-
her nur für die Post- und Fernmeldekontrolle zuständi-
gen Gremiums; hier ist eine umfassende Reform des zu-
grunde liegenden G-10-Gesetzes dringend nachzuholen.
Die Kompetenzerweiterung kann auch dazu führen,
dass die Kontrolle durch den Bundesdatenschutzbeauf-
tragten entfällt, da man ihm in Zukunft im Hinblick auf
die G-10-Kommission die Überprüfungskompetenz ab-
streitet. Auch dies muss gesetzlich geklärt werden.
Noch schwerer wiegt aber die Durchbrechung des
Trennungsgebotes. Banken und Fluglinien sollen in Zu-
kunft die Pflicht haben, Auskunft zu geben. Das heißt
auch: Die auskunftsuchende Behörde kann sie zwingen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Oktober 2011 16265
(A) (C)
(D)(B)
Irgendwo in der Begründung ihres Änderungsantrages
steht zwar, dass man das nicht wolle. Aber das muss man
dann im Gesetz entsprechend regeln. Denn sonst bekom-
men die Geheimdienste das, was sie niemals haben dür-
fen und was nur den Polizeibehörden zusteht: die Befug-
nis zur exekutiven Durchsetzung. Hier wird ein
Verfassungsgrundsatz durch die Hintertür ausgehebelt
und ein Grundpfeiler unserer Sicherheitsarchitektur zum
Sperrmüll gegeben.
Dieses Gesetz zeigt: Auch einer Regierung unter Be-
teiligung – oder sollte man sagen: Anwesenheit? – der
FDP fällt nichts Besseres ein, als bei der Sicherheit nach
dem Motto „Viel hilft viel“ immer neue Datensammel-
kompetenzen einzuführen. Aus der Perspektive der Bür-
gerrechte ist es schlicht eine Zumutung. Wir lehnen es
deshalb ab.
Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär beim Bundes-
minister des Innern: Manchmal ändert sich die Welt
schneller, als wir uns das vorgestellt haben. Dann gilt es,
neue Antworten auf neue Fragen zu finden und schnell
zu handeln:
So geht es uns gerade in der Euro-Krise, und so ging
es uns auch nach dem 11. September 2001. Die Bedro-
hungslage wurde damals eine andere. Seit den geschei-
terten Kofferbombenanschlägen 2006 und den An-
schlagsplänen der Sauerlandgruppe 2007 ist leider klar,
dass Deutschland nicht nur als Vorbereitungs- oder
Rückzugsort für Terroristen genutzt wird.
Schließlich wurde zu Beginn dieses Jahres am Frank-
furter Flughafen erstmals ein Anschlag auf deutschem
Boden verübt. Die Bedrohung durch den internationalen
Terrorismus hat sich in Deutschland damit seit 2001 eher
verschärft als entspannt. Das rechtfertigt im Um-
kehrschluss natürlich keinen blinden Aktionismus. Dass
aber bei einer so gravierenden Bedrohungslage auch
rechtspolitische Konsequenzen notwendig waren und
sind, steht außer Frage.
Wir haben als Konsequenz bereits 2001 unter ande-
rem das Terrorismusbekämpfungsgesetz verabschiedet.
Schon damals war es befristet und mit einem Evaluie-
rungsauftrag versehen und 2007 haben wir dies erneut so
gemacht. Ich halte das für ein sinnvolles Verfahren: zum
einen aus sicherheitspolitischen Erwägungen. Wir müs-
sen uns regelmäßig genau fragen, ob unsere Maßnahmen
im Kampf gegen den Terror noch zielgenau sind. Zum
anderen müssen wir auch sehen, dass zum Beispiel die
Auskunftserteilung mit Aufwand für die betreffenden
Unternehmen und einem Eingriff in die Rechte des be-
troffenen Bürgers verbunden ist und wir deshalb auch
abwägen sollten, ob die Sicherheitsbehörden diese Aus-
künfte wirklich benötigen. Eine solche Befristung und
Evaluierung ist also sinnvoll, und deshalb wird sie auch
in diesem Gesetz wieder festgeschrieben.
Daneben beinhaltet dieser Gesetzentwurf natürlich
die Evaluierungsergebnisse der bisherigen gesetzlichen
Regelungen. Ein Großteil der Regelungen wird beibe-
halten. Das gilt beispielsweise für die Möglichkeit zur
Einholung von Auskünften von Finanzdienstleistern:
Dadurch kann unter anderem der Verfassungsschutz auf
die Finanzierungsquellen terroristischer Organisationen
zielen.
Neu eingeführt werden außerdem für die Nachrich-
tendienste des Bundes die Möglichkeit der zentralen Da-
tenabfrage bei Computerreservierungen für Flüge sowie
die Kontostammdatenauskunft. Das halte ich auch für
verhältnismäßig. Jede Kommune kann bei einem Antrag
auf Wohngeld oder Sozialhilfe routinemäßig zentrale
Kontostammdaten abrufen. Auch im Rahmen der Re-
form des Zwangsvollstreckungsrechts ist ab 2013 vorge-
sehen, dass von jedem privaten Gläubiger bereits bei ei-
nem Betrag von 500 Euro Kontostammdaten abgefragt
werden können. Dann sollte dieses doch zur Abwehr ei-
ner terroristischen Gefahr auch möglich sein.
Regelungen dagegen, die im Evaluierungszeitraum
nicht genutzt worden sind, werden ersatzlos gestrichen.
Das gilt beispielsweise für Auskünfte zu Umständen des
Postverkehrs.
Ein ausdrückliches Verbot wird außerdem eingeführt,
Betroffene allein aufgrund eines Auskunftsersuchens zu
benachteiligen, zum Beispiel durch Kündigung der
Bankverbindung nach einem Auskunftsersuchen an eine
Bank.
Jetzt kann man natürlich immer sagen, eine Evalua-
tion sei nicht ausreichend. Genau dies wird von der Op-
position ja auch getan. Dies ist aber weder quantitativ
noch qualitativ haltbar: Zum einen wurden noch nie in
der Geschichte der Bundesrepublik in einem solchen
Umfang Sicherheitsgesetze und Sicherheitsstrukturen
auf den Prüfstand gestellt wie in dieser Wahlperiode.
Zum anderen wurde, anders als behauptet, externer
Sachverstand eingeholt, der über den im Gesetz vorgese-
henen hinausging.
Davon abgesehen entbinden uns Experten nicht von
unserer Verantwortung: Denn die Entscheidung, was im
Kampf gegen den Terrorismus verhältnismäßig ist, kann
nur der Bundestag treffen. Das kann uns keiner abneh-
men – auch nicht die Sachverständigen.
Wir alle wollen unsere freiheitliche und offene Ge-
sellschaft schützen. Doch diese Gesellschaftsordnung,
diese Form zu leben, ist auch unsere Achillesferse, unser
wunder Punkt, jedenfalls in den Augen der Terroristen,
die genau diese Freiräume für ihre Aktionen nutzen. Un-
sere Freiräume sind ihre moralische Begründung und
gleichzeitig ihre Chance, Freiheit durch Terror zu delegi-
timieren.
Die Frage ist, wie viel Chance wir ihnen dafür geben.
Wie können wir die freiheitliche Ordnung erhalten und
sie gleichzeitig verteidigen? Darauf müssen wir als Ab-
geordnete eine Antwort finden und dabei das Verhältnis
von Freiheit und Sicherheit immer wieder austarieren.
Dass der heutige Gesetzentwurf eine so breite Unterstüt-
zung hier im Haus erfährt, zeigt doch, dass das hier gut
gelungen ist.
16266 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Oktober 2011
(A) (C)
(D)(B)
Anlage 4
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Gemeinsame Sicher-
heits- und Verteidigungspolitik (GSVP) weiter-
entwickeln und mitgestalten (Tagesordnungs-
punkt 15)
Roderich Kiesewetter (CDU/CSU): Bevor ich auf
Einzelheiten des hier zu beratenden Antrags eingehe,
möchte ich die doch sehr düstere Betrachtungsweise her-
vorheben, die Sie als Perspektive für Ihren Antrag ge-
wählt haben. Diese Betrachtungsweise der Dinge teile
ich grundsätzlich nicht, auch wenn derzeit die finanz-
und währungspolitischen Diskussionen und die Rettung
des Euro die europapolitische Debatte insgesamt prägen
und die GSVP deshalb in der öffentlichen Wahrnehmung
in den Hintergrund rücken lassen.
Zu den Einzelheiten Ihres Antrags:
Der Lissabonner Vertrag hat in der Tat wichtige Fort-
schritte im Bereich der GASP gebracht, unter anderem
die durch Sie erwähnte Solidaritätsklausel. Ich glaube al-
lerdings, dass Sie in Ihrer Gleichsetzung dieser Klausel
mit dem Art. 5 des Nordatlantischen Vertrags zu weit ge-
hen. Meine Damen und Herren von der SPD, Sie spre-
chen es selbst an: Aufgrund der unterschiedlichen strate-
gischen Interessen der europäischen Staaten hat eine
wesentliche Anzahl unserer Partnerstaaten ganz bewusst
einen abgestuften Verpflichtungscharakter gewählt. Es
geht diesen Staaten also eben nicht um eine qualitativ
gleichwertige Verpflichtung zum Art. 5 der NATO. Inso-
fern rate ich Ihnen, eine sorgfältige Auswertung der ers-
ten Erfahrungen auf Grundlage des Lissabonner Vertrags
abzuwarten.
Eine wesentliche strukturelle Innovation im Feld der
GASP wird bei Ihnen kaum erwähnt: die Gründung des
Europäischen Auswärtigen Dienstes, EAD, der die
Kohärenz des außenpolitischen Handelns der Europäi-
schen Union stärken soll. Hierzu wird nach der ersten
Phase seiner Existenz im Dezember 2011 ein Evaluie-
rungsbericht veröffentlicht, der Empfehlungen zur Wei-
terentwicklung seiner Strukturen beinhalten wird. Diese
Empfehlungen werden sich vor allem auf die Führungs-
struktur des EAD beziehen und damit dessen Fähigkeit
politischer Priorisierung stärken. Auch die Gründungs-
geschichte des EAD macht deutlich, wie komplex die In-
teraktionen der europäischen Staaten untereinander sind,
wenn es um außen- und sicherheitspolitische Zusam-
menhänge geht.
Was verbindet diese verschiedenen Aspekte? Wir sind
in einer wichtigen Umbruchphase Europas, in der jahr-
zehntealte Gewissheiten, Grundausrichtungen und Poli-
tiken auf dem Prüfstand stehen. Vor diesem Hintergrund
ist es umso wichtiger, neue gemeinsame Initiativen zu
entwickeln, um darüber sowohl der GASP als auch der
GSVP neue Impulse zu geben. Der Schlüssel dazu sind
Glaubwürdigkeit und Vertrauen der europäischen Part-
ner untereinander – und nur so strahlt Deutschland die
für diese politischen Initiativen nötige Verlässlichkeit
aus. Dieser Dreiklang aus Glaubwürdigkeit, Vertrauen
und Verlässlichkeit kennzeichnet aber unser Land in den
Augen unserer Partner bis heute. Und ich füge klar
hinzu: Das ist nicht nur das Verdienst der derzeitigen
Bundesregierung, sondern auch das ihrer Vorgängerin-
nen. Insofern aber ist Ihr Vorwurf, diese Bundesregie-
rung aus CDU/CSU und FDP würde die GSVP schleifen
lassen, absurd.
Ein konkretes Beispiel: Deutschland gehört zu den
europäischen Nationen, die beim Thema „Pooling und
Sharing“ zu den Vorreitern zählen. Das Beispiel des
Europäischen Lufttransportkommandos führen Sie in Ih-
rem Antrag ja auch selbst an. Künftig wird es darum ge-
hen, im Rahmen der Gent-Initiative von der Konzept-
phase in die praktische Umsetzung zu gehen. Die
Prüfarbeiten zu circa 100 Initiativen laufen derzeit –
auch hier ist die Bundesregierung dabei, konkrete Fort-
schritte zu erarbeiten. Jedenfalls kommt es nicht nur auf
die großen Leuchtturmprojekte an, auf die Sie abheben:
Jahrzehnte der europäischen Rüstungskooperation haben
gezeigt, wie schwierig gerade solche Großprojekte in der
Umsetzung sind. Insofern muss als Motto gelten: Kon-
krete Fortschritte in 10 Initiativen sind sinnvoller als ein
Steckenbleiben in 100 Initiativen.
Die unterschiedlichen Interessenkonstellationen der
europäischen Staaten drücken sich in einer Reihe von
konkreten Einzelproblemen aus. Ich nenne hier nur die
Rolle der Türkei und Griechenlands im Zypern-Konflikt.
Diese Probleme lassen sich aber eben nicht mit spekta-
kulären Vorstößen lösen, wie Sie sie von der Bundesre-
gierung fordern, sondern diese verlangen nach einem
langen Atem. Sie erlauben mir die Ergänzung: Das dürf-
ten Sie aus Ihrer eigenen Regierungszeit auch noch ken-
nen. Entscheidend wird hierbei sein, wie wir die Türkei
näher an die GASP heranführen können. Hier sehe ich
für das von Ihnen auch angesprochene Weimarer Drei-
eck eine wichtige Rolle.
Aber auch das derzeitige enge bilaterale Vorgehen
Frankreichs und Großbritanniens ist eines der politi-
schen Themen, die für die Zukunft der GSVP von ent-
scheidender Bedeutung sein werden. Deutschland hat
sich zu einer zurückhaltenden außen- und sicherheits-
politischen Kultur entschlossen – das sollten Sie in die-
sem Kontext beachten. Insofern würde ich auch hier um
Fortschritte im Konkreten werben: Warum sollte
Deutschland – auch vor dem Hintergrund der Finanz-
krise – die Initiative von Gent nicht noch stärker nutzen,
um über gemeinsame Fähigkeitsentwicklung auch ge-
meinsame Streitkräftestrukturen mit ausgewählten Part-
nern anzugehen? Diese Rolle als Anlehnungspartner für
kleinere europäische Nationen könnte eine sinnvolle Er-
gänzung zum französisch-britischen Vorgehen darstel-
len, wenn beide Dimensionen miteinander verbunden
bzw. aufeinander orientiert werden.
Hier ist auch die Rückkoppelung zur Entwicklung
einer außen- und sicherheitspolitischen Strategie
Deutschlands deutlich. Wie bereits im Juni dieses Jahres
angesprochen, müssen die neuen Verteidigungspoliti-
schen Richtlinien (2011), das Weißbuch (2006) und der
gegenwärtige Aktionsplan zivile Krisenprävention als
Grundlage dienen. Jedenfalls greift Ihre Kritik an den
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Oktober 2011 16267
(A) (C)
(D)(B)
VPR zu kurz, da deren Zielsetzung in der Ausrichtung
nicht die Überarbeitung der Europäischen Sicherheits-
strategie von 2003 gewesen ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, die in
Ihrem Antrag ausgedrückte Sorge um die Zukunft der
GSVP eint uns. Allerdings ist derzeit nicht die Zeit alar-
mistischer Vorgehensweisen, sondern der verlässlichen
Entwicklung konkreter Initiativen.
Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU): Opposi-
tionspolitik kann einfach sein, weil man Forderungen
stellen kann, ohne in Regierungsverantwortung zu ste-
hen, und damit der eigenen Pflicht zu deren Verwirkli-
chung ledig ist. Es sei denn, dass man eigentlich das-
selbe will wie die Regierung und diese Tatsache mit
parteipolitischer Rhetorik bemänteln muss.
Genau das ist der Fall bei dem Antrag der SPD zur
Weiterentwicklung der Gemeinsamen Sicherheits- und
Verteidigungspolitik der EU. Soweit ich das überblicke,
gibt es ja keine verantwortungsbewusste Fraktion in die-
sem Haus, die die europäische Integration im Verteidi-
gungsbereich nicht vorantreiben wollte.
Die Linke nehme ich von dieser Unterstellung eines
Verantwortungsbewusstseins ausdrücklich aus. Allen an-
deren ist natürlich klar, dass es kaum Alternativen zur
Fortentwicklung der Integration gibt. Der SPD-Antrag
beschreibt ja auch durchaus korrekt, dass die Notwen-
digkeit dazu angesichts wachsenden finanziellen Drucks
in allen EU-Mitgliedstaaten eher noch zunimmt, gerade
angesichts der europäischen Schuldenkrise.
Es gibt bereits Staaten, die nicht mehr die gesamte
Bandbreite militärischer Fähigkeiten in ihren nationalen
Streitkräften abbilden können. Ich nenne als Beispiel die
Niederlande, die kürzlich quasi die Abschaffung ihrer
Panzertruppe beschlossen haben. Auch die Briten prüfen
momentan sehr eindringlich, ob sie sich noch alle bishe-
rigen Fähigkeiten leisten können.
Wir selbst haben es mit der Bundeswehrreform ge-
rade geschafft, gemäß dem von Verteidigungsminister
Thomas de Maizière vertretenen Grundsatz „Breite vor
Tiefe“ das Fähigkeitsprofil der deutschen Streitkräfte
weitgehend zu erhalten. Das ändert aber nichts daran,
dass auch wir uns künftig bei Einsätzen noch stärker auf
die Zusammenarbeit mit unseren Verbündeten in EU und
NATO abstützen müssen.
Ja, es wäre wünschenswert, dass dieser Prozess der
Integration schneller voranschreitet. Damit kommen wir
zu der parteipolitischen Rhetorik, mit der die Sozialde-
mokraten in ihrem Antrag sagen: „… und es ist die
Schuld der Bundesregierung, dass es nicht schneller
geht.“
Nun warten unsere europäischen Partner ja nicht mit
angehaltenem Atem darauf, dass die deutsche Regierung
kommt und ihnen zeigt, wo es langgeht. Sie haben viel-
mehr ihre eigenen Vorstellungen, was sie zu diesem Inte-
grationsprozess beitragen oder auch nicht beitragen wol-
len. Denn die Verfügung über Streitkräfte ist immer noch
ein Kernbereich nationaler Souveränität, den man nicht
leicht aufgibt.
Gerade deshalb ist die GSVP nach wie vor im zwi-
schenstaatlichen und nicht im supranationalen Bereich
der Gemeinschaftspolitik. Und die Abstimmung zwi-
schen den Mitgliedstaaten bleibt schwierig, obwohl
Deutschland hier durchaus sein Gewicht einbringt, übri-
gens gerade im Rahmen des Weimarer Dreiecks, das im
Antrag ja ausdrücklich angesprochen wird.
Und mit der Gent-Initiative hat die Bundesregierung
gemeinsam mit Schweden einen Anstoß gegeben, der
insbesondere das Pooling und Sharing betrifft, was mitt-
lerweile erhebliche Kreise gezogen hat, sodass 25 EU-
Mitglieder insgesamt 300 Projekte zur gemeinsamen
Nutzung von Fähigkeiten und Ressourcen gemeldet ha-
ben.
Deutschland hat dazu sechs eigene Vorschläge beige-
steuert, die etwa gemeinsame Hauptquartiere, grenz-
überschreitende Ausbildung, die Zusammenarbeit in der
ABC-Abwehr und die gemeinsame Nutzung von Schif-
fen und Flugzeugen betreffen. Hier ist natürlich festzu-
stellen, dass es sich vor allem um Führungs- und Unter-
stützungsfähigkeiten handelt und weniger um einen
Schritt zu gemeinsamen Verbänden, die zusammen in
den Einsatz gehen, wie es als Ziel im vorliegenden An-
trag formuliert ist.
Das liegt allerdings an einem Umstand, der auch das
Gewicht Deutschlands als Führungskraft in diesem Inte-
grationsprozess insgesamt beeinträchtigt und für den
Sie, meine Damen und Herren von der SPD, leider keine
Lösung anbieten, sondern bei dem Sie vielmehr in das
eingangs erwähnte andere Oppositionsverhalten verfal-
len: Forderungen zu stellen, ohne den Beweis der Reali-
sierbarkeit antreten zu müssen.
Ich spreche hier von den parlamentarischen Beteili-
gungsrechten beim Einsatz deutscher Truppen, deren
Einhaltung Sie betonen, während Sie gleichzeitig anstre-
ben, dass die Teilnahme integrierter europäischer Ver-
bände mit deutscher Beteiligung an UN-mandatierten
Missionen zur Regel werden sollte.
Sie kennen natürlich das damit verbundene Problem,
weil es seit längerem diskutiert wird: Wenn es dann zum
Einsatz kommt, müssen diese Verbände warten, während
sich der Deutsche Bundestag mit dem erforderlichen
Mandat für die Bundeswehrsoldaten darin befasst, ein
Problem, dass sich umso schärfer stellt, je größer der
Grad der multinationalen Integration wird. Denn in dem
Moment, in dem deutsche Soldaten unverzichtbare Fä-
higkeiten für den Einsatz stellen, legt der parlamentari-
sche Entscheidungsprozess in Deutschland den ganzen
Verband lahm.
Dabei rede ich gar nicht einmal so sehr von der zeitli-
chen Verzögerung. In den meisten Fällen besteht ja bei
UN-mandatierten Missionen eine ausreichende Vorbe-
reitungszeit. Schlimmstenfalls kann die deutsche Ent-
scheidung parallel zum UN-Mandatierungsprozess erfol-
gen. Und der Bundestag hat etwa während der
Finanzkrise in der letzten Legislaturperiode bereits be-
16268 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Oktober 2011
(A) (C)
(D)(B)
wiesen, dass er in dringenden Situationen auch innerhalb
weniger Tage Entscheidungen treffen kann.
Ganz ausschließen lässt sich eine solche für Deutsch-
land und seine europäischen Partner blamable Lage aber
nicht. Denn der Sinn schneller Eingreifkräfte ist offen-
sichtlich verfehlt, wenn sie aufgrund politischer Ent-
scheidungsprozesse nicht schnell eingreifen können.
Viel problematischer ist aber, dass unsere Partner mit
fortschreitender Integration die Entscheidung über den
Einsatz auch ihrer eigenen Truppen praktisch in deut-
sche Hände legen würden, dass also der Deutsche Bun-
destag bestimmt, ob französische oder niederländische
oder dänische Soldaten in diesen Verbänden zum Einsatz
kommen dürfen. Das wäre selbst dann viel verlangt,
wenn unsere Partner sich darauf verlassen könnten, dass
wir hier im Haus immer zustimmen. Aber einfach immer
Ja zu sagen, ist nun wiederum nicht der Zweck parla-
mentarischer Befassung.
Das alles macht Deutschland, ganz hart gesagt, zu ei-
nem unsicheren Partner bei der europäischen Integration
im Verteidigungsbereich. Und das beeinträchtigt eben
die Führungsrolle, die wir dabei spielen sollten.
Das Problem ist also nicht fehlendes Engagement der
Bundesregierung nach außen. Das Problem ist, hier bei
uns die Grundlagen zu schaffen, damit Deutschland in
Europa als verlässlicher Partner auftreten kann, und das
selbstverständlich innerhalb der Vorgaben, die uns das
Bundesverfassungsgericht in diesem Bereich gemacht
hat.
Ich will Ihnen nun nicht meinerseits vorwerfen, daran
schuld zu sein, liebe Kollegen von der SPD. Ich weiß,
dass Sie sich innerhalb dieser Fraktion ebenfalls sehr
ernsthaft mit dieser Problematik befassen. Gerade des-
wegen sage ich: Kommen Sie auf die Koalition zu, las-
sen Sie uns gemeinsam nach einer Lösung suchen! Da-
mit Deutschland auch in der GSVP seine Rolle als ein
wichtiger Motor der europäischen Integration ausfüllen
kann.
Dr. Hans-Peter Bartels (SPD): In Deutschland kann
man über das Ziel einer europäischen Armee eigentlich
nicht mehr streiten. In derselben Woche, in der der SPD-
Parteivorstand die Vision einer europäischen Armee in
den Entwurf für das neue Grundsatzprogramm der SPD
aufnahm, erklärte 2008 die Vorsitzende der CDU, Frau
Bundeskanzlerin Angela Merkel, über die Bild-Zeitung
– ich zitiere –:
In der EU selbst müssen wir einer gemeinsamen eu-
ropäischen Armee näher kommen.
Damit eignet sich das Thema nicht mehr für nationale
Kontroversen. Wir sind uns einig: Die europäische Ar-
mee muss nicht morgen oder übermorgen eingekleidet,
durchgeimpft und angetreten sein, aber sie muss kom-
men. Die EU-Armee der Zukunft muss heute schon die
regulative Idee sein für die Transformation unserer eige-
nen, nationalen Streitkräfte.
Wie gesagt: Europäisch antreten ist nicht die Aufgabe
des heutigen Tages, aber im Sinne von Jürgen Habermas
die regulative Idee, die uns einen Kompass gibt für alle
heute nötigen Tagesentscheidungen. Die ständige
Grundsatzfrage lautet: Renationalisierung oder Europäi-
sierung? Braucht jeder immer alles selbst oder kann man
Aufgaben teilen, kann man Beschaffungen teilen, kann
man Kosten teilen? Das heißt: Geld sparen!
Dieses Denken müssen wir nicht neu erfinden. Wir
fangen in Europa nicht ganz bei null an. Wir marschieren
schon – und meist schon gemeinsam und in die richtige
Richtung. Drei Meilensteine sind zu nennen:
Erstens das gemeinsame Marinehauptquartier Bel-
giens und Hollands in Den Helder, zweitens das nieder-
ländische Beispiel beim Lufttransport: Statt eigene Mili-
tär-Airbusse zu kaufen, beteiligt sich das Land an den
Kosten der deutschen Airbus-Flotte und bekommt eine
Garantie über entsprechende Transportkapazitäten, und
drittens die deutsch-französische Brigade als Beispiel für
transnationale stehende Verbände im Bereich der Land-
streitkräfte.
Trotzdem ist mir klar: Jede kühne Vision provoziert
erst einmal jede Menge Bedenken. Unsere erste Re-
aktion auf alles Neue heißt immer erst einmal: Aber!
Aber das ist nicht schlimm. Das ist unsere europäische
Art. Das „Aber“-Sagen verbindet uns.
Mit der von dem damaligen Minister zu Guttenberg
angefangenen und jetzt von Minister de Maizière zu
Ende gebrachten erneuten Bundeswehrreform wurde lei-
der eine Chance vertan, sich heute schon europäisch auf
eine gewisse Arbeitsteilung und Schwerpunktsetzung,
auf Pooling und Sharing, zu verständigen. Alle unsere
Verbündeten haben die gleichen Probleme wie wir: zum
Teil veraltete Strukturen, die gleichen internationalen
Dauereinsätze und zu wenig Geld. Lassen Sie uns des-
halb nächstes Mal von Anfang an europäischer denken.
Dr. Rainer Stinner (FDP): Selten ist einem guten
und wichtigen Anliegen ein derartiger Bärendienst er-
wiesen worden wie der Stärkung der GSVP durch den
vorliegenden Antrag der SPD. Leider konnte die SPD
dem Oppositionsreflex nicht widerstehen. Deshalb steht
im Mittelpunkt des Antrages die ständig wiederholte
Kritik an der Bundesregierung. Selten sind ausnahmslos
alle grundlegenden Probleme eines Politikfeldes so kon-
sequent ausgeblendet worden wie bei diesem Antrag.
Ich glaube, wir sind uns alle hier in diesem Hause ei-
nig, dass die sicherheitspolitische Zusammenarbeit auf
europäischer Ebene dringend verbessert werden muss.
Die Gründe liegen auf der Hand: Alle Länder müssen
sparen, jedes einzelne europäische Land ist international
gesehen zu klein, um wirklich irgend etwas bewegen zu
können. Wenn Europa in der Welt noch eine Bedeutung
behalten will, dann müssen wir gemeinsam handeln.
Schon der von der SPD angezettelte Streit um die Fe-
derführung für diesen Antrag macht die große Schwäche
dieses Antrages deutlich. Nach Willen der SPD soll die-
ser Antrag federführend im Verteidigungsausschuss be-
handelt werden. Die GSVP ist aber das Kernstück der
europäischen Außen- und Sicherheitspolitik. Wir haben
daher den Irrweg der Kollegen der SPD korrigiert.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Oktober 2011 16269
(A) (C)
(D)(B)
Die GSVP ist mehr als die Aneinanderreihung von In-
strumenten der militärischen Kooperation. Sie kann nur
gelingen, wenn wir uns über die Grundbedingungen ei-
nes gemeinsamen außen- und sicherheitspolitischen
Handelns Gedanken machen.
Eine große Schwäche dieses Antrages ist, dass er sich
ausschließlich bunt gewürfelt mit militärischen Instru-
menten beschäftigt. Da sind Sie in der SPD hinter die ak-
tuelle Diskussion zurückgefallen. Die Mehrheit des Bun-
destages ist da weiter.
Wir wissen, dass gemeinsame Sicherheit durch ein
Bündel von außen- und sicherheitspolitischen Instru-
menten hergestellt werden kann. Dazu gehört auch die
zivile Krisenprävention. Der dafür eingerichtete Unter-
ausschuss des Auswärtigen Ausschusses leistet hier par-
teiübergreifend beispielhafte Arbeit. Ich empfehle den
Verfassern dieses Antrages, sich einmal durch ihre Kol-
legen in diesem Ausschuss auf den neuesten Stand der
Diskussion bringen zu lassen.
Sie schreiben in Ihrem Antrag, dass die sehr weitge-
hende französisch-britische Kooperation, die außerhalb
der GSVP stattfindet, jede EU-weite Integration er-
schwert. Und in Ihrem Oppositionsreflex machen sie da-
für die Bundesregierung verantwortlich. Ich kann nur sa-
gen: Blödsinn!
Wir müssen uns doch Gedanken machen, warum
diese intensive Zusammenarbeit erfolgt. Die sehr enge
französisch-britische Kooperation im Verteidigungsbe-
reich begann vor Jahren, als beide Länder in enger Ab-
stimmung ihre Sicherheitsstrategien formuliert haben.
Ich weiß nicht, ob das dem damaligen SPD-Außenminis-
ter überhaupt aufgefallen ist. Die Verfasser dieses Antra-
ges können es jedenfalls nicht gewusst haben.
Wir müssen konstatieren, dass Frankreich und Groß-
britannien sich in Hinsicht Ihrer strategischen Positionie-
rung ähnlich sind: Vetomächte im Sicherheitsrat, Atom-
mächte, ehemalige Kolonialmächte mit immer noch
globalem Anspruch, ähnliche historische Erfahrungen in
zwei Weltkriegen, und ein ähnliches Verständnis da-
rüber, wie und mit welchen Mitteln man außenpolitische
Überzeugungen in die Welt hinausträgt. Hier sieht die
Situation in Deutschland natürlich völlig anders aus, und
so sind eben auch die Einstellungen der Gesellschaften
zur Anwendung militärischer Gewalt nicht deckungs-
gleich. Ich will gar nicht endgültig bewerten, welche
besser oder schlechter ist, sie sind jedenfalls unter-
schiedlich.
Wir alle wünschen uns Fortschritte in der GSVP. Aber
es muss doch geklärt werden, auf welcher Grundlage das
gemeinsame Handeln beruhen soll. Soll Deutschland die
französischen Ansichten, wann und wie militärische In-
terventionen in Afrika notwendig sind, eins zu eins über-
nehmen? Oder wissen Sie vielleicht einen Weg, wie
Frankreich zu den deutschen Ansichten bekehrt werden
kann? In Ihrem Antrag ist davon nichts zu lesen.
Und das ist genau die Krux, der Fehler und auch die
Unredlichkeit Ihres Antrags: Sie blenden alle grundle-
genden außenpolitischen Voraussetzungen völlig aus. An
vorhandenen unterschiedlichen Einstellungen scheitert
bisher aber die engere Kooperation.
Nein, wir müssen sehen, dass es bei den jetzt vor uns
stehenden Aufgaben in Sachen europäischer Integration
ans Eingemachte der Nationalstaaten geht, an den Kern
von nationaler Souveränität. Wir sehen das beim Euro,
und bei der GSVP ist es nicht anders. Es ist nun einmal
leichter, Kompromissen bei Glühbirnen zuzustimmen,
als bei der Frage, wann eigene Staatsbürger in lebensge-
fährliche Einsätze geschickt werden.
Von daher geht es bei den von uns allen gewünschten
Fortschritten bei der GSVP nicht nur um die Optimie-
rung von militärischen Instrumenten, sondern darum, in
der EU eine gemeinsame Vision der Welt von morgen
und der Rolle Europas in dieser Welt zu erarbeiten. Da-
raus sind dann konkrete Ziele abzuleiten, die wiederum
in Strategien, Maßnahmen und Instrumenten zur Errei-
chung dieser Ziele münden.
Wir wollen diesen Prozess nicht nur den Regierungen
überlassen. Wir sind der Meinung, dass dieser Prozess
auf europäischer Ebene auch parlamentarisch begleitet
werden muss. Daher schlagen wir die Einrichtung einer
Parlamentarischen Versammlung der GSVP vor, in der
Vertreter der nationalen Parlamente und des Europäi-
schen Parlamentes diesen Prozess aktiv begleiten und
Impulse für die jeweiligen Regierungen entwickeln.
Der Vertrag von Lissabon eröffnet neue Möglichkei-
ten und Aufgaben für die Gestaltung der Gemeinsamen
Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Das ist eine Auf-
gabe der Bundesregierung, die diese mit Nachdruck
wahrnimmt. Das ist aber auch eine Aufgabe des Bundes-
tages. Wenn wir diesen Prozess ohne Scheuklappen be-
ginnen, werden wir sicherlich demnächst über einen fun-
dierteren Antrag zu diesem wichtigen Thema befinden
können. Den vorliegenden Antrag der SPD lehnen wir
mit der Note „ungenügend“ ab.
Sevim Dağdelen (DIE LINKE): Erst gestern nötig-
ten die Kollegen der SPD-Fraktion gemeinsam mit den
Grünen und der Regierungskoalition von CDU, CSU
und FDP die Menschen in Deutschland, die Haftung für
einen „gehebelten“ Bankenrettungsschirm zu überneh-
men. Heute wirbt die SPD für einen Rettungsschirm für
die Kriegstreiber und Rüstungsexportbarone in Deutsch-
land. Nachdem die deutsche Lohndumping- und Export-
überschusspolitik maßgeblich die Krise in Europa verur-
sacht hat, verschrieben die Kollegen von der SPD nun
auch die deutsche Europapolitik als Panaceum zur Ret-
tung des außen- und verteidigungspolitischen Versagens
der EU. Doch auch die politisch und praktisch geschei-
terte Militärpolitik der EU kann am deutschen Wesen
nicht genesen.
Es ist schlicht unfassbar, wie heute, trotz der verhee-
renden Folgen der Finanzkrise, die weltweit mit unver-
gleichlichem Elend, Armut und Sozialabbau einhergeht,
die SPD-Fraktion ohne jegliche Skrupel und Hemmun-
gen, einen Antrag in den Deutschen Bundestag ein-
bringt, der – wie sie selbst schreibt – die „Krise der
Staatsfinanzen in vielen EU-Mitgliedsländern als
16270 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Oktober 2011
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Chance nutzen“ will, um „den Zerfall der Gemeinsamen
Sicherheits- und Verteidigungspolitik“ zu verhindern.
Wer schon immer wissen wollte, was „schöpferische
Zerstörung“ bedeutet, der findet in dem SPD-Rezept tat-
sächlich einen Leitfaden, wie die vorsätzliche Zerstö-
rung gesellschaftlicher Substanz als Beschleuniger einer
militärischen Kernschmelze missbraucht werden kann.
Die SPD braucht offensichtlich eine solche Kettenreak-
tion von kapitalistischen Verwerfungen, um der „euro-
päischen Gründungsnation“, für die sie unverhohlen
wirbt, zur globalen Verwirklichung ihres politischen
Willens zu verhelfen. Vor dem Hintergrund der histori-
schen Verantwortung, die Deutschland für seine Milita-
rismuspolitik auf seinen Schultern trägt, klingt der tri-
umphale Ton, der Duktus und der Ruf der SPD nach
„globaler Mitverantwortung“ wie eine Drohung. Eine
Drohung gegen die am meisten von der Bankenkrise be-
troffenen Staaten und Menschen, die dagegen derzeit
weltweit aufbegehren. Hinter ihren Krokodilstränen über
die europäische Krise, die die SPD-Fraktion in ihrem
Antrag ja selbst als „Krise der europäischen Einigung“
beschreibt, steckt die gleiche Schadenfreude und die
gleiche heuchlerische Europapolitik wie hinter ihrer an-
geblichen Sorge um die Stabilität und Sicherheit der Eu-
ropäischen Union und die Gemeinsame Sicherheits- und
Verteidigungspolitik.
Ihnen geht es nicht um Stabilität oder Sicherheit,
meine Kolleginnen und Kollegen von der SPD. Viel-
mehr haben Sie erkannt, dass für eine durchsetzungsfä-
hige Außen- und Sicherheitspolitik die bloße Feststel-
lung, dass Deutschland die „größte Volkswirtschaft
Europas“ sei, eben keine garantiert ausfallsichere Kapi-
talanlage darstellt. Ihre eigentliche Sorge, die im Übri-
gen von den Kollegen der CDU, CSU und FDP und der
Grünen geteilt wird – das wurde ja in der zu Protokoll
gegebenen Plenardebatte zur Einrichtung einer Interpar-
lamentarischen Konferenz zur GASP/GSVP der EU im
Beitrag des Kollegen Kiesewetter deutlich, gilt vielmehr
der Furcht, als zu spät Kommender von der Geschichte
bestraft zu werden. Und in der Tat wurde nach dem Ver-
teidigungsabkommen zwischen Frankreich und Großbri-
tannien vom November 2010 deutlich, dass Deutschland
offensichtlich einen untergeordneten Ansprechpartner für
Sicherheitspolitik in Europa darstellt. Aus der Sicht der
USA aber auch in NATO-Kreisen setzt sich zunehmend
die Erkenntnis durch, dass Deutschland in Bündnisfragen
kein herausragendes Gewicht mehr zukommt. Das
scheint in der gegenwärtigen Krise das einzige zu sein,
was Sie als schmerzhaft empfinden. Und es nützt gar
nichts, dass Sie in Ihrem Antrag gerade um die Unterstüt-
zung des Nachbarstaates Polen für ihren deutschen Son-
derweg buhlen. Aus friedensorientierter Perspektive ist
vielmehr entscheidend, dass in beiden Fällen an einer Mi-
litarisierung der Sicherheitspolitik genauso festgehalten
wird. Aus Sicht der Friedenspolitik stellen beide Projekte
keine Alternative dar und Die Linke lehnt beide vehe-
ment ab.
Sie von der SPD werben um einen neuen Burgfrieden
mit der Bundesregierung. Ihr Ziel ist, dass trotz der Fi-
nanzkrise die militärischen Fähigkeiten der EU, Rüs-
tungsexporte und eine europäische Armee unter der „ge-
stalterischen Kraft“ Deutschlands für die EU verbindlich
festgezurrt werden. Sie schlagen für Europa einen natio-
nalen und klar militaristischen Sonderweg vor, den der
„politische Wille“ Deutschlands verwirklichen soll. Das
ist eine Sackgassenpolitik deutschen Dominanzstrebens
in sicherheitspolitischen Fragen, die Die Linke entschie-
den ablehnt. Nicht zuletzt auch angesichts der gegenwär-
tigen Krise zeugen diese Vorschläge von einer völligen
Fehleinschätzung der tatsächlichen globalen Probleme.
Die Linke findet das inakzeptabel und wird sich mit aller
Kraft einer weiteren Versicherheitlichung und Militari-
sierung der sozialen Probleme innerhalb der GASP und
GSVP wiedersetzten. Während in diesen Tagen weltweit
Tausende von Menschen auf die Straße gehen und öf-
fentliche Plätze in Madrid, Rom, New York oder Berlin
besetzen, muss die deutsche Politik endlich Konsequen-
zen aus der gescheiterten europäischen Militärpolitik
ziehen. Die Linke stellt sich allen Versuchen in den Weg,
um, wie dies die SPD-Fraktion in ihrem Antrag fordert,
„wirksame Antworten auf die Herausforderungen an den
Rändern Europas“ in militärischen und polizeilichen
Werkzeugkästen der GSVP zu suchen. Deutschland trägt
durch seine verfehlte Handelspolitik maßgeblich Verant-
wortung für die „Krisen und Konflikte in der unmittelba-
ren Nachbarschaft“ der Europäischen Union. Die von
den Sozialdemokraten bislang gehätschelten Banken und
Zockerbuden, die Profiteure der Euro-Krise, müssen
endlich zur Kasse gebeten werden. Der berechtigte Pro-
test gegen sie darf nicht militärisch oder sicherheitspoli-
tisch eingehegt werden. Dafür setzt sich Die Linke ein.
Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der vor-
liegende Antrag der SPD bringt ein Politikfeld auf die
Tagesordnung des Bundestages, um das man sich ernst-
haft Sorgen machen muss.
Während der letzte Verteidigungsminister immerhin
mit der Gent-Initiative und dem Brief des Weimarer
Dreiecks bereit war, Impulse zu geben, herrscht inzwi-
schen nur noch Stillstand und Agonie. Das ist umso be-
dauerlicher, als derzeit nicht nur in Deutschland die Bun-
deswehr reformiert und der Verteidigungshaushalt
verkleinert werden soll, auch in unseren europäischen
Nachbarländern wird erheblich gespart und neu struktu-
riert.
Das wäre die Gelegenheit für eine systematische Er-
fassung und Priorisierung militärischer Fähigkeiten, um
langfristig Doppelstrukturen zu vermeiden und Überka-
pazitäten abzubauen. Es geht nämlich nicht nur um die
Schließung von Fähigkeitslücken: Es geht auch darum,
dass Europa es sich nicht mehr leisten kann, 27 nationale
Armeen mit vollem Fähigkeitsspektrum vorzuhalten.
Bei einem entsprechenden politischen Willen bestünde
jetzt die Chance auf eine weitreichende Abrüstung in
Europa unter Beibehaltung der militärischen Kernfähig-
keiten.
Nun ist es leider so, dass Bundesverteidigungsminis-
ter de Maizière sich bisher nicht als EU-Enthusiast prä-
sentiert hat, eher im Gegenteil: Es ist deutlich spürbar,
dass er der europäischen Zusammenarbeit in Sicherheits-
und Verteidigungsfragen eher skeptisch gegenübersteht.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Oktober 2011 16271
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Daher sind von seinem Ministerium wohl auch keine Im-
pulse in die Richtung einer vertieften Zusammenarbeit
zu erwarten.
Der Antrag der SPD legt daher den Finger in eine of-
fene Wunde und liefert anregenden Diskussionsstoff für
die kommenden Beratungen im Verteidigungsausschuss:
Wir teilen den Ansatz, die Zusammenarbeit mit unseren
europäischen Partnern zu verstärken, wo es möglich ist.
Dazu gehört die Zusammenarbeit mit anderen EU-Staa-
ten, die auch in der Integration weitergehen wollen.
Hierfür bietet nicht zuletzt die „Ständige Strukturierte
Zusammenarbeit“ einen tragfähigen Rahmen. Wir setzen
uns auch für ein verstärktes „Pooling and Sharing“ ein,
also die Bündelung und Aufteilung militärischer Fähig-
keiten. Die Idee, das Konzept der Battlegroups weiter zu
entwickeln, greift ebenfalls einen wichtigen Verände-
rungsbedarf auf. Auch die Anpassung der Europäischen
Sicherheitsstrategie an die aktuellen Gegebenheiten hal-
ten wir für notwendig.
Leider orientiert sich die SPD in ihrem Antrag allzu
sehr an der militärischen Dimension der GSVP. Nur
dreimal kommt das Wort „zivil“ überhaupt in ihrem An-
trag vor. Wir verstehen die Europäische Union weiterhin
in erster Linie als Zivil- und Friedensmacht. Gerade im
Hinblick auf die NATO sollten vor allem die Fähigkeiten
im Bereich der zivilen Krisenprävention und Krisenbe-
gleitung in den Vordergrund gestellt werden. Hier gibt es
weiterhin große Defizite auf EU-Ebene. Wir haben be-
reits letzten Dezember einen Antrag eingebracht, in dem
wir fordern, die Bereiche Krisenprävention und Frie-
densförderung im Europäischen Auswärtigen Dienst an-
gemessen zu verankern. Leider müssen wir feststellen,
dass in dieser Hinsicht kaum etwas erreicht wurde.
Ebenso bedauerlich ist, dass es weiterhin eine große
Lücke zwischen den von den EU-Staaten gemeldeten
zivilen Kräften und tatsächlich zur Verfügung stehenden
Kräften gibt, die bei zivilen EU-Missionen, wie bei-
spielsweise EULEX im Kosovo, eingesetzt werden kön-
nen. Hier bedarf es weiterer Anstrengungen, etwa in
Richtung eines europäischen Pools für zivile Krisenmis-
sionen.
Es ist daher sehr bedauerlich, dass Sie, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen von der SPD, den zivilen Aspekt
der GSVP als Nebenprodukt, das man zwar erwähnen
muss, das aber eher zu vernachlässigen ist, behandeln.
Ich weiß ja, dass es nicht von allen so gesehen wird, wie
es der Antrag leider erscheinen lässt.
Richtig und wichtig ist Ihre Forderung nach einer eu-
ropäischen Rüstungsexportpolitik. Einheitlich hohe
Standards und Kontrolle an den EU-Außengrenzen sind
gerade im Hinblick auf den künftig freien Verkehr von
Rüstungsgütern innerhalb der EU unerlässlich.
Zu kurz kommt mir in Ihrem Antrag allerdings die
parlamentarische Kontrolle der GSVP. Zwar sprechen
Sie sich für die „Einhaltung der parlamentarischen Be-
teiligungsrechte“ aus. Aber kein Wort zur Rolle des
Europäischen Parlaments. Kein Wort zur Neustrukturie-
rung der Zusammenarbeit zwischen europäischer Ebene
und den nationalen Parlamenten. Hier möchte ich an die
Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen ap-
pellieren: Lassen Sie uns einen erneuten Versuch unter-
nehmen, in dieser Frage zu einer gemeinsamen Position
zu kommen. Nachdem die Konferenz der Parlamentsprä-
sidenten der EU-Staaten im April ohne weitere Verhand-
lungspläne gescheitert ist, bedarf es eines starken
Signals, um neue Bewegung in die Bemühungen um
eine interparlamentarische Zusammenarbeit zu bringen.
Ein möglichst geschlossenes Auftreten des Deutschen
Bundestages könnte da einen wichtigen Impuls setzen.
In Zeiten der größten Krise, die die Europäische
Union seit ihrem Bestehen erlebt, sollten wir Abgeord-
nete zwei wichtige Zeichen setzen: Erstens, dass wir
auch im Sicherheits- und Verteidigungsbereich weitere
Integrationsschritte wollen, die, gerade wenn wir den
Weg des Pooling and Sharing weiter verfolgen, dazu
führen, dass eine verbesserte militärische Zusammenar-
beit und neue Abrüstungsschritte Hand in Hand gehen.
Zweitens, dass wir diese Integration mit mehr Transpa-
renz und einer weiteren Parlamentarisierung und damit
größerer demokratischer Legitimation verbinden wollen.
Das verlangen auch die Bürgerinnen und Bürger von
uns.
Anlage 5
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Umsetzung der Richtlinie 2010/78/EU vom
24. November 2010 im Hinblick auf die Errich-
tung des Europäischen Finanzaufsichtssystems
(Tagesordnungspunkt 18)
Ralph Brinkhaus (CDU/CSU): Mit der heutigen ab-
schließenden Plenarbefassung und Abstimmung zum
Gesetz zur Umsetzung der EU-Richtlinie 2010/78/EU
vom 24. November 2010 im Hinblick auf die Errichtung
des Europäischen Finanzaufsichtssystems verabschieden
wir ein weiteres wichtiges Finanzmarktgesetz. Konkret
nehmen wir damit Anpassungen an einigen deutschen
Aufsichtsgesetzen – darunter unter anderem das Kredit-
wesengesetz, KWG, und das Wertpapierhandelsgesetz,
WpHG – vor, um unsere nationalen Aufsichtsstrukturen
mit den neuen europäischen Finanzaufsichtsstrukturen
zu verbinden und zu synchronisieren. Viel Gestaltungs-
spielraum blieb uns dabei nicht, da es sich im Wesentli-
chen um die Umsetzung von zwingenden EU-Vorgaben
in nationales Recht handelt.
Im Januar dieses Jahres wurde das neue Europäische
Finanzaufsichtssystem, bestehend aus dem Europäi-
schen Ausschuss für Systemrisiken, den drei Europäi-
schen Finanzaufsichtsbehörden EBA, ESMA und
EIOPA sowie dem Gemeinsamen Ausschuss der Euro-
päischen Aufsichtsbehörden, errichtet. Eine wesentliche
Aufgabe dieses neuen Systems ist es, insbesondere die
Zusammenarbeit und Koordination zwischen den natio-
nalen Aufsichtsbehörden und den europäischen Instan-
zen zu verbessern. Das ist deshalb wichtig, weil speziell
die großen, international tätigen Banken ein internatio-
nales Aufsichtssystem brauchen. Nationale Aufsichtsbe-
hörden, die nur isoliert auf ihre eigenen Zuständigkeits-
16272 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Oktober 2011
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bereiche schauen, entsprechen nicht mehr den aktuellen
Anforderungen. Deswegen wurden auf EU-Ebene die
Zusammenarbeit und die Kompetenzen der nationalen
und europäischen Aufsichtsinstitutionen in einer soge-
nannten Omnibusrichtlinie festgeschrieben. Insoweit es
durch die mit der Omnibusrichtlinie vorgenommenen
Änderungen einer Klarstellung oder Änderung der deut-
schen Aufsichtsgesetze bedurfte, wurden diese mit dem
vorliegenden Gesetz umgesetzt.
Zugegeben – das Gesetz erscheint zunächst wenig
spannend und nimmt im Grunde genommen auch ledig-
lich technische Anpassungen vor, die sich streng an den
europäischen Vorgaben orientieren. Lassen Sie mich
dennoch noch einmal kurz schildern, was wir konkret
mit dem Gesetz erreichen werden.
Zunächst einmal wird die Bundesanstalt für Finanz-
dienstleistungsaufsicht, BaFin, in das Europäische
Finanzaufsichtssystem mit eingebunden. Das heißt, dass
die BaFin mit den europäischen Instanzen intensiver und
verpflichtender zusammenarbeiten wird. Dabei wird
auch die Deutsche Bundesbank beteiligt, was ich für
sehr begrüßenswert halte; denn auch die Bundesbank ist
in die laufende Überwachung der Kreditinstitute einge-
bunden. Des Weiteren werden sämtliche Mitteilungs-
und Unterrichtungspflichten, die die BaFin gegenüber
der jeweiligen europäischen Behörde hat, konkretisiert.
Die BaFin ist dann verpflichtet, diese Informationen, die
die europäischen Behörden zur Ausübung ihrer Tätigkei-
ten benötigen, wie beispielsweise die Erlaubniserteilung
oder -entziehung einer bestimmten Bank oder die Kennt-
nis über eine Krisensituation eines Instituts, zur Verfü-
gung zu stellen. Damit einher gehen auch die Anpassun-
gen der Verschwiegenheitsverpflichtungen, die für die
Beschäftigten der Bundesanstalt und vergleichbarer Per-
sonengruppen gelten.
Zudem werden die Verfahren zur Einbeziehung der
Europäischen Aufsichtsbehörden im Falle von Mei-
nungsverschiedenheiten bzw. bei ungenügender Zusam-
menarbeit der nationalen Aufsichtsbehörden festgelegt.
Das heißt selbstverständlich nicht, dass sich die Europäi-
schen Aufsichtsbehörden in die tägliche Arbeit der Be-
hörden der Mitgliedstaaten einklinken und Entscheidun-
gen für sie treffen können. Es bedeutet aber, dass sie
Differenzen zwischen den nationalen Aufsichtsbehörden
verbindlich schlichten könnten, sollten die nationalen
Aufseher keine Einigung finden können. Diese Schlich-
tungsbefugnis gilt aber nur für Bereiche, die in den
Richtlinien im Finanzsektor im Einzelnen definiert sind,
wie beispielsweise bei Fragen zur Anerkennung interner
Modelle oder bei Risikobewertung auf Gruppenebene.
Dies nur vorab – nun aber zur Einschätzung des Geset-
zes:
Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass viele von Ihnen
befürchten, mit den neuen Europäischen Aufsichtsbe-
hörden und dem Gesetz könnte nun wieder eine Verlage-
rung von nationalen Kompetenzen auf die europäische
Ebene erfolgen. Wir sind uns sehr wohl darüber im Kla-
ren, dass insbesondere die kleinen und mittelständischen
Finanzinstitute diese Entwicklung mit Sorge betrachten.
Diese Sorge ist aufgrund der in der Vergangenheit be-
reits erfolgten Kompetenzverlagerungen auch nicht ganz
ungerechtfertigt. Andererseits sehe ich diesbezüglich
aber auch keine wirkliche Alternative. Die Finanzwelt
ist mittlerweile so stark global vernetzt, dass eine iso-
lierte nationale Aufsicht keinen Sinn macht. Wir müssen
daher unbedingt dafür Sorge tragen, dass eine geordnete
und systematische internationale Zusammenarbeit zwi-
schen den Aufsehern erfolgt. Finanz- und Kapitalmarkt-
regulierung muss auf ein europäisches Fundament ge-
stellt werden. Im Prinzip wäre es sogar wünschenswert,
eine wirklich internationale Regelung – zum Beispiel auf
G-20-Ebene – herzustellen.
Ich bin im Übrigen der Meinung, dass es falsch ist,
immer wieder dafür zu kämpfen, möglichst viele Kom-
petenzen in Deutschland zu behalten. Das ist eine Aus-
einandersetzung, die weder zeitgemäß ist, noch zu
brauchbaren Ergebnissen führt. Wir sollten uns deswe-
gen vielmehr dafür einsetzen, die europäischen Institu-
tionen besser und demokratischer zu machen. Unsere
Aufgabe als nationales Parlament muss sein, wichtige
Fragestellungen und Entscheidungen auf Augenhöhe mit
dem Europäischen Rat und dem Europäischen Parlament
zu diskutieren. Unser Ziel muss sein, dadurch ein besse-
res, bürger- und wirtschaftsnäheres Europa auf den Weg
zu bringen.
Darüber hinaus gibt es aber noch einen weiteren
Punkt, den wir im parlamentarischen Verfahren noch mit
diesem Gesetz auf den Weg bringen wollen: die Anpas-
sung der Vergütungsstrukturen des BaFin-Exekutiv-
direktoriums. Vorgesehen ist, dass die Mitglieder dieses
Direktoriums künftig nicht mehr als Beamte, sondern in
einem öffentlich-rechtlichen Amtsverhältnis ihren Beruf
ausüben können.
Wie Sie wissen, wird der derzeitige BaFin-Chef noch
in diesem Herbst in Rente gehen. Eine Nachfolge muss
entsprechend frühzeitig geregelt werden. Sie wissen
auch, dass die marktüblichen Vergütungen für Kandida-
ten, welche diesem Amt gewachsen sind und die die ent-
sprechenden Qualifikationen mit sich bringen, über die
derzeitige für dieses Amt vorgesehene Beamtenbesol-
dungsstufe hinausgehen. Nun kann man sich natürlich
fragen, warum diese Regelung dem Gesetz zur Stärkung
der nationalen Finanzaufsicht, welches für Anfang
nächsten Jahres vorgesehen ist, vorgezogen werden
sollte. Im Grunde genommen hätten wir das auch nicht
gemacht. Allerdings ist für die Nachbesetzung des
BaFin-Postens Eile geboten. Für eine Nachbesetzung
zum 1. Januar 2012 bedarf es schon vor Inkrafttreten des
Gesetzes zur Stärkung der deutschen Finanzaufsicht ei-
ner Rechtsgrundlage für die Zahlung eines von der Be-
amtenvergütung abweichenden Gehalts. Im Übrigen
schaffen wir damit keinesfalls einen Präzedenzfall; denn
ähnliche Regelungen wurden bereits bei der Bundesnetz-
agentur und der Bundesagentur für Arbeit getroffen.
Wir sind der Meinung, ein gutes Gesetz geschaffen zu
haben, was uns wieder ein Stück im Bereich Finanz- und
Kapitalmarkregulierung weiterbringt und daher möchte
ich Sie auch bitten, dem Gesetzentwurf zuzustimmen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Oktober 2011 16273
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Peter Aumer (CDU/CSU): Die Finanzkrise hat uns
erhebliche Schwächen in der EU-Finanzaufsicht aufge-
zeigt. Nachteilige Entwicklungen auf den Finanzmärk-
ten wurden nicht vorhergesehen und die Häufung unver-
tretbar hoher Risiken nicht unterbunden. Ferner war die
Zuständigkeit für die makroprudenzielle Aufsicht unklar
und wurde von mehreren Behörden auf unterschiedlicher
Ebene wahrgenommen. Es bestand kein System, wel-
ches Risiken auf Makroebene erkannte und konkrete
Warnungen und Weisungen herausgab.
Aufgrund dieser Schwächen schlug die durch die Eu-
ropäische Kommission eingesetzte Expertengruppe um
Jaques de Larosière in ihrem im Februar 2009 erschiene-
nen Bericht die Neustrukturierung der Aufsicht sowie
die Schaffung eines Europäischen Systems der Finanz-
aufsicht, ESFS, vor. Diese Anregungen setzte die Kom-
mission in ihrem darauf folgendem Gesetzgebungsvor-
schlag nahezu vollständig um. Nach erfolgreicher
Abstimmung im Rat und im Europäischen Parlament
nahm das neue Aufsichtssystem seine Arbeit planmäßig
am 1. Januar 2011 auf.
Das neue Finanzaufsichtssystem umfasst demnach
zwei Bereiche: Zum einen wurde ein Europäischer Aus-
schuss für Systemrisiken gegründet, welcher für die Auf-
sicht auf makroprudenzieller Ebene verantwortlich ist.
Die Hauptaufgabe dieser Einrichtung besteht in der Über-
wachung und Bewertung von systemischen Risiken in der
EU. Zum anderen wurden drei neue Aufsichtsbehörden
zur mikroprudenziellen Überwachung, nämlich die Euro-
päische Bankenaufsichtsbehörde, EBA, die Europäische
Wertpapieraufsichtsbehörde, ESMA, und die Europäische
Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die be-
triebliche Altersversorgung, EIOPA, gegründet. Darüber
hinaus wurde auch ein behördenübergreifender gemeinsa-
mer Ausschuss der Europäischen Aufsichtsbehörden, ein
Joint Committee, ein Teil dieses Systems.
Die Umsetzung des zugrunde liegenden EU-Rechts-
setzungspakets erfolgte durch fünf EU-Verordnungen
zur Errichtung der genannten EU-Behörden und Aus-
schüsse sowie durch die sogenannte Omnibusrichtlinie I.
Mit der Omnibusrichtlinie I wurden elf bestehende EU-
Richtlinien im Finanzmarktbereich an die neuen EU-Fi-
nanzaufsichtsstrukturen angepasst. Dabei waren die Än-
derungen der EU-Richtlinien erforderlich, um die Ein-
bindung der neuen Strukturen in die gegebenen EU-
Finanzmarktregelungen sicherzustellen und ein rei-
bungslos funktionierendes Europäisches Finanzauf-
sichtssystem zu gewährleisten.
Der vorliegende Gesetzentwurf beinhaltet Anpassun-
gen der deutschen Finanzaufsichtsgesetze, die zur Um-
setzung der Omnibus-I-Richtlinie notwendig sind. Die
EU-Aufsichtsstrukturen gelten bereits seit Inkrafttreten
der Verordnungen. Die jetzige Anpassung der deutschen
Aufsichtsgesetze erfolgt lediglich aus Gründen der Klar-
stellung oder insoweit, als dass die nationalen Gesetze
den EU-Verordnungen entgegenstehen. Wesentliche Re-
gelungen aus deutscher Sicht sind dabei die Einbindung
der BaFin in das Europäische Finanzaufsichtssystem, die
Konkretisierung der Mitteilungs- und Unterrichtungs-
pflichten der BaFin gegenüber den europäischen Auf-
sichtsbehörden und die Konkretisierung des Verfahrens
zur Einbeziehung der europäischen Aufsichtsbehörden
bei Meinungsverschiedenheiten oder mangelnder Zu-
sammenarbeit zwischen den nationalen Aufsichtsbehör-
den.
Mit dem neuen europäischen Aufsichtssystem ESFS
wird die EU der zunehmenden Verflechtung der interna-
tionalen Finanzmärkte gerecht. Vor allem die Einsetzung
des ESRB, als einer makroprudenziellen Aufsicht, füllt
eine Lücke der bisherigen Aufsichtsstruktur. Auch die
neuen Aufsichtsbehörden, als die mikroprudenzielle
Aufsicht, stellen eine bedeutende Verbesserung zu den
vorherigen Level-3-Ausschüssen dar. Durch dieses neue
System wird die Kooperation der nationalen Behörden
intensiviert und eine bessere Übersicht über den europäi-
schen Finanzmarkt geschaffen. Die BaFin wird in diesen
Prozess mit eingebunden sein und Informationen bereit-
stellen. Ihr sowie allen anderen nationalen Aufsichtsbe-
hörden, werden verschiedene Mitteilungs- und Auf-
sichtspflichten gegenüber den neuen Aufsichtsbehörden
auferlegt. Diese Neugestaltung der europäischen Auf-
sichtsstruktur ist ein wichtiger und notwendiger Schritt,
um in Zukunft systemische Risiken und negative Ent-
wicklungen auf den europäischen Finanzmärkten schnell
zu entdecken.
Wir haben mit diesem Gesetz einen wichtigen Schritt
in Richtung einer deutlich verbesserten Aufsichtsstruk-
tur in Deutschland und Europa geschaffen. Ich bin davon
überzeugt, dass damit Krisen und Verwerfungen auf den
Finanzmärkten frühzeitig erkannt und bekämpft werden
können.
Manfred Zöllmer (SPD): Am 1. Januar dieses Jahres
haben die drei neuen europäischen Aufsichtsbehörden
für den Finanzsektor ihre Arbeit aufgenommen. Bei ih-
nen handelt es sich um die in London angesiedelte Euro-
päische Bankaufsichtsbehörde, EBA, die in Frankfurt
ansässige Europäische Aufsichtsbehörde für das Ver-
sicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung,
EIOPA, und die Europäische Wertpapieraufsichtsbe-
hörde, ESMA, in Paris. Neben den drei neuen Behörden,
die Banken, Märkte und Versicherungen überwachen,
hat Ende Dezember 2010 bereits der Europäische Aus-
schuss für Systemrisiken seine Arbeit aufgenommen.
Dieser hat die Aufgabe, den gesamten Finanzsektor zu
beobachten, um systemische Gefahren frühzeitig festzu-
stellen.
Damit haben wir europaweit die Aufsicht neu aufge-
stellt, um eventuell auflaufende Risiken im Finanzsys-
tem besser aufzudecken, wie diese bereits im Vorfeld der
Finanzkrise und auf ihrem Höhepunkt beobachtet wur-
den. Denn die qualitative und quantitative Verbesserung
der Aufsicht der Finanzakteure ist eine der zentralen
Lehren, die wir aus der verheerenden Krise ziehen müs-
sen. Banken, Finanzmärkte und Versicherungen agieren
grenzüberschreitend; deshalb muss es neben der nationa-
len auch eine europäische Aufsicht geben.
Das Bundesfinanzministerium hat das Gesetz zur
Umsetzung der Richtlinie vom 24. November 2010 im
Hinblick auf die Errichtung des Europäischen Finanz-
16274 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Oktober 2011
(A) (C)
(D)(B)
aufsichtssystems vorgelegt. Damit werden die nationalen
Finanzaufsichtsgesetze an die neue europäische
Finanzaufsichtsstruktur angepasst. Das Gesetz ermög-
licht und konkretisiert dabei insbesondere die Zusam-
menarbeit der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungs-
aufsicht (BaFin) mit dem neugestalteten europäischen
Aufsichtssystem.
Dies ist notwendig, und so werden eine Reihe von na-
tionalen Gesetzen zum Banken- und Finanzaufsichts-
recht geändert, unter anderem das Kreditwesengesetz,
KWG, das Versicherungsaufsichtsgesetz, VAG, das
Wertpapierhandelsgesetz, WpHG, das Wertpapierpros-
pektgesetz, WpPG, und die Gewerbeordnung GewO. Die
Änderungen dieser Gesetze resultieren letztlich aus der
Umsetzung der entsprechenden Omnibusrichtlinie.
Im Hinblick auf die EU-Verordnungen zur Errichtung
der Europäischen Wertpapieraufsichtsbehörde, ESMA,
sollen in den deutschen Aufsichtsgesetzen Änderungen
vorgenommen werden, die der Klarstellung dienen oder
die wirken, wenn die bisherigen Regelungen den EU-
Verordnungen entgegenstehen. Dazu wird in den deut-
schen Aufsichtsgesetzen Folgendes neu geregelt:
– die Einbindung der BaFin in das Europäische Finanz-
aufsichtssystem;
– die Mitteilungs- und Unterrichtungspflichten der
BaFin gegenüber den europäischen Finanzaufsichts-
behörden;
– Anpassungen der Verschwiegenheitspflichten der Be-
schäftigten der BaFin und vergleichbarer Personen-
gruppen;
– die Einbeziehung der europäischen Finanzaufsichts-
behörden bei Meinungsverschiedenheiten oder man-
gelnder Zusammenarbeit der nationalen Aufsichtsbe-
hörden.
Bisher hat es die Bundesregierung allerdings noch
nicht vermocht, die deutsche Aufsicht zu reformieren.
Die vollmundigen Ankündigungen einer umfassenden
Reform wurden bereits zurückgenommen. Die Hausauf-
gaben sind noch nicht erledigt. Die notwendigen Verän-
derungen müssen deshalb auf der Basis der bestehenden
deutschen Aufsichtsstruktur erfolgen.
In einer schriftlichen Anhörung, die der Finanzaus-
schuss des Deutschen Bundestages durchgeführt hat, er-
klärte die BaFin hierzu, dass sie die Umsetzungsvor-
schläge begrüßt und vorbehaltlos unterstützt.
Auch die Bundesbank spricht in ihrer schriftlichen
Stellungnahme von einer sachgerechten Umsetzung. Die
Bundesbank wird mit einem – nicht stimmberechtigten –
Vertreter an den Sitzungen des Rates der Aufseher bei
der Europäischen Bankenaufsichtsbehörde teilnehmen
können. Sie wird auch in die Arbeit der Arbeitsgruppen
der EBA einbezogen. Die Form der Beteiligung ent-
spricht nach Aussage der Bundesbank ihrer Funktion, da
sie neben ihrer Eigenschaft als Währungsbehörde auch
für die laufende Überwachung der Kreditinstitute verant-
wortlich ist.
Die Finanzkrise, die bis heute nachwirkt und zu im-
mer neuen aktuellen Verstrickungen und Belastungen
führt, hat erhebliche Aufsichtsdefizite auf der Makro-
ebene offenbart. Es ist daher richtig, wenn wir im Rah-
men des neuen Aufsichtssystems die Risiken für die Sys-
temstabilität besser ermitteln und mit einem effizienten
Warnsystem verhindern, dass sich Finanzmarktkrisen
wie 2008 wiederholen. Die bestehende Aufsicht auf Ma-
kroebene war und ist zu stark fragmentiert und musste
daher dringend reformiert werden.
Die Omnibusrichtlinie I hilft mit, die Aufsichtsstruk-
tur europaweit zu verbessern. Die nationalen Aufsichts-
behörden werden mit den europäischen Finanzaufsichts-
behörden besser zusammenarbeiten und diesen nach
Maßgabe der EU-Verordnungen zur Errichtung der Eu-
ropäischen Finanzaufsichtsbehörden alle für die Ausfüh-
rung ihrer Aufgaben erforderlichen Informationen zur
Verfügung stellen. Hierzu werden die genannten natio-
nalen Gesetze geändert, damit die Verpflichtung der
BaFin zur Zusammenarbeit mit den europäischen Fi-
nanzaufsichtsbehörden und zur Weitergabe von Informa-
tionen auch gesetzlich festgelegt ist.
Die Konkretisierung der Mitteilungs- und Unterrich-
tungspflichten der nationalen Aufsichtsbehörden gegen-
über den europäischen Finanzaufsichtsbehörden ist eines
der Kernelemente der Umsetzung zur Verbesserung ei-
ner Finanzaufsichtsstruktur in Europa. Mitteilungs- und
Unterrichtungspflichten, die bisher gegenüber der Euro-
päischen Kommission bestanden, werden nunmehr auf
die europäischen Finanzaufsichtsbehörden ausgeweitet
bzw. werden durch Mitteilungspflichten gegenüber den
europäischen Finanzaufsichtsbehörden ersetzt.
Korrespondierend zu diesen Verpflichtungen der na-
tionalen Aufsichtsbehörden wurden in Art. 35 der EU-
Verordnungen zur Errichtung der Europäischen Finanz-
aufsichtsbehörden und in Art. 15 der EU-Verordnung zur
Errichtung des ESRB den europäischen Finanzaufsichts-
behörden und dem ESRB Informationsansprüche auch
gegenüber den nationalen Aufsichtsbehörden einge-
räumt.
Damit die BaFin diese Informationsansprüche nach
Maßgabe der EU-Verordnungen erfüllen kann, müssen
ihre Beschäftigten und vergleichbare Personengruppen
in den deutschen Aufsichtsgesetzen von ihrer Ver-
schwiegenheitspflicht befreit werden.
Aus diesem Grund sollen der ESRB und die europäi-
schen Finanzaufsichtsbehörden in den deutschen Auf-
sichtsgesetzen in den Katalog der Stellen aufgenommen
werden, an die auch geheimhaltungsbedürftige Informa-
tionen weitergegeben werden dürfen, soweit diese Infor-
mationen zur Erfüllung ihrer Aufgaben benötigt werden.
Die Zusammenarbeit von nationalen und europäi-
schen Aufsichtsbehörden muss reibungslos funktionie-
ren. Es ist daher richtig, wenn zur Gewährleistung einer
effizienten und wirksamen Aufsicht und einer ausgewo-
genen Berücksichtigung der Positionen der nationalen
Aufsichtsbehörden die europäischen Finanzaufsichtsbe-
hörden Differenzen zwischen den nationalen Aufsichts-
behörden – auch in den Aufsichtskollegien – verbindlich
schlichten können, wenn sich die nationalen Aufseher
nicht einigen können oder wollen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Oktober 2011 16275
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Der europäische Gesetzgeber hat dabei Bereiche im
Blick, in denen die Richtlinien Kooperation, Koordina-
tion oder gemeinsame Entscheidungen der nationalen
Aufsichtsbehörden vorsehen. Eine erste Festlegung der
Bereiche ist in der Omnibusrichtlinie I erfolgt. Maßnah-
men, die Gegenstand von Entscheidungen zur Streitbei-
legung sein können, sind im Bankenbereich zum Bei-
spiel die Einstufung von Zweigniederlassungen, die
Anerkennung interner Modelle und die Risikobewertung
auf Gruppenebene.
Des Weiteren würden die in der Omnibusrichtlinie I
vorgeschriebenen Verfahren in die deutschen Aufsichts-
gesetze umgesetzt, nach denen die BaFin handeln muss,
wenn sie als konsolidierende Aufsichtsbehörde an einem
solchen Streit beteiligt ist.
Im Übrigen werden eine Reihe redaktionelle Anpas-
sungen in den deutschen Aufsichtsgesetzen vorgenom-
men.
Die Finanzkrise vom Oktober 2008 hat eine Reihe
von Schwachstellen bei der Einzel- und Systemaufsicht
offengelegt. Diese wurden insbesondere mithilfe des La-
rosière-Berichts analysiert, und Handlungsoptionen und
Verbesserungen wurden empfohlen. Insgesamt wird die
Aufsicht in Europa gestärkt. Die aktuelle Staatsschul-
denkrise und die Probleme um eine Rekapitalisierung
der Banken zeigen uns aber auch, dass eine verbesserte
Aufsicht nur ein – wenn auch wichtiger – Mosaikstein in
einer hinreichenden Regulierung und Aufsicht der Fi-
nanzmärkte bedeutet. Wir sind damit auf einem guten
Weg, die notwendigen aufsichtsrechtlichen Konsequen-
zen aus der Finanzmarktkrise zu ziehen. Die neuen
Strukturen müssen sich jetzt in der Praxis bewähren.
Björn Sänger (FDP): Mit dem vorliegenden Gesetz-
entwurf geht die christlich-liberale Koalition einen wei-
teren Schritt auf dem Weg zu einer funktionierenden eu-
ropäischen Finanzaufsicht. In der Finanzmarktkrise hat
sich die Notwendigkeit eines europäischen Finanzauf-
sichtssystems gezeigt. Die nationalen Aufsichtsbehörden
hatten nicht den wünschenswerten Überblick behalten, um
grenzüberschreitende Probleme zu erkennen. Neben die na-
tionalen Aufsichtsbehörden treten daher nun der Europäi-
sche Ausschuss für Systemrisiken und die Europäischen
Aufsichtsbehörden für den Banken-, den Wertpapier- und
den Versicherungssektor sowie ein behördenübergreifen-
der Gemeinsamer Ausschuss der Europäischen Aufsichts-
behörden.
Damit das Zusammenspiel dieser Behörden mit den na-
tionalen Aufsehern reibungslos funktioniert, wurden zahl-
reiche Gesetzesanpassungen nötig, die wir mit dem vorlie-
genden Gesetz vollziehen: Es werden das Kredit-
wesengesetz, das Wertpapierhandelsgesetz, das Investment-
gesetz, das Börsengesetz, das Versicherungsaufsichtsge-
setz, die Gewerbeordnung, das Finanzdienstleistungsauf-
sichtsgesetz und das Geldwäschegesetz geändert, um
unsere nationale Aufsicht in das neue europäische Finanz-
aufsichtssystem zu integrieren. So werden Mitteilungs- und
Unterrichtungspflichten seitens der BaFin gegenüber den
europäischen Aufsichtsbehörden geregelt, Anpassungen
der Verschwiegenheitspflichten, die für die nationalen Auf-
seher gelten, vorgenommen und die Einbeziehung der Eu-
ropäischen Finanzaufsichtsbehörden geregelt, wenn es zwi-
schen nationalen Aufsichtsbehörden Meinungsverschie-
denheiten oder mangelnde Zusammenarbeit gibt.
All dies ist absolut begrüßenswert, was auch der Be-
ratungsprozess des Gesetzes zeigte. Während uns übli-
cherweise kontroverseste Stellungnahmen von Sachver-
ständigen erreichen und im Beratungsprozess heftig
debattiert wird, gibt es hier fraktionsübergreifende Zu-
stimmung, und die Änderungen werden allseits als rich-
tig und notwendig erachtet.
Die seitens der Opposition angeregte Beobachtung
des europäischen Finanzaufsichtssystems werden wir
selbstverständlich vornehmen, und wir werden gegebe-
nenfalls Nachbesserungen umgehend in die Wege leiten,
sollte es in so einem komplexen, neugeborenen Finanz-
aufsichtssystem an der einen oder anderen Stelle noch
nicht optimal laufen.
Anfangsschwierigkeiten bei solch einem Neubeginn
wären aber wenig überraschend und sind gegebenenfalls
auch der noch bei weitem nicht ausreichenden Personal-
decke geschuldet. Es erscheint geradezu abenteuerlich,
mit wie wenig Personal etwa die Europäische Banken-
aufsichtsbehörde, EBA, europaweite Bankenstresstests
durchführt. Hört man seitens der Banken dann lautes
Klagen darüber, dass die Zusammenarbeit extrem
schwierig verlaufen sei und dass auch die Zusammenar-
beit zwischen nationalen Aufsehern und der EBA nicht
optimal war, dann habe ich noch die Hoffnung, dass sich
all dies im Laufe der Zeit einspielen wird, wenn es auf
europäischer Ebene eine adäquate Personaldecke gibt.
Um die besten Aufseher zu bekommen, muss man ge-
gebenenfalls aber auch seitens der finanzierenden Ban-
kenverbände entsprechende Mittel zur Verfügung stel-
len.
Bei der ebenfalls in diesem Gesetz geänderten
Rechtsstellung des Exekutivdirektoriums unserer natio-
nalen Aufseher, der Bundesanstalt für Finanzdienstleis-
tungsaufsicht, hat dies ausnahmsweise einmal geklappt.
Doch war dafür auch entsprechender Druck nötig, mit
dem zuvor bereitstehenden Mitteln nicht die optimale
Besetzung für eine Personalie im Exekutivdirektorium
finden zu können. Zu gegebener Zeit sollten wir deswe-
gen einmal grundlegend über die Finanzierung und Mit-
telausstattung unserer Aufsichtsbehörden nachdenken.
In manchen Ländern werden Gehälter gezahlt, die auf
Augenhöhe mit jenen sind, die von Finanzinstituten ge-
zahlt werden. Nur so kann eigentlich gewährleistet wer-
den, die besten Mitarbeiter der Finanzbranche zu be-
kommen und auch einen Austausch zwischen Banken
und Aufsichtsbehörden zu fördern, um genug Expertise
bei den Aufsichtsbehörden anzusiedeln.
Das werden wir uns alles anschauen. Ein wichtiger
Schritt auf dem Weg zu einem optimalen europäischen
Finanzaufsichtssystem mit funktionierender Zusammen-
arbeit nationaler Behörden ist mit diesem Gesetz getan.
Dr. Axel Troost (DIE LINKE): Es ist unbestritten,
dass wir eine bessere Aufsicht gerade für grenzüber-
16276 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Oktober 2011
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(D)(B)
schreitend tätige Finanzinstitute brauchen. Somit ist die
Einrichtung des neuen europäischen Finanzaufsichtssys-
tems ein Fortschritt. Mit dem vorliegenden Gesetz wer-
den die europäischen Aufsichtsbehörden besser mit den
Aufsichtssystemen der EU-Mitgliedstaaten verdrahtet.
Es ist dabei ein europäisches Umsetzungsgesetz ohne
großen Spielraum für die nationalen Parlamente. Inso-
fern wäre es falsch, jetzt einen großen Streit an der Um-
setzung einer Richtlinie zu entzünden; der Beschluss
hierfür ist in Brüssel gefallen.
Dem vorliegenden Gesetz stimmen wir zu. Mit dem
bisher Erreichten sind wir aber nicht zufrieden. Die Auf-
sicht muss noch beträchtlich gestärkt werden, damit das Fi-
nanzsystem wieder integer wird und Krisen möglichst un-
terbunden werden. Es gibt weiterhin viel zu wenig direkte
Eingriffsmöglichkeiten, um gegen Spekulation und Bla-
senbildung auf den Finanzmärkten vorgehen zu können.
Zusätzlich zur europäischen Aufsicht muss auch die natio-
nale Aufsicht gestärkt werden. Für das Schattenfinanzsys-
tem darf es keine Schattenfinanzaufsicht geben; es muss
aufgelöst werden.
Die neu geschaffenen europäischen Behörden sind
unzureichend mit Rechten und Ressourcen ausgestattet.
Der Finanzaufsicht fehlen auch Spezialabteilungen oder
-behörden. Die USA haben etwa eine eigene Aufsichts-
behörde für Warentermingeschäfte: die CFTC mit knapp
700 Vollzeitmitarbeitern, also dem Zehnfachen der
ESMA.
Die personelle Ausstattung der Behörden ist auch
deswegen unzureichend, weil den Aufsichtsbehörden
besondere Kompetenzen zugebilligt werden, um an Ver-
ordnungen oder anderen Rechtsakten mitzuwirken und
Entwürfe zu erstellen. Das Gesetz berücksichtigt nicht
das damit zusammenhängende Problem der unzurei-
chenden Mitwirkung des Bundestages an europäischen
Rechtsakten. Es droht ein Durchregieren von europäi-
schen Gremien und Behörden. Für transnationale Ban-
ken ist eine europäische Aufsicht mit starken Durch-
griffsrechten wünschenswert. Für regional agierende
Banken – ich denke hier vor allem an unsere Sparkassen
und Genossenschaftsbanken – sehe ich nicht gewährleis-
tet, dass die EBA willens und fähig ist, nationale Eigen-
heiten immer mitzudenken.
Neben den Aufsichtsbehörden für Banken, Versiche-
rungen und Finanzmärkte ist auch die Aufgabe des Euro-
pean Systemic Risk Boards, ESRB, wichtig, nämlich die
Überwachung des Finanzsystems aus gesamtwirtschaft-
licher Perspektive. Die Arbeitsweise des ESRB ist je-
doch intransparent, und es ist wenig darüber bekannt,
wie es die Vorgänge auf den Finanz- und Kapitalmärkten
einschätzt. Eine Beurteilung der Arbeit dieses Ausschus-
ses ist kaum möglich.
Das vorliegende Gesetz wurde zuletzt noch geändert,
um die neu zu besetzende BaFin-Spitze besser bezahlen
zu können, als es der Beamtentarif erlaubt. Wer aber be-
hauptet, dass sich nun Aufsicht und Beaufsichtigte auf
Augenhöhe begegnen, irrt sich. Die Fantasiegehälter in
der Finanzbranche müssen endlich auf ein akzeptables
Niveau zurückgebracht werden. Dann muss auch eine
BaFin-Präsidentin nicht mehr verdienen als eine Bun-
deskanzlerin.
Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Das neue Europäische Finanzaufsichtssystem ist ein
wichtiger Schritt hin zu einer echten europäischen
Finanzaufsicht, die angesichts eines bereits sehr hohen
Maßes an integrierten, also europaweit und über Gren-
zen hinweg agierenden Finanzmärkten und -instituten
auch dringend erforderlich ist.
Insbesondere das Mandat der neuen Bankenaufsichts-
behörde EBA, für eine einheitliche Entwicklung und
Anwendung des EU-Aufsichtsrechts zu sorgen und
durchzusetzen, wird hoffentlich dazu beitragen, dass
künftig kurzsichtige „Race-to-the-Bottom“-Strategien in
der Finanzmarktregulierung zur vermeintlichen Ent-
wicklung des eigenen Finanzplatzes nicht mehr möglich
sind: In Irland haben wir gesehen, wie unglaublich teuer
und riskant solche Strategien letztlich sind – für Irland,
aber auch alle anderen Länder in Europa und ihre Steuer-
zahlerinnen und Steuerzahler.
Auch dass die neue Wertpapieraufsichtsbehörde
ESMA weitreichende Befugnisse hat, zum Beispiel bei
der Aufsicht über Ratingagenturen oder um den Handel
mit gefährlichen Finanzprodukten auszusetzen, etwa bei
ungedeckten Leerverkäufen, ist eine gute Nachricht und
ein echter Fortschritt.
Insgesamt werden wir daher der Reform zustimmen.
Allerdings weist die neue europäische Finanzauf-
sichtsarchitektur auch viele Schwächen auf, die es gilt in
nächster Zeit zu beheben:
Dazu gehört, dass die EBA im Fall von ernsten Ban-
kenschieflagen nicht wirklich handlungsfähig ist. Zwar
darf sie im Krisenfall – den jedoch nicht sie selbst, son-
dern der Rat feststellt – nationale Aufsichten und Insti-
tute zu bestimmten Krisenmaßnahmen verpflichten und
das Krisenmanagement koordinieren, allerdings nur,
wenn hierbei nicht in die haushaltspolitische Kompetenz
der Mitgliedstaaten eingegriffen wird. Im Zweifel wird
damit also doch alles beim Alten bleiben: Statt einer kos-
tenminimierenden Koordination des Krisenmanage-
ments über Ländergrenzen hinweg wird es im Ernstfall
weiter wie bisher – wie zum Beispiel im Fall Fortis zu
beobachten war – ein unkoordiniertes, an nationalen
Grenzen aufgehängtes und so potenziell krisenverschär-
fendes und damit teurer als nötiges Eingreifen geben.
Was wir hier dringend brauchen, sind Vereinbarungen
über die Aufteilung von Krisenkosten, am besten gelöst
über eine europäische Bankenabgabe und einen europäi-
schen Bankenrettungsfonds. Ziel muss die Weiterent-
wicklung der EBA zu einem echten und schlagkräftigen
Krisenmanger sein. Die überfällige EU-Initiative zur
Entwicklung eines Bankenabwicklungsregimes bietet
hier Gelegenheit zur institutionellen und rechtlichen
Fortentwicklung. Diese Gelegenheit müssen wir nutzen!
Zu denken gibt auch die ressourcenmäßige Ausstat-
tung der neuen EU-Aufsichtsbehörden: Wie soll es die
ESMA mit einem Personalkörper von gerade einmal
60 Personen schaffen können, all ihren Aufgaben ge-
recht zu werden? Allein für eine echte Aufsicht über die
Ratingagenturen – und das ist nur eine kleine Teilauf-
gabe der ESMA – wäre nahezu der gesamte Personalbe-
stand nötig. Und die EBA soll sogar mit nur 45 Mitarbei-
tern auskommen – bei einem Aufgabenkatalog, der nicht
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Oktober 2011 16277
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kleiner als jener der ESMA ist. Hinsichtlich der Perso-
nalausstattungen muss also noch deutlich nachgelegt
werden, wenn die neuen Behörden nicht schnell den
zweifelhaften Ruf eines zahnlosen Tigers erhalten sollen
und die nächste Krise verhindert werden soll.
Eine weitere Schwäche betrifft die Zersplitterung der
drei neuen Aufsichtsbehörden ESMA, EBA und EIOPA
über die drei Standorte Paris, London und Frankfurt am
Main. Das ist unlogisch, kurzsichtig und nationalen
Eitelkeiten geschuldet: Effizienz- und Reibungsverluste
sind hier bereits vorprogrammiert. Mittelfristig wird es
darum gehen müssen, die drei Institutionen an einem
Standort zusammenzuführen, um eine optimale Zusam-
menarbeit zu ermöglichen.
Zu den Schwächen des neuen EU-Finanzaufsichtssys-
tems gehört ferner, dass wir mit dem European Systemic
Risk Board, ESRB, zwar eine neue Einrichtung zur Ana-
lyse und Beobachtung sogenannter makroprudenzieller
Risiken geschaffen haben, was zweifellos eine richtige
Entscheidung und eine wichtige aufsichtliche Ergänzung
ist. Allerdings wirft Fragen auf, dass sich Europa derzeit
in einer existenziellen Staatsschuldenkrise befindet, der
ESRB allerdings noch kein einziges Mal zu diesem Sys-
temrisiko erheblicher Relevanz wirklich vernehmbar
Stellung bezogen hat. Das zeigt: Ein wesentlicher Teil
des neuen Europäischen Finanzaufsichtssystems ist fast
ein Jahr nach dem Startschuss entweder noch nicht ar-
beitsfähig oder die Governance-Strukturen dieses Gre-
miums verhindern eine klare Positionierung in dieser
Frage. Beides wäre äußerst bedenklich und gibt Anlass
zur Sorge.
Insgesamt muss es nach meiner Überzeugung in der
mittleren Perspektive bei dem EU-Aufsichtssystem da-
rum gehen, die komplette laufende Bankenaufsicht über
grenzüberschreitend aktive Institute auf EU-Ebene zu
verlagern. Dafür sollten die nationalen Aufsichtsbehör-
den für national und regional agierende Banken zustän-
dig sein. Denn es gibt ja auch zu Recht Klagen, dass die
EBA wenig geneigt sein dürfte, die Besonderheiten re-
gionaler Institute in Deutschland zu beachten. Und in der
Tat stellt sich ja die Frage, ob es sinnvoll ist, dass in Lon-
don Regeln für eine Volksbank wie diejenige in Mann-
heim-Sandhofen erlassen werden.
Für eine sinnvolle Aufsichtsarchitektur in Europa ist
also noch einiges zu tun. Das Gleiche gilt übrigens auch in
Deutschland: Noch immer sind die großspurigen Ankün-
digungen aus dem Koalitionsvertrag unerfüllt, die Finanz-
aufsicht in Deutschland neu aufzustellen. Eine systemati-
sche Aufarbeitung der in der Finanzkrise sichtbar
gewordenen Schwächen hat bis heute nicht stattgefunden.
Anlage 6
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts: Zivilpersonal in Konflikten besser be-
treuen (Tagesordnungspunkt 19)
Michael Brand (CDU/CSU): Aus eigenen Gesprä-
chen und eigener Erfahrung kann und will ich für mich
persönlich und für die gesamte Unionsfraktion zu Be-
ginn etwas bekunden: nämlich hohen Respekt vor dem
Engagement und vor dem Beitrag vieler ziviler Akteure
aus humanitären und anderen Nichtregierungsorganisa-
tionen in Konfliktgebieten.
Sowohl in der Prävention als auch während akuter
Konflikte wie auch in Postkonfliktphasen sind zivile An-
sätze von zivilen Partnern immer wieder wichtige Bei-
träge zur Beruhigung, Befriedung oder Aussöhnung in
schwebenden oder schwelenden Konflikten.
Dabei haben die entsendenden Organisationen die
große Verantwortung, bei der Auswahl der Personen wie
bei der Vorbereitung und auch bei der Nachbereitung
von Einsatzzeiten die umfassende Betreuung des Perso-
nals zu gewährleisten.
Dies gilt umso mehr, wenn im Rahmen auch öffent-
licher Hilfestellung die Allgemeinheit diese Einsätze mit
unterstützt. Die Unionsfraktion und die Koalition insge-
samt unterstützen in diesem Zusammenhang den
Schwerpunkt, den die Bundesregierung auf die zivilen
Komponenten der Konfliktlösung legt, sehr nachdrück-
lich.
Auch ist bekannt, dass diese Einsätze für das Personal
neben dem erfüllenden Gefühl, aktiv bei Konfliktbewäl-
tigung helfen zu können, auch Belastungen, im Einzel-
fall schwere Belastungen, mit sich bringen. Hier ist das
professionelle und persönliche Umfeld oftmals sehr ge-
fragt, berufliche und seelische Hilfestellung zu leisten.
Soweit die Antragsteller nun das Ansinnen verfolgen,
aus den Berichten über solche unstreitig vorhandenen
Fällen unmittelbar einen Maßnahmenkatalog mitsamt
Evaluierungsauftrag und finanzieller Hilfe beim Berufs-
umstieg oder Wiedereinstieg in den Beruf in Deutsch-
land und weitere Maßnahmen der Bundesregierung ab-
zuleiten, so kann, bei allem Respekt vor der Leistung der
zivilen Helferinnen und Helfer, diesem Ansinnen des-
halb nicht entsprochen werden, weil es zunächst in die
Verantwortung der für Auswahl und Entsendung verant-
wortlichen Organisationen wie auch die persönliche Ver-
antwortung der zivilen Personen selbst gelegt werden
muss, nach Eignung und Belastungsfähigkeit die Zeit
nach der Rückkehr mit in Betracht zu ziehen.
Die Bundesregierung hat für die Bundeswehrangehö-
rigen die volle Verantwortung, wenn sie Soldatinnen und
Soldaten in teils lebensgefährliche Einsätze schickt. Im
Rahmen der hier gegebenen besonderen Fürsorgepflicht
und der freien Heilfürsorge für Angehörige der Bundes-
wehr ist die Nachsorge bis hin zur psychologischen Be-
treuung logische Folge der Verpflichtung von militäri-
schem Personal zur Prävention oder zur Eindämmung
von Konflikten oder zur Stabilisierung in Postkonflikt-
situationen.
Die im zivilen Einsatz tätigen Personen bedürfen ei-
ner zivilen Struktur der Verantwortlichkeit, in der diese
Netze ebenfalls eingerichtet sind bzw. noch eingerichtet
werden müssen. Das deutsche Sozial- und Gesundheits-
system hält in seiner differenziert aufgefächerten Struk-
tur sehr unterschiedliche Möglichkeiten der persönlichen
und institutionellen Betreuung von Menschen mit psy-
16278 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Oktober 2011
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(D)(B)
chischen Belastungen bereit. Ebenso sind die arbeits-
marktpolitischen Instrumente zur Wiedereingliederung
in das Berufsleben im Bereich der Bundesagentur wie
bei öffentlichen und privaten Arbeitgebern bis hin zu
den kirchlichen Diensten stark ausgeformt und weithin
institutionalisiert und transparent zugänglich.
Darüber hinaus sind die Plattformen und Netzwerke
für zivile Kriseneinsätze gerade im Internetzeitalter breit
zugänglich und bieten eine gute Möglichkeit zum Aus-
tausch und zur weiteren, vertieften Kontaktaufnahme für
Rückkehrerinnen und Rückkehrer wie für Personen vor
der Reise in die Einsätze.
Dieses plurale Angebot freier, privater Anbieter ist in
manchen Bereichen sogar dem Angebot der internen Or-
ganisation der Bundeswehr in punkto Einzelfall voraus.
Kein Mensch kann grundsätzlich dem Ansinnen wi-
dersprechen, dass es für Zivilpersonal in Krisengebieten
eine intensive Betreuung geben muss. Dies ist sicher
auch weiter auszubauen. Ob dies zwingend einer Initia-
tive der Bundesregierung bedarf, ist zweifelhaft und
muss als derzeit nicht geboten betrachtet werden. Die
Beschlussvorlage heute ist leider nicht zustimmungsfä-
hig.
Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU): Die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen stellt in ihrem Antrag zutreffend
fest, dass es einen zunehmenden Bedarf an zivilen Fach-
kräften zur Bewältigung von Konflikten im Ausland
gibt. Allerdings zeichnet der Antrag schon in der Be-
standsaufnahme aus zwei Gründen ein schiefes Bild.
Erstens ist eine effiziente Betreuung des zivilen Per-
sonals durch die Entsendeeinrichtungen wie beispiels-
weise die Gesellschaft für Internationale Zusammenar-
beit, GIZ, und das Zentrum für Internationale
Friedenseinsätze, ZIF, sehr wohl gewährleistet. Dies
schließt auch die Betreuung von Menschen mit psycho-
logischen Problemen in Einzelfällen ein. Zweitens sind
nicht, wie der Antrag glauben machen will, psychische
Probleme ein neues Massenproblem ziviler Experten,
die in Krisenregionen ihren Dienst tun.
Lassen Sie mich klarstellen: Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter der Entwicklungszusammenarbeit und hu-
manitärer Organisationen sind ebenso wie Richterinnen
und Richter, Polizistinnen und Polizisten sowie andere
zivile Experten ein wichtiger, ja unverzichtbarer Be-
standteil europäischer Sicherheitspolitik. Erst in dem
engen Zusammenspiel von militärischen und zivilen
Kräften können Krisen und Konflikte erfolgreich ange-
gangen werden.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang kurz auf
den ressortübergreifenden Aktionsplan „Zivile Krisen-
prävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung“
verweisen. Ziel dieses Aktionsplans ist, Krisenpräven-
tion als politische Querschnittsaufgabe auf staatlicher
und gesellschaftlicher Ebene zu verankern. Die Bedeu-
tung der zivilen Krisenprävention für die Bundesregie-
rung unterstreicht die Aufstockung der Mittel hierfür:
Für 2012 sind circa 78 Millionen Euro vorgesehen.
Vor diesem Hintergrund ist der Bundesregierung stets
daran gelegen, qualifiziertes ziviles Personal zu interna-
tionalen Friedenseinsätzen der UN, EU und OSZE zu
entsenden. Derzeit sind etwa 250 deutsche zivile Exper-
ten in Krisen- und Konfliktgebieten aktiv, die zum größ-
ten Teil direkt aus Bundesmitteln bezahlt werden.
In ihrem Antrag nennt die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen zutreffend das Zentrum für Internationale Frie-
denseinsätze als wichtige Entsendeeinrichtung für zivile
Experten. Das ZIF hat zur Aufgabe, aus sehr hohen Be-
werberzahlen diejenigen, die am besten qualifiziert und
geeignet sind, auszuwählen. Diese zivilen Experten wer-
den dann in einem deutschlandweiten Expertenpool ge-
führt, aus dem sie jederzeit für jegliche Art von Auslands-
einsätzen in Krisen und Konfliktregionen in den Dienst
der EU, der UN oder der OSZE überstellt werden kön-
nen.
Des Weiteren ist es Aufgabe des ZIF, die zivilen Ex-
perten durch mehrwöchige Ausbildungs- und Vorberei-
tungsseminare zu schulen. Wenn es ein Einsatz aller
Wahrscheinlichkeit nach erfordert, werden die zivilen
Experten vor ihrer Abreise noch zusätzlich in Kursen ge-
schult, die auch psychologische Kompetenz in akuten
Krisensituationen, wie beispielsweise einer Entführung,
vermitteln. Auch während ihres Einsatzes in der Krisen-
region steht das ZIF den zivilen Experten als Ansprech-
partner für jegliche Problemstellung zur Seite. Die Be-
treuung kann dabei von ganz pragmatischen, alltäglichen
Fragen bis hin zur psychologischen Betreuung in persön-
lichen Notlagen reichen. Auch nach ihrer Rückkehr ist
das ZIF weiterhin für die zivilen Experten da und ver-
sucht auch, bei der Wiedereingliederung in den deut-
schen Arbeitsmarkt behilflich zu sein.
Lassen Sie mich der Vollständigkeit halber noch kurz
auf die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit
zu sprechen kommen, die für entwicklungspolitische
Projekte auch weltweit deutsche zivile Experten in Kon-
fliktgebiete entsendet. Die GIZ lässt bei der Auswahl
und Vorbereitung der zivilen Experten ebenso Sorgfalt
walten wie das ZIF. Dabei kann die GIZ auf mittlerweile
50 Jahre Erfahrung zurückgreifen.
Abgesehen von der wichtigen Arbeit der Entsende-
einrichtungen was Schulung und Betreuung angeht,
möchte ich an dieser Stelle auch auf die spezifischen
Qualitäten der zivilen Experten verweisen. Zunächst ein-
mal sprechen hohe Bewerberzahlen für das große Inte-
resse an dieser Tätigkeit. Deutsche zivile Fachkräfte, die
in Krisenregionen zum Einsatz kommen, verfügen in der
Regel über eine mehrjährige Expertise in ihrem spezifi-
schen Arbeitsfeld. Neben der fachlichen Qualifikation
sind auch hohe Anforderungen an Sozialkompetenz und
persönliche Eignung Einstellungskriterien. Deutsche zi-
vile Experten zeichnen sich durch beides gleichermaßen
aus. Der zivile Experte ist also nicht nur fachlich kompe-
tent, sondern auch hochmotoviert, emotional gefestigt
und durch die Entsendeeinrichtung so gut wie möglich
auf den Einsatz vorbereitet.
Dies schließt natürlich einzelne Fälle psychosozialer
Probleme nicht aus. Es ist aber keinesfalls so, dass dies
inzwischen ein Massenphänomen unter den zivilen Ex-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Oktober 2011 16279
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(D)(B)
perten wäre. Im Gegenteil: Im Vergleich zu Soldaten in
gefährlichen Einsätzen spielen derartige Probleme bei
zivilen Experten nachweislich bislang eine eher geringe
Rolle. Dort, wo zivile Experten psychosoziale Probleme
haben, stehen ihnen die Entsendeeinrichtungen fachkun-
dig zur Seite.
Der Antrag der Grünen geht somit von einer falschen
Ausgangslage aus und schießt deshalb weit über das Ziel
hinaus.
Der Schwerpunkt der Nachbetreuung des zivilen Per-
sonals muss in der Hilfestellung für den Wiedereinstieg
in den deutschen Arbeitsmarkt liegen. Hierzu müssen al-
lerdings nicht, wie in dem Antrag gefordert, mehr Steu-
ergelder ausgegeben werden. Vielmehr kommt es darauf
an, die Zusammenarbeit zwischen der Wirtschaft und
den Entsendeeinrichtungen, insbesondere dem ZIF, zu
fördern.
Edelgard Bulmahn (SPD): Konflikte, die drohen, in
gewalttätige oder kriegerische Auseinandersetzungen zu
münden, können nicht mit militärischen Mitteln gelöst
werden. Militärische Interventionen können im Falle
von Bürgerkriegen, Völkermord oder anderen kriegeri-
schen Auseinandersetzungen höchstens einen Waffen-
stillstand erzwingen oder Bevölkerungsgruppen schüt-
zen, um so politische Verhandlungen wieder zu
ermöglichen.
Zivile Krisenpräventionspolitik ist daher der entschei-
dende Weg, um Konflikte zu entschärfen und sie einer
politischen Lösung zuzuführen. Erfolgreiche Maßnah-
men von Krisenprävention, Konfliktbearbeitung und
Friedenskonsolidierung lassen sich nur mit ressortüber-
greifenden zivilen Instrumenten und Maßnahmen errei-
chen. Die Debatte um Peacebuilding-Missionen – sei es
nun in den Vereinten Nationen, der EU, der OSZE oder
anderen Organisationen – dreht sich dabei im Wesentli-
chen um Fragen des politischen Mandates, des Budgets
oder der Logistik. Die Frage des notwendigen und aus-
reichend qualifizierten Personals für die erforderlichen
Aufgaben wird meist nachrangig diskutiert. Doch dies
ist falsch, denn motiviertes und besonders gut ausgebil-
detes Personal ist der Schlüsselfaktor für erfolgreiche
Friedensmissionen.
Der Personalbedarf internationaler Friedenseinsätze
steigt ständig, quantitativ wie auch qualitativ. Ursache
dafür ist die Zunahme von personalintensiven und in der
Fläche präsenten Missionen, Damit einhergehen immer
ein erhöhter Bedarf an zivilem Personal und sich ver-
schärfende Probleme bei der Gewinnung dieses Perso-
nals. Alleine im vergangenen Jahr waren weltweit fast
12 000 zivile Fach- und Führungskräfte in Missionen der
UN, der EU oder der OSZE in den verschiedenen Kri-
senregionen der Welt tätig. Dabei erstreckt sich ihr Auf-
gabenspektrum von der Beratung von Politik und Ver-
waltung über Grenzkontrollen bis hin zur Unterstützung
und Ausbildung im Bereich von Polizei oder Justiz.
Neben der Notwendigkeit einer verbesserten Perso-
nalgewinnung dürfen wir aber auch nicht aus den Augen
verlieren, dass Auslandseinsätze, insbesondere in Kri-
senregionen, oft mit besonderen physischen und psychi-
schen Belastungen und Risiken verbunden sind. Was für
den Einsatz von Soldaten der Bundeswehr zu einem gro-
ßen Teil bereits berücksichtigt wird, findet mit Blick auf
ziviles Personal noch immer zu wenig Anerkennung.
Auch zivile Helfer und Fachkräfte sind bei ihrem Einsatz
konfrontiert mit brutalster Gewalt, mit Verfolgung und
ihren Auswirkungen auf Menschen und ihr Zusammen-
leben. Sie erleben Hunger und Elend aus nächster Nähe
und sind mit der Verarbeitung ihrer Erlebnisse während
des Einsatzes und darüber hinaus oftmals allein gelas-
sen.
Wenn die zivile Krisenprävention eines der wesent-
lichsten Kennzeichen deutscher Friedens- und Außen-
politik sein soll, dann müssen wir auch die Menschen,
die vor Ort in beeindruckender Art und Weise dafür ein-
stehen, besser betreuen und unterstützen. Mit der Ein-
richtung des Zentrums für Internationale Friedensein-
sätze, dem ZIF, ist im Rahmen des rot-grünen
Aktionsplanes „Zivile Krisenprävention, Konfliktbear-
beitung und Friedenskonsolidierung“ hierfür ein wesent-
licher Grundstein gelegt worden. Das ZIF hat in den ver-
gangenen fast zehn Jahren seines Bestehens eine
wertvolle Aufbauarbeit geleistet und genießt internatio-
nal ein hohes Ansehen. Dafür auch an dieser Stelle einen
herzlichen Dank an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
am Ludwigkirchplatz hier in Berlin.
Aber vor dem Hintergrund seiner finanziellen und
personellen Ausstattung ist auch das ZIF nicht in der
Lage, eine umfassende und längerfristige soziale und
psychosoziale Betreuung der zivilen Fachkräfte vor,
während und nach einem Einsatz zu übernehmen. Der fi-
nanzielle Aufwuchs bei den Mitteln für das ZIF in Höhe
von gut 200 000 Euro ist zwar ein richtiger, aber noch
immer ein viel zu kleiner Schritt in diese Richtung. Not-
wendig ist ein übergreifender und umfassender Ansatz
der Bundesregierung für die Betreuung von zivilem
deutschem Personal in internationalen Friedensmissio-
nen. Die Diskussionen über die psychosoziale Betreuung
von Soldaten der Bundeswehr wird verbessert, was rich-
tig und notwendig ist. Richtig und notwendig ist aber
auch die psychosoziale Betreuung des zivilen Personals.
Beispielhaft für das mangelnde strategische Bewusst-
sein ist die finanzielle Ausstattung des Zivilen Friedens-
dienstes. Die Kürzungen im Haushalt des Bundesmi-
nisteriums für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung im Jahr 20011 werden trotz der positiven
Evaluierung des Projektes auch im kommenden Jahr
nicht rückgängig gemacht.
Da frage ich: Warum wird eine Evaluierung durchge-
führt, wenn die Bundesregierung nicht bereit ist, die vor-
geschlagenen Schlüsse daraus zu ziehen? Gerade hier,
bei der Entsendung von erfahrenen Friedensfachkräften
als zentralem Element des Projektes, kommt es darauf
an, Betreuung und Begleitung weiter zu intensivieren.
Weitere 20 Millionen Euro wären hier notwendig und
insgesamt sehr gut investiert.
Deshalb bedaure ich es sehr, dass die Koalitionsfrak-
tionen den Antrag der SPD auf Erhöhung des Titels um
3 Millionen Euro abgelehnt haben. Mit diesen Mitteln
16280 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Oktober 2011
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hätten wir mit dieser wichtigen Aufgabe zumindest be-
ginnen können.
Der vorliegende Antrag von Bündnis 90/Die Grünen
greift dieses vernachlässigte Thema auf und beschreibt
zumindest die wesentlichen Handlungsfelder. Die SPD-
Bundestagsfraktion wird dem Antrag deshalb zustim-
men.
Joachim Spatz (FDP): Der Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen greift eine Problematik auf, die
wir als Koalitionsfraktionen sehr ernst nehmen. Umso
mehr enttäuscht es, dass die Grünen ihren Antrag mit
aller Macht im Schnellverfahren behandelt haben woll-
ten. Ein seriöses parlamentarisches Verfahren, das der
Bedeutung des Themas auch gerecht wird, sieht jeden-
falls anders aus.
Wir hätten es im Rahmen der Ausschussberatung
gerne gesehen, wenn der Antrag in den fachlich zustän-
digen Unterausschuss „Zivile Krisenprävention und ver-
netzte Sicherheit“ zur gutachterlichen Stellungnahme
überwiesen worden wäre. Ich bin überzeugt davon, dass
im Rahmen einer ordentlichen Behandlung des Antrags
im Laufe des Verfahrens einige Unklarheiten beseitigt
worden wären und man sich gemeinsam auf sinnvolle
Maßnahmen hätte verständigen können. Auf diese Art
und Weise jedoch werden offensichtlich bewusst Diffe-
renzen erzeugt, die in der Zielrichtung zwischen Antrag-
steller und Koalitionsfraktionen gar nicht existieren. Es
drängt sich der Verdacht auf, dass Bündnis 90/Die Grü-
nen in der Sitzungswoche, in der das Einsatzversor-
gungs-Verbesserungsgesetz einstimmig verabschiedet
werden wird, wenigstens noch einen Hauch von Diffe-
renz zur Koalition aufbauen wollen, um typische Oppo-
sitionsreflexe zu bedienen. Schade für das Sachthema!
Der Antrag der Grünen argumentiert schlicht unprä-
zise. Beim Thema Zivilpersonal in Konfliktsituationen
ist eine differenzierte Betrachtung jedoch zwingend er-
forderlich. Das Einsatzversorgungs-Verbesserungsge-
setz, dessen Annahme jüngst vom federführenden
Verteidigungsausschuss in großer Einmütigkeit aller
Fraktionen einstimmig empfohlen wurde, sichert neben
der Absicherung von aus dem Auslandseinsatz in
Kriegssituationen geschädigten Soldaten auch die Absi-
cherung von heimkehrenden, verletzten Zivilisten, die
vom Bund als ihrem Dienstherren entsandt wurden. Dies
gilt für Polizisten, Richter, Staatsanwälte sowie generell
alle Beamten des Bundes im Auslandseinsatz. Dieser
Fakt wird von den Antragstellern schlicht ignoriert.
Zu Recht ist das Einsatzversorgungs-Verbesserungs-
gesetz von allen Fraktionen als wichtiges Signal an jene
gewertet worden, die im Dienste der Bundesrepublik
Deutschland eine beachtenswerte Tätigkeit im Ausland
verrichten. Die Bundesregierung und die sie tragenden
Koalitionsfraktionen nehmen ihre Fürsorgepflicht als
Gesetzgeber und Exekutive ernst.
Nach dem Entwicklungshelfer-Gesetz, zum Beispiel
beim Zivilen Friedensdienst, findet die Absicherung
nach dem Einsatzversorgungs-Verbesserungsgesetz
keine Anwendung. Daher stellt sich die Situation bei
Entwicklungshelfern anders dar. Hier hätten wir gerne
mit den Antragstellern eine intensive Debatte über Lö-
sungsmöglichkeiten geführt. Die bisherige Regelung hat
vor allem umsetzungstechnische Gründe. In dieser Frage
werden wir auch weiterhin einen engen Austausch mit
der Bundesregierung suchen.
Was die Versorgung von Zivilpersonal angeht, das mit
anderen privatrechtlichen Arbeitgebern wie NGOs ins
Ausland gehen, so obliegt es dem jeweiligen Arbeitge-
ber, die Versorgung seiner Mitarbeiter auszugestalten
und eine entsprechende Vorsorge im Falle einer Schädi-
gung für seine Mitarbeiter zu gewährleisten. Der Bund
ist hier nicht der Dienstherr und trägt dementsprechend
auch keine Fürsorgepflicht. Dies kann auch vonseiten
der Zivilgesellschaft nicht gewünscht werden.
Wir sehen das Anliegen des vorliegenden Antrags in
der Tendenz richtig. Allerdings lassen die Forderungen
der Grünen jegliche Differenzierung vermissen. Der un-
terschiedliche Status der jeweiligen Zivilisten macht
eine solche jedoch zwingend erforderlich. Hier kann es
keine pauschale Regelung geben. Darüber hinaus war
aufgrund des gewählten Verfahrens eine sinnvolle parla-
mentarische Behandlung der Problematik leider nicht
möglich. Aus den genannten Gründen können wir dem
Antrag daher nicht zustimmen.
Kathrin Vogler (DIE LINKE): Zivile Fachkräfte wie
Entwicklungshelferinnen und -helfer, Friedensfachkräfte,
Menschenrechtsschützerinnen und -schützer, aber auch
Verwaltungsangehörige, Juristinnen und Juristen, Polizis-
tinnen und Polizisten leisten im Ausland unschätzbar
wichtige Arbeit. Sie helfen bei Katastrophen und schlich-
ten Konflikte; sie versorgen Kranke und Hungernde oder
helfen beim Aufbau demokratischer Institutionen.
Die Linke tritt für eine Politik ein, die auf Konflikte
mit friedlichen Mitteln reagiert, die Gewalt vorbeugt und
Friedensprozesse fördert. Gerade dafür brauchen wir gut
ausgebildete zivile Fachkräfte. Diese müssen, wenn sie
verletzt oder traumatisiert werden, natürlich angemessen
versorgt werden.
Unsere Fraktion hat das wiederholt gefordert, auch
ganz aktuell im Entschließungsantrag der Linken zum
Einsatzversorgungs-Verbesserungsgesetz für die Solda-
tinnen und Soldaten der Bundeswehr.
Die Forderungen der Grünen unterstützen wir. Denn es
ist natürlich richtig, den Bedarf zu ermitteln und daraus
abgeleitet Maßnahmen zur Unterstützung und Behand-
lung ziviler Fachkräfte zu ergreifen. Andererseits kann ich
Ihnen an dieser Stelle auch nicht ersparen, noch einmal
auf die Mitverantwortung der Grünen für die Gefährdung
von zivilen Helferinnen und Helfern hinzuweisen, die sich
aus ihrer Zustimmung zu fast allen Militäreinsätzen der
Bundeswehr ergibt.
Es gibt doch eine Reihe von Konflikten, die auch
durch das militärische Eingreifen der Bundeswehr ver-
schärft werden, wie etwa in Afghanistan. Viele körperli-
che und seelische Verletzungen, egal ob bei Angehöri-
gen der Bundeswehr oder zivilen Helferinnen und
Helfern könnten durch einen konsequenten Gewaltver-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Oktober 2011 16281
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zicht vermieden werden. Immer wieder haben Entwick-
lungs- und Hilfsorganisationen darauf hingewiesen: Wo
es weniger Gewalt gibt, ist auch das Risiko für zivile
Helfer, verletzt oder traumatisiert zu werden, geringer. Je
weniger Militär in der Nähe ist, umso sicherer können
die Zivilen arbeiten. Das ist ein Ansatz, der im Rahmen
der vielbeschworenen Prävention eine größere Bedeu-
tung verdient hätte. Leider bekommt er die bei der über-
großen Mehrheit in diesem Hause nicht.
Als stellvertretende Vorsitzende des Gesundheitsaus-
schusses will ich aber noch eine Anmerkung machen.
Ich glaube nicht, dass es sinnvoll ist, jetzt für jede Be-
troffenengruppe einzeln die Verbesserung der psychoso-
zialen Betreuung zu fordern. Natürlich haben die zivilen
Fachkräfte eine bessere Versorgung verdient. Aber was
ist mit den Feuerwehrleuten, den traumatisierten Flücht-
lingen, den ehemaligen Heimkindern, den Opfern von
häuslicher Gewalt und von sexuellen Übergriffen, um
nur einige wenige zu nennen? Sollen für alle diese Grup-
pen eigene Projekte gefordert werden? Wir werden nicht
darum herumkommen, insgesamt die psychosoziale Be-
treuung in Deutschland zu verbessern. Das käme dann
allen Menschen zugute, die seelische Verletzungen erlit-
ten haben.
Wenn Sie jetzt meinen, dafür fehle das nötige Geld,
dann empfehle ich die sofortige Einstellung aller Aus-
landseinsätze der Bundeswehr. Mit dem, was die uns
derzeit kosten, könnten wir schon sehr große Fortschritte
im Sinne der Betroffenen erreichen. Dafür setzt sich die
Linke auch weiterhin ein.
Agnes Malczak (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): In-
ternationale Konflikte lassen sich häufig weder ohne
Weiteres verhüten noch schnell und einfach lösen. Sie
haben komplexe Ursachen und sind geprägt von Unge-
wissheiten. Wenn wir Konflikte verhindern und nachhal-
tig Frieden schaffen wollen, sind wir in großem Maße
auf das Engagement ziviler Fachkräfte angewiesen. Erst
durch ihre Arbeit werden die Grundlagen für eine dauer-
hafte Konfliktbewältigung und einen stabilen Frieden
geschaffen.
Derzeit setzen sich Tausende Frauen und Männer
weltweit mit zivilen Mitteln für den Frieden ein. Es ist
keine Selbstverständlichkeit, dass Menschen bereit sind,
derartige Herausforderungen unter schwierigen Bedin-
gungen anzunehmen. Ohne ihr Engagement könnten wir
kaum etwas zur Prävention und Lösung von Konflikten
beitragen. Darum gehören den zivilen Fachkräften un-
sere größte Anerkennung, unser Respekt und unser
Dank!
Ihr Engagement muss uns Verpflichtung sein, alles zu
tun, um gute Rahmenbedingungen für die Bewältigung
dieser Aufgaben zu schaffen. Natürlich gehört dazu, die
notwendigen Mittel und Ressourcen für die verschiede-
nen Projekte zur Verfügung zu stellen. Aber hier geht es
heute um etwas anderes. Heute geht es um die zivilen
Fachkräfte, um die Menschen selbst.
Sie stehen nicht nur vor besonderen Herausforderun-
gen, wenn es um die Umsetzung ihres Auftrages geht. Es
stellen sich auch ganz persönliche Herausforderungen
durch den Aufenthalt in einem anderen Land und unter
Umständen durch das Leben in einer Krisen- und Kon-
fliktregion. Die Rückkehr in die Heimatgesellschaft ist
ein Schritt, der durchaus Probleme mit sich bringen
kann. Die Reintegration in den Alltag in Deutschland
und in den Arbeitsmarkt verlaufen nicht immer rei-
bungslos. Unter Umständen sind die Frauen und Männer
während ihres Einsatzes aber auch enorm belastenden
Situationen ausgesetzt. Gewalt und menschliches Leid
mitzuerleben, kann auch langfristige Auswirkungen auf
die Menschen und ihre psychische Gesundheit haben –
besonders, wenn zivile Kräfte selbst Ziel von Gewalt
werden. Durch die Medien gegangen sind jüngst Ereig-
nisse in Afghanistan. Aber auch in vielen anderen Ein-
satzgebieten erleben zivile Fachkräfte immer wieder Be-
drohungs- und Belastungssituationen.
Es liegt in unserer Verantwortung, dass zivile Fach-
kräfte – zumal wenn sie sich im Namen von Deutschland
engagieren – mit diesen Herausforderungen und Erfah-
rungen nicht allein gelassen werden.
Im Zusammenhang mit den Einsätzen der Bundes-
wehr ist inzwischen ins Bewusstsein gerückt, dass eine
schlimme Folge der Einsätze auch eine Traumatisierung
der Soldatinnen und Soldaten sein kann. Es hat eine
Weile gedauert, bis alle diesen Zusammenhang auch ak-
zeptiert haben. Aber das Parlament hat sich mit diesem
Thema in den vergangenen zwei Jahren intensiv ausei-
nandergesetzt und Maßnahmen auf den Weg gebracht,
um die Prävention zu verbessern und den Betroffenen
ein Netz von Betreuung und Beratung anzubieten – auch
wenn in diesem Bereich noch nicht alle Probleme gelöst
sind. Mit der Verabschiedung des Einsatzversorgungs-
Verbesserungsgesetzes morgen werden schließlich auch
Verbesserungen bei der sozialen Versorgung vorgenom-
men.
Bei der sozialen und psychosozialen Betreuung des
Zivilpersonals hat Schwarz-Gelb aber bisher keine we-
sentlichen Verbesserungen gebracht. Sie lassen die zivi-
len Kräfte und auch alle Organisationen in diesem Be-
reich mit der Bewältigung der Folgen eines Einsatzes
allein. Wie so oft ignorieren Sie Probleme und ver-
schleppen Lösungen.
Wenn wir es mit dem Ziel der zivilen Konfliktpräven-
tion und -lösung ernst meinen, müssen wir unser Augen-
merk auf die Einsatzsituation der zivilen Kräfte richten.
Wir haben eine Verantwortung für diese Menschen. Da-
rum fordern wir von der Bundesregierung, sich verant-
wortungsbewusst mit den Herausforderungen für die zi-
vilen Fachkräfte auseinanderzusetzen und sie wo immer
möglich zu unterstützen.
Anlage 7
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Strategie gegen
Lebensmittelverschwendung entwickeln (Tages-
ordnungspunkt 22)
Josef Rief (CDU/CSU): Ich glaube, wir sind uns alle
einig: Lebensmittelverschwendung ist zu vermeiden.
Lebensmittel sind wertzuschätzen. Sie werden mit viel
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Mühe, Arbeit und Energie hergestellt und gehören in
Teilen der Welt zu den sehr knappen Gütern. Sie gehören
nicht in den Müll. Eine sachliche Frage, über die wir
nicht diskutieren müssten.
Der Antrag der SPD zeigt aber wieder einmal, dass es
hier nicht um die Sache geht, sondern ausschließlich um
die parteipolitische Auseinandersetzung.
Ihr Antrag suggeriert, dass die Bundesregierung, das
Bundeslandwirtschaftsministerium mit Frau Ministerin
Aigner, Lebensmittelverschwendung verschweigt und
das Thema als unproblematisch sieht, sodass der Bun-
destag in Form eines Oppositionsantrags die Initiative
übernehmen müsse. Natürlich möchten Sie nun, da die
Medien das Thema aufgegriffen haben, opportunistisch
ins gleiche Horn stoßen. Dies lehnen wir ab.
Liest man Ihren Antrag genauer, kommen Sie auch
nicht umhin, Frau Aigner zu loben und auch anzuerken-
nen, dass bereits im vergangenen Jahr die Untersuchung
des Problems mit einer Studie angegangen wurde.
Frau Aigner hat mit ihrer Kampagne „Jedes Mahl
wertvoll“ die Bürgerinnen und Bürger informiert und
damit zur Sensibilisierung beigetragen.
Für uns ist wesentlich, mit einer differenzierten Be-
trachtung, wie es gerade eine umfangreiche Studie zum
Verbraucherverhalten ermöglicht, den Handlungsbedarf
abzuklären. Jetzt möchte die SPD nicht bis Anfang des
kommenden Jahres auf die Ergebnisse warten und die
Bundesregierung zu einem Schnellschuss drängen. Dies
wirft schon ein seltsames Licht auf die Opposition und
ist schon formal unsinnig.
Es nützt wenig, nach neuen Gesetzen und Regelungen
zu rufen, wenn wir noch nicht einmal wissen, wie groß
der genaue Umfang und Anteil der unnötig weggeworfe-
nen Lebensmittel sind und warum Verbraucher sich beim
Einkauf so entscheiden, wie sie es tun.
Betrachtet man nur die offensichtlichen Faktoren,
wird schnell klar, dass der Verbraucher die große Aus-
wahl schätzt und ebenso die Vielfalt und Frische der Pro-
dukte zu jeder Zeit erwartet. Der Handel gewährleistet
dies, um seine Kunden zufriedenzustellen, und kalkuliert
Verluste durch Aussortierung, Bruch und Verfall ein. Es
ist leicht gesagt, dass dann der Einzelhändler nicht mehr
aussortieren oder Bruch anbieten soll. Jeder kann sich
vorstellen, dass der Verbraucher bei gleichem Preis die
optisch ansprechendere Ware kauft. Dieses Beispiel
zeigt die Komplexität des Vorgangs.
Wenn ich in meinem Wahlkreis Biberach mit Einzel-
händlern spreche, wird mir immer gezeigt, dass Pro-
dukte, die nahe dem Mindesthaltbarkeitsdatum liegen,
gesenkt sind und oftmals sogar in einem gesonderten Re-
gal angeboten werden. Dies ist sicher eine der möglichen
Lösungen. Fragt man dann nach dem Anteil des Verlusts,
der auf verfallene oder ausgemusterte Produckte entfällt,
wird dieser mit fünf bis sieben Prozent beziffert. Hier ist
der Handel sicher auf dem richtigen Weg.
Selbstverständlich gehört auch eine sinnvolle Balance
zwischen Angebot und Nachfrage dazu. Hier sehe ich
aber keine gesetzlichen Regelungen und damit mehr
Bürokratie als Lösung an. Wir können hier nur an den
Verbraucher appellieren.
Natürlich müssen wir letztlich auch die gesamte Wert-
schöpfungskette unter die Lupe nehmen. Wo kann über-
all die Verschwendung von wertvollen Lebensmitteln
vermieden werden? Jeder Landwirt wird schon heute
den größtmöglichen Anteil seiner Ackerfrüchte
vermarkten und jede andere Nutzungsmöglichkeit und
Verwertung begrüßen. Alles andere ist schon aus finan-
ziellen Gründen kein Thema. Denkbar wären noch Mög-
lichkeiten, bei den erneuerbaren Energien nicht vermark-
tungsfähige Lebensmittel besser zu verwerten.
Der Handel muss noch weiter auf den Verbraucher
zugehen, mit anderen Packungsgrößen und dem ver-
günstigten Angebot von Obst und Gemüse, wenn mal
die Optik nicht stimmt oder der Frischeeindruck beein-
trächtigt ist. Dazu gehört natürlich auch, bei der Wer-
bung den Wert der Lebensmittel zu betonen und nicht
nur mit tadelloser Optik zu werben. Auch die Tatsache,
dass Lebensmittel nach dem Mindesthaltbarkeitsdatum
noch genießbar sind und weiter verkauft werden dürfen,
muss besser kommuniziert werden.
Sicher sind alle Akteure gefragt, ihren Beitrag zu leis-
ten. Am Ende wird der Verbraucher mit seinem Kaufver-
halten abstimmen.
Ich freue mich, dass Frau Bundesministerin Aigner
das Problem mit einem umfassenden Konzept zur Ver-
meidung von Lebensmittelabfällen angeht.
Wir sollten zuerst die Ergebnisse der Studie abwarten,
bevor wir im Bundestag Beschlüsse fassen und neue Ge-
setze erlassen.
Der richtige Weg ist eingeschlagen. Den SPD-Antrag
lehnen wir daher ab.
Carola Stauche (CDU/CSU): Auf Antrag der SPD-
Fraktion reden wir heute über ein Thema, das keinem
schmeckt: Wir suchen Strategien gegen die Lebensmit-
telverschwendung.
Während Millionen Menschen auf der Welt hungern,
werfen wir tonnenweise genießbares Essen weg. Jeder
Deutsche schmeißt pro Jahr im Schnitt Lebensmittel im
Wert von weit über 300 Euro in den Abfalleimer, schätzt
das Bundesverbraucherministerium. Exakte Zahlen über
die Art und Menge der Lebensmittel, die verschwendet
werden, lässt das Bundesverbraucherministerium in ei-
ner nationalen Wegwerfstudie ausrechnen. Ergebnisse
liegen Anfang 2012 vor. Ausgegangen wird von bis zu
20 Millionen Tonnen im Jahr.
Wären da nicht die Tafeln, wäre es noch viel mehr.
Ehrenamtliche fahren von Hamburg bis Halle Super-
märkte und Bäckereien ab und laden Lebensmittel ein,
um sie an Arme zu verteilen. Viele von Ihnen kennen die
Tafeln und haben Einblick in deren Arbeit. Beim Besuch
einer Tafel in meinem Wahlkreis vergangene Woche
wurde mir versichert, nur uneingeschränkt genießbare
Butter und Marmelade würden abgegeben – Gütesiegel
verbieten die Lieferung verdorbener Lebensmittel. Seit
Jahren arbeitet der Lebensmitteleinzelhandel mit den Ta-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Oktober 2011 16283
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feln zusammen, um verzehrfähige, aber nicht mehr ver-
kaufsfähige Lebensmittel nicht vernichten zu müssen.
80 bis 90 Prozent aller Lebensmittelgeschäfte arbei-
ten mit Organisationen wie den Tafeln zusammen, um
Lebensmittel nicht in die Tonne kippen zu müssen. Bei
der Dimension, über die wir reden, reicht das nicht aus,
zumal auch nur ein Bruchteil der Lebensmittelabfälle
vom Handel kommt. Die größte Menge vernichtet der
Endverbraucher.
Egal, ob bei der nationalen Wegwerfstudie 6 oder
20 Millionen Tonnen essbarer Nahrungsmittelmüll he-
rauskommen: So oder so ist es viel zu viel. Dagegen
müssen wir etwas tun; da sind wir uns einig. Doch wel-
che Strategie hat die besten Aussichten, den Wegwerf-
wahnsinn zu stoppen? Das ist die Frage, auf die wir eine
Antwort finden müssen.
Die SPD und uns trennen bei dem Thema keine Wel-
ten. Vieles, was Sie fordern, fordern wir seit geraumer
Zeit: Wir wollen die Menschen besser aufklären. Wir tre-
ten für mehr Wertschätzung und verantwortungsvollen
Umgang mit Lebensmitteln ein, die schon in Kindergar-
ten und Schule vermittelt werden. Kinder können nicht
früh genug lernen, ob Tomaten in den Kühlschrank dür-
fen und wie lange das Schnitzel hält. Sie müssen wissen,
woher das Hackfleisch im Hamburger kommt. Das Bun-
desverbraucherschutzministerium wirbt in einer Kampa-
gne für bewussteres Einkaufen und gibt auf einer Ser-
vicecheckkarte Tipps, wie man vermeiden kann, dass
Gurken, Brot und Joghurt im Müll landen. Im Ausschuss
für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz
beschäftigen wir uns mit dem Problem.
Unnötig ist aber nach unserer Auffassung die Diskus-
sion um Alternativen zum Mindesthaltbarkeitsdatum.
Nicht der Begriff führt in die Irre, sondern die Debatte
um den Begriff. Uns fehlt der Glaube, dass das Mindest-
haltbarkeitsdatum missverstanden wird. Unter „Mindest-
lohn“ können sich auch die meisten etwas vorstellen.
Werfen wir weniger weg durch einen neuen Ausdruck
zum Haltbarkeitshinweis? Ein Lebensmittelkonzern hat
bei einer Umfrage ermittelt, Verbraucher wünschen sich
kurze, klare Angaben. Wir sind überzeugt, ein neuer
Aufdruck bekämpft die Lebensmittelverschwendung
nicht. Die Kernfrage ist doch: Wie können diese Unmen-
gen an Müll essbarer Lebensmittel reduziert werden?
Wir können an Begriffen herumdoktern, wir können
Aufklärung betreiben. Vom Verbraucher über Landwirte
und Handel bis zu Verbänden und Organisationen stehen
alle in der Pflicht. Am Schluss der Lebensmittelkette je-
doch steht der Verbraucher. Es geht nicht darum, ihm die
alleinige Schuld in die Schuhe zu schieben. Aber Fakt
ist: Von ihm stammt der meiste Lebensmittelabfall. Letz-
ten Endes kann nur er das Problem lösen. Schauen wir in
den Spiegel: Kaufen wir den Apfel mit der Druckstelle?
Essen wir den Joghurt, der schon ein paar Tage abgelau-
fen ist? Mögen wir drei Tage altes Brot noch oder kaufen
wir lieber ein frisches?
Jeder hat seine Gründe, wieso er Lebensmittel weg-
wirft: Die Augen waren im Supermarkt größer als der
Appetit. Er muss kurzfristig verreisen. Er ist sich nicht
sicher, ob er die Würstchen noch essen kann, ohne
Durchfall zu bekommen. Solche Fragen werden in der
nationalen Wegwerfstudie erforscht. Wenn die Ergeb-
nisse auf dem Tisch liegen, können wir konkrete Schritte
gegen Lebensmittelvergeudung einleiten. Sind noch
mehr Rabatte auf Produkte kurz vor Ablauf des Mindest-
haltbarkeitsdatums nötig? Sind die Verpackungen zu
groß? Können noch mehr Wohltätigkeitsorganisationen
von genießbaren Lebensmitteln profitieren? Muss das
Thema Ernährung in den Schulen besser verankert wer-
den?
Wir wollen den Verbraucher dazu bringen, weniger
Lebensmittel zu verschwenden. Das ist unser Ziel, und
wir freuen uns, wenn uns die Opposition auf diesem
Weg begleitet. In den Griff bekommen wir das Problem
allerdings nur, wenn Verbraucher umdenken. Daran wer-
den wir arbeiten.
Wie Sie sehen, sind wir an einigen Stellen nah bei-
einander; aber es gibt auch enorme Unterschiede, die uns
dazu bewegen, Ihren Antrag abzulehnen.
Elvira Drobinski-Weiß (SPD): „Das Brot, das ihr
verderben lasst, ist das Brot der Hungernden.“ (Basilius
von Caesarea, Bischof, Kirchenlehrer und Asket).
Mit über 300 verschiedenen Brotsorten in den Rega-
len der heimischen Bäckereien und Läden ist Deutsch-
land das reinste Brotparadies. Aber mit dieser Vielfalt
geht große Verschwendung einher: Jeden Tag fällt ton-
nenweise unverkauftes Brot an. Bis zum Ladenschluss
wird das komplette Sortiment angeboten – um den Kun-
den auch um 20 Uhr noch die volle Auswahl bieten zu
können. Was übrig bleibt, wird weggeworfen. Und auch
in den Haushalten verderben viele Backwaren aufgrund
falscher Lagerung und schlecht geplanter Einkäufe.
Nach Schätzungen landet in Deutschland jedes fünfte
Brot im Müll.
Aber es geht nicht nur um Brot, es geht um Obst und
Gemüse, um Milchprodukte, um Fertiggerichte, Fleisch,
Wurst, Fisch; von allem landen große Mengen im Müll,
teilweise noch originalverpackt und frisch.
Die Autoren des Buchs „Die Essensvernichter“,
Valentin Thurn und Stefan Kreutzberger, haben erschre-
ckende Statistiken zusammengetragen: Rund ein Drittel
der weltweit für den Verzehr gedachten Lebensmittel
lande Schätzungen zufolge im Abfall. Ein Viertel des
weltweiten Wasserverbrauchs werde für den Anbau von
Lebensmitteln verwendet, die später auf den Müll ge-
worfen würden. 500 000 Tonnen Brot würden jedes Jahr
in Deutschland weggeworfen. Statistisch gesehen gäbe
es mehr als genug Nahrung für alle Bewohner der Erde;
aber weil so viel weggeschmissen oder für Tierfutter,
Biosprit oder zur Stromerzeugung genutzt wird, müssen
immer mehr Menschen hungern.
Ein „Umdenken bei den Verbrauchern, aber auch
beim Handel“ hat Ministerin Aigner bereits Ende letzten
Jahres zum Beispiel in der HNA, Hessisch/Niedersächsi-
sche Allgemeine vom 21. Dezember 2010 gefordert.
„Lebensmittel müssten in Deutschland wieder einen hö-
16284 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Oktober 2011
(A) (C)
(D)(B)
heren Stellenwert und mehr Wertschätzung erhalten“,
wird sie dort zitiert.
Das sind sehr schöne und richtige Worte. Aber es
wurde nichts getan! Leider haben wir letzte Woche im
Ausschuss dem Bericht der Bundesregierung zum
Thema Lebensmittelverschwendung entnehmen müssen,
dass es hierzu aus dem Verbraucherministerium nichts
wirklich Neues gibt. Zwar wurde von Ministerin Aigner
bereits Ende 2010 eine Studie angekündigt, die erstmals
konkretes und belastbares Zahlenmaterial über Art und
Menge der in Deutschland jährlich weggeworfenen Le-
bensmittel liefern soll. Das haben wir als wichtigen und
richtigen Schritt auch sehr begrüßt. Doch ist es aus unse-
rer Sicht schwer nachvollziehbar, dass nun, fast ein Jahr
später, immer noch keine Ergebnisse vorliegen. Wir
wüssten gern, welche Gründe das hat.
Die Ergebnisse sollen nun erst Anfang 2012 vorlie-
gen. Bis dahin wird die Bundesregierung ihre Untätig-
keit wohl mit der noch nicht abgeschlossenen Untersu-
chung begründen. Wir wollen tätig werden, wir wollen
das Problem endlich angehen! Sehr gern machen wir das
auch mit Ihnen gemeinsam, werte Kolleginnen und Kol-
legen von den Regierungsfraktionen, sehr gern auch mit
allen im Bundestag vertretenen Fraktionen; denn wir
sind uns doch wahrscheinlich in der Zielsetzung hier alle
einig. Das wäre – angesichts der großen Bedeutung die-
ses Themas – ein schönes Signal. Wir wollen das nicht
mehr auf die lange Bank schieben; deshalb haben wir
hier heute unsere Vorschläge vorgelegt. Wir werden
diese gern im Ausschuss mit allen diskutieren; aber am
Ende müssen endlich Taten statt Worte stehen. Und dies
muss schnell passieren.
Wir fordern eine umfassende Strategie gegen Lebens-
mittelverschwendung. Es geht nicht nur um die Verbrau-
cher: Vom Acker bis zum Teller sind alle an der großen
Wegwerforgie beteiligt. Deshalb wollen wir gemeinsam
mit den Herstellern, Händlern und Verbrauchern den
Gründen nachgehen, warum auf jeder Stufe der Wert-
schöpfungskette bis hin zum Privathaushalt genießbare
Lebensmittel in großen Mengen weggeworfen werden.
Wir fordern eine Untersuchung der Verständlichkeit und
der Auswirkungen des Mindesthaltbarkeitsdatums für
Verbraucher, Händler und Tafeln. Dabei muss die Ver-
braucherforschung einbezogen werden.
Das Mindesthaltbarkeitsdatum ist nur ein Mosaikstein
unter vielen. Wir fordern einen runden Tisch gegen Le-
bensmittelverschwendung, denn die Gründe dafür sind
sehr unterschiedlich. Bei der Suche nach Lösungen soll-
ten alle Beteiligten einbezogen werden. Wir legen hier
heute unsere Vorschläge vor. Bitte unterstützen Sie unse-
ren Antrag, damit das Problem endlich tatkräftig ange-
gangen werden kann.
Hans-Michael Goldmann (FDP): Ich bin froh da-
rüber, dass ich in der letzten Woche meinen Vorschlag
zum Mindesthaltbarkeitsdatum gemacht habe, einen
Vorschlag darüber, den Begriff zu ändern bzw. sich Ge-
danken über die Ausgestaltung zu machen. Das bishe-
rige Verfahren signalisiert falsche Vorstellungen. An der
Diskussion, die daraufhin entfacht ist, sehen wir, wie
emotional geladen und verbrauchernah dieses Thema ist,
auch zu erkennen an der medialen Berichterstattung. Ich
bevorzuge aber eine sachliche und fachliche Debatte.
Unstrittig ist natürlich, dass es in jedem Fall ein Da-
tum geben muss. Meine Idee, in Anlehnung an das engli-
sche „best before …“, Lebensmittel mit „voller Genuss
bis …“ und „essbar bis zum Tag Y …“ zu kennzeichnen,
zusätzlich mit einer farblichen Hinterlegung, verteidige
ich auch heute. Sicherlich, es ist noch ausgestaltungsfä-
hig und keine endgültige Lösung, aber ein Anfang, sich
mit der Problematik der Lebensmittelverschwendung zu
befassen.
Wir alle kommen Tag für Tag mit Lebensmitteln in
Berührung und stehen nicht allzu selten vor der Frage:
Kann ich den Joghurt noch essen, auch wenn er schon
ein paar Tage über dem Mindesthaltbarkeitsdatum ist?
Aber sicherlich kann man den Joghurt noch essen. Wir
müssen nur unsere Sinne einschalten und riechen,
schmecken und schauen, und schon weiß ich, was noch
essbar ist und was nicht. So viel zur Theorie. Nur leider
sieht die Praxis anders aus. Viele Konsumenten sind sich
unsicher, auch was ihr eigenes Urteilsvermögen betrifft,
gehen dann auf Nummer sicher und werfen das Lebens-
mittel weg. Seinen Kindern will man ja auch nichts Ab-
gelaufenes mitgeben.
Natürlich kann die Debatte um die Begrifflichkeit des
Mindesthaltbarkeitsdatums nicht allein die Lebensmit-
telverschwendung und die damit einhergehende Proble-
matik in der Welt entschärfen. Viel zu viele Menschen in
der Welt leiden Hunger. Wir haben einen enormen Was-
ser-, Rohstoff- und landwirtschaftlichen Flächenver-
brauch. Leider ist der Luxus, den wir leben, ständig und
bis zum Ladenschluss alles verfügbar zu haben, nicht
gang und gäbe in der Welt. Vor allem in den ärmeren Re-
gionen sind Lebensmittel knappe Güter und dringend
notwendig, um Nahrungssicherheit zu gewährleisten.
In diesem globalen Kreislauf können wir Positives
beitragen. Fangen wir bei uns selbst an, in unseren Haus-
halten. Lernen wir, Lebensmittel wieder mehr wertzu-
schätzen. Werden wir zu strategisch klugen Einkaufspro-
fis. Und entwickeln wir die Kompetenz und das
Bewusstsein, mit Lebensmitteln verantwortungsvoll um-
zugehen. Damit wir kluge und verantwortungsvolle
Konsumenten werden und unser Selbstvertrauen gestärkt
wird, sind Aufklärung und Bildung das A und O. Aktio-
nen, die den Wert der Lebensmittel darstellen, und Kam-
pagnen, die die Bedeutung der Haltbarkeit erklären, kön-
nen und müssen hier unterstützend wirken.
Klug ist es jedoch ebenfalls, sich erst die Ergebnisse
des Gutachtens zur Lebensmittelverschwendung, wel-
ches auch auf mein Drängen vom Bundesministerium
für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz in
Auftrag gegeben wurde, abzuwarten und zu analysieren.
Diese wichtigen Ergebnisse lassen leider auf sich war-
ten. Denn mit ihnen hätten wir handfeste Wege- und
Mengenbilanzen der weggeworfenen Lebensmittel und
könnten konsequent jeden Verschwendungsweg in der
Lebensmittelkette abarbeiten und effiziente Lösungs-
möglichkeiten finden, sei es die Überlegung, die noch
bestehenden Handelsnormen für beispielsweise Äpfel zu
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überdenken. Wir haben schon diverse Vermarktungsnor-
men außer Kraft gesetzt, die etwa festgelegt hatten, dass
Gurken nicht krumm sein dürfen. Oder Anpassungen der
Verpackungsgrößen an sich verändernde soziodemogra-
fische Strukturen, vermehrt Singlehaushalte. Das geht
bis hin zum Recycling von nicht mehr zu verwendbaren
Lebensmitteln in Biogasanlagen.
Sie sehen, die Möglichkeiten der Akteure sind vielsei-
tig. Vom Hersteller zum Handel bis hin zum Verbraucher
sind alle gefragt und sollten sich angesprochen fühlen.
Wenn wir eine gesamtgesellschaftliche Veränderung er-
reichen, unseren generellen Zugang zu Lebensmitteln
und die entsprechende Wertschätzung von Nahrung
überdenken, sind wir unserem Ziel schon ein großes
Stück nähergekommen.
Wir werden uns weiterhin intensiv mit den Ursachen
der Lebensmittelverschwendung und nachhaltigen Lö-
sungsmöglichkeiten befassen. Wir haben nur eine Welt
mit endlichen Ressourcen. Diese gilt es, effizient zu nut-
zen und sie nicht achtlos auf den Müll zu werfen.
Alexander Süßmair (DIE LINKE): Heute geht es
um einen Antrag für eine „Strategie gegen Lebensmittel-
verschwendung“ von der SPD. Zu bemerken ist hier,
dass sich die Bundesregierung schon seit Monaten mit
der Ausarbeitung einer solchen Strategie herumplagt.
Zwei Mal habe ich Sie innerhalb des letzten Jahres mit-
tels meines parlamentarischen Fragerechts danach ge-
fragt. Antwort: Sie arbeiten daran. So langsam würden
auch wir von der Linken gerne einmal einen Vorschlag
von der Regierung sehen. Die SPD verleiht diesem
Wunsch der gesamten Opposition nun mit einem Antrag
zusätzlich Nachdruck.
Sehen Sie, Wien ist nicht weit. Dort gibt es die Uni-
versität für Bodenkultur; in der lehren und forschen
Abfallwissenschaftler und Abfallwissenschaftlerinnen.
Eine von ihnen, Felicitas Schneider, hat in einer Studie
wissenschaftlich aufgezeigt, wie es zu Lebensmittelab-
fällen kommt und wie sie vermieden werden können.
Auf Grundlage dieser Studie hat dann die österreichische
Regierung ein Konzept zur Vermeidung von Lebensmit-
telabfällen entwickelt.
Bei der Mülltrennung war Deutschland einmal Vorrei-
ter. Bei Lebensmittelabfällen sind wir völlig rückständig.
Warum kommt es zu großen Mengen an Lebensmit-
telabfällen? Einige wichtige Gründe hierfür sind, dass
Lebensmittelabfälle durch Mängel in der Infrastruktur,
bei Lagerung und Transport entstehen, dass Lebensmit-
telabfälle durch die – vermeintlichen – Ansprüche der
Kunden an die Ware entstehen – Lebensmittel werden
bereits von den Händlern vernichtet, wenn ihre optische
Erscheinung geringfügig beeinträchtigt ist –, dass des-
wegen mancher Landwirt seine Produkte gar nicht mehr
vom Acker nimmt.
Schließlich kommt es zu Lebensmittelabfällen, weil
rund um die Uhr ein Vollsortiment präsentiert werden
muss. Oft also werden Lebensmittel als Abfall vernich-
tet, die gesundheitlich und geschmacklich noch völlig
unbedenklich sind. Abfallvernichtung ist oft auch noch
billiger als Abfallvermeidung.
Weltweit wird über die Hälfte aller Lebensmittel ver-
nichtet. Was dies, zu Ende gedacht, für die Welternäh-
rung bedeutet, sollte uns allen klar sein. Da wird es
plötzlich sehr absurd, wenn wir aktuell bei der Reform
der gemeinsamen Agrarpolitik der EU, von zum Beispiel
CDU, CSU, FDP oder dem Bauernverband hören, dass
es im Interesse der Welternährung keine 7 Prozent öko-
logische Vorrangflächen in der Landwirtschaft Europas
geben darf. Meine Damen und Herren von Schwarz-
Gelb, wenn weltweit über die Hälfte der Lebensmittel
weggeworfen werden, besteht das Problem bestimmt
nicht in 7 Prozent ökologische Vorrangflächen in
Europa.
Lebensmittelabfälle wird es immer geben. Es ist aber
die Frage, wie viele und was mit ihnen geschehen soll.
Von der Kompostierung bis zur Energieerzeugung ist
hier vieles möglich; vieles wird hier auch schon prakti-
ziert. Das ist sinnvoll. Noch sinnvoller ist allerdings die
Vermeidung von Lebensmittelabfällen. Schließlich wer-
den Lebensmittel vernichtet, die zuvor unter dem Ein-
satz von Ressourcen – Wasser, Dünger, Treibstoff, Ar-
beitskraft – produziert worden sind. Diese Ressourcen
hätte man besser nutzen können. Hier geht es um Ethik,
soziale Gerechtigkeit und ökologisch nachhaltige Pro-
duktion, ja um volkswirtschaftliche Vernunft.
Doch mit jeder vernichteten Semmel steigt das Brut-
toinlandsprodukt. Solange also die Bundesregierung in
geradezu religiöser Inbrunst einem Wachstumsbegriff
anhängt, der Wirtschaftswachstum auch aus dem Ver-
nichten von Lebensmitteln ableitet, so lange kann ich die
Bundesregierung nicht ernst nehmen, wenn sie von
Nachhaltigkeit redet. Der Fehler liegt im System, darin,
dass mit jedem produzierten Lebensmittel Profite erwirt-
schaftet werden sollen. Wir sind daher gespannt auf die
Strategie der Bundesregierung, wenn sie denn irgend-
wann einmal fertig sein wird. Wir sind überzeugt, dass
durch strukturelle Veränderungen viel erreicht werden
kann. Wir sind auch überzeugt davon, dass nachhaltiges
Wirtschaften nicht möglich ist wenn man sich ignorant
zum Dogma des grenzenlosen Wirtschaftswachstums
bekennt.
Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Nicht zuletzt der Film Taste the Waste hat in den letzten
Wochen und Monaten zu einer breiten Debatte über die
immense Verschwendung von Lebensmitteln in
Deutschland und weltweit geführt. Nach Schätzungen
der Welthungerhilfe landen bei uns Jahr für Jahr über
20 Millionen Tonnen Lebensmittel im Wert von unge-
fähr 25 Milliarden Euro auf dem Müll. Mit eingerechnet
sind dabei noch nicht einmal die Ausschüsse, die bereits
auf dem Feld anfallen – etwa weil die Kartoffeln oder
Gurken nicht den zum Teil völlig unsinnigen Schön-
heitsidealen des Handels und vieler Verbraucherinnen
und Verbraucher entsprechen.
Deshalb ist es gut und richtig, diese Debatte jetzt breit
in der Gesellschaft zu führen. Auch die von Bundes-
ministerin Aigner lange angekündigte Studie ist an sich
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zu begrüßen; denn exakte Daten zum Ausmaß der Le-
bensmittelabfälle auf den unterschiedlichen Stufen der
Wertschöpfungskette liegen für Deutschland noch nicht
vor. Hier hat es Frau Aigner mal wieder verschlafen, sich
rechtzeitig um diese so entscheidende Problematik zu
kümmern. Andere Länder wie Österreich oder Großbri-
tannien sind uns bereits weit voraus. Daten wurden dort
schon lange erhoben, und es wurden konkrete Lösungs-
ansätze zur Eindämmung der Verschwendung in Angriff
genommen. Davon ist Ministerin Aigner noch weit ent-
fernt. Darüber, wie und mit welchen Maßnahmen die Le-
bensmittelabfälle verhindert oder zumindest verringert
werden sollen, hüllt sich Frau Aigner in Schweigen und
kann selbst auf Nachfrage keine Antwort geben.
Konkrete Schritte sind aber bereits heute notwendig.
Die einzig bisher sichtbare Leistung Frau Aigners ist das
Einrichten des Internetseite „Jedes Mahl wertvoll“, auf
der man „wertvolle Haushaltstipps“ bekommt. Das ist
ganz schön schwach und legt überdies den Verdacht
nahe, dass Frau Aigner die Verantwortung mal wieder
gänzlich den Verbrauchern zuschieben und sich aus ihrer
politischen Verantwortung stehlen will. Gezielte Ver-
braucheraufklärung ist wichtig und auch im Bereich der
Lebensmittelverschwendung unabdingbar, aber hier
macht es sich Frau Aigner zu einfach.
Auch die Politik von Schwarz-Gelb ist in erheblichem
Ausmaß Mitschuld an unserem Umgang mit Lebensmit-
teln. Vor allem bei der Fleischproduktion, aber auch in
anderen Bereichen, setzt die Bundesregierung noch im-
mer auf Masse statt Klasse und auf billige Massenpro-
duktion. Die Überproduktion von Lebensmitteln hat
System und das Wegwerfen von Lebensmitteln ist einge-
plant. Davon müssen wir weg. Frau Aigners Appell für
eine höhere Wertschätzung von Lebensmitteln verpufft,
wenn sie nicht selbst politische Konsequenzen zieht.
Was wir brauchen ist eine stärkere Förderung der nach-
haltigen Lebensmittelerzeugung, eine Stärkung regiona-
ler Wirtschaftskreisläufe und des Biolandbaus.
Dazu gehört auch eine ehrliche Preisstruktur. Die
hoch subventionierte industrialisierte Lebensmittel-
erzeugung hat massive negative Auswirkungen auf un-
sere Umwelt und die Gesundheit von Menschen und Tie-
ren. Viele Produkte werden eher weggeworfen, weil sich
aussortieren oder eine Prozessoptimierung bei den gerin-
gen Preisen nicht lohnt. Deshalb brauchen wir Preise, die
die Wahrheit sagen. Die negativen Auswirkungen müs-
sen sich im Preis widerspiegeln und so einen Anreiz bie-
ten für den Kauf nachhaltiger Produkte und die Vermei-
dung von Verschwendung. Dadurch wird auch die
Wertschätzung von Lebensmitteln wieder gestärkt.
Auch im Bereich der Handels- und Qualitätsnormen
ist Frau Aigner gefragt. Viele Produkte, die rein äußer-
lich nicht den Idealvorstellungen von Handel oder Ver-
brauchern entsprechen, werden weggeworfen. Dabei
sind sie qualitativ einwandfrei und für alternative Ver-
marktungszwecke – wie zum Beispiel zu kleine Karotten
oder Äpfel als Kindersnacks – ideal geeignet. Hier for-
dere ich Frau Aigner auf, einen Innovationswettbewerb
auszurufen, um die unnötigen Abfälle bei der Lebens-
mittelerzeugung kreativ zu verringern.
Das zeigt, die Debatte darf sich nicht nur auf das Min-
desthaltbarkeitsdatum beschränken. Hier gibt es erhebli-
chen Aufklärungsbedarf darüber, was der Begriff meint,
aber auch darüber, wie lange die Produkte tatsächlich
haltbar und verwendbar sind. Die Verbraucherforschung
und Aufklärung muss deutlich gestärkt werden. Gute Er-
nährungsbildung fängt bereits in der Schulzeit an und
muss in die Lehrpläne integriert werden. NRW geht un-
ter grüner Regierungsbeteiligung mit gutem Beispiel vo-
ran. So hat NRW bereits einen Runden Tisch einberufen,
um gemeinsam mit Lebensmittelerzeugern, Verarbei-
tung, Handel, Wissenschaft und Verbrauchern Maßnah-
men zur Verhinderung der Lebensmittelverschwendung
zu entwickeln. Daran muss sich die Bundesregierung ein
Beispiel nehmen. Nur Daten zu ermitteln ist nicht genug.
Um die immense Verschwendung von Lebensmitteln auf
allen Stufen der Wertschöpfungskette in den Griff zu be-
kommen, brauchen wir ein integratives Konzept. Das
muss Frau Aigner vorlegen – und zwar schnellstmög-
lich.
Anlage 8
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Umsetzung der Beitreibungsrichtlinie sowie zur
Änderung steuerlicher Vorschriften (Beitreibungs-
richtlinie-Umsetzungsgesetz – BeitrRLUmsG) (Ta-
gesordnungspunkt 23)
Olav Gutting (CDU/CSU): Im Umsetzungsgesetz
zur Beitreibungsrichtlinie transformieren wir nicht nur
die EU-Richtlinie über die Amtshilfe bei der Beitreibung
von Forderungen in Bezug auf bestimmte Steuern, Ab-
gaben und sonstige Maßnahmen in unser nationales
Recht, sondern setzen auch gleichzeitig notwendigen
und unaufschiebbaren steuerlichen Änderungsbedarf in
einigen Bereichen des Steuerrechts um.
Der erste Halbsatz im Namen dieses Gesetzes mag
täuschen, aber wir setzen mit diesem Gesetz im steuerli-
chen Bereich nicht nur technische Änderungen, sondern
auch bedeutsame steuervereinfachende und deshalb für
jeden Bürger spürbare Regelungen um.
Ein Beispiel hierfür ist ELStAM. Mit der Einführung
der elektronischen Lohnsteuermerkmale können die jähr-
lich circa 40 Millionen Papierlohnsteuerkarten endgültig
entfallen. Bereits seit diesem Jahr stellen die Gemeinden
keine Lohnsteuerkarten mehr aus, sodass die letzten, der-
zeit noch gültigen, Papierlohnsteuerkarten aus dem Jahr
2010 stammen.
Eins ist klar: Der Wegfall der Lohnsteuerkarte und die
elektronische Übermittlung der Lohnsteuerabzugsmerk-
male und deren Änderungen zwischen Finanzverwaltung
und Arbeitgebern führen zu einer deutlichen Bürokratie-
entlastung aller Beteiligten. Medienbrüche durch die
Übertragung elektronisch gespeicherter Daten auf die
Papierlohnsteuerkarte und die damit verbundene Fehler-
quelle gehören damit der Vergangenheit an.
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Der von uns eingeschlagene Weg zur Vereinfachung
und Entbürokratisierung unseres Steuerrechts wird mit
den ELStAM-Regelungen konsequent fortgesetzt.
Auch die Erhebung der Kirchensteuer auf die der Ab-
geltungsteuer unterliegenden Kapitalerträge wird enorm
vereinfacht und automatisiert.
Den besonderen datenschutzrechtlichen Gegebenhei-
ten hinsichtlich der Religionszugehörigkeit haben wir im
Gesetzgebungsverfahren besondere Aufmerksamkeit zu-
kommen lassen. Auch wenn die Kreditinstitute zukünf-
tig einmal im Jahr elektronisch beim Bundeszentralamt
für Steuern den Kirchensteuersatz des Steuerpflichtigen
abfragen können, so muss kein Steuerbürger befürchten,
seine Religionszugehörigkeit gegenüber den Banken und
Versicherungen offenlegen zu müssen.
Wir haben sichergestellt, dass jeder Bürger den Abruf
der Daten zur Religionszugehörigkeit durch einen Sperr-
vermerk beim Bundeszentralamt für Steuern widerspre-
chen kann. Die Institute bekommen dann nur eine nicht
verwertbare Nullmeldung.
Man kann also festhalten, dass mit dem nunmehr ge-
fundenen Verfahren alle Beteiligten zufrieden sind: die
kirchensteuerabführenden Banken und Versicherungen,
die Kirchen und nicht zuletzt der Datenschutzbeauf-
tragte.
Nachbesserungen waren auch bei der Riester-Rente
notwendig. Zukünftig wird es Rückerstattungsansprüche
der Zulagenstelle gegenüber dem mittelbar zulagebe-
rechtigten Ehegatten – wie in der jüngsten Vergangen-
heit aufgrund eines Wechsels des Zulagestatus gesche-
hen – nicht geben, da wir für diesen einen eigenen
Mindestbeitrag in Höhe von 60 Euro jährlich festschrei-
ben.
Wir wollten jedoch auch für die bisherigen Rückfor-
derungsfälle eine sachgerechte und vor allem aber einfa-
che Lösung. Wir haben daher die Möglichkeit der Nach-
zahlung von Altersvorsorgebeiträgen geschaffen. Die
Zulagenstelle soll insoweit möglichst bis zum 31. Januar
2012 die Nachzahlungsfälle ermitteln und diese den je-
weiligen Anbietern der Altersvorsorgeverträge übermit-
teln, damit diese ihre Kunden über die Nachzahlungs-
möglichkeit informieren können.
Die Beratungen haben gezeigt, dass ein solches Ver-
fahren unnötigen administrativen Aufwand vermeidet
und im Sinne aller Verfahrensbeteiligten zu einer einfa-
chen Abwicklung der Nachzahlung führt. Wiederum ein
Beitrag, unser schon komplexes und schwieriges Steuer-
system nicht noch weiter zu verkomplizieren.
Nachzahlungsberechtigt ist nur derjenige Personen-
kreis, welcher annahm, mittelbar zulagenberechtigt zu
sein, obwohl diese Personen unmittelbar zulagenberech-
tigt waren.
Mit dem vorliegenden Gesetz hat die Regierungsko-
alition zudem die Möglichkeit genutzt, sich zur Absetz-
barkeit von Ausbildungskosten zu positionieren und die
bisherige, vom Gesetzgeber gewollte Rechtslage im An-
schluss an eine BFH-Rechtsprechung klarzustellen. Wir
wollen weiterhin, dass Berufsausbildungskosten für eine
erstmalige Berufsausbildung oder für ein Erststudium,
welches zugleich eine Erstausbildung vermittelt, vom
Betriebsausgabenabzug ausgeschlossen sind.
Bei dieser Entscheidung haben wir uns vor allem von
einem zu vermeidenden erheblichen administrativen
Verwaltungsaufwand und den nicht zu verantwortenden
Steuerausfällen von über 1 Milliarde Euro leiten lassen.
Von Bedeutung ist aber auch, dass die vielen Tausend
Studierenden, die ihr Studium durch Nebentätigkeiten
selbst finanzieren müssen, von der BFH-Rechtsprechung
regelmäßig sowieso nicht profitiert hätten, weil deren
Ausbildungskosten jährlich mit den Einnahmen aus den
Nebentätigkeiten verrechnet werden, ohne dass sich ein
besonderer steuerlicher Vorteil ergibt.
Festzuhalten ist, dass das vorliegende Gesetz in we-
sentlichen Punkten Erleichterungen und Vereinfachun-
gen für die Steuerbürger und Verwaltung bringt und al-
leine deshalb zu begrüßen ist.
Abschließend bedanke ich mich bei den Berichterstat-
tern in der Koalition und auch Opposition für die um-
fangreiche, aber letztendlich immer gute, faire und ziel-
orientierte Zusammenarbeit.
Antje Tillmann (CDU/CSU): Das „Gesetz zur Um-
setzung der Beitreibungsrichtlinie sowie zur Änderung
steuerlicher Vorschriften“ ist nach dem Steuervereinfa-
chungsgesetz das zweite große Steuergesetz in diesem
Jahr, mit dem wir das Steuerrecht sowohl für die Steuer-
pflichtigen als auch für die Verwaltung vereinfachen.
Insbesondere kommt das digitale Zeitalter sukzessive in
allen Teilen des Steuerrechts an. Auch das Abstim-
mungsverhalten der Oppositionsfraktionen im Finanz-
ausschuss zeigt, dass es an diesem Gesetzentwurf nicht
viel zu kritisieren gibt. Denn in diesem federführenden
Ausschuss hat sich die Opposition gestern enthalten.
A. Kindergeld Bundesfreiwilligendienst
Zum 1. Juli hat der Bundesfreiwilligendienst den als
Alternative zum bisherigen Wehrdienst bestehenden Zi-
vildienst abgelöst. Bisher steht allerdings noch keine Re-
gelung im Bundesgesetzblatt, die die Frage des Kinder-
geldbezugs aufgreift. Wir werden nun eine Regelung in
Kraft setzen, mit der das Problem der fehlenden Kinder-
geldberechtigung von jungen Menschen bis 25 Jahre, die
den neuen Dienst ableisten, beseitigt wird. Damit wird
der Bundesfreiwilligendienst künftig gleichberechtigt
neben dem Freiwilligen Sozialen Jahr und dem Freiwilli-
gen Ökologischen Jahr sowie den Internationalen Ju-
gendfreiwilligendiensten, für die wir die Kindergeldbe-
rechtigung rückwirkend zum 1. Januar einführen, stehen.
Bei der Frage des Zugangs zum Familienleistungsaus-
gleich kommt es nun also nicht mehr darauf an, welchen
Freiwilligendienst der oder die Jugendliche ableistet.
Selbstverständlich hätte ich mir eine sehr viel schnel-
lere Lösung an diesem Punkt gewünscht, um so für alle
seit Jahresmitte angetretenen Freiwilligen unmittelbar
von Beginn an Rechtssicherheit zu gewährleisten. Eine
Regelung bereits im Steuervereinfachungsgesetz war im
damaligen Verfahren nicht möglich. Aufgrund des erst
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vor einem Monat abgeschlossenen Vermittlungsverfah-
rens stünde die Regelung zum Kindergeld aber ohnehin
noch gar nicht im Gesetzblatt. Das Steuervereinfa-
chungsgesetz ist bis zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht
verkündet worden.
Die Regelung zum Kindergeldbezug beim Bundes-
freiwilligendienst wird nun aber rückwirkend zum Be-
ginn des Bundesfreiwilligendienstes in Kraft treten. Da-
mit können wir sicherstellen, dass alle in Betracht
kommenden Anspruchsberechtigten, die bereits seit Juli
im Bundesfreiwilligendienst tätig sind, auch tatsächlich
in den Familienleistungsausgleich einbezogen werden.
Die seit Juli bestehende Regelungslücke beim Kin-
dergeld konnte das Bundesfinanzministerium durch eine
Verwaltungsanweisung an die Familienkassen ausfüllen
und damit zumindest Planungssicherheit schaffen. Die
Familienkassen haben Kindergeldanträge von Freiwilli-
gendienstleistenden seitdem von der Bearbeitung
zurückgestellt und werden diese erst dann wieder auf-
nehmen, wenn die rückwirkende Neuregelung im Bun-
desgesetzblatt steht. Damit haben wir verhindert, dass
Kindergeldanträge nur deshalb abgelehnt werden müs-
sen, weil noch keine Rechtsgrundlage für die Zahlung
des Kindergelds existiert. Sobald die Neuregelung in
Kraft tritt, können die aufgelaufenen Anträge bearbeitet
und das Kindergeld an die Anspruchsberechtigten ausge-
zahlt werden. Damit wird sich auch die oft in Zweifel
gezogene Anzahl von Bewerbern für den Bundesfreiwil-
ligendienst weiter erhöhen, was nur zu begrüßen ist.
B. Kirchensteuer
Wir vereinfachen das Verfahren des Kirchensteuerab-
zugs bei Kapitalerträgen, indem wir ab dem Jahr 2013
ein automatisiertes Kirchensteuerabzugsverfahren ein-
führen. Wir entschlacken das Verfahren von Bürokratie.
Hierdurch verbessert sich die Situation für alle Beteilig-
ten enorm. Es geht darum, Banken, Kirchen und Steuer-
pflichtige von einem äußerst bürokratischen Übergangs-
verfahren nach Einführung der Abgeltungsteuer zu
befreien, das gleichzeitig den Erfordernissen des Daten-
schutzes Rechnung trägt.
Das Kreditinstitut fragt künftig beim Bundeszentral-
amt für Steuern den Kirchensteuersatz des Steuerpflich-
tigen ab und führt die Kirchensteuer zusammen mit der
Abgeltungsteuer an das Finanzamt ab. Die Kirchen er-
halten die Kirchensteuer schneller und mit sehr großer
Wahrscheinlichkeit von einer größeren Anzahl an Kir-
chensteuerpflichtigen. Denn der Steuerpflichtige muss
nicht mehr selbst aktiv werden und einen Antrag bei sei-
ner Bank stellen oder später seine Kapitalerträge in der
Steuererklärung angeben, um Kirchensteuer zahlen zu
dürfen. Kirchensteuer wird vielmehr grundsätzlich auto-
matisch abgeführt. Dazu fragt die Bank den jeweils für
den Kunden maßgebenden Kirchensteuersatz beim Bun-
deszentralamt für Steuern ab. Es werden also grundsätz-
lich auch diejenigen erfasst, die heute bei ihrer Bank kei-
nen Kirchensteuereinbehalt beantragen und auch keinen
Antrag auf Veranlagung stellen; eine große Verbesserung
zum heutigen Zustand.
Hier beginnen aber auch die Vorteile für den Steuer-
pflichtigen. Er muss nicht mehr aktiv den Kirchensteuer-
abzug bei seiner Bank beantragen. Möchte der Kirchen-
steuerpflichtige allerdings verhindern, dass seine Bank
über die Höhe der abzuführenden Kirchensteuer auf
seine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religionsge-
meinschaft schließen kann, hat er die Möglichkeit, beim
Bundeszentralamt für Steuern einen Sperrvermerk set-
zen zu lassen. Dann führt nicht die Bank die Kirchen-
steuer ab. Vielmehr ist der Steuerpflichtige verpflichtet,
sich über die Höhe der abgeltend abgeführten Kapitaler-
tragsteuer zur Kirchensteuer veranlagen zu lassen. Es
bleibt ihm selbstverständlich unbenommen, sich über die
Günstigerprüfung einkunftsartenübergreifend zur Kir-
chensteuer veranlagen zu lassen.
C. Istbesteuerung
Der Bundesrat hatte zudem beantragt, die umsatzsteu-
erliche Istbesteuerung für kleine und mittlere Unterneh-
men bis zu 500 000 Euro Umsatz um ein Jahr über 2011
hinaus zu verlängern. Diese Erleichterung war mittel-
ständischen Unternehmen als Folge der weltweiten Fi-
nanz- und Wirtschaftskrise bundesweit gewährt worden
und leistet einen signifikanten Beitrag zur Liquiditätssi-
cherung. Mit der Istbesteuerung haben Unternehmen die
Möglichkeit, die Umsatzsteuer erst nach Begleichung
der Rechnung durch den Leistungsempfänger ans Fi-
nanzamt abzuführen. Würde die jetzige Regelung zum
Ende des Jahres auslaufen, fiele die Grenze bundesweit
von 500 000 Euro auf 250 000 Euro zurück.
Bei der dann geltenden Sollbesteuerung erhält das Fi-
nanzamt die Steuer bereits bei Leistungserbringung. Der
Unternehmer muss also in Vorleistung treten und riskiert
dabei seine gerade bei kleinen Unternehmen oft lebens-
wichtige Liquidität. Ein kleines Unternehmen, das zu-
nächst Material und Umsatzsteuer vorfinanzieren muss,
und dies möglicherweise auf Kredit, wird sich sehr ge-
nau überlegen, ob es sich „leisten“ kann, einen Großauf-
trag anzunehmen.
Dem Anliegen des Bundesrats sind wir noch schneller
und weitergehend nachgekommen, als dieser es bean-
tragt hat. Der Bundestag hat der dauerhaften Entfristung
der Regelung zur Istbesteuerung in der vergangenen Wo-
che einstimmig zugestimmt. Die Möglichkeit der Istbe-
steuerung hätte ohne diesen Beschluss ab 2012 vielen
mittelständischen Unternehmen nicht mehr zur Verfü-
gung gestanden.
Der Vorschlag des Bundesrats, die Regelung erneut
lediglich um ein Jahr zu verlängern, hätte aber nur dann
Sinn gemacht, wenn die Situation sich innerhalb eines
Jahres so verändern würde, dass eine nochmalige Ver-
längerung der Regelung nicht mehr ratsam wäre. Ich
sehe aber nicht, was in Zeiten zurückgehender Wachs-
tumsraten dann genau dafür sprechen sollte. Deshalb ha-
ben sich auch alle Sachverständigen in der Anhörung
und sämtliche Fraktionen des Bundestags für die dauer-
hafte Verlängerung der Istbesteuerung ausgesprochen.
Ohne die jetzt gefundene Lösung wäre auch die 2007
erfolgte Anhebung der Grenze der Buchführungspflicht
auf einen Umsatz von mehr als 500 000 Euro Makulatur.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Oktober 2011 16289
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Die dadurch erreichten Einsparungen an Bürokratiekos-
ten in den Unternehmen würden in ihr Gegenteil ver-
kehrt, wenn die Unternehmen wegen einer Absenkung
der Istbesteuerungsgrenze bei der Umsatzsteuer doch ge-
zwungen wären, eine Buchführung zu installieren.
Aufgrund der Einigung auf ein verkürztes Verfahren
wird der Bundesrat nun bereits Anfang November über
die Vorlage zur Istbesteuerung entscheiden. Damit er-
möglichen wir unseren mittelständischen Unternehmen
frühzeitig Rechts- und Planungssicherheit.
D. Zerlegungmaßstab Gewerbesteuer
Der Bundesrat hat vorgeschlagen, den besonderen
Zerlegungsmaßstab in der Gewerbesteuer, der bislang
nur für Windkraftanlagen gilt, auch auf Photovoltaikan-
lagen auszudehnen. Damit soll erreicht werden, dass
nicht nur die Sitzkommune des Unternehmens von der
Gewerbesteuer profitiert, sondern auch die Gemeinde, in
der sich die Anlagen befinden. Die Anzahl und das
Tempo von Baugenehmigungen könnte hierdurch erhöht
werden.
Die energiepolitische Notwendigkeit hält das Bun-
desumweltministerium allerdings für fraglich. Im Jahr
2009 hatten wir einen Zubau von 3 800 Megawatt zu
verzeichnen, 2010 sogar von 7 400 Megawatt. Das liegt
deutlich über dem vom Erneuerbare-Energien-Gesetz
angestrebten Ausbauziel von 3 500 Megawatt.
Wir wollen die Anregungen des Bundesrats daher in
einem der nächsten Gesetzgebungsverfahren zuerst prü-
fen. Dabei sollten wir uns allerdings nicht nur auf Photo-
voltaikanlagen beschränken, sondern die Regelung zum
gewerbesteuerlichen Zerlegungsmaßstab in ihrer Ge-
samtheit einer Prüfung unterziehen. Denn es wäre wenig
sinnvoll, wenn der dann noch weiter fortschreitende Zu-
bau an Photovoltaikanlagen zu einer noch schnelleren
und erheblicheren Reduzierung der Einspeisevergütung
führt. Bei einer einseitigen Konzentration auf die Photo-
voltaik müssten wir den Bürgern wie auch den Unter-
nehmen zudem erklären, weshalb beispielsweise Biogas-
anlagen oder auch Flughäfen, die eine ähnliche oder
sogar größere Lärmbelästigung für die Anwohner bedeu-
ten als Windkraftanlagen, nicht in den besonderen Zerle-
gungsmaßstab einbezogen werden sollen.
E. Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen
Ich bin auch froh, dass bei den Sonderbedarfs-Bun-
desergänzungszuweisungen zum Ausgleich der Sonder-
lasten durch die strukturelle Arbeitslosigkeit eine einver-
nehmliche Regelung getroffen werden konnte.
Diese Zuweisungen wurden mit den Arbeitsmarktre-
formen von 2003 eingeführt. Mit der Reform sollten die
Kommunen bundesweit um 2,5 Milliarden Euro entlastet
werden. Der Bund finanziert seitdem das Arbeitslosen-
geld II. Die Kommunen werden dadurch von den Sozial-
hilfeausgaben der erwerbsfähigen Sozialhilfeempfänger
entlastet. Die Kommunen finanzieren im Gegenzug die
Kosten der Unterkunft der Hartz-IV-Empfänger, wobei
sich der Bund quotal an der Finanzierung beteiligt. Da
die Zahl der Sozialhilfeempfänger in den neuen Län-
dern aufgrund der ostdeutschen Erwerbsbiografien ver-
hältnismäßig gering war, war eine weitere finanzielle
Unterstützung der ostdeutschen Kommunen erforder-
lich, um die zugesagte Entlastung zu erreichen. Deshalb
erhalten die ostdeutschen Länder seitdem die sogenann-
ten Hartz-IV-Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuwei-
sungen. Die Höhe wurde im Ergebnis einer Bilanzbe-
trachtung der Be- und Entlastungswirkungen der
Hartz-IV-Reform für die Kommunen in den einzelnen
Ländern ermittelt. Sie wurde zunächst auf 1 Milliarde
Euro festgelegt und wird alle drei Jahre überprüft.
Glücklicherweise sind die Unterschiede zwischen
Ost- und Westdeutschland mittlerweile nicht mehr so
immens, sodass die Höhe von 1 Milliarde Euro in der
neuen Berechnung nicht mehr aufrechtzuerhalten war.
Zur Berechnung der Mittel hat sich eine Arbeitsgruppe
der Finanzministerkonferenz nun auf das sogenannte
Relations-Modell verständigt. Demnach ergibt sich für
die Jahre 2011, 2012 und 2013 ein jährlicher Anspruch
in Höhe von 807 Millionen Euro. Für das Jahr 2011
wurde eine Überzahlung von 193 Millionen Euro ermit-
telt, die in den Jahren 2012 und 2013 zu gleichen Teilen
verrechnet werden soll. Das heißt, in den Jahren 2012
und 2013 werden nur jeweils 710,5 Millionen Euro ge-
zahlt.
Damit haben wir im Ergebnis einen tragfähigen Kom-
promiss zwischen den Interessen der westdeutschen und
der ostdeutschen Länder. Die Verständigung auf eine
objektive Prüfmethode gibt den neuen Ländern hinsicht-
lich der Hartz-IV-Sonderbedarfs-Bundesergänzungszu-
weisungen Planungssicherheit bis zum Auslaufen des Fi-
nanzausgleichsgesetzes im Jahr 2020.
Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): Wir beraten
heute in zweiter und dritter Lesung den Entwurf der
Bundesregierung für ein Gesetz zur Umsetzung der Bei-
treibungsrichtlinie und zur Änderung steuerlicher Vor-
schriften. Der Titel des Regierungsentwurfs verschleiert
etwas; dass wir genau genommen eigentlich zwei Ge-
setze debattieren, die inhaltlich auf den ersten Blick we-
nig miteinander zu tun haben – auf den zweiten übrigens
auch nicht.
Das Umsetzungsgesetz zur Anpassung der bestehen-
den Regelungen zur Amtshilfe zwischen Finanzverwal-
tungsbehörden innerhalb der EU bei Fragen der Beitrei-
bung von Steuern und Abgaben umfasst Art. 1 des
Gesetzentwurfs; der Rest von Art. 2 bis Art. 22 ist quasi
ein Jahressteuergesetz 2011 in Verkleidung, das zahlrei-
che Änderungen in unterschiedlichen Bereichen des
Steuerrechts zusammenfasst und dabei auf europarecht-
liche und innerstaatliche Entwicklungen, Entscheidun-
gen der Finanzgerichtsbarkeit oder Anregungen aus der
Finanzverwaltung von Bund und Ländern eingeht und
Anpassungen an sich ändernde Rechtslagen vornimmt.
Die Bundesregierung verpackt eine Vielzahl unter-
schiedlicher, isolierter Rechtsänderungen in einem einzi-
gen Gesetz, wie sie das in ähnlicher Weise schon beim
sogenannten Steuervereinfachungsgesetz getan hat. Viel-
leicht wollte sie sich und uns Parlamentariern damit die
umfangreichen Beratungen eines eigenen Jahressteuer-
gesetzes ersparen. Man kann es dem Kollegen Gutting
16290 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Oktober 2011
(A) (C)
(D)(B)
sicher nicht verdenken, wenn er das Gesetz in den parla-
mentarischen Beratungen versehentlich als Jahressteuer-
gesetz bezeichnet hat. Vielleicht wollte die Regierungs-
koalition – was ich eher vermute – die an und für sich
schon im Bundesrat zustimmungspflichtige Umsetzung
der europäischen Beitreibungsrichtlinie einfach um ei-
nen ganzen Strauß zustimmungspflichtiger Vorhaben an-
reichern und dadurch ein weiteres aufwendiges Verstän-
digungsverfahren mit den Bundesländern vermeiden.
Jedenfalls sorgt die Regierung damit für eine deutliche
Zunahme an Komplexität und Umfang des Gesetzes.
Gleichzeitig haben Bundesregierung und Koalitions-
fraktionen allerdings den Zeitraum, den wir für eine se-
riöse Beschäftigung mit dem Gesetz benötigen, auf den
letzten Metern stark „eingedampft“. Die späte Vorlage
von Änderungsanträgen der Koalitionsfraktionen und
die schwierige koalitionsinterne Abstimmung zwischen
der CDU, der CSU und der FDP haben unsere Arbeit
ebenfalls nicht leichter gemacht. Ich danke deshalb an
dieser Stelle den Fachbeamten des Bundesfinanzministe-
riums, die in zwei Fachgesprächen mit den zuständigen
Berichterstattern der Fraktionen dem hohen Beratungs-
und Aufklärungsbedarf gerecht zu werden versuchten,
sowie den Sachverständigen für ihre schriftlichen und
mündlichen Stellungnahmen zur Anhörung.
Eigentlich müsste ich eine ausreichende Beratungs-
zeit nicht ausdrücklich erwähnen – eigentlich eine
Selbstverständlichkeit. Angesichts unserer schlechten
Erfahrungen mit vielen Gesetzentwürfen, die in der Ver-
gangenheit von Schwarz-Gelb unter hohem Zeitdruck
und in eigentlich in fast unverantwortlicher, unseriöser
Art und Weise verkürzten Beratungsfristen durch das ge-
setzgeberische Verfahren gepresst wurden, scheint mir
dieser Hinweis leider erforderlich. Ich erinnere in die-
sem Zusammenhang etwa an die finanziellen Rettungs-
maßnahmen für Mitgliedstaaten der Euro-Zone oder die
Kehrtwende der Bundeskanzlerin in Sachen Energiepoli-
tik. Hier wurden Beschlüsse des Bundestages gefasst,
deren politische, soziale, wirtschaftliche Bedeutung fast
schon umgekehrt proportional zur Dauer und Tiefe der
Beschäftigung des Gesetzgebers damit war.
Es wäre für die öffentliche Wahrnehmung der Koali-
tion und ihres Verständnisses der Einbindung aller Frak-
tionen in die gesetzgeberische Arbeit ein schlechtes Zei-
chen, wenn der hektische Umgang mit Verfahrensregeln
und eine gezielte, schleichende Überlastung der Aus-
schussberatungen – mehr Arbeit, weniger Zeit – zum
dauerhaften Makel schwarz-gelber Parlamentsarbeit
würde. Mit Blick auf diese Entwicklungen befürchte ich,
dass die zahlreichen Mahnungen von Bundestagspräsi-
dent Dr. Norbert Lammert an die Bundesregierung und
die sie tragenden Koalitionsfraktionen wenig dazu bei-
tragen konnten, das Bewusstsein für die zeitlichen, mate-
riellen, organisatorischen Voraussetzungen guter gesetz-
geberischer Arbeit wieder stärker zu achten.
Man kann daher fast schon froh sein, dass die Bun-
desregierung auf ihr ursprüngliches Vorhaben verzichtet,
das Umwandlungssteuerrecht im „Schnelldurchlauf“ an
die EU-Vorgaben zur Entflechtung vertikal integrierter
Energieversorger anzupassen – eine wichtige Weichen-
stellung für den steuerlichen Handlungsrahmen deut-
scher Energieversorgungsunternehmen. Diese Regelung
war schon in das – mittlerweile im Bundesrat geschei-
terte – Fördergesetz für die energetischen Gebäudesanie-
rung „hineingemogelt“ worden, ohne dass hierfür eine
sachliche Rechtfertigung bestanden hätte, geschweige
denn ausreichender Beratungsbedarf eingeräumt worden
wäre.
Die vorgesehene Einführung einer steuerlichen Teil-
betriebsfiktion als Voraussetzung für eine steuerneutrale
Übertragung von Wirtschaftsgütern im Zuge der Ent-
flechtung von Netz und Betrieb ist allerdings ein kom-
plexes, folgenreiches Unterfangen. Wir können im parla-
mentarischen Verfahren daher auf ausreichende
Beratung und Diskussion nicht verzichten. Es ist erfreu-
lich, wenn die Koalitionsfraktionen ihren Fehler nicht
wiederholt und die Anpassung im Zuge einer umfassen-
den Neuregelung des Unternehmensteuerrechts – wo sie
hingehört – ankündigt. Wir dürfen auf die Einbindung
aller Bundestagsfraktionen in diese Beratungen gespannt
sein.
Zurück zum heute abschließend zu beratenden Ge-
setzentwurf. Die SPD-Bundestagsfraktion enthält sich
bei der Abstimmung über den Gesetzentwurf der
Stimme, auch wenn wir wichtige Zielsetzungen des Ge-
setzes unterstützen, etwa die Verbesserung der grenz-
überschreitenden Amtshilfe bei der Beitreibung von
Steuern und Abgaben und die „Heilung“ der Schutzlü-
cke für mittelbar zulageberechtigte Personen im Rahmen
der steuerlich geförderten Altersvorsorge, Riester-Rente,
durch einen Mindestbeitrag von 60 Euro pro Jahr und die
Einrichtung einer Nachzahlungsmöglichkeit.
Wir haben auch den von den Koalitionsfraktionen
vorgelegten Änderungsanträgen zugestimmt, die viele
Anregungen des Bundesrats aufgegriffen haben. Manche
dieser Änderungen greifen Verbesserungsvorschläge
auf, die wir während der parlamentarischen Beratungen
mit eigenen Anträgen dokumentiert haben. Dabei denke
ich etwa an die Schließung von Gestaltungsmöglichkei-
ten bei der Schenkungsteuer, die zulasten der Einnahmen
der Bundesländer gingen. Ich werde auf diesen Punkt
später zurückkommen. Für eine Zustimmung zum Ge-
setzentwurf hatten wir allerdings auf ein Entgegenkom-
men von CDU, CSU und FDP an einer Stelle gehofft, die
uns sehr wichtig ist. Leider hat die koalitionsinterne Un-
einigkeit hier einen Kompromiss verhindert.
Wir haben eine Anregung des Bundesrats aufgegrif-
fen und eine Regelung zur gewerbesteuerlichen Zerle-
gung bei Photovoltaikanlagen vorgeschlagen. Die bis-
herige Rechtslage bedarf aus umwelt- und
energiepolitischen Gründen dringend der Verbesserung.
Der Zerlegungsmaßstab „Arbeitslöhne“, § 29 Gewerbe-
steuergesetz, benachteiligt die Standortgemeinden, in
denen Photovoltaikanlagen betrieben werden. Sie erhal-
ten in der Regel keinen Zerlegungsanteil aus den Gewer-
besteuereinnahmen, da dort keine Arbeitnehmer des Un-
ternehmens beschäftigt sind. Die Einnahmen fließen
meist in die Gemeinden, in der das Unternehmen seinen
Geschäftssitz hat. Wir beobachten, dass diese struktu-
relle Nichtberücksichtigung der Standortgemeinden ihre
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Oktober 2011 16291
(A) (C)
(D)(B)
Bereitschaft bremst, Flächen für Photovoltaikanlagen
auszuweisen, aber auch die mit dem Bau und Betrieb
entsprechender Anlagen einhergehenden Beeinträchti-
gungen zu tragen.
Mit unserem Vorschlag zur Änderung des Gewerbe-
steuergesetzes wollen wir daher die Standortgemeinden
stärker an den Einnahmen beteiligen. In Anlehnung an
den Zerlegungsmaßstab für Windkraftanlagen sollte der
Gewerbesteuermessbetrag bei Photovoltaikanlagen zu
drei Zehnteln nach dem Verhältnis der Arbeitslöhne und
zu sieben Zehnteln nach dem Verhältnis fertiggestellter
Sachanlageinvestitionen – ohne Betriebs- und Ge-
schäftsausstattung – aufgeteilt werden.
Bedauerlicherweise hat Schwarz-Gelb die Gelegen-
heit verpasst, sich unserem Vorschlag zum Abbau steu-
erlicher Hürden anzuschließen und damit die weitver-
breiteten – und offensichtlich begründeten – Zweifel an
ihrem Bekenntnis zur Förderung umweltfreundlicher
Energieerzeugung zu zerstreuen. Stattdessen konnte sich
die Regierung lediglich dazu durchringen, eine Prüfung
des Vorschlags in Aussicht zu stellen. Man beabsichtige
dabei, nicht einzelne Energieformen zu nennen, sondern
eine abstrakte Regelung für alle Energieformen zu fin-
den. Mir ist allerdings nicht ganz klar, wo genau weiterer
Prüfbedarf besteht; das Ziel „ressourcenschonende, um-
weltfreundliche Energieerzeugung“ ist klar, die steuerli-
chen Instrumente liegen auf dem Tisch. Worauf wartet
die Regierung? Ich habe den Eindruck, die vollmundig
angekündigte „Energiewende“ ist ein eher lauwarmes
Zugeständnis an die gesellschaftliche Mehrheitsmeinung
als ein echtes, ernstzunehmendes Bekenntnis für mehr
Energieeffizienz und Umweltschutz.
Auch die Beseitigung von Gestaltungsmöglichkeiten
bei der Schenkungsteuer in sogenannten Konzernfällen
ist den Koalitionsfraktionen leider nur halbherzig gelun-
gen. Der Bundesrat hatte in seiner Stellungnahme zum
Gesetzentwurf auf Lücken im Erbschaft- und Schen-
kungsteuerrecht hingewiesen, durch die die Steuerpflicht
von Zuwendungen zwischen einander nahestehenden
Personen innerhalb einer Kapitalgesellschaft, soge-
nannte Einlagefälle, oder zwischen Kapitalgesellschaf-
ten innerhalb eines Konzerns, sogenannte Konzernfälle,
umgangen werden kann. Im Ergebnis gehen den Bun-
desländern damit wichtige Steuereinnahmen verloren,
und die rechtliche Gleichbehandlung aller Steuerpflichti-
gen leidet. Der Änderungsantrag der SPD-Bundestags-
fraktion sah daher vor, diese Schlupflöcher zu schließen
und freigebige, disquotale Einlagen und bestimmte ver-
deckte Gewinnausschüttungen zwischen Kapitalgesell-
schaften künftig der Schenkungsteuer zu unterwerfen,
soweit es dadurch zu einer Vermögensverschiebung zwi-
schen den Beteiligten an der Gesellschaft kommt.
Diese Regelung erfasst beispielsweise Einlagekon-
stellationen, in denen ein Vater eine Einlage in eine Ka-
pitalgesellschaft einbringt, an der sein Sohn – mittel-
oder unmittelbar – beteiligt ist. Bislang stellt der Vermö-
gensvorteil, der dem Sohn durch die damit verbundene
Wertsteigerung seines Gesellschaftsanteils entstand,
keine freigebige Zuwendung dar und unterlag somit
nicht der Steuerpflicht. Eine direkte Schenkung zwi-
schen Vater und Sohn ist hingegen steuerpflichtig. Im
Ergebnis ist die „Umleitung“ einer beabsichtigten
Schenkung über eine Kapitalgesellschaft bislang ein
gern genutztes „Hintertürchen“ zur Umgehung der Steu-
erpflicht. Von diesem Gestaltungsmotiv müssen wir
auch deshalb ausgehen, da unter fremden Dritten über-
proportionale Einlagen in der Regel mit gesellschafts-
vertraglichen Zusatzklauseln versehen werden, die für
den einlegenden Gesellschafter gewährleisten, dass
seine überproportionale Einlage nicht zu einer endgülti-
gen Vermögensverschiebung zugunsten der Mitgesell-
schafter führt.
Der Antrag der SPD-Bundestagsfraktion folgt für
Konzernfälle der Zielsetzung, zum einen Steuerumge-
hung wirksam zu unterbinden, gleichzeitig aber unge-
rechtfertigte Belastungen für „echte“, nicht steuergestal-
terisch eingesetzte Vermögensübertragungen im Zuge
verdeckter Gewinnausschüttungen zwischen Konzernge-
sellschaften zu vermeiden. Unser Vorschlag ist dabei
umfassender und präziser als die von der Koalition ge-
troffene Regelung und erweist sich dabei als weniger ge-
staltungsanfällig und interpretationsbedürftig. Für Kon-
zernfälle, das heißt Vermögensverschiebungen zwischen
Kapitalgesellschaften innerhalb einer Konzernstruktur,
sahen unsere Überlegungen vor, diese als freigebige
– und damit steuerpflichtige – Zuwendungen einzustu-
fen, soweit sie nicht betrieblich veranlasst sind und so-
weit an den Gesellschaften nicht unmittelbar oder mittel-
bar dieselben Gesellschafter zu gleichen Anteilen
beteiligt sind. Wenn also beispielsweise eine Konzern-
mutter ihrer Tochtergesellschaft ein Grundstück über-
trägt und dies aus betriebswirtschaftlicher Blickrichtung
sinnvoll und nachvollziehbar ist – etwa für die Errich-
tung von Werkshallen –, unterliegt dieser Vorgang nicht
der Schenkungsteuer.
Die Koalitionsfraktionen haben allerdings einen an-
deren Weg gewählt und eine gestaltungsanfälligere Re-
gelung beschlossen. Nach den Vorstellungen von Union
und FDP sollen verdeckte Gewinnausschüttungen der
Steuerpflicht unterliegen, „soweit sie in der Absicht ge-
tätigt werden, Gesellschafter zu bereichern und soweit
an diesen Gesellschaften nicht unmittelbar oder mittel-
bar dieselben Gesellschafter zu gleichen Anteilen betei-
ligt sind“. Es geht hier also nicht – wie in unserem An-
trag – um das objektive Kriterium der betrieblichen
Veranlassung, sondern um eine Beurteilung der subjekti-
ven Absicht des Schenkenden zur Bereicherung anderer
Gesellschafter. Ich befürchte, diese schwammigen,
streitanfälligen Regelungen werden in der Praxis der
Rechtsanwendung und -auslegung dazu führen, dass die
steuerliche Erfassung vieler Vermögensübertragungen
letztlich vor Gericht entschieden werden müssen. Es fällt
mir schwer, nachzuvollziehen, warum die Koalition
zwar einerseits Gestaltungen zu vermeiden ankündigt,
die entsprechenden Regelungen allerdings so „brüchig“
ausgestaltet, dass der Praxistest wenig Gutes in puncto
Rechtssicherheit, Praktikabilität und Gleichbehandlung
erwarten lässt.
Es freut mich hingegen, dass sich die Koalitionsfrak-
tionen nach einigem Zögern unserem Vorschlag ange-
schlossen haben, Härten bei einer Zuwendung einer
16292 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Oktober 2011
(A) (C)
(D)(B)
Kapitalgesellschaft an eine einem Gesellschafter nahe-
stehende Person auszuräumen. Wir denken dabei etwa
an Konstellationen, in denen der Geschäftsführer einer
Gesellschaft seinem angestellten Sohn ein überhöhtes
Gehalt quasi als Vorauszahlung auf das künftige Erbe
zahlt. Die Regelung sieht vor, dass für die Besteuerung
das persönliche Verhältnis zwischen dem Gesellschafter
– hier dem Vater –, der die verdeckte Gewinnaussschüt-
tung veranlasst hat, und dem Begünstigten – hier dem
Sohn – maßgebend ist. Die Zuwendung unterliegt damit
nicht der Steuerklasse III, sondern der günstigeren Steu-
erklasse I. Es können somit niedrigere Steuersätze und
höhere Freibeträge angewandt werden.
Das aufschlussreiche Berichterstattergespräch mit den
Fachleuten des Bundesfinanzministeriums hat das Urteil
des Bundesfinanzhofs, BFH, zur steuerlichen Anerken-
nung von Ausbildungskosten wieder ins rechte Licht ge-
rückt. Es wurde deutlich, dass die Mehrzahl der Sachver-
ständigen – darunter auch ein amtierender sowie ein
ehemaliger BFH-Richter – dem Umschwung in der
BFH-Rechtsprechung nicht folgt. Wir haben uns – auch
mit Blick auf die drohenden Steuerausfälle in Höhe von
über 1 Milliarde Euro und den hohen zusätzlichen Ver-
waltungsaufwand – daher dem Antrag der Koalitions-
fraktionen angeschlossen, die bisherige Rechtslage zu
bestätigen; das bedeutet, dass die Kosten für eine erst-
malige Berufsausbildung oder ein Erststudium weiterhin
vom Betriebsausgaben- sowie Werbungskostenabzug
ausgeschlossen sind. Der als Sonderausgaben abziehbare
Höchstbetrag wird dabei von 4 000 Euro auf 6 000 Euro
angehoben. Es ist allerdings nicht wirklich ersichtlich,
wie Union und FDP diese Anhebung begründen. An-
scheinend wird von einem Kostenanstieg bei Ausbildung
und Studium von 50 Prozent seit 2004 ausgegangen, was
allerdings nicht nachvollziehbar ist. Aber gelegentliche
irrationale Ausbrüche in der Steuerpolitik können uns
gerade bei der FDP ja wirklich nicht mehr überraschen.
Dr. Daniel Volk (FDP): Das Gesetz zur Umsetzung
der Beitreibungsrichtlinie sowie zur Änderung steuerli-
cher Vorschriften unterstreicht wieder einmal die Bereit-
schaft der Regierungskoalition, wichtige steuerpolitische
Regelungen nicht auf die lange Bank zu schieben, son-
dern zu lösen. Das Gesetz wurde intensiv beraten, um
ein Gesamtpaket zu schnüren, welches auch in Abspra-
che mit der Opposition zu zufriedenstellenden Lösungen
führt. Steuerliche Detailregelungen sind nicht immer
spannend, aber trotzdem darf man die Wichtigkeit dieser
Maßnahmen nicht unterschätzen.
Mit diesem Gesetz wird einerseits die Richtlinie des
Rates vom 16. März 2010 über die Amtshilfe bei der
Beitreibung von Forderungen in Bezug auf bestimmte
Steuern, Abgaben und sonstige Maßnahmen – Richtlinie
2010/24/EU – in nationales Recht umgesetzt. Die Richt-
linienumsetzung betrifft vor allem die Erweiterung des
Geltungsbereiches der Amtshilfe, die Verbesserung des
Informationsaustausches zwischen den Mitgliedstaaten,
die Vereinfachung des Zustellungsverfahrens und die
Schaffung eines wirksameren Beitreibungs- und Siche-
rungsverfahrens in Europa. Andererseits werden weitere
steuerrechtliche Änderungen vorgenommen.
Diese Änderungen betreffen unter anderem die Ände-
rung und Neufassung der Regelungen des Lohnsteuerab-
zugsverfahrens und dabei insbesondere Neuerungen im
Bereich der elektronischen Lohnsteuerabzugsmerkmale.
Ebenso wird durch die Einführung einer Steuerfreiheit
für Sozialversicherungsrenten an Empfänger, die als
Verfolgte nach § 1 des Bundesentschädigungsgesetzes
anerkannt sind, für mehr Gerechtigkeit gesorgt.
Durch die Einführung eines Mindestbeitrags von
60 Euro pro Jahr für die im Rahmen der steuerlich geför-
derten Altersvorsorge – § 10 a und Abschnitt XI EStG –
mittelbar zulageberechtigten Personen stellen wir Klar-
heit her. Wir erweitern den Katalog der Freiwilligen-
dienste um den Internationalen Jugendfreiwilligendienst
zur Ermöglichung einer Berücksichtigung als Kind im
Rahmen des Familienleistungsausgleichs, vergleiche
§ 32 EStG, §§ 2 und 20 des Bundeskindergeldgesetzes,
BKGG.
Durch die Einführung eines automatisierten Verfah-
rens für den Kirchensteuerabzug bei abgeltend besteuer-
ten Kapitalerträgen vereinfachen wir das bisherige Ver-
fahren. Wir verhindern Missbrauchsfälle unter anderem
im Bereich der Arbeitnehmer-Sparzulage und des Erb-
schaftsteuer- und Schenkungsteuergesetzes. Besonders
hervorzuheben sind die Klarstellungen im Bereich von
Schenkungen im Zusammenhang mit Beteiligungen an
Kapitalgesellschaften. Dabei greifen wir die Rechtspre-
chung des Bundesfinanzhofs auf und entwickeln sie in
Richtung einer gleichmäßigen Besteuerung von Schen-
kungen fort.
Ein weiterer wesentlicher Punkt in diesem Gesetz ist
die Anpassung der Regelungen für die steuerliche Ab-
setzbarkeit von Erstausbildungskosten. So sorgen wir
mit den Anpassungen in diesem Gesetz dafür, dass Lehr-
linge und Studenten in Zukunft mehr Kosten ihrer Aus-
bildung von der Steuer absetzen können. Damit tragen
wir dem Urteil des Bundesfinanzhofs Rechnung. Wir
sorgen einerseits für eine gesetzliche Klarstellung, und
andererseits sorgen wir mit der Erhöhung des maximalen
Sonderausgabenabzugs von 4 000 auf 6 000 Euro dafür,
dass sich der Staat an den Ausbildungskosten indirekt
stärker beteiligt. Ein Abzug der Erstausbildungskosten
als Werbungskosten ist im Rahmen eines Fachgesprä-
ches im Finanzausschuss bei Steuerexperten auf massive
Bedenken gestoßen. Dieser einhelligen Meinung haben
wir uns angeschlossen und haben so eine Lösung gefun-
den, die praktikabel und gerecht ist.
Das Gesetz zur Umsetzung der Beitreibungsrichtlinie
sowie zur Änderung steuerlicher Vorschriften ist neben
dem Jahressteuergesetz 2010 und dem Steuervereinfa-
chungsgesetz 2011 ein weiterer Schritt zu einem gerech-
teren Steuersystem. Wir sorgen für mehr Klarheit im
Steuerrecht und schließen wirksam Steuerschlupflöcher.
Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Mit dem uns
vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung soll
die EU-Richtlinie 2010/24/EU vom 16. März 2010 bis
spätestens Ende 2012 in nationales Recht umgesetzt
werden und das EG-Beitreibungsgesetz vom 13.12.2007
ablösen. Allerdings ist das nur ein Teil der Wahrheit. Ein
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Oktober 2011 16293
(A) (C)
(D)(B)
weiterer und nicht unwesentlicher Teil dieses Gesetzes
beinhaltet zahlreiche Änderungen in vielen anderen
Bereichen wie im Einkommensteuergesetz, im
Körperschaftsteuergesetz, im Bewertungsgesetz und
auch im Erbschaftsteuer- und Schenkungsgesetz. Damit
packen Sie der Umsetzung der EU-Richtlinie einfach ein
kleines Jahressteuergesetz bei, und das kritisieren wir.
Zwar begrüßen wir grundsätzlich den vorliegenden Ge-
setzentwurf, aber eine Vermischung einer EU-Richtlinie
und eines Jahressteuergesetzes führt zu erhöhter
Intransparenz für die Bürgerinnen und Bürger wie auch
für diejenigen, die am Ende die Änderungen umzusetzen
haben, nämlich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in
den Finanzämtern.
Neben zahlreichen Änderungen, die wir begrüßen,
bleiben leider einige Kritikpunkte zurück. Daher wird
sich die Linke bei diesem Gesetzentwurf enthalten.
Ein zentraler Kritikpunkt ist: Die vorhandene
Personalausstattung in der Finanzverwaltung reicht
schon jetzt nicht aus, um die Flut der bereits
vorhandenen Regelungen vernünftig umzusetzen. Dieser
Gesetzentwurf, der zu einer neuen Flut von
Informationen führen wird, sieht leider keine
Stellenaufstockung in der Finanzverwaltung vor. Dabei
legen auch die Rechnungshöfe in Bund und Ländern in
ihren zahlreichen Stellungnahmen seit Jahren dar, dass
nicht genügend Personal in der Finanzverwaltung
vorhanden ist, um die Aufgaben gut zu erledigen. Nach
Schätzung der Deutschen Steuergewerkschaft fehlen
bundesweit rund 10 000 Beschäftigte in der Finanzver-
waltung. Wird hier nicht endlich nachgebessert, können
wichtige und sinnvolle Maßnahmen, auch die aus dem
Gesetzentwurf, nur mangelhaft umgesetzt werden. Das
geht dann zulasten aller, der Bürgerinnen und Bürger
wie auch der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der
Finanzverwaltung.
Wir haben doch heute schon genügend Probleme bei
der Umsetzung bestehender Regelungen. Die
Finanzverwaltung hat bereits heute Schwierigkeiten, die
aus der EU-Zinsrichtlinie zufließenden automatischen
Informationen zeitnah weiterzuleiten. Oder denken wir
an die Verzögerungen bei der Einführung des vollelektro-
nischen Lohnsteuerverfahrens. Das wird beispielsweise
bei der Intensivierung im Hinblick auf die elektronischen
Lohnsteuermerkmale nicht besser werden. Im Gegenteil.
Das sind alles Warnsignale, die Sie ernst nehmen sollten.
Durch das Beitreibungsgesetz wird die Informationsflut
noch zunehmen. Erklären Sie doch mal den Menschen in
der Finanzverwaltung, wie sie ihre Aufgaben noch ver-
nünftig erledigen sollen.
Klar ist: Hier muss etwas passieren, denn ohne eine
Personalaufstockung der Finanzverwaltung wird eine
vernünftige Umsetzung der in diesem Gesetzentwurf
geplanten Regelungen kaum erfolgen können, erst recht
nicht, wenn noch Ansprüche wie Datenschutz und Aus-
kunftsrechte der Bürgerinnen und Bürger berücksichtigt
werden müssen.
Ein weiterer Kritikpunkt ist das Thema Abgel-
tungsteuer, eine Never-ending Story. Ursprünglich mal
als Maßnahme zur Reduzierung der Bürokratie verkauft,
hat sie sich in das Gegenteil verkehrt. Denn auch jetzt
müssen Sie wieder im Rahmen von Änderungen bei der
Kirchensteuer Anpassungen bei der Abgeltungsteuer
vornehmen. Wahr ist: Die Abgeltungsteuer ist ein
Fremdkörper im deutschen Steuerrecht, sie verkompli-
ziert, und obendrein bevorzugt sie Kapitaleinkommen
gegenüber Arbeitseinkommen. – Es gibt also genügend
Gründe, sie abzuschaffen. Das wäre dann eine wirkliche
Steuervereinfachungsmaßnahme.
Ebenso ist es bei der Sanierungsklausel, die wir nicht
generell ablehnen. Kritisiert hatten wir lediglich die
Ausgestaltung. Nun soll sie angesichts des laufenden
Verfahrens der EU-Kommission suspendiert, sozusagen
beurlaubt werden, da Sie gegen die Entscheidung der
EU-Kommission klagen. Damit bleibt die
Streitanfälligkeit erhalten.
Als letzten Punkt möchte ich die jüngsten Urteile des
Bundesfinanzhofes zur Absetzbarkeit von Ausbildungs-
kosten ansprechen. Nach den Urteilen haben sich wohl
viele Studentinnen und Studenten gefreut. Aber wohl zu
früh, denn die jetzige Regelung, wonach nur die Höchst-
grenze für den Sonderausgabenabzug von 4 000 Euro
auf 6 000 Euro angehoben werden soll, wird der großen
Mehrheit nichts nützen. Davon wären nach dem
Bundesfinanzministerium nicht einmal 10 000 Fälle be-
troffen, die den Höchstwert von derzeit 4 000 Euro
ausnutzen. Angesichts von derzeit rund 2,2 Millionen
immatrikulierten Studentinnen und Studenten ist diese
Lösung also kein großer Wurf. Die geplante Lösung
wird ungefähr 8 Millionen Euro kosten. Eine Lösung,
wie vom Bundesfinanzhof gefordert, würde hingegen
rund 1,1 Milliarden Euro kosten. Aber für eine Klärung
des Sachverhalts sorgen Sie damit nicht. Notwendig
wäre vielmehr, Studiengebühren abzuschaffen und das
BAföG zu erhöhen. Außerdem sollte grundsätzlich dafür
gesorgt werden, dass der Zugang zu Ausbildung und
Studium kostenfrei ist.
Abschließend noch einmal die dringende Empfehlung
– in unser aller Interesse –: Hängen Sie nicht eine
Vielzahl von eher steuertechnischen Änderungen an ein
Gesetz dran, das damit nichts zu tun hat, sondern
verabschieden Sie, wie früher, jährlich ein
Jahressteuergesetz. Das ist transparenter und erleichtert
den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der
Finanzverwaltung ihre Arbeit.
Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Hinter dem Namen Beitreibungsrichtlinie-Umset-
zungsgesetz versteckt sich eigentlich das Jahressteuer-
gesetz 2011. Es ist sehr bedauerlich, dass die
Regierungskoalition die Dinge hier nicht beim Namen
nennt. Unter dem Deckmantel einer EU-Richtlinienum-
setzung werden heute viele wichtige Änderungen im Ein-
kommensteuer- und Körperschaftsteuerbereich beschlos-
sen. Kollege Olav Gutting meinte im Finanzausschuss,
der Information der Öffentlichkeit sei damit Rechnung
getragen, dass es im offiziellen Titel des Gesetzesvorha-
ben heiße: „… zur Änderung steuerlicher Vorschriften“;
das müsse genügen. Das zeigt nur die Ignoranz, die die
Koalitionsabgeordneten im Hinblick auf eine am Kunden
16294 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Oktober 2011
(A) (C)
(D)(B)
orientierte Öffentlichkeitsarbeit haben. Das ist kein Aus-
weis einer transparenten Arbeitsweise des Gesetzgebers.
Entlarvend für die Regierungsfraktionen war bei die-
sem Gesetzgebungsverfahren auch, welche Prioritäten
Schwarz-Gelb im Steuerbereich setzt. So mahnte der
Bundesrat in seiner Stellungnahme an, eine Besteue-
rungslücke im Bereich der Schenkungsteuer zu schlie-
ßen. Der Bundesrat führt in seiner Stellungnahme zum
vorliegenden Gesetzentwurf aus: „Die bisherige Besteue-
rungslücke ist in der Steuersparbranche bekannt und
wird auf Fachveranstaltungen regelmäßig als Gestal-
tungstipp vorgetragen.“
Obwohl also gut bekannt, wurde noch zehn Tage vor
der abschließenden Beratung des Gesetzes von einem
Mitglied der Regierungskoalition formuliert, man wolle
hier keine Änderung mit heißer Nadel stricken. Erst
nachdem Bündnis 90/Die Grünen und dann die SPD ent-
sprechende Änderungsanträge vorgelegt hatten, reagier-
ten die Regierungsfraktionen: Einen Tag vor der endgül-
tigen Beratung im Finanzausschuss wurde nun die
Forderung des Bundesrates nach Stopfen des Steuer-
schlupfloches aufgegriffen. Diese Verzögerung ist ein
eklatanter Verstoß gegen die Aufgabe des Parlamentes,
für eine gleichmäßige Besteuerung zu sorgen. Es drängt
sich der Eindruck auf, dass hier wieder einmal versucht
wurde, die Klientel zu schützen, anstatt den Auftrag ei-
nes Parlamentariers nach Vertretung aller Bürgerinnen
und Bürger nachzukommen. Oder das Nichthandeln
wurde durch die Haltung bewirkt: „Warum sollen wir im
Bund etwas für die Länder tun!“ Denn die Erbschaft-
und die Schenkungsteuer kommen allein den Länder-
haushalten zugute. Beide Erklärungsmöglichkeiten wer-
fen ein denkbar schlechtes Bild auf die Regierungskoali-
tion. Halten wir aber fest: Mit dieser Änderung wird
endlich ein großes Einfalltor für Missbrauch im Zusam-
menhang mit verdeckten Gewinnausschüttungen und
verdeckten Einlagen zwischen verbundenen Körper-
schaften geschlossen.
Das Gesetz enthält weitere sinnvolle Steueränderun-
gen, von denen ich hier einige explizit nennen möchte.
So begrüßen wir die Umsetzung der Beitreibungsricht-
linie. Die Vereinheitlichung der Amtshilfe auf europäi-
scher Ebene ist gut, ebenso wie die Ausweitung des
Katalogs der Steuerarten. Die Neufassung des Lohnsteu-
erabzugsverfahrens, das über eine elektronische Daten-
bank erfolgt, ist ebenso zu begrüßen, denn es baut Büro-
kratie ab. Auch viele vorgesehene Änderungen im
Einkommensteuerbereich sind richtig, obwohl wir an der
einen oder anderen Stelle noch weiter gehende Regelun-
gen für angemessen erachtet hätten. So ist die Einfüh-
rung eines Mindestbeitrags von 60 Euro pro Jahr bei der
Riester-Rente richtig, jedoch bleiben bei dem Thema
noch viele Verbraucherschutzfragen offen.
Kommen wir zu den Teilen des Gesetzes, die eine Zu-
stimmung zu diesem Gesetz nicht zulassen:
Thema Sanierungsklausel. Mit der Sanierungsklausel
sollten nach Willen des Gesetzgebers die klaren und
richtigen Vorschriften zur Begrenzung des Verlustüber-
trages im Falle der Sanierung von Unternehmen aufge-
hoben werden. Diese Zielsetzung ist nicht verkehrt. Nun
hat aber die EU die Sanierungsklausel als eine uner-
laubte Beihilfe bewertet und eine Aufhebung verlangt;
die Bundesregierung hat dagegen geklagt. Seit mehr als
einem Jahr haben die Unternehmen keine Rechtssicher-
heit. Zudem ist die Sanierungsklausel in der heutigen
Form nicht wirklich zielgerichtet, denn sie weist wesent-
liche Mängel auf: Sie lässt den Fall der Sanierung inno-
vativer, junger Unternehmen unberücksichtigt und fo-
kussiert nicht ausreichend auf das Ziel des Erhalts von
Arbeitsplätzen.
Wir fordern die Bundesregierung auf, nicht zu warten,
sondern eine alternative Gesetzgebung vorzubereiten,
die die genannten Ziele im Blickfeld hat und gleicherma-
ßen europarechtskonform ist. Das Warten auf eine Ent-
scheidung des Gerichtes und eine Ausrichtung an dem
zu erwartenden Urteil beweist nur, dass die Koalitions-
fraktionen hier keinen wirklichen Fokus auf die Sanie-
rung richten. Sonst würde man nicht locker eine Zeit von
zwei oder sogar drei Jahren in Kauf nehmen, bis eine
entsprechende Klausel greift. Denn die erfolgreiche Sa-
nierung von Unternehmen ist gerade jetzt, in einer
schwierigen Zeit, ein wichtiges Ziel. Auch hier gilt:
Nicht warten, sondern handeln! Deshalb sind wir dafür,
die Klausel nicht nur zu suspendieren, sondern sie, wie
im Gesetzentwurf ursprünglich vorgesehen, schlicht auf-
zuheben.
Thema Ausbildungskosten. Es ist richtig, als Re-
aktion auf das entsprechende Urteil des BFH die gel-
tende Rechtslage klarzustellen, also keine steuerliche
Abziehbarkeit der Ausbildungskosten im Rahmen eines
Erststudiums als Werbungskosten vorzusehen, wenn es
in Zusammenhang mit der späteren Berufsfähigkeit
steht. Alles andere wäre schlicht unsozial gewesen. Die
Studierenden, die nebenher arbeiten müssen, um ihr Stu-
dium zu finanzieren, hätten nichts von der Umsetzung
des Urteils gehabt. Zudem wären über 1 Milliarde Euro
Steuermindereinnahmen sowie ein Chaos in den Finanz-
verwaltungen wegen Abgrenzungsfragen entstanden.
Aber: Die Anhebung des Höchstbetrags bei den Sonder-
ausgaben von 4 000 auf 6 000 Euro lehnen wir ab. Das
ist schlicht ein kleines, aber elegantes Klientelgeschenk;
eine Steuerentlastung von geschätzten 8 Millionen Euro
würde an wenige Zehntausend Studierende oder ihre
Ehepartner verteilt. Durch die gemeinsame Veranlagung
bei Ehepaaren könnte etwa ein Anwalt mit ordentlichem
Einkommen die teuren Studiengebühren seiner Frau für
das Designstudium an einer Privatuni von der Steuer ab-
setzen, bis zu 6 000 Euro pro Jahr. Ansonsten profitieren
höchstens noch Studierende, die neben ihrem Erststu-
dium bereits ein stattliches Einkommen beziehen und
dann auch noch an einer Uni studieren, bei der durch
hohe Studiengebühren jährlich 6 000 Euro an Ausbil-
dungskosten zusammenkommen.
Thema Umsatzsteuer. Wir sind nicht überzeugt, dass
die von den Koalitionsfraktionen angestrebten Änderun-
gen bei der Umsatzsteuer bei Messedienstleistungen in
Drittstaaten in der vorliegenden Form die passende Ant-
wort auf das Problem sind. Um einen ganz kleinen Fall
zu lösen – nämlich dass Fördermittel des Bundes in ei-
nem bestimmten Förderprogramm der Umsatzsteuer un-
terworfen würden –, wird eine neue Sonderregelung in
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Oktober 2011 16295
(A) (C)
(D)(B)
das Umsatzsteuergesetz eingefügt, die dieses erheblich
weiter verkompliziert. Außerdem gibt es natürlich Min-
dereinnahmen, wenn die Besteuerung von Deutschland
in einen Drittstaat ausgelagert wird. Da scheint uns eine
Änderung in der Tat mit heißer Nadel gestrickt, wo eine
sorgfältigere Betrachtung und Lösungsfindung ange-
bracht gewesen wäre.
Thema Gewerbesteuerzerlegung bei Photovoltaik-
anlagen. Schließlich ist das vorliegende Gesetz „zur Än-
derung steuerlicher Vorschriften“ auch daran zu messen,
was es nicht enthält: Die Koalitionsfraktionen wollen die
von uns Grünen und auch von der SPD bereits mehrfach
und jetzt vom Bundesrat erneut geforderte Gewerbesteu-
erzerlegung bei Photovoltaikanlagen nicht anpacken.
Richtig ist: Wir müssen auch andere erneuerbare Ener-
gien in die Überlegungen einbeziehen. Aber im Falle der
Photovoltaik sind die Forderungen klar; der Bundesrat
hat einen konkreten Vorschlag gemacht. Die Bundesre-
gierung signalisiert hier, dass die Energiewende Zeit hat;
das ist ein fatales Signal. Wir erwarten, dass sich die
Bundesregierung jetzt umgehend mit dem Thema Ge-
werbesteuerzerlegung bei Photovoltaikanlagen, aber
auch bei anderen Formen der erneuerbaren Energien,
auseinandersetzt.
Das Gesetz zur Umsetzung der Beitreibungsrichtlinie
enthält viele vernünftige Regelungen. Die Änderungen
steuerlicher Vorschriften sind teilweise unzureichend
und lückenhaft. Deshalb wird sich unsere Fraktion bei
dieser Gesetzesvorlage enthalten.
Anlage 9
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Minijobs mit sozial-
versicherungspflichtiger Arbeit gleichstellen
(Tagesordnungspunkt 32)
Paul Lehrieder (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr
Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen der Linken, mit Ihrem Antrag
„Minijobs mit sozialversicherungspflichtiger Arbeit
gleichstellen“ knüpfen Sie wieder einmal an die für uns
alle altbekannten Forderungen an, wie einer Sozialversi-
cherungspflicht für abhängige Beschäftigungen ab dem
ersten Euro Entgelt, den Ausbau sozialer Dienstleistun-
gen zur Schaffung regulärer Beschäftigung, der Erarbei-
tung eines Gleichstellungsgesetzes und der Einführung
eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns.
Fest steht doch, dass die Arbeitswelt in Bewegung ge-
raten ist und die meisten Menschen abhängig von der
Ausgestaltung ihrer Anstellung, der Kindererziehung
oder Weiterbildungen arbeiten möchten. Hierbei spielen
flexible Beschäftigungsformen wie Teilzeitarbeit, Zeit-
arbeit und vor allem auch Minijobs eine wichtige Rolle.
Was Sie jedoch machen, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der Linken, ist die Diffamierung flexibler Beschäfti-
gung als prekäre Arbeit. Dabei schaffen gerade diese
Angebote zum einen die Möglichkeit für den Einstieg
oder die Rückkehr in Vollzeitbeschäftigung – besonders
für Menschen, die ansonsten nur geringe Chancen auf
dem ersten Arbeitsmarkt hätten. Und zum anderen bie-
ten sie Unternehmen die benötigte Flexibilität, um
marktgerecht auf Nachfragespitzen oder Auftragsflauten
reagieren können. Die geringfügige Beschäftigung als
flexibles Instrument der Arbeitsmarktpolitik dämmt zu-
dem illegale Beschäftigung und Schwarzarbeit ein.
Hinzu kommt, dass viele Minijobs lediglich als zu-
sätzliche Hinzuverdienstmöglichkeit genutzt werden,
zur Steigerung der Lebensqualität oder zur Teilhabe am
gesellschaftlichen Leben. So sind beispielsweise viele
Rentner nicht auf einen Minijob angewiesen, und eine
volle Versicherungspflicht brächte im Einzelfall mehr
Nachteile, da eine zusätzliche Arbeitslosen- oder Kran-
kenversicherung, in die eingezahlt werden müsste, nicht
benötigt wird. Ähnlich gelagert ist die Situation bei vie-
len Schülern und Studenten.
Minijobber haben die gleichen Rechte wie alle ande-
ren Beschäftigten auch, und es gelten branchenspezi-
fische Mindestlöhne. Des Weiteren haben gerade die An-
gebote der flexiblen Beschäftigung dazu beigetragen,
dass die Arbeitslosigkeit in Deutschland drastisch zu-
rückgegangen ist.
Natürlich dürfen wir uns auch nicht der Tatsache ver-
schließen, dass diejenigen, die nur auf einen Minijob
angewiesen sind, der Altersarmut ausgesetzt sind. Sie
können sich sicher sein, dass wir in diesem Bereich sehr
genau hinschauen und ganz genau prüfen, wie sich die
Situation entwickelt, um dann konkret handeln zu kön-
nen. So wollen wir beispielsweise 2013 gemeinsam mit
unserer Arbeitsministerin Dr. von der Leyen eine soge-
nannte Zuschussrente einführen, sodass auch jemand,
der die Zugangsvoraussetzungen erfüllt, unabhängig von
den eigenen Rentenansprüchen 850 Euro erhält.
Seien Sie versichert, dass sich die Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer auf uns verlassen können.
Frank Heinrich (CDU/CSU): Sie sehen hier dieses
Glas Wasser in meiner Hand. Es ist ohne Frage ein Ge-
fäß, ein Instrument mit einer Bestimmung. In diesem
Fall soll es helfen, meinen Durst zu löschen. Dieses In-
strument eignet sich vielleicht auch noch für die eine
oder andere Sache, aber ganz sicher nicht, um damit
feste Nahrung zu sich zu nehmen oder gar den Euro zu
retten. Und hier sind wir bei der Deutung meiner Meta-
pher. In der politischen Diskussion geht es heute um ein
arbeitsmarktpolitisches Instrument, das ebenfalls für ei-
nen konkreten Nutzen eingeführt wurde – den sogenann-
ten Minijob. Minijobs sind geringfügige Beschäftigun-
gen, bei denen die monatliche Verdienstgrenze bis zu
400 Euro beträgt.
Der heute zur Beratung stehende Antrag der Fraktion
Die Linke fordert eine Änderung bei diesem Instrument
der geringfügigen Beschäftigung, die meiner Überzeu-
gung nach einer Abschaffung dieses Werkzeugs und
damit dieses Nutzens nahekommt. Minijobs sind ein
wichtiges Ventil für den Arbeitsmarkt, für viele Arbeit-
nehmer die einzige legale Möglichkeit, ihr Haushaltsein-
kommen aufzubessern und ein wirksames Mittel zur
16296 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Oktober 2011
(A) (C)
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Bekämpfung von Schwarzarbeit. Die geringfügige Be-
schäftigung trägt neben anderen Instrumenten zu einer
Flexibilisierung des Arbeitsmarktes bei. Insbesondere in
privaten Haushalten sind Minijobs wichtig geworden –
Stichwort Schwarzarbeit. So entstehen ehrliche Zahlen.
Denn viele Menschen haben auch vor der Einführung
der Minijobs in den Haushalten gearbeitet. Jetzt wird da-
raus eine offizielle Beschäftigung.
Die Gründe für die Ausübung einer geringfügigen
Beschäftigung sind vielfältig. Für viele Menschen, die
nur ein überschaubares Stundenbudget zur Verfügung
haben, wie zum Beispiel Hausfrauen, Rentner, Schüler
oder Studenten, schaffen gerade die Minijobs eine wich-
tige und unbürokratische Hinzuverdienstmöglichkeit.
Heute Morgen sprach ich mit einer Mutter aus Chem-
nitz, die sehr froh ist über diese Möglichkeit des gerin-
gen Zuverdienstes. Ja, sie weiß auch, dass es hin und
wieder schwierig mit dem Arbeitgeber sein kann, mag
aber gar nicht darüber nachdenken, deswegen eine sol-
che Chance zu verpassen. Sie selber sieht es als eine
tolle Möglichkeit, in einem geringen Umfang weiterhin
arbeiten zu können und dadurch später den Einstieg ins
Arbeitsleben zu erleichtern.
Auswertungen aus dem Mikrozensus 2008 zeigen,
dass nur 17,4 Prozent der Minijobber nach einer anderen
oder nach einer weiteren Tätigkeit suchen, also den Um-
fang ihrer Beschäftigung erweitern möchten – so die
Bundesregierung in ihrer Antwort auf die Kleine An-
frage der Fraktion der SPD zur Entwicklung der gering-
fügigen Beschäftigung in Deutschland. Sie, liebe Kolle-
gen von den Linken, erwecken in ihrem Antrag einen
ganz anderen Eindruck.
Minijobs ermöglichen unbürokratische Anstellungen
für kurzfristigen und geringfügigen Arbeitskräftebedarf.
Dieses Instrument wird insbesondere von Arbeitgebern
genutzt, die kein großes Unternehmen leiten. Denn die
Abwicklung des Melde- und Beitragsverfahrens bei der
Minijob-Zentrale ist viel einfacher im Vergleich zu ande-
ren Beschäftigungsformen.
Es wird häufig angemerkt, dass bei Minijobs gerin-
gere Entgelte gezahlt werden. Es muss aber beachtet
werden, dass viele Minijobs Tätigkeiten sind, für die
keine besondere Qualifikation erforderlich ist, wie zum
Beispiel bei Kellnern, Callcenter-Mitarbeitern und Hilfs-
kräften im Reinigungsbereich. Ein Student aus meinem
Umfeld in Chemnitz hat mir vorgestern bestätigt, wie
gern die Minijobs angenommen werden, vor allem aus
dem Grund, dass Minijobber selber keine Steuern und
Abgaben zahlen müssen.
Zugleich ist uns jedoch bewusst, dass diese Beschäfti-
gungsverhältnisse nicht unproblematisch sind. Miss-
brauch ist hier nicht ausgeschlossen. Daher hat es mich
persönlich gefreut, zu hören, dass Sozialpolitiker der
CDA ein Gesetz gegen eben diesen Missbrauch von Mi-
nijobs gefordert haben; daran beteilige ich mich gerne.
In Wirklichkeit wird oft wesentlich mehr gearbeitet
und wesentlich mehr an Arbeitsleistung erbracht, als
durch diesen 400-Euro-Job abgedeckt ist. Es ist ein Pro-
blem, dass es Minijobber gibt, für die es das einzige Ein-
kommen ist und die deswegen ergänzend Arbeitslosen-
geld II beziehen. Dieses Werkzeug – der Minijob – war
natürlich nicht dazu gedacht, dass dann generell ergän-
zende staatliche Leistung beansprucht wird.
Die ursprüngliche Idee dieses Instruments war unter
anderem, den geringfügig Beschäftigten die Möglichkeit
einzuräumen, auf diese Weise einen Übergang in ein re-
guläres Arbeitsverhältnis zu schaffen. Denn eine Ver-
mittlung in Minijobs kann im Einzelfall die erwerbsfähi-
gen Menschen an den Arbeitsmarkt heranführen. Es
sollte zum Beispiel Müttern den Wiedereinstieg in das
Arbeitsleben nach einer Babypause erleichtern. Eine so-
ziale Absicherung wäre in diesen Fällen nicht nötig, da
dieser Personenkreis in der Regel anderweitig sozial ab-
gesichert ist. Das gleiche gilt auch für geringfügig be-
schäftigte Studenten, Rentner und Beamte.
Geringfügige Beschäftigung darf nicht reguläre Ar-
beitsplätze vernichten. Auch dem von der Partei Die
Linke in ihrem Antrag aufgeführten Argument, dass Ar-
beitgeber reguläre sozialversicherungspflichtige Arbeits-
verhältnisse durch Minijobs ersetzen, um ihre Kosten zu
senken, kann nicht so ohne Weiteres zugestimmt wer-
den.
Nach Auffassung der Bundesregierung gibt es keine
eindeutigen und belastbaren Belege für Substitutions-
oder Verdrängungseffekte Sozialversicherungspflichti-
ger durch geringfügige Beschäftigung. Nach einem An-
stieg um rund 0,4 Millionen von Juni 2003 bis Juni 2004
hat sich die Anzahl der ausschließlich geringfügig Be-
schäftigten seitdem um nur etwa 0,1 Millionen auf rund
4,9 Millionen Beschäftigte im Juni 2010 erhöht, so die
Bundesregierung. Im Zeitraum von 2004 bis 2010 sind
jedoch 1,2 Millionen zusätzliche reguläre sozialversi-
cherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse entstan-
den. Mit jahresdurchschnittlich über 27,7 Millionen war
hier 2010 der höchste Stand seit 2002 zu verzeichnen.
Was die Gleichstellung von geringfügiger und regulä-
rer Beschäftigung angeht, will ich vor allem bemerken,
dass geringfügig Beschäftigte und Vollzeitbeschäftigte
dieselben arbeitsrechtlichen Schutzansprüche haben. Sie
haben die gleiche Möglichkeit, ihre Ansprüche gegen-
über dem Arbeitgeber durchzusetzen. Für Minijobber
gelten ebenso die gesetzlichen Vorschriften bezüglich
Urlaub, Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall und an
Feiertagen.
Auch § 4 des Teilzeit- und Befristungsgesetzes ver-
bietet eine Ungleichbehandlung von geringfügig Be-
schäftigten gegenüber anderen Teilzeit- und Vollzeitbe-
schäftigten. Viele Minijobber wissen jedoch von ihren
Rechten nichts oder nur wenig. Daher werden in der Pra-
xis Ansprüche von Arbeitgebern nicht gewährt und von
Beschäftigten nicht eingefordert. Diese Vorenthaltung
von Arbeitnehmerrechten wird auch seitens der Bundes-
regierung missbilligt. Das will ich hier noch einmal ganz
deutlich machen. Wir missbilligen diesen Missbrauch
vonseiten der Arbeitgeber und weisen auf die rechtlichen
Möglichkeiten der betroffenen Arbeitnehmer hin.
Minijobs sollen nicht eine billige Option für Arbeit-
geber sein. Aus der Höhe der zu leistenden Abgaben und
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Oktober 2011 16297
(A) (C)
(D)(B)
Beiträge beim Minijob ergibt sich für die Arbeitgeber
kein Kostenvorteil. Minijobs sind zwar sozialversiche-
rungsfrei, die Sozialversicherungsfreiheit bedeutet je-
doch nicht zugleich Beitragsfreiheit, in diesem Fall aber
ausschließlich durch den Arbeitgeber.
Zum Schluss möchte ich auf das Bild zurückkommen,
das ich am Anfang meiner Rede benutzt habe. Das Glas
Wasser ist ein Werkzeug zum Stillen des Durstes. Auch
die Minijobs sind ein Instrument mit einer konkreten
Bestimmung. Dieses Werkzeug gilt es, nach seinem
Zweck und Ziel zu nutzen und gegen Missbrauch zu
schützen.
Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Fast 7,5 Millionen
Menschen in Deutschland arbeiten ohne eigenständige
Krankenversicherung und Rentenanspruch als Minijob-
ber. Lohnfortzahlung bei Krankheit oder bezahlter Ur-
laub wird ihnen in der Regel verwehrt. Sie verdienen,
obwohl die meisten von ihnen eine abgeschlossene Be-
rufsausbildung haben, durchschnittlich etwa fünf Euro
pro Stunde, genau 297 Euro im Monat. Der Übergang in
existenzsichernde Beschäftigung gelingt nur selten.
Zwei Drittel der Minijobber sind Frauen. Von ihnen
hat jedoch nur weniger als die Hälfte einen Partner, der
selbst in einem regulären Arbeitsverhältnis steht und sie
versorgen könnte. Da der Minijob zur Existenzsicherung
nicht ausreicht, muss häufig eine aufstockende Sozial-
leistung in Anspruch genommen werden. Es sind also
keine selbstgewählten Hausfrauen, die sich ein bisschen
dazu verdienen wollen, wie die CDU/CSU gerne be-
hauptet.
Besonders dramatisch ist, dass zunehmend sozialver-
sicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse in ge-
ringfügige zerlegt und so reguläre Arbeitsplätze ver-
drängt werden. Im Gastgewerbe hat es zum Beispiel
zwischen 2004 und 2010 eine Zunahme der Vollzeitstel-
len von fünf Prozent gegeben, die Minijobs sind jedoch
im selben Zeitraum um 26 Prozent angestiegen. Im Ein-
zelhandel und in der Gebäudereinigung ist der gleiche
Trend zu beobachten. Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmern bleibt oft mangels besserer Angebote keine an-
dere Wahl als der Minijob.
Miese Arbeitsbedingungen und Minilöhne – das ist
eine aufwachsende Realität vor allem für Frauen auf
dem deutschen Arbeitsmarkt. In keinem anderen euro-
päischen Mitgliedstaat gibt es eine ähnlich arbeitneh-
merfeindliche Entwicklung. Die Ausweitung von prekä-
rer Beschäftigung entwertet nicht nur Arbeit, sie schadet
auch der wirtschaftlichen Entwicklung unseres Landes.
Auf der einen Seite werden gut ausgebildete Beschäf-
tigte mitten im Arbeitsleben in prekäre Beschäftigung
abgedrängt. Auf der anderen Seite bahnt sich ein giganti-
scher Fachkräftemangel aufgrund des demografischen
Wandels an. Das passt nicht zusammen.
Warum gibt es überhaupt Minijobs? Werfen wir einen
Blick zurück: Diese Beschäftigungsform wurde in den
90er-Jahren manifestiert, um Menschen, die dem Ar-
beitsmarkt nicht mehr oder nur eingeschränkt zur Verfü-
gung standen, einen abgabenfreien Zuverdienst zu er-
möglichen. Die damalige Zielgruppe waren vor allem
hinzuverdienende Hausfrauen. Die Nachfrage war in
Westdeutschland aufgrund des damaligen Rollenver-
ständnisses und mangelnder Kinderbetreuungsstrukturen
hoch. Familie und Beruf ließen sich nur schwer unter ei-
nen Hut bringen. Die Hoffnung war auch, ihnen den
Wiedereinstieg in den ersten Arbeitsmarkt zu erleichtern
und ihnen eine Perspektive auf ein normales Arbeitsver-
hältnis zu eröffnen.
Unter rot-grüner Regierung wurde 1999 die Geringfü-
gigkeitsgrenze auf 325 Euro festgesetzt und eine pau-
schale Sozialversicherungsabgabe durch die Arbeitgeber
von 22 Prozent eingeführt. 2003 wurde dann nach einem
Vermittlungsverfahren auf Druck der CDU/CSU-regier-
ten Länder die Grenze für Minijobs auf 400 Euro ange-
hoben, die Sozialversicherungsabgabe auf 25 Prozent
heraufgesetzt und die bisherige Begrenzung von maxi-
mal 15 Wochenstunden abgeschafft. Außerdem wurde
die Sozialversicherungsfreiheit für Jobs bis zu 400 Euro
neben dem eigentlichen Arbeitsverhältnis eingeführt.
Damit war das Tor für Minijobs und für prekäre Be-
schäftigung weit aufgestoßen.
2006 haben wir durch eine Heraufsetzung der Sozial-
versicherungsbeiträge für die Minijobs auf 30 Prozent
versucht, diese Beschäftigungsform für Arbeitgeber wie-
der unattraktiver zu machen. Leider hatten wir damit
keinen Erfolg. Die Arbeitgeber haben ihre Mehrkosten
einfach auf die Minijobber umgelegt. Die prekäre Be-
schäftigung boomt weiter.
Damals war die Arbeitsmarktsituation allerdings eine
andere als heute. Die Arbeitslosigkeit hatte mit fünf Mil-
lionen einen alarmierenden Höchststand erreicht. Heute
haben wir deutlich unter drei Millionen arbeitslose Men-
schen und einen sich unaufhaltsam anbahnenden Fach-
kräftemangel. Um wettbewerbsfähig zu bleiben, müssen
wir also dringend für eine nachhaltige Attraktivitätsstei-
gerung auf dem Arbeitsmarkt sorgen. Wie könnte das
besser funktionieren als mit guter Arbeit und fairen Löh-
nen?
Leider ist in dieser Richtung keinerlei Bewegung von
der schwarz-gelben Bundesregierung zu verzeichnen. In
den Antworten der Bundesregierung auf unserer Kleine
Anfrage „Entwicklung der geringfügigen Beschäftigung
in Deutschland“ wurde das Aufwachsen von Minijobs
und prekärer Beschäftigung zwar deutlich beschrieben.
Darüber aber, was die Bundesregierung dagegen zu tun
gedenkt, wurde nichts gesagt. Es gibt weder Initiativen
für einen dringend notwendigen gesetzlichen Mindest-
lohn noch Bestrebungen, prekäre Beschäftigung in ande-
rer Weise zu bekämpfen. Das ist fahrlässig und höchst
gefährlich.
Ich komme zum Antrag der Linken: Schauen wir in
diesen Forderungskatalog. Finden wir da etwas, was uns
weiterhilft? Ja! Wir finden die Forderung nach einem
Mindestlohn. Die SPD fordert seit Jahren einen flächen-
deckenden gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro in
der Stunde. Damit wäre vielen schon geholfen.
Wir finden die Forderung nach einem Gleichstel-
lungsgesetz für die Privatwirtschaft. Klasse! Das wollen
16298 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Oktober 2011
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wir auch. Leider haben Sie sich bei unserem Antrag „Mit
gesetzlichen Regelungen die Gleichstellung von Frauen
im Erwerbsleben umgehend durchsetzen“ im letzten Jahr
enthalten.
Wir finden die Forderung nach Initiativen, Minijob-
ber besser über ihre Rechte zu informieren. Das ist drin-
gend notwendig: Ihre Rechtsansprüche müssen endlich
durchgesetzt werden. Dafür brauchen wir bessere Infor-
mation und wirksame Sanktionsmöglichkeiten.
Und wir finden, das haben wir auch nicht anders er-
wartet, die Forderung nach einer Sozialversicherungs-
pflicht ab dem ersten Euro. Das würde bedeuten, es gäbe
keine – gar keine – Möglichkeit mehr, Personen in gerin-
gem zeitlichem Umfang ohne Sozialversicherungspflicht
zu beschäftigen. Auch nicht den Babysitter, den Zei-
tungsausträger und auch nicht die studentische Hilfskraft
in den Semesterferien. Diese Tätigkeiten würden sich
nicht mehr lohnen.
Problematisch ist auch der radikale Schnitt, den Sie
vorschlagen, für die anderen Minijobs. 7,5 Millionen
Menschen würden von einem Tag auf den anderen vor
dem Problem stehen, zunächst einmal noch weniger in
den Tasche zu haben als ihre durchschnittlich 297 Euro.
Damit würden sie immer noch keine Ansprüche erwer-
ben, die in irgendeiner Form existenzsichernd wären:
weder im Fall von Arbeitslosigkeit noch für die Rente.
Die Krankenkassen würden vor einem großen Problem
stehen. Wie soll man jemanden einigermaßen kostende-
ckend versichern, der nicht einmal 400 Euro verdient?
Was wir brauchen sind reguläre, ordentlich entlohnte
Beschäftigungsverhältnisse. Mit ihrem Vorschlag schießt
die Linke zu schnell. Klar ist: Reformbedarf ist da, und
wir brauchen bei den Minijobs so schnell wie möglich
Verbesserungen.
Wir müssen die wöchentliche Arbeitszeit bei den Mi-
nijobs wieder begrenzen. Für maximal 400 Euro im Mo-
nat soll niemand mehr als zwölf Stunden wöchentlich ar-
beiten müssen. Dringend müssen wir den gesetzlichen
Mindestlohn einführen, um Lohndumping zu unterbin-
den. Niemand soll unfreiwillig Teilzeit arbeiten müssen:
Wir brauchen mehr ganztägige Kinderbetreuung und
eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf – das
betrifft Eltern und Pflegende.
Wir müssen Anreize setzen – sowohl in Richtung Ar-
beitnehmer als auch in Richtung Arbeitgeber –, gute
Arbeit wieder als Leitbild in unserer Arbeitswelt zu eta-
blieren. Dafür müssen wir auch die geringfügige Be-
schäftigung reformieren – keine Frage! Aber bitte wohl
überlegt. Nicht, dass die Menschen, die von einem Mini-
job versuchen zu leben, vom Regen in die Traufe kom-
men.
Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP): Liebe Kol-
leginnen und Kollegen von der Linkspartei, ich frage
mich, wie man eigentlich ein Gedankensystem nennt,
das sämtliche Erscheinungen auf einen einzigen Grund
reduziert. Ich glaube, dass nennt man ideologisch. Und
ich frage mich, wie sie es immer wieder schaffen, in al-
len, aber wirklich in allen ihren arbeitsmarkt- und sozial-
politischen Anträgen die Einführung eines flächende-
ckenden gesetzlichen Mindestlohns zu fordern. Da
könnte man fast denken, bei Ihnen würde die Vorstellung
herrschen, die Abwesenheit eines flächendeckenden ge-
setzlichen Mindestlohns sei an allem schuld. Böse Zun-
gen würden da leichtfertig den Ideologievorwurf erhe-
ben. Für mich hingegen stellt ihre diesbezügliche
Beharrlichkeit in guter Kollegialität natürlich erst einmal
nur ein Rätsel dar. Ich freue mich daher auf weitere Ge-
spräche in der Sache. Deswegen bin ich aber auch nicht
vom Hocker gefallen, als ich Ihren Antrag zu Minijobs
las. Was auch immer man mit den Minijobs macht, es
gibt eine Sache, die nicht fehlen darf. Richtig: der Min-
destlohn. Klassisch Linkspartei sozusagen.
Abgesehen davon ist Ihr Antrag aber auch noch in an-
derer Hinsicht ein Klassiker, vielleicht sogar ein ideologi-
scher; denn zur Ideologie gehört ja schließlich auch, dass
die Wirklichkeit nur wahlweise ins Blickfeld gerät. Bei-
spielsweise brauchen sie keine zehn Zeilen, um zur Be-
hauptung zu kommen, die Menschen hätten „zumeist un-
freiwillig“ nur einen Minijob. „Zumeist“ heißt wohl
mehrheitlich. Allerdings ist es noch kein halbes Jahr her,
seit das Institut für Demoskopie Allensbach eine Umfrage
gemacht hat, in der nach der Zufriedenheit mit Minijobs
gefragt wurde. Und mehr als die Hälfte der Befragten hat
mit Ja geantwortet; ja, sie seien damit zufrieden, „nur“ ei-
nen Minijob zu haben. Typischer Fall von falschem Be-
wusstsein? Unfreiwillig aber trotzdem zufrieden, seltsam.
Oder es stimmt einfach nicht, dass Minijobber „zumeist
unfreiwillig“ nur einen Minijob haben. Übrigens gab in
der Umfrage knapp ein Viertel aller Minijobinhaber an,
dass sie anstelle des Minijobs lieber einen sozialversiche-
rungspflichtigen Teilzeit- oder Vollzeitjob hätten. Immer-
hin, und ich denke, den Wunsch dieser Menschen muss
man ernst nehmen. Ob man ihnen aber dadurch einen Ge-
fallen tut, dass man sie in Bundestagsanträgen fälschli-
cherweise zur Mehrheit der Minijobinhaber macht, da
habe ich so meine Zweifel.
Sie hätten auch Recht gehabt, wenn Sie hier nur auf
die spezielle Situation von Frauen verwiesen hätten;
denn wir wissen ja aus IAB-Untersuchungen, dass zwei
Drittel aller Frauen, die nur einen Minijob haben, gerne
mehr arbeiten würden. Ich zitiere da aus einem IAB-
Kurzbericht von Frau Susanne Wanger. Ich glaube, Sie
kennen den Kurzbericht auch; denn in Ihrem Antrag gibt
es einen prima Zahlendreher. In der Antragsbegründung
behaupten Sie, dass „der Anteil der geringfügigen Be-
schäftigung (Minijobs) an allen Teilzeitbeschäftigungs-
verhältnissen … von 2 Prozent im Jahr 1991 auf 47 Pro-
zent im Jahr 2010 gestiegen“ sei. In Frau Wangers
Kurzbericht liest man hingegen Folgendes: „Deshalb ist
der Anteil der geringfügig Beschäftigten an allen Teil-
zeitbeschäftigten von 1991 bis 2010 nur um 2 Prozent-
punkte auf 47 Prozent gestiegen.“ Haben wir jetzt eine
Steigerung um 2 oder um 45 Prozentpunkte? Verzeihen
Sie mir, aber ich glaube lieber dem IAB.
Und dann hätten wir da natürlich noch ein Drittes, das
bei einer ideologischen Betrachtung auf keinen Fall feh-
len darf, nämlich das gute alte Non sequitur, also einen
logischen Fehlschluss. „Nur ein Drittel der geringfügig
Beschäftigten erlangen ein sozialversicherungspflichti-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Oktober 2011 16299
(A) (C)
(D)(B)
ges Arbeitsverhältnis“, schreiben Sie und folgern daraus,
dass Minijobs „keine Brücke in reguläre Beschäftigung“
darstellen würden. Stimmt das? Nein, das stimmt nicht.
Sie müssten schon Zahlen produzieren, aus denen her-
vorgehen würde, welcher Anteil derjenigen Minijobber,
die eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung an-
streben, dabei scheitert und warum daran ausgerechnet
die Minijobs schuld sein sollen. Aber trotz Ihrem Fehl-
schluss müssten Sie ja eigentlich zu der Auffassung ge-
langen, dass es sich sehr wohl um eine Brücke handelt,
nur eine, die zu schmal ist. Das würde aber doch immer
noch – zumindest in den Augen von erfahrenen Brü-
ckenbenutzern – einen entschiedenen Vorteil gegenüber
der völligen Abwesenheit einer Brücke bedeuten, oder?
Auch einen weiteren Ihrer Dauerbrenner, das ökono-
mietheoretische Nullsummenspiel, haben Sie natürlich
wieder untergebracht. „Nicht zuletzt höhlen Minijobs die
sozialen Sicherungssysteme aus, da die abgeführten Bei-
träge niedriger als bei einer sozialversicherungspflichti-
gen Beschäftigung sind“, schreiben Sie. Übersetzt: Näh-
men wir mehr ein, hätten wir mehr Einnahmen. Es gibt
halt die Wertschöpfung, und davon kann man sich über
Sozialversicherungsbeiträge entweder viel oder wenig
nehmen. Die Wertschöpfung als solche bleibt davon na-
türlich unberührt. Dass viele Minijobs überhaupt erst da-
durch entstehen, dass sie nicht vollsozialversicherungs-
pflichtig sind, das scheint ihre Vorstellungskraft zu
übersteigen. Der Wirtschaftskuchen ist immer gleich
groß, die Politik müsste sich nur einmal dazu durchrin-
gen, größere Stücke abzuschneiden. Wissen Sie was? Ir-
gendwie stimmt mich ihre Überlegung skeptisch.
Zum Schluss noch ein paar allgemeine Informationen
zu Minijobs – allesamt direkt aus der Minijob-Zentrale
der DRV Knappschaft-Bahn-See: Minijobs haben punktu-
ell zugenommen, es gibt keinesfalls immer mehr Mini-
jobs. Die Zahl der geringfügig Beschäftigten bewegt sich
im Dezember 2010 auf einem annähernd gleichen Niveau
wie bereits im Dezember 2004. In diesen sechs Jahren
hatten wir ein Wachstum an Minijobs um 107 000, von
rund 6,94 Millionen auf rund 7,05 Millionen. Im gleichen
Zeitraum erhöhte sich die Zahl der sozialversicherungs-
pflichtig Beschäftigten von 26,38 Millionen im Dezember
2004 auf fast 28,05 Millionen im Dezember 2010, also
um 6,3 Prozent, während die geringfügige Beschäftigung
nur um 1,5 Prozent in diesem Zeitraum zunahm. Ihre be-
rüchtigte Verdrängungsthese sollten Sie, liebe Kollegin-
nen und Kollegen von der Linkspartei, also noch einmal
näher betrachten. Rund 1,4 Millionen der insgesamt rund
1,8 Millionen Minijobarbeitgeber beschäftigen aktuell
höchstens drei Minijobber. Und jetzt frage ich Sie: Glau-
ben Sie eigentlich ernsthaft, dass diese rund 80 Prozent al-
ler Arbeitgeber mal eben so die Ressourcen haben, auf die
von Ihnen beabsichtigte Preiserhöhung zu reagieren? Also
wirklich, mal ernsthaft, und auch nur unter uns. Glauben
Sie wirklich, dass das gar keine Effekte auf Beschäfti-
gungsniveau und Schwarzarbeit hätte? Ich freue mich also
auf die Diskussion im Ausschuss und hoffe, dass Sie Ihre
Position noch einmal verändern.
Sabine Zimmermann (DIE LINKE): Niedriglöhne,
unsichere Beschäftigung und Benachteiligungen im Ar-
beitsalltag – das ist die Realität von Millionen Minijob-
berinnen und Minijobber in diesem Land. Minijobs ha-
ben massiv reguläre Arbeitsplätze verdrängt oder sind
statt dieser entstanden, vor allem im Bereich der Dienst-
leistungen etwa der Gastronomie, dem Einzelhandel
oder der Reinigung.
Betroffen sind vor allem Frauen, die mehrheitlich Mi-
nijobs besetzen. Sie werden auf dem Arbeitsmarkt be-
nachteiligt, ihre Chancen beschnitten. Minijobs sind aber
ein gesamtgesellschaftliches Problem; denn unser Ar-
beitsmarkt gerät in eine Schieflage. Arbeitgeber werden
auf Kosten der Gemeinschaft subventioniert. Verände-
rungen sind mehr als überfällig. Unser Antrag soll dazu
ein Anstoß sein. Ich hoffe, die späte Beratung heute ist
keine Hiobsbotschaft für den künftigen Umgang mit
dem Thema.
Was ist eigentlich mit Minijob gemeint? Grob gesagt,
handelt es sich um Arbeitsverhältnisse mit einem Mo-
natsverdienst bis 400 Euro, für die – das ist wichtig –
verringerte Sozialabgaben gezahlt werden. Dieser Son-
derstatus, gepaart mit der geringen Wochenarbeitszeit,
hat dazu geführt, dass hier Arbeitsverhältnisse zweiter
Klasse entstanden sind, und zwar in einem atemberau-
benden Tempo. In Deutschland gibt es derzeit etwa
7,5 Millionen „geringfügig Beschäftigte“, wie die Mini-
jobs im Fachjargon genannt werden. Das sind 3,3 Millio-
nen oder 80 Prozent mehr als zu Beginn des Jahres 2003.
In diesem Jahr wurden durch die Hartz-Gesetze mehr
oder weniger alle Auflagen für die Minijobs abgeschafft.
Vor allem die Zahl der Beschäftigten, die einen Mini-
jobs als Zweitjob ausüben, ist gestiegen. Oft reicht der
eine Job nicht zum leben. Das ist ein Armutszeugnis für
die Politik.
Die zentralen Probleme der Minijobs sind belegt: Mi-
nijobs bedeuten Minilöhne. Laut Statistischem Bundes-
amt bekommen vier von fünf Minijobberinnen und Mi-
nijobbern Stundenlöhne unterhalb der Niedriglohn-
schwelle von 9,85 Euro in der Stunde. Keine andere Be-
schäftigungsform ist so stark armutsgefährdet wie die
geringfügige.
Minijobberinnen und Minijobber werden im Ar-
beitsalltag benachteiligt. Sie erhalten häufig keine Lohn-
fortzahlung im Krankheitsfall oder keinen bezahlten Ur-
laub. Sie werden auch nur in geringem Umfang in
Weiterbildungsmaßnahmen einbezogen. All dies ist ei-
gentlich arbeitsrechtlich verboten, findet aber trotzdem
statt.
Weil Minijobs nicht der vollen Sozialversicherungs-
pflicht unterliegen, sind sie nicht oder kaum sozial abge-
sichert. Das ist schlecht für den Beschäftigten und die
Allgemeinheit. Die Beschäftigten erwerben keine nen-
nenswerten Rentenansprüche, Altersarmut ist so vorpro-
grammiert. Der Allgemeinheit gehen Beitragszahlungen
in Milliardenhöhe verloren. Ein derartiger Sonderstatus,
das heißt, eine bestimmte Beschäftigungsform von der
vollen Sozialversicherungspflicht zu befreien, ist abge-
sehen von Österreich einzigartig in Europa. Es gibt kei-
nen vernünftigen Grund, warum das so bleiben sollte.
16300 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Oktober 2011
(A) (C)
(D)(B)
Wer profitiert von dieser subventionierten Beschäfti-
gungsform? Einzig und allein die Unternehmen, die ver-
stärkt auf Minijobs setzen. Im Postsektor versuchen zum
Beispiel private Konkurrenten der Deutschen Post, mit
dem massiven Einsatz dieser Billigjobs einen Wettbe-
werbsvorteil zu erlangen. So wird in vielen Branchen ein
Wettlauf nach unten in Gang gesetzt.
Arbeitgeber verschaffen sich immense Kostenvorteile
zulasten der Beschäftigten und der Allgemeinheit. Denn
die gesenkten Sozialabgaben, die de facto Bestandteil
des Lohnes sind, werden nicht an die Beschäftigten wei-
tergegeben – im Gegenteil.
Ein Beispiel ist dafür ist der Textildiscounter KIK.
Die Einzelhandelskette beschäftigt Tausende Minijob-
ber. Sie wurde 2009 wegen der Zahlung sittenwidriger
Löhne verurteilt. Zwei KIK-Beschäftigte hatten geklagt.
Das Unternehmen musste ihnen Löhne im Wert von
10 500 Euro und 8 900 Euro nachzahlen.
Die Gewerkschaft Verdi hat errechnet, dass KIK
durch den hohen Anteil geringfügig Beschäftigter jähr-
lich zweistellige Millionenbeträge spart und den Sozial-
kassen dadurch Hundertausende Beitragsgelder vorent-
halten werden. Arbeitgebersubventionen auf Kosten der
Beschäftigten und Allgemeinheit, damit muss Schluss
sein!
Es ist nicht zu akzeptieren, was Union und FDP in ih-
rem Koalitionsvertrag vereinbart haben. Sie wollen – ich
zitiere – „die Arbeitsanreize auch für gering entlohnte
Beschäftigungsverhältnisse verbessern“ und die angebli-
che „Brückenfunktion von Minijobs“ in „voll sozialver-
sicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse“ stär-
ken. Aber gibt es tatsächlich diese Brückenfunktion?
Nach aktuellen Zahlen der Minijobzentrale erlangt ledig-
lich ein Drittel der geringfügig Beschäftigten ein sozial-
versicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis. Die große
Mehrheit bleibt in der prekären Beschäftigung gefangen.
Minijobs sind keine Zwischenbeschäftigung. Sechs von
zehn Minijobs dauern länger als ein Jahr, vier von zehn
sogar länger als zwei Jahre.
Die Linke streitet für einen Kurswechsel! Wir sagen:
Es ist Zeit, die Fehlentwicklung bei den Minijobs zu-
rückzudrängen, der mit den Hartz-Gesetzen die Tür ge-
öffnet wurde.
In dem vorliegenden Antrag machen wir konkrete
Vorschläge, wie Minijobs in reguläre Beschäftigungsver-
hältnisse überführt, Niedriglöhne bekämpft, gleiche Be-
zahlung von Frauen und Männern erreicht und mehr gute
Arbeit geschaffen werden kann.
Zentral ist, Arbeit ab dem ersten Euro voll sozialver-
sicherungspflichtig zu machen und endlich einen gesetz-
lichen Mindestlohn einzuführen. Eine solche Initiative
wird auf den erbitterten Widerstand der Arbeitgeber sto-
ßen insbesondere aus dem Minijobbranchen. Das sind
die Erfahrungen der gescheiterten Reform von 1998/99.
Nach dem grandiosen Wahlsieg der rot-grünen Koalition
kündigte der damalige SPD-Vorsitzende Oskar Lafontaine
an, eines der ersten Amtshandlungen der Regierung
werde es sein, die Minijobs neu zu regeln. Er sagte:
„Wenn wir eine solche Fehlentwicklung des Arbeits-
marktes weiterhin zuließen, wäre ein zentraler Pro-
grammpunkt unserer Partei beschädigt, nämlich für die
Gleichberechtigung der Frauen in Beruf und Gesell-
schaft einzutreten.“
Aber die Lobbyisten der Minijobbranchen arbeiteten
schon damals gut. Bundeskanzler Gerhard Schröder er-
teilte einer wirklichen Reform ein Absage und brach ein
zentrales Wahlkampfversprechen der SPD. Einige Jahre
später wurde mit den Hartz-„Reformen“ die Minijobbe-
schäftigung vollkommen freigegeben.
Welche Schlussfolgerungen sind daraus für heute zu
ziehen? Wir brauchen eine breite Allianz, um aufzuklä-
ren und gesellschaftlichen Druck zu entfalten. Nur so ist
den Wirtschaftslobbyisten Paroli zu bieten. Minijobs in
reguläre Beschäftigung umzuwandeln, das fordern in-
zwischen viele, nicht nur die Gewerkschaften. Der Deut-
sche Frauenrat, dessen Mitgliedsorganisationen ein sehr
breites Spektrum umfassen, hat dazu im letzten Jahr ei-
nen einstimmigen Beschluss gefasst. Gleiches gilt für
den Deutschen Juristentag, der fordert, die geringfügige
in reguläre Beschäftigung zu überführen. Selbst die
Christlich-Demokratische Arbeitnehmerschaft Deutsch-
lands, CDA, hat im Sommer dieses Jahres einen Be-
schluss gefasst, die „Prekarisierung der Arbeitswelt“
einzudämmen, und beklagt, dass unter anderem durch
Minijobs „die Beteiligungs-, Mitwirkungs- und Mitbe-
stimmungsrechte der arbeitenden Menschen“ unterhöhlt
werden.
Diese verschiedenen Kräfte zusammen können ein
breites Bündnis ergeben, um auf die bestehende
schwarz-gelbe Regierung Druck auszuüben. Mut macht
dabei die Bewegung bei unserem europäischen Nach-
barn Slowenien. Dort haben sich im April 2011 in einer
Volksabstimmung 80 Prozent der Beteiligten gegen eine
Einführung von Minijobs ausgesprochen.
In diesem Sinne wünsche ich mir, dass wir auch in
Deutschland vorwärtskommen. Es ist dringend notwen-
dig.
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Die Entwicklung bei den Minijobs ist ein Problem. Es
kann nicht „gewollt“ oder „erwünscht“ sein – wie das
Bundesarbeitsministerium es behauptet –, dass jeder
fünfte Job ein Minijob ist, in vielen Teilen Westdeutsch-
lands sogar jeder vierte. Fakt ist, dass seit der Neurege-
lung der Minijobs die Beschäftigung insgesamt um
4 Prozent, die Minijobs aber um satte 31 Prozent zuge-
nommen haben.
Auch sonst sprechen die Fakten eine deutliche Spra-
che: Die Zahl der Vollzeitbeschäftigten ist im Gast-
gewerbe seit 2004 um etwas mehr als 30 000 auf
639 000 gewachsen. Im selben Zeitraum hat die Zahl der
geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse in der Bran-
che um fast das Sechsfache auf knapp 835 000 zuge-
nommen. Wer angesichts solcher Zahlen bestreitet, dass
Minijobs reguläre Beschäftigung ersetzen, der will den
Missstand nicht sehen und der will auch nicht sehen,
dass inzwischen gesamte Branchen ein Geschäftsmodell
auf Basis von Minijobs betreiben.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 136. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Oktober 2011 16301
(A) (C)Mit diesem Zuwachs und dieser Entwicklung verbun-
den sind zahlreiche Risiken und Nebenwirkungen, und
darum wächst die Phalanx gegen die Minijobs. Ich zähle
hier nur einige auf: Der Deutsche Frauenrat, der Sach-
verständigenrat, die Bertelsmann-Stiftung, der DGB, der
Deutsche Juristentag, der Sachverständigenrat zur Er-
stellung des Ersten Gleichstellungsberichtes, das IAB,
das IZA, das IAQ – von überall dort sind gewichtige
Einwände gegen die Minijobs zu hören, verbunden mit
der Forderung, hieran etwas zu ändern.
Es ist doch absurd: Hier in Deutschland wird mit viel
Geld ein Beschäftigungssegment unterstützt und privile-
giert, das maßgeblich zur Ausweitung des Niedriglohn-
sektors beiträgt, das für Arbeitslose keine Brückenfunk-
tion in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung
besitzt, das keine existenzsichernden Einkommen und
keine eigenständige soziale Sicherung bietet und das die
Gleichstellung von Frauen und Männern auf dem Ar-
beitsmarkt verhindert. Eine Ballung so vieler Nachteile
sucht ihresgleichen, und da könnte man doch meinen,
dass auch die Arbeitsministerin den Handlungsdruck
sieht. Aber nichts dergleichen. Da wird trotz der versam-
melten Expertise verharmlost und abgewiegelt. Das
Höchste, zu dem sich Frau von der Leyen bisher hat hin-
reißen lassen, ist die Aussage, dass sie von dem Plan Ab-
stand genommen hat, die Verdienstgrenzen für 400-Euro-
Jobs zu erhöhen.
Niemand außer vielleicht der FDP diskutiert noch
über eine Ausweitung der geringfügigen Beschäftigung.
ern: weg von den Minijobs und hin zu sozialversiche-
rungspflichtiger und existenzsichernder Arbeit. Frau von
der Leyen, würden Sie nur einen Bruchteil des Engage-
ments, das Sie auf die Forderung nach einer festen
Frauenquote in der Privatwirtschaft verwenden – ein
Vorhaben das ich ausdrücklich unterstütze –, auf die
Minijobs richten, dann könnten Sie erkennen, dass in
Ihrem originären Zuständigkeitsbereich ein Thema
brachliegt, das, richtig bearbeitet, vor allem für Frauen
echte Verbesserungen bringen würde.
Zwei Drittel aller Minijobs werden von Frauen ausge-
übt. Sie sind für die meisten dieser Frauen eine Niedrig-
lohnfalle. Durch sie wird der Zuverdienerinnenstatus in
Partnerschaften zementiert, und sie tragen maßgeblich
dazu bei, dass das Fachkräftepotenzial vieler Frauen un-
genutzt bleibt. Das alles widerspricht zumindest unseren
grünen Zielen in der Arbeitsmarkt-, aber auch in der
Frauenpolitik.
Wir sehen wie viele andere Handlungsbedarf bei den
Minijobs. Wir sehen natürlich auch die Widerstände, die
von denen kommen werden, die offensichtlich oder auch
nur vermeintlich von der bisherigen Regelung profitie-
ren. Das ist aber kein Grund, in einen Totstellreflex zu
verfallen. Es ist unsere Aufgabe, Probleme und Lösungs-
wege offensiv zu diskutieren und Alternativen zu ent-
wickeln. Das wird nicht einfach, aber wir stehen dazu
zur Verfügung. Ich bin gespannt auf die Ausschussbera-
tung und rege an, dass wir für dieses Thema schon ein-
Aber immer mehr sehen die Notwendigkeit, umzusteu-
mal eine Anhörung einplanen.
(B)
(D)
136. Sitzung
Inhaltsverzeichnis:
TOP 5 Telekommunikation und Internet
TOP 6, 30, ZP 3 Energieeffizienz
TOP 35, ZP 4 Überweisungen im vereinfachten Verfahren
TOP 36 Abschließende Beratungen ohne Aussprache
ZP 5 Aktuelle Stunde zum Grundsatzprogramm der Partei DIE LINKE
TOP 8 Bundeskinderschutzgesetz
TOP 9 Entwicklungspolitik
TOP 10 Insolvenzrecht
TOP 11 Familienpolitik
TOP 12 Finanzkraft der Kommunen
TOP 13 Kündigungsschutz bei unter 25-Jährigen
TOP 14 Bundesverfassungsschutzgesetz
TOP 15 Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik
TOP 16 Finanzanlagenvermittler- und Vermögensanlagenrecht
TOP 32 Minijobs
TOP 18 Europäisches Finanzaufsichtssystem
TOP 19 Betreuung von Zivilpersonal in Konflikten
TOP 20 Umweltauditgesetz
TOP 21 UNESCO-Welterbestätten in Deutschland
TOP 22 Strategie gegen Lebensmittelverschwendung
TOP 23 Umsetzung der Beitreibungsrichtlinie
TOP 24 Druckfarben für Lebensmittelverpackungen
TOP 25 Gräbergesetz
TOP 26 Bleiberechtsregelung im Aufenthaltsgesetz
TOP 27 Elektronische Gesundheitskarte
TOP 28 Cannabis-Clubs
Anlagen