Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15411
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mungsverhalten bei allen Entscheidungen davon abhän-
gig, ob es den Interessen der Arbeitenden und Erwerbs-
Wirtschaftspolitik betreiben, bleiben in der Euro-Zone.
Sie wird nicht zusammenbrechen. Diejenigen, die objek-
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Anlage 2
Erklärungen nach § 31 GO
zur namentlichen Abstimmung über den Ent-
wurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes
zur Übernahme von Gewährleistungen im Rah-
men eines europäischen Stabilisierungsmecha-
nismus (Tagesordnungspunkt 3 a)
Herbert Behrens (DIE LINKE): Ich stimme dem
Gesetz zur Ausweitung des Euro-Rettungsschirms aus
folgendem Grund nicht zu:
Meinen Kolleginnen und Kollegen aus meinem ge-
werkschaftlichen Umfeld habe ich bei meinem Einzug in
den Bundestag versprochen: Ich mache mein Abstim-
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Burchardt, Ulla SPD 29.09.2011
Dr. Geisen, Edmund
Peter
FDP 29.09.2011
Hempelmann, Rolf SPD 29.09.2011
Dr. Jochimsen, Lukrezia DIE LINKE 29.09.2011
Kekeritz, Uwe BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
29.09.2011
Lühmann, Kirsten SPD 29.09.2011
Nord, Thomas DIE LINKE 29.09.2011
Dr. Ott, Hermann E. BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
29.09.2011
Dr. Priesmeier, Wilhelm SPD 29.09.2011
Senger-Schäfer, Kathrin DIE LINKE 29.09.2011
Dr. Stinner, Rainer FDP 29.09.2011
Wicklein, Andrea SPD 29.09.2011
Wolff (Wolmirstedt),
Waltraud
SPD 29.09.2011
Wunderlich, Jörn DIE LINKE 29.09.2011
Zimmermann, Sabine DIE LINKE 29.09.2011
Anlagen zum Stenografischen Bericht
losen an Arbeit, gutem Lohn und Sicherheit bei
Krankheit und im Alter dient.
Diesem Anspruch wird der europäische Stabilisie-
rungsmechanismus in keiner Weise gerecht. Im Gegen-
teil: Das Gesetz vergrößert die soziale Spaltung der Ge-
sellschaften in den Staaten, die auf die Hilfe der Euro-
Staaten angewiesen sind.
Der Rettungsschirm zwingt die Menschen in den be-
troffenen Ländern zu Lohnverzicht, Arbeitslosigkeit und
sozialer Unsicherheit. Das gefährdet den sozialen Frie-
den in Europa, fördert antieuropäische Ressentiments
und Rassismus.
Veronika Bellmann (CDU/CSU): Der Euro ist un-
sere gemeinsame Währung. Seine Stabilität zu sichern,
liegt in deutschem und im europäischen Interesse. Die
gegenwärtige Krise einzelner Eurostaaten muss daher so
bekämpft werden, dass die europäische Wirtschafts- und
Währungsunion als Ganzes gestärkt hervorgehen kann.
Vor diesem Hintergrund ist es nicht gegen die euro-
päische Integration gerichtet, wenn ich der Aufstockung
und Erweiterung der Europäischen Finanzierungsfazili-
tät nicht zustimmen kann. Schon bei Einrichtung der
Rettungsschirme habe ich mit meinem Stimmverhalten
signalisiert, dass ich sie als Verstoß gegen Europarecht
und das Verbot der Schuldenübernahme und damit als
rechtswidrig betrachte. Für die Ausweitung des Ret-
tungsschirms gilt das ebenfalls.
Die in oben genanntem Gesetz genannten Maßnah-
men sind ungeeignet, die Krise zu lösen. Sie führen nicht
zu einem Abbau der gesamtwirtschaftlichen Ungleichge-
wichte und Fehlentwicklungen in der Euro-Zone, son-
dern verlängern sie nur mit immer höheren Kosten.
Schon heute ist absehbar, dass die Gesetzesänderungen
nicht ausreichen, um die Euro-Zone zu stabilisieren.
Es gilt aus der bisherigen Rettungslogik herauszu-
kommen, um wieder vom Reagieren zum Agieren zu
gelangen. Mit der Übernahme der Gewährleistung für
verschuldete Staaten haben die Euro-Länder die Soziali-
sierung privater Verluste in Kauf genommen und das
Verbot der Schuldenübernahme ausgehebelt. Der andere
Ansatzpunkt ist die Europäische Zentralbank. Deren
Übernahme von Staatsdefizitfinanzierung darf nicht wei-
ter erlaubt sein. Die Quasigelddruckmaschine zeigt, dass
sich die EZB nicht mehr der Geldwertstabilität ver-
pflichtet fühlt, sondern der Finanzstabilität, also der
Banken- und Staatsrettung. Die Banken wiederum müs-
sen gezwungen werden, sich ausreichendes Kapital zu
beschaffen, dass dann als Puffer dienen kann für die Ri-
siken von Staatspapieren. Erst nach diesem Eigenbetrag
können öffentliche Hilfen zum Einsatz kommen. Wenn
wir erst retten und dann erst zu eigener Anstrengung auf-
fordern, bleibt jeglicher Reformwille auf der Strecke.
Staaten, die eine disziplinierte und solide Finanz- und
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tiv nicht fähig oder politisch nicht willens sind, die mit
einer Währungsunion verbundenen anspruchsvollen
Konvergenzbedingungen zu erfüllen und die wirtschafts-
politischen Einschränkungen ihrer Autonomie zu akzep-
tieren, werden sie – gegebenenfalls nur temporär – ver-
lassen. Das stärkt den Euro nach innen und außen. die
ausscheidenden Staaten haben mit einer eigenständigen
Geld-, Zins- und Währungspolitik die Chance, zum
Wachstum zurückzukehren, und werden nicht weiter mit
einer überzogenen Deflationspolitik gequält.
Eine nachhaltige Lösung der Staatsschuldenkrise von
Euro-Ländern erfordert die Rückkehr zu einer strengeren
Stabilitätskultur mit automatischer Sanktionierung von
Verstößen, zu solider Haushaltführung, zum Erhalt von
Steuerungs- und Anreizmöglichkeiten über die Zinshö-
hen, zu starker Konditionalisierung der Hilfen, falls sie
nötig werden, und zur Reformpolitik. Diese Maßnahmen
dürfen immer nur Hilfe zur Selbsthilfe bleiben und nicht
dazu verführen, sich günstig zu finanzieren. Die ver-
schuldeten Staaten müssen in die Lage versetzt werden,
zu eigenverantwortlichem Handeln zurückzukehren. Die
vorgeschlagene Erweiterung geht darüber hinaus, weil
sie keine wirksame Begrenzung von Finanzhilfen er-
möglicht, sondern weiter Anreize zur Sozialisierung pri-
vater Verluste und Vergemeinschaftung nationaler
Schulden zulasten der deutschen und europäischen Steu-
erzahler setzt.
Differenzen in den wörtlich unterschiedlichen Formu-
lierungen des Gewährleistungsgesetzes und des EFSF-
Rahmenvertrages werden zu Verunsicherung in der Aus-
legung und Anwendung beider führen. Sie sind nicht ak-
zeptabel, da sie nicht dem Grundsatz von Wahrheit und
Klarheit folgen.
Selbst wenn sie mir noch als unvollkommen er-
scheint, so befürworte ich doch ausdrücklich die Aus-
weitung der Parlamentsbeteiligung, die den Vorgaben
des Bundesverfassungsgerichts folgt und auch meine
Forderungen zumindest im Wesentlichen erfüllt. Durch
dieses wichtige Mitbestimmungs- und Mitgestaltungs-
recht des Deutschen Bundestages ist zwar meine grund-
sätzliche Ablehnung der Rettungsschirmpolitik nicht
aufgehoben, aber insofern günstiger gestellt, als dass ich
mit Enthaltung votieren kann.
Karin Binder (DIE LINKE): Ich stimme dem Gesetz
zur Änderung des Gesetzes zur Übernahme von Gewähr-
leistungen im Rahmen eines Europäischen Stabilisie-
rungsmechanismus nicht zu. Diese Entscheidung möchte
ich mit dieser Erklärung begründen.
In einer parlamentarischen Demokratie bedürfen Ent-
scheidungen, die gravierende negative Folgen auch für
kommende Generation haben, der Beratung und demo-
kratischen Beteiligung des Parlaments. Dieser Grundsatz
wird mit diesem Gesetz verletzt. Es soll nur noch eine
Unterrichtungspflicht gegenüber dem Haushaltsaus-
schuss, nicht aber gegenüber dem ganzen Parlament gel-
ten. Damit werden Parlamentarier unterschiedlicher
Rangordnung geschaffen. Das ist mit deren prinzipieller
Gleichrangigkeit nicht zu vereinbaren.
Die Bundesregierung kann obendrein die Parlaments-
beteiligung ganz umgehen, wenn sie besondere Eilbe-
dürftigkeit oder Vertraulichkeit vorgibt. Dann soll nicht
einmal mehr der Haushaltsausschuss, sondern ein aus
nur wenigen Mitgliedern des Ausschusses bestehendes
Sondergremium entscheiden. Diese Beratungen und Ent-
scheidungen mit weitreichenden Folgen werden am Par-
lament und an der Bevölkerung vorbei getroffen. Das ist
nicht hinnehmbar.
Doch noch schwerwiegender für meine Entscheidung
sind soziale Gründe.
Meine Fraktion, Die Linke, und ich lehnen die Erwei-
terung des Euro-Rettungsschirms vor allem deshalb ab,
weil schon die bisherigen Maßnahmen zur Euro-Rettung
die Ausweitung der Krise nicht verhindert haben. Im Ge-
genteil: Die an die „Hilfskredite“ aus dem Rettungs-
schirm geknüpften radikalen Kürzungsauflagen würgen
die Binnenkonjunktur der Krisenländer ab, verhindern
eine nachhaltige Erholung der Wirtschaft und verschär-
fen die Schuldenkrise. Die Finanzmärkte wurden da-
durch nicht beruhigt. Weiterhin werden gegen die soge-
nannte Krisenstaaten Wetten abgeschlossen und es wird
munter weiterspekuliert. Bereits heute gehen Expertin-
nen und Experten sowie Finanzmarktakteure davon aus,
dass auch die Aufstockung der EFSF nicht ausreichen
wird.
Anstatt Konsequenzen aus der gescheiterten Politik
zu ziehen, wird der Kurs unerschüttert fortgesetzt. In den
Krisenländern bezahlen Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmer, Rentnerinnen und Rentner und andere Bevölke-
rungsgruppen mit Lohn- und Rentenkürzungen.
Der größte Sozialabbau der europäischen Nachkriegsge-
schichte sorgt dafür, dass private Banken weiter spekulieren
können. In Deutschland werden die Steuerzahlerinnen und
Steuerzahler in Haftung für die milliardenschweren Ga-
rantien genommen. Solange die Finanzmärkte nicht strikt
reguliert, Banken nicht vergesellschaftet und die Staatsfi-
nanzierung nicht von den Kapitalmärkten abgekoppelt
wird, ist diese Krise nicht unter Kontrolle zu bringen
Mit dieser Politik wird die Umverteilung von unten
nach oben beschleunigt. Sie ist ökonomisch gefährlich,
weil die Spardiktate eine ökonomische Belebung der
Krisenländer verhindern. Die Überwindung der wirt-
schaftlichen Ungleichgewichte in der Euro-Zone und EU
ist nicht vorgesehen. Dies gefährdet zunehmend die eu-
ropäische Integration: Rechtspopulistische Parteien, die
die Ängste und die Wut der Menschen gegen Spardiktate
in europafeindliche und nationalistische Propaganda ka-
nalisieren, sind in vielen Ländern auf dem Vormarsch.
Das Argument der Koalition – auch von SPD und Grü-
nen –, es gehe mit dem Rettungsschirm darum, „Europa
zu retten“, ist daher schlicht falsch.
Das europäische Projekt hat nur dann eine Zukunft,
wenn es sozial gerecht, wirtschaftlich vernünftig und de-
mokratisch gestaltet wird. Da die „Euro-Rettung“ in ge-
nau die entgegengesetzte Richtung weist, kann Die
Linke als Europa bejahende Partei nicht zustimmen.
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Nicole Bracht-Bendt (FDP): Die Lösungen der Ko-
alition in der europäischen Haushalts- und Finanzpolitik
sollen die derzeitigen Turbulenzen an den Finanzmärk-
ten eindämmen und neues Vertrauen etablieren. Nicht
alle bisherigen oder geplanten Maßnahmen finden meine
Zustimmung.
Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat
schon verloren. Ich habe in der Fraktion mit Kolleginnen
und Kollegen für eine andere Entscheidung gekämpft.
Es ist uns nicht gelungen, die Mehrheit der FDP-Frak-
tion zu überzeugen. Das respektiere ich. Aus Fraktions-
disziplin und Solidarität werde ich daher heute mit mei-
ner Fraktion stimmen. Weiteren wie auch immer
gearteten Ausweitungen eines Rettungsschirms werde
ich nicht zustimmen.
Die Schaffung eines kleinen Gremiums, das anstelle
des Haushaltsausschusses entscheiden kann, lehne ich
ab, zumal dieses Gremium der Vertraulichkeit unterliegt.
Es steht zu befürchten, dass damit die Beteiligung des
Deutschen Bundestages ausgehebelt wird.
Eine freie Abstimmung wäre eine gute Stunde für den
Deutschen Bundestag gewesen. Es ist möglich, dass es
noch zu stärkeren Unsicherheiten für die Märkte kommt,
falls heute keine Mehrheit aus der Koalition zustande
kommt. Die Kapitalmärkte könnten entsprechend reagie-
ren. Auch mit Blick auf die europäischen Nachbarn und
die Partner in der Welt ist es für Deutschland mit dem
Ziel eines stabilen Euro wichtig, ein Zeichen für eine ge-
schlossene und entschlossene Koalition zu setzen.
Das habe ich heute ebenfalls bei meinem Abstim-
mungsverhalten berücksichtigt. Aufgrund dieser Abwä-
gung stelle ich meine persönlichen Bedenken und Zwei-
fel zu den im Gesetzesvorhaben getroffenen Regelungen
zurück und stimme den Änderungen an dem Gesetz zum
europäischen Stabilisierungsmechanismus zu.
Klaus Brähmig (CDU/CSU): Die heutige Entschei-
dung ist fälschlicherweise zur Abstimmung über Krieg
und Frieden in Europa hochstilisiert worden. Mit der
Abstimmung über das Gesetz zur Änderung des Geset-
zes zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen
eines europäischen Stabilisierungsmechanismus wird
der Versuch unternommen, die Versäumnisse, die bei der
Euro-Einführung in der Vergangenheit gemacht wurden,
auszugleichen. Den Unmut der Bürger kann ich teil-
weise verstehen. Denn wir helfen heute den Staaten, die
seit Jahren wider besseres Wissen ihre Strukturverände-
rungen bewusst nicht auf den Weg gebracht haben bzw.
auf Kosten der zukünftigen Generationen leben. Damit
verhöhnt man die Verträge von Maastricht und die Euro-
Stabilitätskriterien, die wir als Deutsche damals wie ein
Banner vor uns hergetragen haben, um den Euro so stark
und solide wie die DM zu halten.
Leider mussten die politischen Voraussagen zum
Thema „Eurostabilität und Griechenlandhilfe“ auch von
unserer Regierung aufgrund der finanzpolitischen Wirk-
lichkeit ständig überholt werden. Dennoch beanspruche
ich für mich, dass ich bei der heutigen Abstimmung nach
bestem Wissen und Gewissen und zum Wohle des deut-
schen Volkes entscheiden werde. Dies streite ich aber
auch meinen Kollegen nicht ab, die vielleicht zu einer
anderen Entscheidung gelangen. Persönlich hoffe ich,
dass wir durch die Fraktionsführung, die betroffenen
fachpolitischen Gremien und die Bundesregierung um-
fassend informiert worden sind. Allerdings hätte ich mir
gewünscht, dass unsere Fraktion stärker auch die Kriti-
ker mit eingebunden hätte, unter anderem Wissenschaft-
ler und Persönlichkeiten aus der Wirtschaft. Beispiels-
weise hätte man dann in einer Art Synopse die
Lösungsvarianten und die daraus abgeleiteten Risiken
und Kosten aufzeigen können.
Meine heutige Entscheidung, das Gesetz zur Ände-
rung des Gesetzes zur Übernahme von Gewährleistun-
gen im Rahmen eines europäischen Stabilisierungsme-
chanismus zu unterstützen, treffe ich auch als
Schutzmaßnahme für die einheimische, mittel ständische
Wirtschaft, die in einem europäischen und weltweiten
Wettbewerb steht. Die Zeiten von Wechselkursschwan-
kungen will ich im europäischen Raum für die deutsche
Wirtschaft nicht wieder erleben.
Mit meiner heutigen Zustimmung verbinde ich die
Hoffnung, dass die Bundesregierung all ihre Kraft ein-
setzt, die europäischen Stabilitätskriterien wieder in den
Mittelpunkt der Betrachtungen zu rücken. Dabei sollte
durch die Einführung von Schuldenbremsen auf Ebene
der Nationalstaaten eine Kultur der Stabilität etabliert
werden. Außerdem ist es unumgänglich, dass National-
staaten auch den Staatsbankrott erleiden können. Nur
dann ist gewährleistet, dass der Markt als sensibler Wäh-
rungshüter frühzeitig eingreift.
Wer aus meiner Zustimmung abliest, dass ich weiter-
gehende Finanzbelastungen für die Bundesrepublik
Deutschland automatisch und damit ohne die Zustim-
mung des Parlaments als gewählter Volksvertreter zu-
lasse, der irrt. Eine nochmalige Ausweitung des Ver-
handlungsspielraums werde ich nicht mittragen und mir
entsprechende Konsequenzen für die Zukunft offenhal-
ten.
Gemeinschaftlich mit Griechenland sollte die euro-
päische Staatengemeinschaft darüber nachdenken, ob
und inwieweit Griechenland durch den Auf- und Ausbau
von Solaranlagen einen wichtigen Beitrag zur Energie-
versorgung Europas leisten kann und damit die wirt-
schaftliche Leistungsfähigkeit des Landes deutlich ver-
bessert wird. Auch bei der Tourismusentwicklung gibt es
Optimierungsmöglichkeiten, die Griechenland dringend
nutzen muss, um einen der wichtigsten Wirtschafts-
zweige wieder zu einem neuen Boom zu verhelfen und
die entstehenden Einnahmen der Gesundung seiner
Volkswirtschaft zuzuführen.
Dem heute vorliegenden Gesetzentwurf stimme ich
aus den oben genannten Gründen zu. Für die Zukunft
wünsche ich mir objektivierende Diskussionen über sol-
che Fachthemen. Jede Hausfrau und jeder Normalbürger
weiß, dass er Probleme bekommt, wenn er mehr ausgibt,
als er einnimmt. Aus diesem Grund muss die Politik da-
für Sorge tragen, dass auch in schwierigen Zeiten Haus-
haltsdisziplin unser oberstes Ziel ist. Wir leben derzeit
schon auf Kosten der kommenden Generationen. Eine
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Umkehr von diesem Weg der Haushaltsdisziplin versün-
digt sich an der Zukunft Deutschlands und Europas.
Michael Brand (CDU/CSU): Diese heutige Ent-
scheidung bedeutet eine große, eine sehr große Verant-
wortung. Es geht um mehr als um die akute Nothilfe für
Griechenland und die Stabilisierung der Euro-Zone.
Es kommt darauf an, nach bestem Wissen und Gewis-
sen zu entscheiden. Das Wissen um die Folgen dieser
schwerwiegenden Entscheidung hat niemand für sich ge-
pachtet, es gibt für diese Operation keine „Blaupause“,
kein „Drehbuch“. Die üblichen Sicherheiten und auch
manche voll überzeugte Position sind angesichts der sehr
unterschiedlichen, gar widersprüchlichen Einschätzun-
gen auch seriöser Experten nicht überzeugend.
Es ist jedem klar, dass es keinen Königsweg gibt –
wir haben die Wahl und die Pflicht, uns für die Lösungs-
alternative zu entscheiden, die nach sorgfältiger Analyse
die geringsten Risiken und die bestmögliche Aussicht
auf die Lösung der Krise birgt.
Im Ergebnis aller dieser Sorgen, der Faktoren und Ar-
gumente habe ich mehrfach und vielfach nachgefragt
und hinterfragt, mich mit den Argumenten der Gegner
wie der Befürworter intensiv befasst, bis in die letzten
Tage und Stunden hinein.
Ich will hier ausdrücklich nur sehr knapp die bekann-
ten Argumente einbringen, die für eine dauerhafte Lö-
sung erforderlich sind.
Wir haben keine Euro-, sondern eine Schuldenkrise.
Wer zu lange zu stark über seine Verhältnisse gelebt hat,
der muss nun die Richtung ändern. Wir haben in
Deutschland als dem stärksten EU- und Euro-Land die
Schuldenbremse in die Verfassung geschrieben. Wer die
Schulden zu hoch treibt und damit die Verfassung bricht
wie kürzlich die rot-grüne Regierung in NRW, wird zur
Rechenschaft gezogen. Das muss auch in Europa so
kommen, und andere Euro-Staaten haben begonnen, dies
ebenfalls in ihren Verfassungen zu verankern. Dazu
brauchen wir Sanktionsmechanismen, die den Bruch der
Stabilitätskriterien teuer machen, ebenso wie präventive
Maßnahmen zur Überwachung staatlicher Haushalts-
politik in den Euro-Ländern.
Wir brauchen endlich eine internationale Regulierung
der Finanzmärkte, auch wenn das ein bekannt schwieri-
ges Thema ist. Wir müssen das Kasino beenden, und wir
brauchen wieder Finanzmärkte, die nicht zocken, son-
dern seriöse Kredite an seriöse Kreditnehmer vergeben.
Auch die Ratingagenturen, die mit ihren falschen, offen-
bar nicht geprüften Ratings in der Vergangenheit einen
Hauptanteil an der Finanzkrise hatten, müssen kontrol-
liert werden. Die private Finanzwirtschaft muss an der
Schadensbehebung unmittelbar beteiligt werden; erste
Schritte sind getan, aber weitere müssen folgen, in Eu-
ropa und global.
Für Staaten und Banken, die der Krise am Ende doch
nicht gewachsen sind, brauchen wir geordnete Verfahren
für eine geordnete Insolvenz, die eben nicht andere mit
in die Krise reißt. Hier könnten wir in Europa und bei
den G20 schon weiter sein, wenn die deutschen Argu-
mente stärker berücksichtigt und Protektionismus für die
eigene Finanzwirtschaft von Großbritannien und den
USA nicht so massiv vorgebracht worden wären.
Der Europäische Stabilitätsmechanismus – ESM –
und der Europäische Rettungsfonds – EFSF – waren und
sind neue Antworten und Instrumente, um auf eine völ-
lig neue Herausforderung zu reagieren. Sie sollen vor al-
lem eines bringen: die gemeinsame Kraft der weltweit
immer noch starken Euro-Zone gegen die Krisen in ein-
zelnen Euro-Ländern mit auf die Waagschale zu bringen,
um ein Kippen der Lage zu verhindern und den schwieri-
gen Weg aus der Krise geordnet zu gehen – statt in ein
Finanz- und Wirtschaftschaos abzugleiten, mit enormen
Wirkungen auf die Realwirtschaft, auf Mittelstand und
Arbeitsplätze, auch hier in Deutschland.
Schon bei der letzten großen Finanzkrise hat sich ge-
zeigt, dass es „Gegenmittel“ gibt, die wir erfolgreich ein-
gesetzt haben – nicht ohne Grund hat Deutschland eine
im Vergleich zu anderen noch stärkere Position nach der
Krise. Wir haben in der Krise die richtigen, jeweils er-
forderlichen Schritte eingeleitet, um Wachstum und Be-
schäftigung abzusichern und den Weg aus der Krise ein-
zuleiten.
Dass Wirtschaft und Gewerkschaften gleichermaßen
dazu aufrufen, die Ausweitung des europäischen Ret-
tungsschirms zu beschließen, ist ein nicht unwesentli-
cher Hinweis auf die breite Unterstützung des Kurses der
Bundesregierung in dieser komplexen und nicht unge-
fährlichen Lage.
Nicht zuletzt haben wir, die Deutschen, am stärksten
vom Euro profitiert. Und wir werden unseren Teil der
Verantwortung zur Stabilisierung der Schuldenkrise
auch wahrnehmen. Dabei gibt es keinen Freibrief für
Schuldensünder – für Hilfe muss Gegenleistung erbracht
werden, und das verbindlich.
Nachdem ich mich sehr bewusst während der Bera-
tungen mit Argumenten und auch mit Abstimmungsver-
halten für eine Verminderung der Risiken für die Steuer-
zahler und eine Stärkung der Beteiligungsrechte des
Deutschen Bundestages eingesetzt habe, kann ich heute
nicht übersehen, dass es hier auch Fortschritte gegeben
hat.
Die Bürgerinnen und Bürger können sicher sein: Es
wird keine zentralen Entscheidungen mehr geben ohne
ausdrückliche Beteiligung ihres Parlamentes, in das sie
die Abgeordneten mit ihrem Vertrauen entsendet haben.
Wir Abgeordneten stehen umso mehr in der Pflicht,
sorgfältig zu analysieren und die Sorgen der Menschen
aufzunehmen.
Wo Unsicherheit vorherrscht, ist Vertrauen mit das
höchste Gut. Darum geht es ganz zentral: wieder Ver-
trauen schaffen. Vertrauen darauf, dass wir in Europa,
mit aktiver deutscher Hilfe – als größter Wirtschaft in
der EU –, die Krise meistern, wenn auch nicht von heute
auf morgen. Vertrauen darauf, dass wir kommende kriti-
sche Phasen ordentlich überstehen, mit weniger Erschüt-
terungen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15415
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Mittel- und langfristig geht es um die Stabilität unse-
res Kontinentes in einer sich dramatisch verändernden
Welt. Es geht für uns, auch für unsere Kinder, um die
Möglichkeit, unsere Rolle in der Welt auch in Zukunft
aktiv gestalten zu können.
Es ist viel von Vertrauen die Rede in diesen Wochen
und Monaten. Und es geht um viel, und vor allem um
viel Vertrauen in diejenigen, die handeln und entschei-
den können, und müssen. Wir alle sollten ein gesundes,
ja tiefes Misstrauen haben gegenüber solchen, die er-
kennbar alles genau wissen und in keiner Weise nach-
denklich zu sein scheinen: Wer bei dieser Dimension
nicht nachdenklich auftritt, lässt auch Zweifel aufkom-
men, dass genug nachgedacht wurde.
Viele Bürgerinnen und Bürger haben sich mit Sorgen
um den Euro, um ihr Erspartes, auch um die Alterssiche-
rung und die Zukunft ihrer Kinder oder Enkel an mich
gewandt. Für mich sind das ernste Sorgen, die ich selbst-
verständlich sehr ernst zu nehmen habe.
Bislang hat die Realwirtschaft in Deutschland keinen
Schaden genommen, Deutschland stabilisiert mit seiner
starken Wirtschaft, auch mit dem Export weltweit und in
die EU den Euro-Raum mit. Die Sorgen der Menschen
werden ernst genommen, und auch das schafft Ver-
trauen, wie die letzten Zahlen zum Konsumklima als ei-
nem der wesentlichen Indikatoren für das Vertrauen der
Bevölkerung in die wirtschaftliche Zukunft unterfüttern.
Keine Lösung ist die Haltung der Opposition, den eu-
ropäischen Rettungsmechanismus in einen Automatis-
mus auszudehnen, der keine effiziente Kontrolle für
Schuldensünder vorsieht. Schon bei der ersten notwendi-
gen Hilfe gegen den Zusammenbruch Griechenlands
hatte sich die SPD enthalten, die Lehman-Pleite hatte der
damalige Finanzminister Steinbrück in der Wirkung fatal
falsch eingeschätzt. Das ist wenig vertrauenswürdig für
die Position der Opposition, die zudem mit ihrer damali-
gen rot-grünen Regierung die fiskalischen Todsünden
gegen den Euro-Stabilitätspakt begangen hat: Schröder-
Fischer-Eichel waren die ersten, die den von Kohl und
Waigel ausgehandelten Stabilitätspakt gebrochen und
Kritiker an diesem Bruch verhöhnt haben. Zum anderen
wurde ausgerechnet Griechenland in die Euro-Zone ge-
holt, obwohl das Vertrauen in die offiziellen griechi-
schen Zahlen schon damals bei Kennern erschüttert war.
Wer so gehandelt hat, kann nicht auf großes Vertrauen
zählen, wenn es um die Zukunft des Euro geht.
Dass die Bundesregierung sich mit ihrer Forderung
nach einer strengeren Regulierung endlich bei der EU-
Kommission durchgesetzt hat, ist ein später Erfolg der
Bundesregierung. Ebenso klar muss jeder wissen, dass
sich SPD und Grüne im Europäischen Parlament in die-
sen Tagen genau gegen diese Stabilitätskriterien geäu-
ßert und gegen diese Vorschläge gestimmt haben.
Es ist also kein polemisches, populistisches Theater,
das uns hier weiterhilft. Im Gegenteil: Das schafft kein
Vertrauen. Wir wollen, ich will für unsere Zukunft, für
meine und unsere Kinder, dass wir ein durch die Krise ge-
steuertes, erstarktes Europa haben und kein geschwächtes
oder gar wirtschaftlich abgeschafftes Europa.
Insgesamt komme ich so in der Gesamtabwägung al-
ler mir zur Verfügung stehenden Argumente, also des
Wissens zu diesem komplexen Thema zur Entscheidung,
dass ich diese Ausweitung des europäischen Rettungs-
schirms dieses Mal mittragen kann.
Das ist kein Freibrief für künftige Entscheidungen. Es
hat die Entscheidung mitbeeinflusst, dass dank unseres
deutlichen Auftretens als Parlament gegenüber unserer
Regierung, auch des Präsidenten des Deutschen Bundes-
tages, unseres Kollegen Professor Dr. Lammert, die
Rechte des Deutschen Bundestages bei der Stabilisie-
rung der Euro-Zone nochmals deutlich gestärkt wurden.
Es wird keinen Automatismus zu weiteren Ausweitun-
gen der Garantien der Bundesrepublik Deutschland ge-
ben, weil es diesen Automatismus nicht geben darf. Im
Gegenteil: Jeder nächste Schritt wird vom Deutschen
Bundestag geprüft, der Deutsche Bundestag muss ent-
scheiden über Ja oder Nein – und erst dann wird, wie-
derum im Bundestag, im Haushaltsausschuss unter die-
sen Vorgaben über die Einzelheiten entschieden.
Das ist ein wichtiges Signal auch dafür, dass Demo-
kratien diese nationalen und internationalen Herausfor-
derungen besser bestehen als Länder wie China und an-
dere, die keine Rücksichten auf die Sorgen ihrer
Bevölkerung nehmen.
Der Deutsche Bundestag vertritt den Souverän, das
deutsche Volk, auch in diesen Fragen, auch gegenüber
und manches Mal gar gegen die Forderungen der EU
oder der Euro-Partner.
Unter diesen, auch vom Parlament erreichten Rah-
menbedingungen fällt es mir nicht leicht, ist aber den-
noch die nach Abwägung aller Positionen richtige Ent-
scheidung, heute dem Gesetzentwurf zum europäischen
Rettungsschirm zuzustimmen.
Bei den weiteren Beratungen bleibe ich kritischer
Teilnehmer als Vertreter der Menschen, die mich mit
dem Vertrauen ausgestattet haben, ihre Interessen nach
bestem Wissen und Gewissen zu vertreten.
Marco Bülow (SPD): Zu meinem Abstimmungsver-
halten am heutigen Tage erkläre ich Folgendes: Ich
stimme dem Gesetzentwurf zu, möchte aber folgende
Bedenken zu Protokoll geben:
Das vorliegende Gesetz hat eine Dimension und eine
Tragweite, die selbst Fachleute nicht überblicken können.
Ich bin kein Finanzexperte und muss eingestehen, dass
ich mich auf die Vorgaben der Fachleute verlassen muss.
Ich sehe keine inhaltliche Alternative, die ich für unpro-
blematischer halte, und folge deshalb der SPD-Fraktion
und stimme dem Gesetz zu.
Zur Darlegung meiner inhaltlichen Kritikpunkte. Eine
Politik, die darauf abzielt, Sozialleistungen und Löhne
abzubauen und Löhne zu senken, wie das jetzt in Grie-
chenland und teilweise in Südeuropa – auch durch Druck
der Bundesregierung – geschieht und wohl weiterhin ge-
schehen wird, ist zweifelhaft. Dies ist eine neoliberale
Politik, die ganz sicher zu keiner Stabilisierung der Ver-
hältnisse in Griechenland führen wird.
15416 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011
(A) (C)
(D)(B)
Die Binnenkonjunktur in Griechenland wird unter
diesen Maßnahmen leiden. Auch auf die deutsche Ex-
portwirtschaft wird dieses Gesetz Auswirkungen haben.
Sie wird zukünftig einen schwächeren Absatzmarkt in
Griechenland vorfinden. Zudem sind andere Länder wie
Italien, Spanien oder Frankreich in der Gefahr, dieselben
Konsequenzen tragen zu müssen. Die Regulierung der
Finanzmärkte ist zwingend erforderlich, wenn wir das
europäische Finanzsystem insgesamt stabilisieren wol-
len. Dies muss nun zügig durchgesetzt werden.
Neben der inhaltlichen Abwägung gibt es allerdings
noch die Diskussion über die demokratische Kontrolle
des Rettungsschirms.
Ich sehe meine Rechte aus Art. 38 GG, Art. 20 GG
sowie dem Demokratieprinzip durch die vorgesehene
Lösung gefährdet. Ich halte die Beteiligung des Bundes-
tages bei konkreten Hilfszusagen in jedem neuen Einzel-
fall für unverzichtbar. Der Kompromiss, der auf Betrei-
ben der SPD-Fraktion gefunden wurde, ist nur eine
Mindestlösung. Danach darf der Vertreter der Bundesre-
gierung in der EFSF, der European Financial Stability
Facility, einem Beschlussvorschlag, der die haushalts-
politische Gesamtverantwortung des Bundestages berührt,
nur dann zustimmen, wenn das Parlament zuvor einen zu-
stimmenden Beschluss gefasst hat. Bei besonderer Eilbe-
dürftigkeit oder Vertraulichkeit sollen die Beteiligungs-
rechte des Bundestages von einem Unterausschuss des
Haushaltsausschusses wahrgenommen werden, dem
neun Mitglieder aus allen Fraktionen angehören sollen.
Die SPD hat dazu einen Änderungsantrag vorgelegt,
nach dem auch in Fällen der Eilbedürftigkeit oder Ver-
traulichkeit der Haushaltsausschuss zustimmen soll –
und nicht das Sondergremium. Dies wurde von der Re-
gierung leider abgelehnt.
Insgesamt wird es sehr wichtig sein, dass wir genau
überprüfen, ob damit auch die erforderlichen Ziele er-
reicht werden können. Diese Entscheidung reiht sich ein
in eine Politik, bei der die Rechte des Parlaments und der
einzelnen Abgeordneten immer weiter eingeschränkt
werden. Diese Entwicklung halte ich für bedrohlich. Es
wird Zeit, darüber endlich ausgiebig zu diskutieren und
gegenzusteuern.
Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Ich stimme
dem Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Übernahme
von Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen
Stabilisierungsmechanismus aus zwei Gründen nicht zu:
Erstens: Die Aufstockung der Mittel des Stabilisie-
rungsfonds ist im Ergebnis eine Unterstützung der Banken,
der Finanzinstitute, der Reichen und der Superreichen. Im
Haftungsfall werden wie immer die entstehenden Lasten
aber von der großen Mehrheit der Steuerzahlerinnen und
Steuerzahler getragen. Ich befürchte auch eine Kürzung
von Renten und anderen Sozialleistungen. Die Bundesre-
gierung ist jedenfalls nicht bereit, für die gegenwärtigen
Sozialstandards eine Garantieerklärung abzugeben. Des-
halb lehne ich das Gesetz ab.
Den Menschen in den Ländern, die Mittel von der
EFSF erhalten, wird nicht wirklich geholfen: Die stren-
gen Auflagen treffen dort vor allem die Geringverdiene-
rinnen und Geringverdiener, die Rentnerinnen und Rent-
ner. Die Folge davon ist, dass die Binnennachfrage
einbricht. Dadurch werden weitere Menschen arbeitslos,
und die Steuereinnahmen sinken. Die Fähigkeit zur
Rückzahlung der gewährten Kredite wird immer weiter
eingeschränkt. Das zeigt die Entwicklung in Griechen-
land. Auch deshalb sage ich Nein zu dem Gesetz.
Wir wollen stattdessen die Regulierung der Finanz-
märkte, also die Banken endlich an die Kette legen, die
Heranziehung der Riesenvermögen zur Schuldentilgung
und eine konstruktive Unterstützung für die wirtschaftli-
che Entwicklung in Griechenland und anderen betroffe-
nen Ländern.
Zweitens: Ich lehne das Änderungsgesetz auch des-
halb ab, weil es die demokratisch-parlamentarische Kon-
trolle des Bundeshaushalts aushöhlt. Im Rahmen der
EFSF werden Entscheidungen getroffen, die Auswirkun-
gen für spätere Generationen haben – so viel zur viel be-
schworenen Generationengerechtigkeit.
Die demokratische Kontrolle durch uns gewählte Ab-
geordnete kann durch Unterrichtungen und Entscheidun-
gen des Haushaltsausschusses nicht ersetzt werden. Noch
weniger ist es mit demokratischen Grundsätzen verein-
bar, wenn wichtige parlamentarische Entscheidungen an
ein kleines Sondergremium delegiert werden. Auch des-
halb sage ich Nein zu dem Gesetz, das die Unterordnung
demokratischer Verfassungsprinzipien unter das Diktat
der Finanzmärkte bedeutet.
Marco Buschmann (FDP): Wir debattieren heute
über einen vom Bundesrat eingebrachten Gesetzentwurf
zur Einführung von Kammern für internationale Han-
delssachen. Lassen Sie mich kurz einführen, warum ich
es als wichtig erachte, diesen Gesetzentwurf hier im
Deutschen Bundestag zu diskutieren.
In einer globalisierten Handelswelt begegnen wir dem
Wettbewerb nicht nur auf rein ökonomischer Ebene.
Ebenso muss sich unser Rechtssystem im Vergleich zu
anderen Rechtskreisen behaupten. Insbesondere in der
internationalen Geschäftswelt ist das angelsächsische
Recht auf dem Vormarsch. Das liegt nicht an der Überle-
genheit des Common Law. Vielmehr herrscht in der ju-
ristischen Fachwelt die Auffassung vor, dass das deut-
sche Recht im internationalen Vergleich einen sehr
hohen Qualitätsstandard für sich beanspruchen kann.
Dieser hohe Qualitätsstandard setzt sich in der Rechts-
pflege fort. Deutsche Gerichtsverfahren führen in der
Regel schnell und mit vergleichsweise niedrigen Kosten
zu einem für die Rechtsuchenden befriedigenden Ergeb-
nis. Somit eignen sich nicht nur unsere Waren als Ex-
portschlager. Auch unser Rechtssystem könnte einer
werden.
Jedoch ist das deutsche Recht im Vergleich zum
Common Law einem Wettbewerbsnachteil ausgesetzt.
Unser Rechtskreis könnte durch Abbau dieses Wettbe-
werbsnachteils attraktiver werden: Der angelsächsische
Rechtskreis spielt bislang den Vorteil der englischen
Sprache als internationale Handelssprache voll aus. Un-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15417
(A) (C)
(D)(B)
ternehmen weichen häufig auf englischsprachige Ge-
richtsstände aus oder vereinbaren Schiedsklauseln unter
Verwendung der Verfahrenssprache Englisch, weil Eng-
lisch meist allen Beteiligten geläufig ist.
Die Einführung von Kammern für internationale Han-
delssachen, in denen Englisch als Gerichtssprache zuge-
lassen werden soll, kann dazu beitragen, die Wettbe-
werbsfähigkeit des deutschen Rechts international
erheblich zu verbessern und die Ausweichbewegungen
abzumildern.
Dass es bereits jetzt ein Bedürfnis für einen solchen
Ansatz gibt, hat ein Modellprojekt des Oberlandesge-
richtsbezirks Köln gezeigt. Die Landgerichte Köln,
Bonn und Aachen haben in ihren Geschäftsverteilungs-
plänen Kammern eingerichtet, in denen auf Englisch
verhandelt werden kann. Sie berufen sich dabei auf
§ 185 GVG, wonach bei Übereinstimmung des Klägers
und des Beklagten die Verhandlung in englischer Spra-
che geführt wird, wenn beide auf einen Dolmetscher ver-
zichten und der Prozess einen internationalen Bezug auf-
weist. Sowohl die Justiz als auch die Anwaltschaft in
Köln sind sich sicher, dass ihre Region, die Sitz von vie-
len internationalen Unternehmen ist, nur so attraktiv
bleiben kann.
Der vorliegende Gesetzentwurf will dabei nicht nur
erreichen, dass nach § 185 GVG ausnahmsweise in eng-
lischer Sprache verhandelt werden kann, sondern dass
auch Schriftsätze und Urteile entsprechend ausgefertigt
werden können. Damit kann die Sprachbarriere des deut-
schen Rechts für internationale Unternehmen weiter ab-
gebaut werden. Um dieses Vorhaben zu prüfen und wei-
terentwickeln zu können, wird der Rechtsausschuss zu
diesem Gesetzentwurf im November eine öffentliche
Anhörung durchführen.
Zuletzt möchte ich noch auf die Sorgen der Kritiker
eingehen. Es geht nicht um die Ersetzung der deutschen
Sprache als Gerichtssprache. Vielmehr geht es darum,
unser hervorragendes Rechtssystem zu bereichern. Es
geht lediglich um eine eng begrenzte Ausnahme für den
internationalen Handelsverkehr, die das Einverständnis
aller Beteiligten voraussetzt. Dagegen kann, wie ich
meine, niemand etwas haben.
Sylvia Canel (FDP): Vertrauen in ein gemeinsames
Europa mit einer gemeinsamen Währung setzt voraus,
dass sich alle Länder an einen nachvollziehbaren und
stabilitätsorientierten Ordnungsrahmen halten. Dieser
Rahmen sollte eine schlüssige Perspektive und Anreize
zum verlässlichen und nachhaltigen Handeln bieten. Ei-
genverantwortung, Haftung und Kontrolle gehören zu-
sammen und sind Grundlage unserer europäischen Ge-
meinschaft und nicht voneinander trennbar.
Die Länder sind in hohem Maße eigenverantwortlich
und dem Maastrich-Vertrag, der die Staatsverschuldung
auf ein unkritisches Maß begrenzt, verpflichtet. Die
Schwellenwerte von 3 Prozent für das laufende Defizit
und 60 Prozent für den Schuldenstand – jeweils bezogen
auf das Bruttoinlandsprodukt – haben einen ausge-
glichenen Haushalt zum Ziel, ein Ziel, das mit Nach-
druck verfolgt werden muss. Der, der dazu nicht bereit
ist, gefährdet die Gemeinschaft und nicht der, der auf die
Einhaltung des Ziels besteht.
Trotz der Richtigkeit des gemeinsamen Vertrages
wurde dieses Ziel immer weiter aus den Augen verloren.
Es fehlte der politische Wille zur Umsetzung. Es exis-
tiert also kein unmittelbares Regelungsdefizit, sondern
ein Vollzugsdefizit, das die heutige Krise begründet. Die
zunehmende Verflechtung der Finanzinstitutionen macht
es jedoch auch erforderlich, nachzusteuern und neue Re-
gelungen zu ergänzen. Meine Fraktion hat diese Instru-
mente maßgeblich erarbeitet. Diese Arbeit unterstütze
ich, deshalb stimme ich nicht mit einem Nein.
Die vorgelegten Lösungen der Koalition in der euro-
päischen Haushalts- und Finanzpolitik sollen die Grund-
lagen für Maßnahmen legen, die es erlauben zielorien-
tierter zu fördern und konsequenter zu fordern.
Bedauerlicherweise sind diese Instrumente damit ver-
bunden, dass die Bürgschaftssumme für Deutschland ein
weiteres Mal erheblich erhöht wird, was zu einer großen
Belastung führt und am Ende zum Verlust der deutschen
Kreditwürdigkeit führen könnte. Der Aufbau Europas
auf Schulden ist ein Weg, der die politische Gestaltungs-
möglichkeit kommender Generationen erheblich ein-
schränkt und deshalb nicht meine Zustimmung finden
kann.
In Abwägung der unterschiedlichen Positionen ent-
halte ich mich der Stimme.
Dr. Peter Danckert (SPD): Zu meinem Abstim-
mungsverhalten zum heutigen Tage erkläre ich Folgen-
des: Ich stimme dem Gesetzentwurf zwar zu, möchte
aber folgende Bedenken zu Protokoll geben:
Ich bin davon überzeugt, dass die Rettungsmaßnah-
men, die mit dem Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur
Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines
Europäischen Stabilitätsmechanismus einhergehen, der
richtige Weg zur Rettung des Euro-Raums sind. Die
haushaltsrechtliche Gesamtverantwortung des Deut-
schen Bundestages wird jedoch durch die in § 3 Abs. 3
vorgesehene Regelung nicht verfassungsgemäß ausge-
staltet. Meine Rechte aus Art. 38 GG, Art. 20 GG sowie
dem Demokratieprinzip werden durch die vorgesehene
Lösung auf verfassungswidrige Weise unterlaufen. Des-
halb werde ich voraussichtlich gegen das Gesetz Organ-
klage vor dem Bundesverfassungsgericht erheben.
Die Tatbestandsmerkmale der Vertraulichkeit oder
Eilbedürftigkeit sind meiner Ansicht nach keine über-
zeugenden Argumente, um die vorgesehene Ausgestal-
tung des § 3 Abs. 3 zu rechtfertigen.
Erstens. Fälle besonderer Vertraulichkeit:
In den letzte Jahrzehnten gab es meiner Kenntnis
nach keinen Fall, in dem ein Abgeordneter die vorgese-
hene Vertraulichkeit der zu treffenden Entscheidungen
– zum Beispiel Dokumente, die als Geheim klassifiziert
sind – gebrochen hat. Daher ist es nicht nachvollziehbar,
dass man zwischen denjenigen unterscheidet, denen man
die Geheimhaltung zutraut, und solchen, die die Vertrau-
15418 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011
(A) (C)
(D)(B)
lichkeit mutmaßlich brechen. In dieser Handhabung sehe
ich eine Verletzung meiner Rechte, sowohl als Abgeord-
neter, als auch als Person.
Zweitens. Fälle besonderer Eilbedürftigkeit:
Bei einer eilbedürftigen Situation, die zum Beispiel
bei einer Intervention der EFSF am Sekundärmarkt vor-
liegt, könnten die Mitglieder des Haushaltsausschusses
ebenso schnell zusammengerufen werden, wie die Mit-
glieder des Kleinstgremiums. Wenn mehrere Mitglieder
des Kleinstgremiums sich zum besagten Zeitpunkt bei-
spielsweise auf einer Dienstreise in Australien befinden,
dann sind sie gleichermaßen schwer zu erreichen. Ich
hoffe inständig, dass die verantwortlichen parlamentari-
schen Geschäftsführer nicht vorhaben, eine Telefon-
oder Videokonferenz für diese Fälle vorzusehen, und so
die Abstimmung aus der Ferne zuließen. Dies würde in
entscheidender Weise die Geheimhaltung gefährden.
Ein solches Verfahren widerspricht darüber hinaus
den organschaftlichen Verpflichtungen, die der Deutsche
Bundestag sich selbst gegeben hat. Es ist in keinem Fall
zulässig, die Zustimmung, beispielsweise zum Haus-
haltsgesetz, per Telefon zu erklären. Es ist stets die An-
weisung im Plenum oder im Ausschuss erforderlich.
Reiner Deutschmann (FDP): Ich habe Zweifel, ob
der zur Abstimmung vorliegende Gesetzentwurf der ein-
zig richtige Weg ist, um die Schuldenkrise der Euro-
Staaten wirksam zu bekämpfen. Auch wenn ich das Ziel
grundsätzlich teile, in Not geratenen Euro-Staaten zu
helfen, so muss es nach meiner Überzeugung möglich
sein, diejenigen Staaten in eine geordnete Insolvenz zu
überführen, die ihr Schuldenproblem nicht mehr bewäl-
tigen können oder wollen. Problematisch ist aus meiner
Sicht auch, dass die Risiken, die aus der Schuldenkrise
einiger Euro-Staaten resultieren, nicht vollumfänglich
eingeschätzt werden können.
Ich stimme dem Gesetzentwurf dennoch zu, da es der-
zeit keine anderen schlüssigen Alternativen zur Rettung
der Euro-Krisenstaaten gibt. Mit dem Gesetzentwurf be-
weist die Koalition von CDU/CSU und FDP, dass sie
handlungsfähig ist und sich ihrer staatspolitischen Ver-
antwortung stellt, im Bewusstsein der wirtschaftlichen
Bedeutung Europas für unser Land sind Union und FDP
gewillt, die zur Stabilisierung unseres Finanzsystems
notwendigen Schritte einzuleiten, auch wenn dies bedeu-
tet, Deutschland einer verschärften Bürgschaft für Euro-
Krisenstaaten zu unterwerfen.
Meine Zustimmung erteile ich nur, da festgeschrieben
ist, dass jede finanzielle Zusage auf Grundlage dieses
Gesetzes von der Zustimmung des Deutschen Bundesta-
ges und seiner Gremien abhängig gemacht wird. Damit
erfährt das deutsche Parlament eine bis dahin nie dage-
wesene Stärkung seiner Bedeutung bei finanzpolitischen
Entscheidungen europäischen und weltweiten Ausma-
ßes.
Thomas Dörflinger (CDU): Die Erweiterung der
EFSF wird nicht die gewünschten Effekte bringen. Nach
meiner Überzeugung würde selbst der auf 780 Milliar-
den Euro erhöhte Garantierahmen nicht ausreichen, falls
sich die Krise ausbreitet und Italien oder Spanien er-
reicht – zumal die EFSF künftig auch Anleihen ange-
schlagener Euro-Länder kaufen soll. Unklarheiten beste-
hen weiterhin dadurch, dass die zusätzlich vorgesehenen
Kompetenzen des Rettungsschirms noch nicht abschlie-
ßend geregelt sind. Fraglich ist auch, wie sich die Be-
schlüsse des Europäischen Rates vom 21. Juli 2011 auf
die praktische Arbeit des Fonds auswirken, da die Aus-
führungsbestimmungen zum EFSF-Rahmenvertrag noch
nicht vollständig vorliegen. Warum sollte Deutschland
weitere Garantien geben und Gefahr laufen, selbst Kre-
ditwürdigkeit einzubüßen? Eine Schuldentragfähigkeit
Griechenlands ist bereits heute nicht mehr gegeben. Mit
neuem Geld, neuen Schulden wäre Griechenland nicht
geholfen, das schon in der Vergangenheit die Anforde-
rungen der sogenannten Troika nicht erfüllen konnte.
Konditionalität: Das führt mich zu einem zentralen
Punkt: Mit der Verschärfung des Stabilitäts- und Wachs-
tumspakts wurden Teile der nationalen Budgetkontrolle
an die EU abgetreten. Bisher sehe ich aber nicht, dass die
neuen Regeln greifen. Wahrscheinlicher ist, dass gerade
hoch verschuldete Länder wie Griechenland immer wie-
der Wege finden werden, um Verschuldungsregeln zu
umgehen. Wir geben zwar Geld, unsere Einflussmög-
lichkeiten und Durchgriffsrechte auf die zu rettenden
Länder sind aber zu gering. Daher halte ich den einge-
schlagenen Weg für falsch. Das Signal an die Märkte
muss heißen: keine unbegrenzten Hilfen, keine Spekula-
tion gegen ohnehin schon angeschlagene Länder, kein
„Weiter-so“ um jeden Preis. Die Politik ist zum Spielball
der Finanzmärkte geworden, eine Entwicklung, die drin-
gend der Umkehrung bedarf.
Leverage-Effekt: Die aktuelle Diskussion um eine
nachträgliche Ausweitung des Rettungsfonds macht au-
ßerdem deutlich, wohin die Reise gehen könnte. So exis-
tieren Planspiele, die EFSF mit einem „Hebel“ zu verse-
hen, um ihr Ausleihvolumen erheblich zu vergrößern.
Ich halte es für durchaus denkbar, dass der Fonds in die
Lage versetzt werden soll, selbst Anleihen der Krisen-
staaten zu kaufen; diese werden dann bei der EZB als Si-
cherheit hinterlegt und der Fonds bekäme dafür von der
Zentralbank neues Geld für weitere Ankäufe. Das sind
Stimmen, die bereits selbst aus der Kommission zu hö-
ren sind und einer praktisch unbegrenzten Kreditlinie für
den Fonds das Wort reden.
Unabhängig davon, wie wahrscheinlich die Aufhebe-
lung des Rettungsschirms ist: Die Märkte eilen der Poli-
tik wieder einmal voraus. Der Bundestag stimmt heute
über die Aufstockung des Rettungsschirms ab, während
die Märkte längst über den nächsten Schritt spekulieren
und damit neue Gefahren aufzeigen.
EZB-Risiken: Der Aufkauf von Staatsanleihen durch
die EZB birgt erhebliche Risiken. Am Beispiel Italien
zeigt sich, dass dadurch die Zinsen für Schuldverschrei-
bungen sinken, wodurch der Anreiz für weitere Sparan-
strengungen sinkt. Ein weiteres Problem sind die soge-
nannten Offenmarktgeschäfte. Bereits heute sind Banken
in einigen Ländern allein auf die EZB angewiesen, kön-
nen sich nicht mehr im Interbankenmarkt finanzieren.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15419
(A) (C)
(D)(B)
Das Resultat ist die Akzeptanz minderwertiger Sicher-
heiten durch die EZB und für mich die Frage, wie be-
herrschbar die Risiken sind, die die EZB im Rahmen ih-
rer geldpolitischen Maßnahmen eingegangen ist.
Bonität Deutschlands: Wir müssen zur Kenntnis neh-
men, dass die Preise für die Kreditausfallversicherungen
deutscher Staatsanleihen deutlich gestiegen sind. Darin
sehe ich zumindest ein Anzeichen, dass sich Deutsch-
land mit weiteren Garantieübernahmen überfordern
könnte, der Garantieansatz insgesamt an seine Grenzen
stößt. Das Vertrauen in die deutsche Zahlungsfähigkeit
ist jedoch in der gegenwärtigen Situation von zentraler
Bedeutung, weil Deutschland einen Großteil der Unter-
stützungsleistungen für die Euro-Krisenländer aufbringt.
Darauf hat auch jüngst Bundesbankpräsident Weidmann
hingewiesen. Die Wahrscheinlichkeit, dass Deutschland
für die Kreditzusagen auch tatsächlich in Haftung ge-
nommen wird, ist zumindest gegeben. Wir dürfen unsere
Wirtschaftskraft auch nicht überschätzen.
Finalität: Die Erweiterung des deutschen Bürgschafts-
rahmens für die EFSF steht in einer Reihe von zahlrei-
chen Hilfsmaßnahmen für verschuldete Staaten, dessen
Ende nicht absehbar ist. Bislang sind diese Maßnahmen
ohne nachhaltige Wirkung geblieben, die angekündigten
Ziele wurden nicht erreicht, insbesondere wurde das
Vertrauen der Kapitalmärkte in Griechenland nicht ge-
stärkt. Ich gehe weiterhin davon aus, dass an einer Um-
schuldung Griechenlands kein Weg vorbeiführt. Dem
Argument, mit einer EFSF plus würden Ansteckungsge-
fahren vermieden, halte ich entgegen, dass neben Grie-
chenland weitere Staaten in Bedrängnis gekommen
sind – trotz des Rettungsschirms. Lediglich der formale
Zahlungsausfall Griechenlands konnte bislang verhin-
dert werden, das allerdings um den Preis einer europäi-
schen Haftungsgemeinschaft, exorbitanter Garantieleis-
tungen und eines Glaubwürdigkeitsverlustes der EZB.
Dagegen wäre der – für mich ohnehin nicht zu ver-
meidende – Haircut Griechenlands eine Alternative, die
auf dieses Land beschränkt bliebe. Irland und Portugal
haben nicht die strukturellen Probleme wie Griechenland
und können mit dem bisherigen Rettungsschirm stabili-
siert werden. Richtig ist, dass Ansteckungseffekte unver-
meidlich sind. Jedoch können die tatsächlichen Kosten
für beide Szenarien nicht berechnet werden, bei einer In-
solvenz Griechenlands gäbe es – das ist der große
Vorteil – aber immerhin einen Schlusspunkt.
Politisches Signal an die Märkte: Letztlich ist ebenso
entscheidend, welches politische Signal an die Märkte
gesandt wird. Die Installation von EFSF und ESM ist
dem Grunde nach lediglich reaktiv. Der Gesetzentwurf
versucht, künftige Risiken zu minimieren oder be-
herrschbar zu machen. Notwendig wäre ein deutliches
proaktives Signal, das einerseits den Willen der Politik
kenntlich macht, sowohl durch eine nachhaltige Etatpoli-
tik in den EU-Mitgliedstaaten die Ursachen der Krise an-
zugehen als auch weitergehende Maßnahmen zur Regu-
lierung der Märkte umzusetzen, zu denen eine
Zulassungsprüfung von Finanzprodukten ebenso gehö-
ren muss wie das Verbot von Produkten, die die dienende
Funktion des Bank- und Finanzsektors für die Realwirt-
schaft konterkarieren. Das Verbot von Leerverkäufen
war ein erster Schritt, dem weitere folgen müssten. Pri-
mat der Politik heißt folglich: Die Politik regelt den
Markt und nicht umgekehrt!
Werner Dreibus (DIE LINKE): Ich stimme aus fol-
genden Gründen gegen diesen Gesetzentwurf der Bun-
desregierung:
Erstens. Die Maßnahmen greifen nicht die Krisenur-
sachen an. Von der Ausweitung des Euro-Rettungsfonds
profitiert ausschließlich der Finanzmarkt. Banken und
Spekulanten werden aus Steuergeldern bedient. Die Ur-
sachen der Krise bleiben gleichzeitig unangetastet. Die
Krisenländer werden nicht unterstützt, sondern durch
falsches Sparen weiter ausgeblutet. So wird die Krise
nicht bewältigt, sondern nur weiter befeuert.
Zweitens. Die Falschen müssen zahlen. Statt aus
Steuergeldern die Banken zu bedienen, sollten die Kri-
senfolgen primär von denen getragen werden, die zuvor
von dem System profitierten. Ohne eine Börsenumsatz-
steuer, eine EU-weite Vermögensabgabe für Superreiche
und eine Beteiligung großer privater Gläubiger sind die
Belastungen und Risiken für diese Erweiterung des
Euro-Rettungsschirms zutiefst ungerecht verteilt.
Drittens. Die möglicherweise enormen Aufwendun-
gen sind demokratisch nicht ausreichend legitimiert.
Nach dem vorliegenden Entwurf kann die Bundesregie-
rung unter bestimmten Umständen die Parlamentsbetei-
ligung praktisch völlig umgehen. Die Unterrichtungs-
pflichten sind nicht ausreichend. Vielmehr müssen die
Finanzmärkte streng reguliert werden, die Banken müs-
sen unter demokratische Kontrolle gestellt werden. Nur
durch diese Maßnahmen ist sichergestellt, dass die Steu-
ergelder im Sinne der Steuerzahler verwendet werden.
Viertens. Der Schutz der großen Mehrheit der Bürge-
rinnen und Bürger ist nicht ausreichend. Rentnerinnen
und Rentner, Transferleistungsbeziehende und Men-
schen mit kleinen oder mittleren Einkommen sind auf ei-
nen handlungsfähigen Staat angewiesen. Durch die mög-
lichen immensen Ausgaben im Haftungsfall drohen
europaweit ein weiterer drastischer Sozialabbau und
Steuererhöhungen für niedrige und mittlere Einkommen.
Heute schon verheerend sind die Auswirkungen für die
Menschen in den sogenannten Krisenländern: Massen-
entlassungen, Sozialabbau, Einkommensverluste und
Steuererhöhungen greifen in Griechenland bereits um
sich und verstärken die Krisenfolgen noch.
Alexander Funk (CDU/CSU): Das Gesetz zur Er-
weiterung der EFSF setzt den aus meiner Sicht falschen
Weg der Schuldenkrisenbewältigung durch Bürgschafts-
übernahmen fort. Der weiteren Erhöhung der Risiken für
unseren Haushalt, die sich durch die Anhebung des Ga-
rantierahmens auf 779,8 Milliarden Euro ergeben, sowie
der Abschwächung der strikten Konditionalität bei der
Gewährung von Kredittransfers kann ich nicht zustim-
men und lehne das vorliegende Gesetz ab.
In dreifacher Weise ist die Intention der Einrichtung
eines temporären Rettungsmechanismus vom 7. Mai
15420 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011
(A) (C)
(D)(B)
2010 – vor der ich bereits damals gewarnt habe – als ge-
scheitert anzusehen:
Mit der Einrichtung der Zweckgesellschaft EFSF nur
einige Tage nach der Bewilligung des ersten Griechen-
landpaketes in Höhe von 110 Milliarden Euro verband
sich die Hoffnung, dass durch eine Gesamtgarantie von
440 Milliarden Euro seitens der Euro-Länder ein Instru-
mentarium geschaffen worden sei, dass alleine durch
seine Existenz die weitere Spekulation auf Zahlungsaus-
fälle überschuldeter Euro-Staaten eindämmen könnte
und die notwendige Zeit zu strukturellen Anpassungen
und haushälterischen Sparbemühungen schenken würde.
Von einer Beruhigung der Finanzmärkte kann indes
keine Rede sein, im Gegenteil: Ein Jahr später stehen
nicht nur Portugal und Irland vor langjährigen und tief
greifenden Anpassungsprozessen, deren Ausgang und
Erfolg angesichts der weltweiten Wirtschaftssituation
sowie der makroökonomischen und strukturellen Grund-
lagen der Länder selbst höchst fragwürdig ist. Die Aus-
weitung des Garantierahmens ist nun auch bereits vor
der Zuspitzung der wirtschaftlichen Situation der Ban-
ken in Frankreich, der berechtigten Herabstufung der
Bonität Italiens sowie den Zweifeln an einer mittelfristi-
gen Verbesserung der Wirtschaftslage in Spanien zu se-
hen.
Auch rächt es sich, dass seit über einem Jahr die
unvermeidbare Insolvenz Griechenlands gegen alle Rat-
schläge ignoriert und durch Milliardenbürgschaften ver-
schleppt wurde. Das neue Rettungspaket für Griechen-
land in Höhe von 109 Milliarden Euro reduziert bereits
das effektive Ausleihvolumen der EFSF auf circa
280 Milliarden Euro. Es ist schon jetzt absehbar, dass jede
weitere und naheliegende Zuspitzung der Schuldenkrise
– etwa ihre Ausweitung auf Italien, Spanien oder gar
Frankreich – weder durch die EFSF-Konstruktion noch
überhaupt durch eine Erhöhung des Garantierahmens
durch Länder mit AAA-Bonität zu beherrschen ist.
Überdies hegte man die Hoffnung, durch Kredittrans-
fers in sogenannten Ultima-Ratio-Fällen einerseits Zeit
zur Konsolidierung gewinnen zu können, andererseits
aber die notwendige Disziplinierung der Schuldenstaa-
ten durch Zinsaufschläge am freien Kapitalmarkt nicht
völlig zu suspendieren. Dies ist offenkundig gescheitert,
wie die neuen Instrumentarien der EFSF eindrucksvoll
belegen: Jede Kompetenzerweiterung der EFSF in der
vorgelegten Fassung ist dazu angetan, die disziplinie-
rende Wirkung durch die Kapitalmärkte selbst weiter zu
schwächen bzw. restlos auszuhebeln: Niedrigere Zins-
sätze und längere Laufzeiten für GRE, POR und IRL
entlasten weiter von unvermeidlichen Restrukturierun-
gen der Volkswirtschaften bzw. verzögern die griechi-
sche Schuldenagonie weiter. Anleihenkäufe durch die
EFSF auf dem Primär- und Sekundärmarkt entkoppeln
die Kreditaufnahme der Schuldenländer nahezu beliebig
von den Bewertungen der Kapitalmärkte selbst und la-
den dazu ein, die Schuldenspirale weiter zu überdehnen.
Die Möglichkeit des Aufkaufs ohne vorherige Integra-
tion des entsprechenden Landes in ein Hilfsprogramm
führt die angestrebte Konditionalität der Hilfsmaßnah-
men ebenso ad absurdum wie die Möglichkeit des prä-
ventiven Gebrauchs der Mittel.
Mit diesen Instrumentarien wird nun auch offensicht-
lich versucht, den Sündenfall der Degradierung der EZB
zu einer Bad Bank vergessen zu machen: Die eigentlich
der Geldwertstabilität verpflichtete EZB ist inzwischen
mit 143 Milliarden Euro direkt in Staatsanleihen der
Euro-Peripherie investiert, wobei pro Woche zwischen
10 und 15 Milliarden Euro in Stabilisierungskäufe für
ITA- und ESP-Bonds hinzukommen. Selbst wenn diese
ökonomisch falsche Maßnahme nun seitens der ESFS
fortgeführt wird, ist eine Erschöpfung des Ausleihvolu-
mens innerhalb des nächsten halben Jahres absehbar.
Auch vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass der
eingeschlagene Weg mit hoher Wahrscheinlichkeit ent-
weder zu einer Erweiterung des Garantierahmens führen
muss oder zu einer fortgesetzten Umwidmung der EZB
zum Finanzierungsinstrument für die Euro-Peripherie.
Die Pervertierung ihrer eigentlichen Aufgabe und die
Leichtigkeit, mit der offensichtlich die stabilitätsorien-
tierten Vertreter im EZB-Rat überstimmt werden, ohne
die nötige politische Rückendeckung zu erhalten, hat zu
einem irreparablen Verlust des Vertrauens in die Unab-
hängigkeit der Notenbank geführt, vor dessen Folgen ich
gewarnt habe und weiter warnen werde. Ich lehne es ent-
schieden ab, die Refinanzierungsprobleme einzelner
Staaten durch eine Aufhebung der Geldwertstabilität lö-
sen zu wollen.
Den Vertretern unseres Landes im EZB-Rat, die sich
bis zuletzt gegen die Bad-Bank-Politik gewehrt haben
und verständlicherweise ihre persönlichen Konsequen-
zen gezogen haben, gilt mein Respekt und mein Dank
für ihre Bereitschaft, zu ihren richtigen Überzeugungen
zu stehen.
Auch mit der EFSF-Neufassung wird es nicht gelin-
gen, verlorenes Vertrauen in die Schuldentragfähigkeit
aller Euro-Staaten zurückzugewinnen. Zu Recht gehen
Investoren nicht davon aus, dass durch eine Mischung
aus rezessiven Mitteln – massive Ausgabenkürzungen
und Einnahmeerhöhungen – und Kredittransfers auch
nur annähernd die zur Schuldenreduktion benötigte wirt-
schaftliche Dynamik generierbar sein könnte. Diese Be-
wertung teile ich uneingeschränkt.
Dieser Weg erweist sich immer deutlicher als hoch
riskant und zur Krisenbewältigung ungeeignet. Die von
uns immer wieder angeregten Alternativen, (Teil-)Reka-
pitalisierungen von Finanzinstituten, Schuldenschnitte,
direkte Verhandlungen zwischen Gläubigern und
Schuldner, werden indes weiter ignoriert.
Aus diesen Gründen kann ich mich dem Mehrheitsvo-
tum der Fraktion nicht anschließen.
Dr. Thomas Gebhart (CDU/CSU): Ich will deutlich
machen, dass ich hinsichtlich der Entscheidungsfindung
in dieser Frage sehr mit mir gerungen habe. Warum?
Aus meiner Sicht mangelt es derzeit an Klarheit darüber,
in welche Richtung Europa, insbesondere die Euro-
Zone, sich weiterentwickeln soll und wird. Wie wird das
Europa von morgen aussehen? Meine Überzeugung, ins-
besondere mit Blick auf die Euro-Zone, lautet: Wir brau-
chen einen neuen institutionellen Rahmen. Wir müssen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15421
(A) (C)
(D)(B)
die Regelungen zur Währungsunion verändern und in
Ordnung bringen. Beispielsweise brauchen wir klare
Stabilitätsregeln, echte und automatische Sanktionen
und spürbare Konsequenzen bei Verstößen gegen die
Stabilitätskriterien sowie Schuldenbremsen in den Ver-
fassungen der Mitgliedsländer. Es muss klar sein: Wer zu
hohe Schulden macht, kommt um Anpassungen nicht
herum.
Hingegen entspricht es nicht meiner Vorstellung, dass
wir für die Staatsschulden anderer Länder dauerhaft ein-
stehen. Deshalb lehne ich entschieden sogenannte Euro-
Bonds, das heißt die Vergemeinschaftung der Schulden
im Euro-Raum als Regelfall, ab. Wir würden permanent
für die Schulden, die andere machen, haften, ohne dass
wir die Politik, die zu diesen Schulden führt, maßgeblich
beeinflussen können – dies kann auf Dauer nicht gut ge-
hen. Die Menschen werden dies, so meine Einschätzung,
nicht akzeptieren. Die Zustimmung der Bevölkerung
zum europäischen Integrationsprojekt würde weiter
schwinden, und Europa könnte am Ende großen Schaden
nehmen.
Bei der Abstimmung heute geht es um den temporä-
ren Euro-Rettungsschirm, der ertüchtigt werden soll. Es
ist unabdingbar, dass die Mitgliedsländer die Zeit, die sie
dadurch gewinnen, nutzen, um ihre Haushalte nachhaltig
zu konsolidieren. Die Zeit muss zudem genutzt werden,
um in dem oben beschriebenen Sinne die Regelungen
zur Währungsunion zu verbessern. Es ist zu begrüßen,
und es ist notwendig, dass der Deutsche Bundestag künf-
tig bei Entscheidungen über die Vergabe von Hilfen im
Rahmen des Rettungsschirms umfassend beteiligt wird.
Hilfsmaßnahmen kann es jeweils nur mit Zustimmung
des Bundestages geben, sodass es das Parlament künftig
selbst immer wieder in der Hand haben wird, zu ent-
scheiden, ob sich Hilfen im konkreten Fall rechtfertigen
lassen oder nicht.
Würden wir den Rettungsschirm nicht ertüchtigen, so
die Warnungen, besteht die Gefahr, dass es zu unkontrol-
lierten Kettenreaktionen kommen könnte, mitunter mit
der Folge erheblicher wirtschaftlicher und sozialer Ver-
werfungen. Dies in Kauf zu nehmen, scheint nur schwer
verantwortbar. Der ertüchtigte Rettungsschirm soll künf-
tig vorübergehend gerade besser als bisher ermöglichen,
im Falle kritischer Situationen einzelner Länder Anste-
ckungsgefahren für die restliche Euro-Zone entgegenzu-
treten.
Nimmt man all dies zusammen, komme ich in der Ab-
wägung zu dem Ergebnis, dem Gesetzentwurf, trotz Be-
denken, zuzustimmen. Gleichwohl erwarte ich, und ich
halte es für notwendig, dass die durch die temporären
Hilfsmöglichkeiten gewonnene Zeit genutzt wird, um
den Weg hin zu einer nachhaltigen Finanzpolitik in der
Euro-Zone zu beschreiten und die währungspolitischen
Regelungen zur Euro-Zone nachhaltig zu verbessern.
Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): Erstens. Ich wün-
sche nicht, dass Arbeitslose, Rentnerinnen und Rentner,
Geringverdienende in Griechenland, möglicherweise
später auch in Spanien, Portugal, Italien oder in anderen
europäischen Ländern für falsches Regierungshandeln
und Spekulationen zur Kasse gebeten werden. Mir ist
klar, dass die Millionäre in Griechenland, die keine Steu-
ern zahlen, eng verbunden sind mit den Millionären und
Bankspekulanten in Deutschland. Ich meinerseits bin
eng verbunden den Menschen in Griechenland, die sich
gegen diese Politik wehren.
Zweitens. Ich befürchte, dass mit einer solchen Poli-
tik die Europäische Union und damit Europa immer
mehr in einen schlechten Ruf gerät. Mir ist es unerträg-
lich, dass Rechtsextreme und Rechtspopulisten in Eu-
ropa an Terrain gewinnen. Ich sage Nein zum Gesetz der
Bundesregierung, weil ich Ja sage zu Europa, Ja zu ei-
nem anderen Europa der sozialen Gerechtigkeit und des
sozialen Ausgleichs. Ja zu einer anderen Europäischen
Union.
Drittens. Ich sage Nein zum Gesetz der Bundesregie-
rung, weil die deutsche Politik durch ihren Druck auf das
Lohnniveau, durch die Aufweichung sozialer Stabilität,
wie es die Hartz-Gesetze deutlich gemacht haben, durch
eine fast ausschließlich auf den Export orientierte Wirt-
schaftspolitik den Boden für die heutigen Probleme we-
sentlich mit geschaffen hat. Heute beweist sich, dass die
Haltung der PDS richtig war, die Einführung des Euro
als Gemeinschaftswährung an eine Harmonisierung der
europäischen Sozial- und Steuerpolitik zu binden.
Nicole Gohlke (DIE LINKE): Heute stimme ich ge-
gen die Erweiterung des Euro-Rettungsschirms. Gerettet
werden die Banken, nicht die Menschen. Die Banken
können weiter zocken, den Menschen in Griechenland,
Portugal und Irland werden Sozialleistungen und Löhne
gekürzt. Die Europäische Kommission erzwingt über
den Rettungsschirm auch die Privatisierung öffentlichen
Eigentums in diesen Ländern. Gegen das Kürzungsdiktat
bin ich nicht nur aus Solidarität mit den Menschen in
den betroffenen Ländern, die oft ohnehin nur sehr nied-
rige Löhne und Sozialleistungen bekommen. Die Kür-
zungspolitik verschärft auch die Krise insgesamt. Außer-
dem löst sie einen neuen Dumping-Wettbewerb in
Europa aus. Der Sozialabbau in den betroffenen Ländern
droht wie ein Bumerang zu uns zurückkehren und auch
bei uns Renten, Löhne usw. unter Kürzungsdruck setzen.
Die öffentlichen Schulden sind Ergebnis einer Steuer-
senkungspolitik für die Reichen und der Rettungspakete
für die Banken. Öffentlichen Schulden stehen gewaltige
private Vermögen gegenüber, die sich in den Händen
weniger konzentrieren. Die Schuldenkrise kann letztlich
nur durch die Umverteilung von Reichtum gelöst werden.
Die aktuelle Krise der Staatsfinanzen kommt nicht aus
dem Nichts. Sie ist eine neue Phase der tiefen Weltwirt-
schaftskrise, die 2008 offen ausgebrochen ist. Sie ist
Folge eines Wirtschaftssystems, das darauf basiert, dass
das eingesetzte Kapital sich beständig vermehrt. Ser
wachsende Kapitalstock stellt immer größere Profitan-
sprüche an die Gesellschaft. Die Profitansprüche müssen
aus der gesellschaftlichen Wertschöpfung bezahlt wer-
den. Deshalb entsteht ein Konflikt zwischen den Profitan-
sprüchen einerseits und den Löhnen und der Finanzie-
rung öffentlicher Leistungen andererseits. Notwendig ist
eine Demokratisierung der Wirtschaft, damit nicht mehr
15422 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011
(A) (C)
(D)(B)
die Profitmaximierung, sondern das Allgemeinwohl
Maßstab wirtschaftlicher Entscheidungen ist.
Josef Göppel (CDU/CSU): Das Gesetz zur Ände-
rung des Gesetzes zur Übernahme von Gewährleistun-
gen im Rahmen eines Europäischen Stabilisierungsme-
chanismus beinhaltet den dritten Rettungsschirm seit
2008: Deutschland erhöht seine Garantieverpflichtung
von 123 auf 211 Milliarden Euro, ohne dass damit eine
Regulierung spekulativer Finanzgeschäfte verbunden ist.
Das Marktversagen auf dem Finanzsektor ist neben der
erhöhten Staatsverschuldung aber eine wesentliche Ursa-
che der gegenwärtigen Krise. Der deregulierte Finanzmarkt
ist der politischen Gestaltung entglitten. Täglich wird an
den Börsen der Welt das 80-Fache des Produktionswerts
aller Güter und Dienstleistungen gehandelt. Solche Sum-
men können mit Steuererträgen aus der Realwirtschaft
nicht mehr aufgefangen werden. Neue Anleihen für zu-
sätzliche Rettungsschirme treiben vielmehr die Schul-
denspirale weiter an und bieten Ansatzpunkte für neue
spekulative Angriffe.
Deshalb sind weitere Rettungsschirme ohne rechtli-
che Regulierung des Finanzsektors nutzlos und nicht
verantwortbar. Wir brauchen eine Finanzmarktordnung,
die spekulative Überhitzungen eingrenzt, hochriskante
Geschäfte verbietet und Finanzakteure zur persönlichen
Haftung heranzieht. Der Finanzsektor muss seine Ret-
tungsschirme in Zukunft selbst finanzieren. Die Banken-
abgabe in Deutschland ist dafür ein Anfang. Der wirk-
samste Schritt zur Stabilisierung des Finanzsektors ist
international die Finanztransaktionsteuer. Sie muss für
die Euro-Zone vor weiteren Bürgschaften beschlossen
werden, damit Rettungsaktionen nicht immer wieder
verpuffen.
Ich bin entschieden für unsere Gemeinschaftswäh-
rung und deren Stützung. Das muss aber im Rahmen ei-
ner gerechten und nachhaltigen Finanzordnung gesche-
hen, die den Grundwerten der Sozialen Marktwirtschaft
entspricht. Das Konzept des europäischen Stabilisie-
rungsfonds bindet in großem Umfang allgemeine Steuer-
mittel, die für andere öffentliche Aufgaben fehlen, und
konzentriert den Ertrag bei anonymen Finanzakteuren.
Dieser ordnungspolitischen Fehlsteuerung kann ich nicht
zustimmen. Die Politik muss ihre demokratische Gestal-
tungshoheit zurückholen, weil Machtlosigkeit gegenüber
dem Markt und die Duldung einer faktischen Nebenre-
gierung letztlich das Vertrauen in die repräsentative De-
mokratie zerstört.
Aus diesen Gründen lehne ich den Gesetzentwurf zur
Änderung des Gesetzes zur Übernahme von Gewährleis-
tungen im Rahmen eines Europäischen Stabilisierungs-
mechanismus ab.
Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Für die Ent-
wicklung der Bundesrepublik Deutschland in den ver-
gangenen 60 Jahren ist die Einbindung in die westliche
Welt und nach dem Zusammenbruch des Warschauer
Paktes in ein starkes Europa entscheidend gewesen. Wir
haben wirtschaftliche Prosperität, Wohlstand und auch
die deutsche Einheit erreicht, weil wir uns als verlässli-
cher Partner erwiesen haben. Diesen Weg sollte
Deutschland auch in der jetzigen Krisensituation fortset-
zen.
Zur Einführung des Euro wurden im Maastricht-Ver-
trag Konvergenzkriterien vereinbart wie die Begrenzung
der jährlichen Nettoneuverschuldung auf 3 Prozent und
ein Gesamtschuldenstand von 60 Prozent des Bruttoin-
landsprodukts. Diese Kriterien sind nicht von allen Staa-
ten eingehalten worden, auch von Deutschland nicht. In
der Folge haben sich verschiedene Länder in einer Höhe
verschuldet, die jetzt die Stabilität unserer Währung ge-
fährdet.
Die jetzige Situation zeigt die Notwendigkeit, die
Einhaltung der Konvergenzkriterien der Länder der
Euro-Zone stärker zu überwachen als bisher und gegebe-
nenfalls Möglichkeiten zur Verfügung zu haben, die Ein-
haltung der Kriterien auch durchzusetzen. Gestern hat
das Europaparlament bei Enthaltung von Grünen und
Linken eine Verschärfung des Stabilitätspaktes beschlos-
sen.
Deutschlands Volkswirtschaft ist sehr eng mit seinen
Nachbarn verzahnt. Eine durch die Insolvenz Griechen-
lands ausgelöste Bankenkrise würde den deutschen Ex-
port und die durch ihn getragenen Arbeitsplätze hart tref-
fen. Daraus ergibt sich, dass Deutschland ein starkes
Eigeninteresse daran hat, eine Insolvenz Griechenlands
zu vermeiden. Außerdem ist es wichtig, die derzeitige
Verschuldenskrise auf die tatsächlich notleidenden Staa-
ten zu begrenzen. Dies ist nach meiner Einschätzung ge-
lungen.
Ich werde dem Rettungsschirm zustimmen. Instru-
mente wie Euro-Bonds, die Schuldnern neue Kredite zu
niedrigen Zinsen verschaffen, lehne ich ab. Es dürfen
verschuldeten Staaten keine Anreize für eine höhere Ver-
schuldung gegeben werden. Gemeinsame Staatsanleihen
sind nur im Rahmen einer gemeinschaftlichen Finanz-
und Wirtschaftspolitik denkbar, die es in der EU nicht
gibt und auf weite Sicht nicht geben wird. Es muss ge-
rade in den südeuropäischen Ländern das Verständnis
dafür gestärkt werden, dass jedes Land die Mittel zu er-
wirtschaften hat, die es für die Finanzierung des eigenen
Staatswesens braucht. Dafür sind dort grundlegende Re-
formen notwendig. Dabei sind wir in den letzten Mona-
ten vorangekommen. Spanien wird zum Beispiel nach
deutschem Vorbild eine Schuldenbremse in seiner Ver-
fassung verankern. Auch Griechenland hat bereits Re-
formen auf den Weg gebracht.
Ich werde dem Gesetz auch deswegen zustimmen,
weil es in den letzten Monaten gelungen ist, einen star-
ken Parlamentsvorbehalt einzuziehen. In den 90er-Jah-
ren hat die FDP darauf hingewirkt, dass Auslandsein-
sätze der Bundeswehr außerhalb des Bündnisgebietes
der Zustimmung des Bundestags bedürfen. Darüber wird
in namentlicher Abstimmung entschieden. Ebenso hat
jetzt die FDP-Fraktion darauf hingewirkt und durchge-
setzt, dass die Regierung bei allen wesentlichen den
Bundeshaushalt betreffenden Fragen der Euro-Stabilisie-
rung das Parlament vorab beteiligt. Das ist kein formaler
Akt. Der Parlamentsvorbehalt bindet die Regierung.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15423
(A) (C)
(D)(B)
Das Risiko für die deutsche Volkswirtschaft ist bei ei-
ner Verweigerung der Zustimmung nach meiner Ein-
schätzung deutlich größer als bei einer Zustimmung. Die
genannten Zahlen sind angsteinflößend, 211 Milliarden
sind fast die Hälfte des Volumens des Bundeshaushalts.
Doch für eine Exportnation wie Deutschland ist die Zah-
lungsfähigkeit der Kunden ein hohes Gut. Unsere Bereit-
schaft zur Solidarität verbunden mit den Forderungen
nach Konsolidierung der Haushalte, Reformen der Ver-
waltung, Privatisierungen hat in den verschuldeten Län-
dern bereits Wirkung gezeigt.
Mir ist das „gemeinsame Haus Europa“ sehr wichtig.
Ich habe als Schülerin bereits im ersten Jahr am deutsch-
französischen Austauschprogramm teilgenommen und
dieses Programm begleitete mich während der Sommer-
ferien in allen weiteren Jahren auf dem Gymnasium. Ich
fühle mich meiner damaligen französischen Freundin
noch immer verbunden. Mein Vater war Soldat in beiden
Weltkriegen. Von ihm habe ich gelernt, dass die deutsch-
französische Freundschaft ein sehr hohes Gut ist, die
Überwindung der sogenannten Erbfeindschaft eine
große politische Leistung und ein Gewinn für die Men-
schen.
Bei der Entscheidung zum vorliegenden Gesetzent-
wurf sind die eventuellen Auswirkungen auf den Bun-
deshaushalt wichtig. Es sind aber mindestens genauso
wichtig die volkswirtschaftlichen und außenpolitischen
Folgen zu bedenken. In diesem Bewusstsein werde ich
für den Gesetzentwurf stimmen.
Heinz-Peter Haustein (FDP): Meine Kritik an der
Politik der Bundesregierung in der Euro-Krise ist ele-
mentar. Meine Bedenken sind grundlegender Art und
durch kein einziges der Argumente der Befürworter der
diversen Hilfsprogramme und Rettungsschirme für
schwächelnde Euro-Staaten ausgeräumt.
Einzig die Gefahr, dass bei Fehlen einer eigenen
Mehrheit der Bundesregierung bei dem Gesetzesvorha-
ben die christlich-liberale Koalition zerbrechen und nach
Neuwahlen eine neue – potenziell rot-grüne – Bundesre-
gierung gebildet werden könnte, die Euro-Bonds den
Weg ebnet, lässt mich dem Gesetz zustimmen. Denn
Euro-Bonds wären ein noch größeres Übel als der erwei-
terte EFSF.
Im Einzelnen:
Aus gutem Grund wurde in der Europäischen Union
vertraglich die sogenannte No-Bail-out-Klausel festge-
halten, also das Verbot, dass weder die EU als Ganzes
noch einzelne Staaten für die Schulden anderer Staaten
aufkommen dürfen.
Hiermit und mit den Stabilitätskriterien sollte gewähr-
leistet werden, dass die Mitgliedstaaten sorgfältig haus-
halten und die Staatsverschuldung nicht zu einer Staats-
überschuldung wird, mithin solide Finanzpolitik den
Grundstein legt für ein wirtschaftlich starkes und prospe-
rierendes Europa.
Die Bundesrepublik Deutschland hat ihr Wirtschafts-
wunder und den daraus resultierenden und bis heute tra-
genden Wohlstand nach der auch wirtschaftlichen
„Stunde null“ nach 1945 vor allem den Prinzipien der
Sozialen Marktwirtschaft zu verdanken. Das wohl wich-
tigste dieser Prinzipien ist der Zusammenhang zwischen
Rendite und Verlustrisiko. Wer das Risiko trägt, fährt zu
Recht den Gewinn ein. Und wer den Gewinn erhält, er-
hält ihn für ein getragenes Risiko. Diese Gesetzmäßig-
keiten haben sich über Jahrzehnte in Deutschland, aber
auch anderswo in der Welt mehr als bewährt. Hingegen
sind alle staatlichen Versuche, davon abzuweichen und
marktwirtschaftliche Prinzipien außer Kraft zu setzen,
grandios gescheitert. Gerade für mich als ehemaligen
DDR-Bürger ist die Soziale Marktwirtschaft daher nicht
verhandelbar.
Diese beiden elementaren Grundsätze, die No-Bail-
out-Klausel und der Zusammenhang zwischen Rendite
und Verlustrisiko, werden mit den Milliardenhilfen für
Griechenland, Rettungsschirmen und Stabilitätsmecha-
nismen ausgehebelt.
Selbstverständlich gibt es eine Solidarität innerhalb
der EU. Das erkenne ich nicht nur an, sondern unter-
stütze es ausdrücklich. Und selbstverständlich gibt es
eine Notwendigkeit zu staatlicher Intervention bei sys-
temrelevanten Gefährdungen, also solchen Schwierig-
keiten Einzelner, die das ganze System gefährden. Auch
dies ist selbstverständlich.
Doch beides, Solidarität und Systemgefährdung, darf
nicht dazu führen, dass Grundprinzipien unserer Wirt-
schaft und geltender Verträge außer Kraft gesetzt wer-
den.
Das ist mit den bereits beschlossenen Maßnahmen der
Fall und es ist auch bei der Erweiterung des Rettungs-
schirmes nun wieder der Fall.
Immer springen die wirtschaftlich starken Staaten für
die wirtschaftlich schwachen Staaten ein. Das bedeutet,
dass, wer solide gewirtschaftet, in Krisenzeiten den Kon-
sum gedrosselt und sparsam gehaushaltet hat, bestraft
wird und derjenige, der jahre- und teilweise jahrzehnte-
lang über die eigenen Verhältnisse gelebt hat, nun inso-
fern belohnt wird, als dass andere für die entstandenen
Schulden wenigstens indirekt oder teilweise aufkom-
men.
Dadurch geht der Leistungsanreiz verloren. Wo aber
der Leistungsgedanke untergraben wird, soll Wohlstand
auf Kosten der Allgemeinheit möglich sein. Das hat we-
der in der DDR noch in irgendeinem anderen Land der
Welt jemals funktioniert.
Wer also von marktwirtschaftlichen Grundprinzipen
abweicht, muss diese Abweichung sehr gut begründen.
Abweichungen können nur in absoluten Notfällen erfol-
gen.
Insofern ist auch nicht derjenige unter Legitimations-
zwang, der – wie ich – die Hilfsmaßnahmen ablehnt. Ge-
nerell müsste die Beweislast bei den Befürwortern der
Außerkraftsetzung der Marktwirtschaft liegen. Sie müs-
sen alle Gegenargumente entkräften und erklären, wa-
rum hier ausnahmsweise anders verfahren werden soll.
15424 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011
(A) (C)
(D)(B)
Das können sie nicht. Denn niemand kann erklären, wel-
che Risiken noch zu erwarten sind.
Alljährlich wird über den deutschen Länderfinanzaus-
gleich diskutiert. Insbesondere den sogenannten Geber-
ländern Bayern und Baden-Württemberg ist nicht zu ver-
mitteln, warum sie dauerhaft die finanzschwachen
Länder unterstützen sollen, wenn diese sich Ausgaben
leisten, die im Süden Deutschlands längst eingespart
worden sind. Auch dabei wird der Leistungsanreiz unter-
miniert und die Soziale Marktwirtschaft ausgehebelt.
Die Aufrechterhaltung dieser Regelung ist nur damit
zu erklären, dass es mehr Nehmerländer gibt als Geber-
länder. Ein hinreichender Grund für den Quasiexport des
deutschen Länderfinanzausgleichs nach Europa ist es
nicht.
In der Sicherheitspolitik gilt aus gutem Grund die
Prämisse, dass der Staat nicht erpressbar ist. Mit Terro-
risten, gleich wen sie als Geisel genommen haben oder
welches Drohpotenzial sie haben, wird nicht verhandelt.
Denn jedes Entgegenkommen des Staates würde in einer
Art Lerneffekt Nachahmer auf den Plan rufen. Wenn ein
„Geschäftsmodell“ Erfolg verspricht, mangelt es nicht
an Nachahmern. So funktionieren auch die Wirtschaft
und die Finanzwelt. Wo ein Geschäftsmodell Erfolg
hatte, sind Nachahmer sofort zur Stelle.
Mit den Hilfsmaßnahmen ist diese Prämisse, dass der
Staat nicht erpressbar ist, aufgehoben worden. Die Euro-
Staaten sind erpressbar geworden. Weil alles für sys-
temrelevant erklärt wird, soll immer und überall gehol-
fen werden müssen. Und weil kein Fachmann die noch
auf uns zukommenden Risiken benennen kann, droht
eine Endlosschleife.
Die Wirtschaft ist imstande, schnell zu reagieren.
Wenn sich die Situation ändert, sterben Geschäftsmo-
delle in Sekunden, neue werden geboren.
Wo sich zeigt, dass Rendite entsteht, während andere
die Risiken tragen – der utopische Traum jedes Ge-
schäftsmannes –, wird mehr und mehr investiert, nicht
weniger, solange das Geschäftsmodell trägt. Dieser Me-
chanismus wirkt bereits: Während andere unglaubliche
Zinsen einnehmen, tragen die wirtschaftlich gesunden
Euro-Staaten die finanziellen Lasten und halten Grie-
chenland künstlich am Leben.
Dieses Wirkprinzip muss zwangsläufig früher oder
später zum Systemzusammenbruch führen, und zwar un-
abhängig davon, wie viele Milliarden vorher gerade mit
dem Argument der Systemerhaltung geflossen sind, weil
auch die Finanzkraft der wirtschaftlich starken Länder
nicht so groß sein kann wie der Renditehunger der Inves-
toren.
Es kann kein Weg daran vorbeiführen, dass die ins
Straucheln geratenen Länder mit aller Kraft ihre Haus-
aufgaben machen, ihre Haushalte konsolidieren und not-
wendige Strukturreformen einleiten. Das und nur das
wird die Märkte nachhaltig beruhigen und verloren ge-
gangenes Vertrauen in die betroffenen Länder wieder
herstellen.
Jede Stützmaßnahme nimmt Reformdruck von den
betroffenen Ländern. Das ist kontraproduktiv, weil damit
der zwangsläufige Zusammenbruch hinausgezögert und
der letztlich verursachte Schaden größer und größer
wird, gleich Buchverlusten, die man eine Zeit lang igno-
rieren, aber früher oder später realisieren muss. Der
Volksmund weiß: Wer den Kopf in den Sand steckt, wird
früher oder später mit den Zähnen knirschen. Auch die
Kanzlerin erklärt mittlerweile, dass wir uns nur immer
wieder Zeit erkaufen.
Sind Staaten nicht zu den notwendigen Strukturrefor-
men in der Lage, befürworte ich eine geordnete Insol-
venz dieser Länder. Eine über Nothilfe hinausgehende
Transferunion kann es nicht geben.
Und dass Reformen schmerzhaft, aber möglich sind,
zeigen Länder wie Irland und Portugal, die große Fort-
schritte machen und insgesamt auf einem guten Weg
sind, wenngleich noch eine große Strecke vor ihnen
liegt.
Das alles lässt mich zu dem Schluss kommen, dass
getreu dem Motto „Lieber ein Ende mit Schrecken als
ein Schrecken ohne Ende“ der Zeitpunkt überfällig ist,
an dem wir die Konsequenzen tragen für das völlig ent-
fesselte Schuldenmachen mancher Länder einerseits und
für den Irrsinn, dass man mit Schrottanleihen Geld ver-
dienen kann. Und zwar wir alle in den Eurostaaten. Das
Kasino muss schließen.
Im Übrigen bin ich gewählter Abgeordneter des Deut-
schen Bundestages und fühle mich daher zu allererst
Deutschland verpflichtet und dann Europa.
Nur ein Szenario ist noch schrecklicher als die Vor-
stellung, dass die bisherige Praxis der Finanzhilfen und
Rettungsschirme beibehalten wird: Die Idee, der Markt-
wirtschaft mit Euro-Bonds noch schneller den Garaus zu
machen. Sozialdemokraten und Grüne sind sich in dem
Ziel der Einführung von Euro-Bonds einig. Sie wollen
also die gute Kreditwürdigkeit Deutschlands und anderer
wirtschaftlich und finanziell starker Länder aufgeben,
um den wirtschaftlich strauchelnden Ländern mit besse-
ren Kreditratings das Schuldenmachen noch zu erleich-
tern. Dass damit auf Deutschland auch deutlich höhere
Zinsen in Milliardenhöhe zukommen würden, ist
zwangsläufig. Das wäre eine weitere Unterhöhlung des
Leistungsgedankens, der kein Anhänger der Sozialen
Marktwirtschaft zustimmen kann. Und eine rot-grüne
Regierung ist ein reales Szenario, wenn man aktuellen
Umfragen im Falle von Neuwahlen glauben mag.
Nur diese Vorstellung lässt mich heute dem Gesetz-
entwurf zustimmen, obwohl meine tiefste Überzeugung
wie auch die etlicher Experten ist, dass es grundlegend
falsch ist und uns die Rechnung für diese Entscheidung
in nicht allzu ferner Zukunft präsentiert wird. Leider ist
es dann nicht mehr nur unsere Rechnung, sondern auch
die unserer Kinder, Enkel und Urenkel.
Ich trage am heutigen Tag in Loyalität zu unserem
Land und der christlich-liberalen Bundesregierung die-
sen Gesetzentwurf mit, in einer der entscheidendsten
Fragen der deutschen Politik seit Langem und gewiss auf
absehbare Zeit. Ich trage damit die christlich-liberale
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15425
(A) (C)
(D)(B)
Bundesregierung mit. Ich tue das in der Überzeugung,
dass diese Regierung noch immer die viel bessere Alter-
native für unser Land und seine Menschen ist als eine
rot-grüne „Euro-Bond-Regierung“.
Aber ich tue es auch in der Überzeugung, dass es ein
Fehler ist, der sich rächen wird.
Dr. Matthias Heider (CDU/CSU): Ich stimme dem
Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Übernahme von
Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabi-
lisierungsmechanismus zu.
Die gemeinsame europäische Währung ist ein Mei-
lenstein der europäischen Integration. Der Erfolg
Deutschlands und seiner Wirtschaft hängt entscheidend
vom Euro ab, eine Rückkehr in nationale Währungen ist
aus heutiger Sicht nicht vorstellbar. Die Stabilisierung
des Euro liegt damit im ureigenen Interesse Deutsch-
lands und seiner Europäischen Partner.
Ein umfassendes System der Stabilisierung, beste-
hend aus Reduktion der Staatsverschuldung, Koordinie-
rung der Wirtschaftspolitiken der EU-Mitgliedstaaten
und Stabilisierung der Finanzmärkte, ist meines Erach-
tens unabdingbar. Die EFSF und ihr Nachfolger, der
ESM, als Notfallhilfen dürfen dabei lediglich einen Teil
der Gesamtstrategie bilden. Dass der Schutz des Euro-
Rettungsschirms dabei nicht „kostenlos“ sein darf,
wurde hinreichend erörtert und klargestellt und von mei-
ner Seite als selbstverständlich vorausgesetzt.
Dennoch bin ich der Meinung, dass bestehende sowie
neu einzuführende finanz- und wirtschaftspolitische
Überwachungsinstrumente verstärkt in den Fokus des
Stabilisierungssystems gerückt werden müssen. Hierzu
zählen insbesondere das kontinuierliche Monitoring der
Defizit- und Verschuldensregeln, die Einführung schnel-
ler und umfassender Sanktionen bei Nichteinhaltung der
Stabilitäts- und Wachstumsregeln, die Etablierung prä-
ventiver nationaler Überwachungsmechanismen und die
Förderung nachhaltiger Wirtschaftsstrukturen zur Bele-
bung des Wettbewerbs.
Nach meiner festen Überzeugung brauchen wir da-
rüber hinaus ein Regelwerk, das vorgibt, wie die euro-
päische Währungsgemeinschaft mit Euro-Mitgliedstaa-
ten umgeht, die ihren Zahlungsverpflichtungen
dauerhaft nicht nachkommen können und damit zah-
lungsunfähig sind. Daher ist dringend an einem geordne-
ten Verfahren zur Wiederherstellung der Schuldentragfä-
higkeit von betroffenen Mitgliedstaaten zu arbeiten. So
wie wir Unternehmen und Verbrauchern ein System der
geordneten Insolvenz an die Hand geben, müssen Insti-
tutionen, Instrumente und Regeln geschaffen werden,
die zahlungsunfähigen Staaten die Chance auf eine echte
Sanierung ermöglichen. Hierzu müssen Regelwerke ge-
schaffen werden, die in verfassungs- und europarechtli-
cher Abstimmung in der demokratisch dafür vorgesehe-
nen Institution, dem Deutschen Bundestag debattiert
werden müssen.
Die parlamentarische Beteiligung des Deutschen
Bundestages und seiner Ausschüsse bleibt ein wesentli-
ches Element bei der Bekämpfung der Schuldenkrise
und bei der Weiterentwicklung des Europäischen Stabili-
tätsmechanismus.
Christian Hirte (CDU/CSU): Dem Gesetz, das eine
Ausweitung des bisherigen Rettungsschirmes vorsieht,
stimme ich zu.
Dem eingeschlagenen Weg der vergangenen Monate,
der mit dieser Ausweitung des Rettungsschirmes weiter
beschritten wird, stehe ich mit großer und wachsender
Skepsis gegenüber. Ich halte die abermalige Ertüchti-
gung der EFSF für falsch. Immer neue Kredite helfen
Staaten wie Griechenland nicht weiter. Statt konkreter
Hilfe, um die Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern, wer-
den lediglich Gläubiger mit hohen Zinsen bedient.
Warum dennoch die Zustimmung? Die deutliche Kri-
tik der vergangenen Wochen und Monate und die Ableh-
nung einzelner Abgeordneter für Griechenland- und Por-
tugal-Hilfen, denen ich mich angeschlossen hatte, hat zu
spürbaren Verbesserungen der Bedingungen geführt. Vor
allem die Beteiligungsrechte des Bundestages wurden
erheblich gestärkt. Nicht zuletzt das jüngste Urteil des
Bundesverfassungsgerichtes hat deutlich gemacht, dass
vor konkreten Hilfen für einzelne Länder das Parlament
befragt werden muss. Kein Geld ohne Zustimmung des
Bundestages. Diese Linie darf nach meiner festen Über-
zeugung nie überschritten werden. Der Widerstand auch
in den Reihen der Koalition hat dies ermöglicht.
Die aktuelle Diskussion über mögliche nochmalige
Ausweitungen der Maßnahmen beunruhigt mich sehr.
Die Zusicherung von Kanzlerin Angela Merkel, in ei-
nem solchen Fall nichts ohne die Zustimmung des Bun-
destages zu tun, ermöglicht für die Zukunft, immer im
Einzelfall zu prüfen, was richtige Schritte sein können.
Die klaren Zustimmungsrechte des Bundestages sind
eine wichtige institutionelle Einschränkung des Ret-
tungsschirmes.
Dem vorliegenden Gesetz stimme ich auch und vor
allem zu, um die Regierung nicht zu destabilisieren. Die
parlamentarische Mehrheit bei der Abstimmung ist
vorab eindeutig. Die Opposition stimmt weit überwie-
gend zu, stilisiert aber das Ergebnis der Stimmverteilung
innerhalb der Reihen der Koalition zu einer rein politi-
schen Frage, zu einer Machtfrage. Sie möchte die Skep-
sis gegenüber einer Sachfrage, bei der es um mehrere
hundert Milliarden Euro geht, zu einer Personalfrage
machen. Diesem Ansinnen der Opposition bin ich nicht
bereit nachzugeben.
In der von Angela Merkel geführten Koalition sehe
ich einen Garanten, eine noch größere Haftung Deutsch-
lands zu verhindern. Insofern ist mein Ja auch ein Nein.
Ein Nein zu den Bestrebungen der Oppositionsparteien
nach völliger Vergemeinschaftung aller Schulden und
der Einführung von Euro-Bonds. Es ist ein Ja zu euro-
päischer Solidarität, von der auch wir profitiert haben,
aber ein Nein zur Schuldenunion. Jeder Staat muss zu-
nächst seine Krisen selbst bewältigen, seine Schulden-
probleme selbst in den Griff bekommen. Die ausgewei-
tete EFSF ändert daran nichts, sondern erhält diesen
Status. Es bleibt dadurch zum Beispiel bei jeweils eige-
15426 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011
(A) (C)
(D)(B)
nen Zinssätzen der Staaten. Dies halte ich für unver-
zichtbar, weil nur so der Druck in den jeweiligen Län-
dern zur Konsolidierung und Lösung der eigenen
Probleme möglich wird.
Im Hinblick auf künftige Entscheidungen und Ab-
stimmungen, auch mit Blick auf den ESM, sind folgende
Punkte Maßstab meiner Entscheidungen:
Ich bin für die Erhaltung des Euro. Er ist nicht nur
eine Errungenschaft eines geeinten Europa, sondern eine
große Hilfe für unsere exportorientierte Wirtschaft.
Stabilität der Währung ist ein Wert an sich. Sie ist
wohlstandsfördernd für die Bürger in Deutschland und
Europa. Eine zu hohe Staatsverschuldung ist eine Gefahr
für diese Stabilität.
Subsidiarität ist mehr als ein Füllwort für Sonntagsre-
den. Europa wird nur gelingen, wenn zunächst jeder in
seinem Verantwortungsbereich seine Arbeiten erledigt.
Dazu gehört auch, Schulden zu machen und diese zu-
rückzuzahlen.
Daher halte ich grundsätzlich eine generelle Schul-
denhaftung für Staaten bzw. besonders für deren jewei-
lige Gläubiger für falsch.
Eine über den nun festgelegten Rahmen hinausge-
hende Verschuldungskompetenz des EFSF ist abzuleh-
nen. Dem scheinbaren Vorteil der Hebelwirkung stünde
die Austrocknung der regulären Kapitalmärkte für die
Euro-Staaten gegenüber.
Die jetzt erneut „gekaufte“ Zeit muss dringend ge-
nutzt werden, klare Haftungsregelungen für die Gläubi-
ger zu entwickeln. Der Markt, vor allem aber die Bürger,
haben einen Anspruch darauf, zu wissen, woran sie sind
und wann Grenzen erreicht sind. Europa droht nicht an
mangelnder Solidarität zu scheitern, sondern an den ne-
bulösen Unklarheiten, wohin die Kredithilfen führen.
Ohne Haftungsausschluss droht ein permanentes Han-
geln von Rettungsaktion zu Rettungsaktion. Damit
würde sich dauerhaft jede Regierung und Politik als
Ganzes unglaubwürdig machen.
Ulla Jelpke (DIE LINKE): Gemeinsam mit meiner
Fraktion Die Linke lehne ich den erweiterten Euro-Ret-
tungsschirm ab. Anstatt die Konsequenzen aus der ge-
scheiterten neoliberalen Politik zu ziehen, wird der Kurs
fortgesetzt.
Während Banken und Finanzinvestoren geschützt
wurden, warfen die Regierungen der Euro-Zone, EU-
Kommission, Europäische Zentralbank und IWF den
Krisenländern Rettungsringe aus Blei zu. In den Krisen-
ländern bezahlen die Werktätigen mit Lohn- und Renten-
kürzungen und dem größten Sozialabbau in der europäi-
schen Nachkriegsgeschichte für die Spekulationen der
Privatbanken. In Deutschland werden die Steuerzahler in
Haftung für die milliardenschweren Garantien genom-
men. Diese Politik beschleunigt die Umverteilung von
unten nach oben und setzt so eine zentrale Krisenursache
fort.
Die Spardiktate verhindern eine ökonomische Belebung
der Krisenländer, es sind keine effektiven Maßnahmen zur
Überwindung der wirtschaftlichen Ungleichgewichte in
Euro-Zone und EU vorgesehen. Rechtspopulistische und
faschistische Parteien, die die Ängste und die Wut der
Menschen gegen Spardiktate in nationalistische und
europafeindliche Propaganda kanalisieren, sind in vielen
Ländern auf dem Vormarsch. Das Argument der Koali-
tion – auch von SPD und Grünen –, es gehe mit dem
Rettungsschirm darum, „Europa zu retten“ ist daher
schlicht falsch.
Ich habe heute gegen den erweiterten Rettungsschirm
gestimmt, weil man die Krise nur lösen kann, wenn man
das Kasino schließt, wenn man die Spekulanten an die
Kette legt. Die Staaten müssen sich unabhängig von den
Kapitalmärkten über eine Bank für öffentliche Anleihen
finanzieren können. Die Finanzmärkte müssen endlich
streng reguliert werden. Die Banken gehören unter öf-
fentliche Kontrolle durch Verstaatlichung. Und die Ver-
ursacher und Profiteure der Krise müssen zur Kasse ge-
beten werden: Durch eine EU-weite Vermögensabgabe
für Superreiche, durch eine Finanztransaktionsteuer und
durch eine Beteiligung großer privater Gläubiger.
Katja Kipping (DIE LINKE): Ein geeintes Europa ist
als Vision nur vorstellbar als ein solidarisches Europa.
Das, was in den vergangenen Wochen als Euro-Ret-
tungsschirm diskutiert wurde und nun vom Bundestag
beschlossen werden soll, hat mit Solidarität nichts zu
tun. Mitgliedsländern brutale Sparprogramme als Ge-
genleistung für Finanzhilfen abzuverlangen, verschärft
deren Krise, anstatt sie zu lindern. Die Folge sind Entlas-
sungen, Rentenkürzungen, Kürzungen im Sozialbereich
und damit das Bedienen der Abwärtsspirale der Binnen-
konjunktur. Reagierte die Bundesregierung mit dem
Konjunkturpaket und der Abwrackprämie im Jahr 2010
selbst noch streng antizyklisch, möchte sie nun anderen
Ländern das Gegenteil verordnen. Um Hilfe geht es hier
nicht – es geht einzig und allein um die Geschäfte deut-
scher Banken und der deutschen Wirtschaft.
Die deutsche Politik deckt die Risiken deutscher Ban-
ken und deutscher Rüstungskonzerne auf Kosten der
Steuerzahlerinnen und Steuerzahler – auf diesen Satz lässt
sich das, was als Rettungsschirm wirklich ist, ganz ein-
fach reduzieren. Mit keinem Wort erwähnt die Bundesre-
gierung die Waffengeschäfte mit Griechenland – Verträge,
bei denen es um Milliarden geht –: Panzer, U-Boote,
Kampfflugzeuge. Einzig und allein die „gierigen“ Früh-
rentnerinnen und Frührentner sowie die kleinen Beamte-
ninnen und Beamten sollen schuld sein an der Misere der
Staatsfinanzen eines Landes, das pro Kopf, auf die Ein-
wohnerzahl gerechnet, die größte Armee Europas hat.
Über 50 Milliarden Euro hat sich Griechenland die Mo-
dernisierung seiner Armee in den letzten zehn Jahren kos-
ten lassen – und Deutschland war und ist dick im Ge-
schäft.
Von den Finanzjongleuren und Krisengewinnlern, die
auf die die Pleite ganzer Staaten wetten, ist bei den Be-
dingungen für den Rettungsschirm ebenso wenig die
Rede. Wer die europäischen Superreichen, deren Vermö-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15427
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gen sich auf etwa 10 Billionen Dollar beläuft, nicht zur
Kasse bittet, um den Schaden, den sie mit angerichtet ha-
ben, zu beheben, vergibt die Chance auf Veränderung.
Ich kann im „Euro-Rettungsschirm“, so wie er ist, kei-
nen Sinn erkennen, der mehr als der Egoismus derer
wäre, die diese Zustände herbeigeführt haben. Deshalb
stimme ich dagegen – für ein gerechtes, friedliches und
solidarisches Europa!
Harald Koch (DIE LINKE): Ich habe heute gegen
den erweiterten Rettungsschirm gestimmt, weil ich Ja zu
einem sozialen und solidarischen Europa sage.
Die Euro-Krise ist nur zu lösen, wenn man das
Zockerkasino schließt, wenn man die Spekulanten und
die staatlich gedeckte Finanzmafia an die Kette legt. Die
Staaten müssen sich unabhängig von den Kapitalmärk-
ten finanzieren können, über eine Bank für öffentliche
Anleihen. Die Finanzmärkte müssen endlich streng re-
guliert werden, schädliche Finanzprodukte sind zu ver-
bieten, und Banken gehören unter öffentliche Kontrolle.
Verursacher und Profiteure der Krise muss man stattdes-
sen zur Kasse bitten: durch eine EU-weite Vermögensab-
gabe für Reiche und Superreiche, durch eine Finanz-
transaktionsteuer und durch eine Beteiligung großer
privater Gläubiger. Den Ländern, die Gelder aus dem
Rettungsfonds erhalten, wird in Wirklichkeit ein Ret-
tungsring aus Blei zugeworfen. Die ökonomisch unsin-
nigen und sozial ungerechten Kürzungsprogramme trei-
ben diese Länder in die Rezession.
Fest steht: Die Krise kann und darf nicht auf dem Rü-
cken der Beschäftigten und sozial Benachteiligten Euro-
pas gelöst werden.
Manfred Kolbe (CDU/CSU): Ich stimme heute gegen
das Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Übernahme
von Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen
Stabilisierungsmechanismus auf Bundestagsdrucksache
17/6916, weil die bisherige Rettungsschirmpolitik nicht
funktioniert hat. Im Monatsrhythmus beschließen wir
neue Rettungsschirme, garantieren Hunderte von Mil-
liarden, und Griechenland geht es dennoch immer
schlechter. Tatsächlich finanzieren wir mit den Rettungs-
schirmen die hohen Zinsen an Banken und Hedgefonds,
nicht aber Griechenland. Für Griechenland brauchen wir
eine Umschuldung, das heißt, die Gläubigerbanken müs-
sen auf mindestens 50 Prozent ihrer Forderungen ver-
zichten, damit das Land wieder eine echte Chance hat.
Wir brauchen in Europa eine Politik der finanziellen
Eigenverantwortung und keine Anleiheankäufe durch
die EZB oder gar Euro-Bonds, für die alle gesamtschuld-
nerisch haften. Das einziger wirksame Druckmittel,
überschuldete Staaten zur Konsolidierung zu zwingen,
sind steigende Marktzinsen, wie bei Berlusconi jüngst
erlebt. Eine gesamtschuldnerische Schuldenhaftung gibt
es nicht einmal unter den Bundesländern, den Kommu-
nen eines Landkreises oder Geschwistern. Nur ein finan-
ziell solides Europa kann in der Welt mitreden.
Meiner Meinung nach stärken Neinstimmen aus der
CDU die Bundeskanzlerin. Ihre internationale Verhand-
lungsposition hat sich, sowohl aufgrund des ihren Spiel-
raum einengenden Urteils des Bundesverfassungsgerich-
tes als auch durch den Widerstand im Deutschen
Bundestag verbessert. Vor Ort ist es wichtig, dass die
Bürgerinnen und Bürger sehen, dass die CDU zwar soli-
darisch hilft, aber klare Gegenleistungen fordert und
eine uferlose Verschuldung nicht zulässt.
Gunther Krichbaum (CDU/CSU): Durch die heu-
tige Änderung des StabMechG werden die Beteiligungs-
rechte des Deutschen Bundestages bei den Maßnahmen
zur Euro-Stabilisierung deutlich ausgeweitet. Dies ist
uneingeschränkt zu begrüßen. Insbesondere ist hervor-
zuheben, dass die Bundesregierung Beschlüssen, durch
die die haushaltspolitische Gesamtverantwortung be-
rührt wird, nur nach einem positiven Votum des Deut-
schen Bundestages zustimmen darf.
Die Struktur der gefundenen Beteiligung kann aller-
dings nicht zufriedenstellen. Zum einen ist es unbefriedi-
gend, dass sich das nach § 3 Abs. 3 StabMechG zu bil-
dende Gremium zur Beschlussfassung in eilbedürftigen
oder vertraulichen Fällen ausschließlich aus Mitgliedern
des Haushaltsausschusses zusammensetzt. Hier wäre ein
breiter aufgestelltes Gremium wünschenswert gewesen.
Zum anderen hätte eine Aufnahme des bewährten In-
struments der Mitberatung durch weitere Ausschüsse des
Deutschen Bundestages in § 4 StabMechG die Möglich-
keit geboten, die fachliche Expertise des gesamten Hau-
ses einzubinden.
Daher darf die jetzt gefundene Regelung kein Präju-
diz für die Beteiligungsstruktur des Deutschen Bundes-
tages im Zustimmungsgesetz für den dauerhaften Stabi-
lisierungsmechanismus ESM sein.
Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP): Die Ausmaße
der Schuldenkrise sind immens. Der Euro-Raum ist
durch einige Mitgliedstaaten in eine bedrohliche Schief-
lage geraten. Daran hat Deutschland unter der damaligen
Regierung aus SPD und Grünen erheblichen Anteil,
wenn sie nicht gar eine wesentliche Ursache für die Pro-
bleme sind. Es rächt sich bitterböse, dass die Regierung
Schröder/Fischer in unverantwortlicher Weise den
Maastricht-Vertrag aufweichte und Griechenland den
Weg in den Euro frei machte.
Es ist erschütternd, dass erst 2010, ein halbes Jahr
nach dem Regierungswechsel, das dramatische Ausmaß
in Griechenland bekannt wurde. Die Frage stellt sich,
warum frühere Bundesfinanzminister über die Vorgänge
und Zustände nicht informiert waren oder – viel wahr-
scheinlicher – die Öffentlichkeit bzw. das Parlament
nicht informiert haben. Es ist schwer nachvollziehbar,
warum die Bundesfinanzminister Hans Eichel und Peer
Steinbrück entweder kein Wissen über die Zahlungs-
schwierigkeiten hatten oder vielmehr ihr Wissen der Öf-
fentlichkeit vorenthielten.
Nicht nur die Ursachen der jetzigen Krise gehen zu
einem gehörigen Teil auf das Konto von SPD und Grü-
nen, sondern auch die verschleppte und vernachlässigte
Prüfung seit der Griechenland-Aufnahme in den Euro-
Raum. Es ist unerhört, dass die Schuld, die die damals
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Verantwortlichen auf sich geladen haben, nunmehr nach-
folgende Abgeordnetengenerationen abzutragen haben.
Geradezu unappetitlich ist es, wenn die damals Verant-
wortlichen heute meinen, oberkluge Hinweise und wohl-
feile Kritiken von sich geben zu müssen.
Ich persönlich bin außerordentlich unzufrieden da-
rüber, dass wir nicht nur zur Lösung von Problemen bei-
tragen müssen, die durch falsches politisches Handeln,
das meinen politischen Überzeugungen widerspricht,
entstanden sind, sondern dafür auch noch von den Verur-
sachern dieser Krise regelrecht beschimpft werden.
Diese dramatische und sich stets verschärfende Situation
wurde – grob ausgedrückt – durch Ausgabenwollust und
unzureichende Einnahmeerhebung politisch Agierender
hervorgerufen.
Die eigene Schuld verdrängen SPD und Grüne und
wollen nunmehr mit Maßnahmen der Schuldenkrise be-
gegnen, die diese Krise erst verursachten. Wäre es nach
Rot-Grün gegangen, hätte Deutschland seit 2010 im-
mense Programme aufgelegt und Gelder zur Verfügung
gestellt. Diese Gelder wären nicht zur Stabilisierung der
Währung oder zur Sanierung der Haushalte genutzt wor-
den, sondern in erster Linie zur Finanzierung der poli-
tisch Regierenden aufgebracht worden. Damit hätte sich
die Schuldenkrise durch diese rot-grünen Vorstellungen
von Anfang an immens vergrößert.
Die schwarz-gelbe Koalition muss nun vor allem Ver-
trauen herstellen, das durch die Schulden verloren ging.
Dabei gibt es aus meiner Sicht Zweifel, ob dies durch die
bisherigen Maßnahmen gelingen kann. Hilfen für andere
Euro-Staaten gehören nicht zu den Kernaufgaben im
Euro-Raum. Die Risiken gerade für Deutschland und
den deutschen Steuerzahler sind erheblich. Eine geord-
nete Insolvenz Griechenlands halte ich nach wie vor für
einen Weg, der nicht ausgeschlossen werden darf.
Fraglich ist für mich, ob unter den vorgegebenen Be-
dingungen die Höhe des EFSF-Schirms bewusst ausge-
reizt wird oder für die EFSF gar die Möglichkeit besteht,
sich selbst – entgegen seinem eigentlichen Auftrag und
Sinn – eigenständig weitere Finanzmittel zu akquirieren.
So befürchte ich, dass der Fonds angekaufte Anleihen
als Sicherheit zum Beispiel bei der EZB hinterlegt, um
sich weitere Mittel zu beschaffen. Dies könnte meiner
Auffassung nach zu einer Kreditblase mit erheblichen
Folgen führen.
Ich habe Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble in
der Fraktionssitzung der FDP am 26. September 2011
explizit auf den Umstand der Beleihung von Anleihen
aufmerksam gemacht und darauf hingewiesen, dass
diese mögliche zusätzliche, aber sehr riskante Einnah-
mequelle weder Sinn der EFSF noch Wille der Gesetz-
geber sein kann. Finanzminister Schäuble hat erklärt,
dass dieser Fall durch die Guidelines geklärt werde. Au-
ßerdem werde es ausdrücklich keinen Hebel oder einen
sogenannten Leverage geben. Auf diese Aussagen ver-
traue ich.
Nach Durchsicht der rar gesäten Vorschläge der Op-
position und mit Blick auf die sonstigen dargebotenen
Verfahrensvorschläge muss ich als Parlamentarier nach
möglichst bestem Wissen und Gewissen abwägen und
entscheiden. Diese Entscheidung fällt ohnehin schwer.
Inzwischen hat sich allerdings eine öffentliche Mei-
nung aufgebaut, die durch effekthaschende Oppositions-
führer und darauf abzielende Medien derart befeuert
wurde, dass die eigentliche Sachfrage zunehmend in den
Hintergrund rückt und es immer schwerer geworden ist,
sachliche Antworten zu geben. Auf der anderen Seite
wird vielmehr die Koalition auf den Prüfstand gestellt.
Aus meiner Sicht ist es wichtig, dass diese Koalition in
der Lage ist, Deutschland zu regieren und eben nicht wie
unter Rot-Grün in Sachfragen in inflationärer Weise mit
Vertrauensfragen zu verbinden.
Insbesondere die Erwartungshaltung und der öffentli-
che Druck der Opposition sowie die dies verstärkende
Medien sorgten dafür, dass ein Zerrbild aufgebaut
wurde: Die EFSF-Entscheidung gilt nunmehr als Quasi-
Vertrauensfrage – was an sich unfassbar ist – bzw. als
Bewährungsprobe für Schwarz-Gelb. Diese Situation
macht es mir als Parlamentarier unmöglich, ausschließ-
lich in der Sache abzustimmen.
All dies muss ich berücksichtigen und in mein Ab-
stimmungsverhalten einfließen lassen. Globale Um-
stände, öffentliche Haltung, das geschlossene Vorgehen
der Koalition sowie das in der Sache zu berücksichti-
gende Wissen und Gewissen müssen in ein Verhältnis
gesetzt werden. In dieser Abwägung habe ich der EFSF
meine Zustimmung erteilt.
Ralph Lenkert (DIE LINKE): Die Ausweitung des
Euro-Rettungsschirms treibt die Spaltung Europas vo-
ran!
Meine Fraktion, Die Linke, und ich lehnen die Aufsto-
ckung und Ausweitung der Europäischen Finanzstabili-
sierungsfazilität, EFSF, ab, denn damit wird ein geschei-
tertes Krisenmanagement fortgesetzt, das die soziale und
wirtschaftliche Spaltung der Euro-Zone und der EU wei-
ter vertieft.
Die bisherige Euro-Rettung hat die Ausweitung der
Krise nicht verhindert, im Gegenteil: Während Banken
und Finanzinvestoren geschützt und die Ursachen der
Krise ausgeblendet wurden, zwingen die „Rettungs-
ringe“ von Ländern der Euro-Zone, EU-Kommission,
Europäischer Zentralbank und IWF die Krisenländer zu
Boden. Die an die Hilfskredite aus dem Rettungsschirm
geknüpften radikalen Kürzungsauflagen würgten die
Binnenkonjunktur der Krisenländer ab, verhinderten
eine Erholung der Wirtschaft und verschärften durch
wegbrechende Einnahmen die Schuldenkrise. Zu einer
Beruhigung der Finanzmärkte reichten die Maßnahmen
nicht, es wird weiter gegen angeschlagene Euro-Staaten
spekuliert. Bereits jetzt gehen Fachleute und Finanz-
marktakteure davon aus, dass auch die aufgestockte
EFSF nicht ausreichen wird.
Die Linke lehnt den erweiterten Euro-Rettungsschirm
ab, denn der gescheiterte Kurs wird fortgesetzt. In den
Krisenländern bezahlen Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmer, Rentnerinnen und Rentner, Schülerinnen, Schü-
ler, Studentinnen und Studenten mit Lohn- und Renten-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15429
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kürzungen, dem größten Sozialabbau der europäischen
Nachkriegsgeschichte und dem Zusammenstreichen der
Bildungsausgaben dafür, dass private Banken weiter
spekulieren können. In Deutschland wird die gesamte
Bevölkerung in Haftung für die milliardenschweren Ga-
rantien genommen. Solange die Finanzmärkte nicht
strikt reguliert, die Großbanken vergesellschaftet und die
Staatsfinanzierung nicht von den Kapitalmärkten abge-
koppelt werden, ist die Krise nicht unter Kontrolle zu
bringen.
Die EFSF-Politik ist ungerecht, weil sie die Umver-
teilung von unten nach oben beschleunigt und so eine
zentrale Krisenursache fortschreibt. Sie ist ökonomisch
gefährlich, weil die Spardiktate eine ökonomische Bele-
bung der Krisenländer verhindern und keine effektiven
Maßnahmen zur Überwindung der wirtschaftlichen Un-
gleichgewichte in Euro-Zone und EU vorgesehen sind.
Sie gefährdet zudem zunehmend die europäische Inte-
gration: Rechtspopulistische Parteien, die die Ängste
und die Wut der Menschen gegen Spardiktate in europa-
feindliche und nationalistische Propaganda kanalisieren,
sind in vielen Ländern auf dem Vormarsch. Das Argu-
ment von Union, FDP, SPD und Grünen, es gehe mit
dem Rettungsschirm darum, Europa zu retten, ist für
mich falsch.
Das europäische Projekt hat nur dann eine Zukunft,
wenn es sozial gerecht, wirtschaftlich vernünftig und de-
mokratisch gestaltet wird. Da die Euro-Rettung in genau
die entgegengesetzte Richtung weist, kann ich der EFSF
nicht zustimmen.
Dr. Carsten Linnemann (CDU/CSU): Der erwei-
terte Rettungsschirm EFSF trägt nicht zur Beseitigung
der aktuellen Staatsschuldenkrise oder zur Verhinderung
künftiger Schuldenkrisen bei. Durch den Rettungsschirm
drohen die Schulden vielmehr vergemeinschaftet zu
werden. Dann haben wir die Haftungsunion, die wir nie
haben wollten. Aus diesem Grunde kann ich dem vorlie-
genden Gesetz nicht zustimmen.
Unbestritten ist, dass Deutschland als Exportnation
ganz besonders vom Euro profitiert. Unbestritten ist
auch, dass der Euro nur in einer Stabilitätsunion eine er-
folgreiche Zukunft haben kann und nicht in einer Schul-
denunion. Daher haben bereits die Gründerväter des
Euro wichtige Instrumente zur Errichtung einer Stabili-
tätskultur geschaffen: die Europäische Zentralbank zur
Sicherung der Geldwertstabilität, den Stabilitäts- und
Wachstumspakt zur Sicherung solider Staatshaushalte
sowie die sogenannte No-Bail-out-Klausel, die sichern
sollte, dass kein Staat für die Schulden eines anderen
EU-Mitgliedstaates haften oder aufkommen muss. Ge-
gen alle drei Grundsätze ist mittlerweile verstoßen wor-
den. Die Folge ist, dass Europa heute in einer tiefen und
strukturellen Staatsschuldenkrise steckt. Die Krisenursa-
che ist daher mitnichten das Scheitern der Idee einer Eu-
ropäischen Währungsunion, sondern das konsequente
Ignorieren der Regeln.
Angesichts dieses Befundes kann es grundsätzlich nur
einen glaubwürdigen Ausweg aus der Staatsschulden-
krise geben: Man greift den Kerngedanken des ursprüng-
lichen Regelwerks wieder auf, indem man zukünftig
Verstöße gegen die Stabilitätsziele automatisch ahndet
und das Prinzip des Haftungsausschlusses konsequent
anwendet. Nur mithilfe dieser klaren Perspektive kann
man Staaten zu verlässlichen und nachhaltigen Haushal-
ten disziplinieren.
Daher unterstütze ich die derzeit zur Verschärfung der
Stabilitätsverpflichtungen diskutierten Durchgriffs-
rechte voll und ganz. Zu diesen gehört beispielsweise,
dass Parlamente im Falle von massiven Regelverstößen
ihre fiskalpolitische Souveränität einbüßen oder sogar
ganz verlieren. Diese Regelung bedarf freilich vertragli-
cher Änderungen. Die Erfahrung zeigt, dass solche ver-
traglichen Änderungen nur schwer durchsetzbar sind. Es
bedarf besonderer Umstände, die einen Handlungsdruck
erzeugen. Die entscheidende Frage ist nun, ob nach Er-
weiterung des Rettungsschirms EFSF, der in den ständi-
gen Rettungsmechanismus ESM – Europäischer Stabili-
tätsmechanismus – übergehen soll, überhaupt noch
Handlungsdruck vorhanden ist. Ich meine, nein.
Des Weiteren krankt der Rettungsschirm EFSF daran,
dass er kein überzeugendes Anreizsystem zur Schulden-
vermeidung bietet. Schlimmer noch: Der Rettungs-
schirm EFSF erlaubt es, dass künftig marode Staatsan-
leihen angekauft werden können. Der Ankauf von
Staatsanleihen aber kommt einer Zinssubvention gleich
und verhindert dadurch, dass der Markt für Staatsanlei-
hen die Staaten mit hoher Verschuldung durch eine effi-
ziente Preissetzung zügelt. Gerade ein hoher Anleihezins
würde Staaten zu Reaktionen zwingen. Damit ist ein
zentraler Hebel zur Disziplinierung von Staaten außer
Kraft gesetzt.
Kurzum: Der erweiterte Rettungsschirm wird weder
das Verschuldungsproblem in Europa noch das Zah-
lungsbilanzdefizit der Peripheriestaaten oder deren feh-
lende Wettbewerbsfähigkeit lösen. Meine Sorge ist, dass
das Schuldenproblem einzelner Staaten auf ganz Europa
übergreifen könnte und damit das Projekt Euro insge-
samt gefährdet wird.
Ulla Lötzer (DIE LINKE): Ich stimme gegen den er-
weiterten Euro-Rettungsschirm, weil nicht die Krisen-
verursacher, die Finanzmarktakteure und Vermögenden
für die Kosten der Krise herangezogen werden, sondern
die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die Arbeitslo-
sen, die Rentnerinnen und Rentner, hier wie auch in
Griechenland. Stattdessen wäre eine europaweite Ver-
mögensabgabe und eine gerechte Besteuerung von Ver-
mögen und Kapitaleinkünften zwingend.
Die Sparauflagen für die südeuropäischen Schuldner-
staaten verschärfen die wirtschaftliche Krise in den Län-
dern und führen die Staaten tiefer in die Schuldenkrise.
Mit den Delegierten des Gewerkschaftstages von Verdi
trete ich daher für ein sofortiges Ende der ökonomisch
und sozial schädlichen Sparpolitik in den Schuldnerlän-
dern ein.
Die europäischen Regierungen und die EU unterwer-
fen alle Länder nach wie vor dem Diktat der Finanz-
marktakteure, statt sie endlich zu regulieren. Eine euro-
15430 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011
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päische Finanztransaktionsteuer kann nur der erste
Schritt sein.
Ich stimme gegen den erweiterten Rettungsschirm,
weil ich für Europa bin.
Statt Sparprogrammen ist ein europäisches Zukunfts-
programm zur Sicherung von Beschäftigung und sozia-
ler Gerechtigkeit erforderlich.
Nur mit gleichen und gerechten Bedingungen für
Wirtschafts-, Steuer- und Sozialpolitik ist Europa vor
den Banken und Hedgefonds noch zu retten.
Dorothee Menzner (DIE LINKE): Ich stimme dem
Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Übernahme von
Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabi-
lisierungsmechanismus, EFSF, aus folgenden Gründen
nicht zu:
Eine weitere Aufstockung der Mittel des Euro-Ret-
tungsschirmes ohne eine wirksame Regulierung der Fi-
nanzmärkte, die Heranziehung der Riesenvermögen zur
Schuldentilgung sowie eine konstruktive Unterstützung
für die wirtschaftliche Entwicklung in Griechenland und
anderen betroffenen Ländern ist ein Doktern am System
ohne Bekämpfung der Ursachen. Es werden keine Kon-
sequenzen aus der gescheiterten Politik gezogen.
Die an die Hilfskredite aus dem Rettungsschirm ge-
knüpften Auflagen radikaler Kürzungen würgen in den
Krisenländern die Binnenkonjunktur weiter ab, verhin-
dern eine nachhaltige Entwicklung und Erholung der
Wirtschaft und verschärfen somit die Schuldenkrise. In
den Krisenländern bezahlen die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer, die Rentnerinnen und Rentner, Studentin-
nen und Studenten und andere Gruppen der ganz norma-
len Bevölkerung mit Lohn- und Rentenkürzungen, Ent-
lassungen und dem größten Sozialabbau der europäischen
Nachkriegsgeschichte, während die Reichen und Super-
reichen, die Banken und Profiteure der ökonomischen
Entwicklung der letzten Jahre und Jahrzehnte ein weiteres
Mal ungeschoren davonkommen.
In Deutschland werden im Haftungsfall ebenfalls die
Steuerzahlerinnen und Steuerzahler und nicht die Profi-
teure des Kasinos die Zeche für eine Veranstaltung zah-
len, an der sie nie teilgenommen haben. Die Risiken
werden mittlerweile selbst von der Deutschen Bank auf
über 400 Milliarden beziffert, die im Haftungsfall über
lange Jahre die Bürgerinnen und Bürger immens belas-
ten werden. Im Zusammenhang mit Bankenhilfe ohne
Gegenleistung, Sozialkürzungen und Demokratieabbau
ist dies für mich nicht zu verantworten.
Die europäische Integration der letzten Jahrzehnte,
die Voraussetzung für Frieden unter den Ländern Euro-
pas, wirtschaftliche Entwicklung und die Entwicklung
sozialstaatlicher Mechanismen in seinen Ländern war,
wird mit dieser Art der vermeintlichen Stabilisierung
aufs Spiel gesetzt. Europa ist mehr als eine gemeinsame
Währung. Gerade in der Krise dürfen soziale Standards
und Sicherheit für alle Bürgerinnen und Bürger Europas,
demokratische Mechanismen und Teilhabe aller nicht
zur Disposition stehen. Ich verwahre mich gegen alle
Ansätze, die Ängste von Bürgerinnen und Bürgern schü-
ren und nationalistisches Denken befördern können. Sie
stehen einer zukunftsfähigen Entwicklung Europas ent-
gegen. Ein Europa der Menschen ist notwendiges Ziel
und nicht ein Europa, das sich nach den Interessen der
Konzerne, Banken und Ratingagenturen entwickelt.
Cornelia Möhring (DIE LINKE): Ich stimme heute
gegen die Ausweitung und Aufstockung des Euro-Ret-
tungsschirms, weil ich Ja zu einem solidarischen Europa
sage. Dieser Rettungsschirm, über den wir heute abstim-
men, verhindert ein solches Europa. Er rettet weder den
Euro noch die EU oder gar die Menschen in Griechen-
land – er rettet in Wahrheit nur die Banken und Speku-
lanten.
Statt die Gewinner der Krise für die Folgen ihrer ver-
antwortungslosen Gier zur Kasse zu bitten, soll die Be-
völkerung in Europa zahlen: In der Bundesrepublik
kommen die Milliarden Euro für den Rettungsschirm aus
Steuergeldern. In Griechenland, Irland und Portugal be-
zahlen die Studierenden, Angestellten und Rentnerinnen
und Rentner durch Massenentlassungen, Rentenkürzun-
gen und andere sozial verheerende und volkswirtschaft-
lich völlig unsinnige Kürzungsprogramme.
Zu einer solchen Politik der Entlastung von Banken
und Spekulanten und der Belastung der Bevölkerung
sage ich Nein. Ich will, dass die Verursacher und Profi-
teure der Krise zur Kasse gebeten werden. Wir brauchen
eine Finanztransaktionsteuer, eine europaweite Vermö-
gensabgabe und eine wirkliche Bankenabgabe.
Statt den Finanzjongleuren weitere Milliarden für ihre
Spekulationen in den Rachen zu werfen, sollte die Bun-
desrepublik an den Ursachen der Krise ansetzen.
Die Europäische Union kann nur gerettet werden,
wenn sie endlich zu einer wirklichen Sozialunion wird,
deren Ziel die Verbesserung der Lage der Beschäftigten
und der Armen in allen Ländern der Gemeinschaft ist.
Zusammen mit meiner Fraktion fordere ich deshalb:
Weg mit Hartz IV und her mit dem flächendeckenden
gesetzlichen Mindestlohn. Wir brauchen ein EU-weites
Investitionsprogramm und eine stärkere, sozial ausge-
richtete Politikkoordination, um den sozial-ökologischen
Umbau in der EU voranzutreiben.
Ich sage heute Nein zu einem Europa der Banken und
Millionäre und Ja zu einem Europa der Millionen.
Niema Movassat (DIE LINKE): Ich stimme aus fol-
genden Gründen gegen den Gesetzentwurf zur Erweite-
rung der EFSF.
Erstens. Die EFSF ist im Ergebnis eine Unterstützung
der Banken, der Finanzinstitute, der Spekulanten, der
Reichen und der Superreichen. Im Haftungsfall werden
die entstehenden Lasten aber von der großen Mehrheit
der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler getragen. Zu be-
fürchten ist auch eine Kürzung von Renten und anderen
Sozialleistungen. Die Bundesregierung ist auch nicht be-
reit, für die gegenwärtigen Sozialstandards eine Garan-
tieerklärung abzugeben.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15431
(A) (C)
(D)(B)
Zweitens. Den Menschen in den Ländern, die Mittel
von der EFSF erhalten, wird nicht geholfen: Die diesen
Ländern aufgegebenen strengen Sparauflagen treffen
dort vor allem die Geringverdiener, die Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer und die Rentnerinnen und Rent-
ner. Die Binnennachfrage bricht ein, Wirtschaftswachs-
tum und Steuereinnahmen sinken. Die Fähigkeit zur
Rückzahlung der gewährten Kredite wird immer weiter
eingeschränkt. Das zeigt die Entwicklung in Griechen-
land.
Drittens. Die demokratische Kontrolle des Bundes-
haushalts durch das Parlament wird mit dem Änderungs-
gesetz ausgehöhlt. Die Unterrichtung des Haushaltsaus-
schusses ersetzt die parlamentarische Beteiligung nicht.
Mit der EFSF findet eine Unterordnung demokratischer
Verfassungsprinzipien unter das Diktat der Finanzmärkte
statt.
Es braucht einen völlig anderen politischen Weg zur
Lösung der Krise: Notwendig ist eine strikte Regulie-
rung der Finanzmärkte und eine Vergesellschaftung der
privaten Banken. Die Riesenvermögen in der EU, die in
etwa den gesamten Staatsschulden in der EU entspre-
chen, müssen für die Schuldentilgung herangezogen
werden. Es braucht eine konstruktive Unterstützung für
die wirtschaftliche Entwicklung in Griechenland und an-
deren betroffenen Ländern. Dazu gehört auch, dass
Deutschland durch nachhaltige Lohnerhöhungen, unter
anderem durch Einführung eines gesetzlichen, flächen-
deckenden Mindestlohns, die eigene Binnennachfrage
stärkt und so Exportüberschüsse, die Teil der Ursachen
für die Krise in Europa sind, abbaut.
Zuletzt möchte ich sagen, dass der Widerstand der
griechischen Bevölkerung gegen die soziale Barbarei
und wirtschaftliche Unvernunft meine Solidarität hat.
Jan Mücke (FDP): Der Haushaltsausschuss hat in
seiner Beschlussempfehlung vom 22. September 2011
– Drucksache 17/7067 – den Mitgliedern des Deutschen
Bundestages empfohlen, den Antrag der Fraktionen
CDU/CSU und FDP „Entwurf eines Gesetzes zur Ände-
rung des Gesetzes zur Übernahme von Gewährleistun-
gen im Rahmen eines europäischen Stabilisierungsme-
chanismus“ – Drucksache 17/6916 – in geänderter
Fassung anzunehmen. Ich folge dieser Empfehlung.
Meine Zustimmung zur vorgenannten Beschlussemp-
fehlung verknüpfe ich mit folgender persönlicher Erklä-
rung:
Die Ertüchtigung und Flexibilisierung der Europäi-
schen Finanzstabilisierungsfazilität – EFSF – ist zwar
notwendig, um die konkrete Gefahr einer ungeordneten
Insolvenz Griechenlands und die möglichen Zuspitzun-
gen von Zahlungsschwierigkeiten auch anderer Krisen-
länder ohne weitere Anleihekäufe durch die Europäische
Zentralbank – EZB – zu gewährleisten. Diese Befugnis-
erweiterung reicht aber nicht aus, um die Krise dauerhaft
einzudämmen.
Die Unabhängigkeit der EZB ist gegeben. Dennoch
kam es – und kommt es noch immer – zu Anleihekäufen
durch die EZB, die dadurch bereits beträchtliche Risiken
in ihre Bücher genommen hat. Es ist sehr zweifelhaft, ob
die EZB dafür die notwendige Legitimation besitzt, da
letztlich die einzelnen Nationalstaaten entsprechend ih-
rer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit dafür haften. Die
Gefahr besteht, dass die EZB auch nach Ertüchtigung
der EFSF an ihrer Politik festhält und dass sich dieser
ordnungspolitische Sündenfall insbesondere auf Kosten
Deutschlands perpetuiert. Daher ist es zwingend not-
wendig, der EZB die Grundlage für weitere Anleihe-
käufe zu entziehen, ohne ihre Unabhängigkeit anzutas-
ten. Dies sollte durch zweierlei Maßnahmen geschehen:
Die Zielformulierung der Zentralbankpolitik muss
sich ausschließlich auf die Gewährleistung der Preissta-
bilität reduzieren. Die Erfolgsgeschichte der Deutschen
Bundesbank lässt sich insbesondere darauf zurückfüh-
ren.
Die Stimmrechte im EZB-Zentralbankrat sind nach
Kapitalanteilen zu gewichten. Andernfalls besteht weiter-
hin die Gefahr, dass die Länder, die insbesondere für risi-
koreiche Anleihen haften, von kleineren Ländern über-
stimmt werden und weiterhin Risiken auf Deutschland
und andere kapitalstarke Staaten abgewälzt werden.
Beides macht eine Änderung der Satzung der EZB
dringend erforderlich.
Zudem sind mögliche Regeln einer geordneten Insol-
venz eines Staates auszuloten. Diese müssen einen auto-
matischen Schuldenschnitt unter Beteiligung privater
Gläubiger beinhalten, sobald ein Staat über eine be-
stimmte Zeit hinaus nicht in der Lage ist, seine Schulden
zu bedienen.
Den derzeitigen Gefahren für die Realwirtschaft, die
mit möglichen Insolvenzen von Banken einhergehen,
müssen wir entschieden entgegentreten. Kurzfristig
sollte das durch höhere Eigenkapitalquoten geschehen.
Mittelfristig ist es notwendig, sogenannte systemrele-
vante Banken in kleinere Institute zu zerschlagen, sodass
diese einzeln insolvent gehen können, ohne die gesamte
Realwirtschaft mitzureißen.
Diese Forderungen stellen nichts anderes als eine
Rückkehr zu grundlegenden Prinzipien der Begründer
der Sozialen Marktwirtschaft dar. Insbesondere das Pri-
mat der Währungspolitik wurde missachtet und das Prin-
zip der Haftung grob verletzt. Unter der Voraussetzung,
dass die Wiederherstellung dieser Prinzipien eisern ver-
folgt wird, stimme ich für den Gesetzentwurf. Ich bin zu-
versichtlich, dass dieser Weg von der Koalition weiter
verfolgt wird.
Burkhardt Müller-Sönksen (FDP): Die Lösungen
der Koalition in der europäischen Haushalts- und Fi-
nanzpolitik sollen die derzeitigen Turbulenzen an den
Finanzmärkten eindämmen und neues Vertrauen etablie-
ren. Nicht alle der bisherigen und geplanten Maßnahmen
finden meine Zustimmung.
In verschiedenen Punkten bleiben bei mir auch wei-
terhin Zweifel. Einer geordneten Insolvenz zum Beispiel
für Griechenland hätte ich dem anstrebten Verfahren den
Vorzug gegeben und vertrete die Auffassung, dass diese
15432 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011
(A) (C)
(D)(B)
auch weiterhin als mögliches Instrument in Betracht ge-
zogen werden sollte. Im Grundsatz lehne ich jedoch Hil-
fen für andere Euro-Staaten nicht ab, wenn diese unter
den passenden Rahmenbedingungen gewährt werden.
Ich kann jedoch zum jetzigen Zeitpunkt nicht erken-
nen, welche Risiken von anderen Staaten des Euro-
Raums noch zu erwarten sind. Diese Risiken konnten
bisher nicht benannt und meine Zweifel daher nicht voll-
ständig ausgeräumt werden.
Ich begrüße ausdrücklich, dass nach Angaben des
Bundesministers der Finanzen die Erhöhung der Aus-
leihkapazitäten der EFSF für Deutschland auf 211 Mil-
liarden Euro beschränkt ist. Die Befassung des Bundes-
tages bzw. in bestimmten Fällen des Haushaltsaus-
schusses im Falle jedweder Änderung oder Erweiterung
der EFSF ist für mich Grundlage meiner Zustimmung;
dieses gilt insbesondere auch für den Ausschluss der so-
genannten Hebelwirkung.
Auch das Bewusstsein, dass es, falls heute keine
Mehrheit aus der Koalition zustande kommt, zu noch
stärkeren Unsicherheiten für die Märkte kommen wird,
ist ausschlaggebend für mein Abstimmungsverhalten.
Die Kapitalmärkte würden entsprechend negativ reagie-
ren und die Bemühungen zur Stabilisierung somit kon-
terkarieren. Auch mit Blick auf die europäischen Nach-
barn und die Partner in der Welt ist es für Deutschland
mit dem Ziel eines stabilen Euro wichtig, ein Zeichen für
eine geschlossene und entschlossene Koalition zu set-
zen.
Das habe ich heute ebenfalls bei meinem Abstim-
mungsverhalten zu berücksichtigen.
Aufgrund dieser Abwägung stelle ich meine persönli-
chen Bedenken und Zweifel zu den im Gesetzesvorha-
ben getroffenen Regelungen zurück und stimme den Än-
derungen an dem Gesetz zum europäischen Stabi-
lisierungsmechanismus zu.
Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Jede Krise markiert
einen Wendepunkt. Insofern kann man auch der Euro-
Schulden-Krise etwas Positives abgewinnen: Ein Weiter-
So kann es politisch nicht geben. Der vermeintlich einfa-
che Weg, Politik zu machen, indem man Schulden an-
häuft und Probleme fremdfinanziert und zinslastig vor
sich her schiebt, endet in einer Sackgasse.
Ich bin stolz darauf, dass die CSU das längst erkannt
und Bayern als erstes Bundesland Haushalte ohne Neu-
verschuldung aufgestellt hat.
Ich bin stolz darauf, dass wir im Grundgesetz eine
Schuldenbremse verankert haben. Das war richtungs-
weisend – nicht nur für den Bund, sondern für Europa.
Seither sind die Finanzkrisen allerdings dazu angetan,
uns von dem Weg abzubringen. Auch die „impliziten“
Schulden, beispielsweise die Pensionslasten, machen
mir Sorgen.
Der heutige Beschluss mag im engsten Sinne parla-
mentarischer Gepflogenheiten keine Gewissensentschei-
dung sein. Es ist aber eine Entscheidung, die mich
schwer belastet – angesichts der finanziellen Dimensio-
nen und der vielen ungeklärten Fragen. Die wiederum
wurden von der Wissenschaft nur vieldeutig und wider-
sprüchlich beantwortet. Das Orakel von Delphi wäre
hier hilfreicher gewesen.
Medien und Opposition haben ihren zweifelhaften
Beitrag dazu geleistet, die kritische Sachfrage zu einer
Machtfrage hochzustilisieren. Die Frage, ob die Koali-
tion eine eigene Mehrheit hat, ist eben minder komplex
als die vielfältigen Sachfragen, die mit der europäischen
Schuldenkrise verbunden sind.
Die Verunsicherung der Bürger durch eine mitunter
unverantwortliche Berichterstattung mancher Medien ist
Ausdruck dafür, dass die sogenannte Vierte Gewalt sich
ihrer Verantwortung für die Demokratie in unserem Staat
oft nicht bewusst ist, und das nicht einmal mit Blick auf
das Eigeninteresse der Pressefreiheit.
Diese konstruierte Machtfrage muss man heute klar
beantworten. Die rot-grün-dunkelrote Opposition bietet
eine Alternative, die ich für katastrophal halte: Die Ver-
gemeinschaftung aller europäischen Schulden über
Euro-Bonds, die Schuldnerstaaten geradezu animiert,
zulasten unserer Bonität und mit entsprechend niedrigen
Zinsen weiter Schulden zu machen. Das ist, als wolle
man einen Alkoholiker mit Freibier zur Abstinenz brin-
gen.
Die EFSF wird heute eine breite Mehrheit bekom-
men. Eine Gegenstimme ändert daran nicht nur nichts,
sie würde dagegen den Eindruck erwecken, dass wir in
einer so schwierigen Situation keinen Fonds bräuchten,
um eine neuerliche Finanzkrise zu verhindern. Eine Sa-
nierung Griechenlands halte ich persönlich für unwahr-
scheinlich. Die notwendigen Einsparungen im öffentli-
chen Bereich und der unabdingbare Reallohnverzicht
sind meines Erachtens nicht durchsetzbar. Damit brau-
chen wir die EFSF als Brandmauer, um bei einer Insol-
venz Griechenlands einen Flächenbrand zu vermeiden.
Ich habe aber trotz dieser Einsicht während der Debatte
innerhalb meiner Fraktion mit Nein gestimmt. Es gehört
zu meinen politischen Erfahrungen der letzten neun
Jahre, dass ohne diesen Druck gerade in der Europapoli-
tik demokratieferne Lösungen gesucht werden. Wer das
anzweifelt, der möge den Antrag zum Parlamentsbeteili-
gungsgesetz zum Lissabon-Vertrag der Union aus Oppo-
sitionszeiten mit dem vergleichen, was dann später in
der Regierungsphase beschlossen wurde. Das Ergebnis
ist mindestens so beschämend wie die Regelungen zur
Subsidiarität im Lissabon-Vertrag selbst. Oder die Tatsa-
che, dass wir mittlerweile das Bundesverfassungsgericht
brauchen, um das durchzusetzen, was eigentlich Ehren-
sache für das Parlament sein müsste: parlamentarische
Mitsprache. Richter zu fragen, wie weit man sich ent-
rechten lassen darf: Zeichnet das selbstbewusste, auf-
rechte Volksvertreter aus?
Die, die uns einreden wollen, Europa gehe nur mit
Demokratieverzicht, verraten die europäische Idee.
Ohne die Rückbindung europäischer Entscheidungen an
nationale Parlamente und damit an das Volk wird die ge-
niale europäische Idee scheitern. Es ist dann schon der
Gipfel der Ironie, wenn dieselben ihre Kritiker als Euro-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15433
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(D)(B)
pagegner diffamieren. Und es schadet der Sache, wenn
sie in einer kritischen (Krisen-)Phase der EU versuchen,
ihre Fantasien von den „Vereinigten Schuldenstaaten
von Europa“ zu realisieren.
Die CSU hat das Europa der Regionen in der Bayeri-
schen Verfassung verankert. Das bleibt unsere Richt-
schnur.
Für geradezu schändlich halte ich es, wenn bei Dis-
kussionen um Ausgestaltung und Vorgehen in einer
Krise nicht auf Argumente eingegangen wird, sondern
mit viel Pathos über Krieg und Frieden philosophiert
wird. Diese Ablenkungsmanöver sind durchschaubar
und Teil des Problems.
Wir waren noch immer in der Lage, ökonomische
Kriterien richtig zu beschreiben: bei der Euro-Einfüh-
rung beispielweise das Schuldenübernahmeverbot und
den Stabilitäts- und Wachstumspakt. Wider besseren
Wissens müssen diese Ansprüche aber dann offenbar im-
mer wieder angeblich höherrangigeren politischen Erwä-
gungen weichen.
Die Aufnahme Griechenlands in den Euro-Raum ist
ein klassisches Beispiel dafür. Man kann sagen: Die
Griechen haben ihre Zahlen geschönt. Aber die Gegen-
seite, allen voran die Regierung Schröder, hat die fal-
schen Zahlen doch glauben wollen. Jedenfalls kann man
den Bundestagsprotokollen von damals entnehmen, dass
CSU-Kollegen auf die Manipulation hingewiesen und
von „einem schweren Fehler“ gesprochen haben. Von
Europapathos befeuert, wollte man Griechenland im
Euro haben. Die Griechen hätten übrigens wegen ihrer
Produktivitätsdefizite, die sie nur durch die Abwertung
der Drachme hätten ausgleichen können, gut daran ge-
tan, dem Euro-Raum nicht beizutreten.
Rot-Grün hat im Nachgang auch noch den Stabilitäts-
und Wachstumspakt aufgeweicht – auch das wider bes-
seres Wissen. Ein wenig mehr Demut in der Debatte
hätte ich mir auch von dieser Seite gewünscht.
Jetzt geben wir die No-Bail-out-Regel auf, wonach
eine gegenseitige Schuldenübernahme wohlweislich
nicht infrage kommt. Das beschwert mich besonders.
Wir müssen zu einem Weg zurückfinden, der die diszi-
plinierenden Kräfte des Marktes sicherstellt. Höhere
Zinsen müssen Schuldner zum Sparen zwingen. Die
Griechen haben den Realzinsvorteil nicht für Investitio-
nen, sondern für Konsum genutzt.
Mein Anliegen ist es, das, was zu Zeiten Theo Wai-
gels richtig vereinbart wurde, zu verteidigen, insbeson-
dere dem Stabilitäts- und Wachstumspakt Geltung zu
verschaffen.
Ich werde weiter eine Insolvenzordnung für Staaten
einfordern. Die haushalterischen Eingriffsmöglichkeiten
der EU gehören in diesen Kontext. Die EU darf nur in
Funktion eines „Insolvenzverwalters“ in nationale Haus-
halte eingreifen. Alle anderen Maßnahmen zur wirt-
schafts- und finanzpolitischen Koordination bedürfen ei-
ner demokratischen Rückbindung an die nationalen
Parlamente. Sie müssen wir stärken, um das Befremden
über einsame Brüsseler Entscheidungen zu beseitigen.
Ehe wir den ESM dauerhaft installieren, müssen die
Wirkmechanismen der EFSF analysiert werden. Hier
geht Gründlichkeit vor Schnelligkeit.
Mit der heutigen Debatte ist jedenfalls sicher kein
Schlusspunkt gesetzt.
Jens Petermann (DIE LINKE): Ich stimme gemein-
sam mit meiner Fraktion gegen den erweiterten Euro-
Rettungsschirm, weil er in eklatanter Weise demokrati-
sche Prinzipien in ganz Europa verletzt.
Ich bedaure es, dass CDU/CSU, FDP, Grüne und SPD
nicht nur diesem neuen Rettungspaket für Banken und
Spekulanten zustimmen, sondern auch den Einschrän-
kungen der demokratischen Abgeordnetenrechte und der
Rechte des Bundestags im Hinblick auf die Kontrolle
des Euro-Rettungsfonds. Ich halte es in diesem Zusam-
menhang für einer Demokratie nicht würdig, dass alle
anderen Fraktionen gegen die Vorschläge der Linken ge-
stimmt haben, wenigstens den Bundestag über die Ver-
gabe der zusätzlichen Milliarden abstimmen zu lassen.
Ich stimme gegen den erweiterten Euro-Rettungs-
schirm, weil damit die Demokratie den sogenannten Fi-
nanzmärkten geopfert wird.
Ich stimme gegen den erweiterten Euro-Rettungs-
schirm, weil unüberschaubare finanzielle Risiken auf die
Bevölkerung zukommen. Mittlerweile qualifiziert selbst
die Deutsche Bank die Risiken aus den Bürgschaften des
Euro-Rettungsschirms für die Steuerzahler auf über
400 Milliarden Euro. Es ist grob fahrlässig, diesem Bün-
del aus Demokratiebabbau, Sozialkürzungen und Ban-
kenhilfe ohne Gegenleistung mit unabsehbaren finan-
ziellen Risiken die Zustimmung zu erteilen.
Ich stimme gegen den erweiterten Rettungsschirm,
weil die Euro-Krise nur durch Schließung des Spekula-
tionskasinos gelöst werden kann. Den Spekulanten muss
der Boden entzogen werden. Die Staaten müssen sich
unabhängig von den Kapitalmärkten finanzieren können,
über eine Bank für öffentliche Anleihen. Die Finanz-
märkte müssen endlich streng reguliert werden. Und die
Verursacher und Profiteure der Krise müssen zur Kasse
gebeten werden: Dies kann man durch eine EU-weite
Vermögensabgabe für Superreiche, durch eine Finanz-
transaktionsteuer und durch eine Beteiligung großer pri-
vater Gläubiger realisieren.
Mein Nein zum erweiterten Euro-Rettungsschirm ist
ein Ja zu Europa, ein Ja zur Demokratie und ein Ja zum
Primat der Politik über die Finanzmärkte.
Richard Pitterle (DIE LINKE): Bei der Abstimmung
über die Aufstockung und Ausweitung des Euro-Ret-
tungsschirms, EFSF, im Deutschen Bundestag habe ich
mit Nein gestimmt.
Auch ich bin der Überzeugung, dass Maßnahmen er-
forderlich sind, um die Staatsfinanzierung von den pri-
vaten Finanzmärkten abzukoppeln, um zu verhindern,
dass einzelne Staaten der Spekulation der Finanzmafia
ausgesetzt werden.
15434 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011
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(D)(B)
Die Einführung des Euro hatte die PDS im Bundestag
zu Recht kritisiert, weil diese nicht mit einer Wirt-
schafts- und Sozialunion verbunden war. Dennoch ist die
Erhaltung des Euro ein richtiges Ziel, weil der Euro, von
dem insbesondere die deutsche Wirtschaft profitiert hat,
inzwischen mehr als ein ökonomisches Projekt ist. Wenn
der Euro scheitert, besteht die große Gefahr, dass auch
der europäische Gedanke und das Projekt der Europäi-
schen Union massiv beschädigt werden und dies mit ei-
ner Renationalisierung der Politik einher geht. Wir brau-
chen zur Lösung der gewaltigen Probleme aber nicht
weniger, sondern mehr europäische Integration. Wir
brauchen und wollen als Linke auch gegenseitige Solida-
rität und Hilfe in Europa. Darin unterscheiden wir uns
von den Gegnern des Euro-Rettungsschirms, deren Mo-
tivation darin liegt, den anderen in Schwierigkeiten gera-
tenen Staaten die Solidarität ausdrücklich zu verweigern.
Die Politik der Bundesregierung ist darauf gerichtet,
den Europäischen Rettungsschirm nicht als Hilfe für die
Menschen auszugestalten, sondern im Ergebnis zur Ret-
tung von Banken und Versicherungen. Die Bedingungen,
die an die Inanspruchnahme der Mittel aus dem Ret-
tungsschirm geknüpft werden, sind nicht akzeptabel.
Senkung der Löhne, Renten, Entlassungen, Erhöhung
der Verbrauchsteuern, kurz massiver Sozialabbau für
breite Bevölkerungskreise, sind Gift für das wirtschaftli-
che Wachstum der betreffenden Staaten und machen die
Rückzahlung von Krediten objektiv unmöglich. Die
Banken und Gläubiger sind durch die Bürgschaft des
Rettungsschirms, für die die Steuerzahlerinnen und Steu-
erzahler haften, gegen Forderungsausfall gesichert. Die
wirklich Vermögenden in den betreffenden Ländern,
ebenso wenig wie in Deutschland, werden hingegen
nicht zur Kasse gebeten. Eine Finanztransaktionsteuer,
wird halbherzig angekündigt, aber bisher immer noch
nicht eingeführt. Mit dieser würden die Spekulanten, die
die Finanzkrise verursacht haben, endlich zur Kasse ge-
beten.
Hinzu kommt, dass ohne eine tiefgreifende und nicht
nur kosmetische Regulierung der Finanzmärkte die Ur-
sachen, die zur der Notwendigkeit des Rettungsschirms
geführt haben, weiter fortwirken und der Rettungsschirm
in Kürze von der Dimension her nicht ausreichen wird.
Dieser ungerechten Politik, die die Mehrheit der Be-
völkerung belastet und die Finanzmafia ungeschoren
lässt, kann ich nicht zustimmen, sondern kann nur mit
Nein stimmen.
Yvonne Ploetz (DIE LINKE): Gerade als Anhänge-
rin der europäischen Idee kann es für mich heute nur ein
klares Nein geben. Die von der Bundesregierung ge-
plante Erweiterung des Euro-Rettungsschirms, der soge-
nannten EFSF, geht an den anstehenden Aufgaben
schlicht vorbei. Ohne eine Lösung der gegenwärtigen
Lohnkrise wird es auch keine Lösung der Euro-Krise ge-
ben. Denn die Kanzlerin sieht nur die Oberfläche, aber
nicht die tieferliegenden Ursachen der Krise. Die
schwarz-gelbe Regierung setzt bei ihrer Euro-Politik
abermals auf das falsche Pferd – wie so häufig in den
letzten Wochen und Monaten.
Die Krise der Euro-Zone ist letztlich eine globale Ver-
teilungskrise. Jetzt rächt sich die Umverteilungspolitik
von unten nach oben, die in den letzten Jahren alle neoli-
beralen Parteien in Deutschland mitgetragen haben –
von Schwarz, Gelb über Rot und Grün. Die Lohnein-
kommen stagnieren seit geraumer Zeit weltweit, in
Deutschland sind die Realeinkommen der Mehrheit der
Menschen sogar gefallen. Nur die Vermögen einiger we-
niger sind stark angewachsen, die breite Mehrheit hat
deutlich verloren. Die Menschen reagieren darauf in der
einzig für sie möglichen Art und Weise, nämlich indem
sie ihre Nachfrage nach Konsumgütern einschränken.
Deshalb stockt die Konjunktur, deshalb stockt die Bin-
nennachfrage, deshalb spekulieren die großen Kapitalien
in einem unverhältnismäßigen Umfang, da Realinvesti-
tionen aus ihrer systemimmanenten Sicht sich nicht
mehr für sie lohnen.
Ohne eine demokratische Kontrolle des Banken- und
Finanzsektors, ohne einen enormen Anwuchs der Löhne
der „normalen Menschen“, ohne ein Ende des Lohndum-
pings und ohne eine Besteuerung der Vermögenden wird
diese Krise nicht gelöst werden können. Das Missver-
hältnis von Finanz- und Realwirtschaft kann nur gelöst
werden, wenn die Massenkaufkraft und die Massenein-
kommen wieder steigen. Aber die Regierung zeigt sich
konsequent orientierungslos. Derzeit ist es, als würden
Politiker und Politikerinnen der Regierung „Steuerbord“
oder „Backbord“ rufen, ohne zu merken, dass sie eigent-
lich in einem Zug sitzen.
Ingrid Remmers (DIE LINKE): Ich stimme gegen
dieses Gesetz, weil die Bedingungen für Länder, die
Kredite im Rahmen der EFSF in Anspruch nehmen müs-
sen, nicht akzeptabel sind und die „Rettung“ von einzel-
nen europäischen Ländern nichts als eine weitere Ban-
kenrettung mit Steuergeldern ist.
Die Schuldenkrise ist vor allem eine Folge der Ban-
kenkrise, in deren Rahmen die Verluste von privaten
Banken auf die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler ab-
gewälzt wurden – Verluste von jenen privaten Banken,
die mit Wucherzinsen für neue Staatsanleihen den
Rettungsschirm erst notwendig machen. Statt die
Finanzmärkte endlich strikt zu regulieren, Banken zu
vergesellschaften und die Staatsfinanzierung von den
Kapitalmärkten abzukoppeln, würgen radikale Kür-
zungsauflagen die Binnenkonjunktur der Krisenländer
ab.
Die Ungleichgewichte im Euro-Raum sind auch Er-
gebnis der überdimensionierten Exportorientierung der
deutschen Wirtschaft bei gleichzeitig stagnierenden Re-
allöhnen und dauerhaft hohen Exportüberschüssen. Sie
führen automatisch zu Defiziten und damit zur weiteren
Verschuldung anderer Euro-Länder. Das beste Mittel da-
gegen ist die Stärkung der Kaufkraft durch Mindest-
löhne, die der hohen Produktivität in Deutschland ange-
messen sind.
Die von der Bundesregierung geforderten Zumutun-
gen für die griechischen, irischen oder portugiesischen
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind nicht akzep-
tabel. Lohnkürzungen, radikale Verkleinerung des öf-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15435
(A) (C)
(D)(B)
fentlichen Dienstes und Privatisierungen von öffentli-
chen Gütern führen zu mehr Arbeitslosigkeit, weniger
Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen und damit
in die Rezession. Die unsägliche Neiddebatte vor allem
gegenüber Griechenland ist ein Schlag ins Gesicht all
derer, die vor, in und nach der Krise unter der hohen Ar-
beitslosigkeit und den niedrigen Löhnen in vielen Län-
dern Europas leiden.
Europa ist kein armer Kontinent – bei strikter Regu-
lierung der Finanzmärkte, einer konsequenten Verfol-
gung von Steuerhinterziehung, echter Umverteilung
durch wesentlich höhere Besteuerungen großer Vermö-
gen und Einkommen und den Verzicht auf kostspielige
Rüstungsprojekte wären die Staatshaushalte relativ ein-
fach zu sanieren. Dafür steht die Linke.
Swen Schulz (Spandau) (SPD): Ich stimme dem
Gesetzentwurf zu, möchte aber auf erhebliche Bedenken
hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit der vorgesehenen
Parlamentsbeteiligung im Rahmen des europäischen Sta-
bilisierungsmechanismus hinweisen.
Verfassungsrechtliche Bedenken bestehen meines Er-
achtens insbesondere in folgenden Punkten:
Ich halte die Übertragung der Entscheidungsbefugnis
des Plenums auf einzelne Mitglieder des Haushaltsaus-
schusses – gemäß § 3 Abs. 3 StabMechGÄndGE – für
äußerst problematisch. Die Budgethoheit liegt beim
Bundestag als Ganzem. Eine Delegation dieser Befugnis
auf den Haushaltsausschuss und noch weiter auf einige
wenige – deren Status bislang nicht geklärt ist – verhin-
dert die im Grundgesetz – Art. 38 Abs. 1 Satz 2 – garan-
tierte Beteiligung aller Abgeordneten am parlamentari-
schen Willensbildungsprozess.
Daneben sieht das StabMechGÄndGE für bestimmte
Fälle regelmäßig eine – von der Bundesregierung defi-
nierte – besondere Eilbedürftigkeit und Vertraulichkeit
vor, sodass automatisch statt dem Plenum nur einige we-
nige Abgeordnete an Entscheidungen, die zum Teil Ga-
rantien in großem Umfang betreffen, beteiligt werden.
Eine Eilbedürftigkeit oder Vertraulichkeit im Hinblick
auf Entscheidungen über vorsorgliche Maßnahmen oder
für Kredite zur Rekapitalisierung von Finanzinstituten,
wie sie das Gesetz vorsieht, halte ich für nicht zwingend
gegeben.
Darüber hinaus ist die Pflicht der Bundesregierung
zur umfassenden und frühestmöglichen Unterrichtung
des Bundestages und des Bundesrates im Grundgesetz
garantiert – Art. 23 Abs. 2 Satz 2 GG. Im StabMech-
GÄndGE – § 5 Abs. 7 – wird jedoch von „Unterrich-
tungsrechten“ gesprochen und somit impliziert, dass es
in der Hand der Bundesregierung liegt, zu entscheiden,
ob und wann sie das Parlament unterrichtet. Diese Be-
schränkung der Unterrichtung auf einzelne Abgeordnete
halte ich für verfassungswidrig.
Trotz der verfassungsrechtlichen Bedenken erscheint
mir die Zustimmung zum Gesetzentwurf zwingend, da
durch die Anpassung der Gewährleistungsermächtigung
die auch weiterhin erforderlichen Notmaßnahmen zum
Erhalt der Zahlungsfähigkeit einzelner Euro-Mitglied-
staaten, durch die die Finanzstabilität in der Währungs-
union insgesamt sichergestellt werden, ermöglicht wer-
den.
Betonen möchte ich jedoch, dass – wie im Entschlie-
ßungsantrag meiner Fraktion ausgeführt (Drucksache
17/7175) – ich die von der Regierungskoalition vorge-
legten Maßnahmen zur Bewältigung der derzeitigen
Krise zwar als erforderlich, aber nicht für hinreichend
erachte. Insbesondere sind weitere Maßnahmen zur Re-
gulierung des Finanzsektors, die Einführung einer Fi-
nanztransaktionsteuer sowie die Schaffung von wirksa-
men Wachstumsimpulsen nötig.
Ich verbinde meine Zustimmung mit der Erwartung,
dass bei der vorgesehenen Einrichtung des dauerhaften
Stabilitätsmechanismus ESM die Frage der Parlaments-
beteiligung verfassungskonform gelöst wird und die
weiteren erforderlichen Schritte zur Krisenbewältigung
gegangen werden.
Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU): Ich stimme dem
Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Übernahme von
Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabi-
lisierungsmechanismus trotz massiver sachlicher Beden-
ken zu.
Ausschlaggebend für mein Stimmverhalten sind die
verantwortungslosen Alternativen der Opposition, wel-
che die Aufgabe der deutschen Haushaltsverantwortung
bedeuten würden. Zwischen dem falschen Weg, den Peer
Steinbrück in seiner heutigen Rede dargestellt hat, und
des aus meiner Sicht noch unzureichend ausgestalteten
EFSF und einem noch unklaren ESM ist die Zustim-
mung zur Ertüchtigung des EFSF der verantwortungs-
vollere Beitrag.
Ein stabiles Europa fußt auf einem stabilen Euro.
Seine Stabilität liegt deshalb im tiefsten deutschen Inte-
resse. Die bisherigen Versuche, den Euro dauerhaft zu
stabilisieren, sind gescheitert. Der Stabilitäts- und
Wachstumspakt hat nicht dazu geführt, Verstöße gegen
Stabilitätskriterien wirkungsvoll zu sanktionieren. Auch
die im Mai 2010 vom Bundestag beschlossenen Hilfen
für Griechenland führten nicht etwa zu einer Stabilisie-
rung der Situation. Entgegen der formulierten Erwartun-
gen ist es Griechenland bis heute nicht gelungen, an den
Kapitalmarkt zurückzukehren. Griechenland wird es
auch durch die Maßnahmen, die wir einfordern, in ab-
sehbarer Zeit nicht schaffen, an die Kapitalmärkte zu-
rückzukehren. Griechenland wird nach meiner Überzeu-
gung nicht um eine Insolvenz herumkommen, und wir
müssen Griechenland hierbei helfen und die notwenigen
Mechanismen zur Verfügung stellen.
Auch die derzeitige Konstruktion des Euro-Stabilisie-
rungsfonds EFSF kann nach meiner Überzeugung auf
Dauer nicht zu der notwendigen Stabilisierung führen.
Er löst weder das Verschuldungsproblem, noch wird ein
überzeugendes Anreizsystem zur Schuldenvermeidung
in den Euro-Staaten geschaffen. Im Ergebnis ermöglicht
der EFSF neue Kreditzahlungen. Wenn das Problem in
der zu hohen Verschuldung einiger Staaten der Euro-
Zone besteht, vergrößern wir das Problem durch weitere
15436 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011
(A) (C)
(D)(B)
Garantien nur. Dieses Vorgehen verhindert das notwen-
dige Umdenken in der gesamten Euro-Zone. Der Kapi-
talmarkt wird sich nicht disziplinieren, wenn er weiß,
dass jedes Land stets gerettet wird. Ein Rettungsschirm
darf daher nur zwei Auswege kennen: erfolgreiche Sa-
nierung oder Insolvenz. Die Insolvenz Griechenlands ist
faktisch sogar schon im Gange.
Sollte für eine erfolgreiche Sanierung Griechenlands
ein Schuldenschnitt unvermeidlich sein, muss ein Ret-
tungsschirm die Kapitalisierung der Banken sicherstel-
len, um Ansteckungsgefahren zu minimieren. Um diese
Kapitalisierung zu gewährleisten, ist allerdings heute
schon absehbar, dass der Umfang des EFSF zu klein ist.
Für meine heutige Abstimmung ist aber maßgeblich,
dass wir besser einen Rettungsschirm haben, der
440 Milliarden Euro aktivieren kann, als gar keinen Ret-
tungsschirm; denn nach meiner Meinung wird die grie-
chische Umschuldung sehr zeitnah kommen.
Mit meiner Zustimmung zur Ertüchtigung des EFSF
möchte ich den Weg eröffnen, dass wir zügig über die
richtige Konstruktion des ESM nachdenken. Nur durch
ein geschlossenes Auftreten des Deutschen Bundestages
haben wir die nötige Durchsetzungskraft, in Europa für
unsere Position der Stabilität zu werben. Aus diesem
Grund stimme ich der Ertüchtigung des EFSF trotz der
aufgeführten Bedenken und großer Sorge um Europa zu.
Raju Sharma (DIE LINKE): Ich habe dem Euro-Ret-
tungsschirm EFSF heute meine Zustimmung verweigert,
denn er stellt keine sinnvolle Lösung zur dauerhaften
Beseitigung der Euro-Krise dar. Stattdessen ist der Euro-
Schutzschirm eine Maßnahme, die dem privaten Ban-
kensektor einseitig Vorteile zulasten aller Bürgerinnen
und Bürger zukommen lässt.
Deutsche Banken gehören zu den größten Gläubigern
der Mitgliedstaaten der Union, bei denen Zahlungs-
schwierigkeiten bestehen oder erwartet werden. Im Falle
Griechenlands sind es 23 Milliarden Euro, die deutsche
Banken an Forderungen in den Büchern stehen haben.
Im Falle Portugals sind es 34 Milliarden Euro. Nachdem
diese Banken jahrzehntelang gute Gewinne mit Staatsan-
leihen gemacht haben, sollen nun – geht es nach der
Bundesregierung – die Bürgerinnen und Bürger für das
Kreditrisiko der Banken haften. Dabei haben die Banken
ihre Praxis weder nach dem Platzen der Dotcom-Blase
vor zehn Jahren noch nach der Erfahrung Finanzkrise
des Jahres 2009 geändert. Sie zocken an den Börsen und
belohnen kurzfristige Profite mit hohen Boni. Den Steu-
erzahlerinnen und Steuerzahlern darf diese Haftung
nicht aufgebürdet werden.
Die Bundesregierung setzte unabhängig davon, ob sie
von Union, FDP, SPD oder Grünen gebildet wurde, da-
rauf, Märkte radikal zu deregulieren und nahm die Risi-
ken billigend in Kauf. Während die Gewinne in privater
Hand blieben, mussten und müssen Verluste von der All-
gemeinheit getragen werden. Wir müssen dieses Schema
endlich durchbrechen und für eine Stärkung der Europäi-
schen Idee streiten, die ein gemeinsames Europa nicht
als Spielplatz ohne Regeln für die Finanzwirtschaft
sieht, sondern vielmehr auf eine gemeinsame Wirt-
schafts- und Sozialpolitik setzt, die diesen Namen ver-
dient und den Ursachen der Krise grundlegend entgegen-
wirkt. Die Vorschläge der Bundesregierung sind dazu
gänzlich ungeeignet.
Thomas Silberhorn (CDU/CSU): Der Euro ist un-
sere gemeinsame Währung. Seine Stabilität zu sichern,
liegt im deutschen und europäischen Interesse. Gerade
unser Land als Exportnation profitiert von einem stabi-
len Euro. Die Europäische Union gewinnt durch die Ge-
meinschaftswährung an internationalem Gewicht. Die
gegenwärtige Schuldenkrise einzelner Euro-Staaten
muss daher so bekämpft werden, dass die Europäische
Wirtschafts- und Währungsunion als Ganzes gestärkt da-
raus hervorgehen kann.
Vor diesem Hintergrund ist es nicht gegen die euro-
päische Integration gerichtet, wenn ich der Aufstockung
und Erweiterung der Europäischen Finanzstabilisie-
rungsfazilität nicht zustimmen kann. Im Gegenteil: Eine
Gefährdung des Integrationsprojekts ist dann zu befürch-
ten, wenn die Bemühungen zur Stabilisierung des Euro
nicht den erhofften Erfolg zeitigen, weil dadurch das
Vertrauen in die Staaten der Euro-Zone geschwächt
würde. Schon heute ist absehbar, dass die Europäische
Finanzstabilisierungsfazilität auch nach der Änderung
des Rahmenvertrags nicht ausreichend wirksam sein
kann, um die Euro-Zone zu stabilisieren. Es muss daher
alles daran gesetzt werden, dauerhaft tragfähige Lösun-
gen für die europäische Staatsschuldenkrise zu entwi-
ckeln.
Mit der Errichtung der Wirtschafts- und Währungs-
union wurden die Grundlagen für die Geldwertstabilität
des Euro gelegt: der Stabilitäts- und Wachstumspakt, die
Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank und das
Verbot der Schuldenübernahme. Doch wie vielfache,
stets sanktionslose Verstöße gegen den Stabilitäts- und
Wachstumspakt zeigen, haben die Euro-Staaten die vor-
handenen Instrumente zur Koordinierung der Wirtschafts-
und Finanzpolitik – unter deutscher Mitwirkung – ausge-
höhlt. Im Zuge der Schuldenkrise hat die Europäische
Zentralbank durch den Ankauf von Staatsanleihen auf
dem Sekundärmarkt ihre geldpolitischen Kompetenzen
weit überdehnt und den Weg zur Vergemeinschaftung
nationaler Schulden beschritten. Mit der Übernahme von
Gewährleistungen für verschuldete Staaten haben die
Euro-Mitglieder die Sozialisierung privater Verluste in
Kauf genommen und das Verbot der Schuldenübernahme
de facto ausgehebelt.
Dennoch wende ich mich nicht generell gegen Finanz-
hilfen. Dem ersten Hilfsprogramm für Griechenland habe
ich ebenso zugestimmt wie der Errichtung der Europäi-
schen Finanzstabilisierungsfazilität als befristetem Ret-
tungsschirm. In Notfällen können Finanzhilfen durchaus
dazu beitragen, die Stabilität der Euro-Zone als Ganzes zu
wahren, sofern sie als letztes Mittel – Ultima Ratio – unter
strikten Auflagen und zeitlich befristet gewährt werden.
Der dadurch erkaufte Zeitgewinn muss jedoch genutzt
werden – können –, um die Ursachen der Schuldenkrise
zu beheben, also um die Staatsverschuldung abzubauen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15437
(A) (C)
(D)(B)
und die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft wiederher-
zustellen.
Die Solidarität mit unseren europäischen Partnern
stelle ich daher nicht infrage. Doch Hilfe darf nicht gren-
zenlos gewährt werden. Sie muss zum Ziel haben, dass
ein verschuldeter Mitgliedstaat der Euro-Zone zu einer
eigenverantwortlichen Finanz- und Wirtschaftspolitik
zurückfindet. Handeln und Haften müssen wieder zu-
sammengeführt werden. Werden Finanzhilfen unter Kon-
ditionen vergeben, dann darf es nicht folgenlos bleiben,
wenn vereinbarte Sanierungsziele nicht erreicht werden.
Hier darf die Grenze von temporären Liquiditätshilfen zu
dauerhaften Transferleistungen nicht überschritten wer-
den. Andernfalls würde ein europäischer Finanzaus-
gleich geschaffen, der keinerlei Anreiz zur Lösung der
Staatsschuldenkrise böte. Stattdessen würde die Ver-
schuldung noch vergrößert und auf andere Euro-Staaten
sowie nachfolgende Generationen abgewälzt.
Der Konstruktionsfehler der Europäischen Finanzsta-
bilisierungsfazilität liegt darin, dass dieser Rettungs-
schirm einseitig auf die Gewährung von Finanzhilfen
ausgerichtet ist. Solange aber die politische Zielsetzung
aufrechterhalten bleibt, den Zahlungsausfall eines Euro-
Mitglieds unter allen Umständen zu vermeiden, wird In-
vestoren die Möglichkeit eröffnet, weiter gegen einzelne
Staaten der Euro-Zone zu wetten, weil das Risiko sol-
cher Wetten die Steuerzahler tragen. Der Rettungsschirm
setzt damit eine Ursache für spekulative Attacken gegen
Euro-Staaten.
Das Kalkül solcher Investoren muss gezielt durch-
kreuzt werden, damit die Staaten nicht zum Spielball der
Finanzmärkte werden. Andernfalls droht der Dominoef-
fekt, dass immer mehr Mitglieder der Euro-Zone unter
den Rettungsschirm flüchten müssen – und wegen der
niedrigeren Kreditzinsen auch flüchten wollen. Im Ge-
genzug setzen die Geberländer – und in letzter Konse-
quenz die Europäische Finanzstabilisierungsfazilität
selbst – ihre eigene Bonität aufs Spiel. Der politische
Preis dieses „Euro-Rettungswesens“ wird sehr hoch sein:
Die Empfängerländer werden auf Jahre hinaus ihre poli-
tische Handlungsfreiheit weitgehend verlieren. Den Ge-
berländern droht die finanzielle Überforderung.
Die Staaten der Europäischen Wirtschafts- und Wäh-
rungsunion müssen ihre Gestaltungshoheit wahrnehmen
und ihre Handlungsfähigkeit wiedergewinnen. Das erfor-
dert zum Einen eine Regulierung der Finanzmärkte, die
deren dienende Funktion für die volkswirtschaftliche
Wertschöpfung zum Tragen bringt. Zum anderen müssen
Leistungsbilanzdefizite innerhalb der Euro-Zone redu-
ziert werden, indem die nationalen Haushalte entschuldet
und wettbewerbsfähige Wirtschafts- und Verwaltungs-
strukturen geschaffen werden.
Ziel muss es sein, unter den Euro-Staaten eine gemein-
same Stabilitätskultur zu entwickeln, die im Vertrag von
Maastricht angelegt ist, zu der bislang aber der politische
Wille gefehlt hat. Dazu gehört die Reform des Stabilitäts-
und Wachstumspakts mit früheren und schärferen Sank-
tionen bei Regelverstößen, deren Ahndung allerdings
politischem Ermessen entzogen werden muss. Des Wei-
teren ist die Unabhängigkeit der Europäischen Zentral-
bank wiederherzustellen, indem der Ankauf von Staats-
anleihen beendet wird. Schließlich ist das Verbot der
Schuldenübernahme aufrechtzuerhalten, indem eine Re-
strukturierung überschuldeter Staaten ermöglicht wird.
Ein Sanierungsverfahren für überschuldete Staaten ist
unverzichtbar, um die Gewährung von Finanzhilfen zu
begrenzen und eine Überforderung der Geberländer zu
vermeiden. Gerade wer vor den Ansteckungsgefahren ei-
nes unkontrollierten Zahlungsausfalls warnt, muss ein
Verfahren kontrollierter Sanierung schaffen, das rechtzei-
tig vor einem Zahlungsausfall eingeleitet werden kann.
Ein solches Sanierungsverfahren muss einen Schulden-
schnitt einschließlich der zwingenden Haftung aller Gläu-
biger für die von ihnen bewusst eingegangenen Risiken,
die Rekapitalisierung von Banken und ein Programm für
den Wiederaufbau beinhalten. Die Feststellung mangeln-
der Schuldentragfähigkeit ist ohne politisches Ermessen
ausschließlich anhand objektiv nachprüfbarer Kriterien
zu treffen. Schließlich muss im Rahmen dieses Sanie-
rungsverfahrens – gewissermaßen als letzter denkbarer
Schritt zur Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit –
die Mitgliedschaft des überschuldeten Staates in der
Euro-Zone zeitweise ausgesetzt werden können, um die-
sem eine Abwertung zu ermöglichen.
Ich bin mir darüber im Klaren, dass eine solche Vorge-
hensweise nicht nur die sofortige Realisierung von Ver-
lusten mit sich bringt, sondern zusätzlich den Einsatz er-
heblicher finanzieller Mittel erfordert. Doch nachdem es
eine günstige Lösung ohnehin nicht gibt, ist die schiere
Größe der Garantiesumme und des Ausleihvolumens des
Rettungsschirms sowie des deutschen Haftungsanteils
zwar von hoher Bedeutung, aber nicht entscheidend.
Vielmehr kommt es maßgeblich darauf an, dass die Be-
mühungen zur Stabilisierung des Euro – wenn sie denn
schon enorme Anstrengungen erfordern – tatsächlich
greifen und nicht erneut von der Wirklichkeit überholt
werden.
Eine nachhaltige Lösung der europäischen Staats-
schuldenkrise erfordert Solidarität unter allen Mitglied-
staaten der Europäischen Union, namentlich unter den
Mitgliedern der Europäischen Wirtschafts- und Wäh-
rungsunion. Notmaßnahmen dürfen jedoch nicht die Ret-
ter selbst in Not bringen, sondern müssen Hilfe zur
Selbsthilfe bleiben. Die verschuldeten Staaten müssen
mit vereinten Kräften in die Lage versetzt werden, zu ei-
genverantwortlichem Handeln zurückzukehren. Die vor-
geschlagene Erweiterung und Aufstockung der Europäi-
schen Finanzstabilisierungsfazilität geht darüber weit
hinaus, weil sie keine wirksame Begrenzung von Finanz-
hilfen ermöglicht, sondern Anreize zur Sozialisierung
privater Verluste und zur Vergemeinschaftung nationaler
Schulden setzt. Dies kann ich nicht mitverantworten. Die
wirtschafts- und finanzpolitische Handlungsfähigkeit der
verschuldeten Staaten muss wiederhergestellt werden,
wenn die Stabilität des Euro dauerhaft erhalten bleiben
soll.
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Dem Gesetz, mit dem für Notmaßnahmen zu-
gunsten eines Mitgliedstaates des Euro-Währungs-
15438 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011
(A) (C)
(D)(B)
gebiets Gewährleistungen bis zur Höhe von insgesamt
211 Milliarden Euro übernommen werden können,
stimme ich nicht zu. Ich stimme mit Nein.
Auch ich will der griechischen Bevölkerung helfen,
aus der Krise zu kommen. Auch ich bin deshalb grund-
sätzlich für die Verstärkung des Rettungsschirms, EFSF,
durch weitere Milliarden. Lieber wäre mir ein drasti-
scher Schuldenschnitt oder eine geregelte Insolvenz, die
so gesteuert werden könnte, dass der sozial und einkom-
mensmäßig schwächere Teil der Bevölkerung Griechen-
lands nicht die Hauptlast trägt. Aber dafür fehlen noch
die Regeln im EU-Währungsraum. Eine solche Rege-
lung für eine Staatsinsolvenz muss dringend geschaffen
werden. Aber solange es sie nicht gibt, bleibt nur die
Hoffnung auf die Wirksamkeit des Rettungsschirmes,
wenn auch die Hoffnung sehr trügerisch ist und mit wei-
teren finanziellen Nachschüssen in Milliardenhöhe ge-
rechnet werden muss.
Der jetzt eingeschlagene Weg birgt allerdings Risiken
für das europäische Währungssystem, die schon jetzt
kaum noch zu verantworten sind.
Der wesentliche Grund für meine Nichtzustimmung
ist die mangelhafte parlamentarische Kontrolle, die das
Gesetz vorsieht.
Zwar sieht es vor, dass die Bundesregierung einem
EU-Beschluss, der die „haushaltspolitische Gesamtver-
antwortung des Bundestages“ berührt, nur zustimmen
darf, wenn der Bundestag vorher zustimmt. Und diese
haushaltspolitische Gesamtverantwortung sei berührt bei
Abschluss einer Vereinbarung über eine Notmaßnahme,
wesentlicher Änderung einer solchen, Änderungen des
EFSF-Rahmenvertrages und bei der Überführung von
Teilen daraus in den dauerhaften Europäischen Stabili-
tätsmechanismus – ESM.
Aber bei besonderer Eilbedürftigkeit oder Vertrau-
lichkeit sollen dem Gesetz zufolge die Rechte des ge-
samten Bundestages von nur wenigen Abgeordneten
wahrgenommen werden dürfen – höchstens neun. Die
Mitglieder dieses Geheimgremiums werden über die er-
haltenen Informationen niemandem berichten dürfen,
nicht einmal ihrem Fraktionsvorsitzenden.
Ich befürchte, dies wird nicht Ausnahme, sondern die
Regel werden. Dann bleibt im Regelfall der Bundestag
außen vor. Denn eilbedürftig sind Notmaßnahmen stets;
jedenfalls wird die Bundesregierung sich darauf berufen.
Und Vertraulichkeit macht diese Bundesregierung eben-
falls sehr häufig geltend; damit habe ich bereits reichlich
schlechte Erfahrungen gemacht.
Mit vielen parlamentarischen Anfragen in den ver-
gangenen Jahren wollte ich zum Beispiel erfahren, zu
welchen Bedingungen Kredite, Bürgschaften oder Ga-
rantien in Milliardenhöhe für notleidende Banken gege-
ben wurden und wie hohe Vergütungen sowie Boni de-
ren Manager erhielten. Daraufhin berief sich die
Bundesregierung dann regelmäßig auf eben solche Ver-
traulichkeit wegen Geschäfts- bzw. Betriebsgeheimnis-
sen der Banken und verweigerte die Antwort.
Ich fürchte, ebenso wird die Bundesregierung auch in
Zukunft begründen, dass Maßnahmen zur Euro-Rettung
„vertraulich“ seien, sodass der Bundestag nicht beteiligt
werden könne.
Nach dem Gesetz soll allein die Bundesregierung die
„Eilbedürftigkeit“ oder „Vertraulichkeit“ festlegen. Das
Geheimgremium kann zwar widersprechen, aber nur mit
Mehrheit, also nur wenn die Abgeordneten mitmachen,
welche die Regierung tragen.
Wenn es um vorsorgliche Notmaßnahmen geht oder
um Kredite zur Rekapitalisierung von Banken oder An-
kauf von Staatsanleihen, sind diese regelmäßig eilbe-
dürftig oder vertraulich. Ausgenommen sind nur Ände-
rungen des Rahmenvertrages, Überführung in ESM oder
der erstmalige Antrag eines Mitgliedstaates. Wenn es um
weniger wichtige Entscheidungen geht, muss der Haus-
haltsausschuss zustimmen. Aber auch dies kann ersetzt
werden durch Zustimmung des Geheimgremiums, wenn
die Bundesregierung Eilbedürftigkeit oder Vertraulich-
keit reklamiert.
Damit wird das Haushaltsrecht des Parlaments weit-
gehend abgeschafft und auf ein Rumpfparlament über-
tragen : und zwar für Beträge in jeder Höhe, selbst wenn
diese größer sind als der gesamte Bundeshaushalt eines
Jahres.
Das will ich mir als Bundestagsabgeordneter nicht ge-
fallen lassen.
Schlimmer noch, außer meinem Entscheidungsrecht
soll selbst mein Recht auf Information und Unterrich-
tung darüber, was mit dem Geld der Steuerzahler ge-
schieht, beschränkt werden können: in Fällen behaupte-
ter besonderer Vertraulichkeit, solange die Gründe dafür
angeblich fortbestehen. Das kann Jahre dauern.
So etwas geht überhaupt nicht. Wie soll ich dann
mein Kontrollrecht wahrnehmen? Es ist doch das Geld
der Bürgerinnen und Bürger, um das ich mich sorgen
soll. Das ist eine meiner wichtigsten Aufgaben als Abge-
ordneter. Wie soll das gehen und wie soll ich diese Auf-
gabe wahrnehmen können, wenn ich nichts erfahre?
Es gäbe doch durchaus die Möglichkeit, alle Abge-
ordneten vertraulich wenigstens zu unterrichten.
Ich will nicht, dass ich und 98 Prozent der Abgeord-
neten unwissend gehalten werden können und außen vor
bleiben, wenn für den Gesamtstaat sowie alle Bürgerin-
nen und Bürger existenzielle Entscheidungen getroffen
werden. Die Finanzmärkte sind nicht das Maß aller
Dinge. Nach ihnen darf sich nicht richten, was die Ver-
treter des ganzen Volkes wissen und entscheiden dürfen.
Dagegen stimme ich.
Sabine Stüber (DIE LINKE): Ich stimme dem Ge-
setz zur Änderung des Gesetzes zur Übernahme von Ge-
währleistungen im Rahmen eines europäischen Stabili-
sierungsmechanismus aus zwei Gründen nicht zu:
Erstens. Die Aufstockung der Mittel des Stabilisie-
rungsfonds ist im Ergebnis eine Unterstützung der Ban-
ken, der Finanzinstitute und der Reichen. Im Haftungs-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15439
(A) (C)
(D)(B)
fall werden die entstehenden Lasten aber von der großen
Mehrheit der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler zu tra-
gen sein. Es ist dann auch eine Kürzung von Renten und
anderen Sozialleistungen zu befürchten. Die Bundesre-
gierung ist jedenfalls nicht bereit, für die gegenwärtigen
Sozialstandards eine Garantieerklärung abzugeben. Des-
halb lehne ich das Gesetz ab.
Den Menschen in den Ländern, die Gelder aus dem
europäischen Rettungsfonds erhalten, wird nicht wirk-
lich geholfen: Die strengen Sparauflagen, mit denen die
„Hilfe“ für diese Länder verbunden ist, treffen dort vor
allem die Geringverdienenden, die Rentnerinnen und
Rentner. Deshalb wird die Binnennachfrage zurückge-
hen. Wirtschaftswachstum und Steuereinnahmen sinken.
Damit wird die Fähigkeit zur Rückzahlung der gewähr-
ten Kredite immer weiter eingeschränkt. Das zeigt die
Entwicklung in Griechenland jetzt schon. Auch deshalb
stimme ich dem Gesetz nicht zu.
Wir wollen stattdessen die Regulierung der Finanz-
märkte, die Beteiligung der Reichen mit riesigem Ver-
mögen an der Schuldentilgung und eine konstruktive
Unterstützung für die wirtschaftliche Entwicklung in
Griechenland und anderen betroffenen Ländern.
Zweitens. Ich lehne das Gesetz auch deshalb ab, weil
es die demokratisch-parlamentarische Kontrolle des
Bundeshaushalts untergräbt. Im Rahmen des Euro-Kri-
senfonds, EFSF, werden Entscheidungen getroffen, die
Auswirkungen für spätere Generationen haben. Die de-
mokratische Kontrolle kann nur funktionieren, wenn
Unterrichtungen und Entscheidungen durch den zustän-
digen Fachausschuss, den Haushaltsausschusses, vorbe-
reitet werden. Es ist auch nicht mit demokratischen
Grundsätzen vereinbar wenn wichtige parlamentarische
Entscheidungen an ein kleines Sondergremium delegiert
werden. Mit dem Gesetz beugt sich der Bundestag dem
Diktat der Finanzmärkte.
Auch deshalb sage ich Nein zu diesem Gesetz.
Alexander Süßmair (DIE LINKE): Ich lehne die
Aufstockung und Ausweitung der Europäischen Finanz-
stabilisierungsfazilität, EFSF, ab, denn damit wird ein
marktradikales und gescheitertes Krisenmanagement
fortgesetzt, das die soziale und wirtschaftliche Spaltung
der Euro-Zone und der EU weiter vertieft.
Die an die „Hilfskredite“ aus dem Rettungsschirm ge-
knüpften radikalen Kürzungsauflagen würgten die Bin-
nenkonjunktur der Krisenländer ab, verhinderten eine
nachhaltige Erholung der Wirtschaft und verschärften
die Schuldenkrise. Die Finanzmärkte wurden dadurch
nicht „beruhigt“; es wird weiter gegen Krisenstaaten
spekuliert. Bereits jetzt gehen Expertinnen und Experten
sowie Finanzmarktakteure davon aus, dass auch die auf-
gestockte EFSF nicht ausreichen wird!
Ich lehne den erweiterten Euro-Rettungsschirm ab,
denn anstatt die Konsequenzen aus der gescheiterten
marktradikalen Politik zu ziehen, wird der Kurs fortge-
setzt. In den Krisenländern bezahlen Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer, Rentnerinnen und Rentner, Schüle-
rinnen und Schüler, Studenteninnen und Studenten, Er-
werbslose und sozial Benachteiligte mit dem größten So-
zialabbau der europäischen Nachkriegsgeschichte dafür,
dass private Banken weiter spekulieren können. Damit
wird die Agenda 2010 mit ihrem Sozialkahlschlag,
Lohndumping und ihrer kurzsichtigen Fixierung auf den
Export, nach Deutschland nun in Europa installiert.
In Deutschland werden die Steuerzahlerinnen und
Steuerzahler für die milliardenschweren Garantien in
Haftung genommen. Solange die Finanzmärkte nicht
strikt reguliert, Banken nicht vergesellschaftet und die
Staatsfinanzierung nicht von den Kapitalmärkten abge-
koppelt wird, ist die Krise nicht unter Kontrolle zu brin-
gen.
Diese Politik ist ungerecht, weil sie die Umverteilung
von unten nach oben beschleunigt und so eine zentrale
Krisenursache fortschreibt. Sie ist ökonomisch gefähr-
lich, weil die Spardiktate eine ökonomische Belebung
der Krisenländer verhindern und keine effektiven Maß-
nahmen zur Überwindung der wirtschaftlichen Un-
gleichgewichte in der Euro-Zone und der EU vorgesehen
sind.
Sie gefährdet zunehmend die europäische Integration:
Rechtspopulistische Parteien, die die Ängste und die
Wut der Menschen gegen Spardiktate in europafeindli-
che und nationalistische Propaganda kanalisieren, sind
in vielen Ländern auf dem Vormarsch. Das gemeinsame
Projekt eines vereinten und friedlichen Europas befindet
sich durch diese Politik des grenzenlosen Kapitalismus
in höchster Gefahr. Die Parlamente werden entmachtet
und eine europäische „Wirtschaftsdiktatur“ errichtet.
Die EU wurde von Anfang an nur im Interesse der
Wirtschaft und Vermögenden gestaltet und nicht als ein
Europa für alle Menschen. Meine Solidarität gilt den
Menschen und nicht Banken oder Kapitalanlegern. Das
europäische Projekt hat nur dann eine Zukunft, wenn es
sozial, solidarisch, friedlich und demokratisch gestaltet
wird. Dafür trete ich als demokratischer Sozialist ein. Da
die „Euro-Rettung“ in genau die entgegengesetzte Rich-
tung weist, kann Ich als Pro-Europäer nicht zustimmen.
Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Ich lehne das
Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Übernahme von
Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabi-
lisierungsmechanismus aus folgenden Gründen ab:
Als Abgeordnete der Linken bin ich proeuropäisch,
denn ich will eine soziale und solidarische europäische
Gemeinschaft. Doch diesem Ziel wird der erweiterte
Rettungsschirm nicht gerecht. Der Rettungsschirm lässt
insbesondere die Bevölkerung von Europa im Regen ste-
hen, denn sie soll für die Krise zahlen, nicht deren Verur-
sacher und Profiteure. Damit vertieft er die soziale und
wirtschaftliche Spaltung in der europäischen Gemein-
schaft, statt sie sozial, ökologisch und wirtschaftlich zu
einen.
Die Ursachen der Krisen, vor allem die hochspekula-
tiven, entfesselten Finanzmärkte werden mit ihm nicht
beseitigt, sondern fortgeschrieben. Um Profite von Ban-
ken, Versicherungen und Spekulationsgewinne zu si-
chern, werden weiter Milliarden Steuergelder verbrannt.
15440 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011
(A) (C)
(D)(B)
In den Krisenländern müssen dafür die Arbeiterinnen
und Arbeiter, Angestellte, Rentnerinnen und Rentner
Lohn- und Rentenkürzungen und den größten Sozialab-
bau der europäischen Nachkriegsgeschichte hinnehmen.
Auch in Deutschland haften die Steuerzahlerinnen und
Steuerzahler für die milliardenschweren Garantien.
Die Alternativen zu diesem schwarz-gelben Rettungs-
schirm liegen längst auf dem Tisch. Die Ursachen der
Krise müssen bekämpft werden – und zwar europaweit.
Ohne wirksame Regulierung des Finanzmarktes wird es
nicht gehen. Schädliche Finanzinstrumente wie Leerver-
käufe und hochspekulative Strukturen wie Hedgefonds
oder Schattenbanken gehören verboten. Zur Sicherung
einer finanzunabhängigen Staatsfinanzierung sollte eine
europäische Bank für öffentliche Anleihen errichtet wer-
den.
Das europäische Projekt hat nur eine Zukunft, wenn
es demokratisch, sozial gerecht und wirtschaftlich ge-
recht gestaltet wird. Dazu braucht es dringend ein euro-
päisches Konjunkturprogramm und eine koordinierte
Wirtschafts- und Sozialpolitik innerhalb der EU. Der er-
weitere Euro-Rettungsschirm zielt in die entgegenge-
setzte Richtung und gefährdet so das Projekt Europa. Ein
so untaugliches Gesetz muss ich ablehnen.
Alexander Ulrich (DIE LINKE): Ja zu Europa heißt
für mich ganz klar: Nein zur Ausweitung und Aufsto-
ckung des Rettungsschirms. Daher habe ich heute gegen
die Erweiterung des Euro-Rettungsschirms gestimmt.
Der Rettungsschirm rettet nicht den Euro, er rettet
nicht die EU – er rettet Banken und Spekulanten.
Bezahlen müssen hierfür die Beschäftigten: die Be-
schäftigten hier, die einen Großteil der Steuergelder zah-
len, und die Beschäftigten in Griechenland, Irland und
Portugal, die unter sozial verheerenden und ökonomisch
völlig unsinnigen Kürzungsprogrammen leiden, die
durch den Rettungsschirm diktiert werden.
Steuergelder für Bankprofite – nicht mit uns!
Ich habe gegen den ausgeweiteten Euro-Rettungs-
schirm gestimmt, weil ich glaube, dass die EU nur auf
anderen Wegen aus der Krise herauskommt: Die Verur-
sacher und Profiteure der Krise müssen zur Kasse gebe-
ten werden, die Spekulanten müssen an die Kette gelegt
werden und die Banken unter öffentliche Kontrolle. Wir
brauchen eine Finanztransaktionsteuer, eine europaweite
Vermögensabgabe und eine wirkliche Bankenabgabe.
Die EU kann nur gerettet werden, wenn sie zu einem
Projekt für sozialen Frieden wird. Dazu muss die Lage
der Beschäftigten und der sozial Schwachen in der ge-
samten EU verbessert werden. Damit müssen wir in
Deutschland anfangen: Weg mit Hartz IV, her mit dem
gesetzlichen Mindestlohn! Auf diese Weise bauen wir
die hohen Exportüberschüsse ab und setzen so an den
Ursachen der Krise an. Ein EU-weites Investitionspro-
gramm und eine stärkere, sozial ausgerichtete Politik-
koordination sollen den sozial-ökologischen Umbau in
der EU vorantreiben.
Europa muss sozial sein, oder es wird nicht sein.
Arnold Vaatz (CDU/CSU): Der Haushaltsausschuss
hat in seiner Beschlussempfehlung vom 22. September
2011 – Drucksache 17/7067 – den Mitgliedern des Deut-
schen Bundestages empfohlen, den Antrag der Fraktio-
nen CDU/CSU und FDP „Entwurf eines Gesetzes zur
Änderung des Gesetzes zur Übernahme von Gewährleis-
tungen im Rahmen eines europäischen Stabilisierungs-
mechanismus“ – Drucksache 17/6916 – in geänderter
Fassung anzunehmen. Ich folge dieser Empfehlung.
Meine Zustimmung zur vorgenannten Beschlussemp-
fehlung verknüpfe ich mit folgender persönlicher Erklä-
rung:
Die Ertüchtigung und Flexibilisierung der Europäi-
schen Finanzstabilisierungsfazilität – EFSF – ist zwar
notwendig, um die konkrete Gefahr einer ungeordneten
Insolvenz Griechenlands und die möglichen Zuspitzun-
gen von Zahlungsschwierigkeiten auch anderer Krisen-
länder ohne weitere Anleihekäufe durch die Europäische
Zentralbank – EZB – zu gewährleisten. Diese Befugnis-
erweiterung reicht aber nicht aus, um die Krise dauerhaft
einzudämmen.
Die Unabhängigkeit der EZB ist gegeben. Dennoch
kam es – und kommt es noch immer – zu Anleihekäufen
durch die EZB, die dadurch bereits beträchtliche Risiken
in ihre Bücher genommen hat. Es ist sehr zweifelhaft, ob
die EZB dafür die notwendige Legitimation besitzt, da
letztlich die einzelnen Nationalstaaten entsprechend ih-
rer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit dafür haften. Die
Gefahr besteht, dass die EZB auch nach Ertüchtigung
der EFSF an ihrer Politik festhält und dass sich dieser
ordnungspolitische Sündenfall insbesondere auf Kosten
Deutschlands perpetuiert. Daher ist es zwingend not-
wendig, der EZB die Grundlage für weitere Anleihe-
käufe zu entziehen, ohne ihre Unabhängigkeit anzutas-
ten. Dies sollte durch zweierlei Maßnahmen geschehen:
Die Zielformulierung der Zentralbankpolitik muss
sich ausschließlich auf die Gewährleistung der Preissta-
bilität reduzieren. Die Erfolgsgeschichte der Deutschen
Bundesbank lässt sich insbesondere darauf zurückfüh-
ren.
Die Stimmrechte im EZB-Zentralbankrat sind nach
Kapitalanteilen zu gewichten. Andernfalls besteht wei-
terhin die Gefahr, dass die Länder, die insbesondere für
risikoreiche Anleihen haften, von kleineren Ländern
überstimmt werden und weiterhin Risiken auf Deutsch-
land und andere kapitalstarke Staaten abgewälzt werden.
Beides macht eine Änderung der Satzung der EZB
dringend erforderlich.
Zudem sind mögliche Regeln einer geordneten Insol-
venz eines Staates auszuloten. Diese müssen einen auto-
matischen Schuldenschnitt unter Beteiligung privater
Gläubiger beinhalten, sobald ein Staat über eine be-
stimmte Zeit hinaus nicht in der Lage ist, seine Schulden
zu bedienen.
Den derzeitigen Gefahren für die Realwirtschaft, die
mit möglichen Insolvenzen von Banken einhergehen,
müssen wir entschieden entgegentreten. Kurzfristig
sollte das durch höhere Eigenkapitalquoten geschehen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15441
(A) (C)
(D)(B)
Mittelfristig ist es notwendig, sogenannte systemrele-
vante Banken in kleinere Institute zu zerschlagen, sodass
diese einzeln insolvent gehen können, ohne die gesamte
Realwirtschaft mitzureißen.
Diese Forderungen stellen nichts anderes als eine
Rückkehr zu grundlegenden Prinzipien der Begründer
der Sozialen Marktwirtschaft dar. Insbesondere das Pri-
mat der Währungspolitik wurde missachtet und das Prin-
zip der Haftung grob verletzt. Unter der Voraussetzung,
dass die Wiederherstellung dieser Prinzipien eisern ver-
folgt wird, stimme ich für den Gesetzentwurf. Ich bin zu-
versichtlich, dass dieser Weg von der Koalition weiter
verfolgt wird.
Johanna Voß (DIE LINKE): Meine Fraktion, Die
Linke, und ich lehnen die Aufstockung und Ausweitung
der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität, EFSF,
ab, denn damit wird ein marktradikales und gescheitertes
Krisenmanagement fortgesetzt, das die soziale und wirt-
schaftliche Spaltung der Euro-Zone und der EU weiter
vertieft.
Ich wende mich entschieden gegen diese Politik des
sozialen Kahlschlags, die mithilfe des Rettungsschirms
diktiert wird. Die Länder, die sich unter den Rettungs-
schirm begeben, werden zu Kürzungen gezwungen, die
auf demokratischem Wege niemals durchsetzbar wären.
Während sich alle Welt zum Richter über Griechenland
aufschwingt und Frau Merkel nicht müde wird zu beto-
nen, die Griechen müssten sich noch mehr anstrengen,
wird völlig übersehen, was der griechischen Bevölke-
rung alles abverlangt wird. Als Gegenleistung für die Fi-
nanzhilfen aus der EU mussten sie unter anderem die
Mehrwertsteuer von 19 auf 23 Prozent erhöhen, die Ren-
ten kürzen, das Rentenalter erhöhen, die Preise für den
öffentlichen Nahverkehr um 30 Prozent erhöhen, die öf-
fentlichen Investitionen um 1,2 Milliarden Euro kürzen,
die Mindestlöhne senken und den Kündigungsschutz lo-
ckern. Für Portugal und Irland sieht es ähnlich aus.
Ich lehne das Gesetz ab, denn der Rettungsfonds ist
von den Banken diktiert und nützt nur ihnen, nicht Eu-
ropa, nicht Griechenland. Schon die bisherige Euro-Ret-
tung hat die Ausweitung der Krise nicht verhindert, im
Gegenteil: Die Banken und Finanzinvestoren wurden ge-
schützt. Doch den Krisenländern warfen die Regierun-
gen der Euro-Zone, die EU-Kommission, die Europäi-
sche Zentralbank und der IWF Rettungsringe aus Blei
zu: Die an die Hilfskredite aus dem Rettungsschirm ge-
knüpften radikalen Kürzungsauflagen würgten die Bin-
nenkonjunktur der Krisenländer ab, verhinderten eine
nachhaltige Erholung der Wirtschaft und verschärften
die Schuldenkrise. Die Ursachen der Krise wurden voll-
ständig ausgeblendet. Die Finanzmärkte wurden durch
die „Rettungsmaßnahmen“ nicht beruhigt; es wird weiter
gegen Krisenstaaten spekuliert. Bereits jetzt gehen Ex-
pertinnen und Experten und sowie Finanzmarktakteure
davon aus, dass auch die aufgestockte EFSF nicht aus-
reichen wird.
Die Linke lehnt den erweiterten Euro-Rettungsschirm
ab, denn der neoliberale Kurs wird beibehalten, anstatt
Konsequenzen aus der gescheiterten Politik zu ziehen. In
den Krisenländern bezahlen Beschäftigte, Rentnerinnen
und Rentner sowie andere Bevölkerungsgruppen mit
Lohn- und Rentenkürzungen und dem größten Sozialab-
bau der europäischen Nachkriegsgeschichte dafür, dass
private Banken weiter spekulieren. In Deutschland wer-
den die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler in Haftung
für die milliardenschweren Garantien genommen.
Diese Politik ist ungerecht, weil sie die Umverteilung
von unten nach oben beschleunigt und so eine zentrale
Krisenursache fortschreibt. Sie ist ökonomisch gefähr-
lich, weil die Spardiktate eine ökonomische Belebung
der Krisenländer verhindern und keine effektiven Maß-
nahmen zur Überwindung der wirtschaftlichen Un-
gleichgewichte in Euro-Zone und EU vorgesehen sind.
Sie gefährdet zunehmend die europäische Integration:
Rechtspopulistische Parteien, die die Ängste und die
Wut der Menschen gegen Spardiktate in europafeindli-
che und nationalistische Propaganda kanalisieren, sind
in vielen Ländern auf dem Vormarsch. Das Argument
der Koalition – auch von SPD und Grünen –, es gehe mit
dem Rettungsschirm darum, „Europa zu retten“, ist da-
her schlicht falsch.
Solange die Finanzmärkte nicht strikt reguliert, Ban-
ken nicht vergesellschaftet und die Staatsfinanzierung
nicht von den Kapitalmärkten abgekoppelt werden, ist
die Krise nicht unter Kontrolle zu bringen.
Statt einer weiteren „Rettung“ müssen die öffentli-
chen Haushalte aus der Abhängigkeit von den Kapital-
märkten befreit werden. Dazu müssen die Staaten die
Möglichkeit bekommen, über eine europäische Bank für
öffentliche Anleihen zinsgünstige Kredite bei der EZB
aufzunehmen. Gleichzeitig ist der Schuldenstand durch
eine Beteiligung der Banken und privaten Gläubiger so-
wie durch eine europaweite Vermögensabgabe für Mil-
lionäre drastisch zu senken. Nur so können die Profi-
teure und Verursacher der Krise angemessen zur Kasse
gebeten werden.
Das europäische Projekt hat nur dann eine Zukunft,
wenn es sozial gerecht, wirtschaftlich vernünftig und de-
mokratisch gestaltet wird. Da die „Euro-Rettung“ in ge-
nau die entgegengesetzte Richtung weist, kann ich dem
Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Übernahme von
Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabi-
lisierungsmechanismus nicht zustimmen.
Marco Wanderwitz (CDU/CSU): Ein starker ge-
meinsamer Wirtschaftsraum und eine starke gemein-
same Währung der Europäer liegen in unserem nationa-
len Interesse. Gerade unser Land als „kleine“ große
Exportnation profitiert davon besonders. Europa darf
nicht scheitern, wollen wir in der globalisierten Welt des
21. Jahrhunderts, wo China, Indien, die rohstoffreichen
Länder Afrikas, Lateinamerikas und Russland aufstre-
ben, bestehen.
Die aktuelle Staatsschuldenkrise Europas gefährdet
das. Sie kam schleichend, aber nicht unvermittelt. Auch
Deutschland ist nicht nur mittelbar betroffen; über alle
staatlichen Ebenen in unserem Land waren ausgegli-
chene Haushalte jahrzehntelang Mangelware. Die damit
15442 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011
(A) (C)
(D)(B)
verbundene Lastenverschiebung in die Zukunft ist eine
schwere Bürde für die jüngeren und künftige Generatio-
nen. Auch die Möglichkeit zu gestaltender Politik sinkt
mit jedem weiteren Euro Staatsschulden.
Wir Deutschen erkannten erfreulicherweise früher als
viele andere, dass ein „Weiter-so!“ in den Abgrund führt.
Die neu im Grundgesetz festgeschriebene Schulden-
bremse war die große Leistung der unionsgeführten Ko-
alition der Jahre 2005 bis 2009.
Die christlich-liberale Koalition erfüllt die Schulden-
bremse nun mit Leben. Wir sind auf solidem Weg, haben
die Chance, bereits vor 2016 die schwarze Null im Bun-
deshaushalt zu erreichen. Leider sind aber auch in
Deutschland noch nicht alle Bundesländer auf so soli-
dem Pfad wie beispielsweise der Freistaat Sachsen seit
Jahren und wir nun im Bund. Der Weg ist steinig, Besitz-
stände stehen infrage – aber wenn etwas ohne sinnvolle
Alternative ist, dann das. Und es ist auch unser Erwar-
tungsmaßstab an unsere europäischen Partner. Die Alter-
native heißt aufwachsende Inflation, Staatspleite, Wäh-
rungsschnitt.
Schon einmal gab es eine deutsche Bundesregierung,
die Stabilität für Europa suchte. Das Europabild von
Helmut Kohl und Theo Waigel war eines der Stabilität.
Der Europäische Stabilitäts- und Wachstumspakt und die
Euro-Kriterien waren die Pfeiler einer Euro-Zone der
Stabilität. Das war damals genauso wenig Selbstzweck,
wie heute. Ohne Stabilität kein dauerhaftes Prosperieren.
Der Fehler von damals war, nicht schärfere Instru-
mente der Stabilitätskultur zu schaffen. Der ehemalige
Chefvolkswirt der Bundesbank und später der EZB,
Issing, sagt zu Recht, dass das Mehrheitsprinzip dazu
führe, dass Sünder über Sünder richten sollen, was nicht
funktioniere.
Die ersten Jahre gingen gleichwohl in die richtige
Richtung. Die niedergelegten Grundsätze wurden beach-
tet. Der erste Sündenfall war der Griechenland-Beitritt.
Griechenland war zu keinem Zeitpunkt beitrittsreif, alle
wussten es. Darüber hinaus waren die schon schlechten
Bilanzen noch „geschönt“. CDU und CSU haben damals
gewarnt. Die damalige rot-grüne Regierung Schröder hat
uns das jetzige Elend rund um Griechenland damals be-
schert. Und es kam noch schlimmer. Danach begann
Deutschland unter Kanzler Schröder, die Schuldenma-
cherei zur politischen Handlungsmaxime zu machen.
Wir wurden vom Vorbild zum schlechten Beispiel, wa-
ren die ersten, die das 3-Prozent-Neuverschuldungskrite-
rium nicht einhielten. Und wir fanden Nachahmer. Das
war leicht, da die deutsche Regierung zunächst in Eu-
ropa die richtigen Grundsätze ihrer Vorgänger zugrunde
richten musste, um Schulden machen zu können. Wieder
gegen den Widerstand von CDU und CSU, die vergeb-
lich kämpften.
Die damals gelegte Saat ging in den Jahren auf. Durch
die weltweite Finanzkrise drehte sich die Spirale dann
schneller. Die Konjunkturspritzen waren in ganz Europa
schuldenfinanziert. Das Ergebnis sehen wir nun – wir
stehen vor einem Scherbenhaufen und tiefer in den Krei-
debüchern der Kreditgeber. Ohne Verschuldung gäbe es
keine Möglichkeit zur Spekulation.
Wir „kaufen“ nun bisher immerzu neue Zeit, nutzen
sie aber nicht ausreichend. Die Gefahr, dass künftige Ge-
nerationen später dafür viel Geld zahlen müssen, ist
nicht unerheblich. Unsere Interessen als Zahlerland müs-
sen wir stärker betonen, und, wenn das nicht möglich ist,
auch die Konsequenzen zu ziehen bereit sein. Auch
diese würden aber sehr schmerzhaft sein. Die uneinheit-
liche Sicht der Wirtschaftswissenschaft, insbesondere
was „Endszenarien“ betrifft, macht die Entscheidung
sehr schwierig. „Pest oder Cholera“, „Skylla oder Cha-
rybdis“ – leider sind die Szenarien genau so.
Der anstehende ESM-Vertrag, der eine Überarbeitung
der Europäischen Verträge darstellt, wird entscheidend.
Die Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts mit
früheren und schärferen Sanktionen bei Regelverstößen,
deren Ahndung politischem Ermessen entzogen, auto-
matisiert werden muss, ist die Lösung. Für Griechenland
wird das alles nichts mehr helfen; hier brauchen wir eine
Sonderbehandlung.
Auch die Unabhängigkeit der Europäischen Zentral-
bank muss dringend wiederhergestellt werden, indem
baldigst der Ankauf von Staatsanleihen beendet wird.
Die Skepsis aufseiten der deutschen Regierungsfrak-
tionen in den letzten Monaten, die auch mich betrifft, hat
bereits zu spürbaren Verbesserungen geführt. Wir strei-
ten dabei nicht mit unserer Regierung, sondern mit ihr
gemeinsam in Europa. Die Beteiligungsrechte des Bun-
destages werden nun erheblich gestärkt, sind einzigartig
in Europa. Keine neuen Länderprogramme mehr ohne
vorherige Zustimmung des Bundestages. Kein „konkre-
tes“ Geld mehr ohne vorherige Zustimmung des Bundes-
tages. Dies wird aber gerade erst wirksam mit dem heuti-
gen Gesetz.
Die von SPD und Grünen neben dem Weg in die of-
fene Transferunion geforderten Euro-Bonds, die Verge-
meinschaftung von fremden Schulden zu unseren Las-
ten, wären ein katastrophales Instrument für unser Land.
Sie kosteten uns Jahr für Jahr Milliarden und hätten kei-
nen Nutzen. Im Gegenteil reizten sie geradezu dazu,
weiter unsolide zu haushalten. Sie wären für Deutsch-
land die schlechteste aller denkbaren Optionen.
Dem heutigen Gesetz stimme ich zu, um die Regie-
rung nicht zu destabilisieren, und weil endlich Verbesse-
rungen erreicht wurden. Die rot-grüne Opposition
stimmt zu, hebt aber medial das Ergebnis in den Reihen
der Koalition zu einer rein politischen Machtfrage. Sie
will das Ringen in unserer Fraktion um eine Sachfrage
großer Tragweite zu einer Personalfrage machen. Das ist
in höchstem Maße unverantwortlich. Diese Koalition
und insbesondere Angela Merkel als Bundeskanzlerin
sind Garanten für die bestmögliche Wahrnehmung unse-
rer Interessen in Europa unter diesen schwierigen Bedin-
gungen.
Harald Weinberg (DIE LINKE): Ich stimme gegen
die Aufstockung des Euro-Rettungsschirms, EFSF, weil
ich weiß, dass es auf die Krise nur eine linke Antwort
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15443
(A) (C)
(D)(B)
geben kann. Die Euro-Stabilisierung darf nicht auf Kos-
ten von Löhnen, Renten und Sozialleistungen gehen. Die
Aufstockung der Mittel des Stabilisierungsfonds ist im
Ergebnis eine Unterstützung der Banken, der Finanzinsti-
tute, der Reichen und der Superreichen.
Den Menschen in den Ländern, die Mittel vom EFSF
erhalten, wird nicht wirklich geholfen: Die diesen Län-
dern aufgegebenen strengen Auflagen treffen dort vor al-
lem die Geringverdiener, die Rentnerinnen und Rentner.
Die Binnennachfrage bricht ein. Wirtschaftswachstum
und Steuereinnahmen sinken. Die Fähigkeit zur Rück-
zahlung der gewährten Kredite wird immer weiter einge-
schränkt. Das zeigt die Entwicklung in Griechenland.
Auch deshalb sage ich. Nein zu dem Gesetz.
Ich stimme gegen den erweiterten Euro-Rettungs-
schirm, denn ein Ja zu diesem erneuten Geschenk an die
Banken und Spekulanten würde ein Nein zu Europa be-
deuten. Es ist mehr als bedenklich, dass hier im Bundes-
tag alle Fraktionen bis auf Die Linke eine Politik gegen
die große Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland und
in Europa machen. Die Entscheidung von CDU/CSU,
FDP, Grünen und SPD hilft weder Griechenland, noch
rettet sie den Euro. Im Gegenteil: Diese Entscheidung ist
das Todesurteil für die griechische Ökonomie. Und so-
lange man sich nicht entschließen kann, die Verursacher
und Profiteure der Krise zur Kasse zu bitten, wird auch
der Euro weiter gefährdet bleiben.
Auch die große Mehrheit der Beschäftigten und Ge-
werkschaftsmitglieder lehnt diese erneute Sozialisierung
der Verluste der Banken und Spekulanten ab. Ich be-
grüße in diesem Sinne auch die Erklärung zur Euro-
Krise des letzten Verdi-Bundeskongresses, bei dem auch
ich gewesen bin, in der zu Recht kritisiert wird „dass Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Rentnerinnen und
Rentner sowie Arbeitslose die Zeche der großen Finanz-
markt- und Wirtschaftskrise zahlen“. Banken, die es wie
die Deutsche Bank lediglich gut verstehen, Gewinne zu
privatisieren, aber dann der Öffentlichkeit ihre Unter-
nehmensrisiken überhelfen wollen, sollten vergesell-
schaftet werden. Auch hier heißt es ganz richtig in der
Verdi-Erklärung: „Wir kritisieren, dass Rettungshilfen
für Banken, Investmentfonds und Versicherungen nicht
nach dem Prinzip ,Leistung nur für Gegenleistung‘ orga-
nisiert wurden.“
Anlage 3
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Dr. Axel Troost und
Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): zur namentli-
chen Abstimmung über den Entwurf eines Ge-
setzes zur Änderung des Gesetzes zur Über-
nahme von Gewährleistungen im Rahmen eines
europäischen Stabilisierungsmechanismus (Ta-
gesordnungspunkt 3 a)
Wir stimmen gegen den Euro-Rettungsschirm.
Das Stolpern von Rettungspaket zu Rettungspaket ist
hochgefährlich, weil es die Akzeptanz für ein solidari-
sches Europa untergräbt und die Krise verschärft. Auch
dieses Rettungspaket wird die Krise nicht lösen, sondern
verlängern. Bereits jetzt ist ersichtlich, dass die Mittel
der EFSF nicht ausreichen werden und das nächste Ret-
tungspaket benötigt wird.
Die Griechenland aufgezwungene Schocktherapie hat
die Finanzsituation des Landes wesentlich verbessert.
Sie bedeutet für die Masse der Bevölkerung jedoch eine
Katastrophe. Die strukturellen Probleme des Landes
können nicht in kürzester Zeit behoben werden. Die
drastischen Kürzungen haben die griechische Wirtschaft
stranguliert und das Land in eine Rezession gestürzt.
Das neue Rettungspaket stellt zwar eine Verbesserung
gegenüber bisherigen Maßnahmen dar, weil es auf eine
längere Frist angelegt ist und auf Strafzinsen verzichtet.
Durch das späte Handeln, die fehlende Entschlossenheit
und die unzureichenden Maßnahmen konnte die Krise
aber endgültig auf Spanien und Italien übergreifen.
Durch Euro-Anleihen hätte die Spekulation gegen
einzelne Staaten der Währungsunion wirkungsvoll un-
terbunden werden können. Staaten würden nicht länger
zum Spielball von Spekulanten und Ratingagenturen.
Sie hätten auch eine Umschuldung mit einer substanziel-
len und nicht bloß symbolischen Beteiligung der priva-
ten Gläubiger ermöglicht, welche die drückende griechi-
sche Schuldenlast gemindert und Risiken von den
Steuerzahlern abgewendet hätte.
Wir möchten auch ausdrücklich festhalten: Die Euro-
Krise kann nicht ausschließlich auf Versäumnisse einzel-
ner Staaten zurückgeführt werden. Die Währungsunion
ist in der jetzigen Form eine Fehlkonstruktion, bei der
Krisen wie die jetzige vorprogrammiert sind.
Eine wesentliche Ursache für die Krise ist die völlig
unzureichende makroökonomische Koordinierung. Die
Euro-Mitgliedstaaten haben sich nicht über wesentliche
Eckpunkte eines gemeinsamen Währungsraums wie
Lohnentwicklung, Wirtschaftssteuerung und eine Politik
des sozialen Fortschritts verständigt. Stattdessen haben
sie mit der Währungs- und Freihandelsunion eine Staa-
tenkonkurrenz festgeschrieben, von der vor allem das
wirtschaftlich übermächtige Deutschland profitiert. Im-
mer mehr Mitgliedstaaten können dem Unterbietungs-
wettlauf um die niedrigsten Sozial-, Lohn- und Steuer-
kosten nichts mehr entgegensetzen, seit Wechselkurse
als Ausgleichsmechanismus wegfallen.
Eine Folge sind die gewaltigen außenwirtschaftlichen
Ungleichgewichte. Die Leistungsbilanzdefizite von
Staaten wie Griechenland sind nur die Kehrseite der ge-
waltigen Überschüsse von Staaten wie Deutschland. Sie
konnten nur aufgebaut werden, weil Regierungen wie
die deutsche sich keinen Deut um eine koordinierte Lohn-
entwicklung geschert haben. Stattdessen wurden durch
Lohndumping Vorteile zu Lasten anderer Staaten und
der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verschafft.
Um die Verwerfungen abzubauen, bedarf es zwingend
Anpassungsmaßnahmen auch in Deutschland, etwa
durch höhere Löhne und öffentliche Investitionen.
Die Politik der Staatenkonkurrenz führt dazu, dass
seit Jahren die Wohlstandszugewinne nur noch bei Rei-
15444 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011
(A) (C)
(D)(B)
chen und Unternehmen ankommen. Diese entziehen sich
zunehmend der Besteuerung, mit entsprechenden Haus-
haltsproblemen. Der Masse der Menschen in Europa
geht es zusehends schlechter. Aus Gründen der sozialen
Gerechtigkeit, aber auch der Stabilität bedarf es einer
Umverteilung von oben nach unten – etwa in Form einer
Finanztransaktionsteuer, Steuern auf hohe Vermögen
und ein entschlossenes Vorgehen gegen Steueroasen und
die Finanzvehikel der Reichen und Mächtigen.
Viele Probleme können nur noch international gelöst
werden. Europa spielt dabei eine wichtige Rolle. Die Ge-
staltung der Europäischen Union als Elitenprojekt war
von Anfang an mit Demokratiedefiziten verbunden. Dies
gilt auch für dieses Rettungspaket, das nicht das Euro-
päische Parlament, sondern die Regierungschefs der EU
zusammen mit Josef Ackermann und einem französi-
schen Spitzenbanker ausgehandelt haben. Werden die
Defizite der Währungsunion und das Demokratiedefizit
nicht behoben, droht das gemeinsame Projekt gegen die
Wand zu fahren.
Anlage 4
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Dr. h. c. Jürgen Koppelin,
Dr. Lutz Knopek und Joachim Günther (Plauen)
(alle FDP) zur namentlichen Abstimmung über
den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
Gesetzes zur Übernahme von Gewährleistungen
im Rahmen eines europäischen Stabilisierungs-
mechanismus (Tagesordnungspunkt 3 a)
Die Lösungen der Koalition in der europäischen
Haushalts- und Finanzpolitik sollen die derzeitigen Tur-
bulenzen an den Finanzmärkten eindämmen und neues
Vertrauen etablieren. Nicht alle bisherigen oder geplan-
ten Maßnahmen finden unsere Zustimmung.
Es bleiben bei uns erhebliche Zweifel. Einer geordne-
ten Insolvenz zum Beispiel für Griechenland hätten wir
den Vorzug gegeben. Wir sind nicht grundsätzlich gegen
Hilfen für andere Euro-Staaten. Wir können jedoch nicht
erkennen, welche Risiken von anderen Staaten des Euro-
Raums noch zu erwarten sind. Diese Risiken konnten
bisher nicht benannt und Zweifel nicht ausgeräumt wer-
den.
Die Schaffung eines kleinen Gremiums, das anstelle
des Haushaltsausschusses entscheiden kann, lehnen wir
ab, zumal dieses Gremium der Vertraulichkeit unterliegt.
Es steht zu befürchten, dass damit die Beteiligung des
Deutschen Bundestages ausgehebelt wird.
Leider sind auch von der Opposition keine Konzepte
und Alternativen zu den Vorschlägen der Regierung ge-
kommen, die wir für diskussionswürdig hätten halten
können.
Eine freie Abstimmung wäre eine gute Stunde für den
Deutschen Bundestag gewesen.
Aufgrund des durch die Opposition entworfenen Sze-
narios eines Endes der Koalition besteht nun die Not-
wendigkeit, die Kanzlermehrheit für das Gesetz zu si-
chern. Die Aussage der Vorsitzenden von Bündnis 90/
Die Grünen, Renate Künast, dass die heutige Abstim-
mung über den erweiterten Euro-Rettungsschirm EFSF
im Bundestag als Bewährungsprobe für die schwarz-
gelbe Koalition zu sehen sei, macht es uns unmöglich,
nur in der Sache abzustimmen.
Uns ist auch klar, dass es, falls heute keine Mehrheit
aus der Koalition zustande kommt, zu noch stärkeren
Unsicherheiten für die Märkte kommen wird. Die Kapi-
talmärkte werden entsprechend reagieren. Auch mit
Blick auf die europäischen Nachbarn und die Partner in
der Welt ist es für Deutschland mit dem Ziel eines stabi-
len Euro wichtig, ein Zeichen für eine geschlossene und
entschlossene Koalition zu setzen.
Das haben wir heute ebenfalls bei unserem Abstim-
mungsverhalten zu berücksichtigen.
Aufgrund dieser Abwägung stellen wir unsere per-
sönlichen Bedenken und Zweifel zu den im Gesetzesvor-
haben getroffenen Regelungen zurück und stimmen den
Änderungen an dem Gesetz zum europäischen Stabili-
sierungsmechanismus zu.
Anlage 5
Zu Protokoll gegebene Reden
Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten
Werner Schieder (Weiden), Klaus Barthel,
Dr. Bärbel Kofler, Daniela Kolbe (Leipzig),
Hilde Mattheis, René Röspel und Rüdiger Veit
(alle SPD) zur namentlichen Abstimmung über
den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
Gesetzes zur Übernahme von Gewährleistungen
im Rahmen eines europäischen Stabilisierungs-
mechanismus (Tagesordnungspunkt 3 a)
Bei der namentlichen Abstimmung über die Erweite-
rung der EFSF haben wir mit Ja gestimmt. Das bedeutet
aber keineswegs, dass wir ansonsten die falsche Antikri-
senpolitik der Bundesregierung unterstützen.
Erstens. Wir haben zugestimmt, weil wir es grund-
sätzlich für richtig halten, mit einem handlungsfähigen
Rettungsschirm die Attacken von spekulierenden Fi-
nanzmärkten gegen einzelne Länder abzuwehren und so
die Refinanzierung von Krisenstaaten zu vernünftigen
Zinsen sicherzustellen. Notwendig ist eine glaubwürdige
Garantie der gesamten Euro-Zone. Deshalb bedarf es ei-
ner Institution, die als Vermittlungsstelle zwischen die
Staaten, deren Refinanzierung sichergestellt werden
muss, und die aggressiven Finanzmärkte, denen die ein-
zelnen Länder mangels eigener Währung und Zentral-
bank schutzlos ausgeliefert sind, gestellt wird.
Zweitens. Vor diesem Hintergrund ist allerdings auch
der erweiterte EFSF unzureichend. Erstens, weil erneut
offen bleibt, ob und in welchem Umfang einzelnen Län-
dern tatsächlich geholfen wird, wenn sie in Refinanzie-
rungsschwierigkeiten kommen. Zweitens ist das be-
grenzte Ausleihvolumen nicht ausreichend, wenn zum
Beispiel auch Länder wie Italien und Spanien in solche
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15445
(A) (C)
(D)(B)
Schwierigkeiten – ausgelöst durch Wetten im Finanz-
marktkasino – geraten.
Drittens. Vielmehr ist es notwendig, den EFSF zu ei-
ner „Bank für Staatsanleihen“ weiterzuentwickeln
– Euro-Bonds –, die eine verlässliche und glaubwürdige
Garantie für die gesamte Euro-Zone darstellt. Diese
Bank muss sich bei der EZB refinanzieren können. Ihr
effektives Ausleihvolumen ist nicht begrenzt. Zudem
entsteht dadurch ein hochliquider Markt für Staatsanlei-
hen in Euro, der für Anleger attraktiv ist.
Viertens. Die Bundesregierung muss ihre einseitige
Fixierung auf die Staatsverschuldung als angebliche
Folge nachlässiger Haushaltspolitik aufgeben. Der An-
stieg der Staatsverschuldung seit 2007/2008 ist eindeutig
eine Folge der Finanzkrise und damit das Resultat unre-
gulierter Finanzmärkte. Vor der Finanzkrise hatten alle
Länder nachweisbar Konsolidierungserfolge erzielt. Das
Hochschnellen der Staatsschulden seit Ausbruch der
Krise hätte weder durch Schuldenbremsen noch durch
einen verschärften Stabilitätspakt verhindert werden
können.
Fünftens. Neben der Besicherung der Euro-Zone sind
die Ungleichgewichte in Wettbewerbsfähigkeit und
Leistungsbilanzen in den Fokus zu nehmen, die den ent-
scheidenden realwirtschaftlichen Hintergrund für die
Krise der Euro-Zone bilden. Hier braucht vor allen Din-
gen Deutschland als mit Abstand größtes Überschuss-
land einen Kurswechsel hin zu einer dauerhaften Aus-
weitung der Binnennachfrage und einer expansiveren
Lohnpolitik. Dem verwehrt sich dogmatisch die Bundes-
regierung und steuert so die gesamte Euro-Zone in eine
anhaltende Phase der Stagnation. Mehr noch: Das Risiko
des Auseinanderbrechens der Währungsunion bleibt ge-
rade deswegen virulent mit der wahrscheinlichen Folge,
dass ein Teil der Rettungskredite nicht zurückgezahlt
wird und die Steuerzahler belastet werden. Für diese
denkbare Entwicklung übernehmen wir mit unserer Zu-
stimmung zum Rettungsschirm keine Verantwortung –
sie liegt einzig bei der Bundesregierung.
Sechstens. Die Bundesregierung hat mit ihrer fatalen
Antikrisenpolitik den ökonomischen Niedergang Grie-
chenlands beschleunigt. Ungeachtet der hausgemachten
Probleme und Versäumnisse in Griechenland hat die von
der Bundesregierung durchgesetzte Politik der radikalen
Spardiktate und drastischer Lohn- und Ausgabenkürzun-
gen Griechenland endgültig in eine schwere Rezession
mit verheerenden wirtschaftlichen und sozialen Auswir-
kungen getrieben. Die Bundesregierung trägt dadurch
– aber auch, weil sie alle bisherigen Stabilisierungsmaß-
nahmen bis zum heute vorliegenden erweiterten EFSF
immer erst monatelang abgelehnt hat – eine wesentliche
Mitverantwortung für die Eskalation der Euro-Krise und
die Gefahr der Ansteckung weiterer Euro-Länder.
Siebentens. Wir stellen fest, dass die gegenwärtige
Krise nicht verursacht worden ist von Rentnern, Arbeit-
nehmern und der jüngeren Generation, sondern von un-
regulierten und maßlosen Finanzspekulanten, die aus
rücksichtloser Gier handeln. Wir treten daher weiterhin
für eine strenge Regulierung und Redimensionierung der
Finanzmärkte ein.
Anlage 6
Erklärung nach § 31 GO
Des Abgeordneten Volker Beck (Köln) (BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN) zur Abstimmung über
den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
Grundgesetzes und zur Reformierung des
Wahlrechts (Tagesordnungspunkt 5)
Namens und im Auftrag meiner Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen erkläre ich zur Abstimmung über den von
der Fraktion Die Linke eingebrachten Entwurf eines
Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes und zur
Reformierung des Wahlrechts – Drucksachen 17/5896,
17/7069 – Folgendes:
Meine Fraktion wird sich der Stimme bei der geteilten
Abstimmung über den oben genannten Gesetzentwurf
enthalten, soweit sie die in Art. 2 Nrn. 1, 3 bis 7, 13, 16
bis 18 und Art. 10 enthaltenen Vorschriften betrifft. Die
darin befindlichen Regelungen zur Beseitigung des so-
genannten negativen Stimmgewichts finden zwar die un-
eingeschränkte Zustimmung meiner Fraktion. Denn mit
ihnen wird das Urteil des Bundesverfassungsgerichts
vom 3. Juli 2008 in adäquater Weise umgesetzt. Eine Zu-
stimmung zu den genannten Vorschriften des Gesetzent-
wurfs ist meiner Fraktion dennoch nicht möglich, da sel-
bige inzident auch die Streichung der 5-Prozent-Hürde
im geltenden Wahlrecht regeln. Letzteres lehnt meine
Fraktion ab.
Anlage 7
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Verbesserung der Feststellung und Anerken-
nung im Ausland erworbener Berufsqualifika-
tionen (Tagesordnungspunkt 7)
Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU): Lassen
Sie mich am Anfang meiner Rede noch einmal die we-
sentlichen Ziele des Gesetzes formulieren.
Erstens. Wir schaffen über das Anerkennungsgesetz
endlich eine verbindliche Möglichkeit, die Lebensleis-
tung von Menschen anzuerkennen, die im Ausland ihren
Berufsabschluss oder ihre Berufsqualifikation erworben
haben. Dieses ist integrationspolitisch für die betroffe-
nen Menschen ein lang erwarteter wichtiger Schritt.
Zweitens. Gerade vor dem Hintergrund des aufkom-
menden Fachkräftemangels können wir durch das Heben
dieser Potenziale eine Entlastung auf dem Arbeitsmarkt
herbeiführen. Ich erinnere an dieser Stelle noch einmal
an die durch den Mikrozensus 2008 festgestellte Anzahl
von bis zu 300 000 Migrantinnen und Migranten, die im
Ausland eine Ausbildung oder Qualifikation abgeschlos-
sen haben und jetzt möglicherweise diese auch in
Deutschland anerkennen lassen können.
Drittens. Wir können auch für potenzielle Zuwanderer
ein verbindliches Verfahren schaffen, welches ihnen
15446 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011
(A) (C)
(D)(B)
hilft, bereits vor der Zuwanderung ein Anerkennungs-
verfahren zu durchlaufen.
Und letztendlich viertens sei neben der Vereinheitli-
chung des Verfahrens das Ziel der Entkoppelung der Be-
wertung und Anerkennung von der Frage der Staatsbür-
gerschaft genannt. Denn bisher existierte lediglich ein
Rechtsanspruch für EU-Bürger und Spätaussiedler auf
ein Anerkennungsverfahren, während für alle anderen
Staatsangehörigkeitsgruppen keine einheitlichen Rechts-
grundlagen bestanden.
Nachdem wir bereits in der Großen Koalition im Rah-
men der Qualifizierungsinitiative das Ziel zwischen
Bund und Ländern definiert hatten, dass im Ausland er-
worbene Abschlüsse zügig auf Anerkennung geprüft
werden sollen und gegebenenfalls Teilanerkennungen
ausgesprochen werden sollen, setzen wir hier die Verein-
barung aus dem Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU
und FDP um. Dass dieses Verfahren durchaus längere
Zeit in Anspruch genommen hat, ist sicherlich auch der
Tatsache geschuldet, dass nicht nur ein Berufsqualifika-
tionsfeststellungsgesetz erstellt wurde, sondern zudem
weitere 60 Berufsgesetze und Verordnungen geändert
werden mussten. Dieses musste nicht zuletzt in der
Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Anerkennungsverfahren“
vorgeklärt werden. Ich erwähne das deshalb, weil der
Vorwurf, dass dieses Gesetz an den Interessen der Län-
der vorbeigehe, aus diesem Grund nicht haltbar ist. Es
war das Bestreben der Bundesregierung, auch aufgrund
der Komplexität der gesamten Thematik, den Prozess
der Gesetzeserstellung eng mit den Bundesländern abzu-
stimmen. Vor diesem Hintergrund erscheint es erstaun-
lich, dass einige Ministerpräsidenten sich jetzt überra-
schend kritisch über die Inhalte und handwerkliche
Umsetzung des Themas äußern.
Wir als Regierungskoalition sind mit den eingebrach-
ten Änderungen seitens der Fraktionen, aber auch der
Länder, zufrieden. Wichtig war für uns als CDU/CSU,
dass die Psychotherapeuten, entgegen der ursprüngli-
chen Absicht der Bundesregierung, mit in das Gesetz
aufgenommen wurden. Sie werden insoweit gegenüber
den Ärzten nicht mehr benachteiligt werden. Auch dass
wir uns bei den Ärzten aus Drittstaaten auf eine abge-
stufte Kenntnisprüfung geeinigt haben, die nicht mehr
die volle staatliche Examensprüfung darstellt, lag im In-
teresse unserer Fraktion. Für die Gesundheitsfachberufe
gilt in Zukunft, dass für Anpassungsqualifizierungen, so-
fern diese vom Bewerber anstatt einer Prüfung gewählt
werden, der Anpassungslehrgang lediglich mit einer Er-
folgskontrolle abgeschlossen werden muss.
Viele weitere darüber hinausgehende Veränderungs-
wünsche und Punkte wurden von der Bundesregierung
übernommen. Die Wünsche der Opposition allerdings
sind in weiten Teilen sowohl bei der Frage der Finanzie-
rung als auch der Umsetzung nicht nur problematisch,
sondern auch unrealistisch. Dem Wunsch der SPD ent-
sprechend einen konkreten Beratungsanspruch im Ge-
setz zu verankern, würde dazu führen, dass wir eine
Überfrachtung mit unverhältnismäßig hohen Kosten und
Aufwand bekommen hätten. Die Bundesregierung er-
weitert das Angebot der Beratung deutlich in den nächs-
ten Jahren. Wir selbst als Koalitionsfraktionen haben
durch einen Haushaltsantrag bereits im letzten Jahr die
Mittel für das Beratungs- und Informationsangebot im
Rahmen des Anerkennungsverfahrens um 2 Millionen
Euro erhöht.
Auch die Forderung nach einem Rechtsanspruch auf
die passende Nachqualifizierung ist abzulehnen. Der
Staat müsste ansonsten ein entsprechendes Angebot be-
reithalten, welches aufgrund der Breite der Nachfrage
extrem aufwändig und teuer geworden wäre. Im Übrigen
würde das zu einer Inländer-Diskriminierung führen. Die
Opposition müsste wissen, dass wir eine ganze Palette
von Angeboten für Qualifizierungsmaßnahmen bereits
über die bestehenden Angebote abdecken.
Auch die Forderung nach einer zentralen Agentur für
Qualitätssicherung würde überflüssige und zusätzliche
Strukturen schaffen, die bereits heute regional angeboten
werden. Wir wollen und müssen die Verwaltungskosten
gering halten und setzen daher auf die Eigenkoordina-
tion der Fachbereiche, wie zum Beispiel DIHK oder
ZdH.
Am Ende des langen Prozesses kann der Deutsche
Bundestag konstatieren, dass wir mit dem Berufsqualifi-
kationsfeststellungsgesetz ein verbindliches Verfahren
auf den Weg bringen, welches hoffentlich vielen der fast
3 Millionen Menschen, die im Ausland eine Qualifika-
tion, einen Beruf oder ein Studium absolviert haben,
dazu verhelfen wird, möglichst zügig in diesem Beruf
dann auch tatsächlich zu arbeiten. Dieses Gesetz und die
geänderten Berufsgesetze und Verordnungen sind dann
tatsächlich ein Meilenstein im Hinblick auf die arbeits-
marktpolitische Integration. Wir werden in den nächsten
Monaten und Jahren den Prozess der Umsetzung auch
als Parlament begleiten und gegebenenfalls bei feststell-
baren Problemen auch nachjustieren.
Swen Schulz (Spandau) (SPD): Alle Fraktionen
sind sich im Bundestag einig: Eine Verbesserung im Be-
reich der Anerkennung von Abschlüssen aus dem Aus-
land ist dringend nötig. Die Zustände heute sind
schlecht: Die Leute müssen sich durch einen Behörden-
dschungel durchkämpfen, die Rechtspositionen sind teil-
weise schwach und unklar, es herrscht ungleiche Be-
handlung der Anerkennung Suchenden je nach Beruf,
Nationalität sowie Herkunft der Abschlüsse. Und nicht
zuletzt ist die Praxis in den einzelnen Bundesländern
sehr uneinheitlich. Mit einem Wort: Es herrscht Anerken-
nungschaos. Und das ist nicht akzeptabel, weil die Men-
schen ihre Fähigkeiten hier nicht einbringen können – das
verhindert Integration und das ist vor dem Hintergrund
des viel beklagten Fachkräftemangels eine riesige
Dummheit. Bis zu 500 000 hier lebenden Menschen
wird die Anerkennung verweigert. Ihnen wollen wir
Respekt entgegenbringen und eine Anerkennungskultur
etablieren.
In der letzten Legislaturperiode hatten wir bereits ei-
nen Anlauf für ein Anerkennungsgesetz gemacht. Vor
zwei Jahren haben wir dann einen Antrag eingebracht.
Erst danach zog die Bundesregierung mit Eckpunkten
nach. Und dann: Dann gab es ein langes, langes Warten
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15447
(A) (C)
(D)(B)
auf einen Gesetzentwurf. Gut Ding will Weile haben,
heißt es, doch das vorliegende Ergebnis ist enttäuschend.
Man hat den Eindruck: Je länger die Regierungskoalition
über das Thema nachgedacht hat, desto leichtgewichti-
ger wurde das Gesetz.
Aber zuerst das Positive: Es wird der richtige Weg be-
schritten, dieses Gesetz bringt Verbesserungen gegen-
über der aktuellen Situation, weil ein Rechtsanspruch
auf ein Anerkennungsverfahren definiert wird. Aber das
ist fast schon alles – CDU/CSU und FDP haben sich auf
den kleinsten gemeinsamen Nenner geeinigt. Dabei wa-
ren sie schon viel weiter, etwa in ihren Eckpunkten vor
zwei Jahren oder im letzten Jahr mit dem Antrag der Ko-
alition zum Thema.
Doch wer wirklich Erfolg haben will, der stellt nicht
nur ein Verfahren, sondern auch Beratung, Unterstüt-
zung und Förderung sicher. Der baut Brücken, die bis ins
Erwerbsleben reichen.
Wir haben darum eine Reihe von Verbesserungen be-
antragt. Wir wollen einen Rechtsanspruch auf umfas-
sende Beratung. Der fehlt im Gesetzentwurf. Es reicht
nicht aus, ein Internetangebot zu machen, eine Telefon-
hotline zu schalten und ein Beratungsnetzwerk zu för-
dern – alle diese Maßnahmen können auch mit dem
nächsten Haushalt wieder einkassiert werden.
Wir wollen die Gebühren bundesweit einheitlich re-
geln und darüber hinaus sicherstellen, dass die Gebühren
aufgrund ihrer Höhe nicht zur sozialen Hürde werden.
Es können schnell mehrere Tausend Euro auflaufen –
viele würden sich das nicht leisten können.
Wir wollen die Fristen klar und einheitlich regeln,
nämlich drei Monate für alle, mit der Möglichkeit einer
ausnahmsweisen Verlängerung um einen Monat. Die im
Gesetzentwurf vorgesehene Ungleichbehandlung und
die unbestimmte Öffnung der Frist sind nicht tragbar.
Wir wollen ein modernes Kompetenzfeststellungsver-
fahren, damit nicht nur nach Papierlage, sondern nach
Fähigkeiten entschieden wird.
Wir wollen für diejenigen, die keine volle Anerken-
nung erhalten konnten, einen Rechtsanspruch auf soge-
nannte Anpassungsmaßnahmen, also etwa Lehrgänge,
schaffen. Dazu sind Prüfungsvorbereitungsmaßnahmen
und berufsspezifische Sprachkurse nötig, damit die
Menschen auch wirklich eine Arbeit finden können. Da-
für müssen auch Förderungen für diejenigen zur Verfü-
gung gestellt werden, die sozial schwach sind und sich
Anpassungsmaßnahmen sonst nicht leisten könnten –
das könnte etwa über ein Einstiegs-BAföG oder den
Ausbau bestehender Förderinstrumente geschehen.
Wir wollen die Bündelung, Vereinheitlichung und
Qualitätssicherung der Verfahren. Es darf nicht vom
Wohnort abhängen, ob jemand eine Anerkennung erhält
oder nicht. Darum müssen wir etwa eine zentrale Agen-
tur für Anerkennungsstandards einrichten.
Die ausgestellten Bescheide müssen einheitlich, klar
und transparent sein, damit die Arbeitgeber damit auch
etwas anfangen können.
Und die Berufe müssen stärker als im Gesetzentwurf
gleichbehandelt werden. Es werden teilweise sehr deut-
lich von den Grundsätzen des Gesetzentwurfs abwei-
chende Regelungen für die einzelnen reglementierten
Berufe und auch nach Herkunft der Abschlüsse gefun-
den – das ist jedenfalls in diesem Umfang nicht akzepta-
bel.
Viele dieser Forderungen finden sich in den eigenen
Papieren der Regierungskoalition wieder. Doch unsere
Anträge wurden allesamt abgelehnt – CDU/CSU und
FDP haben sich damit selbst widersprochen, sie haben
die eigenen Forderungen abgelehnt!
Ihre Argumentation muss man sich mal auf der Zunge
zergehen lassen. Zu den Ausgleichsmaßnahmen teilt
Staatssekretär Braun etwa mit, dass davon auszugehen
sei, dass der Weiterbildungsmarkt entsprechende Ange-
bote machen werde. Na großartig. Das macht er viel-
leicht, vielleicht auch nicht – die Bundesregierung küm-
mert sich nicht darum.
Vor allem stellt sich dann auch die Frage, ob sich die
Leute, die ja erst in den Beruf wollen, solche Angebote
privat finanzieren können. Was sagt der Staatssekretär
dazu? Kein Problem, sagt er, es gebe ja die Instrumente
der Arbeitsförderung. Was er dabei mal eben vergisst zu
sagen, ist, dass die Förderung von eben dieser Koalition
zusammengestrichen wird: von 2011 bis 2015 26,5 Mil-
liarden Euro weniger, dazu 12 Milliarden Kürzungen des
Bundes beim Zuschuss! Und dann habe ich gestern in
der Fragestunde den Staatssekretär gefragt, wie es denn
mit geplanten Mehrausgaben im Bereich der Agentur für
Arbeit aussieht. Die Antwort kurz gefasst lautet: Null!
Dann kommt die Koalition immer mit dem Argument
Inländerdiskriminierung. Man dürfe für die Antragsteller
nach diesem Gesetz keine Bevorzugung beschließen.
Dazu ist zu sagen: Erstens haben es immer noch vor al-
lem Migranten schwerer auf dem Arbeitsmarkt. Und
zweitens ist doch das Hauptproblem die Kürzungspolitik
dieser Koalition. Die Schlussfolgerung kann doch nicht
lauten, nichts mehr zu machen, sondern es müssen gene-
relle Verbesserungen her, etwa im Rahmen eines Er-
wachsenenbildungsfördergesetzes.
Ich betone für die SPD-Fraktion nochmal: Dieses Ge-
setz ist ein Fortschritt, doch es wird so nicht zu dem er-
hofften echten Fortschritt führen. Wir wollen nicht, dass
nur geguckt wird, ob jemand passt oder nicht – und im
Zweifelsfall gibt es ja genug Antragsteller aus dem Aus-
land. Sondern wir wollen die Menschen, die hier leben,
die mittun wollen, unterstützen, ihnen eine Chance ge-
ben.
Die Koalition warnt vor einem Vermittlungsverfah-
ren, das durch den Bundesrat beschlossen werden
könnte. Dieses Gesetz müsse jetzt endlich schnell in
Kraft treten, man habe schon lange genug gewartet.
Doch es war diese Koalition, die für die lange Wartezeit
verantwortlich ist. Da kann man nicht den anderen Be-
teiligten sagen: „Jetzt macht mal schneller“. Vor allem
aber ist es die schwachbrüstige Ausgestaltung des Geset-
zes, die das Risiko erzeugt, dass der Bundesrat den Ver-
mittlungsausschuss anruft. Der böte jedenfalls die
15448 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011
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Chance auf Verbesserungen, zu denen die Koalition trotz
Sachverständigenanhörung und trotz unserer Anträge
nicht willens oder in der Lage war.
Aydan Özoğuz (SPD): Immerhin zeigt die Debatte
eins ganz deutlich: Alle Fraktionen sind sich darin einig,
dass die verbesserte Anerkennung ausländischer Berufs-
qualifikationen dringend notwendig ist. Das ist ja schon
Mai eine wichtige Voraussetzung, um in einem Thema
weiterzukommen, dessen Titel so klingt, als wolle man
nur gegenüber Zuwanderern freundlich sein. Zur Wahr-
heit gehört natürlich dazu, dass wir unserer Gesellschaft
und unserem Land keinen Gefallen damit tun, wenn wir
Ausbildungen von Menschen schlicht nicht wahrnehmen
wollen und diese sogar mit akademischen Abschlüssen
als „ungelernt“ in unseren Statistiken und auf den
Arbeitsämtern führen. Der Rechtsanspruch auf ein Prüf-
verfahren ist auch ein Stück Willkommenskultur für
Bürgerinnen und Bürger mit ausländischer Berufsquali-
fikation. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokra-
ten wollen denen, die sich für Deutschland entschieden
haben, zeigen: Wir brauchen dich mit all deinen Qualifi-
kationen und Kompetenzen.
Leider bleibt der Gesetzentwurf in vielen Passagen
hinter den Erwartungen zurück. Zu wenig serviceorien-
tiert ist das Anerkennungsverfahren und zu zaghaft ist
der Gesetzentwurf bei der Finanzierung und Organisa-
tion der Nachqualifizierungen. Dies hat übrigens auch
der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Inte-
gration und Migration angemerkt. Im Bundesrat werden
wir uns für wesentliche Verbesserungen, die wir auch in
unserem Entschließungsantrag formuliert haben, einset-
zen.
Dass im Gesetz ein Rechtsanspruch auf Beratung
fehlt, ist ein wirkliches Manko. Viele Anspruchsberech-
tigte werden das ihnen zustehende Verfahren nicht
durchlaufen, sollten sie überhaupt von ihrem Recht auf
das Anerkennungsverfahren erfahren haben. Es fehlt
auch eine umfassende Betreuung von Beginn der An-
tragstellung bis zum Ergebnis des gesamten Verfahrens.
Das ist sehr bedauerlich, denn mit einer guten Beratung
steht und fällt vieles, wie wir aus anderen Bereichen wis-
sen, sei es im Gesundheitssystem, in der Arbeitsvermitt-
lung oder eben bei der Anerkennung der ausländischen
Berufsqualifikation.
Wir alle kennen Beispiele aus unseren Wahlkreisen
für fehlende Anerkennungen von Abschlüssen: Verzwei-
felte Bürgerinnen und Bürger mit ausländischer Berufs-
qualifikation wenden sich an uns. Und wir sehen, wie
kompliziert sich scheinbar einfache Sachverhalte dar-
stellen, zum Beispiel bei der Bund-Länder-Koordina-
tion, wo es gemeinsam noch einiges zu klären gibt. Mich
erreichte kürzlich das Schreiben einer russischstämmi-
gen Bürgerin, die seit 20 Jahren als Lehrerin in Russland
die Fächer Deutsch, Latein, Englisch und Französisch
unterrichtet hatte. Ihr Abschluss, aber auch ihre Berufs-
erfahrung, wurden nach ihrem Umzug nach Nord-
deutschland nicht anerkannt; sie bekam lediglich den
Hinweis, ein Studium auf Lehramt ab dem 1. Semester
an der Universität aufzunehmen – nach 20 Jahren Be-
rufserfahrung! Die Konsequenz für die Russin: Sie plant
mit ihrem deutschen Ehemann die Auswanderung nach
Norwegen. Genau das ist das Problem: Hochqualifizierte
Menschen mit Zuwanderungsgeschichte, die unser Land
so dringend braucht, wenden sich enttäuscht ab und
wandern aus.
Wir wissen doch ganz genau, dass nur bei einem klei-
nen Teil der Antragstellerinnen und Antragsteller die
vollständige Gleichwertigkeit festgestellt werden wird.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf ist den Betroffe-
nen dann aber wenig geholfen: Die Finanzierung der
Nachqualifikationen ist ungeklärt, ebenso fehlen Förder-
maßnahmen während der Qualifizierungsphase. Wir hät-
ten ein ambitionierteres Gesetz gebraucht. Leider haben
Sie die vielen Verbesserungsvorschläge der Opposition,
des Bundesrates und der Sachverständigenanhörung im
Bildungsausschuss vom 6. Juli freundlich ignoriert. Wie-
der einmal hat die Koalitionen eigentlich gutes integra-
tionspolitisches Vorhaben selbst ausgebremst.
Heiner Kamp (FDP): Der heutige Tag verdeutlicht,
wie eng Deutschland mit Europa und der restlichen Welt
verwoben ist. Politik lässt sich nicht länger auf den Nati-
onalstaat begrenzen – wir sind gezwungen, unseren
Blick über die Grenzen, ja sogar über die Schlagbäume
des Schengener Raums zu richten.
Wir haben heute Vormittag die Weichen in Richtung
einer Stabilitätsunion für Europa gestellt. Damit haben
wir der europäischen Idee ein ökonomisches Fundament
geschaffen und die Basis für unseren gemeinsamen Wirt-
schaftsraum zementiert. Zugleich haben wir dafür ge-
sorgt, dass die parlamentarische Demokratie gestärkt
wurde. Es geht kein Weg mehr am Deutschen Bundestag
vorbei. Die Mitspracherechte sind nunmehr so stark wie
in keinem anderen Mitgliedstaat der Euro-Länder.
Nun folgt das sogenannte Anerkennungsgesetz, me-
dial vielleicht mit ein bisschen weniger Beachtung ge-
segnet, doch nicht mit minderer Wirkung für die Zu-
kunftsfähigkeit unseres Landes. Das von der schwarz-
gelben Bundesregierung eingebrachte Gesetz zur Ver-
besserung der Feststellung und Anerkennung im Aus-
land erworbener Berufsqualifikationen ist ein bedeuten-
der Meilenstein auf dem Weg hin zu einem modernen,
offenen, leistungsstarken Land.
Mit dem Anerkennungsgesetz verwirklichen wir das,
was wir im Koalitionsvertrag vereinbart haben. Bereits
in der vergangenen Wahlperiode hatte die FDP gefor-
dert, dass es mit den Berufsschranken und Zugangssper-
ren für qualifizierte Ausländer ein Ende haben müsse.
Jeder kennt die Berichte von Ärzten oder Anwälten, die
nicht praktizieren dürfen. Mit dem Anerkennungsgesetz
wollen wir nun einen Schlussstrich unter dieses leidige
Kapitel setzen. Wir sorgen dafür, dass die Zahl derjeni-
gen, die an der „gläsernen Trennscheibe“ deutscher Be-
hörden scheitern, deutlich reduziert wird und unser Land
endlich von den bis dato vergeudeten Fähigkeiten und
Kompetenzen dieser Menschen profitieren kann. Wir be-
hindern Menschen nicht mehr dabei, sich selber helfen
zu können – damit wird eine langjährige Forderung der
Liberalen endlich Gesetzeswirklichkeit.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15449
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Vorherige Regierungen wollten das Problem nicht an-
fassen, sind vor der Aufgabe zurückgeschreckt. Ein zu
heißes Eisen für Rot-Grün! Schwarz-Rot hat zumindest
über die Anerkennung von Bildungsabschlüssen nachge-
dacht. Insoweit kann ich die Kritik der Genossen nicht
nachvollziehen. Versucht da jemand verzweifelt, Haare
in die Suppe zu streuen, die er selbst nicht hat kochen
können?
Union und FDP haben das Thema gemeinsam und
konstruktiv angepackt. Wir haben uns die nötige Zeit ge-
nommen und ein Gesetzespaket geschnürt, das sich
wirklich sehen lassen kann. Das vorliegende Artikelge-
setz ist ein echter Meilenstein. Mit dem Berufsqualifika-
tionsfeststellungsgesetz als neuem Bundesgesetz sowie
den zahlreichen Anpassungen in den Berufsgesetzen und
Verordnungen legen wir als Bund vor. Nun sind die Län-
der am Zug, in ihrem Zuständigkeitsbereich entspre-
chend nachzuziehen.
Drei Punkte sind mir in unserem neuen Anerken-
nungsgesetz ganz besonders wichtig.
Erstens schaffen wir mit dem neuen Gesetz die Vo-
raussetzung dafür, den Schatz der in unserem Land noch
schlummernden Qualifikationspotenziale zu heben. Wir
heißen qualifizierte Migranten in Deutschland willkom-
men. Wir etablieren eine echte Anerkennungskultur. Wir
zeigen unsere Anerkennung für Bildungsleistungen im
Ausland. Viele Zugewanderte, die bereits bei uns leben,
haben aus ihrer Heimat Qualifikationen mitgebracht.
Bislang konnten sie diese in Deutschland nicht voll ein-
setzen. Oder sie mussten sie unter Wert verkaufen. Das
wird sich nun ändern.
Zweitens öffnen wir das Tor für qualifizierte Zuwan-
derung nach Deutschland. Wer aus dem Ausland in
Deutschland eine Arbeit anstrebt, kann bereits von sei-
ner Heimat aus überprüfen, ob sein Abschluss hier aner-
kannt wird. Als Nächstes sollten wir nun ein Punktesys-
tem für eine gesteuerte Zuwanderung auf den Weg
bringen. Das Anerkennungsgesetz ist dafür ein geeigne-
tes Instrument.
Drittens ist das Anerkennungsgesetz ein wichtiger
Beitrag zur Integration. Wir senden ein Zeichen des
Willkommens, zeigen unseren Respekt für im Ausland
erworbene Qualifikationen und geben die Chance, vor-
handene Fähigkeiten zu entfalten. So können künftig
auch Ärzte aus Drittstaaten approbiert werden. Wir
schauen nur noch auf den Abschluss, nicht auf die Her-
kunft. Herzlich willkommen!
Die Wachstumsfahrt der deutschen Wirtschaft ist bei-
spiellos. Deutschland erfährt weithin Respekt und Aner-
kennung dafür, wie wir aus der Krise herausgekommen
sind. Unsere Wirtschaftspolitik hat die Weichen richtig
gestellt. Auch wenn sich der heiße Konjunkturkessel nun
langsam wieder auf normale Betriebstemperatur herun-
terregelt, sind die Aussichten doch im Vergleich blen-
dend. Damit sich unsere deutsche Wachstumsfahrt so dy-
namisch fortsetzen kann, sind qualifizierte Fachkräfte
ganz entscheidend. Und hier haben wir bereits heute
Engpässe. In den Pflege- und Medizinberufen sowie im
MINT-Bereich sind schon jetzt Fachkräfte knapp. De-
mografie und Wachstum werden dafür sorgen, dass sich
dieser Trend verschärft. Einige Branchen suchen hände-
ringend nach Fachkräften und werden nicht fündig, weil
der Binnenmarkt praktisch leergefegt ist.
Wir müssen attraktiver werden für qualifizierte Zu-
wanderung. Gemeinsam mit der Ausschöpfung der noch
im Land brachliegenden Potenziale können wir dem
Fachkräftemangel begegnen. Gemeinsam können wir
diesem Engpass unserer deutschen Wachstumsfahrt ent-
gegenwirken. Wir müssen die Lokomotive in Europa
bleiben. Das Anerkennungsgesetz ist hierfür ein wichti-
ger Beitrag.
Nun gilt es, das Anerkennungsgesetz gut durch das
weitere parlamentarische Verfahren zu bringen. In der
Stellungnahme des Bundesrates wurden einige Verbesse-
rungsvorschläge unterbreitet, von denen viele übernom-
men werden konnten. Manche haben sich auch als nicht
erforderlich herausgestellt. Was zählt, ist: Das Ergebnis
stimmt. Das haben auch die Anhörung des Ausschusses
sowie die Beratungen gezeigt.
Wer jetzt einen Verzögerungs- oder Blockadekurs im
Bundesrat fährt, lastet dies nicht nur den unmittelbar be-
troffenen Personen an. Auch diejenigen, die händerin-
gend auf den Einsatz dieser Fachkräfte warten, werden
darunter leiden. Das sind nicht nur Fabriken und Hand-
werksbetriebe. Das sind auch Seniorenheime und Kran-
kenhäuser. Das sind Arztpraxen, Sozialstationen und
Hospize.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition,
helfen Sie mit, dass wir etwas für eine echte Willkom-
menskultur, eine gesteuerte Zuwanderung und die Be-
kämpfung des Fachkräftemangels tun. Sprechen Sie mit
Ihren Länderkollegen, und tragen Sie dazu bei, dass das
Anerkennungsgesetz die letzten parlamentarischen Hür-
den nehmen kann.
„Wer etwas gelten will, muss andere gelten lassen.“
Dieses Goethe-Wort trifft, was wir mit dem Anerken-
nungsgesetz vorhaben.
Sevim Dağdelen (DIE LINKE): Ob sich nun nach
Jahren für die in Deutschland lebende Ärztin aus Russ-
land, die putzen gehen muss, die kamerunische Akade-
mikerin, die trotz Promotion als Küchenhilfe arbeitet,
oder den deutschen oder iranischen Ingenieur, der Taxi
fahren muss, etwas ändern wird, bleibt abzuwarten. Sie
haben jetzt zwar einen formalen Rechtsanspruch auf ein
Anerkennungsverfahren für ihre im Ausland erworbenen
Qualifikationen. Doch vielen wird dieser nicht viel brin-
gen. Dafür hat die Bundesregierung mit ihrem inhaltlich
und handwerklich unzureichenden Gesetzentwurf ge-
sorgt.
Die Bundesregierung hat die Anerkennung vom
Geldbeutel und sozialen Status der Betroffenen abhängig
gemacht. Viele Antragsteller müssen mit hohen Kosten
– es stehen Kosten von bis zu 5 000 Euro im Raum – für
ein Anerkennungsverfahren rechnen – und das bei Men-
schen, denen man jahrelange Dequalifizierung, Diskri-
minierung und Ablehnung zugemutet hat. Das ist nicht
hinnehmbar.
15450 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011
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Erst schiebt die rot-grüne, dann die Große Koalition
und jetzt die schwarz-gelbe Koalition diese Menschen in
den Niedriglohnsektor ab. Nun sollen die Betroffenen
dafür auch noch derartige Beträge zahlen. Das ist zy-
nisch.
Zynisch ist es auch, wenn die Bundesregierung diesen
Gesetzentwurf als großen Wurf feiert. Das ist er keines-
falls. Auf die großspurigen Ankündigungen der Bundes-
regierung folgt mal wieder die triste Realität ihrer Des-
integrationspolitik.
Erinnern wir uns: Bereits 2007 legte Die Linke einen
Antrag vor (Drucksache 16/7109). Wir machten Vor-
schläge zur erleichterten Anerkennung von im Ausland
erworbenen Qualifikationen. Darüber hinaus forderten
wir gezielte Angebote zur Ergänzungsqualifizierung und
eine Beratungsstruktur. So sollte eine vollständige Aner-
kennung ermöglicht werden.
Zwei Jahre dauerte es, bis die Bundesregierung über-
haupt auf das Problem einging. Im Dezember 2009 legte
sie ihre Eckpunkte vor. Erst im März 2011 folgte dann
ihr Referentenentwurf bzw. im Juni ihr Gesetzentwurf.
Wofür dabei vier Jahre gebraucht wurden, bleibt aller-
dings vollkommen unklar.
Waren schon die Eckpunkte eine Enttäuschung, ist
der Gesetzentwurf für die Betroffenen eine Zumutung.
Die Bundesregierung kann erneut nicht einmal ihrem ei-
genen Anspruch gerecht werden. Und der war ja ohnehin
noch nie besonders hoch. Mehr Transparenz und Verein-
fachung sollte das Gesetz bringen. Doch das Gegenteil
ist und bleibt der Fall: Die Kammern sollen die Anerken-
nungsverfahren durchführen. Damit ist unverändert eine
Vielzahl von Anlaufstellen in 16 verschiedenen Bundes-
ländern für die verschiedenen Berufsgruppen zuständig.
Sie haben die Gelegenheit verstreichen lassen, eine ein-
heitliche Bewertungsstelle zu schaffen. Es ist eine Zu-
mutung für die Betroffenen, dass die Bewertung ihrer
Qualifikationen dem Zufall des Wohnortes überlassen
wird. Da reicht es auch nicht, wenn einzelne Kammern
eine zentral zuständige Kammer benennen wollen. Wie
und ob ihre angekündigte Datenbank hier Abhilfe schaf-
fen soll, steht ja auch noch in den Sternen. Ich hoffe für
die Betroffenen, dass es besser läuft als mit dem dialog-
orientierten Zulassungsverfahren für Studierende. Die
warten nämlich schon seit Jahren. Die Linke prophezeit
ihnen: Es wird zwischen den Bundesländern auch wei-
terhin ungleiche Bewertungsergebnisse gleicher Qualifi-
kationen geben. Und genau das sollte ursprünglich end-
lich der Geschichte angehören. Das ist wirklich
beschämend, dass sie nach so langer Zeit eine so man-
gelhafte Regelung hier vorlegen.
Im Widerspruch zu den Eckpunkten wollen Sie einen
Anspruch auf Beratung gesetzlich nicht verankern. Ihr
Gesetz soll kostenneutral bleiben. Sie verweisen auf be-
stehende Beratungsangebote. Dabei ist doch klar, wo ge-
spart wird, wenn es finanziell eng wird.
Es ist doch völlig absurd, dass das Anerkennungsge-
setz ohne den Einsatz zusätzlicher Mittel wirksam wer-
den soll. Denn es müssen ja erst die notwendige Infra-
struktur sowie ein Angebot an Ergänzungs- und
Anpassungsqualifizierungen über das schon existierende
hinaus geschaffen werden. Auch hier fehlt aus unserer
Sicht eine gesetzliche Verankerung, die nicht nur für die
reglementierten Berufe gilt. Die Linke fordert deshalb,
100 Millionen Euro zusätzlich für die Anpassungs- und
Ergänzungsqualifikationen zur Verfügung zu stellen.
Denn bereits jetzt ist absehbar, dass die aktuellen Mittel
den Bedarf nicht decken können.
Es wird deutlich, dass Integration für die Bundes-
regierung und die Regierungsfraktionen lediglich eine
Floskel ist. Denn wenn es darum geht, die Rahmenbe-
dingungen für die soziale Integration zu schaffen, versa-
gen Sie – und das wissentlich. Lassen Sie endlich den
vorwurfsvollen Ton gegen Migrantinnen und Migranten,
sie würden sich nicht integrieren lassen! Schüren Sie
nicht weitere rechtspopulistische Vorurteile! Verhindern
Sie nicht die Integration, sondern ermöglichen Sie diese
endlich, indem Sie unserem Antrag zustimmen!
Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die
bessere Anerkennung ausländischer Berufsausbildun-
gen und -abschlüsse in Deutschland ist seit langem über-
fällig. Es ist nicht hinnehmbar, dass Hunderttausende
weit unterhalb ihres Qualifikationsniveaus beschäftigt
oder sogar arbeitslos sind wegen einer schlechten Aner-
kennungspraxis. Das ist eine Missachtung der individu-
ellen Leistung. Es ist aber auch aus gesellschaftlichen
und wirtschaftlichen Gründen zutiefst irrational.
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung ist zweifel-
los ein erheblicher Fortschritt gegenüber dem bisherigen
Status quo. Dass dieser Entwurf nun mit erheblicher Ver-
zögerung vorgelegt wird, sagt nicht nur etwas über die
Komplexität der Materie, sondern belegt auch, wie stark
nach wie vor die Widerstände verschiedener Interessen-
gruppen gegen eine angemessene Modernisierung auf
diesem Gebiet sind. Das spiegelt sich leider auch im vor-
liegenden Gesetzentwurf wider, der deshalb leider teil-
weise hinter den Notwendigkeiten zurückbleibt.
Positiv ist, dass im allgemeinen Teil des Gesetzes der
Zugang zum Anerkennungsverfahren nicht mehr von der
Staatsangehörigkeit abhängig sein soll. Positiv ist auch,
dass sich die Anpassungsmaßnahmen und Kenntnisprü-
fungen auf die festgestellten Defizite gegenüber dem
deutschen Referenzberuf beziehen sollen und nicht eine
deutsche Gesamtprüfung verlangt wird. Negativ ist aber,
dass in den dann anschließenden Fachgesetzen von Re-
geln und Prinzipien des allgemeinen Anerkennungsge-
setzes ohne erkennbaren Grund abgewichen wird. Hier
haben sich offenkundig starke Lobbygruppen durchge-
setzt.
Dies ist auch deshalb bedauerlich, weil zu befürchten
ist, dass dies erst recht geschehen wird, wenn die Bun-
desländer Regelungen für die Berufe treffen müssen, für
die sie zuständig sind, und dann Landespolitiker zuhauf
mit Horrorszenarien konfrontiert werden, als würden
demnächst Klempner zur Patientenbehandlung einge-
setzt und Analphabeten zur Brückenkonstruktion. Er-
kennbar geht es bei diesen Diskussionen meist weniger
um Verbraucherschutz, sondern mehr um die Abwehr
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15451
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von Konkurrenz. Da ist von Bildungs- und Integrations-
politikerinnen und -politikern Standhaftigkeit gefragt.
Damit komme ich zu einem weiteren Schwachpunkt
im Gesetz: Gerade weil zu befürchten ist, dass nicht
überall die Anerkennungsverfahren im Sinne einer bes-
seren Integration durchgeführt werden, sondern sich
zum Teil auch Exklusionsstrategien durchsetzen könn-
ten, wäre eine zentrale Stelle für die Sicherung und
Weiterentwicklung einheitlicher Qualitäts- und Verfah-
rensstandards, für das Wissensmanagement und die Ent-
wicklung von Fortbildungsstrategien wichtig gewesen.
Eine Hotline und eine statistische Datenbank kann dies
nicht ersetzen. Hier wurde eine entscheidende Weichen-
stellung für einheitliche faire Verfahren versäumt.
Versäumt wurde leider auch, einen Rechtsanspruch
auf dezentrale Begleitung und Beratung im Verfahren im
Gesetz zu verankern. Davon werden für viele die Er-
folgsaussichten aber abhängig sein. Ohne Rechts-
anspruch droht hier eine begleitende Beratung nach Kas-
senlage, und die sieht bekanntlich vielerorts mau aus.
Das ganze Gesetz läuft aber ins Leere und verfehlt
seinen Zweck, wenn es nicht ein ausreichendes Angebot
an Anpassungsqualifizierungen und für berufsspezifi-
sches Deutsch gibt. Hier scheint mir eine Bund-Länder-
Kontroverse auf dem Rücken der Betroffenen geradezu
vorprogrammiert.
Die Diskussion über das Anerkennungsgesetz und
über eine mögliche Diskriminierung von Inländern in
diesem Zusammenhang hat auch eines deutlich gemacht:
Deutschland ist bei der beruflichen Weiterbildung für
Erwachsene noch Entwicklungsland. Ich wünsche mir,
dass vom Anerkennungsgesetz ein Impuls dafür ausgeht,
dass die Bundesregierung auf dem Feld der Erwachse-
nenbildungsförderung insgesamt endlich einmal Fahrt
aufnimmt.
Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bildung
und Forschung: Zu Beginn zwei Fakten: In Deutschland
hat jeder Fünfte Wurzeln im Ausland. Etwa zwei Drittel
von ihnen sind zugewandert. Darunter sind viele, die in
ihrer Heimat eine Berufsausbildung oder ein Studium
absolviert haben. Viele von ihnen können aber nicht in
ihrem Beruf arbeiten, weil die Anerkennung fehlt.
Zweiter Punkt: der demografische Wandel. Deutsch-
landweit fehlen Pflegerinnen und Pfleger. Auf dem Land
gibt es vielerorts zu wenige Ärzte. Und auch im MINT-
Bereich suchen Unternehmen nach qualifizierten Fach-
kräften.
Das Anerkennungsgesetz, über das wir heute ent-
scheiden, leistet einen richtungsweisenden Beitrag dazu,
gut qualifizierte Zuwanderer besser in den Arbeitsmarkt
und die Gesellschaft zu integrieren und den Fachkräfte-
bedarf in Deutschland zu decken. Keine Bundesregie-
rung zuvor hat sich dieser komplexen Herausforderung
gestellt: Das Gesetz umfasst mehr als 60 Berufsregelun-
gen auf Bundesebene.
Etwa 285 000 Menschen sind in unserem Land unter-
halb ihrer Qualifikation beschäftigt oder arbeitslos, weil
ihre Abschlüsse nicht anerkannt werden. Es ist Zeit, die-
sen Menschen Respekt für ihre Lebensleistung zu zollen
und ihnen zu zeigen, dass ihre Qualifikationen und ihre
Berufserfahrung in Deutschland gebraucht und wertge-
schätzt werden.
Das Anerkennungsgesetz ist ein wichtiges und über-
fälliges Signal für Integration. Wir schaffen damit einen
gesetzlichen Anspruch auf Prüfung der Gleichwertigkeit
ausländischer Berufsausbildungen. Ausschlaggebend
wird nur mehr die Qualität des Abschlusses und nicht die
Herkunft der Antragsteller sein. Spätaussiedler haben
künftig ein Wahlrecht zwischen dem bisherigen und dem
neuen Verfahren.
Mit dem Anerkennungsgesetz legen wir erstmals bun-
deseinheitliche Kriterien und weitgehend einheitliche
Verfahren für die Gleichwertigkeitsprüfung fest. Eine
einmal festgestellte Gleichwertigkeit gilt für ganz
Deutschland und kann nicht von einem Land anerkannt
und vom anderen abgelehnt werden.
Bei den Ausbildungsberufen ist selbst ein ablehnen-
der Bescheid für Betriebe und Antragsteller von Nutzen:
Denn zum einen werden damit die vorhandenen Qualifi-
kationen dokumentiert, zum anderen wird erklärt, wo
noch Weiterqualifizierungsbedarf besteht.
Wer jetzt aber daherkommt und einen allgemeinen
Anspruch auf Nachqualifizierung fordert, schießt weit
über das Ziel hinaus. Das wäre ein klarer Fall von Inlän-
derdiskriminierung. Klar ist, dass Nachqualifizierungen
notwendig sind. Die gibt es aber auch heute schon. Sie
stehen zur Verfügung, insbesondere über die Förderung
der Arbeitsverwaltung und die Instrumente der indivi-
duellen Bildungsfinanzierung.
An die Adresse einiger Länder sage ich: Mich ver-
wundert an so mancher Stelle die Kritik, die jetzt laut
wird. In einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe haben wir
konkrete Vorschläge zur Vereinheitlichung der Verwal-
tungspraxis erarbeitet. Diese Vorschläge werden von den
Ministerpräsidenten im Oktober erneut beraten. Ich gehe
davon aus, dass sich die Ministerpräsidenten an ihre Be-
schlüsse vom Dezember 2010 erinnern, in denen sie eine
schnelle und unbürokratische Neuregelung auch in den
Ländern angemahnt haben. Jetzt sind die Länder am
Zug. Das Bundesgesetz liegt vor!
Das Anerkennungsverfahren haben wir bewusst bei
den Stellen angesiedelt, wo schon Sachverstand und Er-
fahrung vorliegen. Neu ist, dass die Aufgaben auf ge-
meinsame Stellen übertragen und gebündelt werden kön-
nen. Die Industrie- und Handelskammern beispielsweise
bereiten schon den Aufbau einer zentralen Anerken-
nungsstelle in Nürnberg vor.
Mitentscheidend für den Erfolg des Anerkennungsge-
setzes ist ein gut ausgebautes Beratungssystem. In den
nächsten drei Jahren investiert der Bund dafür rund
75 Millionen Euro. Wir verzahnen arbeitsmarktbezogene
Unterstützungsleistungen in regionalen Netzwerken. Wir
richten eine Telefonhotline, ein Informationsportal und
bundesweit ein flächendeckendes Netz von Anlaufstel-
len zur Erstinformation ein. Ein Großteil dieser Erstan-
laufstellen arbeitet bereits sehr erfolgreich – es kann also
15452 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011
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(D)(B)
keine Rede davon sein, dass der Bund keine Beratung
anbietet.
Im Interesse der Menschen mit ausländischen Qualifi-
kationen bitte ich Sie um Unterstützung für dieses Ge-
setz.
Das Anerkennungsgesetz gibt uns die Möglichkeit,
angesichts des demografischen Wandels Potenziale zu
nutzen, die derzeit zum Schlummern verdammt sind. Wir
brauchen dieses Gesetz. Es ist Teil einer Integrationskul-
tur, Teil einer Willkommenskultur. Wer jetzt das Gesetz
verzögert, schadet vor allem den Betroffenen, die auf das
Gesetz warten!
Anlage 8
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Weitere Daten-
schutzskandale vermeiden – Gesetzentwurf
zum effektiven Schutz von Beschäftigtendaten
vorlegen (Tagesordnungspunkt 10)
Michael Frieser (CDU/CSU): Was soll man groß zu
dem Antrag der SPD sagen? Denn eigentlich ist er völlig
indiskutabel und erscheint mir als fraktioneller Schnell-
schuss. Er bietet mir deshalb in erster Linie als Bericht-
erstatter der CDU/CSU-Fraktion eine gute Gelegenheit,
mich hier einmal grundsätzlich zum Thema Beschäftig-
tendatenschutz zu äußern, bevor wir in den nächsten Wo-
chen das Gesetzesvorhaben der Bundesregierung erfolg-
reich beenden werden.
Auffällig ist: Sie stehen mit Ihrem heutigen Antrag in
Widerspruch zu Ihren bisherigen Zielen und Vorschlägen
im Bereich des Arbeitnehmerdatenschutzes. Und Sie fal-
len mit Ihren Forderungen weit hinter Ihre bisherigen
Grundsätze zurück. Dies fällt auf, wenn man einmal den
Vorschlag Ihres ehemaligen Bundesarbeitsministers Olaf
Scholz danebenlegt; den Vorschlag haben Sie ja vor
nicht langer Zeit hier in den Bundestag eingebracht. So
sollte man davon ausgehen, dass er noch für Sie Gültig-
keit hat. Warum Sie davon jetzt abweichen, müssen Sie
uns hier erklären.
Ich darf Sie erinnern, dass Olaf Scholz mit seinem
Entwurf die bestehenden Vorschriften und Gerichtsur-
teile zum Beschäftigtendatenschutz vereinheitlichen
wollte. Dies gesetzlich zu regeln, hat er allerdings nicht
hinbekommen.
Es ist die christlich-liberale Bundesregierung unter
Bundeskanzlerin Merkel, die den ersten Gesetzentwurf
für ein solches Gesetz dem Bundestag vorlegt. Und die-
ser Entwurf verfolgt genau zwei Grundsätze: Es wird ein
Ansatz verfolgt, der zwischen den berechtigten Interes-
sen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern ausgleicht, der
sich weitgehend an der vorhandenen Rechtsprechung
orientiert.
Denn es gibt zwar bereits heute zu vielen Fragen des
Beschäftigtendatenschutzes eine einzelfallbezogene
Rechtsprechung der Arbeitsgerichte. Diese ist allerdings
oft uneinheitlich. Obergerichtliche Urteile sind selten.
Der Gesetzentwurf kann daher mit seinen Regelungen zu
größerer Rechtssicherheit im Beschäftigungsverhältnis
beitragen, für beide Seiten; dies scheinen die Vertreter
auf den Oppositionsbänken immer zu vergessen.
Die Bundesregierung geht in ihrem Entwurf zum
Wohle der Beschäftigten in einigen Bereichen weit über
die gegenwärtige Rechtsprechung hinaus. Hierzu gehört
eindeutig das Verbot der Überwachung von Mitarbeitern
durch versteckte Kameras. Daran werden wir nicht rüt-
teln. Denn diese sogenannte verdeckte Videoüberwa-
chung wird nicht zuletzt aufgrund der vergangenen
Datenschutzskandale im Gesetzentwurf ausdrücklich
verboten. Es ist meines Erachtens ein für den Schutz der
legitimen Interessen der Beschäftigten zentraler Punkt
und stellt eine deutliche Verbesserung der gegenwärtigen
Rechtslage dar.
Ich will hier noch einmal betonen: Die Bundesregie-
rung geht mit ihrem Gesetzentwurf einen bemerkens-
werten Schritt: Die Bundesregierung unterbreitete mit
ihrem Entwurf dem Bundestag einen Vorschlag für eine
gesetzliche Regelung einer Materie, nach welcher viele
Datenschutzexperten mit wachsender Vehemenz seit den
1990er-Jahren gerufen haben.
Der Grund für das bisherige Zögern der Bundesregie-
rungen liegt auf der Hand: Der Datenschutz im Beschäf-
tigungsverhältnis steht in einem starken Interessenge-
gensatz von Arbeitgebern einerseits und Arbeitnehmern
andererseits. Die Arbeitnehmer sollen sicher vor Bespit-
zelungen sein. Gleichzeitig müssen aber den Arbeitge-
bern verlässliche Instrumente für den Kampf gegen Kor-
ruption an die Hand gegeben werden. Selbstverständlich
geht es bei der Frage nach Datenschutz in Unternehmen
auch um den Umgang mit einer wachsender Korrup-
tionsanfälligkeit, um den Umgang mit Geheimnisverrat
und um die Bekämpfung von Straftaten.
Ich erinnere mich an unsere Debatte im Februar, als ich
Ihnen, Herr Kollege Reichenbach, den Begriff „Compli-
ance“ erklären musste. Als kleine Erinnerung: Unter dem
Begriff „Compliance“ versteht man das Durchsetzen und
das Einhalten von Rechtsvorschriften. Ein Unternehmen
kann sich beispielsweise dem Deutschen Corporate Go-
vernance Kodex unterwerfen. Grundsätzlich geht es um
die legalen Grundlagen. Das kann ich nicht ins Belieben
des Unternehmers, des Arbeitgebers oder der Betriebs-
verfassung stellen. Vielmehr geht es darum, dass sich
das Unternehmen verpflichtet, alles zu tun, damit diese
Grundregeln wirklich eingehalten werden.
Daher ist das Ziel des Gesetzes, einen interessenaus-
gleichenden Ansatz zu verfolgen. Genau diesen Grund-
satz aber haben Sie vergessen.
Sie sollten sich vor einer Grabenkampfrhetorik hüten:
Es ist schlichtweg falsch, die Erhebung der Daten des
Arbeitnehmers durch einen Arbeitgeber reflexhaft als ei-
nen unzulässigen Eingriff, als etwas Anrüchiges und Un-
erlaubtes zu verurteilen. Es ist in einem Bundesgesetz
nun einmal nicht ausreichend, alles pauschal zu verbie-
ten. Und es reicht auch die pauschale Forderung nach ei-
ner Verhinderung von vorangegangenen Datenschutz-
skandalen nicht, denn dies würde nichts anderes sein als
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15453
(A) (C)
(D)(B)
die Forderung: Lasst uns endlich verbieten, was schon il-
legal ist.
Ich helfe Ihnen hier nicht, ein falsches Bild zu malen.
Es gibt neben den Daten, die für einen ordnungsgemä-
ßen Betrieb eines Unternehmens erforderlich sind, auch
viele Daten, die zugunsten der Arbeitnehmer vom Ar-
beitgeber erfragt werden: Hierzu gehören nicht nur die
Kontonummer, bei der monatlich das Gehalt eingeht,
sondern auch Unternehmens- und Kapitalbeteiligungen,
Bonus- und Rabattprogramme, gesundheitliche Vorsor-
geprogramme und betriebliche Versicherungen.
Bereits in der vorliegenden Fassung der Regierung
stellt der Gesetzentwurf eine Verbesserung und Auswei-
tung des Schutzes der Arbeitnehmerdaten dar. Das
Gesetz wird ganz unmittelbar mehr als 40 Millionen Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland be-
treffen. Sie alle werden in diesem nachlesen können,
welche personenbezogenen Daten der Arbeitgeber erhe-
ben, speichern und verarbeiten darf.
Um die Einheitlichkeit des Datenschutzrechts zu ge-
währleisten, haben wir uns darauf geeinigt, den Beschäf-
tigtendatenschutz im Bundesdatenschutzgesetz, BDSG,
aufzunehmen. Es wäre nicht sinnvoll, den Datenschutz
im Betrieb über mehrere Gesetze zu verstreuen. Dies hat
praktische Vorteile für die Anwendung des Gesetzes
durch die betrieblichen Datenschutzbeauftragten und für
die Angestellten in den Betrieben und Unternehmen.
Diese Entscheidung wurde auch von den Sachverständi-
gen in der Anhörung ausdrücklich begrüßt.
In den bisherigen Beratungen wurde deutlich, dass an
dem derzeitigen Entwurf an der einen oder anderen
Stelle noch technische Änderungen vorzunehmen sind.
Dies ist begründet mit der Tatsache, dass wir eine Reihe
von konzeptionellen Richtlinien und Betriebsvereinba-
rungen, aber vor allem eine umfassende Rechtsprechung
vorfinden. Das macht es sehr schwierig, eine gelebte
Praxis ausfindig zu machen. Ich selber kann mit Blick
auf meine Tätigkeit in der freien Wirtschaft sagen: Es ist
wichtig und notwendig, sich sehr tief einzuarbeiten, um
zu wissen, wie der Datenschutz in den Unternehmen
praktisch umgesetzt werden kann. Es geht natürlich um
die Frage, inwieweit verschiedene Sphären gegeneinan-
der abgewogen werden können.
Auf der einen Seite haben wir die Personalität des
Mitarbeiters, des Arbeitnehmers. Er unterliegt der infor-
mationellen Selbstbestimmung und muss in seinem Be-
reich geschützt werden. Auf der anderen Seite haben wir
das Rechtssubjekt des Mitarbeiters, der seinen Arbeits-
vertrag erfüllen muss. Der Mitarbeiter hinterlässt zu je-
der Zeit Daten, die zweierlei Zwecken dienen: erstens
der Selbstdefinition als Person, zweitens der Erbringung
der Arbeit und der Umsetzung des Arbeitsauftrages. Es
ist deshalb entscheidend, dass wir an dieser Stelle die
Unternehmen stärken und gleichzeitig die Mitarbeiter
schützen; hier liegt die Herausforderung bei diesem Ge-
setzentwurf.
Aus meiner Sicht gehört hierzu das zu strikte Verbot
abweichender betrieblicher und individueller Vereinba-
rungen. Hier gilt es, eine Regelung zu finden, die dem
Gedanken der Privatautonomie ausreichend Rechnung
trägt, ohne den Schutz des Arbeitnehmers zu vernachläs-
sigen. Unsere Aufgabe ist es daher, Fälle zu identifizie-
ren, in denen wir solche Abweichungen zulassen wollen,
und solche, bei denen es der Schutz des Arbeitnehmers
verbietet. Die Regelung wird es jedoch nicht zulassen,
das Schutzniveau des Beschäftigtendatenschutzgesetzes
zu unterschreiten.
Erforderlich sind in meinen Augen darüber hinaus
Regelungen über eine (auch) private Nutzung von Tele-
kommunikationsmitteln des Arbeitgebers. Es geht da-
rum, wie Mitarbeiter am Arbeitsplatz mit ihren Daten
umgehen. Dürfen sie privat telefonieren? Dürfen sie pri-
vat ins Internet? Dürfen sie private E-Mails verwenden?
Auch hier kann es Fälle geben, in denen der Arbeitgeber
unter engen Voraussetzungen Einblick in bestimmte Da-
ten des Arbeitnehmers nehmen können muss. Die Alter-
native wäre, die private Nutzung des Internets und Tele-
fons am Arbeitsplatz vollständig zu untersagen – eine
lebensfremde Vorstellung.
Zudem werden wir eine Regelung schaffen, die den
Datenaustausch innerhalb eines Konzerns erleichtert.
Diese Überlegungen werden Gegenstand eines parla-
mentarischen Änderungsantrages sein. Ich bin aber über-
zeugt, dass dieses Gesetz beiden Seiten – sowohl dem
Arbeitnehmer wie auch dem Arbeitgeber – Vorteile brin-
gen wird.
Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): In Ihrem
Antrag erheben Sie neben der Forderung nach einer
Vielzahl von kleinteiligen Regelungen für einen zukünf-
tigen Beschäftigtendatenschutz auch die grundsätzliche
Forderung, den Beschäftigtendatenschutz in einem ei-
genständigen Gesetz zu regeln. Dies ist jedoch nicht nur
antiquiert, sondern geht auch völlig an der Sache vorbei.
Ihr Antrag belegt bereits die Verknüpfungen und Verbin-
dungen zum allgemeinen Datenschutzrecht. Sie nehmen
schließlich fortwährend auf die allgemeinen Grundprin-
zipien des geltenden Datenschutzrechts Bezug. Dies ist
auch nicht weiter verwunderlich. Schließlich gelten der
Grundsatz der Datenvermeidung und der Datensparsam-
keit, der Zweckbindung aber auch die Möglichkeit der
Einwilligung in die Erhebung und Verarbeitung von
Daten auch im Verhältnis von Arbeitgeber und Arbeit-
nehmer. Es ist daher wesentlich effizienter, den Beschäf-
tigtendatenschutz in das bestehende Bundesdatenschutz-
gesetz einzufügen und ihn so unmittelbar mit den bereits
vorhandenen Normen zu verbinden.
Zugegeben, im Verhältnis Arbeitgeber zum Arbeit-
nehmer kann es auch Konstellationen geben, in denen
von den vorgenannten Prinzipien abgewichen werden
muss. Nur kann dies mit Sicherheit nicht in dem Umfang
erfolgen, den Sie in Ihrem Antrag darstellen. Denn
schließlich gilt auch für den Beschäftigtendatenschutz
der Grundsatz, dass ein Interessenausgleich zwischen
den widerstreitenden Grundrechten der Beteiligten ge-
funden werden muss.
Ich möchte an dieser Stelle daher auch noch einmal
deutlich daran erinnern, dass nicht nur Arbeitnehmer
15454 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011
(A) (C)
(D)(B)
Grundrechte haben, auf die sie sich berufen können, son-
dern selbstverständlich auch die Arbeitgeber bzw. Unter-
nehmen. Es muss daher auch in Zukunft die Möglichkeit
für die Unternehmen bestehen, Qualitätskontrollen
durchzuführen und Fehlverhalten aufzudecken, um so
wirksam ihr eigenes und das Eigentum der Mitarbeiter
schützen zu können. In Ihrem Antrag vermisse ich je-
doch diese Gedanken völlig. Einseitig fordern Sie neben
erheblichen Einschränkungen beim automatisierten Da-
tenabgleich auch ein generelles Verbot der Videoüber-
wachung von Beschäftigten zur Qualitätskontrolle. Ist
Ihnen bewusst, dass Sie damit in erheblichem Maße den
Wirtschaftsstandort Deutschland belasten würden?
Schließlich genießt Deutschland in der Welt gerade auf-
grund seiner Präzision und hohen Qualität bei Waren
und Dienstleistungen einen exzellenten Ruf. „Made in
Germany“ ist ein echtes Qualitätsmerkmal, welches
auch zukünftig Bestand haben muss. Dies setzt aber
selbstverständlich auch Qualitätskontrollen und gegebe-
nenfalls auch Videoüberwachung voraus.
Zudem führen Sie mit Ihrem Antrag die mittlerweile
in Deutschland etablierte Corporate-Governance-Rege-
lung völlig ad absurdum. Unternehmensinterne Regeln
haben seit den 90er-Jahren immer mehr an Bedeutung
gewonnen. Sie sorgen vor Ort für Transparenz und einen
angemessenen Interessenausgleich. Oftmals vermitteln
sie den Arbeitnehmern sogar noch ein höheres Schutzni-
veau als das geltende Recht. Folgt man jedoch Ihrem
Antrag, kann die Einhaltung dieser unternehmensinter-
nen Regelungen zukünftig überhaupt nicht mehr über-
prüft werden. Schließlich ist eine Datenerhebung zur
Aufklärung von Verstößen nicht mehr erlaubt. Darüber
hinaus sollen nach Ihrem Antrag Beschäftigte zukünftig
datenschutzrechtliche Missstände gar nicht erst ihrem
Arbeitgeber mehr melden, wozu sie übrigens zivilrecht-
lich verpflichtet sind, sondern direkt den Aufsichtsbe-
hörden.
Würden wir alle diese Vorschläge umsetzen, würden
wir im Gegenzug nicht einen effektiven Schutz von Be-
schäftigtendaten erhalten, sondern nur ein schlechtes Be-
triebsklima in den deutschen Unternehmen. Die christ-
lich-liberale Koalition verfolgt deswegen auch ein
anderes Ziel: Sie will die bisher in vielen einzelgerichtli-
chen Entscheidungen der Arbeits-, Verwaltungs- und So-
zialgerichtsbarkeit getroffenen grundlegenden Aussa-
gen zum Beschäftigtendatenschutz kodifizieren und so
für mehr Rechtssicherheit und Transparenz für alle Be-
teiligten sorgen. Die Dauer des Gesetzgebungsverfah-
rens zeigt, dass es sich dabei nicht nur um eine rechtlich
schwierige Materie handelt, sondern auch, dass wir es
uns bei der Abwägung der verschiedenen Interessen
nicht so einfach wie die Opposition machen. Uns ist das
Spannungsfeld, in dem sich der Beschäftigtendaten-
schutz bewegt, sehr wohl bewusst.
Wir wollen die berechtigen wirtschaftlichen Interes-
sen der Unternehmen auf der einen und das Interesse des
Arbeitnehmers an der Einhaltung seines Rechts auf in-
formationelle Selbstbestimmung auf der anderen Seite
zu einem schonenden Ausgleich führen und keine
Schieflagen produzieren. Wir halten daher Erleichterun-
gen für die Weitergabe von bereits erhobenen Daten in-
nerhalb eines Konzerns für überlegenswert. Schließlich
macht es mehr Sinn einen rechtlichen Rahmen für eine
solche erleichterte Weitergabe zu schaffen, als die Daten
erneut bei den Betroffenen zu erheben.
Wir überlassen Verwendungs- und Verwertungsge-
bote den zuständigen Gerichten. Schließlich haben Ver-
wendungs- und Verwertungsgebote im deutschen Recht
einen prozessualen Charakter und sind immer auch auf
den vorliegenden Einzelfall zu beziehen. Eine gesetzli-
che Regelung wird daher immer unvollständig sein. Wir
lassen selbstverständlich Fragen zu der Ausübung eines
Ehrenamtes zu. Schließlich setzen wir uns für die Förde-
rung des Ehrenamtes ein. Ehrenamtlichkeit mobilisiert
Kompetenz und Einsatz für vielfältige soziale und kultu-
relle Zwecke, die professionell so zielgenau gar nicht
verfügbar gemacht werden könnten.
Viele Betriebe unterstützen daher zu Recht ehrenamt-
liches Engagement mit Flexibilität bei den Arbeitszeiten
von Mitarbeitern oder Auszubildenden. Ausbildungs-
erfolg und berufliche Leistungsfähigkeit profitieren von
den Fähigkeiten und Fertigkeiten, die in ehrenamtlichen
Aufgaben erworben werden. Es ist daher völlig absurd,
einem Bewerber die Gelegenheit zu nehmen, darzustel-
len, wie und mit welchem Einsatz er sich für unsere Ge-
sellschaft einsetzt.
Ich denke, es ist deutlich geworden, dass sich die
christlich-liberale Koalition bereits beim Grundverständ-
nis eines effektiven Beschäftigtendatenschutzes von der
Opposition unterscheidet. Auch wenn die Ergänzung des
vorgelegten Gesetzentwurfs der Bundesregierung noch
ein wenig Zeit in Anspruch nehmen wird, wird sie im
Ergebnis zu einem ausgewogenen und schonenden Aus-
gleich der Interessen führen. Dies wird dann auch zu
mehr Rechtssicherheit bei allen Beteiligten führen.
Josip Juratovic (SPD): Wir sprechen hier nicht zum
ersten Mal über den Arbeitnehmerdatenschutz. Einer-
seits freue ich mich darüber, dass dieses Thema mehr
Aufmerksamkeit bekommt. Andererseits ist es aber ein
Armutszeugnis, dass es die Bundesregierung trotz
höchster Dringlichkeit immer noch nicht geschafft hat,
dazu ein wirksames Gesetz auf den Weg zu bringen. Wir
Sozialdemokraten hatten schon in der großen Koalition
ein solches Gesetz eingefordert. Jedoch kam immer der
damalige Innenminister Schäuble dazwischen. Es ist
schön, dass die Regierung nun lernfähig ist und die Be-
deutung des Themas erkennt. Schließlich geht es hier um
das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung,
das in einigen Betrieben – ich nenne nur Telekom und
Lidl – mit Füßen getreten wird.
Wir alle wissen, dass sich die Arbeitswelt entschieden
verändert hat. Als ich am Fließband stand, waren alle
meine Daten auf einer Karteikarte vermerkt. Wenn mein
Arbeitgeber kontrollieren wollte, wofür ich meine Ar-
beitszeit nutze, konnte er erst nach Ankündigung und
Zustimmung des Betriebsrates vorbeikommen und mir
zuschauen. Das war sehr transparent. Heute aber gibt es
Unternehmen, die wie Kraken Daten sammeln zu allen
Lebenslagen, sei es zur Arbeit, zu Krankheiten oder zum
Familienstand. Und damit geschieht viel Missbrauch.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15455
(A) (C)
(D)(B)
Oft wird dieser Datenmissbrauch als Kavaliersdelikt
abgetan. Aber ein solcher Missbrauch verletzt nicht nur
die Persönlichkeitsrechte der Arbeitnehmer. Ein solcher
Missbrauch gefährdet auch die Leistungsfähigkeit der
Betriebe; denn in einem Betrieb, in dem die Mitarbeiter
ausgespäht werden, hat keiner mehr Lust, sich für das
Unternehmen einzusetzen. Wir brauchen also klare Ver-
hältnisse im Bereich des Arbeitnehmerdatenschutzes,
damit der Betriebsfrieden erhalten bleibt und der Betrieb
mit einem guten Arbeitsklima wirtschaftlich erfolgreich
ist.
Wir Sozialdemokraten fordern seit langem, dass dies
in einem eigenständigen Gesetz geregelt werden soll.
Leider will die Bundesregierung den Arbeitnehmerda-
tenschutz jedoch verwurschteln im Bundesdatenschutz-
gesetz. Wenn das so kommt, brauchen Arbeitnehmer und
Arbeitgeber unnötigen zusätzlichen Rechtsbeistand, um
zu wissen, was jetzt Sache ist. Das Ziel des Arbeitneh-
merdatenschutzes muss aber sein, den Menschen Recht
und Sicherheit zu geben, anstatt die Juristen zu beschäf-
tigen.
In unserem Antrag fordern wir daher detailliert, was
sich am Gesetzentwurf der Bundesregierung ändern
muss. Derzeit ist dies nämlich eher der Entwurf eines
Arbeitnehmerüberwachungsgesetzes. Lassen Sie mich
nur auf wenige Beispiele eingehen: Erstens muss im Ge-
setzentwurf geregelt sein, dass Ortungssysteme nur dann
eingesetzt werden dürfen, wenn sie der Sicherheit des
Beschäftigten dienen, also nicht zur Überwachung, wo
sich der Mitarbeiter gerade befindet.
Zweitens dürfen Daten in einem Konzern nicht ein-
fach an alle Konzernteile weitergegeben werden.
Drittens muss die Videokontrolle stark eingeschränkt
werden. In Räumen, die auch privat genutzt werden, wie
Pausen- und Umkleideräumen, darf keine Kamera mit-
laufen.
Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP, glau-
ben Sie mir, es lohnt sich, die Forderungen aus unserem
Antrag in den Gesetzentwurf der Bundesregierung ein-
zubauen; denn nur dann haben wir einen wirksamen Ar-
beitnehmerdatenschutz, der den Arbeitnehmern und den
Arbeitgebern Nutzen bringt.
Gerold Reichenbach (SPD): Stellen Sie sich bitte
folgendes Szenario vor: Ein Beschäftigter in einem Un-
ternehmen soll vertrauliche Informationen an die Me-
dien gegeben haben. Die Konzernspitze will wissen,
wer. Sie weist die Überwachung der Telefonverbin-
dungsdaten von Mitarbeitern, Aufsichtsräten und Arbeit-
nehmervertretern an. Daten werden automatisiert abge-
glichen. Mitarbeiter werden videoüberwacht. Vorgänge
wie diese haben in den letzten Jahren immer wieder zu
Skandalen geführt. Sie haben deutlich gemacht, dass
beim Arbeitnehmerdatenschutz in unserem Land einiges
im Argen liegt. Wir brauchen dringend zusätzliche Re-
gelungen zum Schutze der Arbeitnehmer.
Wir haben dazu einen Gesetzentwurf eingebracht. Sie
wollten dem nicht folgen, und die Regierung hat einen
eigenen vorgelegt. Dabei haben Sie schon bei der Vor-
lage im Parlament angekündigt, dass der Gesetzesvor-
schlag so nicht bleiben kann, sondern geändert werden
muss. Und jetzt ist ein Jahr verstrichen, ohne dass etwas
passiert ist.
Die Experten haben bei der Anhörung im Innenaus-
schuss des Deutschen Bundestages im Mai 2011 den Ge-
setzentwurf überwiegend kritisiert. Er ist völlig ungeeig-
net, die Persönlichkeitsrechte der Beschäftigten zu
schützen. Aber statt aus diesem Verriss der Sachverstän-
digen Konsequenzen zu ziehen, haben Sie in einem Eck-
punktepapier weitere Verschlechterungen angedroht.
Der Gesetzentwurf erlaubt den automatisierten Da-
tenabgleich und die Ausspähung ohne Kenntnis des Be-
schäftigten bereits dann, wenn nur der Verdacht auf eine
schwerwiegende Pflichtverletzung besteht. Private Tele-
fongespräche und E-Mails sollen ausgewertet werden
können. Der Arbeitgeber darf sogar über einen bestimm-
ten Zeitraum seinen Beschäftigten durch einen Detektiv
beobachten lassen, wenn der Verdacht auf eine schwer-
wiegende Pflichtverletzung besteht, die einen wichtigen
Kündigungsgrund darstellen würde.
Sie erlauben die ununterbrochene Videoüberwa-
chung der Beschäftigten, wenn der Arbeitgeber sie für
die Qualitätskontrolle erforderlich hält. Sie legalisieren
Überwachungsmaßnahmen von Arbeitgebern, die einen
schweren Eingriff in die Persönlichkeitsrechte der Be-
schäftigten darstellen.
Die Würde des Arbeitnehmers am Arbeitsplätz wird
für Sie zum Abwägungsgegenstand gegenüber Betriebs-
und Arbeitgeberinteressen. Ein Szenario wie am Anfang
dargestellt, wäre kein Skandal mehr. Es wäre legal.
Sie wollen jetzt auch noch, dass der ohnehin schwa-
che Schutz des Gesetzes durch die Einwilligung des Ar-
beitnehmers und durch Betriebsvereinbarungen ausgehe-
belt werden kann. Wir fordern die Bundesregierung
deshalb auf, die Konsequenzen aus der Anhörung zu zie-
hen.
Die Würde des Menschen hört nicht am Werkstor auf.
Wir wollen sie auch am Werkstor schützen. Darum for-
dern wir ein Gesetz, das den Arbeitnehmer bereits bei
der Bewerbung schützt. Informationen im Netz und bei
Dritten sollen nur eingeholt werden dürfen, wenn der
Bewerber sie auch als Referenz angegeben hat.
Seien wir doch einmal ehrlich: Wenn ein Arbeitgeber
bei einem Bewerber anruft und sagt, wir möchten Sie
gerne zum Bewerbungsgespräch einladen, aber geben
Sie uns doch bitte vorher Ihre „freiwillige“ Einwilli-
gung, dass wir sämtliche Daten über sie erheben dürfen
– wer würde denn Nein sagen, wenn er Arbeit sucht?
Wir fordern ein Gesetz, das die anonyme Datenerhe-
bung bzw. den Datenabgleich nur zur Aufklärung von
Straftaten und nur anlassbezogen zulässt, etwa bei Un-
treue oder Bestechlichkeit. Ein Gesetz, das arbeitsrecht-
lich untersagte Fragen, etwa nach Schwangerschaft,
nicht offen lässt. Wir wollen auch keine Betriebsverein-
barungen zuungunsten der Beschäftigten oder die nach-
trägliche Einführung eines Konzernprivilegs.
15456 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011
(A) (C)
(D)(B)
Ziehen sie den Gesetzentwurf zurück, er macht den
Skandal legal.
Lassen Sie uns die Regierung auffordern, ein Gesetz
vorzulegen, das die Arbeitnehmer wirklich vor Daten-
missbrauch und exzessiver Überwachung schützt. Die
Eckpunkte dazu haben wir in unserem Antrag beschrie-
ben. Stimmen Sie ihm zu.
Gisela Piltz (FDP): Grundsätzlich finde ich es ja im-
mer erfreulich, wenn man sich an die eigenen guten Vor-
sätze von einst erinnert; denn auch Sie, werte Kollegin-
nen und Kollegen von der SPD, hatten einmal den
wenigstens gut gemeinten Vorsatz, den Datenschutz am
Arbeitsplatz reformieren zu wollen.
In der Zeit von 1998 bis 2009 blieb es dann auch bei
diesem Vorsatz, und der Arbeitnehmerdatenschutz geriet
bei Ihnen in Vergessenheit. Über ein Jahrzehnt haben Sie
es nicht auf die Reihe bekommen, Ihrer Ankündigungs-
politik auch Taten folgen zu lassen. Jetzt kommen Sie
mit Anträgen und werfen sich quasi hinter den fahrenden
Zug. Im Gegensatz zu Ihnen halten wir unsere Verspre-
chen und räumen endlich auf mit Ihren Versäumnissen
der zurückliegenden elf Jahre, in denen Sie immerhin
den zuständigen Minister gestellt haben.
Dass es diese schwarz-gelbe Bundesregierung ist, die
den lang angemahnten Reformbedarf beim Beschäftig-
tendatenschutz endlich anpackt, muss Ihnen nicht gefal-
len. Hätten Sie allerdings ein echtes Interesse an einem
praxisgerechten Beschäftigtendatenschutz, der die Be-
lange aller Beteiligten angemessen berücksichtigt, wür-
den Sie endlich anfangen, sich konstruktiv in die Diskus-
sion einzubringen, anstatt hier eine Nebelkerze nach der
anderen zu zünden.
Besonders interessant wird es allerdings, wenn man
Ihren Gesetzentwurf aus dem Jahr 2009 mit dem jetzigen
Antrag vergleicht. Erstes Bespiel: Datenerhebung im Be-
werbungsverhältnis. Was in Ihrem Gesetzentwurf noch
ausdrücklich für zulässig erachtet wurde, soll durch Ih-
ren Antrag nun generell – das heißt ohne Ausnahme –
verboten sein.
Zweites Beispiel: Gesundheitsuntersuchungen im lau-
fenden Beschäftigungsverhältnis; im Gesetzentwurf er-
laubt, im Antrag nunmehr grundsätzlich verboten.
Drittes Beispiel: internationaler Transfer von Beschäf-
tigtendaten. Was im heute vorgelegten Antrag rundweg
abgelehnt wird, sollte über den Gesetzentwurf noch ohne
große Hürden – anders formuliert: unter Absenkung des
geltenden Schutzniveaus – legitimiert werden.
Diese Aufzählung ließe sich weiter fortführen. So
geht man nicht mit diesem sensiblen Thema um und
auch nicht mit den Betroffenen. Das ist nicht verlässlich.
Sämtliche Forderungen, die Sie eigens aufgestellt hatten
und von denen Sie jetzt nichts mehr wissen wollen, fin-
den sich nahezu eins zu eins im Gesetzentwurf der Bun-
desregierung. Was Sie heute hier tun, ist nichts anderes
als ein oppositionelles Spielchen. Werte Kolleginnen
und Kollegen von der SPD, nur damit Sie mich nicht
falsch verstehen: Ihr Gesetzentwurf vom November
2009 war beileibe nicht der große Wurf. Im Vergleich zu
dem, was Sie heute hier abliefern, muss allerdings sogar
dieser missglückte Entwurf als Sternstunde Ihrer Fach-
politiker eingestuft werden.
Die Berichterstatter der Koalitionsfraktionen hatten
bereits im Rahmen der ersten Lesung zum Gesetzent-
wurf der Bundesregierung deutlich gemacht, dass auch
dieses Gesetz den Deutschen Bundestag nicht so verlas-
sen würde, wie es hineingekommen ist. Dieser Maßgabe
entsprechend haben wir bereits im Vorfeld der öffentli-
chen Anhörung im Mai dieses Jahres Vorschläge ge-
macht, wie der Gesetzentwurf im Detail verbessert wer-
den könnte. Vorschläge, die im Übrigen von zahlreichen
Sachverständigen der öffentlichen Anhörung ausdrück-
lich begrüßt wurden.
Hierzu zählt unter anderem, dass die Zulässigkeit von
Gesundheitsuntersuchungen im Beschäftigungsverhält-
nis an engere Voraussetzungen geknüpft werden muss.
Hierzu zählt auch, dass es dem Arbeitnehmer weiterhin
möglich sein muss, selbstbestimmt in für ihn vorteilhafte
Datenerhebungen und -verarbeitungen einzuwilligen.
Hierzu zählt schließlich auch, dass es den Betriebspar-
teien weiterhin möglich sein soll, im Bedarfsfall auch da-
tenschutzrechtlich relevante Sachverhalte eigenverant-
wortlich zu regeln. Ich sage bewusst „weiterhin“. Sie tun
ja gerade so, als würden wir mit dieser Regelung eine
neue Rechtslage einführen. Dass es seit dem Urteil des
Bundesarbeitsgerichts im Jahr 1986 allerdings nunmehr
ein Vierteljahrhundert lang anerkannt ist, datenschutz-
rechtliche Belange auch und gerade durch die Betriebs-
parteien selbstständig regeln zu lassen, verschweigen Sie
dabei nur allzu gern.
Sie müssen mir schon einmal erklären, meine Damen
und Herren von der SPD, warum Sie auf der einen Seite
regelmäßig die Rechte der Betriebsräte nie hoch genug
ansetzen können, bei Fragen des betrieblichen Daten-
schutzes der Betriebsrat jedoch schön seinen Mund zu
halten hat. Im Gegensatz zu Ihnen sprechen wir den Be-
triebsräten die Kompetenz im Bereich des Datenschutzes
nicht ab. Ihre Bevormundungspolitik wird in diesem
Hause keine Chance haben.
Das parlamentarische Verfahren zum Gesetzentwurf
der Bundesregierung ist nahezu abgeschlossen. Ich bin
zuversichtlich, dass wir das Gesetz noch in diesem Jahr
verabschieden werden. Der heute vorgelegte Antrag
wird sich damit in Kürze schlicht durch Zeitablauf erle-
digen.
Petra Pau (DIE LINKE): Es ist höchste Zeit!
Erstens. Wir reden wieder einmal über Datenschutz
für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Die erste For-
derung nach einem expliziten Gesetz stammt übrigens
aus dem Jahr 1984. Ein entsprechendes Gesetz aber gibt
es immer noch nicht. Keine Partei, die seither regierte,
hat sich besonders hervorgetan: nicht die CDU/CSU,
nicht die SPD, nicht die FDP, nicht Bündnis 90/Die Grü-
nen.
Zweitens. Erst die gravierenden Datenschutzpannen
und Überwachungsskandale der zurückliegenden Jahre
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15457
(A) (C)
(D)(B)
– bei Lidl, bei der Telekom, bei der Bahn AG usw. –
scheinen ein Umdenken bewirkt zu haben. Im Frühjahr
dieses Jahres hat die aktuelle Bundesregierung endlich
einen Gesetzentwurf vorgelegt. Er wird zu Recht kriti-
siert, auch von der Fraktion Die Linke.
Drittens. Ich stelle deshalb noch einmal grundsätzlich
klar: Datenschutz bedeutet nicht, rechtlich zu regeln, wie
möglichst viele Daten legal erfasst werden dürfen. Da-
tenschutz bedeutet im Gegenteil, von definierten Aus-
nahmen abgesehen, das Erfassen, Speichern, Verknüpfen
und Weitergeben persönlicher Daten zu unterbinden. Da-
ran gemessen ist der Regierungsentwurf ein Rückschritt.
Viertens. Offene Videoüberwachung von Arbeitneh-
merinnen und Arbeitnehmern könnte per Gesetz alltäg-
lich werden. Heimliche Videoüberwachungen würden
erleichtert. Auf das und mehr haben die Sachverständi-
gen nahezu unisono hingewiesen. Nach Vorstellungen
der CDU/CSU und der selbsternannten Bürgerrechtspar-
tei FDP verkäme die Arbeitswelt endgültig zur Casting-
show. Das darf nicht sein.
Fünftens. Nun hat die SPD einen eigenen Antrag vor-
gelegt, nach der Linken und nach den Grünen. Ich
wünschte, dass die Oppositionsfraktionen endlich ge-
meinsam auf hohe Datenschutzstandards für Arbeitneh-
merinnen und Arbeitnehmer drängten, und dies mit den
berechtigten Forderungen der Gewerkschaften bündelt.
Es ist spät, sehr spät oder, positiv formuliert:
Sechstens. Es ist höchste Zeit, zu handeln.
Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): „Ein moderner Datenschutz ist gerade in der heu-
tigen Informationsgesellschaft von besonderer Bedeu-
tung. Wir wollen ein hohes Datenschutzniveau …
Hierzu werden wir das Bundesdatenschutzgesetz unter
Berücksichtigung der europäischen Rechtsentwicklung
lesbarer und verständlicher sowie zukunftsfest und tech-
nikneutral ausgestalten.“ Klingt gut. Könnte von uns
sein. Oder gar vom Kollegen Wiefelspütz. Aber ich zi-
tiere Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und
FDP. So steht es nämlich in Ihrem Koalitionsvertrag für
die 17. Legislaturperiode mit dem Titel „Wachstum. Bil-
dung. Zusammenhalt.“. In diesem Koalitionsvertrag
steht auch, dass der Arbeitnehmerdatenschutz in einem
eigenen Kapitel des Bundesdatenschutzgesetzes ausge-
staltet werden wird. Über zwei Jahre später ist das alles –
nichts. Es ist nicht das Papier wert, auf dem es steht.
Sie haben großspurig angekündigt und dann nicht ge-
liefert, wie in so vielen Bereichen, eben auch im Daten-
schutz. Wir hatten hier vor mehreren Monaten eine erste
Lesung Ihres Gesetzes mit dünnen Eckpunkten, bei der
die Kollegin Piltz gleich eine ellenlange Liste an Ände-
rungen am eigenen Gesetzentwurf anmeldete. Und seit-
her: Still ruht der See.
Einige Herausforderungen im Bereich des Daten-
schutzes haben sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von
CDU/CSU und FDP, ja im Koalitionsvertrag erkannt –
immerhin. Dennoch haben sie bis heute nichts auf den
Weg gebracht. Es gibt keine Stiftung Datenschutz, keine
rote Linie und eben auch keine Reform des Bundesda-
tenschutzgesetzes. Wie es Ihnen hier schon vielfach und
zu Recht attestiert wurde: Von einem zeitgemäßen Ar-
beitnehmerdatenschutzgesetz ist bislang keine Spur.
Auch im sonstigen Datenschutz ist diese Bundesregie-
rung weiterhin blank.
Das stößt nicht nur bei immer mehr Bürgerinnen und
Bürgern auf Unsicherheit und Unverständnis. Inzwi-
schen beklagen auch große Teile der Wirtschaft die Un-
fähigkeit dieser Regierung, Ihrer Verpflichtung als Ge-
setzgeber gerecht zu werden, und das völlig zu Recht.
Denn Unternehmen und junge Firmen müssen wissen, in
welchem Rechtsrahmen sie sich bewegen. Die Entwick-
lung, Ausbreitung und Qualität der IT-Technologie und
des Internets in den letzten Jahrzehnten ist eine Revolu-
tion. Aber aufgrund Ihrer Arbeitsverweigerung hantieren
wir noch immer mit einem Gesetz aus einer Zeit, als ein-
fache Rechner noch riesig und sehr, sehr langsam waren.
Mit den Formulierungen im Koalitionsvertrag zum Inter-
net und zur Digitalisierung wollten Sie sich ein progres-
sives Image geben. Was sie liefern ist analog und 1.0.
Zum Arbeitnehmerdatenschutz: Wir wünschen uns
auch weiterhin eine eigenständige gesetzliche Regelung.
Sie wollen die Normen in ein Gesetz packen, dem sie
selbst im Koalitionsvertrag größte Unverständlichkeit
bescheinigen. So oder so, ein Beschäftigtendatenschutz-
gesetz ist dringend erforderlich. Das bestätigen alle un-
abhängigen Fachleute, das war das Fazit des Skandal-
jahrs 2008 – Skandale bei der Telekom, bei Lidl,
Daimler usw. –, und das ist Ergebnis der Anhörung. Sie
hat klar ergeben: Eine Beschäftigtendatenschutzregelung
schafft Klarheit in einem Umfeld, in dem Vertrauen die
entscheidende Grundlage ist, auch im Hinblick auf die
unübersichtliche Rechtsprechung. Wir brauchen drin-
gend effektive Schutzmaßnahmen hinsichtlich ausufern-
der Datenerhebungen bei Bewerbern sowie ausufernder
Datenverarbeitungen zu Zwecken der Verhaltenskon-
trolle in den Betrieben. Zudem brauchen wir ein verbes-
sertes internes Kontrollsystem.
Zum Antrag der SPD: Der Antrag der SPD holt nun
lediglich nach, was die SPD in ihrem eigenen Gesetzent-
wurf verschlafen hat. Dieser Entwurf kam noch aus dem
Arbeitsministerium des ehemaligen Kollegen Scholz.
Heute ist offensichtlich, dass der Entwurf seinerzeit of-
fensichtlich nicht ansatzweise die Priorität bekam, die
angemessen gewesen wäre. Heute stellt sich die Frage,
was nun eigentlich vonseiten der SPD gilt: Der Entwurf
des Kollegen Scholz oder der vorliegende Antragskata-
log?
Immerhin deckt sich der Antrag zu 75 Prozent mit
dem Gesetzentwurf, den meine Fraktion und ich an die-
ser Stelle vor einigen Monaten vorgelegt haben. Zumin-
dest die 75 Prozent sind gut. Richtig finden wir zum Bei-
spiel die Klarstellung, dass die Beschäftigten das Recht
haben, sich bei Rechtsverstößen direkt an Datenschutz-
beauftragte wenden zu können. Dissens haben wir aber
zum Beispiel bei der strikten Ablehnung des Konzern-
privilegs. Zugegeben, es ist kompliziert, aber das schlichte
Verbot hilft niemanden. Wer die Praxis kennt, der weiß,
dass es sich um ein berechtigtes Anliegen der Arbeitge-
15458 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011
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ber handelt, das eben beschäftigtenfreundlich ausgestal-
tet werden muss.
Also, wie so oft bei der SPD: Licht und Schatten.
Trotzdem geht der vorliegende Antrag in die richtige
Richtung. Man kann in der Tat nur hoffen, dass auch die
Bundesregierung sich nun endlich besinnt und das
Thema endlich ernsthaft angeht.
Anlage 9
Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung:
– Bericht des Parlamentarischen Beirats für
nachhaltige Entwicklung zum Indikatoren-
bericht 2010 des Statistischen Bundesamtes
und
Erwartungen an den Fortschrittsbericht
2012 zur nationalen Nachhaltigkeitsstrategie
der Bundesregierung
– Antrag: VN-Konferenz Rio+20 – Nachhal-
tigkeit global umsetzen
(Tagesordnungspunkt 11 und Zusatztagesord-
nungspunkt 4)
Marcus Weinberg (Hamburg)(CDU/CSU): Mit der
heutigen Debatte behandeln wir zwei für die Nachhaltig-
keit wichtige Aspekte. Mit unseren auf dem Indikatoren-
bericht 2010 basierenden Erwartungen an den Fort-
schrittsbericht 2012 greifen wir nochmals aktiv in die
laufende Konsultationsphase der Bundesregierung zur
Weiterentwicklung der nationalen Nachhaltigkeitsstrate-
gie ein. Mit dem Antrag „Rio+20: Nachhaltigkeit global
umsetzen“ greifen wir einen zweiten wichtigen Meilen-
stein der Nachhaltigkeitsagenda auf: die UN-Konferenz
Rio+20 im Sommer des nächsten Jahres.
Lassen Sie mich zunächst auf den Indikatorenbericht
und unsere Erwartungen an den Fortschrittsbericht 2012
zur Weiterentwicklung der nationalen Nachhaltigkeits-
strategie eingehen. Der Indikatorenbericht 2010 zum
Stand der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie zeigt, dass
wir hinsichtlich der gesteckten Ziele insgesamt auf ei-
nem guten Weg sind.
Mir geht es in der heutigen Debatte aber nicht so sehr
darum, einen Blick zurückzuwerfen und das Erreichte zu
bewerten. Mir geht es vielmehr darum, ausgehend von
einigen Ergebnissen des Indikatorenberichts 2010 einen
Blick nach vorne zu werfen auf den Fortschrittsbericht
2012 der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie. Welche
Erwartungen an die Fortschreibung der nationalen Nach-
haltigkeitsstrategie haben wir?
Bei der Fortschreibung der nationalen Nachhaltig-
keitsstrategie ist es aus unserer Sicht wichtig, das Spek-
trum der Schwerpunktthemen um einen weiteren, ge-
wichtigen Aspekt zu erweitern. Vor dem Hintergrund,
dass die Energiefrage durch die aktuellen Ereignisse und
Entscheidungen immer stärker an Gewicht gewinnt,
sollte Energie als drittes Schwerpunktthema in den Fort-
schrittsbericht 2012 aufgenommen werden. Die bislang
im Entwurf enthaltenen Ausführungen werden aus unse-
rer Sicht der größer gewordenen Bedeutung des Themas
nicht gerecht. Hier ist eine Aufwertung zum Schwer-
punktthema des Fortschrittsberichtes 2012 absolut ge-
rechtfertigt und geboten.
Hinsichtlich der Indikatoren lässt sich deutlich fest-
stellen: Diese sind nicht in Stein gemeißelt. Es ist zu be-
grüßen, dass die Bundesregierung derzeit prüft, inwie-
weit Indikatoren angepasst werden können. Dabei ist es
richtig, dass eine gewisse Kontinuität gewahrt werden
sollte, um auch über längere Zeiträume vergleichbare
Daten vorliegen zu haben. Richtig ist auch, dass nur sol-
che Indikatoren aufgenommen werden sollten, wenn sie
mit einem gewichtigen Ziel verbunden sind. Allerdings
sollten wir bei Indikatoren, die sich in den zurückliegen-
den Jahren als ungeeignet erwiesen haben, auch die
Kraft aufbringen, diese dann entsprechend zu ändern.
Der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwick-
lung hat in seinen Stellungnahmen mehrfach den Finger
in offene Wunden gelegt und aufgezeigt, an welchen
Stellen er Nachbesserungsbedarf sieht.
Bei den Studienanfängerzahlen liegt Deutschland un-
ter dem OECD-Schnitt und zum Teil sehr deutlich unter
dem Durchschnitt einzelner Länder. Dies wird dadurch
beeinflusst, dass die Berufsausbildung in Deutschland
weitgehend im dualen System erfolgt, während in ande-
ren Staaten solche Ausbildungen überwiegend an den
Hochschulen erfolgen. Hier wird deutlich: Die Tücke
liegt im Detail. Um verlässliche Vergleichszahlen zu er-
halten, müssten zunächst die bestehenden Unterschiede
herausgerechnet werden. Insgesamt sollte es jedoch
nicht um die reine Erfüllung von Akademikerquoten ge-
hen, sondern um die Qualifizierung der Menschen. Unter
diesem Aspekt ist Deutschland mit den beiden – berufli-
chen und akademischen – gleichwertigen Bildungswe-
gen Ländern mit hohem Akademikeranteil eher überle-
gen.
Insofern regt der Parlamentarische Beirat für nachhal-
tige Entwicklung an, statt ausschließlich die Studienan-
fängerquote auszuweisen, auch die Ausbildungszahlen
in die Darstellung des Indikators einzubeziehen.
Zum Indikator 15 – Kriminalität – haben wir uns sei-
tens des Parlamentarischen Beirats für nachhaltige Ent-
wicklung schon oft geäußert. Es ist fast schon so wie mit
Cato und Carthago, nur dass wir nicht jede Rede mit un-
serer Forderung nach Änderung des Indikators Krimina-
lität abschließen.
Nach wie vor wird unsererseits der Tatbestand Ein-
bruchsdiebstahl als nicht signifikant genug gesehen, um
für den Bereich Kriminalität einen aussagekräftigen In-
dikator abzubilden. Im Entwurf zum Fortschrittsbericht
2012 sind weitere Kennzahlen aufgeführt, die wesentlich
aussagekräftiger wären. Hierzu gehört unter anderem
auch die Aufklärungsquote. Aus Sicht des Parlamentari-
schen Beirats für nachhaltige Entwicklung kann der In-
dikator 15 in der bestehenden Form nicht bestehen blei-
ben. Alternativ bieten sich, wie vom PBNE in seiner
Stellungnahme zum Indikatorenbericht 2010 zuletzt ge-
fordert, Delikte gegen Leib und Leben sowie die Aufklä-
rungsquote an. Sollte eine Änderung des Indikators abso-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15459
(A) (C)
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lut unverhandelbar sein, empfehle ich – frei nach Cato –,
den Indikator ganz zu streichen.
Ein aus Sicht nachhaltiger Entwicklung fast hoff-
nungsloser Fall ist der Indikator Flächeninanspruch-
nahme. Der Anstieg der Siedlungs- und Verkehrsfläche
liegt weit über dem in der Nachhaltigkeitsstrategie ange-
peilten Ziel von 30 Hektar pro Tag. Das hat viele und vor
allem vielschichtige Gründe.
Allerdings sollte auch einmal darüber nachgedacht
werden, inwieweit die Definition der „verbrauchten Flä-
che“ tatsächlich zielführend ist. Bislang zählt die ge-
samte Siedlungs- und Verkehrsfläche, also alles, was
nicht mehr land- und forstwirtschaftlich genutzt werden
kann, zum Flächenverbrauch. Damit fallen auch Grünan-
lagen, Friedhöfe und Erholungsgebiete in die Kategorie
„verbrauchte Fläche“. Dadurch wird es erheblich er-
schwert, nicht mehr benötigte Gebäude zu „renaturie-
ren“, also abzureißen und durch Grünland zu ersetzen,
um den Flächenverbrauch zu reduzieren. Denn sofern re-
naturierte Flächen nicht uneingeschränkt der Land- oder
Fortstwirtschaft zur Verfügung stehen, weil sie zum Bei-
spiel als Park oder Gartenkolonie ausgewiesen sind, ver-
brauchen Sie weiterhin Fläche. Unter diesen Definitions-
voraussetzungen dürfte es schwierig werden, den
Flächenverbrauch signifikant zu reduzieren und die Ziel-
vorgabe zu erreichen.
Auch wenn bereits recht viele Indikatoren vorhanden
sind und Forderungen nach Ergänzungen eher kritisch
gesehen werden, sollte aus unserer Sicht geprüft werden,
inwieweit ein Indikator „nachhaltiger Konsum“ aufge-
nommen werden kann. Das Indikatorensystem ist nicht
statisch, sodass eine Ergänzung durchaus möglich ist.
Nachhaltiger Konsum ist ein wichtiges Themenfeld
nachhaltiger Entwicklung. Dieses sollte auch mit einem
passenden Indikator abgebildet werden.
Meine Damen und Herren, ich freue mich, dass wir
die Debatte zum Indikatorenbericht 2010 und zu unseren
Erwartungen an den Fortschrittsbericht 2012 heute füh-
ren können. Morgen, also am 30. September, endet das
Konsultationsverfahren, das die Bundesregierung zum
Entwurf des Fortschrittsberichtes 2012 durchführt. Da-
mit haben wir heute noch einmal die Gelegenheit, neben
den bereits abgegebenen Stellungnahmen aktiv in das
Diskussionsgeschehen einzugreifen. Noch mehr freue
ich mich natürlich, wenn die Bundesregierung unsere
Anregungen vor allem hinsichtlich der Weiterentwick-
lung der Indikatoren und zur Aufnahme eines weiteren
Schwerpunktthemas aufgreift.
Ziel unseres Antrags „Rio+20: Nachhaltigkeit global
umsetzen“ ist es, dass mit der Konferenz der Vereinten
Nationen „Rio+20“ im Juni des nächsten Jahres Nach-
haltigkeit und damit die Leitlinien nachhaltiger Entwick-
lung global stärker umgesetzt werden.
Ich freue mich, dass es uns in einem großen Kraftakt
gelungen ist, diesen interfraktionellen Antrag zu erarbei-
ten und in den Deutschen Bundestag einzubringen. Da-
mit nutzen wir unsere Chance als Parlament, unsere
Positionen der Bundesregierung bei ihren Vorbereitungs-
gesprächen mit auf den Weg zu geben und damit uns in
die laufenden Vorbereitungsverhandlungen zur Rio-
Konferenz 2012 mit einzubringen.
Ein Themenschwerpunkt der Konferenz Rio+20 wird
die Frage des Nachhaltigkeitsmanagements auf interna-
tionaler Ebene sein. Wie ist die Nachhaltigkeitsstrategie
international 20 Jahre nach der Konferenz von Rio 1992
verankert? Bei dieser Frage kommt man auch bei wohl-
wollender Betrachtung zu dem Ergebnis: eher schlecht.
– Es besteht ein Umsetzungs- und Koordinationsdefizit.
Die UN-Kommission für nachhaltige Entwicklung ist
zudem ineffizient und nur wenig umsetzungsorientiert,
und auf Ebene der UN-Mitgliedstaaten gibt es noch viele
weiße Flecken ohne nationale Nachhaltigkeitsstrategien.
Ziel unseres Antrages ist es, das Nachhaltigkeitsma-
nagement im UN-Verbund zu stärken. Die Konferenz
von Rio im Sommer 2012 ist eine große Chance, das
Nachhaltigkeitsmanagement weltweit zu verbessern. Die
Stärkung kann auf drei Wegen erfolgen: entweder durch
eine Verbesserung der bestehenden CSD-Struktur oder
die Verankerung des Themas bei ECOSOC oder in ei-
nem eigenen UN-Nachhaltigkeitsrat. Hier können wir
uns zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht auf eine Variante
festlegen. Aber bei drei zur Verfügung stehenden Alter-
nativen sollte es aus meiner Sicht möglich sein, eine
Position zu finden, die dem nicht nur von uns angestreb-
ten Ziel sehr nahekommt.
Aber nicht nur die Vereinten Nationen sind gefordert,
Nachhaltigkeit stärker zu berücksichtigen und das Nach-
haltigkeitsmanagement zu verbessern. Bei der Konfe-
renz von Rio 1992 haben sich die Vertragsstaaten ver-
pflichtet, nationale Nachhaltigkeitsstrategien zu ent-
wickeln. Dem sind längst nicht alle nachgekommen, so-
dass aus unserer Sicht die Konferenz Rio+20 auch ge-
nutzt werden sollte, alle Industriestaaten – nochmals –
darauf zu verpflichten, eigene nationale Nachhaltigkeits-
strategien mit aussagekräftigen Indikatoren zu entwi-
ckeln, sofern sie hier noch nicht tätig geworden sind.
Gleichzeitig sollte bei den Entwicklungs- und Schwel-
lenländern dafür geworben werden, stärker auf nachhal-
tiges Wirtschaften zu setzen. Hier muss stärker auf die
Chancen nachhaltiger Entwicklung hingewiesen und
Angst bei der Ausgestaltung von „Green economy
Roadmaps“ genommen werden.
Die heutige Debatte zeigt, wie nah nachhaltige Ent-
wicklung auf nationaler und internationaler Ebene bei-
einander liegt. Wenn wir uns den Stand der Nachhaltig-
keitsstrategie in Deutschland vor Augen führen, sehen
wir, dass wir auf einem guten Weg sind, Nachhaltigkeit
immer stärker im politischen und gesellschaftlichen All-
tag zu verankern. Diesen Weg sollten wir auch interna-
tional beschreiten und immer wieder verstärkt für die
Leitlinien nachhaltiger Entwicklung werben. Dann kann
auch von der VN-Konferenz Rio+20 im Juni 2012 ein
deutliches Signal für eine Stärkung des Nachhaltigkeits-
managements ausgehen. Ich freue mich, wenn wir wei-
terhin gemeinsam sowohl national als auch international
den Aspekt nachhaltiger Entwicklung weiter voranbrin-
gen.
15460 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011
(A) (C)
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Dr. Matthias Miersch (SPD): Fast 20 Jahre ist es
nun her – mit dem Erdgipfel in Rio de Janeiro im Jahr
1992 wollte die internationale Staatengemeinschaft dem
Thema Nachhaltigkeit ein Gesicht geben. Heute stellen
wir fest, dass der Begriff der Nachhaltigkeit häufig miss-
braucht und immer wieder in inhaltsleeren Floskeln ver-
wendet wird. Nachhaltigkeit ist zur Beliebigkeit ver-
kommen. Dabei ist gerade die heutige Zeit großflächiger
Krisen eine Zäsur für unsere Lebensart des ungehemm-
ten Wachstums und Raubbaus an den Ressourcen des
Planeten: Hungerkatastrophen, Dürreperioden, Finanz-
desaster, nukleare Unfälle – ein Umsteuern ist dringend
geboten, heute noch deutlich mehr als vor 20 Jahren.
Bereits im 18. Jahrhundert setzte sich die Einsicht
durch, dass nur ein nachhaltiges Wirtschaften Zukunfts-
fähigkeit bringt. Im Bereich der Forstwirtschaft entstand
die Formel, wonach nur so viele Bäume gefällt werden
dürften, wie neue gepflanzt werden. Eine einleuchtende
Formel. Wie würde die Welt aussehen, wenn seit dieser
Zeit entsprechende Grundsätze in den unterschiedlichs-
ten Politikfeldern berücksichtigt worden wären? Wir
hätten keine Finanzkrise, kein rasantes Artensterben,
keinen verantwortungslosen Umgang mit natürlichen
Ressourcen und keine Armut. Es wäre Rücksicht ge-
nommen worden – auch auf die Interessen künftiger Ge-
nerationen. Es wäre ein Schritt in Richtung eine genera-
tionenübergreifenden Verantwortung gewesen. Heute
merken wir, dass wir schon jetzt mit den Versäumnissen
der vergangenen Jahre umgehen müssen. Und schon
heute ist dies eine große Herausforderung.
Es gibt also zahlreiche Gründe, den Weltgipfel im
kommenden Jahr auch durch das nationale Parlament zu
begleiten und vor allem die notwendigen Schlüsse aus
der Konferenz zu ziehen. Ich bin deshalb froh, dass es
uns im Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Ent-
wicklung gelungen ist, einen interfraktionellen Antrag
zur Konferenz der Vereinten Nationen in Rio im kom-
menden Jahr auf den Weg zu bringen. Darin betonen wir
die Dringlichkeit einer tiefgreifenden Veränderung des
globalen Wirtschaftens. Wir sprechen die großen He-
rausforderungen der Bekämpfung des Klimawandels,
dem Schutz der Ökosysteme oder die Vermeidung von
Hungerskatastrophen an. Die Menschheit steht vor enor-
men ökologischen, ökonomischen und sozialen Heraus-
forderungen. Noch nie war es wichtiger, sich an den Zie-
len einer nachhaltigen Entwicklung zu orientieren.
Bei der Konferenz in Rio wird es vor allem um zwei
Hauptbereiche gehen. Es wird darum gehen, das Thema
der nachhaltigen Entwicklung institutionell so zu veran-
kern, dass es sein Nischendasein verliert und in den
Mainstream der politischen Arbeit der Vereinten Natio-
nen Einzug hält. Hier sind Veränderungen in der Organi-
sation dringend angezeigt, um Effizienz und Effektivität
zu erreichen. Ohne Details zu nennen kann man schon
heute prognostizieren, dass es des besonderen Einsatzes
der Bundesregierung bedürfen wird, um in dieser Frage
substanzielle Fortschritte in Rio erreichen zu können.
Hoffen wir gemeinsam, dass wir hier nicht verzagen! Es
geht aber auch um die Sicherstellung des interdisziplinä-
ren Ansatzes, der stets mit dem Ziel der nachhaltigen
Entwicklung verbunden ist. So müssen zum Beispiel die
Themenbereiche Klimapolitik und Schutz der Biodiver-
sität viel stärker miteinander vernetzt werden. Nach die-
sem Muster müssen wir versuchen, auf institutioneller
Ebene eine Verzahnung zu erreichen, die von allen Be-
teiligten verlangt, Nachhaltigkeit immer mitzudenken.
Der zweite Schwerpunktbereich in Rio wird das
Thema umweltverträgliche Wirtschaft im Kontext von
nachhaltiger Entwicklung und Armutsbekämpfung sein.
Wir müssen endlich die natürlichen Grenzen unseres
Planeten respektieren. Glauben wir Prognosen, nach de-
nen in einigen Jahren bereits 9 Milliarden Menschen auf
dieser Erde leben werden, kommen wir nicht umhin,
Wachstum und Wohlstand komplett neu zu denken. Es
geht dabei auch nicht mehr um die Frage des Ob, son-
dern nur noch um die Frage des Wann. Wann lernen wir,
einen nachhaltigen Umgang mit unserer Umwelt zu pfle-
gen, und schaffen wir diesen Paradigmenwechsel, bevor
es endgültig zu spät ist? Wir können als Menschen viele
Dinge organisieren, regeln und entwickeln. Die Erde
können wir nicht aus den Angeln heben, das müssen wir
endlich begreifen. Und in diesem Zusammenhang ist
klar, dass es gerade die Industrieländer – gerade die erste
Welt ist –, die hier mit guten Beispielen vorangehen
muss. Die Entwicklungs- und Schwellenländer betrach-
ten unser Verhalten sehr aufmerksam. Sie haben erkannt,
dass es vor allem wir sind, die bislang ihr Wirtschaften
in vielen Bereichen nicht nachhaltig ausgerichtet haben.
Gerade wir sind es deshalb, die Dinge verändern müs-
sen, bevor wir es anderen Ländern vorschreiben.
Wir haben es auf Konferenzen wie in Kopenhagen er-
lebt, dass Dynamiken entstehen und die Dinge fürchter-
lich schieflaufen können. Wir haben gesehen, wie sehr
schnell viel Vertrauen verspielt werden kann, wenn Zusa-
gen nicht eingehalten werden. Wenn wir den Prozess des
Umdenkens aber nicht global organisieren können, weil
uns unsere Partner die Hand nicht reichen wollen, werden
unsere eigenen Anstrengungen noch so groß sein können,
sie werden nicht genügen. Deshalb ist internationale Ver-
trauensbildung der Schlüssel. Nur so werden wir künftig
in den wichtigen Feldern der Ressourceneffizienz, der
umweltverträglichen emissionsarmen Wirtschaft oder
Überwindung des Wirtschaftens mit endlichen Energie-
trägern vorankommen. Das sind die Themen, die in Rio
eine große Rolle spielen müssen und die wir in unserem
Antrag gemeinsam aufgreifen.
Wir beraten heute gleichzeitig auch den Fortschritts-
bericht, mit dem die deutsche Nachhaltigkeitsstrategie
begleitet wird. Ich halte es an dieser Stelle für einen
glücklichen Zufall, diese beiden Themen in einer Rede
verknüpfen zu können, denn die Verantwortung
Deutschlands ist, wie ich bereits erwähnte, eine ganz be-
sondere. Ohne unser volles Engagement hier in Deutsch-
land werden wir unsere Vorreiterrolle einbüßen und den
global ohnehin schwierigen Prozess weiter verlangsa-
men. Die Klimaverhandlungen in Kopenhagen und die
im Nachgang nicht eingehaltenen Zusagen über die Fi-
nanzierung des internationalen Klimaschutzes sind uns
ein warnendes Beispiel.
Der Fortschrittsbericht soll die Entwicklung hin zu ei-
ner nachhaltigen Verantwortung der Politik begleiten.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15461
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Natürlich begrüßen wir dieses Ziel. Allerdings zeigen
uns die Berichte der letzten Jahre, beispielsweise der In-
dikatorenbericht des Jahres 2010, dass wir diese Ent-
wicklung bisher kaum vollzogen haben. Die Politik ist
dringend gefordert, die bisherigen Defizite schnell anzu-
gehen: Wir verfehlen regelmäßig die selbst auferlegten
Ziele im Artenschutz, wir versiegeln unsere Umgebung
mit Beton und wir leben immer mehr auf Kosten der
kommenden Generationen, in dem wir gigantische
Schuldenberge auftürmen. Uns mag all dies aus dem
Moment heraus notwendig erscheinen, lange werden wir
uns dieser Illusion aber nicht mehr hingeben können.
Der Fortschrittsbericht 2012 spricht gerade die eben ge-
nannten Handlungsfelder leider nur oberflächlich an. Ich
betone es deshalb noch einmal: Wir stehen unter interna-
tionaler Beobachtung, unsere Glaubwürdigkeit ist ein
Pfand in internationalen Verhandlungen im Rahmen ei-
ner globalen Umstrukturierung unserer Wirtschafts-
weise. Machen wir nicht zunächst unsere eigenen Haus-
aufgaben richtig, verlieren wir dieses Pfand. Es sollte
uns also ein doppeltes Anliegen sein, nicht nur wohlklin-
gende Berichte zu verfassen, sondern unser Handeln an
Tatsachen zu messen.
Der Fortschrittsbericht schlägt in Bezug auf die UN-
Konferenz in Rio vor, den Schwung der Konferenz für
die Weiterentwicklung der deutschen Nachhaltigkeits-
strategie im nächsten Jahr zu nutzen. Ich wünsche mir,
dass die Bundesregierung dieses Vorgabe ernst nimmt.
Wir werden dafür sorgen, dass dieser Regierung beim
Schwungholen für Nachhaltigkeit nicht die Puste aus-
geht.
Michael Kauch (FDP): Politik für Nachhaltigkeit ist
Politik für kommende Generationen. Mit der nationalen
Nachhaltigkeitsstrategie hat Deutschland einen Politik-
ansatz, mit dem über Wahlperioden und Fraktionsgren-
zen hinweg Ziele gesteckt werden. Diese Ziele – und das
ist bedeutsam – werden regelmäßig durch Indikatoren
überprüft: Sind wir auf dem richtigen Weg, oder muss
nachgesteuert werden?
Der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwick-
lung hat in seiner Stellungnahme zum Indikatorenbericht
2010 verschiedene Vorschläge gemacht, wie die Nach-
haltigkeitsindikatoren weiterentwickelt werden können.
Weiterhin hat er allgemeine Erwartungen an den Fort-
schrittsbericht 2012 formuliert. Der Entwurf des Fort-
schrittsberichts 2012 liegt nun vor, und ich freue mich,
dass die Bundesregierung wieder in einem öffentlichen
Konsultationsverfahren allen interessierten Bürgerinnen
und Bürgern, Verbänden und Institutionen die Möglich-
keit gibt, ihre Anregungen einzubringen.
Dass bei Änderungen im Indikatorensatz behutsam
vorgegangen werden muss, ist klar. Gerade wenn längere
Zeiträume betrachtet werden sollen, ist eine gewisse
Kontinuität geboten. Wenn sich allerdings bestimmte In-
dikatoren als offensichtlich ungenügend erweisen, sollte
auch der Mut aufgebracht werden, diese zu ändern. Ich
freue mich deshalb, dass die Bundesregierung signali-
siert hat, den seit Jahren vom Parlamentarischen Beirat
für nachhaltige Entwicklung kritisierten Indikator zur
Kriminalität zu ersetzen und sich nicht ausschließlich
auf die zwar leicht erhebbaren, aber allein wenig aussa-
gekräftigen Wohnungseinbruchsdiebstähle zu beschrän-
ken.
Neben der Diskussion um die Messung nachhaltiger
Entwicklung auf Bundesebene müssen wir in einem fö-
deralen Staat auch ein Augenmerk auf die vertikale Inte-
gration bei der Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele le-
gen. Bislang verfügen die Bundesländer teilweise über
eigene Nachhaltigkeitsstrategien, aber von unterschiedli-
cher Qualität und politischer Gewichtung. Eine bessere
Vernetzung der Bundes- mit den Länderstrategien ist
wichtig, um die Nachhaltigkeitsziele konsequent zu ver-
folgen. Parallel zur Anbindung der Nachhaltigkeitsstra-
tegie im Bundeskanzleramt sollten die Nachhaltigkeits-
strategien der Länder im unmittelbaren Umfeld der
Regierungschefs angesiedelt werden. Zudem wäre eine
eigenständige und themenübergreifende Querschnittsar-
beitsgruppe in der Ministerpräsidentenkonferenz wün-
schenswert. Dies würde dem Thema auf Länderebene
eine größere Bedeutung beimessen und der Querschnitts-
aufgabe gerecht werden.
Wir debattieren heute neben der Unterrichtung des
Beirats den interfraktionellen Antrag zur UN-Konferenz
in Rio de Janeiro im nächsten Jahr, auf der es zwei
Schwerpunkte gibt: die Reform der Umwelt- und Nach-
haltigkeitsinstitutionen bei den Vereinten Nationen
sowie die Frage, wie man eine Weiterentwicklung der
nationalen Volkswirtschaften hin zu nachhaltigen Wirt-
schaftsmodellen voranbringen kann. In Deutschland sind
wir hier auf einem guten Weg. Wir haben erkannt, dass
eine umweltverträgliche Wirtschaft in keinem Wider-
spruch zu Wachstum steht, sondern ganz im Gegenteil
zum Wachstumsmotor werden kann. Diese Entwicklung
sollte auch in Entwicklungs- und Schwellenländern an-
gestoßen werden, allerdings ohne dabei neue Formen
des Protektionismus zu etablieren.
Bei der UN-Institutionenreform stehen wir vor der
Herausforderung, die stark fragmentierten Umwelt-Go-
vernance-Strukturen effizienter und effektiver zu gestal-
ten. Der Vorschlag der Aufwertung des United Nations
Environment Programmes, UNEP, zu einer United Na-
tions Environment Organization, UNEO, scheint hier der
Vielversprechendste zu sein. Bei der Nachhaltigkeitsgo-
vernance gilt es, eine Alternative zu der weitgehend er-
gebnislos arbeitenden Commission on Sustainable Deve-
lopment, CSD, zu finden. Hier stehen verschiedene
Vorschläge im Raum. Die Bundesregierung sollte sich
im Verhandlungsprozess in Rio dafür einsetzen, dass in
einer neuen Governance-Struktur die Bereiche Wirt-
schaft, Umwelt und Soziales besser vernetzt werden und
eine wirkungsvolle Koordination der entsprechenden
Arbeitseinheiten der Vereinten Nationen stattfindet.
Ralph Lenkert (DIE LINKE): Nachhaltigkeit in Zei-
ten der Kapitalkrise und enthemmter Finanzmärke, das
ist nicht mehr als die Quadratur des Kreises. Die Bun-
desregierung hat sich das Gleichgewicht von Mensch,
Natur und Wirtschaft als Leitprinzip des politischen
Handelns auf die Fahne geschrieben. Nachhaltigkeit soll
15462 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011
(A) (C)
(D)(B)
– ich zitiere aus der Nachhaltigkeitsstrategie der Bundes-
regierung – „die Erreichung von Generationengerechtig-
keit, sozialem Zusammenhalt, Lebensqualität und Wahr-
nehmung internationaler Verantwortung zum Ziel
haben“.
Leider lassen sich diese ehrenwerten Ziele nur schwer
nachprüfen. Da kann auch der Parlamentarische Beirat
für nachhaltige Entwicklung wenig tun. Denn seine
Messinstrumente sind stumpf. Bestes Beispiel ist der In-
dikator „wirtschaftlicher Wohlstand“. Das weltweite
Finanzvolumen ist in den letzten 25 Jahren um über
1 000 Prozent auf 140 Billionen US-Dollar gestiegen.
Ein verschwindend geringer Teil der Weltbevölkerung,
Manager und Vermögensverwalter, bewegen so viel Ka-
pital wie nie in der Geschichte. Und die Kassen klingeln.
In den letzen 20 Jahren ist der weltweite Handel mit
Finanzderivaten um sage und schreibe 3 800 Prozent ge-
wachsen – seit Beginn der Messung um jährlich ein
Fünftel. Der Derivatenmarkt kommt heute auf über
610 Billionen Euro, also eine 61 mit – lassen Sie mich
rechnen – 13 Nullen.
Das Problem: Die Geldwirtschaft hat die weltweite
Realwirtschaft im Verhältnis 17 : 1 längst abgehängt.
Spekulation, Wettgeschäfte und Managergehälter gehen
– auch hierzulande – noch zu oft vor Arbeit, Vertrauen
und Arbeitsplätze. Taucht diese absurde Realität im Indi-
katorenbericht auf? Fehlanzeige!
Das Bundeskanzleramt gibt die Nachhaltigkeitsindi-
katoren vor. Das Parlament muss damit zurechtkommen.
Zur Messung wirtschaftlichen Wohlstandes dient allein
das Bruttoinlandsprodukt. So zeigt der Indikatorenbe-
richt 2010 denn auch – alle Jahre wieder – heiter Son-
nenschein. Bei nachweislich steigender Armut von Kin-
dern, Arbeitslosen, Niedriglohnjobbern und Rentnern
wird ohne Scham vermeldet, das BIP pro Einwohner sei
zwischen 1991 und 2009 preisbereinigt um 20 Prozent
gestiegen! Was für ein Hohn! Fragen wir doch einmal
die Menschen auf der Straße, was von den 20 Prozent in
ihrem Geldbeutel angekommen ist! Wenn sich die Le-
benswirklichkeit von Millionen von Bürgerinnen und
Bürgern mangels ehrlicher Indikatoren nicht im Fort-
schrittsbericht 2012 der Bundesregierung widerspiegelt,
dann frage ich mich: Was für ein Fortschritt messen wir
eigentlich?!
In Deutschland klafft die Schere zwischen Arm und
Reich immer weiter auseinander. Im Sinne des erklärten
Nachhaltigkeitsziels Sozialen-Zusammenhalt-Stärken
muss endlich ein Maß gefunden werden, das diese ge-
fährliche – ganz und gar nicht nachhaltige Entwicklung –
wirklichkeitsgetreu abbildet.
Warum machen wir es nicht wie die Vereinten Natio-
nen? In ihrem jährlichen Weltbericht zur menschlichen
Entwicklung wird soziale Ungleichheit nach Einkom-
men und Geschlecht schon seit Jahren thematisiert. Die
entsprechenden Indikatoren sind da, sie müssen nur an-
gewendet werden.
Aber der Bundesregierung fehlt der Wille fürs genaue
Hinschauen. Kein Wunder! Das Deutsche Institut für
Wirtschaftsforschung rechnet vor: Seit den 1990er-Jah-
ren gehen die niedrigsten Einkommen und höchsten Ein-
kommen auseinander. Die Mittelschicht schrumpft. Von
2002 bis 2005 schrumpfte das Durchschnittseinkommen
der Bürger um fast 5 Prozent. Bei den reichsten 10 Pro-
zent aber stiegen die Einkünfte um 6 Prozentpunkte. Bei
den Superreichen um 17 Prozent, die 650 reichsten
Deutschen verbuchten 35 Prozent mehr, die 65 Reichs-
ten sogar 53 Prozent mehr! Der Zusammenhang zwi-
schen mehr Finanzwirtschaft, weniger Realwirtschaft
und mehr sozialer Ungleichheit, die in Deutschland das
höchste Niveau seit der Erhebung der Ungleichheits-Da-
ten erreicht hat, liegt doch auf der Hand.
Die Linke sagt darum: Soziale Ungleichheit darf kein
Tabu mehr sein: Oder wollen sie Londoner Verhältnisse?
Wir fordern darum einen Ungleichheitsindikator. Die Fi-
nanzwirtschaft hat bereits einmal die Realwirtschaft an
die Wand gefahren und die Gefahr besteht erneut. Nach-
haltigkeit darf nicht zur hohlen Propagandaparole ver-
kommen. Sie von der schwarz-gelben Regierung erin-
nern uns Linke doch immer mal gerne an die DDR. Ich
sage Ihnen: Lernen Sie von diesen Erfahrungen. Auch
die DDR vermeldete nachhaltige Planerfüllung, bis zu-
letzt. Das Ende ist ja hinlänglich bekannt.
Also lassen Sie uns gemeinsam ehrliche Nachhaltig-
keitskriterien finden und nutzen! Die Linke wird mit Ih-
nen allen Lösungen suchen.
Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Heute Morgen haben wir uns hier in diesem Hause er-
neut mit der Stabilisierung des europäischen Finanz-
marktes beschäftigen müssen – leider.
Deutschland hat seinen Anteil am Gewährleistungs-
rahmen deutlich auf 211 Milliarden Euro erhöht. Das
sind zwei Drittel des Volumens eines jährlichen Bundes-
haushalts. Ist das nachhaltig oder nicht? Darüber wird
heftig gestritten. Wirklich wissen werden wir das erst,
wenn alles wieder im Lot ist.
Die Finanzkrise macht deutlich, dass wir um eine
nachhaltige Wirtschaftsweise nun wirklich nicht mehr
herumkommen. Wenn Schulden nicht ausreichend reale
Werte gegenüberstehen, klappt das Kartenhaus aus Spe-
kulationen zusammen.
Aber es gibt durchaus Wege aus diesem Dickicht he-
raus: Ein wesentlicher Baustein ist, dass der Nachhaltig-
keit der Staatsfinanzen ausreichend Rechnung getragen
wird. Davon sind wir bei der Nachhaltigkeitsstrategie
der Bundesregierung und deren Fortschreibung, über die
wir heute reden, noch weit entfernt. Darüber sind wir uns
im Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwick-
lung übrigens über alle hier im Bundestag vertretenen
Fraktionen einig.
Jetzt zur Nachhaltigkeit unseres Naturkapitals; denn
wir reden heute auch über den interfraktionellen Antrag
zur Konferenz für Umwelt und Entwicklung nächstes
Jahr in Rio de Janeiro. Noch mitten in der Phase des ge-
waltigen Wirtschaftswachstums nach den Weltkriegen,
1972, wurden wir auf die Grenzen des Wachstums – so
lautete der Titel des Buches – aufmerksam gemacht.
Manch einer erinnert sich noch an die autofreien Sonn-
tage 1973 zu Zeiten der ersten Ölkrise. Das Phänomen
der Verschwendung von Gütern, die nichts kosten, ist
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schon lange in der Volkswirtschaftslehre bekannt. Sie
werden externe Effekte genannt. Treibhausgase, Meeres-
verschmutzung, die Zerschneidung von Landschaften
und Lebensräumen und der damit einhergehende Verlust
an Artenvielfalt zählen zum Beispiel dazu. Aber auch
die Endlichkeit von Ressourcen bildet sich nicht wirk-
lich im Marktpreis ab. Würden wir die Tiefseebohrungen
verbieten, würde der Preis pro Barrel Öl in die Höhe
schnellen, weit mehr als die Grünen dies jemals vorge-
schlagen haben.
Wir verhalten uns bislang so, als hätte die Erde keine
Grenzen. Heute wissen wir alle, das wir uns hier geirrt
haben. Vorgestern, am 27. September, fand der Earth
Overshoot Day statt. Von Feiern können wir da wirklich
nicht reden. Schließlich leben wir zulasten unserer nach-
folgenden Generationen.
Aber immer noch zögern wir, die notwendigen Maß-
nahmen zu treffen. Woran liegt das? Gäbe es eine demo-
kratisch legitimierte globale Regierung, eine Global Go-
vernance, die Standards setzen würde, so würden sie für
alle gelten. Wir haben sie nicht. Aber ohne kompetente
Zuständigkeit auf globaler Ebene kommen wir nicht
weiter.
Wir sollten sie schaffen, zumindest im Umweltbe-
reich, möglichst aber auch im Nachhaltigkeitsbereich,
also auch in den Bereichen Ökonomie und Soziales. Das
ist eine gemeinsam getragene Forderung im interfraktio-
nellen Antrag, die wir der Bundesregierung mit auf den
Weg geben zur Weiterentwicklung des Rio-Prozesses –
für die Verhandlungen jetzt im Oktober auf europäischer
Ebene und für die im Juni nächsten Jahres auf Ebene der
Vereinten Nationen.
Zudem benötigen wir einen regulatorischen Rahmen
für die Wirtschaftsakteure. Freiwillige Selbstverpflich-
tungen helfen nur, solange Gewinn gemacht wird. Wir
brauchen mehr Verbindlichkeit.
Was ist zu tun? Wir müssen auf der einen Seite um-
weltschädliche Subventionen abbauen, auf der anderen
Seite dafür sorgen, dass Zukunftstechnologien auf dem
Markt eine Chance bekommen. Dazu brauchen wir ein
politisches Instrumentarium, mit dem in die richtige
Richtung gesteuert wird. Die Endlichkeit von fossilen
Ressourcen, aber auch der Grad an Emissionen bei Ab-
bau, Transport, Verarbeitung und auch der Wiederver-
wertung müssen darin zum Ausdruck kommen. Preise
müssen also die wahren Kosten widerspiegeln. Erst so
schaffen wir die Basis für Effizienz und für echte zu-
kunftsfähige Alternativen.
Nehmen wir jetzt unsere Verantwortung wahr, han-
deln wir und geben wir den weniger entwickelten Län-
dern ein gutes Beispiel. Sonst setzen wir alles aufs Spiel,
auch hier bei uns.
Anlage 10
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: EU-Weißbuch Ver-
kehr – Neuausrichtung der integrierten Ver-
kehrspolitik in Deutschland und in der Europäi-
schen Union nutzen (Tagesordnungspunkt 12)
Veronika Bellmann (CDU/CSU): Am 28. März die-
ses Jahres hat die Europäische Kommission ihr Weiß-
buch „Fahrplan zu einem einheitlichen europäischen
Verkehrsraum – Hin zu einem wettbewerbsorientierten
und ressourcenschonenden Verkehrssystem“ vorgelegt.
Hintergrund dieses Weißbuches ist, die verschiedenen
Herausforderungen der Zukunft, wie zum Beispiel die
Nachhaltigkeit und Sicherheit im Verkehr, aber auch die
Weiterentwicklung des Binnenmarktes strategisch zu-
sammenzufassen und einen Ausblick bis 2050 zu geben.
Dabei legt die Europäische Kommission den Schwer-
punkt eindeutig auf die Nachhaltigkeit im Verkehr und
den Abbau der Abhängigkeit vom Rohstoff Öl. Das
Weißbuch ergänzt damit die zur Umsetzung der europäi-
schen Leitinitiative „Europa 2020“ notwendigen Initia-
tiven im Energie- und Klimabereich.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, das
Weißbuch ist notwendig. Europa braucht eine einheitli-
che und umfassende Strategie zur Sicherung einer nach-
haltigen Mobilität. Auch hier gilt wieder eine Verknüp-
fung von Ökologie und Ökonomie mit Augenmaß.
Die individuellen und wirtschaftlichen Anforderun-
gen an Mobilität bezüglich Wirtschaftswachstum und
nachhaltigen Strukturen abzubilden ist eine Herausfor-
derung für uns alle; denn Europa braucht gerade für ei-
nen so herausragenden Bereich wie die Verkehrspolitik
ein strategisches Konzept. Für uns alle persönlich stellt
die Mobilität ein großes Stück Lebensqualität dar. Aber
die Mobilitätsbranche, gerade im Industrieland Deutsch-
land, ist auch eine innovative und leistungsstarke
ökonomische Größe, die einen hohen Anteil am wirt-
schaftlichen Wachstum und an der Schaffung von Ar-
beitsplätzen in unserem Land hat.
Vor diesem Hintergrund ist es umso wichtiger, das die
zukünftige Verkehrsstrategie der Europäischen Union
drei wesentliche Dinge vereint: Wir müssen unsere Mo-
bilität erstens umwelt- und klimagerecht ausgestalten.
Wir müssen zweitens darauf achten, dass die Mobilität
der Zukunft den Bedürfnissen der Bürgerinnen und Bür-
ger entspricht. Wir müssen drittens darauf achten, dass
die Mobilität der Zukunft den wirtschaftlichen Wachs-
tums- und Entwicklungszielen in Europa sinnvoll und
nachhaltig gerecht wird.
Nur wenn wir diese drei Grundelemente im Weißbuch
vereinen, erreichen wir den Schutz unserer Natur, die
Zufriedenheit der Bürgerinnen und Bürger sowie eine in-
novations- und wachstumsstarke Mobilitätsbranche.
Vor diesem Hintergrund darf ich Ihren Blick auf die
Liste der 40 Initiativen, die dem Weißbuch anhängen,
richten. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang auf
einige Punkte eingehen.
Als wichtigste Forderung, auch im Sinne der europäi-
schen Integration, ist die Vollendung eines einheitlichen
europäischen Verkehrsraums. Mit der Vollendung des
einheitlichen europäischen Eisenbahnmarktes, dem
Transeuropäischen Kernnetz oder dem Single European
Sky liegen gute Vorschläge auf dem Tisch, die die fairen
Wettbewerbsbedingungen und die Marktöffnungspro-
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zesse vorantreiben sowie die Zulassungsverfahren har-
monisieren.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Förderung von
Innovation und Nachhaltigkeit. Die Entwicklung und
Einführung alternativer Antriebe mindert die Abhängig-
keit vom Rohstoff Öl und trägt zur Minderung des CO2-
Ausstoßes maßgeblich bei. Auch die Entwicklung und
der verkehrsträgerübergreifende Einsatz von Informa-
tions- und Kommunikationsmitteln mit dem Ziel einer
verbesserten Verkehrssteuerung und -optimierung wird
dazu beitragen.
Lassen Sie mich als dritten und letzten Punkt die
Finanzierbarkeit einer modernen Infrastruktur anführen.
Wir müssen das Transeuropäische Kernnetz als ein euro-
päisches Mobilitätsnetz ausbauen. Hierbei ist eine
Schwerpunktsetzung nach dem Kosten-Nutzen-Prinzip
notwendig, die einen europäischen Mehrwert bringt.
Aufgrund der knappen finanziellen Möglichkeiten in-
folge der Finanz- und Wirtschaftskrise und der daraus
resultierenden Konsolidierung in vielen europäischen
Ländern muss das Augenmerk auf der Auflösung von
Engpässen sowie dem Ausbau vorhandener Kapazitäten
gerichtet sein. Hierbei gilt es aber, das Subsidiaritäts-
prinzip zu wahren. Auch in Zukunft muss die Infrastruk-
turplanung in der Hoheit der Mitgliedstaaten bleiben.
Nur durch die weitere Förderung der Komodalität ist
es möglich, die Verkehrsträger in sogenannten multimo-
dalen Personen- und Güterverkehrskorridoren so zu ver-
binden, dass die angepeilten Klimaschutzziele erreicht
werden und auch eine Akzeptanz bei der Bevölkerung
erreicht wird.
Zudem muss die Infrastruktur bezahlbar sein, auch für
die Nutzer. Vor diesem Hintergrund erscheint es mir
sinnvoll zu prüfen, wie neue Finanzierungsmodelle die
bestehenden sinnvoll ergänzen. So muss die Internalisie-
rung der externen Kosten alle Verkehrsträger gleicher-
maßen betreffen. Auch der Vorschlag der Europäischen
Kommission zur Einführung sogenannter Projektanlei-
hen oder ÖPP-Modelle ist zu prüfen. Wichtig erscheint
es mir allerdings, dass durch solche Modelle keine
Schattenhaushalte aufgebaut werden. Insofern erscheint
mir bei den Projektanleihen eine Absicherung über die
Europäische Investitionsbank als sinnvoll.
Leider finden sich die von mir angesprochenen Punkte
– es gibt noch eine ganze Reihe weiterer Ansätze – nur
unzureichend in der Programmatik des Weißbuchs. Aus
diesem Grund werden wir demnächst einen Koalitions-
antrag vorlegen, mit dem wir aufzeigen werden, mit wel-
chen Justierungen das Weißbuch zu einem Erfolgsbuch
in Europa wird.
Meine sehr verehrten Damen und Herren der SPD. Ih-
ren heutigen Antrag werden wir ablehnen. Wir lehnen
ihn aus zwei Gründen ab. Erstens wollen Sie, dass der
Bundestag beschließt, dass die unstrittigen Ziele des
Weißbuchs durch noch mehr Regulierung erreicht wer-
den. Zweitens fehlt nach unserer Auffassung in Ihrem
Antrag das klare Bekenntnis zu einem detaillierten Ge-
samtfahrplan, den der derzeitige Entwurf des Weißbuchs
nicht hergibt. Einzig die Erreichung der Klimaschutz-
ziele ist hier berücksichtigt und auf die verschiedenen
Verkehrsträger umgelegt.
Alles in allem ist Ihr Antrag eine Aufzählung von All-
gemeinplätzen, eine Art Wünsch-dir-was-Katalog. Da,
wo Sie ins Detail gehen, muss man sich schon fragen, ob
das denn tatsächlich europäisch geregelt werden muss,
so zum Beispiel die Behandlung von Kundenbeschwer-
den im ÖPNV oder die Verpflichtung der Fahrradmit-
nahme im Schienenverkehr. Dies wird meiner Ansicht
nach dem Ziel einer nachhaltigen, dem Bedürfnis der
Bürger angemessenen und ökonomisch sinnvollen Mo-
bilität und der nachhaltigen Entwicklung der europäi-
schen Verkehrswirtschaft nicht gerecht.
Deshalb wäre es falsch, würde ich Sie für Ihren An-
trag loben. Daran dürfte Ihnen auch gar nicht gelegen
sein; denn wer mit falschem Lob motiviert, wird die fal-
schen Motive wecken.
Karl Holmeier (CDU/CSU): Das Weißbuch Verkehr,
das die EU-Kommission den Mitgliedstaaten vorgestellt
hat, kann in seiner Bedeutung gar nicht hoch genug ein-
geschätzt werden. Es soll uns eine strategische Richtung
für die europäische Verkehrspolitik bis zum Jahr 2050
vorgeben. Es ist daher außerordentlich wichtig, dass sich
der Deutsche Bundestag intensiv mit diesem sowohl
zeitlich als auch inhaltlich weitreichenden Thema be-
fasst.
Ich freue mich daher auch, dass die Kollegen von der
SPD dieses wichtige Thema aufgegriffen haben. Aller-
dings hätten sie sich vielleicht besser etwas mehr Zeit
mit ihrem Antrag lassen sollen. Schnelligkeit ist bei die-
sem Thema keineswegs der richtige Weg. Der Antrag
der SPD enthält durchaus wichtige und aus meiner Sicht
auch richtige Aspekte. Er lässt mich aber an einigen
Stellen auch einfach nur den Kopf schütteln. So gibt es
nicht nur Widersprüche, sondern es fehlen auch wichtige
Aspekte, die letztlich für uns alle weitreichende Konse-
quenzen haben.
Der Vorschlag der EU-Kommission, die Treibhaus-
gasemissionen im Verkehrsbereich bis 2050 um 60 Pro-
zent zu reduzieren, ist meiner Ansicht nach schon mehr
als nur ambitioniert. Man sollte diesen Wert daher allen-
falls als Orientierungsrahmen sehen und die Realität
nicht aus den Augen verlieren. Hier noch draufzusatteln
und eine noch ambitioniertere Ausgestaltung der CO2-
Reduzierung zu fordern, ist schlichtweg unseriös. Offen-
bar hat die SPD-Fraktion nichts aus der gescheiterten
Lissabon-Strategie gelernt.
Auf der anderen Seite fordern die Oppositionskolle-
gen – übrigens sehr richtig –, dass Mobilität für die Bür-
gerinnen und Bürger auch bezahlbar bleibt. Diese Aus-
sage teile ich uneingeschränkt. Ich frage mich nur, wie
Sie das mit Ihren utopischen Klimaforderungen in Ein-
klang bringen wollen. Wie wollen Sie diesen Zielkon-
flikt auflösen? Vielleicht muss man in der Opposition
keine Antwort darauf haben, verantwortungsvolle Poli-
tik sieht allerdings meiner Ansicht nach anders aus.
Den Vorschlag der Kommission, bis 2050 im Stadt-
verkehr auf solche Pkw zu verzichten, die mit konven-
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tionellem Kraftstoff betrieben werden, nimmt der SPD-
Antrag nur zur Kenntnis, ohne inhaltlich dazu Stellung
zu beziehen. Hier muss man doch ganz klar sagen: Eine
vollständige und undifferenzierte Verbannung von Ver-
brennungsmotoren darf es nicht geben! Es kann doch
nicht zielführend sein, bestimmte Technologien von
vornherein auszuschließen, ohne zu wissen, welche tech-
nologischen Möglichkeiten es dazu in 40 Jahren gibt.
Die CSU/CSU-Fraktion bekennt sich hier eindeutig zur
Technologieoffenheit und wird das auch ausdrücklich
gegenüber der EU-Kommission klarmachen.
Unsere Position ist es, zu sagen, wir wollen Mobilität
ermöglichen und sie nicht einschränken. Dieser Ansatz
findet sich genauso im Vorschlag der EU-Kommission
wieder und auch der SPD-Antrag begrüßt diesen Ansatz.
Wer allerdings ernsthaft gewillt ist, Mobilität nicht ein-
zuschränken, sondern zu ermöglichen, darf auch nicht
von vornherein einen bestimmten Verkehrsträger aus-
schließen. Er darf auch nicht einen bestimmten Ver-
kehrsträger bevorzugen. Jeder Verkehrsträger hat seine
Stärken und Vorteile. Daher muss auch jeder Verkehrs-
träger entsprechend dieser Stärken eingesetzt werden,
um das Verkehrsaufkommen optimal bewältigen und
bestmögliche Mobilität gewährleisten zu können. Eine
dirigistische und pauschale Verlagerungspolitik wird
dem nicht gerecht.
Unser Ziel ist es daher, die einzelnen Verkehrsträger
richtig und intelligent miteinander zu verknüpfen. Verla-
gerung sollte es nur dort geben, wo es auch sinnvoll ist.
Alles andere ist kontraproduktiv, schränkt Mobilität ein
und verringert die Akzeptanz der Nutzer.
Meine Ausführungen zeigen, welche Dimension das
Weißbuch Verkehr hat und wie wichtig eine ernsthafte
Auseinandersetzung mit dem Thema ist. Die SPD-Frak-
tion lässt diese Ernsthaftigkeit leider vermissen. Ich
kann daher nur dringend dazu raten, den hier zur Debatte
stehenden Antrag abzulehnen.
Michael Groß (SPD): Europa muss zu einem Ver-
kehrsraum zusammenwachsen, um Mobilität klimascho-
nend, sicher, bezahlbar, mit hoher Qualität und sozialen
Standards sicherstellen zu können. Europa muss auf der
Straße, Schiene, Wasserstraße und im Luftverkehr zu-
sammenwachsen. Dafür brauchen wir gemeinsame
Ziele, ein abgestimmtes Mobilitätsverständnis, kompa-
tible Konzepte und gemeinsame Strategien.
Zehn Ziele und 40 Initiativen für einen einheitlichen
europäischen Verkehrsraum, weg von der Ölabhängig-
keit, hin zu 60 Prozent Emissionseinsparung und um-
weltverträglicheren Verkehren bei mindestens gleichblei-
bender Wirtschaftskraft und wachsenden Verkehren – die
kürzeste Umschreibung des Europäischen Weißbuches
und des damit verbundenen umfassenden Prozesses im
europäischen Verkehr.
Der Grund des umfassenden neuen „Fahrplans zu ei-
nem einheitlichen europäischen Verkehrsraum – hin zu
einem wettbewerbsorientierten und ressourcenschonen-
den Verkehrssystem“ liegt auf der Hand. Die Analyse
zur Halbzeitbilanz zum Weißbuch Verkehr der EU legt
offen, dass die Treibhausgasemissionen im Verkehr trotz
technischer Weiterentwicklungen, erhöhter Verkehrssi-
cherheit, Verkehrslenkung, verbesserter Kraftstoffe und
alternativer Antriebe stetig steigt. Ein Grund sind die
enormen Verkehrszuwächse, die global agierender Wirt-
schaft und global agierendem Handel geschuldet sind.
Um die ambitionierten Klimaschutzziele der 20-20-20-
Strategie der Mitgliedstaaten zu erreichen, sind ein
grundlegender Strukturwandel und ein generelles Um-
denken nötig.
Die Idee der verkehrsträgerübergreifenden Mobili-
tätsplanung und die Entwicklung eines hocheffizienten
und dabei benutzerfreundlichen Kernnetzes ist sehr zu
begrüßen. Die Bundesregierung sollte die Chance mit
dem neuen Bundesverkehrswegeplan nach 2015 nutzen,
um sich aktiv in die europäischen Strategien und Mobili-
tätskonzepte mit ihren Vorstellungen und Anforderungen
von einem bundesweiten Verkehrsnetz im europäischen
Kontext einzubringen. Mit einer alleinigen Fortschrei-
bung des bestehenden Bundesverkehrswegeplanes wird
es nicht getan sein. Hier sind klare Prioritätensetzungen
auf Grundlage einer bundesweiten verkehrsträgerüber-
greifenden Netzstrategie erforderlich.
Die Schaffung eines einheitlichen Luft-, Schifffahrts-
und Eisenbahnverkehrsraumes, die Möglichkeit der fle-
xibleren Nutzung, aber auch die Vereinfachung des In-
formationszugangs und Ticketerwerbs ist überaus posi-
tiv, und zwar nicht nur für den einzelnen Verbraucher,
sondern gerade auch für die Wirtschaftsunternehmen des
europäischen und internationalen Marktes.
Mit der Anpassung der Systeme, beispielsweise zwi-
schen west-, mittel- und osteuropäischer Verkehrsinfra-
struktur, liegt noch viel Arbeit vor uns. Ich habe gelernt,
dass die Deutsche Bahn im bisherigen System zum Bei-
spiel nicht mit genügend IC-Zug-Anhängern nach Schip-
hol fahren kann, da unterschiedliche technische Voraus-
setzungen, Bahnhofslängen und Ausstiegsmöglichkeiten
Hindernisse darstellen. Wir unterliegen in den einzelnen
Mitgliedstaaten unabgestimmten Planungskonzepten
und sogar unterschiedlichen Spurbreiten. Der Hand-
lungs- und Abstimmungsbedarf liegt hier klar auf der
Hand. Aber gerade auch bei der Einführung neuer und
regenerativer Antriebsformen, den damit verbundenen
zukünftigen Tank- und Ladestationen wird eine europa-
weite Harmonisierung und Abstimmung notwendig sein,
damit mein alternativ betriebenes Mobil nicht nur in
Recklinghausen starten, sondern auch in Brüssel nachla-
den kann.
Hier kann ich nur an die Bundesregierung appellieren,
den Zug im wahrsten Sinne des Wortes nicht abfahren zu
lassen, den die EU-Kommission hier in Gang setzt. Die
Personen- und Güterverkehre des europäischen Raumes
sollen verstärkt auf die klimafreundlichere Schiene ge-
bracht werden. Strecken ab 300 Kilometer sollen zu-
künftig über die Verkehrsträger Schiene und Wasser-
straße abgewickelt werden. Hierfür müssen wir unsere
Schiene ertüchtigen, und europäische Verbindungslinien
wie beispielsweise die Betuwe-Linie zügig voranbrin-
gen. Die TEN-V-Projekte sind Teil des bestehenden
Bundesverkehrswegeplanes. Die Hauptlast der Finanzie-
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rung von TEN-V 2007 bis 2013 liegt bei den jeweiligen
Mitgliedstaaten. Wir haben unsere Projekte noch lange
nicht abgearbeitet.
Dies gilt ebenso für die Wasserstraßen und ihre
Schleusensysteme. Ob die derzeitige Reform der Was-
ser- und Schifffahrtsverwaltungen zu einem integrierten
europäischen Wasserstraßenkonzept beitragen kann,
wage ich zu bezweifeln.
Wir müssen von Haustür zu Haustür denken und Mo-
bilität anbieten. In Ballungsräumen wie dem Ruhrgebiet
fehlen bedarfsgerechte öffentliche Nahverkehrsange-
bote. Lange Anreisen, häufige Umstiege mit langen
Wartezeiten lassen die Bürger den Pkw bevorzugen. Hier
sind wir meilenweit entfernt von den CO2-freien inner-
städtischen Verkehren in Ballungszentren bis 2050. Pro-
jekte wie der RRX in NRW müssen jetzt umgesetzt wer-
den, wenn wir die ambitionierten Ziele erreichen wollen.
Die Straßen füllen sich. Laut Pressemeldungen der
letzten Tage stieg allein die Zahl der Neuzulassungen für
Nutzfahrzeuge um 15,7 Prozent in der Europäischen
Union. Deutschland wird davon als Transitland unmittel-
bar betroffen sein. Der Verkehrsetat ist gnadenlos unter-
finanziert. Bereits aus dem letzten Investitionsrahmen-
plan wurden 213 Maßnahmen nicht abgearbeitet. Allein
für den Bereich der Straße wird der Erhaltungsbedarf nur
zu etwa zwei Drittel finanziert, Aus- und Neubau nur zur
Hälfte. Mit circa 130 Euro pro Einwohner Investitionen
in das Straßennetz liegt Deutschland auf den hintersten
Plätzen im europäischen Vergleich – Tendenz sinkend.
Der Bundesverkehrsminister selbst fordert 14 Milliar-
den vom Finanzminister, um die nötigen Verkehrspro-
jekte aus dem Bundesverkehrswegeplan umzusetzen.
Bereits jetzt kann sich der Verkehrsminister nach eige-
nen Aussagen durch die Mittelbindung der laufenden
Vorhaben in den nächsten Jahren grundsätzlich keine
Neubeginne erlauben. Mit dem Ruf nach mehr Finanz-
mitteln schiebt der Verkehrsminister die Verantwortung
an den Finanzminister ab oder ruft nach der Pkw-Maut.
Ich persönlich halte sie, aber auch viele Fachleute halten
sie aktuell für den falschen Weg. Die Pkw-Maut stellt
eine zusätzliche Belastung der Autofahrer dar, ohne dem
Einzelnen dabei alternative Verkehrslösungen anzubie-
ten. Gerade in den ländlichen Räumen der Europäischen
Union sind viele Menschen auf das Auto angewiesen.
Außerdem bieten die zurzeit angedachten und favorisier-
ten Modelle zu einer Pkw-Maut keine Steuerungs-
möglichkeit. Die Vignette löst weder Probleme der
Verkehrslenkung noch trägt sie zur Verbesserung des
Klimaschutzes bei.
Der Bundesregierung fehlen bisher klare Mobilitäts-
konzepte. Das fängt, wie von der EU-Kommission ge-
fordert, mit der Priorisierung eines Kernnetzes, und zwar
auch eines bundesweiten Kernnetzes im Rahmen eines
Mobilitätskonzeptes an.
Aber auch die EU-Kommission bleibt die Antwort
zur Finanzierungsfrage des Strukturwandels in weiten
Teilen schuldig. Für den Ausbau der Infrastruktur wer-
den bis 2030 allein 1,5 Billionen Euro veranschlagt. Der
Mittelbedarf bei der Umsetzung der Ziele des EU-Weiß-
buches für Verkehr wird bis auf 90 Milliarden Euro pro
Jahr geschätzt. Nach dem Weißbuch soll dies durch den
EU-Haushalt, die nationalen Haushalte und den Nutzer
finanziert werden. Hier ist die Bundesregierung aufge-
fordert, bei der EU-Kommission nachzuhaken. Die Klä-
rung der Finanzierung wird eine der zentralen Fragen für
das Gelingen des Strukturwandels sein.
Die von der Kommission angestrebte verpflichtende
Prüfung der Finanzierung über sogenannte Public-Pri-
vate-Partnerships, PPP, für jedes Vorhaben muss schon
im Sinne der Bürokratievermeidung abgelehnt werden.
Eine Finanzierung über PPP muss unter den Vorbehalt
der Vorteilhaftigkeit für die öffentliche Hand – also die
Bürger und Bürgerinnen – gestellt werden. Notwendig
ist eine wissenschaftlich fundierte Auswertung aller bis-
herigen PPP-Projekte.
Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt ausdrücklich,
dass die EU-Kommission mit ihren Vorschlägen auf den
Dreiklang von nachhaltiger, sozialer und wirtschaftlicher
Verkehrspolitik in einem grundlegenden Strukturwandel
setzt. Die im Weißbuch vorgeschlagenen Sozialdialoge
reichen jedoch nicht aus, um die Fragen und die Durch-
setzung der Mitbestimmung, der Mindestlöhne usw. zu
lösen. Wir müssen soziale Standards auf hohem Niveau
europaweit sichern.
Keine Frage, Europa braucht wirtschaftliches Wachs-
tum, nachhaltiges Wachstum, um Arbeitsplätze zu si-
chern und zu schaffen. Nachhaltigkeit bedeutet das Zu-
sammenspiel von Umwelt und Klimaschutz, sozialen
Standards, sozialer Absicherung sowie wirtschaftlichem
Erfolg und Vernunft. Die zentrale Frage wird zu klären
sein: Welches Wachstum wollen wir vor diesem Hinter-
grund akzeptieren? Muss demnächst etwas über den See-
weg nach Wilhelmshaven oder Rotterdam transportiert
und dort gelöscht werden, um in Italien dem Kunden an-
geboten zu werden? Eine Tütensuppe, so wurde mir er-
klärt, enthält 70 Inhaltsstoffe, reist mehr als einmal um
den Globus und kostet den Verbraucher 80 Cent.
Für die Umsetzung eines funktionierenden europäi-
schen Verkehrsnetzes ist eine europaweite Abstimmung
mit nationaler und europäischer Prioritätensetzung not-
wendig. Hierfür sind zielorientierte Qualitätskriterien als
Entscheidungskriterien zu definieren, die nicht in erster
Linie Reisezeitverkürzungen und Hochgeschwindigkeits-
korridore priorisieren, sondern Zuverlässigkeit, Planbar-
keit, kurze Fahrplantakte, Vermeidung von Staus und
Überlastung, und dabei Sicherheit, Bezahlbarkeit, Zu-
gänglichkeit, Barrierefreiheit und Mindestservicestan-
dards in den Vordergrund stellen.
Europa wächst zusammen und wir müssen intelligent
und finanzierbar mithilfe von Infrastruktur eine Mobili-
tät der Zukunft schaffen.
Oliver Luksic (FDP): Wenn wir heute über das
Weißbuch Verkehr der Europäischen Kommission disku-
tieren, dann diskutieren wir meiner Ansicht nach über ei-
nen der fast wichtigsten Bereiche des vereinten Europas.
Denn Mobilität macht im Alltag für den Bürger die Vor-
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teile eines freien Europas deutlich und ganz praktisch
– und regelrecht im Wortsinne – erfahrbar.
Wir begrüßen es daher, dass die Kommission im März
nach langen Debatten im Vorfeld endlich ihr Weißbuch
zu ihren Vorstellungen zur Zukunft der Mobilität in Eu-
ropa veröffentlicht hat. Ebenso empfinde ich es also sehr
positiv, dass gleich vier Bundestagsfraktionen Anträge
zum Weißbuch vorgelegt haben bzw. bald vorlegen wer-
den.
Deutschland hat gerade als Transitland eine wichtige
Funktion innerhalb des europäischen Verkehrssystems;
daher sollten wir uns auch intensiv an den Debatten in
Brüssel beteiligen – und das so frühzeitig wie möglich.
Daher freue ich mich auch besonders über positive
Aspekte, die sich im Weißbuch finden: etwa den Aspekt,
dass Verkehrskommissar Kallas betont hat, dass die Aus-
sage „Die Einschränkung von Mobilität ist keine Op-
tion.“ für ihn den Kernsatz im Weißbuch darstellt. Das
unterstützen wir ausdrücklich. Ebenso zu begrüßen ist
das klare Bekenntnis, dass sich neue Verkehrskonzepte
dem Bürger nicht aufzwingen lassen. Ganz richtig! Nur
die Akzeptanz durch den Bürger und die Wirtschaft kann
gewährleisten, dass Mobilitätskonzepte in der Praxis
wirken.
Wir müssen wegkommen von ideologisch motivierter
Verkehrspolitik, die die Bürgerinnen und Bürger umer-
ziehen will. Lassen Sie uns die ewigen Eingriffe der
Politik in Richtung dieses oder jenen Verkehrsträgers be-
enden und die Bürger und die Wirtschaft entscheiden,
wie sie sich bewegen und wie sie ihre Waren von A nach
B transportieren möchten!
Auch dass das Weißbuch sich über alternative Finan-
zierungskonzepte wie ÖPP und Projektanleihen Gedan-
ken macht, halte ich angesichts der Finanzierungs-
schwierigkeiten der öffentlichen Hand für dringend
geboten. Denn ohne eine verlässliche Finanzierungs-
grundlage können wir uns hier die schönsten Wunsch-
zettelprojekte ausdenken – aber auf die Umsetzung in
die Praxis kommt es an.
Aber ich will auch nicht verhehlen, dass wir bei vie-
len Punkten des Weißbuches Bauchschmerzen haben.
Denn der zentrale Satz, dass die Einschränkung von Mo-
bilität keine Option ist, zieht sich nicht so als roter Faden
durch das Weißbuch, wie wir uns das wünschen würden.
Dafür finden wir zu viel Dirigismus im Weißbuch, etwa
das vielzitierte Ziel, dass bis 2050 konventionell betrie-
bene Fahrzeuge aus den Innenstädten verschwinden sol-
len.
Ganz grundsätzlich wird Verkehr zu negativ und vor
allem als CO2-Emittent betrachtet. Dabei hatte Kommis-
sar Kallas in seiner Anhörung noch betont, dass Verkehr
nicht nur CO2-Reduzierung ist.
Dafür widmet sich das Weißbuch zu wenig den zahl-
reichen anderen Herausforderungen des Verkehrsbe-
reichs wie dem massiven Anstieg der Verkehrsströme in
den kommenden Jahren und seiner Bewältigung und den
Schwierigkeiten der Speditions- und Logistikbranche
Auch fällt das Bekenntnis zur Komodalität unserer
Ansicht nach nicht klar genug aus. Der Begriff wird
zwar verwendet, allerdings lassen doch einige Vor-
schläge der Kommission, etwa die quantitativen Verla-
gerungsziele, eher an Modalshift als an eine faire Komo-
dalität denken.
Für uns ist klar: Wir werden in allen verkehrspoliti-
schen Diskussionen der nächsten Jahre streng auf die
Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips achten. Das gilt
etwa ganz konkret für das Thema Verkehrsrecht. Ob in
Städten Tempo 30 herrschen sollte oder nicht, wird am
besten vor Ort und nicht in Brüssel entschieden.
Einige Sätze zum SPD-Antrag: Der Antrag hat unse-
rer Ansicht nach richtige Ansätze, er versucht allerdings
einen Spagat, der nicht gelingt.
Positiv zu erwähnen sind die Bekenntnisse zur Stär-
kung der Wettbewerbsfähigkeit der Verkehrswirtschaft
und zur Achtung des Subsidiaritätsprinzips. Bei dem
Ziel einer bezahlbaren Mobilität für alle sind wir uns
ebenfalls selbstverständlich einig.
Dass Sie sich allerdings gegen innovative Finanzie-
rungsinstrumente wie ÖPP und Projektbonds ausspre-
chen, halte ich angesichts der Finanzierungsschwierig-
keiten im Infrastrukturbereich für völlig unangebracht.
Wieso Mindestlöhne die Lösung für die Probleme im
Verkehrssektor sein sollen, erschließt sich mir auch
nicht.
Für fatal halte ich, dass Sie sich in Ihrem Antrag wei-
terhin gegen Trennung von Netz und Betrieb im Schie-
nenverkehr aussprechen, ausgerechnet in einem Antrag
zur europäischen Verkehrspolitik, wo doch auch im
Weißbuch die strukturelle Trennung zwischen Infra-
strukturbetreiber und Dienstleister empfohlen wird und
derzeit schon ein Vertragsverletzungsverfahren gegen
die Bundesrepublik läuft.
Lassen Sie uns also in der Debatte über den Antrag
der Koalitionsfraktionen zum Weißbuch Verkehr noch
einmal intensiv über die zustimmungs-, aber auch über
die kritikwürdigen Punkte sprechen! Ihr Antrag enthält
einige richtige Ansätze, aber auch vieles, dem wir nicht
zustimmen können.
Sabine Leidig (DIE LINKE): Verkürzte Analyse,
ambitionierte Ziele, unzureichende Maßnahmen und im
grundlegenden Widerspruch zur Fixierung auf Wachs-
tum und Wettbewerb in Europa – so könnte man das
Weißbuch Verkehr der EU-Kommission zusammenfas-
sen.
Zur Analyse: Die weltweite Ölförderung geht zurück.
Die Konflikte darum nehmen zu. Der Ölpreis wird stei-
gen. Die Treibhausgasemissionen müssen drastisch re-
duziert werden, um die Klimaschutzziele zu erreichen.
Beides weiß mittlerweile jedes Kind; in Sonntagsreden
ist es immer wieder Thema. Aber im Verkehrssektor hat
es seit 1990 einen erheblichen Anstieg der CO2-Emissio-
nen gegeben, und zwar um über 30 Prozent. Schaut man
sich aber die Verkehrsplanung der Bundesregierung an,
15468 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011
(A) (C)
(D)(B)
dann sieht es so aus, als wäre ein Weiter-so möglich. Die
EU-Kommission dagegen formuliert hehre Ziele.
Bis 2050 soll der der CO2-Ausstoß im Verkehr um
rund 70 Prozent reduziert werden. Selbst dieses Ziel ist
nicht ausreichend, weil dann allein der Verkehrssektor
noch mehr CO2 emittieren würde als die angestrebte Ge-
samtemission. Dass die SPD eine Überprüfung und ge-
gebenenfalls Absenkung dieses Ziels fordert, ist ein
schwaches Bild. Aber richtig ist: Selbst dieses Ziel ist
ambitioniert und erfordert – wie es die Kommission
schreibt – einen grundlegenden Strukturwandel im Ver-
kehrssektor. Die Analyse des Weißbuchs geht jedoch
nicht in die Tiefe: Während Zahlen das angeblich weiter-
hin notwendige Wachstum belegen sollen, fehlen wich-
tige Fakten zu den Umwelt- und Sozialauswirkungen.
Ohne eingehende Analyse der bestehenden Infrastruktur,
der Auswirkungen des gegenwärtigen Verkehrs und der
herrschenden verkehrspolitischen Ansätze kann aber
keine Zukunftsstrategie erarbeitet werden.
So sind dann auch die vorgeschlagenen Maßnahmen
unzureichend. Dies kommt schon im Zwischenziel zum
Ausdruck: Reduktion bis 2030 – also etwa zur Halbzeit
bis 2050 – um lediglich 20 Prozent gegenüber 2008. Da-
mit lägen die Emissionen dann immer noch über dem
Niveau von 1990. Natürlich, ein grundlegender Struktur-
wandel braucht Zeit, gerade wenn man die Bürgerinnen
und Bürger mitnehmen will. Aber dieses Zwischenziel
ist vor allem der Strategie geschuldet, auf noch zu entwi-
ckelnde Technologien zu setzen. Das ist aber sehr ge-
fährlich. Gefährlich ist zudem, die Notwendigkeit einer
Verkehrsreduktion auszublenden. Bei gleichzeitiger Fi-
xierung auf Wachstum und Wettbewerb als Ziele an sich
lassen sich die Probleme nicht lösen. Leider bleibt auch
der Antrag der SPD dieser Ideologie verhaftet.
Verkehrsvermeidung muss nicht weniger Mobilität
für die Menschen bedeuten. Im Gegenteil: Es kann mit
mehr Lebensqualität verbunden sein. Dieses setzt aber
eine andere Intelligenz voraus, als sie im Weißbuch, be-
zogen auf intelligente Verkehrsmanagementtechnolo-
gien, anvisiert ist. Wir müssen die Gesamtwirtschaft,
Stadtplanung und die Bedürfnisse der Menschen zusam-
mendenken. Welche Transporte sind notwendig? Welche
Orte wollen die Menschen erreichen? Wie können die
Lebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen verbes-
sert werden? Das sind die ersten Fragen, die zu stellen
sind. Wenn Verkehrspolitik sich nur der Aufgabe stellt,
Verkehrsströme besser zu lenken und Fahrzeuge effi-
zienter zu machen, wird ein grundlegender Strukturwan-
del nicht gelingen.
Trotz dieser strukturellen Unzulänglichkeit enthält
das Weißbuch positive Ansätze. Einige sind längst über-
fällig, die unabhängig vom europäischen Harmonisie-
rungsprozess von der Bundesregierung schnellstens um-
gesetzt werden sollten. Dazu zählt: Lückenschluss und
Ausbau vor Neubau. In diese Richtung hat sich ja nun
auch Herr Ramsauer geäußert – es müssen aber noch Ta-
ten folgen. Internalisierung der externen Kosten: Hier
geht es um die Berücksichtigung der gesellschaftlichen
Kosten von Investitionen, von Lärm und Abgasen sowie
von Stau und Unfällen bei der Ausgestaltung der Steuern
und Abgaben. Die Sonderstellung von Firmenwagen so-
wie die Freistellung des See- und Luftverkehrs von
Mehrwert- und Energiesteuern ist hier eine der eklatan-
testen Schieflagen. Bei der Verkehrssicherheit die Orien-
tierung an der „Vision Zero“ – keine Todesfälle im Ver-
kehr. Die soziale Dimension des Verkehrssektors stärken
und die Arbeitsbedingungen attraktiver gestalten.
Wenn dann aber die verpflichtende Ausschreibung für
alle öffentlichen Dienstleistungen und die Abschaffung
der Lotsenpflicht gefordert wird, kommt wieder die neo-
liberale Ideologie zum Ausdruck. Mehr Sicherheit, bes-
sere Arbeitsbedingungen und ein höherer ökologischer
Standard sind damit nicht zu erreichen.
Zu Recht mahnt die SPD die stiefmütterliche Behand-
lung des nicht motorisierten Verkehrs an. Fuß- und Rad-
verkehr müssen zusammen mit dem ÖPNV in Zukunft
den Hauptteil des städtischen Verkehrs ausmachen.
Fazit: Wir müssen so schnell wie möglich weg vom
Öl und runter mit den Treibhausgasemissionen. Dafür
brauchen wir eine andere Infrastruktur, für die wir heute
den Grundstein legen müssen. Den notwendigen grund-
legenden Strukturwandel können wir daher nicht weiter
in die Zukunft verschieben. Und: Wir müssen das reine
Verkehrsmanagement verlassen und zuerst die grundle-
genden Fragen stellen: Welche Transporte sind notwen-
dig? Welche Mobilitätsbedürfnisse haben die Men-
schen? In diesem Sinne ist das Weißbuch völlig unzu-
reichend – und leider auch der Antrag der SPD.
Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Das im März dieses Jahres von der EU-Kommission vor-
gelegte Weißbuch Verkehr ist grundsätzlich zu begrüßen.
Es wurde Zeit, dass öffentlich anerkannt wird, wie nötig
wir eine Trendwende in der Verkehrspolitik brauchen,
um insbesondere die enorme Ölabhängigkeit dieses Sek-
tors zu verringern und natürlich unsere Klimaschutzziele
zu realisieren. Dafür braucht es klare CO2-Minderungs-
ziele, ein Bündel an konkreten Maßnahmen und natür-
lich einen realistischen festgeschriebenen Zeitplan.
Was die Ziele betrifft, hat die Kommission mit dem
Weißbuch bewiesen, dass sie grundsätzlich weiter denkt,
als es hier die Bundesregierung tut. So wird im Weiß-
buch – anders als in der Koalitionsvereinbarung von
Schwarz-Gelb – ein konkretes CO2-Reduktionsziel für
den Verkehrssektor genannt. Bis 2050 soll eine Minde-
rung um 60 Prozent gegenüber 1990 erreicht werden.
Das Streben nach einem umweltfreundlicheren EU-Ver-
kehrssektor wird damit festgeschrieben.
Nun sollte sich endlich auch die Bundesregierung öf-
fentlich zu dieser Notwendigkeit einer neuen Verkehrs-
politik bekennen und den Worten dann auch Taten fol-
gen lassen. Bisher haben wir hiervon leider nichts
gesehen. Oder möchte uns hier jemand weismachen,
dass das Werben für eine drastische Mittelerhöhung zum
Straßenneubau – womöglich finanziert über eine Pkw-
Maut – und weiterhin eine Priorisierung des Autover-
kehrs nach innovativen, nachhaltigen, umweltschonen-
den Mobilitätskonzepten klingt? Wohl kaum!
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15469
(A) (C)
(D)(B)
Auch was die Maßnahmen betrifft, wird in dem Weiß-
buch zumindest ein künftiger Rahmen abgesteckt, hinter
dem die Bundesregierung derzeit deutlich hinterher-
hinkt. Wir freuen uns deshalb umso mehr, dass auf euro-
päischer Ebene deutlich gemacht wird, wie zentral die
Verlagerung des Straßenverkehrs auf die Schiene ist,
dass alle externen Kosten im Verkehrsbereich internali-
siert werden müssen und dass dazu beispielsweise die
Lkw-Maut sukzessive auf alle Straßen und alle Fahr-
zeuge ab 3,5 Tonnen ausgeweitet werden muss. Auch
das Ziel von emissionsfreien Städten sowie der Aufhe-
bung von Wettbewerbsverzerrungen durch die ungleiche
Besteuerung von Verkehrsmitteln wird in dem Weißbuch
genannt und ist selbstverständlich als Aufforderung an
die nationalen Regierungen zu verstehen. Ich fordere die
Bundesregierung daher auf, diesen europäischen Vorga-
ben zu folgen und die nötigen Weichen für eine Trend-
wende in der Verkehrspolitik zu stellen.
Jetzt wäre die Zeit, endlich das seit Januar letzten Jah-
res angekündigte Energie- und Klimakonzept für den
Bereich Verkehr vorzulegen. Jetzt sollte eine Strategie
vorgelegt werden, mit der die Ölabhängigkeit entschie-
den reduziert werden kann, und jetzt sollte ein Aktions-
plan erarbeitet werden, der die langfristige Finanzierung
des öffentlichen Personennahverkehrs sichert. Auch
sollte man nicht nur auf Effizienzsteigerungen durch
technische Innovationen hoffen, sondern sich auch
trauen, über sinnvolle Verkehrsvermeidung nachzuden-
ken. All das lässt schon viel zu lange auf sich warten.
Was den Zeitplan des EU-Weißbuchs Verkehr betrifft,
muss allerdings festgestellt werden, dass man sich trotz
aller großen Worte und ambitionierteren Ziele noch ein-
mal zurücklehnt und die Herausforderung auf morgen
und übermorgen verschiebt. So begnügt sich die Kom-
mission bis 2030 mit klitzekleinen Schritten von jährlich
1 Prozent, um bis dahin gegenüber 2008 lediglich
20 Prozent Treibhausgasemissionen einzusparen. Nach
diesem Plan lägen wir in gut 18 Jahren immer noch
8 Prozent über dem Niveau von 1990. Es kann aber doch
nicht sein, dass wir uns jetzt noch Bequemlichkeit erlau-
ben, während dann künftige Generationen Wunder zu
vollbringen haben. Denn ab 2030 sollen plötzlich Rie-
senschritte folgen, um bis 2050 eine Minderung um min-
destens 60 Prozent gegenüber 1990 zu erreichen. Selbst
wenn dies gelänge, wären die Anstrengungen nicht mit
dem selbstgesteckten EU-Ziel einer gesamtwirtschaftli-
chen Minderung um 80 bis 95 Prozent bis 2050 verein-
bar.
Angesichts dieses Missverhältnisses fordere ich die
Bundesregierung auf, sich für schrittweise Minderungs-
ziele von 25 Prozent bis 2020, 40 Prozent bis 2030,
55 Prozent bis 2040 und letztlich 70 Prozent bis 2050
einzusetzen. Nur mit solchen festen überprüfbaren Weg-
marken kann der langfristige Kurs hin zu einer nachhal-
tigen, ressourcenschonenden und effizienten Verkehrs-
politik auch gehalten und verwirklicht werden. Wer an
der Machbarkeit dieser Ziele zweifelt und lieber ein
Weiter-so propagiert, um das Problem in die Zukunft zu
verschieben, der sollte sich überlegen, ob er diese He-
rausforderung nicht besser anderen überlässt.
Anlage 11
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes über
den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsver-
fahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfah-
ren (Tagesordnungspunkt 13)
Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU): Mit
dem Rechtsschutz für Betroffene von überlangen Ge-
richtsverfahren schließen wir eine Rechtsschutzlücke,
die bereits seit Langem besteht und seit einigen Jahren
Gegenstand der EGMR-Rechtsprechung ist. Auch wäh-
rend des Gesetzgebungsverfahrens, das wir heute voran-
bringen wollen, wurde und wird Deutschland vom Euro-
päischen Gerichtshof für Menschenrechte wegen des
hier mangelnden Rechtsschutzes verurteilt:
So hat der EGMR erst im vergangenen Mai in der Sa-
che „Kuppinger gegen Deutschland“ die überlange Ver-
fahrensdauer in einem Familiengerichtsverfahren gerügt.
Angesichts der Beschleunigungsmaxime des § 155 des
Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in
den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit,
FamFG, ist dieser Sachverhalt tatsächlich erschreckend:
Zu Beginn des Umgangsverfahrens vor dem Amtsge-
richt Frankfurt Main im Mai 2005 war das betroffene
Kind eineinhalb Jahre alt. Das Verfahren war im Oktober
2010, als das Kind bereits im schulfähigen Alter war,
noch nicht abgeschlossen.
Als Familienrichterin weiß ich aus eigener beruflicher
Erfahrung, welche Bedeutung der zeitliche Aspekt ge-
rade in Verfahren hat, in denen der Umgang mit dem ei-
genen Kind Streitgegenstand ist. Hier sollte es in den In-
stanzen eher um Monate als um Jahre gehen, steht doch
das persönliche Näheverhältnis in der Eltern-Kind-Be-
ziehung zur Disposition. Angesichts solcher Sachver-
halte tritt die Rechtsschutzlücke ganz offen zu Tage.
Selbst die klare Beschleunigungsregelung des FamFG
vermochte hier nicht, effektiven Rechtsschutz herbeizu-
führen.
Am vergangenen Donnerstag wurde Deutschland in
zwei weiteren Verfahren (Köster./.Deutschland und
Otto./.Deutschland) wegen Verfahrensdauern, die ihren
gerichtlichen Ausgangspunkt beide bereits 1989 hatten,
verurteilt. Auch für den heutigen Tag und für Mitte Ok-
tober sind weitere Entscheidungen des EGMR angekün-
digt, die sich mit unangemessenen Verfahrenslängen in
der Bundesrepublik beschäftigen. Dementsprechend bin
ich froh, dass wir dem zum 1. Januar 2012 ein Ende set-
zen werden.
Mit dem hier abschließend beratenen Gesetz fügen
wir einen weiteren Baustein ins Gesamtgebilde des deut-
schen Staatshaftungsrechts. Dabei ist das Gesetz kein
Schritt hin zu einer einheitlichen Kodifizierung dieses
Rechtsgebiets. Wir verbessern lediglich punktuell den
Rechtsschutz gegenüber staatlichem Handeln oder eben
Nichthandeln. Eine umfassende Reform und damit eine
Systematisierung der Vielzahl staatshaftungsrechtlicher
Anspruchsgrundlagen steht auch nach Verabschiedung
des Gesetzes weiter auf unserer Agenda.
15470 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011
(A) (C)
(D)(B)
Klar ist mit der Schaffung eines Rechtsmittels bei
Überlänge eines gerichtlichen Verfahrens, dass künftig
auch in Deutschland jedermann, der sich einer nicht
mehr hinnehmbaren Verfahrenslänge ausgesetzt sieht,
über Rechtsschutzmöglichkeiten verfügt.
Ich nutze diese Debatte aber auch gerne, um vorab
nochmals festzustellen: Die deutsche Justiz arbeitet ins-
gesamt schnell und auf hohem Qualitätsniveau. Eine
knappe Personalausstattung, die in gewissem Maße zu
einer längeren Verfahrensdauer beiträgt, hat die Justiz
nicht zu verantworten. Vielmehr hat sie die große Auf-
gabe, im Rahmen der Haushaltsmittel ein bürgernahes
und effektives Rechtsschutzsystem zu gewährleisten.
Für den Betrag, der hier insgesamt zur Verfügung steht,
zeichnet die Politik auf verschiedenen Ebenen verant-
wortlich, die hier eine Abwägung gegenüber anderen
wichtigen politischen Zielsetzungen zu treffen hat, bei-
spielsweise der Finanzierung von Bildung, Sozialleis-
tungen oder Infrastruktur.
Deshalb kann es kein Anliegen sein, hier über die An-
gemessenheit hinaus besonders hohe Entschädigungs-
bzw. gar vollumfängliche Schadenersatzansprüche zu
schaffen. Bei der konkreten Bemessung der Entschädi-
gungshöhe geraten wir in den Beratungen regelmäßig in
einen Überbietungswettbewerb. Deshalb war der Antrag
der Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grü-
nen betreffend eine Entschädigung für Nichtvermögens-
nachteile in Höhe von 1 000 Euro pro Monat der Verzö-
gerung nicht zielführend. Das Geld würde an anderer
Stelle fehlen. Jedem muss doch in Zeiten der Schulden-
bremse und des Abbaus der Staatsverschuldung klar
sein, dass hohe Forderungen in einem Bereich zu Kür-
zungen in anderen Bereichen führen. Außerdem würde
eine monatliche Bemessung den Eindruck erwecken,
dass sich die unangemessene Dauer eines Gerichtsver-
fahrens in Monaten bemessen würde. Es geht hierbei
aber immer um Zeitspannen, die in Jahren zu bemessen
sind.
Ich denke, wir haben im parlamentarischen Verfahren
einige wesentliche Verbesserungen zum Regierungsent-
wurf vorgenommen:
So passen wir die Rechtsfolgenseite des Entschädi-
gungsanspruchs nach § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG an die
Rechtsprechung des EGMR an, indem wir einen An-
spruch auf angemessene Entschädigung vorsehen. Damit
gehen wir bewusst von schadenersatzrechtlichen Erwä-
gungen im Regierungsentwurf ab, die nicht zuletzt An-
sprüche hinsichtlich entgangenen Gewinns umfasst hät-
ten. Hiermit wären wir einerseits als Gesetzgeber weit
über die Straßburger Vorgaben hinausgegangen. Ande-
rerseits hielte ich es nicht für vertretbar, die Landeshaus-
halte mit der Regelung eines staatshaftungsrechtlichen
Teilbereichs einem solch erheblichen zusätzlichen Kos-
tenrisiko auszusetzen.
Ferner befinden wir uns bei den nun normierten An-
sprüchen im Bereich der verschuldensunabhängigen
Haftung. Hier sehe ich für Ansprüche nach den
§§ 249 ff. BGB keinen Raum. Im deutschen Staatshaf-
tungsrecht hat sich ein ausgewogenes Verhältnis von
Verschulden/Verschuldensunabhängigkeit einerseits und
dem Anspruchsumfang andererseits ausgeprägt. Mit der
angemessenen Entschädigung bei Nachteilen wegen
überlanger Gerichtsverfahren entsprechen wir nun dieser
Systematik.
Ferner sieht § 198 Abs. 3 und 4 GVG die Möglichkeit
der Entschädigung immaterieller Nachteile „auf andere
Weise“ vor, welche beispielsweise in der gerichtlichen
Feststellung einer unangemessenen Verfahrensdauer lie-
gen kann. An dieser Stelle wird deutlich, dass wir uns
systematisch richtigerweise nicht im Bereich des Scha-
denersatzrechts, sondern vielmehr im Entschädigungs-
recht befinden.
Mit der Vermutungsregelung hinsichtlich des Vorlie-
gens eines immateriellen Nachteils bei bloßem Vorliegen
einer Verfahrensüberlänge tragen wir den Beweis- und
Darlegungsschwierigkeiten der Betroffenen in diesem
Bereich Rechnung. Materielle Nachteile hingegen sind
mit den allgemeinen Regeln, beispielsweise des An-
scheinsbeweises oder der Berücksichtigung typischer
Kausalverläufe, angemessen geregelt. Um hier aber
letzte Sicherheit zu bekommen, werden wir die Erfah-
rungen bei der Geltendmachung materieller Nachteile
evaluieren.
Ich muss zugeben, dass ich mir noch einige weitere
Verbesserungen gewünscht hätte. So weiß ich um eini-
gen Unmut aus den Regionen, die in einem OLG-Bezirk
liegen, welcher nicht den Sitz der Landesregierung um-
fasst. Wie nun die Richterkollegen beispielsweise im
OLG-Bezirk Karlsruhe der Beurteilung ihrer Verfahrens-
längen durch das OLG Stuttgart gegenüberstehen, ver-
mag ich nicht abschließend zu beurteilen. Hier hätte ich,
hätte die Union keinen Anlass gesehen, auf der Ebene
des Entschädigungsverfahrens den OLG-Bezirk zu ver-
lassen. Wir werden beobachten, ob das Gesetz auch in
diesem Punkt den eingespielten Abläufen in den Landes-
justizverwaltungen nicht entgegensteht.
Auch wäre es meines Erachtens hilfreich gewesen,
mit dem Tatbestandsmerkmal „überlange Dauer“ in
§ 198 Abs. 1 Satz 1 GVG einen sprachlich deutlicheren
Bezug zur EGMR-Rechtsprechung im Gesetz zu veran-
kern. Es sollte nicht das Signal an die Rechtsanwender
ausgesendet werden, dass bereits vergleichsweise ge-
ringe Verzögerungen zur sogenannten Rüge berechtigen.
Dennoch besteht die Hoffnung, dass die Praxis aus der
Gesetzesbegründung und nicht zuletzt aus den Plenar-
protokollen entnimmt, dass die nun normierte „Unange-
messenheit“ der Verfahrensdauer allein auf die „Ausrei-
ßer“ bezogen ist, die der EGMR in seiner Recht-
sprechung zum Gegenstand macht. Die Verfahrenslän-
gen liegen hier bei mehreren Jahren, die in den Instanzen
nicht selten in den zweistelligen Bereich gehen, wie
„Sürmeli gegen Deutschland“ aus 2006 mit Verfahrens-
beginn 1982 oder die beiden eingangs genannten Fälle,
die ihren Ausgang beide im Jahr 1989 hatten.
Aus all diesen Erwägungen werden wir schließlich
evaluieren. Wir wollen genau beobachten, welche Erfah-
rungen die Rechtsuchenden und die Justizverwaltungen
mit den Neuregelungen machen. Auch wenn ich fest da-
von ausgehe, dass der Entschädigungsanspruch für erlit-
tene materielle Nachteile von den deutschen Gerichten
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15471
(A) (C)
(D)(B)
nicht unterhalb des Maßstabs der bisherigen EGMR-
Rechtsprechung angesetzt werden wird, wollen wir prü-
fen, ob den Belangen der Betroffenen mit den jeweils
ausgeurteilten Entschädigungshöhen hinreichend Rech-
nung getragen wird. Gleiches gilt für die Anforderungen
an den Nachweis eines kausalen Vermögensnachteils.
Die parlamentarischen Beratungen können sicherlich
nicht alle Unwägbarkeiten in Bezug auf die künftige
Handhabung des neuen Rechtsmittels auflösen. Wenn
beispielsweise befürchtet wird, dass künftig ein rügebe-
fangenes Verfahren vorrangig gegenüber anderen Streit-
sachen behandelt wird, oder wenn die Sorge vor einer
Schwemme von unangemessenen Verzögerungsrügen
geäußert wird, so liegt es an den Gerichten selbst, dies
auszuräumen. Ich bin zuversichtlich, dass der Rechts-
staat auch an dieser Stelle in der Lage ist, Rechtsverlet-
zungen präventiv zu verhindern oder eben angemessen
zu entschädigen.
Um jedoch zum Kontext, in dem dieses Gesetz steht,
zurückzukehren: Gerade vor dem Hintergrund einer
künftigen umfassenden Reform des Staatshaftungsrechts
ist es aus meiner Sicht richtig, die Erfahrungen mit ei-
nem neuen Rechtsmittel detailliert zu erfassen und in all-
gemeine staatshaftungsrechtliche Beratungen einfließen
zu lassen. Nicht umsonst haben wir uns im Koalitions-
vertrag darauf verständigt, das Staatshaftungsrecht zu
kodifizieren und einheitlich auszugestalten. Angesichts
eines solch umfassenden Projekts, für das es in den ver-
gangenen Jahrzehnten schon mehrere gescheiterte An-
läufe für ein Staatshaftungsgesetz gab, ist es wichtig,
auch einzelne Rechtsmittel wie das gegen Verfahrens-
überlängen so auszuformen, dass sie ihrerseits der bishe-
rigen Systematik entsprechen. Mit dem nun gestalteten
Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren behalten
wir die bisherige historisch entwickelte staatshaftungs-
rechtliche Systematik bei.
Das deutsche Staatshaftungsrecht ist mit seiner Viel-
zahl von Normen und Anspruchsgrundlagen bisher nicht
transparent geregelt. Wenn es uns gelingt, die Regelun-
gen in einem einheitlichen Gesetz zusammenzuführen,
könnten wir eine nun mehrere Jahrzehnte diskutierte
offene Wunde der Rechtspolitik schließen. Dabei geht es
gar nicht so sehr um Veränderungen der Haftungsmaß-
stäbe und die Ausweitung des Entschädigungsumfangs,
sondern um eine Systematisierung der Anspruchsgrund-
lagen. Ich bin zuversichtlich, dass wir nach der Schlie-
ßung von wichtigen Baustellen wie dem Rechtsschutz
bei überlangen Gerichtsverfahren in absehbarer Zeit
auch ein transparent und schlüssig gestaltetes Staatshaf-
tungsrecht auf den Weg bringen werden.
Dr. Edgar Franke (SPD): Wir beraten heute in zwei-
ter und dritter Lesung den Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichts-
verfahren und, was nicht vergessen werden darf, bei
strafrechtlichen Ermittlungsverfahren.
Worum geht es bei diesem Gesetzentwurf? Es geht
darum, das Gesetzgebungsverfahren abzuschließen und
eine Rechtsschutzlücke im deutschen Recht zu schlie-
ßen. Kurz: Es geht darum, dass die Verzögerungsrüge
und unter Umständen die daraus folgenden Entschädi-
gungszahlungen im Detail gesetzlich geregelt werden.
Ich bin überzeugt, dass wir mit der in den Beratungen
gefundenen Regelung dazu beitragen, dass das Vertrauen
in die Arbeit der Gerichte und Staatsanwaltschaften,
letztlich in den deutschen Rechtsstaat, gestärkt wird.
Die Normen sind verfassungsrechtlich notwendig.
Denn Art. 19 Abs. 4 GG, Art. 20 Abs. 3 GG sowie die
Europäische Menschenrechtskonvention in Art. 6 Abs. 1
fordern einen Anspruch auf effektiven Rechtsschutz in
angemessener Zeit. Die Regelungen sind aus der gericht-
lichen Praxis heraus auch tatsächlich geboten. Sie wer-
den eine Verkürzung der Dauer des Verfahrens bewir-
ken.
Tatsächlich wird das Gesetz zu einer Bewusstseinsbil-
dung und -schärfung auch mit Blick auf die Geschäfts-
verteilung der Gerichte führen. In Zukunft wird zum
Beispiel ein Gerichtspräsidium Maßnahmen wie Umver-
teilungen innerhalb eines Gerichtes eher vornehmen, um
Gerichtsverfahren gerade schneller zu erledigen und sich
damit nicht dem Vorwurf eines überlangen Verfahrens
auszusetzen. Auch wird es präventiv dazu führen, dass
jeder Richter sich bemühen wird, zumindest vermeid-
bare Verfahrensverlängerungen, die in seinem Verant-
wortungsbereich liegen, zu verhindern. Der Präsident
des Finanzgerichts in Baden-Württemberg, Dr. Hans-
Peter Korte, hat es im Rahmen der öffentlichen Anhö-
rung zu dem Gesetzentwurf am 23. März 2011 auf den
Punkt gebracht: Er hat ausgeführt, dass „ein zeitgerech-
ter Abschluss eines Verfahrens auch ein hohes Qualitäts-
merkmal“ ist. „Qualität der Justiz ist nicht nur, geschlif-
fene Urteile zu schreiben, sondern auch in angemessener
Zeit ein Verfahren zum Abschluss zu bringen.“ Sicher-
lich ist es so, dass man Richter nicht dem Vorwurf aus-
setzen sollte, lieber schnell anstatt richtig im Verfahren
zu entscheiden. Aber die Befürchtungen, die auch immer
wieder vom Richterbund geäußert werden, die richterli-
che Unabhängigkeit werde dadurch beeinträchtigt, dass
durch das Instrument der Verzögerungsrüge unzulässiger
Druck auf diese ausgeübt werde, halte ich für abwegig.
Auch ist die Befürchtung, dass mit dem Inkrafttreten des
Gesetzes eine Flut von Verzögerungsrügen quer über die
einzelnen Gerichte hereinbrechen könnte, sicherlich
übertrieben.
Zusammenfassend möchte ich feststellen, dass der
vorliegende Gesetzentwurf aus meiner Sicht sachgerecht
erscheint. Wir als SPD Bundestagsfraktion begrüßen zu-
dem ausdrücklich das Ziel des Gesetzentwurfs, durch
eine Konzentration der Verfahrens bei einem Gericht
eine möglichst einheitliche Rechtsprechung in einem
Land zu erreichen. Der pauschale Entschädigungs-
anspruch für immaterielle Schäden in Höhe von
1 200 Euro für jedes Jahr der Verzögerung ist zwar eher
gering als zu hoch einzuschätzen. Aber durch die in dem
Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen einge-
führte Evaluierung des Gesetzes nach zwei Jahren kann
diese Höhe im Rahmen der Evaluierung nochmal über-
prüft werden.
Aus Sicht der SPD wird dieses Gesetz generalpräven-
tiv Druck auf die Gerichte insgesamt ausüben, die Ver-
15472 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011
(A) (C)
(D)(B)
fahrensdauer von Gerichtsverfahren insgesamt zu ver-
kürzen. Dabei darf natürlich nicht außer Acht gelassen
werden, dass in der Fachgerichtsbarkeit – zum Beispiel
bei den Sozialgerichten – eine ordentliche Personal- und
Finanzausstattung vonnöten ist.
Gleichwohl ist dieses Gesetz aus Sicht der SPD-Bun-
destagsfraktion das Ergebnis einer sach- und fachgerech-
ten Abwägung der berechtigten Interessen der Gerichte
und ihrer Richter auf der einen, aber auch der rechtsu-
chenden Bürger – und deren Anspruch auf schnelle Ent-
scheidung – auf der anderen Seite.
Christian Ahrendt (FDP): Die FDP-Bundestags-
fraktion begrüßt ausdrücklich, dass wir den Betroffenen
überlanger Gerichtsverfahren nun ein wirksames Mittel
in die Hand geben, um sich gegen unangemessen lange
Prozesse zur Wehr zu setzen. Es ist untragbar, wenn die
übermäßige Verfahrensdauer zu einer persönlichen und
finanziellen Belastung der Betroffenen führt.
Jeder soll Anspruch auf gerichtlichen Rechtsschutz in
angemessener Zeit haben. Gerichtsverfahren dauern
trotzdem vereinzelt zu lang, auch wenn Deutschland bei
der Prozessdauer im internationalen Vergleich gut da-
steht.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte,
EGMR, hat in der Vergangenheit von Deutschland bes-
sere Rechtsbehelfe bei überlangen Verfahren verlangt.
Bei vier von fünf Verurteilungen Deutschlands durch
den EGMR ging es um überlange Prozesse. Aber auch
das Bundesverfassungsgericht und die Landesverfas-
sungsgerichte haben mehrfach den Stellenwert des An-
spruchs auf angemessene Verfahrensdauer bekräftigt.
Zu lange gab es bei überlangen Gerichtsverfahren im
deutschen Recht keine speziellen Rechtsschutzmöglich-
keiten. Dem wird nun ein Riegel vorgeschoben. Mit die-
sem Gesetz schaffen wir nun die notwendigen Voraus-
setzungen für mehr Rechtsschutz bei überlangen
Gerichtsprozessen und schließen damit die Rechts-
schutzlücke, die sowohl nach den Anforderungen des
Grundgesetzes als auch nach denen der Europäischen
Menschenrechtskonvention besteht.
Betroffene müssen zunächst im Ausgangsverfahren
auf die Verzögerung hinweisen. Dies gibt den Richtern
erst einmal die Möglichkeit, bei berechtigter Kritik Ab-
hilfe zu schaffen. Auch soll eine Verzögerungsrüge erst
nach einer Wartefrist von sechs Monaten wiederholt
werden können, damit Gerichte nicht durch mehrfache
Rügen unnötig belastet werden und ein Richter ausrei-
chend Zeit hat, wirksam zu reagieren und somit das Ver-
fahren zu fördern. Aus dem gleichen Grund kann im An-
schluss an eine Verzögerungsrüge auch frühestens nach
sechs Monaten Klage beim Entschädigungsgericht ein-
gelegt werden. Die ausschließliche Zuständigkeit für die
Entschädigungsklagen gegen ein Land liegt bei dem
Oberlandesgericht, in dessen Bezirk die Regierung des
beklagten Landes ihren Sitz hat, für Klagen gegen den
Bund beim Bundesgerichtshof.
Bei einer Verletzung des Rechts auf angemessene
Verfahrensdauer sind dem Betroffenen die daraus resul-
tierenden Nachteile zu ersetzen. Der Ersatz umfasst die
materiellen Nachteile und, soweit nicht nach den Einzel-
fallumständen Wiedergutmachung auf andere Weise aus-
reichend ist, auch die immateriellen Nachteile. Dieser
Ansatz bietet damit nicht nur einen effektiven Rechts-
schutz, sondern vermeidet auf der anderen Seite unnö-
tige Mehrbelastungen für die Justiz.
Die Betroffenen konnten bisher nur versuchen, sich
mit einer Dienstaufsichtsbeschwerde gegen den Richter
oder äußerstenfalls mit einer Verfassungsbeschwerde zu
wehren. Für den Ausgleich von Nachteilen gab es nur
den allgemeinen Amtshaftungsanspruch, der oft nicht
weiterhalf, da er nur für schuldhafte Verzögerungen gilt,
um die es in vielen Fällen aber nicht geht. Außerdem
deckt die Amtshaftung keine immateriellen Nachteile
ab, wie etwa seelische oder gesundheitliche Belastungen
durch überlange Gerichtsverfahren.
Der Entwurf setzt auf Prävention vor überlangen Pro-
zessen und auf Kompensation der daraus resultierenden
Folgen. Aufgrund der Unterschiede bei der zeitlichen
Behandlung von Rechtssachen ist von den Justizverwal-
tungen und den für die Haushalte der Länder verantwort-
lichen Stellen zu erwarten, dass der im Gesetzentwurf
vorgesehene Anspruch auf Entschädigung zum Anlass
genommen werde, die Ressourcen der Justiz zu verbes-
sern. Durch den Druck, der durch die Entschädigungsvo-
raussetzungen ausgeübt wird, wird man zudem dem Be-
schleunigungsgebot angemessen gerecht und fördert
konkludent das Verfahren.
Jens Petermann (DIE LINKE): Was lange währt,
sollte besonders gut werden. So hatte ich meinen Beitrag
in der ersten Beratung dieses Gesetzentwurfes im Januar
begonnen. Doch weder eine öffentliche Anhörung, noch
Änderungs- und Entschließungsanträge der Regierungs-
koalition konnten diesem Gesetzentwurf die nötige fach-
liche und praktische Brillanz verleihen. Auch meine
Fraktion hat durch die Einbringung eines Änderungsan-
trages in den Rechtsausschuss versucht, sich konstruktiv
zu beteiligen. Leider wurde unser Antrag abgelehnt, und
leider nehmen Sie unsere Argumente immer erst dann
ernst, wenn sie diese ein paar Jahre später vom Bundes-
verfassungsgericht oder vom Europäischen Gerichtshof
für Menschenrechte hören.
Mit Ihrem Entwurf sind Sie wieder einmal im Verzug,
ein fast schon gewohntes Phänomen. Der Europäische
Gerichtshof für Menschenrechte hatte die Bundesrepu-
blik Deutschland am 2. September 2010 verpflichtet,
binnen eines Jahres einen wirksamen innerstaatlichen
Rechtsbehelf oder eine Kombination solcher Rechtsbe-
helfe einzuführen. Jede Anwaltskanzlei, die so nachläs-
sig gesetzte Fristen missachtet, hätte schon längst Insol-
venz anmelden müssen. Anscheinend ist es sinnvoll,
einen Rechtsbehelf gegen überlange Gesetzgebungsver-
fahren oder eine Untätigkeitsrüge gegen die Bundesre-
gierung einzuführen.
Der EGMR stellt in seiner Entscheidung fest, dass es
sich bei den überlangen Gerichtsverfahren in Deutsch-
land um ein strukturelles Problem handelt. Das in dem
Regierungsentwurf vorgesehene Rechtsmittel ist allen-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15473
(A) (C)
(D)(B)
falls die zweitbeste Lösung für dieses Problem. Als sol-
ches sieht nämlich der EGMR ein vorbeugendes Rechts-
mittel an.
Grundsätzlich ist es die Aufgabe des Staates, ausrei-
chende personelle und sachliche Ressourcen zu Verfü-
gung zu stellen, damit es nicht erst zu überlangen Ver-
fahren kommt. Durch das nun vorgeschlagene
Entschädigungsverfahren werden unnötig Kapazitäten
bei den Instanzgerichten durch Erhebung der Verzöge-
rungsrüge sowie bei den Oberlandesgerichten durch die
Entscheidung über den Entschädigungsantrag gebunden.
Dafür bleiben andere Verfahren, insbesondere Hauptsa-
cheverfahren, liegen. Die von der Koalition angedachte
Beschleunigungswirkung wird ins Gegenteil verkehrt.
Anscheinend gehen sie davon aus, dass die Richterinnen
und Richter im Moment noch über ausreichend freie Ar-
beitszeit verfügen, um sich mit den Gründen der Verzö-
gerung zu beschäftigen. Dem ist aber nicht so, und das
sage ich Ihnen aus 20-jähriger Erfahrung als Arbeits-
und Sozialrichter. Es besteht die Gefahr, dass die betrof-
fenen Richterinnen und Richter sowie Staatsanwältinnen
und Staatsanwälte das jeweilige Verfahren nach Eingang
einer Verzögerungsrüge auf Kosten anderer – ebenfalls
wichtiger und dringlicher Verfahren – vorziehen. Ich
habe einen anderen Lösungsvorschlag: Sorgen Sie für
eine ausreichende sachliche und personelle Ausstattung
der Gerichte und Staatsanwaltschaften, geben Sie der
Justiz mehr Autonomie, dann bekommen wir die Pro-
bleme mit überlangen Gerichtsverfahren in den Griff.
Die Gründe für überlange Verfahrensdauern sollten
nicht immer bei den Gerichten gesucht werden. So
wurde zum Beispiel durch Ihre verfassungswidrige
Hartz-IV-Gesetzgebung eine Prozessflut an den Sozial-
gerichten provoziert. 41 Gesetzesnovellen in sechs Jah-
ren haben zum Teil zu chaotischen Zuständen in der So-
zialgerichtsbarkeit geführt. Da muss sich niemand mehr
wundern, wenn aufgrund der Vielzahl von sozialrechtli-
chen Verfahren beispielsweise ein rentenrechtliches Ver-
fahren mit einem Antrag im Jahre 2000 beginnt, über die
Instanzen acht Jahre bis zu einer Entscheidung benötigt
und im Jahre 2010 mit einer Rüge des Europäischen Ge-
richtshofs für Menschenrechte wegen überlanger Verfah-
rensdauer abgeschlossen wird. Wo wir gerade beim
SGB II sind: Was bleibt eigentlich einem Hartz-IV-Emp-
fänger, wenn er eine Entschädigung für ein mehrere
Jahre dauerndes Verfahren zugesprochen bekommt?
Wahrscheinlich nichts; denn diese wird wohl auf seine
Regelleistungen angerechnet.
Die gesetzliche Festlegung eines bestimmten Geldbe-
trages, der Nicht-Vermögensschäden ausgleichen soll,
lehnen wir ab. Stattdessen sollte ein Betrag für jeden
Monat der Verzögerung als Untergrenze und nicht als
feste Entschädigung festgelegt werden. Dies ist gerade
vor dem Hintergrund der unterschiedlichen psychischen
Belastungen der am Gerichtsprozess Beteiligten sinn-
voll.
Mit einem Änderungsantrag zu ihrem eigenen Ge-
setzentwurf versucht die Koalition den Anspruch zu be-
schränken. Indem man die „Entschädigung“ in eine „an-
gemessene Entschädigung“ umwandelt und dann erklärt,
dass damit eine verschuldensunabhängige Haftung gege-
ben ist, darf der tatsächlich entstandene Schaden nicht
mehr ersetzt werden. Die Haftung für den entgangenen
Gewinn ist damit ausgeschlossen.
Da man sich aber auch noch nicht sicher ist, ob dieses
neue Instrument missbraucht werden oder überhaupt bei
den Gerichten auf Zustimmung stoßen wird, sieht die
Koalition in einem Entschließungsantrag zu ihrem eige-
nen Gesetzentwurf vor, die praktischen Folgen dieses
Gesetzes nach zwei Jahren zu überprüfen. Dabei werden
Sie merken, dass Ihre Lösung nicht den Anforderungen
des EGMR entspricht, was wir Ihnen aber schon heute
sagen können.
Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Das Grundgesetz und die Europäische Menschenrechts-
konvention gewährleisten den Anspruch jedes Bürgers
und jeder Bürgerin auf Rechtsschutz – und zwar in ange-
messener Zeit. Wir alle wissen: Die große Mehrzahl der
gerichtlichen Verfahren in Deutschland wird zeitnah ab-
geschlossen. Dennoch gibt es einzelne Verfahren, die
Jahre oder gar Jahrzehnte dauern. Der Europäische Ge-
richtshof für Menschenrechte in Straßburg hat deshalb
zu Recht die Bundesrepublik in über 50 Fällen wegen
unangemessener Verzögerung von Gerichtsverfahren
verurteilt.
Zusätzlich hat der Europäische Gerichtshof für Men-
schenrechte festgestellt, dass wir im deutschen Recht
noch keinen wirksamen Rechtsbehelf gegen überlange
Gerichtsverfahren haben. Er hat auch Mindestanforde-
rungen an einen solchen Rechtsbehelf aufgestellt. Diese
Anforderungen müssen und wollen wir gesetzlich um-
setzen.
Aber warum sollten wir uns auf diese Mindestvorga-
ben beschränken? Das Grundgesetz und die Europäische
Menschenrechtskonvention geben lediglich den äußeren
Rahmen für die Gesetzgebung vor. Die Ausgestaltung
dieses Rahmens ist unsere Aufgabe im Bundestag. Hier
gilt es, möglichst wirkungsvoll zu arbeiten und nicht auf
halbem Wege stehen zu bleiben! Der Gesetzentwurf der
Bundesregierung konzentriert sich auf die Einführung
einer Verzögerungsrüge und einer nachträglichen Ent-
schädigungslösung.
Die Entschädigung für immaterielle Nachteile kann
nur verlangt werden, „soweit nicht“ – so der Wortlaut
des Entwurfs – „Wiedergutmachung auf andere Weise“
ausreichend ist. Die „Wiedergutmachung auf andere
Weise“ soll insbesondere durch eine gerichtliche Fest-
stellung erfolgen, dahin gehend, dass die Verfahrens-
dauer unangemessen war. In welcher Weise kann solch
eine Feststellung aber etwas wiedergutmachen? Und:
Welchen Nutzen soll der Betroffene aus dieser Feststel-
lung ziehen?
Wir Grünen setzen uns für eine Umkehr der Rang-
folge im Entwurf ein: In der Regel ist die Entschädigung
in Geld zu leisten; nur in Ausnahmefällen kann die Wie-
dergutmachung auch auf andere Weise erfolgen.
Hinzu kommt: Der Entwurf sieht eine Entschädigung
von 1 200 Euro für jedes Jahr der Verzögerung vor. Das
15474 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011
(A) (C)
(D)(B)
bedeutet zum einen, dass derjenige, dessen Verfahren
sich zum Beispiel um elf Monate verzögert, keine Kom-
pensation erhält. Zum anderen könnte es für Bund und
Länder günstiger sein, überlange Verfahren hinzuneh-
men, anstatt an den Strukturen in der Justizverwaltung
zu arbeiten und eventuell auch neue Richter und Richte-
rinnen einzustellen. Diese Entschädigung ist viel zu
niedrig. Angemessen wäre ein Entschädigungsbetrag
von 1 000 Euro pro Monat.
Eine nachträgliche Entschädigungslösung ist aber
auch nicht ausreichend. Wir müssen auch präventiv den-
ken. Um sicherzustellen, dass Gerichtsverfahren in ange-
messener Zeit abgeschlossen werden, schlagen wir des-
halb eine Regelung vor, gemäß der das Präsidium des
Gerichts ein Verfahren an den Vertretungsrichter übertra-
gen kann, wenn der zuständige Richter verzögert arbei-
tet. Bewusst stellen wir die Entscheidung hierüber in das
Ermessen des Präsidiums, um die Unabhängigkeit der
Richter zu wahren und den Gerichten eine Entscheidung
im Einzelfall zu ermöglichen.
Die Arbeit der Justiz hängt natürlich zudem von der
sachlichen und personellen Ausstattung der Gerichte ab.
Der Schlüssel zur Gewährleistung effektiven Rechts-
schutzes liegt also auch in der Bereitstellung von ausrei-
chenden Mitteln für die Justiz. Wir meinen deshalb, dass
das Präsidium des Gerichts feststellen sollte, wie viele
Richterstellen voraussichtlich zur ordnungsgemäßen Er-
füllung der Aufgaben benötigt werden. Diese Feststel-
lung sollte das Präsidium dann dem Haushaltsgesetzge-
ber zuleiten können.
Wir Grünen fordern mit unseren Änderungsanträgen
zum Regierungsentwurf dazu auf, nicht auf halbem Weg
stehen zu bleiben. Wir wollen das Ziel – die Gewährung
effektiven Zugangs zum Recht – umfassend anzugehen.
Anlage 12
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Eine Europäische
Gemeinschaft für die Förderung erneuerbarer
Energien gründen – EURATOM auflösen (Ta-
gesordnungspunkt 14)
Roderich Kiesewetter (CDU/CSU): Bevor ich auf
Einzelheiten des hier zu beratenden Antrags eingehe,
möchte ich eine grundlegende Überlegung vorwegstel-
len: In Ihrem Antrag, meine Damen und Herren der
Fraktion Die Linke, schlagen Sie eine duale Vorgehens-
weise vor: Zum einen wollen Sie im Lichte des Reaktor-
unfalls von Fukushima nicht nur die Mitgliedschaft
Deutschlands in der Europäischen Atomgemeinschaft,
Euratom, beenden, sondern sprechen sich darüber hinaus
auch für deren grundsätzliche Auflösung aus. Zum ande-
ren aber wollen Sie die Forschung im Bereich erneuer-
barer Energien auf europäischer Ebene stärken. Diese
antagonistische Betrachtungsweise der Dinge teile ich
grundsätzlich nicht.
Die Europäische Atomgemeinschaft gehört zu den
drei Vertragsregimes, auf deren Grundlage das verfasste
Europa entstanden ist. Sie wurde zeitgleich mit der Eu-
ropäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, EGKS,
und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, EWG
– der späteren Europäischen Gemeinschaft, EG –, in den
Römischen Verträgen von 1957 begründet und besteht
seither ohne wesentliche Änderungen fort. Mit dem In-
krafttreten des Vertrags von Lissabon am 1. Dezember
2009 ging die EG in der Europäischen Union, EU, auf;
damit bleibt nur die Euratom als eigenständige Organisa-
tion bestehen, ist jedoch in ihren Strukturen vollständig
an die EU angegliedert.
Was sind überhaupt die Aufgaben von Euratom?
Art. 1 des Vertrags führt aus:
Aufgabe der Atomgemeinschaft ist es, durch die
Schaffung der für die schnelle Bildung und Ent-
wicklung von Kernindustrien erforderlichen Vo-
raussetzungen zur Hebung der Lebenshaltung in
den Mitgliedstaaten und zur Entwicklung der Be-
ziehungen mit den anderen Ländern beizutragen.
Heute geschieht dieses insbesondere über die For-
schungsaktivitäten. Hierzu hat sich in den letzten Jahr-
zehnten der gesellschaftliche Konsens in Deutschland
tatsächlich verändert, worauf ich später nochmals einge-
hen werde.
Politisch wichtig ist aber, dass die Gründung von
Euratom darüber hinaus stets das Ziel der europäischen
Friedenssicherung verfolgte – indem ähnlich wie schon
bei der Montanunion durch „Vergemeinschaftung“ der
Nukleartechnik eine gegenseitige Kontrolle ermöglicht
wird – Art. 2 Buchstabe e. Diese Zielsetzung in diesem
sensiblen Bereich der Hochtechnologie ist bis heute gül-
tig.
Jenseits dieser grundsätzlichen Dimension ist aber
vor allem zu beachten, dass die Energiepolitik für alle
europäischen Staaten und damit auch für Deutschland
vor großen Herausforderungen steht. Die Sicherheit un-
ser aller Energieversorgung wird maßgeblich durch zwei
Entwicklungen vor völlig neue Herausforderungen ge-
stellt:
Erstens führt der gewaltig steigende Energiebedarf
der aufstrebenden Wirtschaftsmächte China und Indien
sowie anderer Schwellenländer bei begrenzten Energie-
reserven und -ressourcen zu einem deutlichen Anstieg
des globalen Energieverbrauchs und damit zu einer ver-
schärften Nachfragekonkurrenz auf den internationalen
Energiemärkten.
Zweitens wächst die Abhängigkeit Deutschlands von
Energieimporten aus politischen Krisenregionen.
Beide Entwicklungen machen deutlich, dass die Frage
der Versorgungssicherheit ein Anliegen nationaler Si-
cherheit nicht nur für Deutschland darstellt. Die außen-
und sicherheitspolitische Dimension des Themas wird in
anderen Staaten bereits seit geraumer Zeit berücksich-
tigt. Außerdem ist die Energieversorgung seit 2001 Be-
standteil der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspoli-
tik, GASP, der Europäischen Union. Wenn man aber
diese zentralen strategischen Aspekte der Versorgungssi-
cherheit vernachlässigt, erhält man kein vollständiges
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15475
(A) (C)
(D)(B)
Bild des Zusammenhangs, in dem wir Euratom zu be-
werten haben.
Meine Damen und Herren von der Linken, das macht
sehr deutlich, dass Ihre im Antrag erhobene Forderung
nach genereller Auflösung von Euratom in Europa keine
Mehrheit finden würde, da wesentliche Partnernationen
wie Frankreich und Großbritannien an Nuklearenergie
als strategisch wichtigem Bestandteil ihrer jeweiligen
Energieversorgung festhalten. Energiepolitik unter Ein-
bezug von Nuklearenergie bleibt auf europäischer Ebene
ein Faktum – auch wenn wir in Deutschland einen ande-
ren Weg gehen wollen.
Ob der zweite Teil Ihrer Forderung – also der nach ei-
nem einseitigen Austritt Deutschlands – weise überlegt
ist, bezweifele ich außerdem. Es ist nicht nur so, dass es
mutmaßlich rechtlich sehr schwierig wäre, einen solchen
Schritt zu vollziehen. Aber angenommen, Deutschland
würde austreten: Es würde an Einflussmöglichkeiten und
Mitspracherechten, beispielsweise in Bezug auf die Ein-
haltung von Sicherheitsstandards in Atomkraftwerken,
verlieren. Das kann gerade mit Blick auf die in den
Nachbarstaaten betriebenen Kernkraftwerke nicht unser
Interesse sein. Auch deshalb lehnt die Fraktion von CDU
und CSU nicht nur eine allgemeine Auflösung von
Euratom ab, sondern auch einen einseitigen Austritt
Deutschlands.
Sehr viel mehr Sympathie habe ich für Ihre Forderung
nach Stärkung der Erforschung erneuerbarer Energien.
So geht ein Bericht der EU-Kommission über die Ver-
sorgungssicherheit der EU von 2005 davon aus, dass die
Abhängigkeit der EU von Energieimporten von 50 Pro-
zent auf 70 Prozent im Jahr 2030 steigt. Bis dahin wird
die EU 90 Prozent ihres Erdölbedarfs und 70 Prozent ih-
res Erdgasbedarfs importieren müssen. Zugleich wird
sich die weltweite Energieförderung auf immer weniger
Länder – vor allem in der instabilen Region des erweiter-
ten Nahen und Mittleren Ostens und Nordafrikas,
MENA – konzentrieren: 65 Prozent aller Erdölreserven
und 34 Prozent aller Gasreserven finden sich im Persi-
schen Golf. Ein politisch in höchstem Maße krisenanfäl-
liges Land wie der Iran verfügt nach Saudi-Arabien über
die weltweit zweitgrößten Erdölvorkommen und nach
Russland über die weltweit zweitgrößten Erdgasvorkom-
men. Diese Abhängigkeiten müssen reduziert werden –
und deshalb ist die Förderung erneuerbarer Energien
richtig, ja notwendig.
Mit den Beschlüssen zur Energiewende wird die Bun-
desregierung die weltweit führende Rolle Deutschlands
bei Konzepten und Technologien im Bereich der Ener-
gieeffizienz und der erneuerbaren Energien nutzen, um
die Abhängigkeit unserer Energieversorgung weiter zu
reduzieren. Dazu müssen wir alles tun, die technologi-
sche Führungsrolle zu verteidigen und auszubauen –
hierzu fördern wir national, aber auch europäisch bereits
heute in erheblichen Größenordnungen.
Ob dann die von Ihnen vorgeschlagene Konstruktion
einer Europäischen Gemeinschaft für die Förderung er-
neuerbarer Energien allerdings der richtige Weg ist,
wage ich zu bezweifeln. Der historische Trend seit den
1950er-Jahren läuft doch gerade genau andersherum:
Vergemeinschaftung und Integration anstatt Zersplitte-
rung und Differenzierung. Insofern liegt die Zuständig-
keit zur Förderung dieser neuen Energieträger im Kon-
text des europäischen Forschungsrahmenprogramms
genau richtig, nämlich bei der Europäischen Kommis-
sion. Die Gründung einer neuen europäischen Gemein-
schaft ist demnach institutionell sinnlos, politisch unklug
und alles andere als zeitgemäß.
Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Ich bin bekannter-
maßen ein Verfechter der erneuerbaren Energien, und ich
bin stolz darauf, dass wir in Deutschland sagen können:
Erneuerbare lieferten im ersten Halbjahr 2011 mehr als
20 Prozent des Stroms in Deutschland. Das ist eine Leis-
tung des deutschen Gesetzgebers – eine Leistung, die auf
das unter Helmut Kohl eingeführte Stromeinspeisegesetz
zurückzuführen ist, auf dem heute das EEG basiert und
das benannte Output von heute mehr als 20 Prozent Er-
neuerbare geschaffen hat.
Das ist mir wichtig zu sagen, wenn Sie in Ihrem An-
trag etwa formulieren:
Der Umstieg von Atomenergie auf erneuerbare
Energien ist sowohl politisch als auch finanziell
längst überfällig.
Guten Morgen, meine Kollegen von den Linken!
Deutschland hat in Europa in Sachen Aufbau von Er-
neuerbaren und Ausstieg aus der Kernenergie eine
– wenn auch sehr mutige und optimistische – Vorreiter-
rolle eingenommen.
Das Thema Aufbau der Erneuerbaren haben wir poli-
tisch in Deutschland längst auf den Weg gebracht.
In den nächsten Jahren werden unsere europäischen
Nachbarstaaten sicherlich ein besonderes Augenmerk
darauf haben, wie wir in Sachen Speicher und Netze vo-
rankommen, damit auch nach unserem sukzessiven Aus-
stieg aus der Kernenergie die Netzstabiliät genauso ge-
währleistet werden kann, wie die Grundlast und
Bedarfsspitzen abgedeckt werden können.
Die Praktikabilität unseres deutschen Ausstiegs aus
der Kernenergie, das wird das A und O sein, nach dem
der deutsche Ausstieg in Europa und international beur-
teilt wird. Hierauf muss unser Augenmerk liegen.
Wenn die Linke nun in Ihrem Antrag eine weitere In-
stitutionalisierung über eine „alternative Europäische
Gemeinschaft zur Förderung von erneuerbaren Energien
und Energieeinsparung“ vorschlägt, dann stellt sich mir
als Ökonom die Frage: Mit welcher Zielrichtung? Unse-
ren deutschen Weg werden wir vor allen Dingen mit
markt- und energiewirtschaftlichen Fakten belegen müs-
sen.
Ich darf am Rande daran erinnern: Wir haben bereits
eine internationale Organisation für erneuerbare Ener-
gien – nämlich IRENA, eine internationale Organisation,
die sich ausschließlich auf erneuerbare Energien konzen-
triert – auf den Weg gebracht. Das Gründungsstatut ha-
ben die Europäische Union und fast 150 Staaten längst
gezeichnet. IRENA wird dabei eng mit anderen interna-
15476 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011
(A) (C)
(D)(B)
tionalen Organisationen, etwa der Internationalen Ener-
gie-Agentur, auch kurz „IEA“ genannt, sowie mit Netz-
werken wie REN21, zusammenarbeiten.
Eine weitere Institutionalisierung vorzuschlagen –
ihre Zielrichtung ging dabei wohl mehr dahin, Ihren An-
trag formal aufzufüllen.
Aber dessen ungeachtet lassen Sie mich einen kurzen
Exkurs machen: Was wäre die Zielrichtung einer solchen
europäischen Institution? Wollten Sie damit das leidige
Harmonisierungsthema im Bereich Erneuerbare in
Europa beflügeln, um über die Europäische Union zu
versuchen, unser EEG-Erfolgsgesetz durch eine Quoten-
regelung zu ersetzen?
Durch eine solche Quotenregelung würden wir Wert-
schöpfung im eigenen Land – und zwar gerade im Herz-
stück der deutschen Wirtschaft, dem Mittelstand – ver-
lieren.
Außerdem hätten wir bei einer Quotenregelung nicht
mehr die Chance, durch Rohstoffe aus dem eigenen
Land unabhängiger zu werden.
Von Effektivitätsfragen ganz zu schweigen! Wir ha-
ben mit dem EEG eben nicht zufällig für Deutschland
eine Vorreiterrolle bei den Erneuerbaren erzielt. Das dür-
fen wir nicht einfach im Zuge einer europäisch initiierten
Gleichmacherei dulden.
Aber nun zum zentralen Anliegen Ihres Antrags,
Euratom aufzulösen, das ist ja bereits aus sich heraus als
schlicht untauglich zu bewerten.
Zunächst vorab: Was ist Euroatom? Vielleicht liegt
der Grund dafür, dass Ihr Antrag unbrauchbar ist,
schlicht darin begründet, dass Sie den Kern des
Euratom-Vertrags nicht verstanden haben: Der Vertrag
zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft, also
der Euratom-Vertrag, gehört zu den 1957 geschlossenen
sogenannten Römischen Verträgen. Die Regelung der
friedlichen Nutzung der Kernenergie durch den
Euratom-Vertrag hat sich historisch bedingt aus der
Nachkriegszeit heraus entwickelt. Dabei geht die Rege-
lung aber weit über den Bereich der Nuklearenergie im
engeren Sinne hinaus und betrifft etwa auch den Anwen-
dungsbereich der nuklearen Medizin sowie der For-
schung und Wissenschaft.
Wichtig ist: Deutschlands Entscheidung eines vorzei-
tigen Ausstiegs aus der Kernenergie wird durch den
Euratom-Vertrag nicht beeinträchtigt. Klar muss uns in
Deutschland aber auch sein, dass unser deutscher Weg in
Sachen Energiepolitik ein Sonderweg war, den Europa
nicht einfach so mitgehen wird, und wir können die Mit-
gliedstaaten auch nicht dazu „verhaften“. Hierzu gibt es
schlicht keine Rechtsgrundlage. Wir können nur auf dem
beschriebenen Weg – mit energie- und wirtschaftspoliti-
schen Fakten – Überzeugungsarbeit leisten.
Zu Ihrem Antragsanliegen, Euratom aufzulösen: Der
Euratom-Vertrag sieht kein Kündigungsrecht vor. Viel-
mehr regelt Art. 208, dass der Vertrag auf unbegrenzte
Zeit geschlossen wird. Hier gilt: Pacta sunt servanda.
Das heißt: Verträge sind einzuhalten. Will heißen: Es
gibt das Gebot der Vertragstreue. Und an dieses Gebot
hat man sich in demokratischen rechtsstaatlichen Gefil-
den zu halten – auch wenn das jenem Teil der Linken,
die dem alten SED-Geschwader angehörten, vielleicht
noch heute nicht in der Gänze verständlich erscheint.
Ich darf zusammenfassen:
Ein einseitiger Austritt Deutschlands aus der Europäi-
schen Atomgemeinschaft ist eben nicht vorgesehen.
Anhaltspunkte für das, was Juristen „Wegfall der Ge-
schäftsgrundlage“ nennen, gibt es keine.
Allein der EU-Vertrag sieht eine Kündigungsmög-
lichkeit für EU-Mitgliedstaaten vor, der Euratom-Ver-
trag nicht. Deswegen wäre ein Verlassen des Euratom-
Vertrages nur bei einem Ausscheiden aus der EU mög-
lich. Eine EU-Mitgliedschaft ohne Mitgliedschaft in der
Europäischen Atomgemeinschaft ist unionsrechtlich
ebenso wenig vorgesehen wie eine Mitgliedschaft in der
Europäischen Atomgemeinschaft durch nicht der EU an-
gehörende Drittstaaten.
Und darf ich hier angesichts der Tragweite einer sol-
chen Entscheidung einmal zaghaft nach der Sinnhaftig-
keit eines Ausstiegs aus Euroatom fragen?
Wenn man beim Thema „nukleare Sicherheit“ Maß-
stäbe setzen möchte, dann muss man das im internatio-
nalen Verbund tun. Der Euroatom-Vertrag und andere in-
ternationale Verträge und Konventionen tragen dafür
Sorge und tragen dem Rechnung. Deshalb wäre es – un-
abhängig von der nationalen Entscheidung eines frühe-
ren Ausstiegs aus der Kernenergie in Deutschland –
fatal, anzunehmen, man bräuchte die deutsche Mitglied-
schaft in Euroatom nicht mehr. Denn damit würde die
deutsche Mitsteuerungsmöglichkeit ausgeschlossen –
und das ist nicht im deutschen Interesse.
Vorab hatte ich bereits auf den Regelungsbereich von
Euroatom hingewiesen: Die Regelungen von Euroatom
greifen weit über den Bereich der Nuklearenergie im en-
geren Sinne hinaus und betreffen ja beispielsweise auch
Anwendungsbereiche der nuklearen Medizin etc.
Deshalb muss man zusammenfassend sagen: Ihr Pro-
pagandaantrag 17/6151 – das kann man so klar und deut-
lich zusammenfassen – ist das Papier nicht wert, auf dem
er geschrieben ist.
Marco Bülow (SPD): Im Sommer haben wir zum
zweiten Mal den Atomausstieg beschlossen. Nachdem
Union und FDP den rot-grünen Atomkonsens zwischen-
zeitlich aufgelöst und die Laufzeiten verlängert hatten,
stehen endlich alle Fraktionen zum Ausstieg. Mit den
Bundestagsbeschlüssen vom Sommer haben wir aller-
dings nur den Atomausstieg in Deutschland. Wir wissen
aber, dass von jedem Atomkraftwerk, von jeder Atoman-
lage auf dieser Welt eine Gefahr für Mensch und Um-
welt ausgeht – und zwar über nationalstaatliche Grenzen
hinaus. Die Abschaltung der deutschen Atomkraftwerke
macht Europa sicherer und verstärkt die Chance zu einer
wirklichen Energiewende. Es ist völlig inkonsequent, in-
folge der Ereignisse im japanischen Fukushima die
Atomkraftwerke in Deutschland nach und nach abzu-
schalten, aber kein Problem darin zu sehen, dass in be-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15477
(A) (C)
(D)(B)
nachbarten Ländern gefährliche Atomanlagen auf Dauer
weiterbetrieben werden. Direkt in Grenznähe zu
Deutschland laufen zum Teil mit völlig veralteter Tech-
nik betriebene Atomkraftwerke wie Temelin, Fessen-
heim oder Cattenom noch viele Jahre weiter.
Von daher müssen wir jetzt den nächsten Schritt ge-
hen und für einen internationalen Atomausstieg kämp-
fen. Es kann nicht sein, dass die Bundesregierung mit
Hermesbürgschaften den Neubau von Atomkraftwerken
in Brasilien absichert. Wenn wir es ernst meinen, müssen
wir uns in Europa jetzt für einen EU-weiten Atomaus-
stieg engagieren. In Deutschland auf der einen Seite aus-
zusteigen und den über 50 Jahre alten und kaum verän-
derten Euroatom-Vertrag auf der anderen Seite weiterhin
so zu belassen, wie er ist, das passt nicht zusammen. Die
Ausrichtung des Euroatom-Vertrags mit dem Ziel der
„Entwicklung einer mächtigen Kernindustrie“ ist schon
lange nicht mehr aktuell. Die Entwicklung der Atom-
energienutzung in Europa muss zu Ende gehen. Jetzt
sollte die Abwicklung das Ziel sein. Der Euratom-Ver-
trag muss daher grundlegend reformiert werden.
Diese Erkenntnis gibt es allerdings schon länger. Die
Bundesrepublik hat gemeinsam mit anderen europäi-
schen Mitgliedstaaten eine Erklärung zur Schlussakte
von Lissabon vom 13. Dezember 2007 abgegeben, in der
sie ihre Unterstützung für eine zeitgemäße Veränderung
des Euratom-Vertrags dokumentiert hat. Eine substan-
zielle Veränderung hat es bisher aber nicht gegeben.
Man könnte sich natürlich hinstellen und sagen: Wir tre-
ten aus der Europäischen Atomgemeinschaft aus. Ob das
überhaupt möglich ist, bleibt umstritten. Obwohl die
Europäische Atomgemeinschaft eine eigenständige
Rechtspersönlichkeit ist, wäre ein Austritt aufgrund der
Finanz- und Personalunion von EU und Europäischer
Atomgemeinschaft kaum umsetzbar. Selbst wenn es
möglich wäre, würde man dadurch auch den Einfluss
verlieren, den Vertrag zu ändern. Den auf unbestimmte
Zeit geschlossenen Euratom-Vertrag jetzt einfach auflö-
sen zu wollen, ist gemessen an den in Europa herrschen-
den Verhältnissen auch unrealistisch.
Wir müssen uns vielmehr ans Werk machen und in
Europa Überzeugungsarbeit für einen Atomausstieg leis-
ten. Wir müssen Europa und der ganzen Welt zeigen,
dass man es nicht nur ohne Probleme schaffen kann, aus
der Atomenergienutzung auszusteigen, sondern dadurch
auch noch massiv gewinnt. Wir gewinnen nicht nur deut-
lich mehr Sicherheit, wir gewinnen auch ökologisch und
wirtschaftlich: ökologisch, weil wir mit einem konse-
quenten Umbau der Energieversorgungsstrukturen viel
stärker auf eine umweltfreundliche und klimaschonende
Energieversorgung setzen, wirtschaftlich, weil durch den
Ausbau der erneuerbaren Energien viele Arbeitsplätze
entstehen und gesichert werden und weil Deutschland
hier auf dem Weltmarkt eine Führungsrolle einnimmt. Je
mehr Länder aus der Atomenergie aussteigen und
gleichzeitig vorrangig auf erneuerbare Energien setzen,
umso mehr profitiert auch Deutschland. Wir hätten ein
immenses Plus an Sicherheit. Wir würden davon profi-
tieren, dass der CO2-Ausstoß sinkt. Es würden sich aber
vor allem auch neue Märkte erschließen. Deswegen ist
es einfach nur logisch, sich in Europa für einen Atom-
ausstieg einzusetzen, und deswegen kann der Euratom-
Vertrag nicht so bleiben, wie er ist.
Die durch den Euratom-Vertrag festgeschriebene
Sonderstellung der Atomenergie muss beseitigt werden.
Alle Passagen, die Investitionen in die Atomkraft be-
günstigen, müssen gestrichen werden. Forschung und
Entwicklung auf dem Gebiet der Kernspaltung darf sich
nur auf Sicherheits- und Gesundheitsfragen beschrän-
ken. Hauptaufgabe muss sein, in Europa einheitliche Si-
cherheitsstandards auf höchstem Niveau zu garantieren
und die Entwicklung von Endlagerkonzepten voranzu-
treiben. Diesen Forderungen des Bundesratsantrags des
Landes Nordrhein-Westfalen kann ich mich nur an-
schließen.
Euratom muss so umgebaut werden, dass die geord-
nete Abwicklung der Atomenergie im Mittelpunkt steht
und, solange Atomkraftwerke in Europa noch am Netz
sind, das höchste Sicherheitsniveau gewährleistet wird.
Unabhängig davon sollten wir die Schaffung einer Euro-
päischen Gemeinschaft für erneuerbare Energien anstre-
ben. Sollten wir hier nicht rechtzeitig handeln, so müs-
sen wir uns nicht wundern, wenn der Protest gegen eine
rückwärtsgewandte Energiepolitik erneut auf die Straße
getragen wird. Ich kann friedliche Demonstrationen und
Aktionen für die Abschaltung beispielsweise des franzö-
sischen AKW Fessenheim nur unterstützen.
René Röspel (SPD): Vor über 50 Jahren haben sich
europäische Regierungsvertreter in Rom zusammenge-
funden und die Europäische Atomgemeinschaft, heute
Euratom, gegründet. Damals lebte man noch in der
Überzeugung, dass „… die Kernenergie eine unentbehr-
liche Hilfsquelle für die Entwicklung und Belebung der
Wirtschaft und für den friedlichen Fortschritt darstellt
…“. Ich glaube, diesen Satz teilt heute keiner mehr in
diesem Parlament. Insofern wird hier auch keiner mehr
dafür eintreten wollen, „... entschlossen die Vorausset-
zungen für die Entwicklung einer mächtigen Kernindus-
trie zu schaffen ...“. Genau diese beiden Sätze stehen
aber so im Euratom-Vertrag – und zwar bis heute – und
spiegeln damit den Geist des Euratom-Vertrages wider.
Von der heutigen politischen Einschätzung zur Kern-
energie ist dies aber weit entfernt. Insofern ist klar, dass
dieser Vertrag reformiert werden und der Realität ange-
passt werden muss.
Bereits 2007 hat Deutschland unter der rot-grünen
Bundesregierung zusammen mit den Regierungen von
Irland, Ungarn, Österreich und Schweden auf europäi-
scher Ebene dazu aufgefordert, die Substanz des Vertra-
ges an die aktuellen Verhältnisse anzupassen. Leider hat
sich seitdem wenig – besser gesagt nichts – getan. Das
hat auch mit dem Regierungswechsel in Berlin zu tun.
Denn CDU/CSU und FDP glaubten bis Fukushima ja
immer noch an das Heil der Atomkraft. Aktuell hat die
rot-grüne Landesregierung meines Bundeslandes Nord-
rhein-Westfalen einen Entschließungsantrag in den Bun-
desrat eingebracht, der ebenfalls eine Reform des Eura-
tom-Vertrages anmahnt. Sie sehen, liebe Kolleginnen
und Kollegen, die SPD zusammen mit den Grünen be-
15478 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011
(A) (C)
(D)(B)
schäftigt sich schon lange und intensiv mit dem Thema
Euratom.
Um die Ziele des Euratom-Vertrages zu erreichen,
wurde seitens der EU-Kommission im Rahmen des aktu-
ellen 7. Forschungsrahmenprogramms für den Zeitraum
2007 bis 2011 insgesamt über 3 Milliarden Euro für For-
schungsaktivitäten zur Verfügung gestellt. Über 2 Mil-
liarden Euro gingen dabei in die Fusionsforschung, ins-
besondere für die kontrovers diskutierte Entwicklung
des Fusionsforschungsreaktors ITER. Für den Zeitraum
2012 bis 2013 wurde der Betrag für Euratom auf
2,5 Milliarden Euro festgelegt. Auch hierbei geht der
größte Anteil des Geldes an ITER, nämlich 2,2 Milliar-
den Euro. Fakt ist also, dass der Forschungsförderungs-
bereich im Euratom-Vertrag derzeit vorwiegend zur Fi-
nanzierung der Fusionstechnologie genutzt wird. Ob das
Geld dort gut aufgehoben ist, darüber lässt sich trefflich
streiten. Wir haben da große Zweifel.
Es ist nicht eindeutig geklärt, ob Deutschland einsei-
tig zum Beispiel durch Kündigung aus dem Euratom-
Vertrag aussteigen kann. Unabhängig davon finde ich
eine andere Argumentation überzeugender: Einen Verein
oder eine Partei verändert man am besten von innen.
Beim Euratom-Vertrag ist das nicht anders. Deshalb ver-
stehe ich, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Lin-
ken, Ihre Argumentation in diesem Punkt nicht. Sie for-
dern im vorliegenden Antrag eine Reform und
gleichzeitig den Ausstieg aus Euratom. Wenn man aber
etwas verändern will, kann man doch nicht einfach aus
dem Entscheidungsgremium aussteigen. Völlig logisch
ist doch, dass sich Euratom nach einem Ausstieg
Deutschlands gar nicht verändert. Übernahme von Ver-
antwortung sieht meiner Meinung nach anders aus.
In Deutschland wird 2022 endlich das letzte Atom-
kraftwerk vom Netz gehen. Der strahlende Müll wird
hingegen noch Generationen nach uns beschäftigen.
Denn eine Lösung haben wir dafür immer noch nicht. In
Europa wird es nach heutigem Stand leider auch über
das Jahr 2022 Atomkraftwerke geben. Wir als Deutsche
haben deshalb ein großes Interesse, dass die EU für alle
Atomkraftwerke sowie Zwischen- und Endlager höchste
einheitliche Sicherheitsstandards vereinbart. Im Bereich
der Sicherheits- und Endlagerkonzepte besteht somit eu-
ropäischer Forschungs- und Entwicklungsbedarf. Auch
in der medizinischen Forschung wäre eine stärkere euro-
päische Zusammenarbeit von Vorteil. Ich denke dabei
zum Beispiel an die Behebung des Technetium-99-Man-
gels. Klar muss aber auch sein, dass die Forschungsför-
derung zum Ausbau oder sogar Neubau von Atomkraft-
werken zur Energiegewinnung nicht Aufgabe einer
gemeinsam finanzierten Forschungsförderung sein darf.
Ob die Fusionsforschung im heutigen Finanzrahmen
weitergeführt werden sollte, bleibt ebenfalls zu diskutie-
ren.
Die verstärkte Förderung von erneuerbarer Energie ist
notwendig und richtig. Hierfür sind mehr nationale und
europäische Anstrengungen nötig. Ob auf europäischer
Ebene ein eigener Vertrag das adäquate Mittel ist, muss
nun geprüft werden. Grundsätzlich halten wir den
Schwenk von der europäischen Atompolitik hin zur För-
derung von Effizienz und erneuerbaren Energien für un-
ausweichlich, unverzichtbar und mit großen Chancen
verbunden. Ich freue mich somit auf die weiteren Dis-
kussionen zu den angesprochen Punkten mit Ihnen im
Ausschuss.
Heinz Golombeck (FDP): Der Euratom-Vertrag
verpflichtet die einzelnen Mitgliedstaaten der Europäi-
schen Union nicht, die Kernkraft zur Energiegewinnung
zu nutzen bzw. den Kernenergiesektor in den eigenen
Ländern auszubauen.
Die Vorschriften des Vertrags bilden vielmehr den
Rahmen für eine Zusammenarbeit der europäischen Mit-
gliedstaaten auf den Gebieten der nuklearen Sicherheit
und der Entsorgung, wie etwa bei den jüngst beschlosse-
nen EU-weiten Risiko- und Sicherheitsbewertungen für
Kernkraftwerke. Diese sind daher aus nicht verbrei-
tungspolitischen Gründen und unter Aspekten des Strah-
lenschutzes unabdingbar.
Der Euratom-Vertrag erleichtert zudem die Zusam-
menführung von Wissen, Infrastrukturen und Finanzmit-
teln für die Kernenergie. Er gewährleistet die Sicherheit
der Kernenergieversorgung im Rahmen eines zentrali-
sierten Überwachungssystems.
Die Euratom-Forschung findet im Rahmen mehrjähri-
ger Programme statt, die aus dem EU-Haushalt finan-
ziert werden. Gemäß dem Euratom-Vertrag sind die
Euratom-Rahmenprogramme auf fünf Jahre begrenzt.
Die EU-Kommission will das Euratom-Budget ent-
sprechend dem Siebten Forschungsrahmenprogramm
der EU bis 2013 verlängern. Es handelt sich um einen
formal notwendigen Schritt, um die Laufzeit des
Euratom-Rahmenprogramms der siebenjährigen Lauf-
zeit des allgemeinen Siebten Forschungsrahmenpro-
gramms, RP7, der EU anzupassen, das 2013 ausläuft.
Der Vorschlag beinhaltet keine Änderung der Politik.
Die EU-Organe hatten bei der Einleitung beider Pro-
gramme im Jahr 2007 seine Vorlage bereits eingeplant.
Bei Verabschiedung des vorgelegten Vorschlags durch
den Rat könnten die laufenden Forschungsarbeiten fort-
gesetzt werden, die insbesondere der Erhöhung der
nuklearen Sicherheit und dem Strahlenschutz dienen.
Das Euratom-Rahmenprogramm soll die Führung
Europas im Bereich der Kernenergie aufrechterhalten,
indem es vorkommerzielle Forschung unterstützt und
den Technologietransfer zwischen Hochschulen und In-
dustrie erleichtert. Insbesondere soll es zu einem sehr
hohen Niveau im Bereich der nuklearen Sicherheit und
der Gefahrenabwehr sowie zur Nichtverbreitung von
Kernwaffen beitragen. Der Schwerpunkt wird auf der
Ausbildung liegen, auf der Steigerung der Wettbewerbs-
fähigkeit der bestehenden Nuklearindustrie und auf der
Schaffung einer neuen spitzentechnologischen Industrie-
branche für die Fusionsenergie.
Für die FDP-Bundestagsfraktion ist die Investition in
Zukunftsenergien, die keine das Klima schädigenden
Emissionen, keine Endlagerprobleme und keine Prolife-
rationsprobleme mit sich bringen und die die Energie-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15479
(A) (C)
(D)(B)
versorgung in der Grundlast dauerhaft sichern, lohnend
und vielversprechend. Wir unterstützen daher die For-
schung sowohl auf dem Gebiet der erneuerbaren Ener-
gien als auch auf dem Gebiet der Kernspaltungs- oder
Kernfusionsforschung. Nur so können wir die Heraus-
forderungen einer sich rasch wandelnden Umwelt be-
wältigen. Nicht zuletzt sind am ITER-Projekt führende
deutsche Forschungseinrichtungen beteiligt. Dies unter-
stützen wir maßgeblich, damit die deutsche Forschung
auch weiterhin im internationalen Vergleich leistungs-
und wettbewerbsfähig bleibt.
Das vorgesehene Budget für das Euratom-Rahmen-
programm von 2,5 Milliarden Euro für die Jahre 2012
und 2013 umfasst etwas mehr als 2,2 Milliarden Euro für
die Kernfusionsforschung (86 Prozent), bei der der
Schwerpunkt im Wesentlichen auf dem Bau des interna-
tionalen Fusionsversuchsreaktors ITER in Frankreich
liegt.
Für die Forschungsprojekte im Bereich der Kernspal-
tung – einschließlich Strahlenschutz – werden 118 Mil-
lionen Euro bereitgestellt. Die Nuklearforschungs-
arbeiten und die Arbeiten zur Gewährleistung der
kerntechnischen Sicherheit der Gemeinsamen For-
schungsstelle der Kommission werden mit 233 Millio-
nen Euro unterstützt.
Die FDP unterstützt die Arbeit der Gemeinsamen
Forschungsstelle der Europäischen Kommission in der
Weiterführung ihres Kernforschungsprogramms. Wir
werden auch in Zukunft Unterstützung leisten bei der
Entwicklung politischer Optionen für den geeignetsten
„Energiemix“ für das 21. Jahrhundert, der den Zielen des
Europäischen Strategieplans für Energietechnologie
– SET-Plan für die Entwicklung von Technologien mit
geringen CO2-Emissionen – entsprechen soll.
Bestrebungen in Richtung einer einseitigen Kündi-
gung des Euratom-Vertrages erteilt die FDP aus den
ebengenannten Gründen eine entschiedene Absage. Es
ist unser aller Aufgabe, dafür Sorge zu tragen, dass kein
Mitgliedstaat sich einseitig von seiner jeweils übernom-
menen Verantwortung für die nukleare Sicherheit in
Europa verabschiedet.
Eine Änderung des Euratom-Vertrages ist nur im
Konsens aller EU-Mitgliedstaaten möglich. Ein einseiti-
ger Austritt Deutschlands aus der Europäischen Atomge-
meinschaft, EAG, ist unionsrechtlich nicht vorgesehen.
Ein Austritt aus der EAG kann vielmehr nur im Paket
mit einem Austritt aus der EU erfolgen.
Die FDP-Fraktion setzt sich für eine Führungsrolle
Europas im Bereich der nuklearen Sicherheit und der
Gefahrenabwehr sowie für die Nichtverbreitung von
Kernwaffen ein. Die Unterstützung der Euratom-Rah-
menprogramme ist, insbesondere im Hinblick auf die
Entwicklung politischer Optionen für den geeignetsten
Energiemix der Zukunft, dringend notwendig. Dieses
Ziel verliert der Linken-Antrag völlig aus den Augen.
Wir lehnen ihn daher ab.
Alexander Ulrich (DIE LINKE): Seit dem Bestehen
der Europäischen Atomgemeinschaft, Euratom, also seit
54 Jahren, wird die Atomenergie in Europa von allen
EU-Mitgliedsländern und damit von all ihren Bürgerin-
nen und Bürgern mit Milliarden subventioniert und ge-
fördert. Dies geschieht im Wesentlichen von der Öffent-
lichkeit unbemerkt – nicht etwa weil die Menschen nicht
interessiert daran wären, zu wissen, wohin ihr Geld
fließt, nein, die Wahrheit ist vielmehr, dass sie davon gar
nichts wissen können! Denn das Entscheidungsverfahren
und die Finanzierung von Euratom verläuft intransparent
und damit völlig undemokratisch.
Die Bürgerinnen und Bürger der EU können weder
Einfluss auf die Kreditvergabe und Forschungsförderung
für Atomkraftwerke und Atomenergie nehmen, noch
könnten sie sie verhindern. Aber selbst wenn das Verfah-
ren transparenter wäre, hätten sie rechtlich nicht die ein-
mal Möglichkeit, zu intervenieren. Denn die Finanzie-
rung der europäischen Atomgemeinschaft unterliegt
keiner demokratischen Kontrolle durch das Europäische
Parlament.
Dies ist aus mehreren Gründen mehr als skandalös.
Zum einen ist die öffentliche Meinung mehrheitlich ge-
gen den Ausbau der Atomenergie, mehrere Länder be-
treiben keine Atomkraftwerke, haben einen Ausstiegsbe-
schluss oder haben die Atomfreiheit, wie es in
Österreich der Fall ist, in der Verfassung fest verankert.
Trotzdem aber werden sie alle über den Euratom-Vertrag
verpflichtet, Atomenergie weiterhin zu fördern.
Selbst Firmen wie Siemens überlegen inzwischen,
aufgrund des hohen Risikos der Atomenergie aus der
Kernenergieforschung auszusteigen, auch hier fehlt es
aufgrund des Euratom-Vertrages an politischer Unter-
stützung.
Zum Zweiten stellt diese milliardenschwere Subven-
tionierung der Atomenergie in Europa einen Skandal an-
gesichts der Ereignisse allein der letzten Monate dar. Die
Nuklearkatastrophe von Fukushima, die Explosion im
Atomkraftwerk Marcoule in Südfrankreich sowie die
Feststellung von erhöhten Strahlenwerten in Gorleben
haben gezeigt, dass die Nutzung der Atomenergie eine
immense Gefahr für Mensch und Umwelt bedeutet und
dass sie trotz dieser Milliardeninvestitionen und Subven-
tionierungen keineswegs sicherer geworden ist.
Mit Blick auf die angeblichen Ambitionen der EU-
Kommission und der Bundesrepublik Deutschland, eine
Energiewende hin zu erneuerbaren Energien vorantrei-
ben zu wollen, gewinnt das Ganze eigentlich sarkasti-
sche Züge. Denn es ist entlarvend, dass die EU seit Jahr-
zehnten die größten Summen – und dies hat sich auch
mit der Nuklearkatastrophe in Japan nicht geändert –
nicht etwa in die Förderung der erneuerbaren Energien
steckt, sondern in das Euratom-Programm.
Und es ist auch entlarvend, dass die größten Summen
des Euratom-Budgets nicht, wie offiziell behauptet wird,
in den Strahlenschutz oder in die Verbesserung der
Sicherheitsstandards investiert werden, sondern in die
Erforschung der Kernspaltung und besonders der Kern-
fusion.
Ebenso wird die doppelgleisige Fahrt deutlich, indem
die Bundesregierung die Milliardenbürgschaft für den
15480 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011
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(D)(B)
Bau des brasilianischen Atomkraftwerkes Angra 3 ver-
längert hat und keine Ambitionen zeigt, aus dem Eura-
tom-Vertrag auszutreten oder ihn wenigsten einmal zu
kritisieren, um damit einen am Ende sinnvollen Schritt
hin zur Energiewende möglich zu machen.
Auch dass SPD und Grüne, Letztere als angebliche
Protagonisten der Umweltpolitik, keine konsequente Ini-
tiative gegen und Kritik am Euratom-Vertrag und somit
an der EU-weiten Förderung der Atomenergie starten,
zeigt ihre heuchlerische Haltung in Sachen Atomenergie.
Denn die Aufrechterhaltung des Euratom-Vertrages ver-
wässert und konterkariert den von der Bundesregierung
und von SPD und Grünen gestützten „Ausstiegsbe-
schluss“. Denn ein ernst gemeinter Atomausstieg ist nur
ohne Euratom möglich!
Die Milliarden Euro, die in Euratom fließen, hätten
längst für den Ausbau von erneuerbaren Energien und
die hierfür benötigte Forschung verwendet werden müs-
sen. Dies hätte uns gewiss schon ein großes Stück
weitergebracht. Dieses Geld ist dringend nötig, um eine
umweltverträgliche, arbeitsmarktorientierte und verant-
wortungsvolle Energieversorgung zu ermöglichen.
Die Linke fordert die Bundesregierung auf, sich für
die Auflösung von Euratom und den Abschluss eines
neuen europäischen Vertrages einzusetzen, auf dessen
Grundlage eine alternative europäische Gemeinschaft
zur Förderung von erneuerbaren Energien und Energie-
einsparung eingerichtet wird. Die Linke fordert zudem,
dass die Bundesregierung, solange die Auflösung von
Euratom noch nicht durchgesetzt werden konnte, eine
Initiative für die Entflechtung der vertraglichen Grundla-
gen der EU und von Euratom zu ergreifen und den Eura-
tom-Vertrag einseitig zu kündigen.
Auf nationaler Ebene muss die Bundesregierung sich
für den vollständigen Atomausstieg bis 2014 einsetzen
und den Atomausstieg im Grundgesetz verankern.
Strompreise sollen sozial abgefedert, und die Marktauf-
sicht soll wahrgenommen werden. Nicht zuletzt müssen
die großen Energiekonzerne entmachtet und die Ener-
giewende demokratisiert werden. Die Energiewende auf-
grund neuer Technologien wird viele neue Arbeitsplätze
schaffen. Wir müssen diese Chance nutzen und eine de-
zentrale und für alle Menschen bezahlbare Energiever-
sorgung mit einer transparenten und demokratischen
Bürger- und Bürgerinnenbeteiligung, mit verbindlichen
Konzepten für faire Übergangsstrategien, die die Arbeit-
nehmerinteressen in den Vordergrund stellen, und mit
Umschulungs- und Fortbildungsmaßnahmen endlich auf
den Weg bringen.
Die vielen Mitgliedsländer der EU und ihre vielen
Bürgerinnen und Bürger, die sich inzwischen deutlich
gegen die Nutzung der Atomkraft aussprechen, müssen
in ihrer Meinung endlich politische und rechtliche Un-
terstützung finden.
Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Der im breiten gesellschaftlichen Konsens und fraktions-
übergreifend beschlossene Atomausstieg bringt
Deutschland nicht nur in die Vorreiterrolle für die um-
weltverträgliche Energieversorgung. Es liegt auch im In-
teresse Deutschlands, aus europäischer Verantwortung
zum Motor bei der Neuausrichtung europäischer Ver-
träge zu werden.
Der deutsche Wissenschafts- und Produktionsstandort
profitiert von der Weichenstellung hin zu einer an Nach-
haltigkeitsgesichtspunkten ausgerichteten Industriepoli-
tik. Deutsche Traditionsunternehmen, zum Beispiel Sie-
mens, folgen bereits dem nun nach 2001 schon zum
zweiten Mal eingeschlagenen Pfad des Atomausstiegs
und ziehen sich aus dieser Risikotechnologie zurück.
Das stärkt die Marktführerschaft im Sektor der erneuer-
baren Energien und die Ausrichtung an den großen ge-
sellschaftlichen Herausforderungen wie dem Klimawan-
del und dem Schutz der natürlichen Ressourcen.
Ein praktisch seit 1957 unverändert bestehender Ver-
trag, wie Euratom, entspricht nicht mehr den energie-
politischen und gesellschaftlichen Anforderungen der
heutigen Zeit. Heute gilt es, die Entwicklung und Förde-
rung erneuerbarer Energien voranzutreiben, um so eine
Energieversorgung ohne unbeherrschbare Technologieri-
siken sicherzustellen. Die Ausrichtung des Euratom-Ver-
trages mit dem Ziel der „Entwicklung einer mächtigen
Kernindustrie“ ist heute ein Anachronismus, der drin-
gend neu verhandelt gehört.
Nicht nur eine neue Risikobewertung führt zu dieser
Einsicht, auch die Entsorgungsfrage ist nach wie vor un-
gelöst. Heute sind wir uns der Verantwortung gegenüber
nachfolgenden Generationen durch die falsche Weichen-
stellung der Kernenergienutzung weit mehr bewusst als
vor über einem halben Jahrhundert. Daher muss die
durch den Euratom-Vertrag festgeschriebene Sonderstel-
lung der Atomenergie endlich abgeschafft werden. Ins-
besondere sollen alle Passagen des Euratom-Vertrages
gestrichen werden, die Investitionen, Forschungsförde-
rung und Genehmigungsprivilegien der Atomkraft ein-
schließlich der Kernfusion begünstigen.
Mit der Erklärung zur Schlussakte von Lissabon 2007
hat auch die Bundesregierung auf die zeitgemäße Anpas-
sung des Euratom-Vertrages gedrängt. Da ohnehin 12 der
27 EU-Mitgliedstaaten keine Atomkraftwerke betreiben
und sicherlich weitere Staaten dem Vorbild Deutsch-
lands folgen, werden sich auf einer einzuberufenden
Regierungskonferenz auch Mehrheiten für die grundle-
gende Überarbeitung von Euratom finden. Sollte diese
Neuausrichtung auf europäischer Ebene nicht durchsetz-
bar sein, fordern wir die Bundesregierung auf, den
Euratom-Vertrag von deutscher Seite aus zu kündigen.
Jetzt gilt es, den europaweiten Ausstieg aus der
Atomkraft vorzubereiten. Der Euratom-Vertrag steht da-
bei grundsätzlich infrage und muss mit einem Enddatum
versehen werden. Bei seinem Abschluss 1957 war
Euratom auch ein Bekenntnis zur Gemeinschaft. Um
dieses Bekenntnis zeitgemäß zu erneuern, fordern wir
statt Euratom die Schaffung einer Europäischen Ge-
meinschaft für erneuerbare Energien.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15481
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Anlage 13
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der
Finanzkraft der Kommunen
– Antrag: Wer bestellt, bezahlt – Konnexität
zugunsten der Kommunen im Grundgesetz
verankern
– Antrag: Gemeindefinanzkommission ge-
scheitert – Jetzt finanzschwache Kommunen
– ohne Sozialabbau – nachhaltig aus der
Schuldenspirale befreien
(Tagesordnungspunkt 15 a bis c)
Peter Götz (CDU/CSU): Heute ist ein guter Tag
nicht nur für Europa, sondern auch für Städte, Gemein-
den und Kreise in Deutschland.
Das Gesetz zur Stärkung der Finanzkraft der Kommu-
nen, das wir in erster Lesung beraten, ist der Einstieg in
die größte Entlastung der Kommunen seit Bestehen der
Bundesrepublik, und zwar ohne dass neue kostenträch-
tige Aufgaben und sonstige Ausgabenpflichten übertra-
gen werden.
Es steht im Kontext mit dem bereits beschlossenen
Bildungspaket. Zusammen gesehen entlastet der Bund
die Kommunen bis zum Jahr 2020 in einer Größenord-
nung von mehr als 50 Milliarden Euro.
Dies reiht sich nahtlos in die kommunalfreundliche
Politik der CDU/CSU-geführten Bundesregierung ein.
Seit 2009 leisten wir in unterschiedlichsten Bereichen
immer wieder wichtige Beiträge zugunsten kommunaler
Kassen. Wir stärken so die Handlungsfähigkeit der
Städte, Gemeinden und Kreise systematisch. So haben
wir für die Kommunen durchgesetzt, dass sie die wichti-
gen Investitionen des Konjunkturprogramms II einfacher
umsetzen können; dass sie vom Wachstums- und Ar-
beitsmarktimpuls seit 2010 profitieren; dass mit der
Hartz-IV-Organisationsreform das Prinzip der Hilfe aus
einer Hand in eine verfassungsfeste Form überführt
wurde; dass sich noch mehr Kreise und Städte auf eige-
nen Wunsch hin selbstständig um Langzeitarbeitslose
kümmern können; dass der Ausbau der Kinderbetreuung
und die frühkindliche Sprachförderung mit zusätzlichen
Bundesmitteln massiv unterstützt werden; dass das Bil-
dungspaket bei voller Kostenerstattung durch den Bund
in kommunale Zuständigkeit überführt wurde; dass ih-
nen zusätzlich drei Jahre lang 400 Millionen Euro für
Schulsozialarbeiter und Hortmittagessen zustehen; dass
sich der Bund an den Hartz-IV-Unterkunftskosten mit ei-
ner festen Quote an den tatsächlichen Kosten beteiligt –
um nur einige Punkte zu nennen.
Heute beseitigen wir einen kommunalfeindlichen Akt
der früheren rot-grünen Bundesregierung aus dem Jahr
2003. Die Kommunalpolitiker in unserem Land wissen
ganz genau, wem sie die Kostenexplosion der vergange-
nen Jahre im sozialen Bereich zu verdanken haben.
Gerhard Schröder und Rot-Grün hatten die Altersgrund-
sicherung im Jahr 2003 eingeführt und auf die Kommu-
nen übertragen, ohne für die notwendige Finanzierung
zu sorgen. Seit ihrer Einführung haben sich die Kosten
der Grundsicherung verdreifacht. Sie belaufen sich zur-
zeit auf jährlich 3,9 Milliarden Euro – mit dynamisch
steigender Tendenz.
Von der Übernahme der Grundsicherung im Alter
profitieren verstärkt Kommunen mit strukturellen Pro-
blemen und hoher Arbeitslosigkeit. Sie leiden besonders
unter Finanzproblemen, weil sie in der Regel wenige
Einnahmen, dafür aber besonders hohe Sozialausgaben
haben.
Der Anteil der Menschen mit einer schwachen Er-
werbsbiografie ist in den Kommunen mit hoher Arbeits-
losigkeit besonders hoch. Das heißt, dort leben viele
Menschen, die auf die Grundsicherung im Alter ange-
wiesen sind und damit die kommunalen Kassen überpro-
portional mit besonders hoher Dynamik belasten.
Durch die Übernahme der Grundsicherung wird die
kommunale Selbstverwaltung wieder möglich. Der
Deutsche Städtetag kommentierte dazu beispielsweise:
„Die drückende Last der Sozialausgaben wird sich da-
durch auf Dauer spürbar verringern.“
Bereits im Koalitionsvertrag haben sich CDU, CSU
und FDP auf rasche und nachhaltige Hilfe für Städte,
Gemeinden und Kreise verständigt – obwohl nach der
Finanzverfassung die angemessene Finanzausstattung
der Kommunen in die Zuständigkeit der Länder fällt.
Wichtig ist uns, dass am Ende des Tages die Bundesmit-
tel tatsächlich vor Ort ankommen und nicht an den kleb-
rigen Fingern der Länderfinanzminister hängen bleiben
oder über den kommunalen Finanzausgleich der Länder
wieder abgeschöpft werden. Ich rate deshalb den kom-
munalen Spitzenverbänden, ob in NRW, Rheinland-
Pfalz oder Baden-Württemberg: Schauen Sie in den
nächsten Jahren besonders genau ihren Landesregierun-
gen auf die Finger!
Wenn wir heute eine Debatte über die Kommunen
führen, sollten wir uns auch anschauen, wie sich die
kommunalen Investitionen entwickelt haben. Die Bilanz
ist eindeutig: Ein Teil des unter Rot-Grün in den Jahren
1998 bis 2005 aufgebauten kommunalen Investitions-
staus konnte unter unserer Führung aufgelöst werden. In
den Jahren der Finanzkrise 2009 und 2010 stammte jeder
sechste in den Kommunen investierte Euro aus den Mit-
teln der Konjunkturpakete des Bundes. Allein 2010 be-
deutete dies eine Steigerung der kommunalen Bauausga-
ben um 10,5 Prozent auf 18,6 Milliarden Euro.
Ich fasse also zusammen:
Der wirtschaftliche Erfolg gibt Deutschlands Reform-
politik recht. Die Politik hat die Weichen frühzeitig ge-
stellt und gute Rahmenbedingungen geschaffen.
Noch vor Ausbruch der weltweiten Finanzmarkt- und
Wirtschaftskrise initiierten CDU und CSU die Moderni-
sierung unserer bundesstaatlichen Ordnung.
15482 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011
(A) (C)
(D)(B)
Mit der Föderalismusreform wurde die in den vergan-
genen Jahrzehnten aufgebauschte Verflechtung von
Bund und Ländern gestoppt.
Die Aufgabenzuweisung vom Bund an die Kommu-
nen wurde ausgeschlossen, und so wurden die Kommu-
nen nachhaltig geschützt. Das Staatswesen insgesamt
wurde handlungsfähiger gemacht.
In einer zweiten Reform sicherte die unionsgeführte
Bundesregierung die langfristige Stabilität der Staatsfi-
nanzen. Es gelang eine effektive Schuldenbegrenzung
der öffentlichen Haushalte zu formulieren und diese im
Grundgesetz einzumeißeln.
Heute gilt die deutsche Schuldenbremse europaweit
als Vorbild für nachhaltige Stabilität und Generationen-
gerechtigkeit. Sie wird zunehmend von anderen europäi-
schen Ländern übernommen.
Die Koalition hat wichtige Ziele erreicht:
Der Arbeitsmarkt ist in der besten Verfassung seit der
Wiedervereinigung.
Die Zahl der Erwerbstätigen ist größer als je zuvor.
Deutschland ist gestärkt aus der Krise hervorgegangen.
Als Träger der Sozialhilfe und der Unterkunftskosten
von Hartz IV profitieren die Kommunen von dieser posi-
tiven Entwicklung ebenso wie von den kräftig steigen-
den Einnahmen bei der Gewerbesteuer.
Kurzum, heute steht Deutschland sehr gut da! Und bei
der internationalen Diskussion um die Stabilität in
Europa schaut genau deshalb die ganze Welt auf uns.
Die Kommunen in Deutschland stehen trotzdem noch
vor vielen gewaltigen Aufgaben. Diese reichen vom
Ausbau frühkindlicher Betreuung und Bildung über die
Integration von Ausländerinnen und Ausländern bis zur
Bewältigung der demografischen Herausforderung.
Die städtebauliche Entwicklung und die Infrastruktur
gilt es ebenso an die tatsächlichen Bedürfnisse der Men-
schen anzupassen wie die örtlichen Strukturen zur Siche-
rung der öffentlichen Daseinsvorsorge. Dazu gehört
übrigens auch die anstehende Novelle des Kreislaufwirt-
schaftsgesetzes.
Nur mit starken Kommunen, die sich im Wettbewerb
langfristig behaupten, kann in Deutschland Wohlstand
gesichert werden. Wir vertrauen auf die Kraft und Leis-
tungsfähigkeit unserer Gemeinden, unserer Städte und
Kreise. Wir wollen, dass die Menschen vor Ort ihre Hei-
mat selbst gestalten können. Das Gesetz zur Stärkung
der Finanzkraft der Kommunen ist dazu ein wichtiger
Beitrag des Bundes.
Lassen Sie uns diesen Weg gemeinsam fortsetzen!
Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Es ist ganz wichtig,
dass wir Lösungen zur Stärkung der Finanzkraft der
Städte und Gemeinden finden. Es darf nicht sein, dass
Kommunen ihre Aufgaben zur Daseinsvorsorge für die
Bürgerinnen und Bürger nicht mehr erbringen können,
weil ihre Kassen leergespült sind.
Wir können uns ein Gemeinwesen, das immer stärker
ausblutet, nicht leisten. Deshalb haben wir uns im Ver-
mittlungsausschuss zur Reform der Regelsätze im Januar
und Februar dieses Jahres auch für die Kommunen stark
gemacht. Wir haben durchgesetzt, dass die Grundsiche-
rung im Alter vom Bund übernommen wird. Bisher zah-
len dies zum größten Teil die Kommunen. Es hat mit den
Ländern eine Vereinbarung gegeben, wie dies umgesetzt
werden soll. Man hat sich auf drei Stufen beginnend ab
2012 mit einer Entlastung ab 2014 von 4,4 Milliarden
Euro pro Jahr verständigt.
Heute liegt uns nun der Gesetzentwurf der Ministerin
vor. Man staune: Wir finden im Gesetz nur die Absiche-
rung der ersten der insgesamt vereinbarten drei Stufen ab
2012 mit einem Volumen von 1,2 Milliarden Euro. Also
mich wundert es nicht, dass die Kommunen von diesem
Gesetzentwurf enttäuscht sind. Ich bin es im Übrigen
auch.
Im Begründungsteil des Gesetzentwurfs finden wir
dann den Hinweis, warum zurzeit nur der erste Schritt
möglich sei und die vereinbarte Anhebung der Bundes-
beteiligung – also die Stufen zwei und drei –, ich zitiere,
„einem weiteren Gesetzgebungsverfahren vorbehalten
bleibt“, das allerdings erst im Laufe des Jahres 2012 er-
folgen könne. Überzeugend ist diese Begründung nicht.
Warum, so frage ich Sie, Frau Ministerin von der
Leyen, haben Sie nicht frühzeitiger mit der Arbeit be-
gonnen und rechtzeitig Ihre Hausaufgaben gemacht? Die
Einigung im Vermittlungsausschuss liegt doch schon sie-
ben Monate zurück.
Schwarz-Gelb verunsichert mit dem jetzt vorgelegten
Gesetzentwurf die Kommunen und bringt sie um die
dringend notwendige Planungssicherheit. Nach der Eini-
gung im Vermittlungsausschuss haben die Kommunen,
der Deutsche Städtetag und natürlich auch die Länder zu
Recht erwartet, dass die Regelung der vereinbarten
Übernahme der Grundsicherung in einem Gesetzge-
bungsakt erfolgt. Der Bundesrat hat sich dazu klar posi-
tioniert – auch CDU-geführte Länder wollen das ganz
genau so.
Der Gesetzentwurf führt aber auch noch an einer wei-
teren Stelle zur Verunsicherung. Wie soll die Kosten-
erstattung gegenüber den Kommunen aussehen? Die
Kommunen haben sich darauf verlassen, dass die tat-
sächlich anfallenden Kosten der Grundsicherung wie
verabredet in 2012 zu 45 Prozent, in 2013 zu 75 Prozent
und dann ab 2014 zu 100 Prozent übernommen werden.
Der Gesetzentwurf sieht jetzt jedoch vor, dass nicht
die jeweils aktuellen Ausgaben, sondern lediglich die
des Vorvorjahres als Berechnungsbasis gelten sollen. Die
Städte und Gemeinden müssen also die Kostensteigerun-
gen von zwei Jahren selbst tragen. Für Berlin wären das
beispielsweise 40 Millionen Euro. Ich kann die Enttäu-
schung der Kommunen darüber verstehen und wäre an
ihrer Stelle auch misstrauisch.
Wichtig ist, dass es rasch zu einer Einigung mit den
Ländern kommt, denn der Gesetzentwurf braucht nicht
nur die Zustimmung im Bundestag, sondern auch den
Segen des Bundesrates.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15483
(A) (C)
(D)(B)
Die Entlastung bei der Grundsicherung im Alter ist
für die Kommunen von großer Bedeutung: Im Jahr ihrer
Einführung, 2003, bezogen etwa 439 000 Personen diese
Leistung und bis zu den letzten verfügbaren bundeswei-
ten Daten 2009 stieg die Zahl fast kontinuierlich auf
knapp 764 000 an. Dementsprechend steigerten sich
auch die Ausgaben von 1,45 Milliarden Euro im Jahr
2003 auf über 4 Milliarden Euro für 2009.
In einer Stadt wie Lübeck, aus der ich komme, mit gut
210 000 Einwohnern wuchsen die Kosten kontinuierlich
von rund 18 Millionen Euro im Jahr 2006 an, und sie
werden dieses Jahr etwa 24 Millionen Euro erreichen.
Abzüglich der bisherigen Erstattungen durch Bund und
Land würde die Kostenübernahme durch den Bund für
meine Hansestadt eine Entlastung von knapp 15 Millio-
nen Euro jährlich bedeuten. Das ist ein toller Erfolg, den
wir im Vermittlungsausschuss ausgehandelt haben. Al-
lerdings werden aufgrund der von der Ministerin ge-
wählten Abrechnungsbasis auch meiner Stadt 2 Millio-
nen Euro fehlen.
Die Ausgaben für die Grundsicherung im Alter wer-
den sich durch die demografische Entwicklung weiter
erhöhen. In meinem Wahlkreis wird von jährlichen Stei-
gerungen von bis zu 5 Prozent ausgegangen. In anderen
Städten wird es ähnlich aussehen.
Was können wir tun, um die Kosten der Grundsiche-
rung im Alter nicht aus dem Ruder laufen zu lassen –
ganz egal, wer sie zahlt? Die Antwort ist eigentlich recht
einfach: Liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/
CSU und FDP, machen Sie endlich eine Politik, die den
Menschen hilft, gute Arbeit zu finden und faire, mindes-
tens existenzsichernde Löhne zu erzielen; denn dann
sind sie im Alter nicht auf Grundsicherung durch den
Staat angewiesen. Stimmen Sie endlich einem gesetzli-
chen Mindestlohn zu. Sorgen Sie dafür, dass Menschen
nicht mehr von einem befristeten Arbeitsverhältnis ins
nächste geschoben werden. Stellen Sie gleichen Lohn
für gleiche Arbeit sicher. Legen Sie den Niedriglohnsek-
tor trocken.
Frauen sind überproportional von Grundsicherung im
Alter betroffen, weil sie trotz guter Bildungsabschlüsse
mit miesen Jobs und unfairen Löhnen abgespeist wer-
den. Frauen im Westen Deutschlands erhalten nur eine
halb so hohe Rente wie die Männer. Das ist eine soziale
Schieflage, die sich unsere Gesellschaft nicht leisten
darf. Handeln Sie endlich, und verbessern Sie die Chan-
cen von Frauen auf dem Arbeitsmarkt.
Ich fürchte, wir haben nicht viel in dieser Richtung
von Ihnen zu erwarten. Statt die Chance sinkender Ar-
beitslosigkeit zu nutzen, um Menschen wirksam zu hel-
fen, die es auf dem Arbeitsmarkt trotzdem weiterhin
schwer haben, streichen Sie die arbeitsmarktpolitischen
Instrumente planlos zusammen und sparen so an den
Ärmsten in unserer Gesellschaft.
Das ist der falsche Weg.
Wir werden dies ändern – spätestens 2013.
Kirsten Lühmann (SPD): Wir beraten heute in ers-
ter Lesung über den Entwurf eines Gesetzes zur Stär-
kung der Finanzkraft der Kommunen. Das ist ein starker
Name für ein längst überfälliges Vorhaben, ein Vorha-
ben, das die Länder im Vermittlungsausschuss nach zä-
hen Verhandlungen mit dem Bund erstritten haben. Ein
starker Name, in der Tat. Aber das ist leider auch alles,
was dieser Gesetzentwurf zu bieten hat.
Meine Kollegin Frau Hiller-Ohm hat es bereits aufge-
zeigt. Aber lassen Sie mich den Sachverhalt trotzdem
noch einmal kurz zusammenfassen: Mit der Einigung im
Vermittlungsausschuss zum SGB II Anfang 2011 ist
auch vereinbart worden, dass der Bund schrittweise und
ab 2014 vollständig die Grundsicherung im Alter über-
nimmt. Ziel ist es, damit die Kommunen von Sozialaus-
gaben zu entlasten. Diese Vereinbarung ist durch die
Bundesregierung in der abschließenden Sitzung der Ge-
meindefinanzkommission Mitte Juni 2011 noch einmal
ausdrücklich bestätigt worden. Das jetzt angelaufene
Gesetzgebungsverfahren zu der Umsetzung der Verein-
barung lässt allerdings erhebliche Zweifel aufkommen,
ob die Bundesregierung überhaupt eine vollständige Ent-
lastung der Kommunen vornehmen will; denn der vorlie-
gende Gesetzentwurf der Bundesregierung beinhaltet
nur die Anhebung der quotalen Beteiligung des Bundes
an den Kosten der Grundsicherung auf 45 Prozent in
2012.
Dies ist jedoch nur die erste Stufe der Vereinbarung.
Die Bundesregierung vertritt die Auffassung, dass die
weiteren Schritte erst einer umfassenden Abstimmung
mit den Ländern und den Kommunalen Spitzenverbän-
den bedürften.
Das, meine Damen und Herren, ist jedoch nur ein
Spiel auf Zeit, ein Spiel auf Zeit zulasten der Kommunen
und damit auch ein Spiel auf Zeit zulasten der Bürgerin-
nen und Bürger, denn die Kommunen können ihren um-
fassenden Aufgaben und Verpflichtungen gegenüber den
Bürgerinnen und Bürgern nur dann gerecht werden,
wenn ihre finanzielle Leistungsfähigkeit mittel- und
langfristig gesichert ist und die Kommunen damit hand-
lungsfähig bleiben.
Die finanzielle Lage der Kommunen ist ohnehin dra-
matisch. Der summierte Finanzierungssaldo der Jahre
2009 bis 2011 beläuft sich nach Schätzung der Bundes-
vereinigung der Kommunalen Spitzenverbände auf
23 Milliarden Euro. Allein 2011 beliefen sich die Kosten
für die Kommunen, insbesondere durch weiter steigende
Sozialausgaben, auf über 42 Milliarden Euro. Aber auch
durch eine stetige Ausweitung von bereits bestehenden
Aufgaben durch die Bundesgesetzgebung wird die finan-
zielle Notlage der Kommunen stetig verschärft. Der
Bundesregierung scheint dies aber völlig gleichgültig zu
sein. Sie setzt sogar noch an überaus erfolgreiche Pro-
gramme wie beispielsweise die „Soziale Stadt“ gnaden-
los den Rotstift an. Durch dieses verantwortungslose
Handeln entwickelt sich die Krise der Kommunen zuse-
hends zu einer großen Strukturkrise.
Die Bundesregierung scheint dies jedoch noch nicht
im Ansatz realisiert zu haben. Im Gegenteil: Sie scheint
sogar der Auffassung zu sein, sie habe mit der Über-
nahme der Kosten der Grundsicherung im Alter ein All-
heilmittel in der Hand, welches sie vor jeglicher finan-
zieller Verantwortung gegenüber den Kommunen
15484 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011
(A) (C)
(D)(B)
schütze. Ganz gleich, um welche finanziellen Vorhaben
oder Kosten zulasten der Kommunen es geht, die Bun-
desregierung bezieht sich gebetsmühlenartig auf die
Kostenübernahme der Grundsicherung im Alter.
Man bekommt gar den Eindruck, diese Maßnahme sei
für die Bundesregierung ein Dukatenesel, mit dem sie
das Land bereist und jede zukünftige Mehrbelastung bei
den Kommunen bezahlen kann.
Ein jeder, der die Grundrechenarten auch nur halb-
wegs beherrscht, wird erkennen können, dass diese
Rechnung vorne und hinten nicht aufgeht. Schlimmer
noch: Die Bundesregierung erweckt dadurch den Ein-
druck, sie würde mit der Übernahme der Kosten der
Grundsicherung im Alter in Vorleistung treten. Das Ge-
genteil ist jedoch der Fall: Dies ist eine längst überfällige
Nachleistung, die in der jetzigen Form bei weitem nicht
ausreicht, um die in Zukunft für die Kommunen entste-
henden Kosten zu decken.
Was die Bundesregierung überdies überhaupt nicht
auf der Rechnung hat, sind die Befürchtungen der Kom-
munen, dass die vom Bund zu erstattenden Kosten nicht
vollständig oder nur unter Bedingungen an die Kommu-
nen weitergegeben werden. Hier muss der Bund drin-
gend handeln und mit den Ländern in den Dialog treten.
Lassen Sie mich abschließend sagen: Ein Gesetz zur
Stärkung der Finanzkraft wäre dringend geboten und er-
forderlich. Die uns vorliegende Drucksache ist ein erster
Schritt in diese Richtung, nicht mehr, aber auch nicht
weniger. In den kommenden parlamentarischen Beratun-
gen wird noch einiges zu klären sein, damit dieses Ge-
setz seinem eigenen Anspruch annähernd gerecht wird.
Pascal Kober (FDP): Mit dem heute eingebrachten
Gesetz zur Stärkung der Finanzkraft der Kommunen
vollziehen wir einen weiteren Schritt bei der Umsetzung
des Vermittlungsergebnisses der Hartz-IV-Verhandlun-
gen aus dem Februar dieses Jahres. Mit dem Gesetz
beschließen wir den ersten Schritt zur Erhöhung der
Bundesbeteiligung an den Nettoausgaben in der Grund-
sicherung im Alter und bei Erwerbsminderung.
Die Gemeindefinanzkommission hat in ihrer Sitzung
am 15. Juni dieses Jahres das Ergebnis des Vermittlungs-
verfahrens einvernehmlich begrüßt. Es sorgt dafür, dass
die Kommunen allein im Zeitraum zwischen 2012 und
2015 um voraussichtlich mehr als 12 Milliarden Euro
entlastet werden. Noch nie wurden die Kommunen auf
einen Schlag so stark entlastet. Obwohl die angemessene
Finanzausstattung der Kommunen in der Zuständigkeit
der Länder liegt, leistet der Bund mit der Kostenüber-
nahme einen gewaltigen Beitrag zur Stärkung der Kom-
munalfinanzen.
Die Kostenübernahme für die Grundsicherung im Al-
ter ab dem Jahr 2013 werden wir nach Klärung aller of-
fenen Fragen mit den Ländern in einem eigenständigen
weiteren Gesetzgebungsverfahren angehen. Es steht aber
außer Frage, dass es zur Übernahme der Kosten der
Grundsicherung im Alter kommen wird. Es gibt aber
noch Gesprächsbedarf über das Wie der Ausgestaltung.
Ab dem Jahr 2013 treten wir durch die Kostenüber-
nahme in eine Bundesauftragsverwaltung ein, da der
Bund über 50 Prozent der Kosten übernimmt. Dies erfor-
dert eine Vielzahl von Rechtsänderungen sowie eine
Verankerung von Prüf- und Weisungsrechten des Bun-
des.
Da die Ausgaben für die Grundsicherung trotz der in
die richtige Richtung gehenden Vorhaben von Dr. Ursula
von der Leyen im Rahmen des Rentendialogs im Alter
künftig wohl weiter steigen werden, ist mit der Kosten-
übernahme auch für eine nachhaltige Entlastung der
kommunalen Finanzen gesorgt.
Zudem können wir auch aufgrund einer erfolgreichen
Wirtschafts-, Steuer- und Finanzpolitik dieser schwarz-
gelben Bundesregierung positive Zahlen bei den Kom-
munalfinanzen feststellen. So lag das Defizit der Kom-
munen in den ersten sechs Monaten dieses Jahres nur
noch bei 4,8 Milliarden Euro und damit um 3,5 Milliar-
den Euro niedriger als im letzten Jahr. Das Statistische
Bundesamt führt dies vor allem auf eine Steigerung der
Einnahmen um 7,4 Prozentpunkte zurück.
Die Steigerung ist vor allem auf ein Plus von
12,8 Prozent bei den Steuereinnahmen zurückzuführen.
Sie machen innerhalb des Einnahmeplus den größten
Teil aus. Dies ist vor allem durch die Gewerbesteuer be-
dingt und damit sehr konjunkturabhängig. Leider konn-
ten die Kommunen im Rahmen der Gemeindefinanz-
kommission nicht davon abgebracht werden, an der
Gewerbesteuer festzuhalten.
Die FDP hätte die Einnahmen der Kommunen gerne
konjunkturunabhängiger und damit auch nachhaltiger
gestaltet. So kann ich schon jetzt vorhersagen, dass wir
in der nächsten konjunkturellen Flaute wieder vermehrt
Klagen aus den Kommunen über zu geringe Mittel hören
werden. Sollte es dann wieder Initiativen geben, dass
auch Freiberufler Gewerbesteuer zahlen sollen, wie dies
heute auch wieder im Antrag der Grünen gefordert wird,
werden wir dies entschieden ablehnen. Freiberufler sind
eine wesentliche Säule der deutschen Wirtschaft und
schaffen eine Vielzahl von Arbeitsplätzen. Sie tun dies
unter persönlicher Haftung und leisten mit ihrer Eigen-
verantwortung einen enormen gesellschaftlichen Bei-
trag, der unsere Anerkennung verdient.
Die Einführung der Gewerbesteuer, wie sie Ihnen
vorschwebt, würde zu einer zusätzlichen steuerlichen
Belastung für Selbstständige führen, was wiederum für
Bürgerinnen und Bürger zu Preissteigerungen führen
würde, die entweder direkt oder durch höhere indirekte
Kosten zum Beispiel im Gesundheitswesen und dann
durch höhere Sozialversicherungsbeiträge durchschla-
gen würden.
Sie von Bündnis 90/Die Grünen kritisieren die Steuer-
senkungsabsichten der Koalition. Dabei sind Sie doch
die größte Steuersenkungspartei in der jüngeren Ge-
schichte der Bundesrepublik Deutschland. Sie haben in
Ihrer Regierungszeit die Steuern in einem Volumen von
32 Milliarden Euro gesenkt.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15485
(A) (C)
(D)(B)
Ziel der FDP bleibt eine nachhaltige, solide Finanzie-
rung der Kommunalfinanzen. Einen ersten Schritt schaf-
fen wir mit diesem Gesetz.
Katrin Kunert (DIE LINKE): Die Entlastung der
Kommunen ist der Koalition so wichtig, dass sie die
erste Lesung des „Gesetzentwurfs zur Stärkung der Fi-
nanzkraft der Kommunen“ an das Ende der heutigen Sit-
zung platziert hat.
Am 15. Juni 2011 hat die Gemeindefinanzkommis-
sion ihre Arbeit eingestellt. Nach mehr als einem Jahr
hat sie ihr klägliches Laienspiel beendet. Positiv schlägt
zu Buche, dass Schwarz-Gelb mit dem Versuch geschei-
tert ist, die Gewerbesteuer abzuschaffen. Negativ ist,
dass sich an der Finanznot vieler Kommunen nichts än-
dert wird. Hier hat die Gemeindefinanzkommission ver-
sagt.
Die Reform der Gemeindefinanzen bleibt auf der Ta-
gesordnung. Die Finanznot der Kommunen kann man
nur lindern, indem man sie stärker am Gesamtsteuerauf-
kommen beteiligt und indem man die Einnahmen aus der
Gewerbesteuer stabilisiert und sie in Form einer Ge-
meindewirtschaftsteuer verlässlicher gestaltet. Die Linke
wird hierzu auch weiterhin initiativ werden. Wir werden
auch alle Initiativen im Bundestag unterstützen, die eine
wirkliche Stärkung der Finanzkraft der Kommunen zum
Ziel haben.
Einziges Ergebnis der Gemeindefinanzkommission
im Bereich Finanzen ist die Entlastung der Kommunen
bei der Grundsicherung im Alter. Die Bundesregierung
hat erklärt, die Kosten hierfür schrittweise und ab 2014
ganz zu übernehmen. Sicher wäre dies zu begrüßen,
wenn nicht andere Entscheidungen dies ins Gegenteil
verkehren würden.
Anmaßend und zynisch finde ich es, den uns vorlie-
genden Gesetzentwurf „Gesetz zur Stärkung der Finanz-
kraft der Kommunen“ zu nennen. Zur Stärkung der der
Finanzkraft der Kommunen gehört mehr als eine Entlas-
tung der Kommunen im Bereich der Grundsicherung im
Alter und bei Erwerbsminderung.
Außerdem werden im gleichen Atemzug die Kommu-
nen an anderer Stelle wieder belastet und ein Teil der
Mittel – 400 Millionen Euro – mit dem Gesetzentwurf
bereits verplant.
Die Übernahme der Kosten für die Grundsicherung
im Alter und bei Erwerbsminderung soll durch eine dras-
tische Reduzierung der Bundesbeteiligung an der Ar-
beitsförderung refinanziert werden. Dadurch werden we-
niger Mittel für die aktive Arbeitsmarktpolitik zur
Verfügung stehen, was zulasten von Arbeits- und Er-
werbslosen geht.
Die Kommunen brauchen zwar dringend eine Entlas-
tung bei den Sozialausgaben, dies muss aber geschehen,
ohne dass es gleichzeitig an anderer Stelle zu entspre-
chenden Kürzungen kommt. Sowohl die Grundsiche-
rung im Alter als auch die Arbeitsmarktinstrumente die-
nen der Absicherung allgemeiner Lebensrisiken, für die
nicht die Kommunen, sondern die Bundesregierung zu-
ständig sind. Die Kommunen sind nur für die örtlichen
Risiken und deren Lösung zuständig.
Die Bundesregierung erwartet, dass die Kommunen
die frei werdenden Mittel für eine dauerhafte Finanzie-
rung des Mittagessens in Schulhorten oder für Schulso-
zialarbeit einsetzen. Das ist ein Eingriff in die kommu-
nale Selbstverwaltung, den Die Linke nicht mittragen
wird.
Darüber hinaus ignoriert der Gesetzentwurf auch
schwerwiegende Kritikpunkte der kommunalen Spitzen-
verbände und des Bundesrates. Ich möchte an dieser
Stelle auf drei Punkte eingehen.
Erstens. Es ist nach wie vor offen, wie sichergestellt
werden soll, dass das Geld bei den Kommunen vollstän-
dig ankommt. Die Kommunen haben hier bereits leid-
volle Erfahrung gemacht. Die Länder haben in der Ver-
gangenheit Mittel des Bundes für die Kommunen nicht
oder nicht ausreichend weitergeleitet. Der Forderung der
Kommunen, hier eindeutige Regelungen zu schaffen,
sind Sie von der Bundesregierung nicht nachgekommen.
Das aber ist Voraussetzung dafür, dass die Kommunen
wirklich entlastet werden. Ich fordere Sie daher auf, dies
umgehend nachzuholen.
Zweitens. Bisher sollen der Berechnung der Bundes-
beteiligung nicht die tatsächlichen Ausgaben der Länder
und Kommunen für die Grundsicherung im Alter und bei
Erwerbsminderung zugrundegelegt werden. Berech-
nungsgrundlage sollen die Ausgaben im jeweiligen Vor-
vorjahr sein. Das aber bedeutet, dass Länder und Kom-
munen den Anstieg der Ausgaben im laufenden Jahr im
Vergleich zum Vorjahr selbst finanzieren müssen. Damit
entsteht für sie ein dauerhafter Fehlbetrag. Allein an die-
ser Regelung wird deutlich, wie ernst Sie es meinen mit
der Entlastung der Kommunen.
Drittens. Der Referentenentwurf des BMAS vom
6. Juni 2011 regelte noch die Kostenübernahme für die
Jahre 2012, 2013 und 2014. Der nun vorliegende Gesetz-
entwurf regelt nur die Kostenübernahme für 2012. Die
weiteren Steigerungsschritte sollen später geregelt wer-
den. Die Begründung der Bundesregierung dafür lautet,
ich zitiere aus der Gegenäußerung der Bundesregierung
zur Stellungnahme des Bundesrates: „Die Erhöhungs-
schritte für die Jahre 2013 (auf 75 Prozent) und 2014
(auf 100 Prozent) bleiben einem gesonderten Gesetzge-
bungsverfahren vorbehalten, weil aufgrund des Errei-
chens und Überschreitens eines hälftigen Anteils der
Bundesmittel an den Nettoausgaben für die Grundsiche-
rung im Alter und bei Erwerbsminderung ab dem Jahr
2013 nach Art. 104 a Abs. 3 Satz 2 des Grundgesetzes
Bundesauftragsverwaltung eintritt. Da die Erhöhung der
Bundesbeteiligung für das Jahr 2012 bis zum Jahresende
2011 beschlossen werden muss, steht im vorliegenden
Gesetzgebungsverfahren nicht ausreichend Zeit zur Re-
gelung der Umsetzung der Bundesauftragsverwaltung
zur Verfügung.“
Liebe Bundesregierung, das wussten Sie bereits im
Februar. Es war also genügend Zeit, um diese Änderun-
gen mit dem heutigen Gesetzentwurf vorzulegen. Ich
meine, dass Sie sich mit der jetzigen Regelung eine Hin-
15486 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011
(A) (C)
(D)(B)
tertür offen lassen wollen. Möglicherweise wollen Sie
Ihre Entscheidung noch einmal überdenken? Ich kann
Ihnen versprechen, die Linke wird sehr genau hin-
schauen und darauf drängen, damit Sie Ihrer Verantwor-
tung nachkommen.
Sollte sich an dem Gesetzentwurf nichts ändern, wird
meine Fraktion dieses Gesetz ablehnen. Es ist nicht nur
mit großen Mängeln behaftet, es ist auch ein vergiftetes
Geschenk an die Kommunen.
Auch wenn sich die Einnahmen aus der Gewerbe-
steuer nach dem krisenbedingten Einbruch insgesamt
wieder erholen, gibt es keinen Grund zur Entwarnung.
Die Entlastung der Kommunen – auch das sei an dieser
Stelle gesagt –, die nur einem Teil der Kommunen zugu-
tekommt, ist keine befriedigende Lösung. Die Kosten für
die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung
machen nur 10 Prozent der gesamten Sozialausgaben
aus.
Das strukturelle Defizit wird nicht beseitigt. Und das
Problem, dass Bund und Länder ständig neue Aufgaben
auf die Kommunen übertragen und dafür nur unzurei-
chend Mittel zur Verfügung stellen, wird auch nicht ge-
löst.
Der Bund kann zwar nicht mehr auf direktem Wege
den Kommunen Aufgaben übertragen. Dieser Weg ist
dem Bund seit der Föderalismusreform verwehrt. Aber
er hat die Möglichkeit, über die Länder den Kommunen
neue Aufgaben zu übertragen und bereits übertragene
Aufgaben qualitativ und quantitativ zu erweitern. Und
davon macht er zur Genüge Gebrauch.
Ein aktuelles Beispiel: Am 26. September 2011 fand
eine Anhörung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung
zur Stärkung des Schutzes von Kindern und Jugendli-
chen statt. Das Anliegen des Gesetzes ist sicher zu be-
grüßen. Was nicht zu begrüßen ist, ist, dass wieder ein-
mal versucht wird, neue Aufgaben über die Länder auf
die Kommunen zu übertragen bzw. bestehende zu erwei-
tern, ohne sie auskömmlich zu finanzieren. Die Kommu-
nen erhalten dafür nicht die Mittel, die notwendig wären,
um die Aufgaben in der entsprechenden Qualität zu er-
füllen.
Ich zitiere aus der Stellungnahme der kommunalen
Spitzenverbände zum Gesetzentwurf: „Der vorliegende
Gesetzentwurf beinhaltet … einige ganz wesentliche
Aufgabenverdichtungen und ebenso einige ganz grund-
sätzliche neue Aufgaben der Jugendhilfe. Hierzu erfolgt
eine nicht nachvollziehbare Kosteneinschätzung seitens
des BMFSFJ, dessen Auskömmlichkeit vor dem Hinter-
grund des Umfangs der mit dem Gesetzentwurf verbun-
denen Aufgaben grundlegend bezweifelt wird. … Neben
der Auskömmlichkeit dieser Mittel steht hier zu befürch-
ten, dass nach Auslaufen der befristeten Bundesfinanzie-
rung eine kommunale Verstetigung erwartet wird.“
Weitere Beispiele sind: Änderungen im Vormund-
schafts- und Betreuungsrecht, im Eichwesen, die Einfüh-
rung des elektronischen Aufenthaltstitels und die Ein-
führung des elektronischen Personalausweises haben zur
Erweiterung der Aufgaben geführt, ohne dass die dafür
notwendigen Mittel bereitgestellt worden wären.
Die Bundesregierung muss endlich begreifen, dass
auch für sie gilt: Wer die Musik bestellt, muss zahlen.
Die Einführung eines Konnexitätsprinzips dürfte ei-
gentlich in diesem Hause auf breite Zustimmung stoßen.
Es ist nicht nur unsere Auffassung, auch Bündnis 90/Die
Grünen und SPD erheben diese Forderung.
Und selbst die FDP hatte in der letzten Wahlperiode
immer wieder die Einführung eines Konnexitätsprinzips
gefordert. Sie haben nicht nur einen Antrag zur Einfüh-
rung eines Konnexitätsprinzips eingebracht, sondern
auch jede sich bietende Möglichkeit genutzt, dies zu for-
dern. Insbesondere Frau Piltz hat zum Beispiel am
29. August 2007 im Zusammenhang mit dem Kitaaus-
bau erklärt: „Das Hickhack um die Finanzierung zeigt
einmal mehr, dass es ein kapitaler Fehler war, im Rah-
men der Föderalismusreform kein Konnexitätsprinzip im
Grundgesetz zu verankern. Wenn sich bei einer gesamt-
gesellschaftlichen Aufgabe wie der Kindertagesbetreu-
ung eigentlich alle einig sind, dass etwas getan werden
muss, ist es unverantwortlich, dass die Kostentragung
nicht schnell und unkompliziert geklärt werden kann.
Die FDP wird sich daher weiterhin für die Verankerung
des Grundsatzes ‚Wer bestellt, bezahlt‘ im Grundgesetz
einsetzen.“
Ich bin gespannt, wie die FDP sich zu unserem An-
trag verhalten wird.
Die Einführung eines Konnexitätsprinzips im Grund-
gesetz ist dringender denn je. Es schützt die Kommunen
vor Mehrbelastungen und eröffnet ihnen die Möglich-
keit, gegen den Bund – wenn erforderlich – auch gericht-
lich vorzugehen. Bisher können durch den Bund ausge-
löste Aufgabenübertragungen von den Kommunen nicht
auf dem direkten Rechtsweg angegriffen werden.
Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Wir diskutieren heute einen Gesetzentwurf, mit dem die
Bundesbeteiligung an der Grundsicherung im Alter und
bei Erwerbsunfähigkeit neu geregelt werden soll. Diese
finanzielle Unterstützung seitens des Bundes ist bereits
im Februar im Zuge des Hartz-IV-Kompromisses verein-
bart worden. Sie ist für die strukturell unterfinanzierten
Kommunen eine dringend notwendige Maßnahme, wer-
den doch ausweislich des Gemeindefinanzberichtes die
Ausgaben der Kommunen für soziale Leistungen allein
in diesem Jahr von 42 Milliarden Euro auf 45 Milliarden
Euro steigen. Zehn Jahre zuvor waren es noch 26 Mil-
liarden Euro. Die Kostenentwicklung bei den sozialen
Pflichtleistungen ist mithin dramatisch.
Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von Union
und FDP, sind im Februar durch die Lande gezogen und
haben den Kommunen eine Entlastung von rund 4 Mil-
liarden Euro ab dem Jahr 2014 versprochen. Dabei ha-
ben Sie nicht erwähnt, dass Sie von den Kommunen im
Gegenzug verlangen, dass sie ab diesem Jahr auch das
im Hartz-IV-Kompromiss vereinbarte Hortessen und die
Ausgaben für die Einstellung von 3 000 Schulsozialar-
beiterinnen und -arbeitern finanzieren sollen. Jedenfalls
versuchen Sie nun, im Gesetzentwurf durch die Hinter-
tür eine Zweckbindung zu erreichen, indem Sie in der
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15487
(A) (C)
(D)(B)
Begründung erwähnen, dass die Kommunen nun auch
genügend Mittel zur Übernahme dieser Kosten hätten.
Für die Bürgerinnen und Bürger in den Gemeinden ist
es kein gutes Signal, dass Sie die Vereinbarung zur
Grundsicherung im Alter aus dem Vermittlungsverfah-
ren zu Hartz IV auch im Schlussbericht der Gemeinde-
kommission abfeiern mussten, damit Sie dort überhaupt
ein Ergebnis zu vermelden haben, nachdem Sie mit Ih-
rem Projekt, die Gewerbesteuer abzuschaffen, zum
Glück gescheitert sind. Damit hätten Sie die Gemeinde-
finanzen weiter geschwächt.
Jetzt, da Sie die Chance haben, Ihre Versprechen ein-
zulösen, regeln Sie mit dem Gesetzentwurf nur den ers-
ten Schritt der vereinbarten Entlastung: die Erhöhung
des Bundesanteils von 16 auf 45 Prozent im Jahr 2012.
Die Kommunen, die in 2011 trotz besserer Steuereinnah-
men immer noch ein Defizit von 5 Milliarden Euro aus-
weisen, brauchen jetzt dringend ein Zeichen für Pla-
nungssicherheit.
Warum säen Sie jetzt Zweifel, dass Sie auch gewillt
sind, sich ernsthaft an Ihre Zusagen, nämlich 75 Prozent
in 2013 und 100 Prozent in 2014 zu übernehmen, zu hal-
ten? Die Begründung im Gesetzentwurf, dass die Umset-
zung der weiteren Schritte daran scheitere, dass es zu ei-
ner Bundesauftragsverwaltung käme, greift nicht. Die
Bundesregierung hatte seit Februar dieses Jahres, als der
Hartz-IV-Kompromiss besiegelt wurde, Gelegenheit, ein
Abstimmungsverfahren mit den Ländern und den kom-
munalen Spitzenverbänden dazu einzuleiten.
Auch der Bundesrat sieht in seiner Stellungnahme
vom 23. September 2011 offenbar kein Problem darin,
alle vereinbarten Schritte sofort in diesem Gesetzentwurf
umzusetzen. Es gibt also keinen sachlichen Grund, das
Versprechen, die Grundsicherung im Alter ab 2014 voll-
ständig zu übernehmen, jetzt auch gesetzlich umzuset-
zen.
Offenbar wollen Sie die Ausgaben für die Grund-
sicherung auch nicht eins zu eins an die Kommunen wei-
terleiten. Der Gesetzentwurf sieht eine Kostenerstattung
auf Basis der tatsächlichen Ausgaben des Vorvorjahres
vor. Anstatt eine Spitzabrechnung vorzunehmen, schie-
ben Sie den Kommunen die Last der Vorfinanzierung
von zwei Jahren zu. Vor dem Hintergrund von jährlichen
Steigerungsraten von 7 Prozent enthalten Sie Kommu-
nen damit eine halbe Milliarde Euro vor. Das ist nicht
trivial. Einer Stadt wie Bielefeld, die heute rund 19 Mil-
lionen Euro für die Grundsicherung ausgibt, fehlen da-
durch 2,7 Millionen Euro. Damit ließe sich kommunal
eine Menge auf die Beine stellen oder so manches Haus-
haltsloch stopfen.
Wenn Sie schon nicht in der Lage sind, mit der von
Ihnen eingerichteten Gemeindefinanzkommission die
Einnahmen der Kommunen, insbesondere durch Refor-
men der Gewerbe- und der Grundsteuer, zu stärken und
zu stabilisieren, sollten Sie wenigstens das einzig nen-
nenswerte Resultat dieser Kommission vollständig um-
setzen. Statt mit Trickspielen die Abrechnungen zuguns-
ten des Bundes zu schönen, sollten Sie den Bürgerinnen
und Bürgern vor Ort in den Städten und Gemeinden zei-
gen, dass Sie es ernst meinen mit Ihrem Versprechen, die
Gemeinden von den wachsenden Belastungen aus der
Grundsicherung im Alter zu entlasten.
Angesichts dramatischer Haushaltsnotlagen, insbe-
sondere bei Gemeinden in strukturschwachen Gebieten,
kann die Übernahme der Grundsicherung im Alter nur
ein erster Schritt zur Stärkung der Kommunalfinanzen
sein. Die Länder machen sich inzwischen auf, Entschul-
dungsprogramme für ihre Kommunen in Haushaltsnotla-
gen umzusetzen. Vor dem Hintergrund der Schulden-
bremse ist dies für die Länder, insbesondere für
Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen, ein großer
finanzieller Kraftakt. Diese Entschuldungsprogramme
werden trotz harter Sparvorgaben bei den betroffenen
Kommunen ins Leere laufen, wenn die Kommunen bei
den sozialen Pflichtleistungen nicht weiter nachhaltig
entlastet werden.
Wegen des Zusammenhangs zwischen Arbeitslosig-
keit, Unterkunftskosten und kommunalen Kassenkredi-
ten plädieren wir Grüne weiter für höhere Bundesanteile
an den Unterkunftskosten für ALG-II-Beziehende. Die
Kostenaufwüchse der Vergangenheit und künftige Kos-
tensteigerungen dürfen nicht mehr einseitig allein von
den Kommunen getragen werden. Hier haben Sie, werte
Kolleginnen und Kollegen von der CDU, ein weiteres
Mal schlecht für die Städte und Gemeinden gesorgt, als
Sie in dem besagten Hartz-IV-Kompromiss die Bundes-
anteile an den Unterkunftskosten für ALG-II-Bezie-
hende auf 25,1 Prozent eingefroren haben. Ich erinnere
Sie daran, dass Ihre Parteikollegen in Nordrhein-Westfa-
len gemeinsam mit den Grünen und der SPD eine Bun-
desbeteiligung von 50 Prozent gefordert haben.
Schließlich fordert meine Fraktion in unserem An-
trag, finanzschwache Kommunen ohne Sozialabbau zu
unterstützen. Völlig inakzeptabel ist die Gegenfinanzie-
rung der Übernahme der Grundsicherung im Alter durch
eine Streichung des Bundeszuschusses für die Arbeits-
agentur in gleicher Höhe. Flankiert durch die sogenannte
Instrumentenreform bei den arbeitsmarktpolitischen
Maßnahmen drohen massive Kürzungen in der Arbeits-
marktpolitik vor Ort. Wir Grüne sind deshalb zu Recht
im Februar aus dem Vermittlungsverfahren um Hartz IV
ausgestiegen.
Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär bei der
Bundesministerin für Arbeit und Soziales: Mit dem vor-
liegenden Gesetzentwurf zur Stärkung der Finanzkraft
der Kommunen setzen wir die Protokollerklärung des
Vermittlungsausschusses vom Februar dieses Jahres um,
indem der Bund schrittweise die Kosten der Grundsiche-
rung im Alter und bei Erwerbsminderung vollständig
übernimmt und die Kommunen damit im Milliardenbe-
reich jährlich entlastet. Die Annahme der Protokollerklä-
rung hat maßgeblich zur Einigung in dem jahrelangen
Streit über die Höhe der Regelbedarfe in der Sozialhilfe
und in der Grundsicherung für Arbeitsuchende beigetra-
gen. Ich glaube, dass es sich lohnt, daran zu erinnern,
wie der Streit eigentlich entstanden ist.
Vor zehn Jahren, im Jahr 2001, hat die damalige Bun-
desregierung mit der damaligen Parlamentsmehrheit be-
schlossen, die bedarfsorientierte Grundsicherung im Al-
15488 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011
(A) (C)
(D)(B)
ter und bei Erwerbsminderung in der Form einzuführen,
dass bei Bedürftigkeit im Alter auf enge Familienange-
hörige nur noch dann Rückgriff genommen wird, wenn
das Jahreseinkommen dieser engen Familienangehöri-
gen mindestens 100 000 Euro beträgt. Der den Kommu-
nen insbesondere daraus entstehende sogenannte grund-
sicherungsbedingte Mehraufwand wurde im Jahr 2001
von der damaligen Bundesregierung ursprünglich auf
600 Millionen DM oder 307 Millionen Euro pro Jahr ge-
schätzt. Nur diese Summe sollte aus der Sicht der im
Jahr 2001 im Bund Regierenden den Mehraufwand der
Kommunen ausgleichen. Eine Dynamisierung war nicht
vorgesehen. Entsprechend hat eine Rednerin der SPD-
Fraktion am 26. Januar 2001 unter dem Beifall ihrer
Fraktion in diesem Hohen Haus festgestellt, dass – ich
zitiere – „die den Kommunen dadurch“ – durch den Ver-
zicht auf den Unterhaltsrückgriff – „entstehenden Kos-
ten vom Bund getragen werden. Die Kommunen werden
also nicht belastet (…).“ Zitat Ende.
Entsprechend heißt es auch in der Gesetzesbegrün-
dung, dieser Betrag stelle sicher – ich zitiere –, „dass der
Bund den Ländern diejenigen Mehrausgaben ausgleicht,
die den Kreisen und kreisfreien Städten als Trägern der
Sozialhilfe wie auch als Trägern der Grundsicherung un-
mittelbar aufgrund der gegenüber dem Sozialhilferecht
besonderen Regelungen im Gesetz über eine bedarfs-
orientierte Grundsicherung im Alter und bei Erwerbs-
minderung entstanden sind.“ Zitat Ende. Dem sich an-
schließenden Vermittlungsverfahren ist es zu verdanken,
dass der Betrag zumindest auf 409 Millionen angehoben
wurde. Ich bin froh darüber, dass heute niemand mehr
ernsthaft der Meinung ist – anders als vor zehn Jahren,
als die damalige Opposition schon erklärt hat, das sei zu
wenig für die Kommunen, sich aber nicht durchsetzen
konnte –, dass mit 409 Millionen Euro oder gar nur
307 Millionen Euro der grundsicherungsbedingte Mehr-
aufwand gedeckt ist.
In der Großen Koalition ist die absolute Summe der
Bundesbeteiligung dann auf eine prozentuale Summe
umgestellt und dynamisiert worden, so dass wir heute
bei einer Beteiligung von 15 Prozent sind und nach der
geltenden Rechtslage im nächsten Jahr bei einer Beteili-
gung von 16 Prozent wären, die wir aber nicht umsetzen
wollen, weil der Bund in der Protokollerklärung zuge-
sagt hat, seinen Anteil an den Nettoausgaben für die
Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung im
Jahr 2012 auf 45 Prozent‚ im Jahr 2013 auf 75 Prozent
und vom Jahr 2014 an auf 100 Prozent zu erhöhen.
Zu dieser übernommenen Verpflichtung steht der
Bund ohne Wenn und Aber. Ich weise in diesem Zusam-
menhang darauf hin, dass in der Protokollerklärung
keine Verabredung getroffen worden ist, diese Zusage in
einem einzigen Gesetz in diesem Jahr umzusetzen. Dazu
besteht auch keine Notwendigkeit. Wir legen hier einen
Gesetzentwurf vor, der vorsieht, für das nächste Jahr die
Beteiligung des Bundes in Höhe von 45 Prozent festzu-
setzen.
Kritik wurde dahin gehend laut, dass die Bundesre-
gierung aufgrund des Eintretens von Bundesauftragsver-
waltung die weiteren Erhöhungsschritte der Bundesbe-
teiligung in einem separaten Gesetzgebungsverfahren
regeln will. Bundesauftragsverwaltung liegt unstreitig
dann vor, wenn mindestens 50 Prozent der Geldleistun-
gen vom Bund erbracht werden. Bei der Grundsicherung
im Alter und bei Erwerbsminderung bringt sie erhebli-
che Veränderungen mit sich, mit denen im Sozialhilfe-
recht Neuland betreten wird. Es gibt bislang kein in der
Dimension vergleichbares Sozialleistungssystem, das in
Bundesauftragsverwaltung durchgeführt wird. Ich denke
nur daran, dass sich die Ausführung auf rund 450 Sozial-
hilfeträger verteilt und dass rund 770 000 leistungs-
berechtigte Personen betroffen sind. Niemand wird er-
warten, dass der Bund Ausgaben von jährlich etwa
5 Milliarden Euro übernimmt, ohne die gemeldeten Aus-
gaben und ihre Verwendung überprüfen zu können.
Bundesauftragsverwaltung wird auch in Zukunft
nicht das gesamte Zwölfte Buch Sozialgesetzbuch be-
treffen, sondern nur den Teilbereich der genannten
Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung; im
Übrigen bleibt es bei der Eigenverwaltung. Bei der Um-
setzung der Bundesauftragsverwaltung geht es folglich
auch um die Frage, ob Eigenverwaltung und Auftrags-
verwaltung in einem Gesetz nebeneinander stehen kön-
nen, ob sich hieraus ein funktionsfähiges und ver-
fassungskonformes Gesetz ergibt. Das alles sind
komplizierte Rechtsfragen, die zu erörtern sind.
Was die Kritik an der im Gesetzentwurf der Bundes-
regierung vorgesehenen Orientierung an den Ausgaben
des Vorvorjahres bei der Erstattung betrifft, so ist festzu-
stellen, dass die entsprechenden Daten des Statistischen
Bundesamtes zur Sozialhilfestatistik für ein Kalender-
jahr nicht früher vorliegen. Das heißt, verdeutlicht an ei-
nem Beispiel: Im Jahr 2011 wurde die Bundesbeteili-
gung am 1. Juli an die Länder gezahlt. Erst zum 1. April
2011 lagen – über das Statistische Bundesamt – die end-
gültigen Ergebnisse der Nettoausgaben bei der Grund-
sicherung im Alter und bei Erwerbsminderung für das
Jahr 2009 vor.
Ich glaube, es ist unser gemeinsames Interesse, zu ei-
ner korrekten, sorgfältigen und verfassungsfesten Um-
setzung der Protokollerklärung zu kommen. Deswegen
legen wir einen Gesetzentwurf vor, der zunächst in die-
sem Jahr die für das nächste Jahr notwendigen Schritte
vornimmt.
Es kann keinen Zweifel daran geben, dass der Bund
zu seiner Zusage einer nachhaltigen finanziellen Entlas-
tung der Kommunen steht. Im heute zu beratenden Ent-
wurf eines Gesetzes zur Stärkung der Finanzkraft der
Kommunen sind die entsprechenden finanziellen Aus-
wirkungen schwarz auf weiß dargestellt. Die Erhöhungs-
schritte für 2013 und 2014 mit ihren finanziellen Aus-
wirkungen bis zum Jahr 2015 sind darüber hinaus in der
mittelfristigen Finanzplanung des Bundes enthalten. Die
finanziellen Auswirkungen für den Bund sind in entspre-
chende Beschlüsse der Bundesregierung und in den vor-
liegenden Gesetzentwurf bereits eingepreist.
Ich betone: Die bei der Einführung des Gesetzes vor
zehn Jahren für die Kommunen vorgesehene Finanzaus-
stattung war nicht ausreichend. Ich bin froh, dass es ge-
lungen ist, hier einen Konsens herzustellen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15489
(A) (C)
(D)(B)
Mit dem vorliegenden Gesetz leistet der Bund einen
großen Beitrag zur Stärkung der Handlungsfähigkeit der
Kommunen. Bereits in der Großen Koalition haben wir
diesen Weg eingeschlagen. Jetzt gehen wir ihn in der
christlich-liberalen Koalition konsequent weiter.
Anlage 14
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts: Seenotrettung im Mittelmeer konse-
quent durchsetzen und verbessern (Tagesord-
nungspunkt 16)
Erika Steinbach (CDU/CSU): Die Welt ist in Bewe-
gung, in einer ständigen Bewegung rund um den Globus.
Unsere Aufmerksamkeit richtet sich seit Beginn des Jah-
res auf die Umwälzungen im arabischen Raum, den ara-
bischen Frühling. Der Erfolg der Aufständischen in Tu-
nesien und Ägypten steckte junge Menschen in der
gesamten Region, von Marokko bis Saudi-Arabien gera-
dezu an, für ihre Freiheit auf die Straße zu gehen. Die zu
befürchtenden Repressionen der seit Jahrzehnten herr-
schenden autokratischen Regime hielten die Menschen
nicht mehr auf.
Deutschland leistete im Rahmen der Transformations-
partnerschaften mit Tunesien und Ägypten unter ande-
rem flankierende Hilfe, um die Entwicklung hin zu De-
mokratie und Rechtstaatlichkeit zu ermöglichen. Eine
möglichst breite Beteiligung der Menschen am Über-
gangsprozess in ihren Ländern war das Ziel. Deutsch-
land hat zahlreiche Projekte für Demokratieförderung,
Berufsbildung und Jugendbeschäftigung sowie für Kre-
dite an kleinere und mittlere Unternehmen auf den Weg
gebracht. Nachhaltiger Stabilität den Weg zu bahnen, ist
die Absicht.
Erste humanitäre Hilfsmaßnahmen, wie medizinische
Notversorgung für die Libyer, leistete Deutschland be-
reits im Februar. Für die Betroffenen der Auseinander-
setzungen wurden rund 15 Millionen Euro in den Mona-
ten Februar bis August bereitgestellt. Das ist Hilfe, die
dazu beiträgt, Situationen zu entschärfen und stabilisie-
ren. Oberste Priorität muss es sein, die Menschen in ih-
ren Heimatländern zu unterstützen und Flucht verhin-
dern zu helfen. Doch sind die Zahlen der Vertriebenen
und Flüchtlinge allein in Libyen in der Tat erschreckend
hoch. Rund 970 000 Menschen waren im Mai den Schät-
zungen OCHAs zufolge auf Hilfe angewiesen,
330 000 Binnenvertriebene unter ihnen.
Ich will aber auch darauf hinweisen, dass gerade Li-
byen durchaus ein Land ist, das ohne unsere finanzielle
Hilfe sprichwörtlich „auf die Beine kommen“ wird. Die
UNO hatte bereits Ende August 1,5 Milliarden US-Dol-
lar freigegeben, die an libyschen Geldern eingefroren
waren. Der französische Präsident Nicolas Sarkozy kün-
digte schon Anfang des Monats an, dass rund
15 Milliarden Euro sofort freigegeben würden. In der
Zentralbank in Tripolis fanden sich 16 Milliarden Euro;
die Opposition fordert die Freigabe weiterer 170 Milliar-
den Euro.
Seit Jahren sind wir mit der Problematik konfrontiert,
dass afrikanische Flüchtlinge versuchen, über das Mit-
telmeer nach Europa zu gelangen. Bis Mitte des Jahres
sind 32 000 Menschen auf diesem Weg aus Nordafrika
nach Italien gekommen, vorwiegend Wirtschaftsmigran-
ten. Migration kann jedoch nicht die Lösung für die Pro-
bleme der Herkunftsländer sein. Die Regierungen der
Staaten sind ebenfalls und in erster Linie in der Pflicht.
Die Flüchtlinge, die Italien erreichen, wollen nicht dort
bleiben, sondern in andere Länder Europas weiterreisen,
um Arbeit aufzunehmen. Die Weiterreise ist mit den von
italienischen Behörden ausgestellten temporären Aufent-
haltsgenehmigungen möglich.
Deutschland hat im vergangenen Jahr 41 332 Flücht-
linge aufgenommen. Das ist eine Verdoppelung im Ver-
gleich zum Vorjahr und Platz 2 innerhalb der Europäi-
schen Union; nur Frankreich nahm eine noch größere
Zahl an Flüchtlingen auf. Italien steht mit 8 200 aufge-
nommenen Flüchtlingen im Jahr 2010 bei der Betrach-
tung der relativen Zahlen, dem Verhältnis der Asylbe-
werber zur Bevölkerungszahl, auf Platz 17. Die
Aufnahmeleistung Italiens entspricht einem Anteil von
0,01 Prozent Asylbewerber pro Einwohner. Zweifels-
ohne steht Italien vor einer großen Herausforderung,
nicht aber von einer Überforderung. Hilfe, die Deutsch-
land angeboten hat, wurde von italienischer Seite nicht
angenommen.
Schlepperbanden finden in Situationen der Instabilität
den größten Markt für ihr verbrecherisches Treiben. Ge-
nau diese Situation beobachten wir mit großer Sorge ver-
stärkt in den vergangenen Monaten. Auf seeuntüchtigen
und völlig menschenüberladenen Booten schicken
Schlepperbanden Flüchtlinge auf illegalem Weg von
Nordafrika nach Europa. Doch seit Jahren erreichen uns
Meldungen, dass Menschen dabei auf See den Tod fin-
den. Jedes Jahr ertrinken mehrere Hundert Menschen bei
dem Versuch, als illegale Einwanderer das Mittelmeer
von Nordafrika in Richtung Italien oder Spanien zu
überqueren.
Die Antwort kann nur lauten, dass Migration konse-
quenter Kontrolle bedarf. Die Überwachung der Seeau-
ßengrenzen der Europäischen Union trägt dazu bei, im
positiven Sinn. Sie verhindert oder verringert nicht Mi-
gration, sondern ihre Wege, die – wie wir sorgenvoll
feststellen müssen – auf hoher See lebensgefährlich sind.
Wem also keine Hintertür geöffnet werden darf, ist
der organisierten Kriminalität, den Schleppern und Men-
schenhändlern. Sie passen die Wege und Mittel ihres
menschenverachtenden Geschäfts so rasant den vorzu-
findenden Rahmenbedingungen an, dass es ihnen ein
Leichtes ist zu behaupten, sie würden seenotrettend un-
terwegs sein. Deshalb ist ein genereller, grundsätzlicher
Schutz vor Strafverfolgung und die Forderung des finan-
ziellen Ausgleichs für „Seenotrettende“ nicht ansatz-
weise zielführend.
Die Rettung Schiffbrüchiger ist in der Tat ist ein
wichtiges Anliegen. Die Forderung jedoch, jederzeit ei-
nen Raum wie das Mittelmeer dahin gehend zu überwa-
chen und abzusichern, ist schlichtweg unrealistisch und
nicht zu leisten. Hier lautet die Antwort wiederum, die
15490 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011
(A) (C)
(D)(B)
Wege der Migration sind zu verändern und zu kontrollie-
ren, um der Menschen willen.
Lobend und beispielhaft erwähnen will ich die Orga-
nisation der Seenotrettung in Deutschland. Sie wird
durch die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrü-
chiger, DGzRS, eine nichtstaatliche Rettungsorganisa-
tion, durchgeführt. Die Gesellschaft finanziert sich über-
wiegend durch freiwillige Zuwendungen und komplett
ohne Steuergelder. Die erste deutsche Rettungsstation
wurde 1809 in Memel gegründet. Heute betreibt die
DGzRS eine Flotte von 61 Seenotkreuzern und Seenot-
rettungsbooten auf 54 Stationen. Seenotrettung ist
grundsätzlich Teil nationalstaatlicher Kompetenz.
Würde die Seenotrettung für das Mittelmeer europäisch
geregelt, welches Hochseegewässer würde dann der na-
tionalen Seenotrettung weiterhin unterstehen und wel-
ches nicht, oder organisiert und finanziert die EU dann
auch die Seenotrettung im Atlantik, dem Schwarzen
Meer und in der Nord- und Ostsee?
Wolfgang Gunkel (SPD): Es gibt eine seit Jahrhun-
derten geltende stolze Tradition der Seefahrt, die in na-
hezu allen Kulturen und Regionen der Welt Geltung hat.
Ich spreche vom selbstverständlichen Gebot, Menschen
in Seenot Beistand zu leisten. Das völkerrechtliche
grundsätzliche Übereinkommen, Schiffbrüchigen das
Recht auf Hilfe zu garantieren, findet sich folgerichtig
auch im Seerechtsübereinkommen der Vereinten Natio-
nen wieder. Dort heißt es:
Jeder Staat verpflichtet den Kapitän eines seine
Flagge führenden Schiffes (…) jeder Person, die
auf See in Lebensgefahr angetroffen wird, Hilfe zu
leisten;
Insofern muss es sehr verwundern, dass wir einen An-
trag kontrovers debattieren, der im Kern schlicht und
einfach die Einhaltung der völkerrechtlichen Pflicht zur
Seenotrettung einfordert, mithin eine unstrittige rechts-
staatliche Grundwahrheit.
Das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen
spricht von mindestens 2 000 Menschen, die in diesem
Jahr bereits im Mittelmeer auf der Flucht ertrunken sind.
Das Bundesministerium des Innern geht von etwa
50 000 – wie es dort heißt – Migranten aus, die bis heute
aus Nordafrika über das Mittelmeer nach Europa gekom-
men sind. 9 000 Menschen wurden laut BMI in Seenot
gerettet. Über Fälle, in denen Boote abgedrängt oder
zum Kentern gebracht wurden, wie es immer wieder von
Menschenrechtsorganisationen zu hören ist, liegen dem
Bundesinnenministerium keine Informationen vor. So
jedenfalls wurde im Menschenrechtsausschuss des Bun-
destages berichtet. Aber natürlich kennt auch die Bun-
desregierung die von Nichtregierungsorganisationen ge-
nannten Zahlen, hinter denen Schicksale von Menschen
auf der Flucht stehen, die auf hoher See verhungert, ver-
durstet oder ertrunken sind.
Die „Europäische Agentur für die operative Zusam-
menarbeit an den Außengrenzen“, kurz Frontex genannt,
koordiniert, wie wir wissen, auch die Einsatzkräfte der
EU-Mitgliedstaaten im Mittelmeer. Menschenrechtsor-
ganisationen weisen seit langem auf die – vorsichtig aus-
gedrückt – problematische Rolle hin, die Frontex im
Umgang mit den Flüchtlingen nicht nur im Mittelmeer,
sondern auch an der griechisch-türkischen Grenze spielt.
So behauptet zum Beispiel Human Rights Watch, dass
Frontex eine Mitschuld trage, wenn sie Migranten wis-
sentlich Bedingungen aussetze, die eindeutig gegen in-
ternationale Menschenrechtsstandards verstoßen. Die
EU müsse dringend die Regeln für Frontex-Einsätze ver-
schärfen und sicherstellen, dass zur Verantwortung gezo-
gen wird, wer diese Regeln nicht einhält.
Auf Anfrage heißt es aus dem Bundesinnenministe-
rium zwar, dass Frontex sich nach den einschlägigen
menschenrechtlichen Leitlinien richte, sich an das Ver-
bot einer Ausschiffung von Flüchtlingen halte und auch
das Nonrefoulement-Prinzip achte – also keine Flücht-
linge zwangsweise in Staaten zurückgewiesen werden,
in denen sie unmittelbare existenielle Bedrohung zu be-
fürchten haben. Dennoch scheint man Handlungsbedarf
erkannt zu haben. So plant die EU-Kommission ein Pro-
jekt zur besseren Überwachung der Seesicherheit im
Mittelmeer, an dem 6 Mitgliedstaaten und 37 Behörden
beteiligt sein sollen. Außerdem soll bei Frontex ein
Menschenrechtsforum angegliedert werden, in dem auch
das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen
eine Stimme erhält. Ein Verhaltenskodex in Menschen-
rechtsfragen ist für Frontex geplant, der Sanktionen bei
Verstößen vorsieht. Im Rahmen der gemeinsamen euro-
päischen Asylpolitik will man die Rechtssicherheit bei
Frontex-Einsätzen verstärken.
So weit, so gut. Nur wissen wir aus bitterer Erfah-
rung: Papier ist geduldig. Den geplanten Maßnahmen
der Bundesregierung und der EU-Kommission, mit de-
nen Menschenrechtsverletzungen geahndet und besten-
falls sogar verhindert werden sollen, müssen nicht nur
beschlossen, sondern auch effektiv umgesetzt werden.
Es ist ja nicht so, dass Frontex zentral gesteuerte eigene
Einsatzkräfte hätte. In vielen Fällen handeln Einsatz-
kräfte eines EU-Mitgliedstaates allein und mit Unterstüt-
zung von Frontex. So gibt es zum Beispiel beim Einsatz
„Hermes“ vor Lampedusa im Mittelmeer keine Ret-
tungs- oder Marineschiffe von Frontex. Frontex beteiligt
sich nur an der Finanzierung italienischer Einsatzmittel
und Einsatzkräfte. Lediglich die Maßnahmen an Land
bei der Registrierung der Flüchtlinge und beim soge-
nannten Screening finden unter Beteiligung von Frontex
statt. Auch bei der Luftüberwachung unterstützt Frontex
den Einsatz. Die Maßnahmen auf See entziehen sich
aber der unmittelbaren Kontrolle jedweder EU-Behör-
den. Kurz: Ohne ein funktionierendes Kontrollregime
bleibt ein Verhaltenskodex und Menschenrechtsforum
für Frontex ein Papiertiger.
Wie wenig die geplanten Maßnahmen zur Überwa-
chung der Seenotrettung auf EU-Ebene einem tatsächli-
chen politischen Durchsetzungswillen folgen, zeigt zu-
gleich ein anderer Aspekt, der – aus welchen Gründen
auch immer – in der Debatte kaum zu hören ist: Die See-
notrettung liegt gar nicht in der Kompetenz des für Fron-
tex zuständigen Innenministeriums, sondern in der des
Bundesverkehrsministeriums. Und hier gibt es weder
eine Koordinierung unter den EU-Mitgliedern noch eine
Initiative, eine solche zu institutionalisieren. Wie also
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15491
(A) (C)
(D)(B)
soll ein Verhaltenskodex für den Umgang mit Flüchtlin-
gen im Mittelmeer umgesetzt und kontrolliert werden,
wenn es in der Europäischen Gemeinschaft überhaupt
keine Koordinierung der Seenotrettung gibt?
Es ist überhaupt keine Frage, dass die EU angesichts
der Flüchtlinge aus Nordafrika vor sehr großen Heraus-
forderungen steht. Einfache Antworten und Lösungen
der Probleme wird es hier nicht geben. Aber es verbietet
sich auch nur der Gedanke, potenzielle Flüchtlinge vor
ihrem Weg nach Europa abzuschrecken, indem man un-
ter anderem tatenlos zusieht, wie Tausende Menschen
auf hoher See ertrinken.
Gerade darum geht es in dem Antrag, den wir hier
einstimmig beschließen sollten. Es geht darum, alles uns
Mögliche in die Wege zu leiten, um das Sterben auf ho-
her See zu beenden. Dazu bedarf es einer Koordinierung
der EU-Staaten bei der Seenotrettung, einer rechtlichen
Regelung für Seenotrettende, einer finanziellen Unter-
stützung für die EU-Mitgliedstaaten an den Seegrenzen,
und schließlich brauchen wir dringend eine gemeinsame
europäische Asylpolitik, um humanitäre Antworten auf
die drängende Flüchtlingsfrage zu finden.
Deshalb kann die Ablehnung des Antrages durch
CDU/CSU und FDP auf nichts anderes als Unverständ-
nis stoßen, gerade auch weil die offiziellen Begründun-
gen für ihr Votum wenig zielführend sind. Ausschuss für
Menschenrechte und Humanitäre Hilfe im Deutschen
Bundestag hätte die geschlossene Unterstützung eines
solch genuin humanitären Antrags mit Forderungen an
die Bundesregierung gut zu Gesicht gestanden.
Serkan Tören (FDP): Das Parlament beschäftigt
sich in der heute vorliegenden Beschlussempfehlung mit
dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zum
Thema „Seenotrettung im Mittelmeer konsequent durch-
setzen und verbessern“. In ihrem Antrag fordert die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Bundesregierung
zu Folgendem auf: eine völkerrechtliche Pflicht zur See-
notrettung im Mittelmeerraum innerhalb der Europäi-
schen Union konsequent durchzusetzen.
Wenn das Thema nicht so ernst, so emotional bewe-
gend und so sensibel wäre, könnte berechtigterweise ge-
fragt werden, was Rot-Grün in den Jahren 1998 bis 2005
im Bereich der Seenotrettung im Mittelmeer bewegt hat.
Denn die Flüchtlingsströme über das Mittelmeer gibt es
ja nicht erst seit der Regierungsübernahme der christ-
lich-liberalen Koalition im Jahr 2009, auch wenn die mi-
litärischen Handlungen in Libyen aus jüngster Zeit resul-
tieren. Es war Bundesinnenminister Otto Schily, der
noch im Jahr 2004 unter Rot-Grün forderte: Wir brau-
chen Auffanglager in Afrika. Er sagte: „Afrikas Pro-
bleme müssen in Afrika gelöst werden.“ Wie zynisch
und selbstgerecht ist es nun von den Grünen, die aktuelle
christlich-liberale Bundesregierung für das eigene Versa-
gen von 1998 bis 2005 verantwortlich zu machen.
Jetzt in der Opposition, sehr geehrte Damen und Her-
ren von den Grünen, fordern Sie lautstark Reformen be-
züglich der Seenotrettung im Mittelmeer. In Ihren eige-
nen sieben Jahren Regierungszeit haben Sie in dieser
Hinsicht nichts getan und vollkommen versagt.
Mit erschütternder Regelmäßigkeit erreichen uns dra-
matische Nachrichten von Flüchtlingen, die auf dem
Weg nach Europa im Mittelmeer Schiffbruch erleiden
und umkommen. Die schwierige Situation in Nordafrika
und die Hoffnung auf Verbesserung der eigenen wirt-
schaftlichen Lage treibt viele Personen, besonders junge,
dazu, eine von Strapazen gekennzeichnete Reise zu un-
ternehmen, um von dort aus die Seereise in die EU anzu-
treten. Auf ihrem langen Weg sind diese Menschen oft
korrupten Beamten ausgeliefert und müssen sich für den
Transfer über das Meer nach Europa in die Hände von
skrupellosen Menschenschleppern begeben. Um der
Verhaftung zu entgehen, zwingen diese Schlepper die
Flüchtlinge regelmäßig, noch vor Erreichen der europäi-
schen Küste ins Meer zu springen und die restliche Stre-
cke zum rettenden Land schwimmend zurückzulegen.
Für viele Flüchtlinge endet diese letzte Etappe tödlich.
In anderen Fällen erweisen sich die Boote schon wäh-
rend Überfahrt als nicht seetüchtig, sodass die Menschen
an Bord Schiffbruch erleiden.
Wir dürfen nicht außer Acht lassen: Kriminelle
Schleuser locken Menschen aus Geldgier mit falschen
Versprechungen nach Europa. Wir dürfen nicht die Au-
gen davor verschließen: Solche Schlepperbanden neh-
men sogar den Tod der Verschleppten auf See billigend
in Kauf. Wenn sich Menschen, durch falsche Verspre-
chungen verlockt, selbst in Gefahr bringen, etwa auf
See, dann ist Seenotrettung zwar notwendig, aber keine
Ursachenbekämpfung. Vielmehr muss sowohl in den
Herkunftsländern der Migranten als auch in der EU da-
rauf hingewirkt werden, dass solche Tragödien gar nicht
erst stattfinden.
Nun zu dem Antrag: Im Großen und Ganzen lehnt die
FDP-Bundestagsfraktion den Antrag der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen ab. Der Antrag enthält zwar einzelne
Punkte, denen man zustimmen kann. Es gibt aber aus
Sicht der Liberalen im Wesentlichen zu viele kritische
Aspekte.
Zum einen wird in dem Antrag verlangt, eine europa-
rechtliche Regelung einzuführen, um Seenotrettende vor
Strafverfolgung zu schützen. Dem ist entgegenzuhalten:
Die Thematik der Seenotrettung ist völkerrechtlich gere-
gelt. In europarechtlicher Hinsicht gehört die Seenotret-
tung nicht zu den vergemeinschafteten Bereichen. Hier
ist nationales Handeln vorrangig. Ferner muss auch ge-
fragt werden, wer hier geschützt wird.
Dies ist insofern ein großes Problem, als unklar ist,
wie zwischen Rettern und Schlepperbanden unterschie-
den werden kann. Es besteht folgende Gefahr: Schlep-
perbanden nutzen eine derartige Vorschrift aus, um ih-
rem Geschäft ungestört nachgehen zu können. Es darf
keine Hintertür geöffnet werden, die den Menschen-
händlern das Leben noch einfacher macht. Hier ist des-
halb eine Einzelfallprüfung nötig, ob ein Straftatbestand
vorliegt. Eine pauschale Regelung zur Straflosigkeit ist
aus unserer Sicht keine Lösung. Der Menschenhandel ist
leider heutzutage noch profitabler geworden als der Dro-
genhandel.
Aus unserer Sicht muss die Politik weiterhin in der
Lage sein, im Einzelfall zwischen Flüchtlingen und kri-
15492 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011
(A) (C)
(D)(B)
minellen Schlepperbanden zu differenzieren. Hier for-
dert der Antrag der Grünen de facto eine Blankovoll-
macht und malt zu sehr schwarz-weiß.
Wir müssen für Folgendes sorgen: Vor Ort muss ge-
holfen werden, damit die Menschen sich nicht genötigt
sehen, ihre Heimat zu verlassen. Sie brauchen Perspekti-
ven im eigenen Land.
Seit Jahresbeginn sind 57 000 Migrationsbewegungen
festgestellt worden: zunächst junge, männliche Tunesier,
derzeit Personen aus Libyen, Eritrea, Äthopien und dem
Tschad.
In über 9 000 Fällen hat Frontex Seenothilfe geleistet.
Deutschland hat sich mit zwei seenotrettungstauglichen
Helikoptern an der Mission beteiligt und zeitweilig auch
Personal zur Identitätsfeststellung mutmaßlicher Flücht-
linge nach Lampedusa entsandt. Dieses Angebot hält die
Bundesregierung aufrecht, auch wenn es zurzeit nicht
abgerufen wird.
Die von der Opposition genannten Kritikpunkte sind
für uns nicht unbedingt an den Fakten orientiert. Das es
angeblich glaubwürdige Berichte gibt, wonach Frontex
durch Abdrängmanöver Schiffe zum Kentern gebracht
hat, ist für uns nicht verifizierbar. Insgesamt darf die
Frontex-Mission auch nicht als Allheilmittel missver-
standen bzw. als Alleinverantwortlich verteufelt werden,
wie in dem Antrag der Grünen leider geschehen. Frontex
wird in erster Linie im Bereich des Grenzschutzes tätig.
Im Rahmen des kommenden EU-Ministerrates wird
allerdings eine zusätzliche Verordnung erlassen werden.
Diese bildet dann die Grundlage für die Schaffung eines
Menschenrechtsbeauftragten durch den Frontex/Verwal-
tungsrat. Auch werden durch die kommende Verordnung
zahlreiche menschenrechtsrelevante Standards verbind-
lich. Zur Kontrolle von Frontex ist zu sagen: Hier hat das
Beispiel der Grenzmission Griechenland-Türkei gezeigt:
Allein die Anwesenheit und Berichterstattung deutscher
Bundespolizisten führt zu einer Erhöhung von Men-
schenrechtsstandards im Bereich grenzpolizeilicher
Maßnahmen. Die Rettung Schiffbrüchiger ist ein wichti-
ges Anliegen. Die Forderung der Grünen, dies jederzeit
für das gesamte Mittelmeer zu leisten, ist allerdings
schlichtweg unrealistisch.
Lassen Sie mich zum Abschluss aufgrund der Aktua-
lität der Libyen-Krise noch Folgendes sagen, was die
Definition des Begriffes „Seenotrettung“ angeht: Aus
unserer Sicht ist ein Seenotfall anzunehmen, wenn der
Kapitän eines in Not geratenen Bootes oder Schiffes ei-
nen entsprechenden Notruf absetzt bzw. wenn erkennbar
ist, dass sich Personen auf See in Lebensgefahr bzw. in
Seenot befinden.
Völkerrechtlich besteht hier für die Schifffahrt die
Pflicht zur Hilfeleistung. Gesetzlich verankert ist dies im
Art. 98 Abs. 1 des UN-Seerechtsübereinkommens. Im
Falle von Seenot auf der hohen See ist der Kommandant
eines Schiffes, das sich vor Ort befindet, verpflichtet, al-
les Notwendige zur Rettung von Schiffbrüchigen zu ver-
anlassen, soweit keine unvertretbare Gefährdung eigener
Kräfte besteht. Wenn er in sonstiger Weise von einem
Hilfsbedürfnis Kenntnis erhält, eilt er Personen in See-
not zu Hilfe, wenn dies vernünftigerweise von ihm
erwartet werden kann. Es gelten die durch die Internatio-
nale Seeschifffahrts-Organisation, IMO, festgelegten
Standards auch für Kriegsschiffe.
Folgendes muss aus unserer Sicht im konkreten Fall in
Bezug auf Libyen beachtet werden: Ein Arbeitsüberein-
kommen zur Zusammenarbeit zwischen der NATO und
Frontex besteht nicht. Bei den im Rahmen der Frontex
eingesetzten Schiffen zur Seegrenzüberwachung handelt
es sich bis dato ausschließlich um Schiffe der italieni-
schen Behörden. Diese unterliegen in Fällen von Seenot
ebenfalls dem UN-Seerechtsübereinkommen. Darüber
hinaus gilt die Ergänzung des Schengener Grenzkodexes,
die sogenannte Frontex Leitlinie. Diese enthält verbindli-
che Vorschriften für das Abfangen und den Aufgriff von
Schiffen bzw. Booten sowie Leitlinien für die Durchfüh-
rung von Such- und Rettungsmaßnahmen an den See-
grenzen.
Neben der Beachtung der Pflicht zur Hilfeleistung auf
See unterliegt Deutschland als Nichtanrainer-Staat im
Mittelmeer keinen weitergehenden Pflichten zur Verbes-
serung der Seenotrettung. Da sich die Bundesrepublik
Deutschland im Mittelmeer nicht an der NATO-Opera-
tion mit Seekriegsmitteln, Schiffen, Booten beteiligt,
wurden seitens der Bundesregierung auch insoweit keine
speziellen Maßnahmen initiiert.
Abschließend ist daher zu sagen: Die FDP-Bundes-
tagsfraktion begrüßt, dass die Koordination auf EU-
Ebene funktioniert und darüber hinaus weiter verbessert
wird. Die neuen Frontex-Regeln, wie etwa die Einset-
zung eines Frontex-Grundrechtebeauftragten, werden in
Kürze in Kraft treten.
Annette Groth (DIE LINKE): Was sich seit Jahren
an den Außengrenzen der Europäischen Union abspielt,
ist ein moralischer Skandal. Die humanitären Katastro-
phen vor den Grenzen der „Festung Europa“ haben wir
mit unserer Politik zu verantworten. Die „Festung
Europa“ wurde unter rot-grüner Bundesregierung maß-
geblich fortentwickelt und heute unter schwarz-gelber
Bundesregierung weiter aufgerüstet. Diese „Festungs-
politik“ hat eine legale Einreise für Migrantinnen und
Migranten in die EU faktisch unmöglich gemacht.
Die Politik der Abschottung zwingt Menschen, sich
menschenverachtenden Schleuserbanden zuzuwenden,
welche die Not der Menschen ausnutzen und sie auf see-
untüchtigen Booten zusammenpferchen. Bei der Diskus-
sion über Schleuser dürfen wir jedoch nicht Ursache und
Folgen verwechseln. Ursache der zunehmenden Schleu-
sertätigkeiten an den EU-Außengrenzen ist die EU-Poli-
tik der Abschottung.
Ich möchte daran erinnern, dass es die rot-grüne
Regierung war, die Frontex maßgeblich zur heutigen
Flüchtlingsabwehragentur aufgerüstet hat. Das zeigt sich
auch deutlich an der Grundausrichtung des Antrags von
Bündnis 90/Die Grünen: Ich vermisse in dem Antrag
eine grundsätzliche Kritik an Frontex! Alleine in den
Jahren 2009 bis 2011 liegt das Budget für die EU-Grenz-
schutzagentur Frontex bei jährlich etwa 88 Millionen
Euro. Human Rights Watch hat in seinem kürzlich vor-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15493
(A) (C)
(D)(B)
gelegten Bericht darauf hingewiesen, dass die Frontex-
Behörde Migrantinnen und Migranten unmenschlicher
und erniedrigender Behandlung aussetzt. Die Linke for-
dert, die Ausrichtung der Aufgaben von Frontex grund-
sätzlich zu verändern.
Ebenfalls fehlt in dem Antrag eine scharfe Kritik an
der Untätigkeit der NATO-Stellen, die das Mittelmeer
lückenlos überwachen. Der Antrag greift daher in eini-
ger Hinsicht zu kurz.
Die Fraktion Die Linke unterstützt im Grundsatz eine
Ausweitung der Seenotrettung. Von den Staaten der Eu-
ropäischen Union fordern wir, großflächige Kapazitäten
für die Rettung von Menschen im Mittelmeer zur Verfü-
gung zu stellen. Die Argumentation, dass hierdurch der
angebliche „Flüchtlingsstrom nach Europa“ zunehmen
würde, ist nicht nur zynisch, sondern auch falsch. Das
hat mit der Realität der Flüchtlingszahlen nichts zu tun.
Im Jahr 2010 gab es etwa 44 Millionen Flüchtlinge.
Das waren ungefähr 400 000 mehr als im Jahr 2009.
Über 80 Prozent aller Flüchtlinge waren Binnenflücht-
linge oder Menschen, die in die direkten Nachbarländer
flohen. Nur jeder fünfte Flüchtling schaffte es in die westli-
chen Industrieländer. 2010 lebten die meisten Flüchtlinge
in Pakistan – 1,9 Millionen –, im Iran – 1,1 Millionen –
und in Syrien – 1,0 Millionen –. In Deutschland leben
zurzeit knapp 600 000 Flüchtlinge. Also sind es die ar-
men Länder des Südens, die den Großteil der Flücht-
lingsbewegungen aufgenommen haben!
In einem neuen Positionspapier beklagt Amnesty die
völlig ungenügende Bereitschaft der meisten europäi-
schen Länder, die etwa 5 000 Flüchtlinge aufzunehmen,
die aufgrund der Kämpfe aus Libyen fliehen mussten.
Die Antwort der EU fiel, wie zu erwarten, bisher sehr
zögerlich aus: Neben den USA, Australien und Kanada
haben sich nur acht europäische Länder zur Aufnahme
von insgesamt lediglich 800 Menschen bereit erklärt.
Die Europäische Union baut immer höhere Mauern
zur Abwehr von Flüchtlingen auf. Menschen werden
ganz bewusst im Stich gelassen und müssen qualvoll im
Mittelmeer ertrinken. Alleine in diesem Jahr sind mehr
als 2 000 Menschen ertrunken, als sie versuchten, in die
Europäische Union zu gelangen. Die Gemeinschaft der
europäischen Staaten schaut hier bewusst weg.
Am 20. September brach im Zuge von Protesten ein
Brand in einem überfüllten Flüchtlingslager auf der ita-
lienischen Insel Lampedusa aus. Der UNHCR erklärte
hierzu, der Brand sei die Folge der wachsenden Span-
nungen unter den Flüchtlingen, die zu lange in haftähn-
lichen Bedingungen in den übervollen Lagern festge-
halten werden. Mehrere Hundert minderjährige
unbegleitete Flüchtlinge leben zurzeit unter unzumutba-
ren Bedingungen auf Lampedusa, manche bereits seit
über sechs Wochen. An der griechisch-türkischen Land-
grenze werden aufgegriffene Migrantinnen und Migran-
ten in völlig überfüllte, menschenunwürdige Haftzentren
überstellt. Diese Bilder sollen abschrecken und Men-
schen davon abhalten, um Hilfe in der EU zu bitten.
Diese menschenunwürdige Behandlung ist ein Armuts-
zeugnis für Europa und seine humanitären Grundsätze!
Genau hier muss eine effektive und humane Flücht-
lingspolitik in der Europäischen Union beginnen. Die
Fraktion Die Linke fordert auch seit vielen Jahren eine
solidarische Flüchtlingspolitik für die Europäische
Union. Staaten, die an der Außengrenze der EU liegen,
dürfen wir nicht alleine lassen.
Wir wollen, dass Kapitäne und Schiffsbesatzungen
verpflichtet werden, Menschen in Not zu helfen. Das in-
ternationale Recht muss so weiterentwickelt werden,
dass Kapitäne, die Menschen in Seenot nicht helfen, sich
für ihr Verhalten strafrechtlich verantworten müssen.
Unterlassene Hilfeleistung auf See muss ein schwerwie-
gender Straftatbestand sein.
Der im Antrag der Grünen eingebrachte Vorschlag,
Schiffe, die Menschen in Seenot helfen, dafür eventuell
auch zu entschädigen, ist intensiv zu prüfen. Gleichzeitig
zeigt dieser Vorschlag auch die gesamte Perversität der
heutigen Diskussion um die Seenotrettung auf: Menschen
in Seenot werden deshalb im Stich gelassen, weil hier-
durch wirtschaftliche Interessen berührt sind und even-
tuell zusätzliche Kosten für die Reedereien entstehen.
Der Tod von Menschen auf hoher See wird also be-
wusst in Kauf genommen, weil hierdurch die wirtschaft-
lichen Gewinne von Reedereien geringer ausfallen könn-
ten! Das ist eine wahrhaft traurige Bilanz für unsere
humanitären Grundsätze. Hier müssen wir endlich um-
denken und zu einer menschlicheren Politik finden.
Stattdessen erleben wir sogar, dass Kapitäne, die
Menschen auf See retten, wegen angeblicher Schleppe-
rei angeklagt werden. Der Prozess gegen den ehemali-
gen Cap-Anamur-Vorsitzenden, Elias Bierdel, hat welt-
weit für Schlagzeilen gesorgt.
Auch der Fall des Fischers Zenzeri, der am 8. August
2007 auf ein kaputtes Schlauchboot mit 44 Flüchtlingen
aus dem Sudan, Eritrea, Äthiopien, Marokko, Togo und
der Elfenbeinküste stieß, ist ein Skandal. Die Tageszei-
tung berichtet, dass das kaputte Boot bei schwerer See
manövrierunfähig in maltesischen Hoheitsgewässern
trieb. Der Fischer tat das einzig Richtige: Er entschied,
dass das Boot, auf dem auch zwei Kinder, eines von ih-
nen behindert, und zwei schwangere Frauen waren, so
schnell wie möglich an Land musste. Nachdem die
Fischer SOS abgesetzt hatten, schickten die italienischen
Behörden kein Boot zur Hilfe, sondern eine Patrouille
der italienischen Küstenwache. Für diese Hilfe wurde
dem Fischer sein Schiff abgenommen, und heute steht er
vor Gericht mit einer Anklage wegen Schlepperei. Das
ist unfassbar!
Solche Anklagen müssen in Zukunft unmöglich sein.
Die Rettung von Schiffbrüchigen muss als oberstes Ziel
und verbindliche Verpflichtung in den internationalen
Abkommen, aber auch in den Rechtssystemen der Mit-
gliedstaaten der EU festgeschrieben werden.
Die Linke begrüßt, dass mit dem Antrag von
Bündnis 90/Die Grünen die überfällige und notwendige
Debatte über den Schutz von Flüchtlingen durch die
Staaten der EU in Gang gekommen ist. Dieser Antrag
muss jedoch weiterentwickelt werden, damit wir endlich
zu einer Flüchtlingspolitik finden, die Menschen in Not
und auf der Flucht nicht mehr als Last begreift. Die Hilfe
(A) (C)
(D)(B)
für solche Menschen muss zu einem wesentlichen Be-
standteil des humanitären Handelns von Staaten und
Staatengemeinschaften werden.
Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Seit
Januar 2011 haben nach Angaben des UN-Flüchtlings-
hilfswerkes 2 000 Menschen auf ihrer Flucht vor Men-
schenrechtsverletzungen, Gewalt und Armut ihr Leben
im Mittelmeer verloren. In Anbetracht dieser Todesfälle
ist es vollkommen unverständlich, wenn nun die Regie-
rungsfraktionen unseren Antrag zur Seenotrettung mit
der Begründung ablehnen möchten, es gebe bereits Ver-
besserungen, und es müsse nichts mehr getan werden.
Wenn Tausende Menschen vor den Küsten Europas er-
trinken, ist der Handlungsbedarf doch offensichtlich. Die
Bundesregierung sollte sich in dieser humanitären Kata-
strophe drei zentrale Prinzipien einer menschenrechtlich
vertretbaren Flüchtlingspolitik in Erinnerung rufen.
Erstens. Die Rettung von Menschenleben hat oberste
Priorität. Deshalb fordern wir in unserem Antrag die
Bundesregierung auf, die Seenotrettung im Mittelmeer
gemeinsam mit anderen EU-Mitgliedstaaten zu verbes-
sern. Die Ursachen der Schiffsunglücke sind nicht auf
ein lückenhaftes völkerrechtliches Regelwerk zurückzu-
führen, sondern vielmehr auf die mangelnde Durchset-
zung der bereits bestehenden seerechtlichen Verpflich-
tungen. Die derzeitige Situation ist humanitär und
menschenrechtlich unhaltbar. Da es kaum noch Mög-
lichkeiten gibt, die EU auf legalem und sicherem Weg zu
erreichen, gehen Flüchtlinge lebensgefährliche Risiken
ein, um Schutz in Europa zu finden. Es muss ein sicherer
Korridor geschaffen werden, der das Überleben der
Flüchtlinge sichert. Europäische Maßnahmen dürfen
nicht mit dem Schutz der Grenzen und dem Verbarrika-
dieren der „Festung Europa“ beginnen. Es geht zualler-
erst um den Schutz von Leib und Leben der Flüchtlinge
an der Grenze.
Es ist für Europa als Ganzes unwürdig, dass mit Fron-
tex zwar eine sehr effiziente Agentur zum Schutz der
Grenzen gefunden wurde, es aber keine europäische In-
stitution gibt, die das Mittelmeer in der Frage der
Seenotrettung sichert. Die Rettung von Menschenleben
als oberste Priorität nicht zu erkennen, ist eine Katastro-
phe. Die Europäische Union mit ihrem Wertekanon und
Deutschland mit seinem Grundgesetz können es sich
nicht leisten, sehenden Auges die Menschen zu Tausen-
den im Mittelmeer ertrinken zu lassen. Europa muss sich
entscheiden, der Tragödie zuzusehen oder zu helfen.
Wenn wir jetzt nicht handeln, werden uns nachfolgende
Generationen zu Recht vorwerfen, dass Deutschland
zwar die Menschenrechte weltweit gepredigt, beim
Drama im Mittelmeer aber tatenlos zugesehen hat.
Zweitens. Die Flüchtlingsfrage ist keine nationale,
sondern eine europäische Angelegenheit. Die Präambel
der Genfer Flüchtlingskonvention betont nicht ohne
Grund, dass eine befriedigende Lösung nur durch eine
Zusammenarbeit der Staaten erreicht werden kann. Hu-
manitäre Pflichten, die mit der Aufnahme von Flüchtlin-
gen einhergehen, dürfen nicht allein den Ländern des
Südens überlassen bleiben. Deutschland trägt Mitverant-
wortung für das, was in anderen EU-Mitgliedstaaten und
was im Mittelmeer geschieht. Am 21. Januar 2011 hat
Offsetdruc
sellschaft mbH, Postfach 10 05 34, 50445 Kö
der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Be-
dingungen in griechischen Flüchtlingslagern als men-
schenunwürdig und erniedrigend verurteilt. Laut Human
Rights Watch tragen Frontex und beteiligte EU-Mit-
gliedstaaten, darunter auch Deutschland, eine Mitschuld
an den Menschenrechtsverletzungen, da sie Flüchtlinge
wissentlich menschenunwürdigen Bedingungen ausset-
zen. Jetzt haben auch Unionspolitiker nach ihrer Reise
nach Griechenland erkannt, dass die Situation men-
schenrechtlich untragbar ist. Die entscheidende Frage
aber bleibt, ob die Bundesregierung die richtigen Konse-
quenzen aus dieser Erkenntnis zieht. Hierzu gehört, die
Aussetzung von Rückführungen nach der Dublin-II-Ver-
ordnung nach Griechenland auf unbefristete Zeit zu ver-
längern.
Außerdem sollte die Bundesregierung ihre Blockade-
haltung gegenüber einem einheitlichen europäischen
Asylsystem aufgeben. Gemeinsame Regeln für die Bear-
beitung von Asylanträgen und einheitliche Aufnahmebe-
dingungen sind unbedingt notwendig. 2009 lag die
Wahrscheinlichkeit, dass ein Iraker Asyl erhielt, in
Frankreich bei 82 Prozent, in Griechenland nur bei
2 Prozent. Insgesamt sollte für Flüchtlinge an den EU-
Außengrenzen eine europäische Lösung gefunden wer-
den, die allen Menschenrechtsnormen gerecht wird.
Dazu gehört auch eine solidarische Verteilung der
Flüchtlinge innerhalb Europas. Die Bundesregierung be-
ruft sich immer noch auf die Dublin-II-Verordnung. Das
ist für Deutschland ohne EU-Außengrenzen bequem,
sieht aber keine gerechte Teilung der Verantwortung vor.
Drittens sollten wieder alle Staaten eng mit dem Ho-
hen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen zu-
sammenarbeiten. Hierzu gehört die finanzielle Unter-
stützung seiner Arbeit, zum Beispiel bei der
Bewältigung der humanitären Katastrophe am Horn von
Afrika, aber auch die Aufnahme von einer bestimmten
Anzahl von Flüchtlingen. Der UNHCR hat Bundesin-
nenminister Hans-Peter Friedrich am 15. März 2011 ge-
beten, die dauerhafte Neuansiedlung von Flüchtlingen
aus Libyen in Deutschland zu ermöglichen. Das UN-
Flüchtlingshilfswerk sucht 8 000 solcher Resettlement-
Plätze für Flüchtlinge aus Eritrea, Somalia, Äthiopien
und dem Sudan. Diese können weder nach Libyen noch
in ihre Heimatländer zurückkehren. Weltweit stehen bis-
her nur 900 Plätze zur Verfügung. Ägypten und Tunesien
tragen weiterhin die Hauptverantwortung bei der Auf-
nahme der Flüchtlinge aus Libyen. Weniger als 1 Pro-
zent dieser Flüchtlinge sind nach Europa gelangt. Die
abschlägige Antwort der Bundesregierung ist daher beson-
ders beschämend. Und sie steht im Widerspruch zur Genfer
Flüchtlingskonvention, die Staaten zur Kooperation mit
dem UNHCR verpflichtet. Deutschlands Einsatz für einen
demokratischen Wandel und einen besseren Schutz der
Menschenrechte in Nordafrika muss auch die Bereitschaft
zur Aufnahme von Menschen einschließen, die durch den
Konflikt in Libyen ihre Zuflucht verloren haben.
Mit der Umsetzung dieser drei Prinzipien kämen wir
den Grundwerten einer menschenwürdigen Flüchtlings-
politik ein Stück näher. Es ist ein Gebot der Menschlich-
keit, Flüchtlinge zu retten. Europa muss sich dieser Ver-
antwortung stellen. Ich bitte Sie daher, unserem Antrag
zur Seenotrettung zuzustimmen.
15494 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011
kerei, Bessemerstraße 83–91, 1
ln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de
22
130. Sitzung
Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011
Inhalt:
Redetext
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Anlage 1
Anlage 2
Anlage 3
Anlage 4
Anlage 5
Anlage 6
Anlage 7
Anlage 8
Anlage 9
Anlage 10
Anlage 11
Anlage 12
Anlage 13
Anlage 14