Protokoll:
17130

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 17

  • date_rangeSitzungsnummer: 130

  • date_rangeDatum: 29. September 2011

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: None Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 21:10 Uhr

  • account_circleMdBs dieser Rede
  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 17/130 b) Beschlussempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP: Par- lamentsrechte im Rahmen zukünftiger europäischer Stabilisierungsmaßnah- men sichern und stärken (Drucksachen 17/6945, 17/7067, 17/7130) . Volker Kauder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Peer Steinbrück (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rainer Brüderle (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Hermann Otto Solms (FDP) . . . . . . . . . . . Norbert Barthle (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Namentliche Abstimmung . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sahra Wagenknecht (DIE LINKE) (Erklärung nach § 31 GO) . . . . . . . . . . . . . Andrej Hunko (DIE LINKE) (Erklärung nach § 31 GO) . . . . . . . . . . . . . Sevim Dağdelen (DIE LINKE) (Erklärung nach § 31 GO) . . . . . . . . . . . . . Dr. Diether Dehm (DIE LINKE) 15204 A 15204 C 15206 C 15210 D 15213 C 15216 D 15218 D 15231 B 15232 B 15234 A 15236 C 15234 D 15235 D 15239 A Deutscher B Stenografisc 130. Si Berlin, Donnerstag, de I n h a Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Absetzung des Tagesordnungspunktes 31 . . . Nachträgliche Ausschussüberweisung . . . . . . Tagesordnungspunkt 3: a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än- derung des Gesetzes zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen ei- nes europäischen Stabilisierungsmecha- nismus (Drucksachen 17/6916, 17/7067, 17/7130) 15203 A 15203 D 15203 D 15204 A Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Schlecht (DIE LINKE) . . . . . . . . 15219 D 15221 C undestag her Bericht tzung n 29. September 2011 l t : Carsten Schneider (Erfurt) (SPD) . . . . . . . . . Dr. Philipp Rösler, Bundesminister BMWi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hubertus Heil (Peine) (SPD) . . . . . . . . . . . . . Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Philipp Rösler, Bundesminister BMWi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU) . . . . . . . . . Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gerda Hasselfeldt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Dr. Barbara Hendricks (SPD) . . . . . . . . . . Frank Schäffler (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15222 A 15224 A 15225 B 15225 C 15225 D 15226 A 15227 A 15227 D 15228 C 15230 A (Erklärung nach § 31 GO) . . . . . . . . . . . . Inge Höger (DIE LINKE) (Erklärung nach § 31 GO) . . . . . . . . . . . . . . 15239 D 15240 C II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 Heidrun Dittrich (DIE LINKE) (Erklärung nach § 31 GO) . . . . . . . . . . . . . Michael Schlecht (DIE LINKE) (Erklärung nach § 31 GO) . . . . . . . . . . . . . Kathrin Vogler (DIE LINKE) (Erklärung nach § 31 GO) . . . . . . . . . . . . . Annette Groth (DIE LINKE) (Erklärung nach § 31 GO) . . . . . . . . . . . . . Heike Hänsel (DIE LINKE) (Erklärung nach § 31 GO) . . . . . . . . . . . . . Sabine Leidig (DIE LINKE) (Erklärung nach § 31 GO) . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 4: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Arbeit und Soziales – zu dem Antrag der Abgeordneten Anette Kramme, Gabriele Lösekrug-Möller, Iris Gleicke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Langfristige Perspek- tive statt sachgrundlose Befristung – zu dem Antrag der Abgeordneten Jutta Krellmann, Klaus Ernst, Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Befristung von Arbeitsver- hältnissen eindämmen – zu dem Antrag der Abgeordneten Brigitte Pothmer, Beate Müller-Gemmeke, Fritz Kuhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Kein Sachgrund, keine Befristung – Be- fristete Arbeitsverträge begrenzen (Drucksachen 17/1769, 17/1968, 17/2922, 17/4180) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU) . . . . . . . . . Klaus Barthel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . Petra Ernstberger (SPD) (zur Geschäftsordnung) . . . . . . . . . . . . . . . Bernhard Kaster (CDU/CSU) (zur Geschäftsordnung) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) (zur Geschäftsordnung) . . . . . . . . . . . . . . . Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulrich Lange (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Ottmar Schreiner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP) . . . . . . 15241 A 15241 C 15242 B 15243 A 15243 C 15244 D 15245 A 15245 C 15246 D 15248 B 15249 C 15250 C 15251 C 15251 D 15252 A 15253 C 15254 C 15256 A 15258 B Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Jutta Krellmann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU) . . . . . . . . Jutta Krellmann (DIE LINKE) . . . . . . . . . Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Stefan Rebmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Sebastian Blumenthal (FDP) . . . . . . . . . . . . . Gitta Connemann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 34: a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zum Vorschlag für eine Verordnung über die elektronische Fassung des Amtsblatts der Europäischen Union (Drucksache 17/7144) . . . . . . . . . . . . . . . b) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Abkommen vom 25. Novem- ber 2010 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Fürstentum An- dorra über den Informationsaustausch in Steuersachen (Drucksache 17/7145) . . . . . . . . . . . . . . . c) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Abkommen vom 19. Okto- ber 2010 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Antigua und Bar- buda über den Informationsaustausch in Steuersachen (Drucksache 17/7146) . . . . . . . . . . . . . . . d) Antrag der Abgeordneten Tankred Schipanski, Albert Rupprecht (Weiden), Michael Kretschmer, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Martin Neumann (Lausitz), Dr. Peter Röhlinger, Patrick Meinhardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Potenziale der Ein- richtungen des Bundes mit Ressortfor- schungsaufgaben stärken (Drucksache 17/7183) . . . . . . . . . . . . . . . e) Antrag der Abgeordneten Agnes Malczak, Ute Koczy, Kerstin Müller (Köln), weite- rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Zivilpersonal in Konflikten besser betreuen (Drucksache 17/7191) . . . . . . . . . . . . . . . 15259 B 15260 B 15261 C 15262 D 15264 D 15265 B 15266 B 15267 D 15268 D 15270 C 15271 C 15271 C 15271 C 15271 D 15272 A Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 III in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 2: a) Antrag der Abgeordneten Omid Nouripour, Ute Koczy, Undine Kurth (Quedlinburg), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Natur- landschaft Senne schützen – Militäri- sche Nutzung des Truppenübungsplatzes nach Abzug der Briten beenden (Drucksache 17/4555) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Dr. Harald Terpe, Birgitt Bender, Maria Klein- Schmeink, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Wirksame Strukturreformen für eine patientenorientierte Gesundheitsver- sorgung auf den Weg bringen (Drucksache 17/7190) . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 35: a) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrach- ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- kommen vom 21. Oktober 2010 zwi- schen der Bundesrepublik Deutschland und dem Großherzogtum Luxemburg über die Erneuerung und die Erhaltung der Grenzbrücke über die Mosel zwi- schen Wellen und Grevenmacher (Drucksachen 17/6615, 17/7092) . . . . . . . b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Agrarstatistikgesetzes (Drucksachen 17/6642, 17/7192) . . . . . . . c) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Seesicherheits-Untersuchungs-Gesetzes (Drucksachen 17/6334, 17/7193) . . . . . . . d) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses: zu dem Streitverfah- ren vor dem Bundesverfassungsgericht 2 BvL 4/10 (Drucksache 17/7035) . . . . . . . . . . . . . . . . e) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu der Verordnung der Bundesregierung: Erste Verordnung zur Änderung der Deponieverordnung (Drucksachen 17/6641, 17/7066) . . . . . . . f) – n) Beratung der Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses: Sammelübersich- 15272 A 15272 A 15272 B 15272 C 15272 D 15273 A 15273 A ten 309, 310, 311, 312, 313, 314, 315, 316 und 317 zu Petitionen (Drucksachen 17/7036, 17/7037, 17/7038, 17/7039, 17/7040, 17/7041, 17/7042, 17/7043, 17/7044) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 3: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD: Steuerabkommen mit der Schweiz und damit zusammenhängende Fragen der Steuergerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joachim Poß (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Dr. Volker Wissing (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Olav Gutting (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Norbert Walter-Borjans, Minister (Nordrhein-Westfalen) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Birgit Reinemund (FDP) . . . . . . . . . . . . . Martin Gerster (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Peter Aumer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Lothar Binding (Heidelberg) (SPD) . . . . . . . . Bettina Kudla (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Nicolette Kressl (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ralph Brinkhaus (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 5: – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP einge- brachten Entwurfs eines Neunzehnten Gesetzes zur Änderung des Bundes- wahlgesetzes (Drucksache 17/6290) . . . . . . . . . . . . . . . – Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Neunzehnten Gesetzes zur Ände- rung des Bundeswahlgesetzes (Drucksache 17/5895) . . . . . . . . . . . . . . . – Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Halina Wawzyniak, Sevim Dağdelen, Dr. Dagmar Enkelmann, weite- ren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Ge- setzes zur Änderung des Grundgesetzes und zur Reformierung des Wahlrechts (Drucksache 17/5896) . . . . . . . . . . . . . . . 15273 B 15274 B 15274 B 15275 B 15276 D 15278 A 15279 C 15280 D 15281 C 15284 A 15285 B 15286 C 15287 C 15288 D 15289 D 15291 A 15292 A 15292 A 15292 B IV Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 – Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Volker Beck (Köln), Ingrid Hönlinger, Memet Kilic, weiteren Abge- ordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes (Drucksachen 17/4694, 17/7069) . . . . . . . – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung (Drucksache 17/7070) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Günter Krings (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Thomas Oppermann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Stefan Ruppert (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Halina Wawzyniak (DIE LINKE) . . . . . . . . . Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Peter Altmaier (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Gabriele Fograscher (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Jörg van Essen (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Namentliche Abstimmung . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 9: – Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- wärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung der Beteili- gung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der von den Vereinten Nationen ge- führten Friedensmission in Südsudan (UNMISS) auf Grundlage der Resolu- tion 1996 (2011) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vom 8. Juli 2011 (Drucksachen 17/6987, 17/7213) . . . . . . . – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung (Drucksache 17/7216) . . . . . . . . . . . . . . . . Joachim Spatz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christoph Strässer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Philipp Mißfelder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Jan van Aken (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15292 B 15292 C 15292 C 15296 A 15298 C 15300 B 15302 B 15303 D 15305 C 15306 D 15308 A 15309 A 15310 D 15320 A 15311 C 15311 C 15311 D 15312 C 15314 B 15315 B 15316 D 15317 C Jan van Aken (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU) . . . . . . . . . Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jan van Aken (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Namentliche Abstimmung . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 6: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend – zu dem Antrag der Abgeordneten Dorothee Bär, Markus Grübel, Eckhard Pols, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der CDU/CSU sowie der Abgeordne- ten Miriam Gruß, Florian Bernschneider, Dr. Stefan Ruppert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Programme zur Bekämpfung von politischem Extre- mismus weiterentwickeln und stärken – zu dem Antrag der Abgeordneten Sönke Rix, Daniela Kolbe (Leipzig), Petra Crone, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Demokratieoffensive gegen Menschenfeindlichkeit – Zivilge- sellschaftliche Arbeit gegen Rechts- extremismus nachhaltig unterstützen – zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus verstärken – Bun- desprogramme gegen Rechtsextremis- mus ausbauen und verstetigen – zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Arbeit für Demokratie und Menschenrechte braucht Vertrauen – Keine Verdachtskultur in die Projekte gegen Rechtsextremismus tragen – zu dem Antrag der Abgeordneten Monika Lazar, Sven-Christian Kindler, Tom Koenigs, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Dauerauf- gabe Demokratiestärkung – Die Aus- einandersetzung mit rassistischen, anti- semitischen und menschenfeindlichen Haltungen gesamtgesellschaftlich ange- hen und die Förderprogramme des Bun- des danach ausrichten 15318 A 15318 B 15319 B 15319 C 15322 A 15325 D Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 V (Drucksachen 17/4432, 17/3867, 17/3045, 17/4664, 17/2482, 17/5435) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Hermann Kues, Parl. Staatssekretär BMFSFJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sven-Christian Kindler (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sönke Rix (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Florian Bernschneider (FDP) . . . . . . . . . . . . . Petra Pau (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . Monika Lazar (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dorothee Bär (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD) . . . . . . . . . . . Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP) . . . . . . . Dorothee Bär (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Dr. Stefan Ruppert (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Eckhard Pols (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 8: Erste Beratung des von den Abgeordneten Memet Kilic, Josef Philip Winkler, Markus Kurth, weiteren Abgeordneten und der Frak- tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ver- besserung der sozialen Situation von Menschen, die ohne Aufenthaltsstatus in Deutschland leben (Drucksache 17/6167) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Memet Kilic (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Frieser (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Rüdiger Veit (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) . . . . . . . . Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Dr. Peter Tauber (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Rüdiger Veit (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Peter Tauber (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Serkan Tören (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 7: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Feststellung und Anerkennung im Aus- land erworbener Berufsqualifikationen (Drucksachen 17/6260, 17/7218) . . . . . . . 15322 B 15324 A 15324 B 15324 D 15328 A 15329 A 15329 D 15330 D 15332 B 15332 C 15333 A 15334 A 15335 A 15336 D 15337 A 15338 A 15339 C 15340 D 15341 C 15342 C 15344 C 15344 D 15345 B 15346 B b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung – zu dem Antrag der Abgeordneten Marcus Weinberg (Hamburg), Albert Rupprecht (Weiden), Michael Kretschmer, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Heiner Kamp, Patrick Meinhardt, Dr. Martin Neumann (Lausitz), weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Ausländische Bildungsleistun- gen anerkennen – Fachkräftepoten- tiale ausschöpfen – zu dem Antrag der Abgeordneten Swen Schulz (Spandau), Katja Mast, Olaf Scholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Durch Vor- rang für Anerkennung Integration stärken – Anerkennungsgesetz für ausländische Abschlüsse vorlegen – zu dem Antrag der Abgeordneten Sevim Dağdelen, Nicole Gohlke, Agnes Alpers, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Für eine zügige und umfassende Aner- kennung von im Ausland erworbe- nen Qualifikationen – zu dem Antrag der Abgeordneten Krista Sager, Priska Hinz (Herborn), Kai Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Brain Waste stoppen – Anerkennung ausländischer akade- mischer und beruflicher Qualifika- tionen umfassend optimieren – zu dem Antrag der Abgeordneten Agnes Alpers, Sevim Dağdelen, Dr. Petra Sitte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Anerken- nung ausländischer Bildungs- und Berufsabschlüsse wirksam regeln – zu dem Antrag der Abgeordneten Krista Sager, Memet Kilic, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: An- erkennung ausländischer Abschlüsse tatsächlich voranbringen (Drucksachen 17/3048, 17/108, 17/117, 17/123, 17/6271, 17/6919, 17/7218) . . . . Tagesordnungspunkt 10: Antrag der Abgeordneten Gerold Reichenbach, Anette Kramme, Martin Dörmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Wei- tere Datenschutzskandale vermeiden – Ge- 15346 C VI Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 setzentwurf zum effektiven Schutz von Be- schäftigtendaten vorlegen (Drucksache 17/7176) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 11: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Umwelt, Naturschutz und Reak- torsicherheit zu der Unterrichtung durch den Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Ent- wicklung: Bericht des Parlamentarischen Beirats für nachhaltige Entwicklung zum Indikatorenbericht 2010 des Statistischen Bundesamtes – und – Erwartungen an den Fortschrittsbericht 2012 zur nationalen Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregie- rung (Drucksachen 17/3788, 17/6029) . . . . . . . . . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 4: Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: VN-Kon- ferenz Rio+20: Nachhaltigkeit global um- setzen (Drucksache 17/7182) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 12: Antrag der Abgeordneten Michael Groß, Uwe Beckmeyer, Sören Bartol, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion der SPD: EU-Weiß- buch Verkehr – Neuausrichtung der inte- grierten Verkehrspolitik in Deutschland und in der Europäischen Union nutzen (Drucksache 17/7177) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 13: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über den Rechtsschutz bei über- langen Gerichtsverfahren und strafrechtli- chen Ermittlungsverfahren (Drucksachen 17/3802, 17/7217) . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 14: Antrag der Abgeordneten Alexander Ulrich, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Eine Europäische Gemeinschaft für die Förderung erneuerbarer Energien grün- den – EURATOM auflösen (Drucksache 17/6151) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15347 C 15347 D 15348 A 15348 B 15348 C 15348 D Tagesordnungspunkt 15: a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Stärkung der Finanzkraft der Kommunen (Drucksachen 17/7141, 17/7171) . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Katrin Kunert, Dr. Dietmar Bartsch, Diana Golze, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Wer bestellt, bezahlt – Konne- xität zugunsten der Kommunen im Grundgesetz verankern (Drucksache 17/6491) . . . . . . . . . . . . . . . c) Antrag der Abgeordneten Britta Haßelmann, Katja Dörner, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Gemeindefinanz- kommission gescheitert – Jetzt finanz- schwache Kommunen – ohne Sozialab- bau – nachhaltig aus der Schuldenspirale befreien (Drucksache 17/7189) . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 16: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Abgeordneten Tom Koenigs, Volker Beck (Köln), Marieluise Beck (Bremen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Seenotrettung im Mittelmeer konsequent durchsetzen und verbessern (Drucksachen 17/6467, 17/7174) . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 17: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Umwelt, Naturschutz und Reak- torsicherheit zu der Unterrichtung: Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parla- ments und des Rates zur Beherrschung der Gefahren bei schweren Unfällen mit gefähr- lichen Stoffen (inkl. 18257/10 ADD 1 und 18257/10 ADD 2) (ADD 1 in Englisch) – KOM(2010) 781 endg.; Ratsdok. 18257/10 (Drucksachen 17/4598 Nr. A.20, 17/5891) . . Dr. Michael Paul (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Ute Vogt (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Lutz Knopek (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Ralph Lenkert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Dorothea Steiner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15349 A 15349 A 15349 A 15349 B 15349 C 15349 D 15350 D 15351 C 15352 B 15352 D Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 VII Tagesordnungspunkt 18: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Unterstützung der Fachkräftegewinnung im Bund und zur Änderung weiterer dienst- rechtlicher Vorschriften (Drucksache 17/7142) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Armin Schuster (Weil am Rhein) (CDU/CSU) Michael Hartmann (Wackernheim) (SPD) . . . Dr. Stefan Ruppert (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Frank Tempel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 19: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Abgeordneten Katrin Werner, Jan van Aken, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Menschenrechte und Friedenspro- zess in Sri Lanka fördern (Drucksachen 17/2417, 17/4699) . . . . . . . . . . Jürgen Klimke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Angelika Graf (Rosenheim) (SPD) . . . . . . . . . Serkan Tören (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Katrin Werner (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 20: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Neunten Gesetzes zur Änderung des Bun- desvertriebenengesetzes (Drucksachen 17/5515, 17/7178) . . . . . . . . . . Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) . . . . . Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD) . . . . . . . . . . . Serkan Tören (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Christoph Bergner, Parl. Staatssekretär BMI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 21: Antrag der Abgeordneten Dr. Konstantin von Notz, Krista Sager, Volker Beck (Köln), wei- 15353 C 15353 C 15354 D 15355 C 15356 C 15357 A 15358 A 15358 B 15360 C 15361 C 15362 C 15363 C 15364 D 15364 D 15365 D 15366 D 15367 B 15367 D 15368 C terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Förderung von Open Access im Wissenschaftsbereich und freier Zugang zu den Resultaten öffentlich geförderter Forschung (Drucksache 17/7031) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ansgar Heveling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Tankred Schipanski (CDU/CSU) . . . . . . . . . . René Röspel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Manuel Höferlin (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 22: Erste Beratung des vom Bundesrat einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ein- führung von Kammern für internationale Handelssachen (KfiHG) (Drucksache 17/2163) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Jan-Marco Luczak (CDU/CSU) . . . . . . . . Burkhard Lischka (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Marco Buschmann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . Jens Petermann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 23: Antrag der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Die finanzielle Deckelung von Reha-Leis- tungen in der gesetzlichen Rentenversiche- rung aufheben – Reha am Bedarf ausrich- ten (Drucksache 17/6914) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . . Anton Schaaf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) . . . . . . . Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 24: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu dem Antrag der Abgeordneten Dorothee Bär, Markus Grübel, Michaela Noll, 15370 A 15370 A 15371 A 15372 B 15374 A 15374 D 15375 D 15377 B 15377 B 15378 C 15379 C 15380 B 15381 A 15381 D 15382 A 15383 B 15385 A 15385 D 15386 C VIII Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Miriam Gruß, Nicole Bracht-Bendt, Sibylle Laurischk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Neue Perspektiven für Jungen und Männer (Drucksachen 17/5494, 17/7088) . . . . . . . . . . Dorothee Bär (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Michaela Noll (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Stefan Schwartze (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Marianne Schieder (Schwandorf) (SPD) . . . . Miriam Gruß (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Yvonne Ploetz (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Till Seiler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . Tagesordnungspunkt 25: Antrag der Abgeordneten Katja Kipping, Diana Golze, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Existenzsicherung von Stiefkindern im Leis- tungsbezug des SGB II und des SGB XII ga- rantieren (Drucksache 17/7029) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Peter Tauber (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Angelika Krüger-Leißner (SPD) . . . . . . . . . . . Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Katja Kipping (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 26: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Optimierung der Geldwäscheprävention (Drucksache 17/6804) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Peter Aumer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . Martin Gerster (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Björn Sänger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Richard Pitterle (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hartmut Koschyk, Parl. Staatssekretär BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15387 B 15387 B 15388 A 15389 B 15390 B 15391 A 15391 D 15393 C 15394 B 15394 B 15395 B 15395 D 15397 B 15398 A 15398 D 15399 C 15399 C 15400 A 15401 B 15402 A 15402 D 15403 D Tagesordnungspunkt 27: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Beherber- gungsstatistikgesetzes und des Handelssta- tistikgesetzes (Drucksachen 17/6851, 17/7200) . . . . . . . . . . Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU) . . . . . . . . . Doris Barnett (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hans-Joachim Hacker (SPD) . . . . . . . . . . . . Gisela Piltz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Schlecht (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . Anlage 2 Erklärungen nach § 31 GO zur namentlichen Abstimmung über den Entwurf eines Geset- zes zur Änderung des Gesetzes zur Über- nahme von Gewährleistungen im Rahmen ei- nes europäischen Stabilisierungsmechanismus (Tagesordnungspunkt 3 a) Herbert Behrens (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Veronika Bellmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Karin Binder (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Nicole Bracht-Bendt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Klaus Brähmig (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Michael Brand (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Marco Bülow (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . . . . Marco Buschmann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . Sylvia Canel (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Peter Danckert (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Reiner Deutschmann (FDP) . . . . . . . . . . . . . Thomas Dörflinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Werner Dreibus (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Alexander Funk (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Dr. Thomas Gebhart (CDU/CSU) . . . . . . . . . Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Nicole Gohlke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 15404 C 15404 C 15405 C 15406 B 15407 B 15408 B 15409 A 15410 C 15411 A 15411 B 15411 C 15412 B 15413 A 15413 B 15414 A 15415 D 15416 B 15416 D 15417 B 15417 C 15418 A 15418 B 15419 C 15419 D 15420 D 15421 B 15421 C Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 IX Josef Göppel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) . . . . . . . Heinz-Peter Haustein (FDP) . . . . . . . . . . . . . Dr. Matthias Heider (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Christian Hirte (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . Katja Kipping (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Harald Koch (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Manfred Kolbe (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Gunther Krichbaum (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP) . . . . . . . . . Ralph Lenkert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Carsten Linnemann (CDU/CSU) . . . . . . . Ulla Lötzer (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . Dorothee Menzner (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Cornelia Möhring (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Niema Movassat (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Jan Mücke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Burkhardt Müller-Sönksen (FDP) . . . . . . . . . Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Jens Petermann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Richard Pitterle (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Yvonne Ploetz (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Ingrid Remmers (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Swen Schulz (Spandau) (SPD) . . . . . . . . . . . . Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU) . . . . . . . . . Raju Sharma (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Thomas Silberhorn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sabine Stüber (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Alexander Süßmair (DIE LINKE) . . . . . . . . . Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) . . . . . . . Alexander Ulrich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Arnold Vaatz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Johanna Voß (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . Marco Wanderwitz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Harald Weinberg (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 15422 A 15422 B 15423 B 15425 A 15425 C 15426 B 15426 C 15427 A 15427 B 15427 C 15427 D 15428 C 15429 B 15429 D 15430 A 15430 C 15430 D 15431 B 15431 D 15432 B 15433 C 15433 D 15434 B 15434 C 15435 A 15435 C 15436 A 15436 C 15437 D 15438 D 15439 B 15439 D 15440 A 15440 C 15441 A 15441 D 15442 D Anlage 3 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Dr. Axel Troost und Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): zur namentlichen Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Übernahme von Gewährleistun- gen im Rahmen eines europäischen Stabilisie- rungsmechanismus (Tagesordnungspunkt 3 a) Anlage 4 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Dr. h. c. Jürgen Koppelin, Dr. Lutz Knopek und Joachim Günther (Plauen) (alle FDP) zur namentlichen Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Übernahme von Gewährleistungen im Rah- men eines europäischen Stabilisierungsme- chanismus (Tagesordnungspunkt 3 a) . . . . . . Anlage 5 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Werner Schieder (Weiden), Klaus Barthel, Dr. Bärbel Kofler, Daniela Kolbe (Leipzig), Hilde Mattheis, René Röspel und Rüdiger Veit (alle SPD) zur namentlichen Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Ge- setzes zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabilisie- rungsmechanismus (Tagesordnungspunkt 3 a) Anlage 6 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN) zur Abstimmung über den Entwurf ei- nes Gesetzes zur Änderung des Grundgeset- zes und zur Reformierung des Wahlrechts (Tagesordnungspunkt 5) . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Feststellung und Anerkennung im Aus- land erworbener Berufsqualifikationen (Ta- gesordnungspunkt 7) Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU) . . Swen Schulz (Spandau) (SPD) . . . . . . . . . . . . Aydan Özoğuz (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heiner Kamp (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 15443 B 15444 A 15444 C 15445 C 15445 D 0000 A15446 D 15448 A 15448 C 15449 D X Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 Krista Sager (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Annette Schavan, Bundesministerin BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Weitere Datenschutzskandale vermeiden – Gesetzentwurf zum effektiven Schutz von Beschäftigtendaten vorlegen (Ta- gesordnungspunkt 10) Michael Frieser (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) . . . . Josip Juratovic (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gerold Reichenbach (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Gisela Piltz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Petra Pau (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Bericht des Parlamentarischen Beirats für nachhaltige Entwicklung zum Indikato- renbericht 2010 des Statistischen Bundes- amtes – und – Erwartungen an den Fort- schrittsbericht 2012 zur nationalen Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregie- rung – Antrag: VN-Konferenz Rio+20 – Nach- haltigkeit global umsetzen (Tagesordnungspunkt 11 und Zusatztagesord- nungspunkt 4) Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU) . . Dr. Matthias Miersch (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ralph Lenkert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 10 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: EU-Weißbuch Verkehr – Neu- ausrichtung der integrierten Verkehrspolitik in Deutschland und in der Europäischen Union nutzen (Tagesordnungspunkt 12) 15450 C 15451 B 15452 A 15453 C 15454 D 15455 B 15456 A 15456 D 15457 B 15458 A 15460 A 15461 B 15461 D 15462 C Veronika Bellmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Karl Holmeier (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Michael Groß (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Oliver Luksic (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sabine Leidig (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 11 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes über den Rechts- schutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (Tages- ordnungspunkt 13) Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU) . Dr. Edgar Franke (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Christian Ahrendt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Jens Petermann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 12 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Eine Europäische Gemeinschaft für die Förderung erneuerbarer Energien gründen – EURATOM auflösen (Tagesord- nungspunkt 14) Roderich Kiesewetter (CDU/CSU) . . . . . . . . Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Marco Bülow (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . René Röspel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heinz Golombeck (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Alexander Ulrich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 13 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Finanzkraft der Kommunen – Antrag: Wer bestellt, bezahlt – Konnexität zugunsten der Kommunen im Grundge- setz verankern – Antrag: Gemeindefinanzkommission ge- scheitert – Jetzt finanzschwache Kommu- 15463 C 15464 C 15465 B 15466 D 15467 D 15468 D 15469 C 15471 B 15472 A 15472 C 15473 C 15474 B 15475 C 15476 D 15477 C 15478 C 15479 B 15480 B Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 XI nen – ohne Sozialabbau – nachhaltig aus der Schuldenspirale befreien (Tagesordnungspunkt 15 a bis c) Peter Götz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . Gabriele Hiller-Ohm (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Kirsten Lühmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Katrin Kunert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 14 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts: Seenotrettung im Mittelmeer konsequent durchsetzen und verbessern (Tagesordnungs- punkt 16) Erika Steinbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Gunkel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Serkan Tören (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Annette Groth (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15481 A 15482 B 15483 B 15484 B 15485 A 15486 D 15487 D 15489 A 15490 A 15491 B 15492 D 15494 A Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15203 (A) (C) (D)(B) 130. Si Berlin, Donnerstag, de Beginn: 9
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    Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15411 (A) (C) (D)(B) mungsverhalten bei allen Entscheidungen davon abhän- gig, ob es den Interessen der Arbeitenden und Erwerbs- Wirtschaftspolitik betreiben, bleiben in der Euro-Zone. Sie wird nicht zusammenbrechen. Diejenigen, die objek- Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Anlage 2 Erklärungen nach § 31 GO zur namentlichen Abstimmung über den Ent- wurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Übernahme von Gewährleistungen im Rah- men eines europäischen Stabilisierungsmecha- nismus (Tagesordnungspunkt 3 a) Herbert Behrens (DIE LINKE): Ich stimme dem Gesetz zur Ausweitung des Euro-Rettungsschirms aus folgendem Grund nicht zu: Meinen Kolleginnen und Kollegen aus meinem ge- werkschaftlichen Umfeld habe ich bei meinem Einzug in den Bundestag versprochen: Ich mache mein Abstim- Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Burchardt, Ulla SPD 29.09.2011 Dr. Geisen, Edmund Peter FDP 29.09.2011 Hempelmann, Rolf SPD 29.09.2011 Dr. Jochimsen, Lukrezia DIE LINKE 29.09.2011 Kekeritz, Uwe BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 29.09.2011 Lühmann, Kirsten SPD 29.09.2011 Nord, Thomas DIE LINKE 29.09.2011 Dr. Ott, Hermann E. BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 29.09.2011 Dr. Priesmeier, Wilhelm SPD 29.09.2011 Senger-Schäfer, Kathrin DIE LINKE 29.09.2011 Dr. Stinner, Rainer FDP 29.09.2011 Wicklein, Andrea SPD 29.09.2011 Wolff (Wolmirstedt), Waltraud SPD 29.09.2011 Wunderlich, Jörn DIE LINKE 29.09.2011 Zimmermann, Sabine DIE LINKE 29.09.2011 Anlagen zum Stenografischen Bericht losen an Arbeit, gutem Lohn und Sicherheit bei Krankheit und im Alter dient. Diesem Anspruch wird der europäische Stabilisie- rungsmechanismus in keiner Weise gerecht. Im Gegen- teil: Das Gesetz vergrößert die soziale Spaltung der Ge- sellschaften in den Staaten, die auf die Hilfe der Euro- Staaten angewiesen sind. Der Rettungsschirm zwingt die Menschen in den be- troffenen Ländern zu Lohnverzicht, Arbeitslosigkeit und sozialer Unsicherheit. Das gefährdet den sozialen Frie- den in Europa, fördert antieuropäische Ressentiments und Rassismus. Veronika Bellmann (CDU/CSU): Der Euro ist un- sere gemeinsame Währung. Seine Stabilität zu sichern, liegt in deutschem und im europäischen Interesse. Die gegenwärtige Krise einzelner Eurostaaten muss daher so bekämpft werden, dass die europäische Wirtschafts- und Währungsunion als Ganzes gestärkt hervorgehen kann. Vor diesem Hintergrund ist es nicht gegen die euro- päische Integration gerichtet, wenn ich der Aufstockung und Erweiterung der Europäischen Finanzierungsfazili- tät nicht zustimmen kann. Schon bei Einrichtung der Rettungsschirme habe ich mit meinem Stimmverhalten signalisiert, dass ich sie als Verstoß gegen Europarecht und das Verbot der Schuldenübernahme und damit als rechtswidrig betrachte. Für die Ausweitung des Ret- tungsschirms gilt das ebenfalls. Die in oben genanntem Gesetz genannten Maßnah- men sind ungeeignet, die Krise zu lösen. Sie führen nicht zu einem Abbau der gesamtwirtschaftlichen Ungleichge- wichte und Fehlentwicklungen in der Euro-Zone, son- dern verlängern sie nur mit immer höheren Kosten. Schon heute ist absehbar, dass die Gesetzesänderungen nicht ausreichen, um die Euro-Zone zu stabilisieren. Es gilt aus der bisherigen Rettungslogik herauszu- kommen, um wieder vom Reagieren zum Agieren zu gelangen. Mit der Übernahme der Gewährleistung für verschuldete Staaten haben die Euro-Länder die Soziali- sierung privater Verluste in Kauf genommen und das Verbot der Schuldenübernahme ausgehebelt. Der andere Ansatzpunkt ist die Europäische Zentralbank. Deren Übernahme von Staatsdefizitfinanzierung darf nicht wei- ter erlaubt sein. Die Quasigelddruckmaschine zeigt, dass sich die EZB nicht mehr der Geldwertstabilität ver- pflichtet fühlt, sondern der Finanzstabilität, also der Banken- und Staatsrettung. Die Banken wiederum müs- sen gezwungen werden, sich ausreichendes Kapital zu beschaffen, dass dann als Puffer dienen kann für die Ri- siken von Staatspapieren. Erst nach diesem Eigenbetrag können öffentliche Hilfen zum Einsatz kommen. Wenn wir erst retten und dann erst zu eigener Anstrengung auf- fordern, bleibt jeglicher Reformwille auf der Strecke. Staaten, die eine disziplinierte und solide Finanz- und 15412 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 (A) (C) (D)(B) tiv nicht fähig oder politisch nicht willens sind, die mit einer Währungsunion verbundenen anspruchsvollen Konvergenzbedingungen zu erfüllen und die wirtschafts- politischen Einschränkungen ihrer Autonomie zu akzep- tieren, werden sie – gegebenenfalls nur temporär – ver- lassen. Das stärkt den Euro nach innen und außen. die ausscheidenden Staaten haben mit einer eigenständigen Geld-, Zins- und Währungspolitik die Chance, zum Wachstum zurückzukehren, und werden nicht weiter mit einer überzogenen Deflationspolitik gequält. Eine nachhaltige Lösung der Staatsschuldenkrise von Euro-Ländern erfordert die Rückkehr zu einer strengeren Stabilitätskultur mit automatischer Sanktionierung von Verstößen, zu solider Haushaltführung, zum Erhalt von Steuerungs- und Anreizmöglichkeiten über die Zinshö- hen, zu starker Konditionalisierung der Hilfen, falls sie nötig werden, und zur Reformpolitik. Diese Maßnahmen dürfen immer nur Hilfe zur Selbsthilfe bleiben und nicht dazu verführen, sich günstig zu finanzieren. Die ver- schuldeten Staaten müssen in die Lage versetzt werden, zu eigenverantwortlichem Handeln zurückzukehren. Die vorgeschlagene Erweiterung geht darüber hinaus, weil sie keine wirksame Begrenzung von Finanzhilfen er- möglicht, sondern weiter Anreize zur Sozialisierung pri- vater Verluste und Vergemeinschaftung nationaler Schulden zulasten der deutschen und europäischen Steu- erzahler setzt. Differenzen in den wörtlich unterschiedlichen Formu- lierungen des Gewährleistungsgesetzes und des EFSF- Rahmenvertrages werden zu Verunsicherung in der Aus- legung und Anwendung beider führen. Sie sind nicht ak- zeptabel, da sie nicht dem Grundsatz von Wahrheit und Klarheit folgen. Selbst wenn sie mir noch als unvollkommen er- scheint, so befürworte ich doch ausdrücklich die Aus- weitung der Parlamentsbeteiligung, die den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts folgt und auch meine Forderungen zumindest im Wesentlichen erfüllt. Durch dieses wichtige Mitbestimmungs- und Mitgestaltungs- recht des Deutschen Bundestages ist zwar meine grund- sätzliche Ablehnung der Rettungsschirmpolitik nicht aufgehoben, aber insofern günstiger gestellt, als dass ich mit Enthaltung votieren kann. Karin Binder (DIE LINKE): Ich stimme dem Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Übernahme von Gewähr- leistungen im Rahmen eines Europäischen Stabilisie- rungsmechanismus nicht zu. Diese Entscheidung möchte ich mit dieser Erklärung begründen. In einer parlamentarischen Demokratie bedürfen Ent- scheidungen, die gravierende negative Folgen auch für kommende Generation haben, der Beratung und demo- kratischen Beteiligung des Parlaments. Dieser Grundsatz wird mit diesem Gesetz verletzt. Es soll nur noch eine Unterrichtungspflicht gegenüber dem Haushaltsaus- schuss, nicht aber gegenüber dem ganzen Parlament gel- ten. Damit werden Parlamentarier unterschiedlicher Rangordnung geschaffen. Das ist mit deren prinzipieller Gleichrangigkeit nicht zu vereinbaren. Die Bundesregierung kann obendrein die Parlaments- beteiligung ganz umgehen, wenn sie besondere Eilbe- dürftigkeit oder Vertraulichkeit vorgibt. Dann soll nicht einmal mehr der Haushaltsausschuss, sondern ein aus nur wenigen Mitgliedern des Ausschusses bestehendes Sondergremium entscheiden. Diese Beratungen und Ent- scheidungen mit weitreichenden Folgen werden am Par- lament und an der Bevölkerung vorbei getroffen. Das ist nicht hinnehmbar. Doch noch schwerwiegender für meine Entscheidung sind soziale Gründe. Meine Fraktion, Die Linke, und ich lehnen die Erwei- terung des Euro-Rettungsschirms vor allem deshalb ab, weil schon die bisherigen Maßnahmen zur Euro-Rettung die Ausweitung der Krise nicht verhindert haben. Im Ge- genteil: Die an die „Hilfskredite“ aus dem Rettungs- schirm geknüpften radikalen Kürzungsauflagen würgen die Binnenkonjunktur der Krisenländer ab, verhindern eine nachhaltige Erholung der Wirtschaft und verschär- fen die Schuldenkrise. Die Finanzmärkte wurden da- durch nicht beruhigt. Weiterhin werden gegen die soge- nannte Krisenstaaten Wetten abgeschlossen und es wird munter weiterspekuliert. Bereits heute gehen Expertin- nen und Experten sowie Finanzmarktakteure davon aus, dass auch die Aufstockung der EFSF nicht ausreichen wird. Anstatt Konsequenzen aus der gescheiterten Politik zu ziehen, wird der Kurs unerschüttert fortgesetzt. In den Krisenländern bezahlen Arbeitnehmerinnen und Arbeit- nehmer, Rentnerinnen und Rentner und andere Bevölke- rungsgruppen mit Lohn- und Rentenkürzungen. Der größte Sozialabbau der europäischen Nachkriegsge- schichte sorgt dafür, dass private Banken weiter spekulieren können. In Deutschland werden die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler in Haftung für die milliardenschweren Ga- rantien genommen. Solange die Finanzmärkte nicht strikt reguliert, Banken nicht vergesellschaftet und die Staatsfi- nanzierung nicht von den Kapitalmärkten abgekoppelt wird, ist diese Krise nicht unter Kontrolle zu bringen Mit dieser Politik wird die Umverteilung von unten nach oben beschleunigt. Sie ist ökonomisch gefährlich, weil die Spardiktate eine ökonomische Belebung der Krisenländer verhindern. Die Überwindung der wirt- schaftlichen Ungleichgewichte in der Euro-Zone und EU ist nicht vorgesehen. Dies gefährdet zunehmend die eu- ropäische Integration: Rechtspopulistische Parteien, die die Ängste und die Wut der Menschen gegen Spardiktate in europafeindliche und nationalistische Propaganda ka- nalisieren, sind in vielen Ländern auf dem Vormarsch. Das Argument der Koalition – auch von SPD und Grü- nen –, es gehe mit dem Rettungsschirm darum, „Europa zu retten“, ist daher schlicht falsch. Das europäische Projekt hat nur dann eine Zukunft, wenn es sozial gerecht, wirtschaftlich vernünftig und de- mokratisch gestaltet wird. Da die „Euro-Rettung“ in ge- nau die entgegengesetzte Richtung weist, kann Die Linke als Europa bejahende Partei nicht zustimmen. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15413 (A) (C) (D)(B) Nicole Bracht-Bendt (FDP): Die Lösungen der Ko- alition in der europäischen Haushalts- und Finanzpolitik sollen die derzeitigen Turbulenzen an den Finanzmärk- ten eindämmen und neues Vertrauen etablieren. Nicht alle bisherigen oder geplanten Maßnahmen finden meine Zustimmung. Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren. Ich habe in der Fraktion mit Kolleginnen und Kollegen für eine andere Entscheidung gekämpft. Es ist uns nicht gelungen, die Mehrheit der FDP-Frak- tion zu überzeugen. Das respektiere ich. Aus Fraktions- disziplin und Solidarität werde ich daher heute mit mei- ner Fraktion stimmen. Weiteren wie auch immer gearteten Ausweitungen eines Rettungsschirms werde ich nicht zustimmen. Die Schaffung eines kleinen Gremiums, das anstelle des Haushaltsausschusses entscheiden kann, lehne ich ab, zumal dieses Gremium der Vertraulichkeit unterliegt. Es steht zu befürchten, dass damit die Beteiligung des Deutschen Bundestages ausgehebelt wird. Eine freie Abstimmung wäre eine gute Stunde für den Deutschen Bundestag gewesen. Es ist möglich, dass es noch zu stärkeren Unsicherheiten für die Märkte kommt, falls heute keine Mehrheit aus der Koalition zustande kommt. Die Kapitalmärkte könnten entsprechend reagie- ren. Auch mit Blick auf die europäischen Nachbarn und die Partner in der Welt ist es für Deutschland mit dem Ziel eines stabilen Euro wichtig, ein Zeichen für eine ge- schlossene und entschlossene Koalition zu setzen. Das habe ich heute ebenfalls bei meinem Abstim- mungsverhalten berücksichtigt. Aufgrund dieser Abwä- gung stelle ich meine persönlichen Bedenken und Zwei- fel zu den im Gesetzesvorhaben getroffenen Regelungen zurück und stimme den Änderungen an dem Gesetz zum europäischen Stabilisierungsmechanismus zu. Klaus Brähmig (CDU/CSU): Die heutige Entschei- dung ist fälschlicherweise zur Abstimmung über Krieg und Frieden in Europa hochstilisiert worden. Mit der Abstimmung über das Gesetz zur Änderung des Geset- zes zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabilisierungsmechanismus wird der Versuch unternommen, die Versäumnisse, die bei der Euro-Einführung in der Vergangenheit gemacht wurden, auszugleichen. Den Unmut der Bürger kann ich teil- weise verstehen. Denn wir helfen heute den Staaten, die seit Jahren wider besseres Wissen ihre Strukturverände- rungen bewusst nicht auf den Weg gebracht haben bzw. auf Kosten der zukünftigen Generationen leben. Damit verhöhnt man die Verträge von Maastricht und die Euro- Stabilitätskriterien, die wir als Deutsche damals wie ein Banner vor uns hergetragen haben, um den Euro so stark und solide wie die DM zu halten. Leider mussten die politischen Voraussagen zum Thema „Eurostabilität und Griechenlandhilfe“ auch von unserer Regierung aufgrund der finanzpolitischen Wirk- lichkeit ständig überholt werden. Dennoch beanspruche ich für mich, dass ich bei der heutigen Abstimmung nach bestem Wissen und Gewissen und zum Wohle des deut- schen Volkes entscheiden werde. Dies streite ich aber auch meinen Kollegen nicht ab, die vielleicht zu einer anderen Entscheidung gelangen. Persönlich hoffe ich, dass wir durch die Fraktionsführung, die betroffenen fachpolitischen Gremien und die Bundesregierung um- fassend informiert worden sind. Allerdings hätte ich mir gewünscht, dass unsere Fraktion stärker auch die Kriti- ker mit eingebunden hätte, unter anderem Wissenschaft- ler und Persönlichkeiten aus der Wirtschaft. Beispiels- weise hätte man dann in einer Art Synopse die Lösungsvarianten und die daraus abgeleiteten Risiken und Kosten aufzeigen können. Meine heutige Entscheidung, das Gesetz zur Ände- rung des Gesetzes zur Übernahme von Gewährleistun- gen im Rahmen eines europäischen Stabilisierungsme- chanismus zu unterstützen, treffe ich auch als Schutzmaßnahme für die einheimische, mittel ständische Wirtschaft, die in einem europäischen und weltweiten Wettbewerb steht. Die Zeiten von Wechselkursschwan- kungen will ich im europäischen Raum für die deutsche Wirtschaft nicht wieder erleben. Mit meiner heutigen Zustimmung verbinde ich die Hoffnung, dass die Bundesregierung all ihre Kraft ein- setzt, die europäischen Stabilitätskriterien wieder in den Mittelpunkt der Betrachtungen zu rücken. Dabei sollte durch die Einführung von Schuldenbremsen auf Ebene der Nationalstaaten eine Kultur der Stabilität etabliert werden. Außerdem ist es unumgänglich, dass National- staaten auch den Staatsbankrott erleiden können. Nur dann ist gewährleistet, dass der Markt als sensibler Wäh- rungshüter frühzeitig eingreift. Wer aus meiner Zustimmung abliest, dass ich weiter- gehende Finanzbelastungen für die Bundesrepublik Deutschland automatisch und damit ohne die Zustim- mung des Parlaments als gewählter Volksvertreter zu- lasse, der irrt. Eine nochmalige Ausweitung des Ver- handlungsspielraums werde ich nicht mittragen und mir entsprechende Konsequenzen für die Zukunft offenhal- ten. Gemeinschaftlich mit Griechenland sollte die euro- päische Staatengemeinschaft darüber nachdenken, ob und inwieweit Griechenland durch den Auf- und Ausbau von Solaranlagen einen wichtigen Beitrag zur Energie- versorgung Europas leisten kann und damit die wirt- schaftliche Leistungsfähigkeit des Landes deutlich ver- bessert wird. Auch bei der Tourismusentwicklung gibt es Optimierungsmöglichkeiten, die Griechenland dringend nutzen muss, um einen der wichtigsten Wirtschafts- zweige wieder zu einem neuen Boom zu verhelfen und die entstehenden Einnahmen der Gesundung seiner Volkswirtschaft zuzuführen. Dem heute vorliegenden Gesetzentwurf stimme ich aus den oben genannten Gründen zu. Für die Zukunft wünsche ich mir objektivierende Diskussionen über sol- che Fachthemen. Jede Hausfrau und jeder Normalbürger weiß, dass er Probleme bekommt, wenn er mehr ausgibt, als er einnimmt. Aus diesem Grund muss die Politik da- für Sorge tragen, dass auch in schwierigen Zeiten Haus- haltsdisziplin unser oberstes Ziel ist. Wir leben derzeit schon auf Kosten der kommenden Generationen. Eine 15414 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 (A) (C) (D)(B) Umkehr von diesem Weg der Haushaltsdisziplin versün- digt sich an der Zukunft Deutschlands und Europas. Michael Brand (CDU/CSU): Diese heutige Ent- scheidung bedeutet eine große, eine sehr große Verant- wortung. Es geht um mehr als um die akute Nothilfe für Griechenland und die Stabilisierung der Euro-Zone. Es kommt darauf an, nach bestem Wissen und Gewis- sen zu entscheiden. Das Wissen um die Folgen dieser schwerwiegenden Entscheidung hat niemand für sich ge- pachtet, es gibt für diese Operation keine „Blaupause“, kein „Drehbuch“. Die üblichen Sicherheiten und auch manche voll überzeugte Position sind angesichts der sehr unterschiedlichen, gar widersprüchlichen Einschätzun- gen auch seriöser Experten nicht überzeugend. Es ist jedem klar, dass es keinen Königsweg gibt – wir haben die Wahl und die Pflicht, uns für die Lösungs- alternative zu entscheiden, die nach sorgfältiger Analyse die geringsten Risiken und die bestmögliche Aussicht auf die Lösung der Krise birgt. Im Ergebnis aller dieser Sorgen, der Faktoren und Ar- gumente habe ich mehrfach und vielfach nachgefragt und hinterfragt, mich mit den Argumenten der Gegner wie der Befürworter intensiv befasst, bis in die letzten Tage und Stunden hinein. Ich will hier ausdrücklich nur sehr knapp die bekann- ten Argumente einbringen, die für eine dauerhafte Lö- sung erforderlich sind. Wir haben keine Euro-, sondern eine Schuldenkrise. Wer zu lange zu stark über seine Verhältnisse gelebt hat, der muss nun die Richtung ändern. Wir haben in Deutschland als dem stärksten EU- und Euro-Land die Schuldenbremse in die Verfassung geschrieben. Wer die Schulden zu hoch treibt und damit die Verfassung bricht wie kürzlich die rot-grüne Regierung in NRW, wird zur Rechenschaft gezogen. Das muss auch in Europa so kommen, und andere Euro-Staaten haben begonnen, dies ebenfalls in ihren Verfassungen zu verankern. Dazu brauchen wir Sanktionsmechanismen, die den Bruch der Stabilitätskriterien teuer machen, ebenso wie präventive Maßnahmen zur Überwachung staatlicher Haushalts- politik in den Euro-Ländern. Wir brauchen endlich eine internationale Regulierung der Finanzmärkte, auch wenn das ein bekannt schwieri- ges Thema ist. Wir müssen das Kasino beenden, und wir brauchen wieder Finanzmärkte, die nicht zocken, son- dern seriöse Kredite an seriöse Kreditnehmer vergeben. Auch die Ratingagenturen, die mit ihren falschen, offen- bar nicht geprüften Ratings in der Vergangenheit einen Hauptanteil an der Finanzkrise hatten, müssen kontrol- liert werden. Die private Finanzwirtschaft muss an der Schadensbehebung unmittelbar beteiligt werden; erste Schritte sind getan, aber weitere müssen folgen, in Eu- ropa und global. Für Staaten und Banken, die der Krise am Ende doch nicht gewachsen sind, brauchen wir geordnete Verfahren für eine geordnete Insolvenz, die eben nicht andere mit in die Krise reißt. Hier könnten wir in Europa und bei den G20 schon weiter sein, wenn die deutschen Argu- mente stärker berücksichtigt und Protektionismus für die eigene Finanzwirtschaft von Großbritannien und den USA nicht so massiv vorgebracht worden wären. Der Europäische Stabilitätsmechanismus – ESM – und der Europäische Rettungsfonds – EFSF – waren und sind neue Antworten und Instrumente, um auf eine völ- lig neue Herausforderung zu reagieren. Sie sollen vor al- lem eines bringen: die gemeinsame Kraft der weltweit immer noch starken Euro-Zone gegen die Krisen in ein- zelnen Euro-Ländern mit auf die Waagschale zu bringen, um ein Kippen der Lage zu verhindern und den schwieri- gen Weg aus der Krise geordnet zu gehen – statt in ein Finanz- und Wirtschaftschaos abzugleiten, mit enormen Wirkungen auf die Realwirtschaft, auf Mittelstand und Arbeitsplätze, auch hier in Deutschland. Schon bei der letzten großen Finanzkrise hat sich ge- zeigt, dass es „Gegenmittel“ gibt, die wir erfolgreich ein- gesetzt haben – nicht ohne Grund hat Deutschland eine im Vergleich zu anderen noch stärkere Position nach der Krise. Wir haben in der Krise die richtigen, jeweils er- forderlichen Schritte eingeleitet, um Wachstum und Be- schäftigung abzusichern und den Weg aus der Krise ein- zuleiten. Dass Wirtschaft und Gewerkschaften gleichermaßen dazu aufrufen, die Ausweitung des europäischen Ret- tungsschirms zu beschließen, ist ein nicht unwesentli- cher Hinweis auf die breite Unterstützung des Kurses der Bundesregierung in dieser komplexen und nicht unge- fährlichen Lage. Nicht zuletzt haben wir, die Deutschen, am stärksten vom Euro profitiert. Und wir werden unseren Teil der Verantwortung zur Stabilisierung der Schuldenkrise auch wahrnehmen. Dabei gibt es keinen Freibrief für Schuldensünder – für Hilfe muss Gegenleistung erbracht werden, und das verbindlich. Nachdem ich mich sehr bewusst während der Bera- tungen mit Argumenten und auch mit Abstimmungsver- halten für eine Verminderung der Risiken für die Steuer- zahler und eine Stärkung der Beteiligungsrechte des Deutschen Bundestages eingesetzt habe, kann ich heute nicht übersehen, dass es hier auch Fortschritte gegeben hat. Die Bürgerinnen und Bürger können sicher sein: Es wird keine zentralen Entscheidungen mehr geben ohne ausdrückliche Beteiligung ihres Parlamentes, in das sie die Abgeordneten mit ihrem Vertrauen entsendet haben. Wir Abgeordneten stehen umso mehr in der Pflicht, sorgfältig zu analysieren und die Sorgen der Menschen aufzunehmen. Wo Unsicherheit vorherrscht, ist Vertrauen mit das höchste Gut. Darum geht es ganz zentral: wieder Ver- trauen schaffen. Vertrauen darauf, dass wir in Europa, mit aktiver deutscher Hilfe – als größter Wirtschaft in der EU –, die Krise meistern, wenn auch nicht von heute auf morgen. Vertrauen darauf, dass wir kommende kriti- sche Phasen ordentlich überstehen, mit weniger Erschüt- terungen. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15415 (A) (C) (D)(B) Mittel- und langfristig geht es um die Stabilität unse- res Kontinentes in einer sich dramatisch verändernden Welt. Es geht für uns, auch für unsere Kinder, um die Möglichkeit, unsere Rolle in der Welt auch in Zukunft aktiv gestalten zu können. Es ist viel von Vertrauen die Rede in diesen Wochen und Monaten. Und es geht um viel, und vor allem um viel Vertrauen in diejenigen, die handeln und entschei- den können, und müssen. Wir alle sollten ein gesundes, ja tiefes Misstrauen haben gegenüber solchen, die er- kennbar alles genau wissen und in keiner Weise nach- denklich zu sein scheinen: Wer bei dieser Dimension nicht nachdenklich auftritt, lässt auch Zweifel aufkom- men, dass genug nachgedacht wurde. Viele Bürgerinnen und Bürger haben sich mit Sorgen um den Euro, um ihr Erspartes, auch um die Alterssiche- rung und die Zukunft ihrer Kinder oder Enkel an mich gewandt. Für mich sind das ernste Sorgen, die ich selbst- verständlich sehr ernst zu nehmen habe. Bislang hat die Realwirtschaft in Deutschland keinen Schaden genommen, Deutschland stabilisiert mit seiner starken Wirtschaft, auch mit dem Export weltweit und in die EU den Euro-Raum mit. Die Sorgen der Menschen werden ernst genommen, und auch das schafft Ver- trauen, wie die letzten Zahlen zum Konsumklima als ei- nem der wesentlichen Indikatoren für das Vertrauen der Bevölkerung in die wirtschaftliche Zukunft unterfüttern. Keine Lösung ist die Haltung der Opposition, den eu- ropäischen Rettungsmechanismus in einen Automatis- mus auszudehnen, der keine effiziente Kontrolle für Schuldensünder vorsieht. Schon bei der ersten notwendi- gen Hilfe gegen den Zusammenbruch Griechenlands hatte sich die SPD enthalten, die Lehman-Pleite hatte der damalige Finanzminister Steinbrück in der Wirkung fatal falsch eingeschätzt. Das ist wenig vertrauenswürdig für die Position der Opposition, die zudem mit ihrer damali- gen rot-grünen Regierung die fiskalischen Todsünden gegen den Euro-Stabilitätspakt begangen hat: Schröder- Fischer-Eichel waren die ersten, die den von Kohl und Waigel ausgehandelten Stabilitätspakt gebrochen und Kritiker an diesem Bruch verhöhnt haben. Zum anderen wurde ausgerechnet Griechenland in die Euro-Zone ge- holt, obwohl das Vertrauen in die offiziellen griechi- schen Zahlen schon damals bei Kennern erschüttert war. Wer so gehandelt hat, kann nicht auf großes Vertrauen zählen, wenn es um die Zukunft des Euro geht. Dass die Bundesregierung sich mit ihrer Forderung nach einer strengeren Regulierung endlich bei der EU- Kommission durchgesetzt hat, ist ein später Erfolg der Bundesregierung. Ebenso klar muss jeder wissen, dass sich SPD und Grüne im Europäischen Parlament in die- sen Tagen genau gegen diese Stabilitätskriterien geäu- ßert und gegen diese Vorschläge gestimmt haben. Es ist also kein polemisches, populistisches Theater, das uns hier weiterhilft. Im Gegenteil: Das schafft kein Vertrauen. Wir wollen, ich will für unsere Zukunft, für meine und unsere Kinder, dass wir ein durch die Krise ge- steuertes, erstarktes Europa haben und kein geschwächtes oder gar wirtschaftlich abgeschafftes Europa. Insgesamt komme ich so in der Gesamtabwägung al- ler mir zur Verfügung stehenden Argumente, also des Wissens zu diesem komplexen Thema zur Entscheidung, dass ich diese Ausweitung des europäischen Rettungs- schirms dieses Mal mittragen kann. Das ist kein Freibrief für künftige Entscheidungen. Es hat die Entscheidung mitbeeinflusst, dass dank unseres deutlichen Auftretens als Parlament gegenüber unserer Regierung, auch des Präsidenten des Deutschen Bundes- tages, unseres Kollegen Professor Dr. Lammert, die Rechte des Deutschen Bundestages bei der Stabilisie- rung der Euro-Zone nochmals deutlich gestärkt wurden. Es wird keinen Automatismus zu weiteren Ausweitun- gen der Garantien der Bundesrepublik Deutschland ge- ben, weil es diesen Automatismus nicht geben darf. Im Gegenteil: Jeder nächste Schritt wird vom Deutschen Bundestag geprüft, der Deutsche Bundestag muss ent- scheiden über Ja oder Nein – und erst dann wird, wie- derum im Bundestag, im Haushaltsausschuss unter die- sen Vorgaben über die Einzelheiten entschieden. Das ist ein wichtiges Signal auch dafür, dass Demo- kratien diese nationalen und internationalen Herausfor- derungen besser bestehen als Länder wie China und an- dere, die keine Rücksichten auf die Sorgen ihrer Bevölkerung nehmen. Der Deutsche Bundestag vertritt den Souverän, das deutsche Volk, auch in diesen Fragen, auch gegenüber und manches Mal gar gegen die Forderungen der EU oder der Euro-Partner. Unter diesen, auch vom Parlament erreichten Rah- menbedingungen fällt es mir nicht leicht, ist aber den- noch die nach Abwägung aller Positionen richtige Ent- scheidung, heute dem Gesetzentwurf zum europäischen Rettungsschirm zuzustimmen. Bei den weiteren Beratungen bleibe ich kritischer Teilnehmer als Vertreter der Menschen, die mich mit dem Vertrauen ausgestattet haben, ihre Interessen nach bestem Wissen und Gewissen zu vertreten. Marco Bülow (SPD): Zu meinem Abstimmungsver- halten am heutigen Tage erkläre ich Folgendes: Ich stimme dem Gesetzentwurf zu, möchte aber folgende Bedenken zu Protokoll geben: Das vorliegende Gesetz hat eine Dimension und eine Tragweite, die selbst Fachleute nicht überblicken können. Ich bin kein Finanzexperte und muss eingestehen, dass ich mich auf die Vorgaben der Fachleute verlassen muss. Ich sehe keine inhaltliche Alternative, die ich für unpro- blematischer halte, und folge deshalb der SPD-Fraktion und stimme dem Gesetz zu. Zur Darlegung meiner inhaltlichen Kritikpunkte. Eine Politik, die darauf abzielt, Sozialleistungen und Löhne abzubauen und Löhne zu senken, wie das jetzt in Grie- chenland und teilweise in Südeuropa – auch durch Druck der Bundesregierung – geschieht und wohl weiterhin ge- schehen wird, ist zweifelhaft. Dies ist eine neoliberale Politik, die ganz sicher zu keiner Stabilisierung der Ver- hältnisse in Griechenland führen wird. 15416 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 (A) (C) (D)(B) Die Binnenkonjunktur in Griechenland wird unter diesen Maßnahmen leiden. Auch auf die deutsche Ex- portwirtschaft wird dieses Gesetz Auswirkungen haben. Sie wird zukünftig einen schwächeren Absatzmarkt in Griechenland vorfinden. Zudem sind andere Länder wie Italien, Spanien oder Frankreich in der Gefahr, dieselben Konsequenzen tragen zu müssen. Die Regulierung der Finanzmärkte ist zwingend erforderlich, wenn wir das europäische Finanzsystem insgesamt stabilisieren wol- len. Dies muss nun zügig durchgesetzt werden. Neben der inhaltlichen Abwägung gibt es allerdings noch die Diskussion über die demokratische Kontrolle des Rettungsschirms. Ich sehe meine Rechte aus Art. 38 GG, Art. 20 GG sowie dem Demokratieprinzip durch die vorgesehene Lösung gefährdet. Ich halte die Beteiligung des Bundes- tages bei konkreten Hilfszusagen in jedem neuen Einzel- fall für unverzichtbar. Der Kompromiss, der auf Betrei- ben der SPD-Fraktion gefunden wurde, ist nur eine Mindestlösung. Danach darf der Vertreter der Bundesre- gierung in der EFSF, der European Financial Stability Facility, einem Beschlussvorschlag, der die haushalts- politische Gesamtverantwortung des Bundestages berührt, nur dann zustimmen, wenn das Parlament zuvor einen zu- stimmenden Beschluss gefasst hat. Bei besonderer Eilbe- dürftigkeit oder Vertraulichkeit sollen die Beteiligungs- rechte des Bundestages von einem Unterausschuss des Haushaltsausschusses wahrgenommen werden, dem neun Mitglieder aus allen Fraktionen angehören sollen. Die SPD hat dazu einen Änderungsantrag vorgelegt, nach dem auch in Fällen der Eilbedürftigkeit oder Ver- traulichkeit der Haushaltsausschuss zustimmen soll – und nicht das Sondergremium. Dies wurde von der Re- gierung leider abgelehnt. Insgesamt wird es sehr wichtig sein, dass wir genau überprüfen, ob damit auch die erforderlichen Ziele er- reicht werden können. Diese Entscheidung reiht sich ein in eine Politik, bei der die Rechte des Parlaments und der einzelnen Abgeordneten immer weiter eingeschränkt werden. Diese Entwicklung halte ich für bedrohlich. Es wird Zeit, darüber endlich ausgiebig zu diskutieren und gegenzusteuern. Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Ich stimme dem Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabilisierungsmechanismus aus zwei Gründen nicht zu: Erstens: Die Aufstockung der Mittel des Stabilisie- rungsfonds ist im Ergebnis eine Unterstützung der Banken, der Finanzinstitute, der Reichen und der Superreichen. Im Haftungsfall werden wie immer die entstehenden Lasten aber von der großen Mehrheit der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler getragen. Ich befürchte auch eine Kürzung von Renten und anderen Sozialleistungen. Die Bundesre- gierung ist jedenfalls nicht bereit, für die gegenwärtigen Sozialstandards eine Garantieerklärung abzugeben. Des- halb lehne ich das Gesetz ab. Den Menschen in den Ländern, die Mittel von der EFSF erhalten, wird nicht wirklich geholfen: Die stren- gen Auflagen treffen dort vor allem die Geringverdiene- rinnen und Geringverdiener, die Rentnerinnen und Rent- ner. Die Folge davon ist, dass die Binnennachfrage einbricht. Dadurch werden weitere Menschen arbeitslos, und die Steuereinnahmen sinken. Die Fähigkeit zur Rückzahlung der gewährten Kredite wird immer weiter eingeschränkt. Das zeigt die Entwicklung in Griechen- land. Auch deshalb sage ich Nein zu dem Gesetz. Wir wollen stattdessen die Regulierung der Finanz- märkte, also die Banken endlich an die Kette legen, die Heranziehung der Riesenvermögen zur Schuldentilgung und eine konstruktive Unterstützung für die wirtschaftli- che Entwicklung in Griechenland und anderen betroffe- nen Ländern. Zweitens: Ich lehne das Änderungsgesetz auch des- halb ab, weil es die demokratisch-parlamentarische Kon- trolle des Bundeshaushalts aushöhlt. Im Rahmen der EFSF werden Entscheidungen getroffen, die Auswirkun- gen für spätere Generationen haben – so viel zur viel be- schworenen Generationengerechtigkeit. Die demokratische Kontrolle durch uns gewählte Ab- geordnete kann durch Unterrichtungen und Entscheidun- gen des Haushaltsausschusses nicht ersetzt werden. Noch weniger ist es mit demokratischen Grundsätzen verein- bar, wenn wichtige parlamentarische Entscheidungen an ein kleines Sondergremium delegiert werden. Auch des- halb sage ich Nein zu dem Gesetz, das die Unterordnung demokratischer Verfassungsprinzipien unter das Diktat der Finanzmärkte bedeutet. Marco Buschmann (FDP): Wir debattieren heute über einen vom Bundesrat eingebrachten Gesetzentwurf zur Einführung von Kammern für internationale Han- delssachen. Lassen Sie mich kurz einführen, warum ich es als wichtig erachte, diesen Gesetzentwurf hier im Deutschen Bundestag zu diskutieren. In einer globalisierten Handelswelt begegnen wir dem Wettbewerb nicht nur auf rein ökonomischer Ebene. Ebenso muss sich unser Rechtssystem im Vergleich zu anderen Rechtskreisen behaupten. Insbesondere in der internationalen Geschäftswelt ist das angelsächsische Recht auf dem Vormarsch. Das liegt nicht an der Überle- genheit des Common Law. Vielmehr herrscht in der ju- ristischen Fachwelt die Auffassung vor, dass das deut- sche Recht im internationalen Vergleich einen sehr hohen Qualitätsstandard für sich beanspruchen kann. Dieser hohe Qualitätsstandard setzt sich in der Rechts- pflege fort. Deutsche Gerichtsverfahren führen in der Regel schnell und mit vergleichsweise niedrigen Kosten zu einem für die Rechtsuchenden befriedigenden Ergeb- nis. Somit eignen sich nicht nur unsere Waren als Ex- portschlager. Auch unser Rechtssystem könnte einer werden. Jedoch ist das deutsche Recht im Vergleich zum Common Law einem Wettbewerbsnachteil ausgesetzt. Unser Rechtskreis könnte durch Abbau dieses Wettbe- werbsnachteils attraktiver werden: Der angelsächsische Rechtskreis spielt bislang den Vorteil der englischen Sprache als internationale Handelssprache voll aus. Un- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15417 (A) (C) (D)(B) ternehmen weichen häufig auf englischsprachige Ge- richtsstände aus oder vereinbaren Schiedsklauseln unter Verwendung der Verfahrenssprache Englisch, weil Eng- lisch meist allen Beteiligten geläufig ist. Die Einführung von Kammern für internationale Han- delssachen, in denen Englisch als Gerichtssprache zuge- lassen werden soll, kann dazu beitragen, die Wettbe- werbsfähigkeit des deutschen Rechts international erheblich zu verbessern und die Ausweichbewegungen abzumildern. Dass es bereits jetzt ein Bedürfnis für einen solchen Ansatz gibt, hat ein Modellprojekt des Oberlandesge- richtsbezirks Köln gezeigt. Die Landgerichte Köln, Bonn und Aachen haben in ihren Geschäftsverteilungs- plänen Kammern eingerichtet, in denen auf Englisch verhandelt werden kann. Sie berufen sich dabei auf § 185 GVG, wonach bei Übereinstimmung des Klägers und des Beklagten die Verhandlung in englischer Spra- che geführt wird, wenn beide auf einen Dolmetscher ver- zichten und der Prozess einen internationalen Bezug auf- weist. Sowohl die Justiz als auch die Anwaltschaft in Köln sind sich sicher, dass ihre Region, die Sitz von vie- len internationalen Unternehmen ist, nur so attraktiv bleiben kann. Der vorliegende Gesetzentwurf will dabei nicht nur erreichen, dass nach § 185 GVG ausnahmsweise in eng- lischer Sprache verhandelt werden kann, sondern dass auch Schriftsätze und Urteile entsprechend ausgefertigt werden können. Damit kann die Sprachbarriere des deut- schen Rechts für internationale Unternehmen weiter ab- gebaut werden. Um dieses Vorhaben zu prüfen und wei- terentwickeln zu können, wird der Rechtsausschuss zu diesem Gesetzentwurf im November eine öffentliche Anhörung durchführen. Zuletzt möchte ich noch auf die Sorgen der Kritiker eingehen. Es geht nicht um die Ersetzung der deutschen Sprache als Gerichtssprache. Vielmehr geht es darum, unser hervorragendes Rechtssystem zu bereichern. Es geht lediglich um eine eng begrenzte Ausnahme für den internationalen Handelsverkehr, die das Einverständnis aller Beteiligten voraussetzt. Dagegen kann, wie ich meine, niemand etwas haben. Sylvia Canel (FDP): Vertrauen in ein gemeinsames Europa mit einer gemeinsamen Währung setzt voraus, dass sich alle Länder an einen nachvollziehbaren und stabilitätsorientierten Ordnungsrahmen halten. Dieser Rahmen sollte eine schlüssige Perspektive und Anreize zum verlässlichen und nachhaltigen Handeln bieten. Ei- genverantwortung, Haftung und Kontrolle gehören zu- sammen und sind Grundlage unserer europäischen Ge- meinschaft und nicht voneinander trennbar. Die Länder sind in hohem Maße eigenverantwortlich und dem Maastrich-Vertrag, der die Staatsverschuldung auf ein unkritisches Maß begrenzt, verpflichtet. Die Schwellenwerte von 3 Prozent für das laufende Defizit und 60 Prozent für den Schuldenstand – jeweils bezogen auf das Bruttoinlandsprodukt – haben einen ausge- glichenen Haushalt zum Ziel, ein Ziel, das mit Nach- druck verfolgt werden muss. Der, der dazu nicht bereit ist, gefährdet die Gemeinschaft und nicht der, der auf die Einhaltung des Ziels besteht. Trotz der Richtigkeit des gemeinsamen Vertrages wurde dieses Ziel immer weiter aus den Augen verloren. Es fehlte der politische Wille zur Umsetzung. Es exis- tiert also kein unmittelbares Regelungsdefizit, sondern ein Vollzugsdefizit, das die heutige Krise begründet. Die zunehmende Verflechtung der Finanzinstitutionen macht es jedoch auch erforderlich, nachzusteuern und neue Re- gelungen zu ergänzen. Meine Fraktion hat diese Instru- mente maßgeblich erarbeitet. Diese Arbeit unterstütze ich, deshalb stimme ich nicht mit einem Nein. Die vorgelegten Lösungen der Koalition in der euro- päischen Haushalts- und Finanzpolitik sollen die Grund- lagen für Maßnahmen legen, die es erlauben zielorien- tierter zu fördern und konsequenter zu fordern. Bedauerlicherweise sind diese Instrumente damit ver- bunden, dass die Bürgschaftssumme für Deutschland ein weiteres Mal erheblich erhöht wird, was zu einer großen Belastung führt und am Ende zum Verlust der deutschen Kreditwürdigkeit führen könnte. Der Aufbau Europas auf Schulden ist ein Weg, der die politische Gestaltungs- möglichkeit kommender Generationen erheblich ein- schränkt und deshalb nicht meine Zustimmung finden kann. In Abwägung der unterschiedlichen Positionen ent- halte ich mich der Stimme. Dr. Peter Danckert (SPD): Zu meinem Abstim- mungsverhalten zum heutigen Tage erkläre ich Folgen- des: Ich stimme dem Gesetzentwurf zwar zu, möchte aber folgende Bedenken zu Protokoll geben: Ich bin davon überzeugt, dass die Rettungsmaßnah- men, die mit dem Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines Europäischen Stabilitätsmechanismus einhergehen, der richtige Weg zur Rettung des Euro-Raums sind. Die haushaltsrechtliche Gesamtverantwortung des Deut- schen Bundestages wird jedoch durch die in § 3 Abs. 3 vorgesehene Regelung nicht verfassungsgemäß ausge- staltet. Meine Rechte aus Art. 38 GG, Art. 20 GG sowie dem Demokratieprinzip werden durch die vorgesehene Lösung auf verfassungswidrige Weise unterlaufen. Des- halb werde ich voraussichtlich gegen das Gesetz Organ- klage vor dem Bundesverfassungsgericht erheben. Die Tatbestandsmerkmale der Vertraulichkeit oder Eilbedürftigkeit sind meiner Ansicht nach keine über- zeugenden Argumente, um die vorgesehene Ausgestal- tung des § 3 Abs. 3 zu rechtfertigen. Erstens. Fälle besonderer Vertraulichkeit: In den letzte Jahrzehnten gab es meiner Kenntnis nach keinen Fall, in dem ein Abgeordneter die vorgese- hene Vertraulichkeit der zu treffenden Entscheidungen – zum Beispiel Dokumente, die als Geheim klassifiziert sind – gebrochen hat. Daher ist es nicht nachvollziehbar, dass man zwischen denjenigen unterscheidet, denen man die Geheimhaltung zutraut, und solchen, die die Vertrau- 15418 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 (A) (C) (D)(B) lichkeit mutmaßlich brechen. In dieser Handhabung sehe ich eine Verletzung meiner Rechte, sowohl als Abgeord- neter, als auch als Person. Zweitens. Fälle besonderer Eilbedürftigkeit: Bei einer eilbedürftigen Situation, die zum Beispiel bei einer Intervention der EFSF am Sekundärmarkt vor- liegt, könnten die Mitglieder des Haushaltsausschusses ebenso schnell zusammengerufen werden, wie die Mit- glieder des Kleinstgremiums. Wenn mehrere Mitglieder des Kleinstgremiums sich zum besagten Zeitpunkt bei- spielsweise auf einer Dienstreise in Australien befinden, dann sind sie gleichermaßen schwer zu erreichen. Ich hoffe inständig, dass die verantwortlichen parlamentari- schen Geschäftsführer nicht vorhaben, eine Telefon- oder Videokonferenz für diese Fälle vorzusehen, und so die Abstimmung aus der Ferne zuließen. Dies würde in entscheidender Weise die Geheimhaltung gefährden. Ein solches Verfahren widerspricht darüber hinaus den organschaftlichen Verpflichtungen, die der Deutsche Bundestag sich selbst gegeben hat. Es ist in keinem Fall zulässig, die Zustimmung, beispielsweise zum Haus- haltsgesetz, per Telefon zu erklären. Es ist stets die An- weisung im Plenum oder im Ausschuss erforderlich. Reiner Deutschmann (FDP): Ich habe Zweifel, ob der zur Abstimmung vorliegende Gesetzentwurf der ein- zig richtige Weg ist, um die Schuldenkrise der Euro- Staaten wirksam zu bekämpfen. Auch wenn ich das Ziel grundsätzlich teile, in Not geratenen Euro-Staaten zu helfen, so muss es nach meiner Überzeugung möglich sein, diejenigen Staaten in eine geordnete Insolvenz zu überführen, die ihr Schuldenproblem nicht mehr bewäl- tigen können oder wollen. Problematisch ist aus meiner Sicht auch, dass die Risiken, die aus der Schuldenkrise einiger Euro-Staaten resultieren, nicht vollumfänglich eingeschätzt werden können. Ich stimme dem Gesetzentwurf dennoch zu, da es der- zeit keine anderen schlüssigen Alternativen zur Rettung der Euro-Krisenstaaten gibt. Mit dem Gesetzentwurf be- weist die Koalition von CDU/CSU und FDP, dass sie handlungsfähig ist und sich ihrer staatspolitischen Ver- antwortung stellt, im Bewusstsein der wirtschaftlichen Bedeutung Europas für unser Land sind Union und FDP gewillt, die zur Stabilisierung unseres Finanzsystems notwendigen Schritte einzuleiten, auch wenn dies bedeu- tet, Deutschland einer verschärften Bürgschaft für Euro- Krisenstaaten zu unterwerfen. Meine Zustimmung erteile ich nur, da festgeschrieben ist, dass jede finanzielle Zusage auf Grundlage dieses Gesetzes von der Zustimmung des Deutschen Bundesta- ges und seiner Gremien abhängig gemacht wird. Damit erfährt das deutsche Parlament eine bis dahin nie dage- wesene Stärkung seiner Bedeutung bei finanzpolitischen Entscheidungen europäischen und weltweiten Ausma- ßes. Thomas Dörflinger (CDU): Die Erweiterung der EFSF wird nicht die gewünschten Effekte bringen. Nach meiner Überzeugung würde selbst der auf 780 Milliar- den Euro erhöhte Garantierahmen nicht ausreichen, falls sich die Krise ausbreitet und Italien oder Spanien er- reicht – zumal die EFSF künftig auch Anleihen ange- schlagener Euro-Länder kaufen soll. Unklarheiten beste- hen weiterhin dadurch, dass die zusätzlich vorgesehenen Kompetenzen des Rettungsschirms noch nicht abschlie- ßend geregelt sind. Fraglich ist auch, wie sich die Be- schlüsse des Europäischen Rates vom 21. Juli 2011 auf die praktische Arbeit des Fonds auswirken, da die Aus- führungsbestimmungen zum EFSF-Rahmenvertrag noch nicht vollständig vorliegen. Warum sollte Deutschland weitere Garantien geben und Gefahr laufen, selbst Kre- ditwürdigkeit einzubüßen? Eine Schuldentragfähigkeit Griechenlands ist bereits heute nicht mehr gegeben. Mit neuem Geld, neuen Schulden wäre Griechenland nicht geholfen, das schon in der Vergangenheit die Anforde- rungen der sogenannten Troika nicht erfüllen konnte. Konditionalität: Das führt mich zu einem zentralen Punkt: Mit der Verschärfung des Stabilitäts- und Wachs- tumspakts wurden Teile der nationalen Budgetkontrolle an die EU abgetreten. Bisher sehe ich aber nicht, dass die neuen Regeln greifen. Wahrscheinlicher ist, dass gerade hoch verschuldete Länder wie Griechenland immer wie- der Wege finden werden, um Verschuldungsregeln zu umgehen. Wir geben zwar Geld, unsere Einflussmög- lichkeiten und Durchgriffsrechte auf die zu rettenden Länder sind aber zu gering. Daher halte ich den einge- schlagenen Weg für falsch. Das Signal an die Märkte muss heißen: keine unbegrenzten Hilfen, keine Spekula- tion gegen ohnehin schon angeschlagene Länder, kein „Weiter-so“ um jeden Preis. Die Politik ist zum Spielball der Finanzmärkte geworden, eine Entwicklung, die drin- gend der Umkehrung bedarf. Leverage-Effekt: Die aktuelle Diskussion um eine nachträgliche Ausweitung des Rettungsfonds macht au- ßerdem deutlich, wohin die Reise gehen könnte. So exis- tieren Planspiele, die EFSF mit einem „Hebel“ zu verse- hen, um ihr Ausleihvolumen erheblich zu vergrößern. Ich halte es für durchaus denkbar, dass der Fonds in die Lage versetzt werden soll, selbst Anleihen der Krisen- staaten zu kaufen; diese werden dann bei der EZB als Si- cherheit hinterlegt und der Fonds bekäme dafür von der Zentralbank neues Geld für weitere Ankäufe. Das sind Stimmen, die bereits selbst aus der Kommission zu hö- ren sind und einer praktisch unbegrenzten Kreditlinie für den Fonds das Wort reden. Unabhängig davon, wie wahrscheinlich die Aufhebe- lung des Rettungsschirms ist: Die Märkte eilen der Poli- tik wieder einmal voraus. Der Bundestag stimmt heute über die Aufstockung des Rettungsschirms ab, während die Märkte längst über den nächsten Schritt spekulieren und damit neue Gefahren aufzeigen. EZB-Risiken: Der Aufkauf von Staatsanleihen durch die EZB birgt erhebliche Risiken. Am Beispiel Italien zeigt sich, dass dadurch die Zinsen für Schuldverschrei- bungen sinken, wodurch der Anreiz für weitere Sparan- strengungen sinkt. Ein weiteres Problem sind die soge- nannten Offenmarktgeschäfte. Bereits heute sind Banken in einigen Ländern allein auf die EZB angewiesen, kön- nen sich nicht mehr im Interbankenmarkt finanzieren. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15419 (A) (C) (D)(B) Das Resultat ist die Akzeptanz minderwertiger Sicher- heiten durch die EZB und für mich die Frage, wie be- herrschbar die Risiken sind, die die EZB im Rahmen ih- rer geldpolitischen Maßnahmen eingegangen ist. Bonität Deutschlands: Wir müssen zur Kenntnis neh- men, dass die Preise für die Kreditausfallversicherungen deutscher Staatsanleihen deutlich gestiegen sind. Darin sehe ich zumindest ein Anzeichen, dass sich Deutsch- land mit weiteren Garantieübernahmen überfordern könnte, der Garantieansatz insgesamt an seine Grenzen stößt. Das Vertrauen in die deutsche Zahlungsfähigkeit ist jedoch in der gegenwärtigen Situation von zentraler Bedeutung, weil Deutschland einen Großteil der Unter- stützungsleistungen für die Euro-Krisenländer aufbringt. Darauf hat auch jüngst Bundesbankpräsident Weidmann hingewiesen. Die Wahrscheinlichkeit, dass Deutschland für die Kreditzusagen auch tatsächlich in Haftung ge- nommen wird, ist zumindest gegeben. Wir dürfen unsere Wirtschaftskraft auch nicht überschätzen. Finalität: Die Erweiterung des deutschen Bürgschafts- rahmens für die EFSF steht in einer Reihe von zahlrei- chen Hilfsmaßnahmen für verschuldete Staaten, dessen Ende nicht absehbar ist. Bislang sind diese Maßnahmen ohne nachhaltige Wirkung geblieben, die angekündigten Ziele wurden nicht erreicht, insbesondere wurde das Vertrauen der Kapitalmärkte in Griechenland nicht ge- stärkt. Ich gehe weiterhin davon aus, dass an einer Um- schuldung Griechenlands kein Weg vorbeiführt. Dem Argument, mit einer EFSF plus würden Ansteckungsge- fahren vermieden, halte ich entgegen, dass neben Grie- chenland weitere Staaten in Bedrängnis gekommen sind – trotz des Rettungsschirms. Lediglich der formale Zahlungsausfall Griechenlands konnte bislang verhin- dert werden, das allerdings um den Preis einer europäi- schen Haftungsgemeinschaft, exorbitanter Garantieleis- tungen und eines Glaubwürdigkeitsverlustes der EZB. Dagegen wäre der – für mich ohnehin nicht zu ver- meidende – Haircut Griechenlands eine Alternative, die auf dieses Land beschränkt bliebe. Irland und Portugal haben nicht die strukturellen Probleme wie Griechenland und können mit dem bisherigen Rettungsschirm stabili- siert werden. Richtig ist, dass Ansteckungseffekte unver- meidlich sind. Jedoch können die tatsächlichen Kosten für beide Szenarien nicht berechnet werden, bei einer In- solvenz Griechenlands gäbe es – das ist der große Vorteil – aber immerhin einen Schlusspunkt. Politisches Signal an die Märkte: Letztlich ist ebenso entscheidend, welches politische Signal an die Märkte gesandt wird. Die Installation von EFSF und ESM ist dem Grunde nach lediglich reaktiv. Der Gesetzentwurf versucht, künftige Risiken zu minimieren oder be- herrschbar zu machen. Notwendig wäre ein deutliches proaktives Signal, das einerseits den Willen der Politik kenntlich macht, sowohl durch eine nachhaltige Etatpoli- tik in den EU-Mitgliedstaaten die Ursachen der Krise an- zugehen als auch weitergehende Maßnahmen zur Regu- lierung der Märkte umzusetzen, zu denen eine Zulassungsprüfung von Finanzprodukten ebenso gehö- ren muss wie das Verbot von Produkten, die die dienende Funktion des Bank- und Finanzsektors für die Realwirt- schaft konterkarieren. Das Verbot von Leerverkäufen war ein erster Schritt, dem weitere folgen müssten. Pri- mat der Politik heißt folglich: Die Politik regelt den Markt und nicht umgekehrt! Werner Dreibus (DIE LINKE): Ich stimme aus fol- genden Gründen gegen diesen Gesetzentwurf der Bun- desregierung: Erstens. Die Maßnahmen greifen nicht die Krisenur- sachen an. Von der Ausweitung des Euro-Rettungsfonds profitiert ausschließlich der Finanzmarkt. Banken und Spekulanten werden aus Steuergeldern bedient. Die Ur- sachen der Krise bleiben gleichzeitig unangetastet. Die Krisenländer werden nicht unterstützt, sondern durch falsches Sparen weiter ausgeblutet. So wird die Krise nicht bewältigt, sondern nur weiter befeuert. Zweitens. Die Falschen müssen zahlen. Statt aus Steuergeldern die Banken zu bedienen, sollten die Kri- senfolgen primär von denen getragen werden, die zuvor von dem System profitierten. Ohne eine Börsenumsatz- steuer, eine EU-weite Vermögensabgabe für Superreiche und eine Beteiligung großer privater Gläubiger sind die Belastungen und Risiken für diese Erweiterung des Euro-Rettungsschirms zutiefst ungerecht verteilt. Drittens. Die möglicherweise enormen Aufwendun- gen sind demokratisch nicht ausreichend legitimiert. Nach dem vorliegenden Entwurf kann die Bundesregie- rung unter bestimmten Umständen die Parlamentsbetei- ligung praktisch völlig umgehen. Die Unterrichtungs- pflichten sind nicht ausreichend. Vielmehr müssen die Finanzmärkte streng reguliert werden, die Banken müs- sen unter demokratische Kontrolle gestellt werden. Nur durch diese Maßnahmen ist sichergestellt, dass die Steu- ergelder im Sinne der Steuerzahler verwendet werden. Viertens. Der Schutz der großen Mehrheit der Bürge- rinnen und Bürger ist nicht ausreichend. Rentnerinnen und Rentner, Transferleistungsbeziehende und Men- schen mit kleinen oder mittleren Einkommen sind auf ei- nen handlungsfähigen Staat angewiesen. Durch die mög- lichen immensen Ausgaben im Haftungsfall drohen europaweit ein weiterer drastischer Sozialabbau und Steuererhöhungen für niedrige und mittlere Einkommen. Heute schon verheerend sind die Auswirkungen für die Menschen in den sogenannten Krisenländern: Massen- entlassungen, Sozialabbau, Einkommensverluste und Steuererhöhungen greifen in Griechenland bereits um sich und verstärken die Krisenfolgen noch. Alexander Funk (CDU/CSU): Das Gesetz zur Er- weiterung der EFSF setzt den aus meiner Sicht falschen Weg der Schuldenkrisenbewältigung durch Bürgschafts- übernahmen fort. Der weiteren Erhöhung der Risiken für unseren Haushalt, die sich durch die Anhebung des Ga- rantierahmens auf 779,8 Milliarden Euro ergeben, sowie der Abschwächung der strikten Konditionalität bei der Gewährung von Kredittransfers kann ich nicht zustim- men und lehne das vorliegende Gesetz ab. In dreifacher Weise ist die Intention der Einrichtung eines temporären Rettungsmechanismus vom 7. Mai 15420 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 (A) (C) (D)(B) 2010 – vor der ich bereits damals gewarnt habe – als ge- scheitert anzusehen: Mit der Einrichtung der Zweckgesellschaft EFSF nur einige Tage nach der Bewilligung des ersten Griechen- landpaketes in Höhe von 110 Milliarden Euro verband sich die Hoffnung, dass durch eine Gesamtgarantie von 440 Milliarden Euro seitens der Euro-Länder ein Instru- mentarium geschaffen worden sei, dass alleine durch seine Existenz die weitere Spekulation auf Zahlungsaus- fälle überschuldeter Euro-Staaten eindämmen könnte und die notwendige Zeit zu strukturellen Anpassungen und haushälterischen Sparbemühungen schenken würde. Von einer Beruhigung der Finanzmärkte kann indes keine Rede sein, im Gegenteil: Ein Jahr später stehen nicht nur Portugal und Irland vor langjährigen und tief greifenden Anpassungsprozessen, deren Ausgang und Erfolg angesichts der weltweiten Wirtschaftssituation sowie der makroökonomischen und strukturellen Grund- lagen der Länder selbst höchst fragwürdig ist. Die Aus- weitung des Garantierahmens ist nun auch bereits vor der Zuspitzung der wirtschaftlichen Situation der Ban- ken in Frankreich, der berechtigten Herabstufung der Bonität Italiens sowie den Zweifeln an einer mittelfristi- gen Verbesserung der Wirtschaftslage in Spanien zu se- hen. Auch rächt es sich, dass seit über einem Jahr die unvermeidbare Insolvenz Griechenlands gegen alle Rat- schläge ignoriert und durch Milliardenbürgschaften ver- schleppt wurde. Das neue Rettungspaket für Griechen- land in Höhe von 109 Milliarden Euro reduziert bereits das effektive Ausleihvolumen der EFSF auf circa 280 Milliarden Euro. Es ist schon jetzt absehbar, dass jede weitere und naheliegende Zuspitzung der Schuldenkrise – etwa ihre Ausweitung auf Italien, Spanien oder gar Frankreich – weder durch die EFSF-Konstruktion noch überhaupt durch eine Erhöhung des Garantierahmens durch Länder mit AAA-Bonität zu beherrschen ist. Überdies hegte man die Hoffnung, durch Kredittrans- fers in sogenannten Ultima-Ratio-Fällen einerseits Zeit zur Konsolidierung gewinnen zu können, andererseits aber die notwendige Disziplinierung der Schuldenstaa- ten durch Zinsaufschläge am freien Kapitalmarkt nicht völlig zu suspendieren. Dies ist offenkundig gescheitert, wie die neuen Instrumentarien der EFSF eindrucksvoll belegen: Jede Kompetenzerweiterung der EFSF in der vorgelegten Fassung ist dazu angetan, die disziplinie- rende Wirkung durch die Kapitalmärkte selbst weiter zu schwächen bzw. restlos auszuhebeln: Niedrigere Zins- sätze und längere Laufzeiten für GRE, POR und IRL entlasten weiter von unvermeidlichen Restrukturierun- gen der Volkswirtschaften bzw. verzögern die griechi- sche Schuldenagonie weiter. Anleihenkäufe durch die EFSF auf dem Primär- und Sekundärmarkt entkoppeln die Kreditaufnahme der Schuldenländer nahezu beliebig von den Bewertungen der Kapitalmärkte selbst und la- den dazu ein, die Schuldenspirale weiter zu überdehnen. Die Möglichkeit des Aufkaufs ohne vorherige Integra- tion des entsprechenden Landes in ein Hilfsprogramm führt die angestrebte Konditionalität der Hilfsmaßnah- men ebenso ad absurdum wie die Möglichkeit des prä- ventiven Gebrauchs der Mittel. Mit diesen Instrumentarien wird nun auch offensicht- lich versucht, den Sündenfall der Degradierung der EZB zu einer Bad Bank vergessen zu machen: Die eigentlich der Geldwertstabilität verpflichtete EZB ist inzwischen mit 143 Milliarden Euro direkt in Staatsanleihen der Euro-Peripherie investiert, wobei pro Woche zwischen 10 und 15 Milliarden Euro in Stabilisierungskäufe für ITA- und ESP-Bonds hinzukommen. Selbst wenn diese ökonomisch falsche Maßnahme nun seitens der ESFS fortgeführt wird, ist eine Erschöpfung des Ausleihvolu- mens innerhalb des nächsten halben Jahres absehbar. Auch vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass der eingeschlagene Weg mit hoher Wahrscheinlichkeit ent- weder zu einer Erweiterung des Garantierahmens führen muss oder zu einer fortgesetzten Umwidmung der EZB zum Finanzierungsinstrument für die Euro-Peripherie. Die Pervertierung ihrer eigentlichen Aufgabe und die Leichtigkeit, mit der offensichtlich die stabilitätsorien- tierten Vertreter im EZB-Rat überstimmt werden, ohne die nötige politische Rückendeckung zu erhalten, hat zu einem irreparablen Verlust des Vertrauens in die Unab- hängigkeit der Notenbank geführt, vor dessen Folgen ich gewarnt habe und weiter warnen werde. Ich lehne es ent- schieden ab, die Refinanzierungsprobleme einzelner Staaten durch eine Aufhebung der Geldwertstabilität lö- sen zu wollen. Den Vertretern unseres Landes im EZB-Rat, die sich bis zuletzt gegen die Bad-Bank-Politik gewehrt haben und verständlicherweise ihre persönlichen Konsequen- zen gezogen haben, gilt mein Respekt und mein Dank für ihre Bereitschaft, zu ihren richtigen Überzeugungen zu stehen. Auch mit der EFSF-Neufassung wird es nicht gelin- gen, verlorenes Vertrauen in die Schuldentragfähigkeit aller Euro-Staaten zurückzugewinnen. Zu Recht gehen Investoren nicht davon aus, dass durch eine Mischung aus rezessiven Mitteln – massive Ausgabenkürzungen und Einnahmeerhöhungen – und Kredittransfers auch nur annähernd die zur Schuldenreduktion benötigte wirt- schaftliche Dynamik generierbar sein könnte. Diese Be- wertung teile ich uneingeschränkt. Dieser Weg erweist sich immer deutlicher als hoch riskant und zur Krisenbewältigung ungeeignet. Die von uns immer wieder angeregten Alternativen, (Teil-)Reka- pitalisierungen von Finanzinstituten, Schuldenschnitte, direkte Verhandlungen zwischen Gläubigern und Schuldner, werden indes weiter ignoriert. Aus diesen Gründen kann ich mich dem Mehrheitsvo- tum der Fraktion nicht anschließen. Dr. Thomas Gebhart (CDU/CSU): Ich will deutlich machen, dass ich hinsichtlich der Entscheidungsfindung in dieser Frage sehr mit mir gerungen habe. Warum? Aus meiner Sicht mangelt es derzeit an Klarheit darüber, in welche Richtung Europa, insbesondere die Euro- Zone, sich weiterentwickeln soll und wird. Wie wird das Europa von morgen aussehen? Meine Überzeugung, ins- besondere mit Blick auf die Euro-Zone, lautet: Wir brau- chen einen neuen institutionellen Rahmen. Wir müssen Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15421 (A) (C) (D)(B) die Regelungen zur Währungsunion verändern und in Ordnung bringen. Beispielsweise brauchen wir klare Stabilitätsregeln, echte und automatische Sanktionen und spürbare Konsequenzen bei Verstößen gegen die Stabilitätskriterien sowie Schuldenbremsen in den Ver- fassungen der Mitgliedsländer. Es muss klar sein: Wer zu hohe Schulden macht, kommt um Anpassungen nicht herum. Hingegen entspricht es nicht meiner Vorstellung, dass wir für die Staatsschulden anderer Länder dauerhaft ein- stehen. Deshalb lehne ich entschieden sogenannte Euro- Bonds, das heißt die Vergemeinschaftung der Schulden im Euro-Raum als Regelfall, ab. Wir würden permanent für die Schulden, die andere machen, haften, ohne dass wir die Politik, die zu diesen Schulden führt, maßgeblich beeinflussen können – dies kann auf Dauer nicht gut ge- hen. Die Menschen werden dies, so meine Einschätzung, nicht akzeptieren. Die Zustimmung der Bevölkerung zum europäischen Integrationsprojekt würde weiter schwinden, und Europa könnte am Ende großen Schaden nehmen. Bei der Abstimmung heute geht es um den temporä- ren Euro-Rettungsschirm, der ertüchtigt werden soll. Es ist unabdingbar, dass die Mitgliedsländer die Zeit, die sie dadurch gewinnen, nutzen, um ihre Haushalte nachhaltig zu konsolidieren. Die Zeit muss zudem genutzt werden, um in dem oben beschriebenen Sinne die Regelungen zur Währungsunion zu verbessern. Es ist zu begrüßen, und es ist notwendig, dass der Deutsche Bundestag künf- tig bei Entscheidungen über die Vergabe von Hilfen im Rahmen des Rettungsschirms umfassend beteiligt wird. Hilfsmaßnahmen kann es jeweils nur mit Zustimmung des Bundestages geben, sodass es das Parlament künftig selbst immer wieder in der Hand haben wird, zu ent- scheiden, ob sich Hilfen im konkreten Fall rechtfertigen lassen oder nicht. Würden wir den Rettungsschirm nicht ertüchtigen, so die Warnungen, besteht die Gefahr, dass es zu unkontrol- lierten Kettenreaktionen kommen könnte, mitunter mit der Folge erheblicher wirtschaftlicher und sozialer Ver- werfungen. Dies in Kauf zu nehmen, scheint nur schwer verantwortbar. Der ertüchtigte Rettungsschirm soll künf- tig vorübergehend gerade besser als bisher ermöglichen, im Falle kritischer Situationen einzelner Länder Anste- ckungsgefahren für die restliche Euro-Zone entgegenzu- treten. Nimmt man all dies zusammen, komme ich in der Ab- wägung zu dem Ergebnis, dem Gesetzentwurf, trotz Be- denken, zuzustimmen. Gleichwohl erwarte ich, und ich halte es für notwendig, dass die durch die temporären Hilfsmöglichkeiten gewonnene Zeit genutzt wird, um den Weg hin zu einer nachhaltigen Finanzpolitik in der Euro-Zone zu beschreiten und die währungspolitischen Regelungen zur Euro-Zone nachhaltig zu verbessern. Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): Erstens. Ich wün- sche nicht, dass Arbeitslose, Rentnerinnen und Rentner, Geringverdienende in Griechenland, möglicherweise später auch in Spanien, Portugal, Italien oder in anderen europäischen Ländern für falsches Regierungshandeln und Spekulationen zur Kasse gebeten werden. Mir ist klar, dass die Millionäre in Griechenland, die keine Steu- ern zahlen, eng verbunden sind mit den Millionären und Bankspekulanten in Deutschland. Ich meinerseits bin eng verbunden den Menschen in Griechenland, die sich gegen diese Politik wehren. Zweitens. Ich befürchte, dass mit einer solchen Poli- tik die Europäische Union und damit Europa immer mehr in einen schlechten Ruf gerät. Mir ist es unerträg- lich, dass Rechtsextreme und Rechtspopulisten in Eu- ropa an Terrain gewinnen. Ich sage Nein zum Gesetz der Bundesregierung, weil ich Ja sage zu Europa, Ja zu ei- nem anderen Europa der sozialen Gerechtigkeit und des sozialen Ausgleichs. Ja zu einer anderen Europäischen Union. Drittens. Ich sage Nein zum Gesetz der Bundesregie- rung, weil die deutsche Politik durch ihren Druck auf das Lohnniveau, durch die Aufweichung sozialer Stabilität, wie es die Hartz-Gesetze deutlich gemacht haben, durch eine fast ausschließlich auf den Export orientierte Wirt- schaftspolitik den Boden für die heutigen Probleme we- sentlich mit geschaffen hat. Heute beweist sich, dass die Haltung der PDS richtig war, die Einführung des Euro als Gemeinschaftswährung an eine Harmonisierung der europäischen Sozial- und Steuerpolitik zu binden. Nicole Gohlke (DIE LINKE): Heute stimme ich ge- gen die Erweiterung des Euro-Rettungsschirms. Gerettet werden die Banken, nicht die Menschen. Die Banken können weiter zocken, den Menschen in Griechenland, Portugal und Irland werden Sozialleistungen und Löhne gekürzt. Die Europäische Kommission erzwingt über den Rettungsschirm auch die Privatisierung öffentlichen Eigentums in diesen Ländern. Gegen das Kürzungsdiktat bin ich nicht nur aus Solidarität mit den Menschen in den betroffenen Ländern, die oft ohnehin nur sehr nied- rige Löhne und Sozialleistungen bekommen. Die Kür- zungspolitik verschärft auch die Krise insgesamt. Außer- dem löst sie einen neuen Dumping-Wettbewerb in Europa aus. Der Sozialabbau in den betroffenen Ländern droht wie ein Bumerang zu uns zurückkehren und auch bei uns Renten, Löhne usw. unter Kürzungsdruck setzen. Die öffentlichen Schulden sind Ergebnis einer Steuer- senkungspolitik für die Reichen und der Rettungspakete für die Banken. Öffentlichen Schulden stehen gewaltige private Vermögen gegenüber, die sich in den Händen weniger konzentrieren. Die Schuldenkrise kann letztlich nur durch die Umverteilung von Reichtum gelöst werden. Die aktuelle Krise der Staatsfinanzen kommt nicht aus dem Nichts. Sie ist eine neue Phase der tiefen Weltwirt- schaftskrise, die 2008 offen ausgebrochen ist. Sie ist Folge eines Wirtschaftssystems, das darauf basiert, dass das eingesetzte Kapital sich beständig vermehrt. Ser wachsende Kapitalstock stellt immer größere Profitan- sprüche an die Gesellschaft. Die Profitansprüche müssen aus der gesellschaftlichen Wertschöpfung bezahlt wer- den. Deshalb entsteht ein Konflikt zwischen den Profitan- sprüchen einerseits und den Löhnen und der Finanzie- rung öffentlicher Leistungen andererseits. Notwendig ist eine Demokratisierung der Wirtschaft, damit nicht mehr 15422 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 (A) (C) (D)(B) die Profitmaximierung, sondern das Allgemeinwohl Maßstab wirtschaftlicher Entscheidungen ist. Josef Göppel (CDU/CSU): Das Gesetz zur Ände- rung des Gesetzes zur Übernahme von Gewährleistun- gen im Rahmen eines Europäischen Stabilisierungsme- chanismus beinhaltet den dritten Rettungsschirm seit 2008: Deutschland erhöht seine Garantieverpflichtung von 123 auf 211 Milliarden Euro, ohne dass damit eine Regulierung spekulativer Finanzgeschäfte verbunden ist. Das Marktversagen auf dem Finanzsektor ist neben der erhöhten Staatsverschuldung aber eine wesentliche Ursa- che der gegenwärtigen Krise. Der deregulierte Finanzmarkt ist der politischen Gestaltung entglitten. Täglich wird an den Börsen der Welt das 80-Fache des Produktionswerts aller Güter und Dienstleistungen gehandelt. Solche Sum- men können mit Steuererträgen aus der Realwirtschaft nicht mehr aufgefangen werden. Neue Anleihen für zu- sätzliche Rettungsschirme treiben vielmehr die Schul- denspirale weiter an und bieten Ansatzpunkte für neue spekulative Angriffe. Deshalb sind weitere Rettungsschirme ohne rechtli- che Regulierung des Finanzsektors nutzlos und nicht verantwortbar. Wir brauchen eine Finanzmarktordnung, die spekulative Überhitzungen eingrenzt, hochriskante Geschäfte verbietet und Finanzakteure zur persönlichen Haftung heranzieht. Der Finanzsektor muss seine Ret- tungsschirme in Zukunft selbst finanzieren. Die Banken- abgabe in Deutschland ist dafür ein Anfang. Der wirk- samste Schritt zur Stabilisierung des Finanzsektors ist international die Finanztransaktionsteuer. Sie muss für die Euro-Zone vor weiteren Bürgschaften beschlossen werden, damit Rettungsaktionen nicht immer wieder verpuffen. Ich bin entschieden für unsere Gemeinschaftswäh- rung und deren Stützung. Das muss aber im Rahmen ei- ner gerechten und nachhaltigen Finanzordnung gesche- hen, die den Grundwerten der Sozialen Marktwirtschaft entspricht. Das Konzept des europäischen Stabilisie- rungsfonds bindet in großem Umfang allgemeine Steuer- mittel, die für andere öffentliche Aufgaben fehlen, und konzentriert den Ertrag bei anonymen Finanzakteuren. Dieser ordnungspolitischen Fehlsteuerung kann ich nicht zustimmen. Die Politik muss ihre demokratische Gestal- tungshoheit zurückholen, weil Machtlosigkeit gegenüber dem Markt und die Duldung einer faktischen Nebenre- gierung letztlich das Vertrauen in die repräsentative De- mokratie zerstört. Aus diesen Gründen lehne ich den Gesetzentwurf zur Änderung des Gesetzes zur Übernahme von Gewährleis- tungen im Rahmen eines Europäischen Stabilisierungs- mechanismus ab. Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Für die Ent- wicklung der Bundesrepublik Deutschland in den ver- gangenen 60 Jahren ist die Einbindung in die westliche Welt und nach dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes in ein starkes Europa entscheidend gewesen. Wir haben wirtschaftliche Prosperität, Wohlstand und auch die deutsche Einheit erreicht, weil wir uns als verlässli- cher Partner erwiesen haben. Diesen Weg sollte Deutschland auch in der jetzigen Krisensituation fortset- zen. Zur Einführung des Euro wurden im Maastricht-Ver- trag Konvergenzkriterien vereinbart wie die Begrenzung der jährlichen Nettoneuverschuldung auf 3 Prozent und ein Gesamtschuldenstand von 60 Prozent des Bruttoin- landsprodukts. Diese Kriterien sind nicht von allen Staa- ten eingehalten worden, auch von Deutschland nicht. In der Folge haben sich verschiedene Länder in einer Höhe verschuldet, die jetzt die Stabilität unserer Währung ge- fährdet. Die jetzige Situation zeigt die Notwendigkeit, die Einhaltung der Konvergenzkriterien der Länder der Euro-Zone stärker zu überwachen als bisher und gegebe- nenfalls Möglichkeiten zur Verfügung zu haben, die Ein- haltung der Kriterien auch durchzusetzen. Gestern hat das Europaparlament bei Enthaltung von Grünen und Linken eine Verschärfung des Stabilitätspaktes beschlos- sen. Deutschlands Volkswirtschaft ist sehr eng mit seinen Nachbarn verzahnt. Eine durch die Insolvenz Griechen- lands ausgelöste Bankenkrise würde den deutschen Ex- port und die durch ihn getragenen Arbeitsplätze hart tref- fen. Daraus ergibt sich, dass Deutschland ein starkes Eigeninteresse daran hat, eine Insolvenz Griechenlands zu vermeiden. Außerdem ist es wichtig, die derzeitige Verschuldenskrise auf die tatsächlich notleidenden Staa- ten zu begrenzen. Dies ist nach meiner Einschätzung ge- lungen. Ich werde dem Rettungsschirm zustimmen. Instru- mente wie Euro-Bonds, die Schuldnern neue Kredite zu niedrigen Zinsen verschaffen, lehne ich ab. Es dürfen verschuldeten Staaten keine Anreize für eine höhere Ver- schuldung gegeben werden. Gemeinsame Staatsanleihen sind nur im Rahmen einer gemeinschaftlichen Finanz- und Wirtschaftspolitik denkbar, die es in der EU nicht gibt und auf weite Sicht nicht geben wird. Es muss ge- rade in den südeuropäischen Ländern das Verständnis dafür gestärkt werden, dass jedes Land die Mittel zu er- wirtschaften hat, die es für die Finanzierung des eigenen Staatswesens braucht. Dafür sind dort grundlegende Re- formen notwendig. Dabei sind wir in den letzten Mona- ten vorangekommen. Spanien wird zum Beispiel nach deutschem Vorbild eine Schuldenbremse in seiner Ver- fassung verankern. Auch Griechenland hat bereits Re- formen auf den Weg gebracht. Ich werde dem Gesetz auch deswegen zustimmen, weil es in den letzten Monaten gelungen ist, einen star- ken Parlamentsvorbehalt einzuziehen. In den 90er-Jah- ren hat die FDP darauf hingewirkt, dass Auslandsein- sätze der Bundeswehr außerhalb des Bündnisgebietes der Zustimmung des Bundestags bedürfen. Darüber wird in namentlicher Abstimmung entschieden. Ebenso hat jetzt die FDP-Fraktion darauf hingewirkt und durchge- setzt, dass die Regierung bei allen wesentlichen den Bundeshaushalt betreffenden Fragen der Euro-Stabilisie- rung das Parlament vorab beteiligt. Das ist kein formaler Akt. Der Parlamentsvorbehalt bindet die Regierung. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15423 (A) (C) (D)(B) Das Risiko für die deutsche Volkswirtschaft ist bei ei- ner Verweigerung der Zustimmung nach meiner Ein- schätzung deutlich größer als bei einer Zustimmung. Die genannten Zahlen sind angsteinflößend, 211 Milliarden sind fast die Hälfte des Volumens des Bundeshaushalts. Doch für eine Exportnation wie Deutschland ist die Zah- lungsfähigkeit der Kunden ein hohes Gut. Unsere Bereit- schaft zur Solidarität verbunden mit den Forderungen nach Konsolidierung der Haushalte, Reformen der Ver- waltung, Privatisierungen hat in den verschuldeten Län- dern bereits Wirkung gezeigt. Mir ist das „gemeinsame Haus Europa“ sehr wichtig. Ich habe als Schülerin bereits im ersten Jahr am deutsch- französischen Austauschprogramm teilgenommen und dieses Programm begleitete mich während der Sommer- ferien in allen weiteren Jahren auf dem Gymnasium. Ich fühle mich meiner damaligen französischen Freundin noch immer verbunden. Mein Vater war Soldat in beiden Weltkriegen. Von ihm habe ich gelernt, dass die deutsch- französische Freundschaft ein sehr hohes Gut ist, die Überwindung der sogenannten Erbfeindschaft eine große politische Leistung und ein Gewinn für die Men- schen. Bei der Entscheidung zum vorliegenden Gesetzent- wurf sind die eventuellen Auswirkungen auf den Bun- deshaushalt wichtig. Es sind aber mindestens genauso wichtig die volkswirtschaftlichen und außenpolitischen Folgen zu bedenken. In diesem Bewusstsein werde ich für den Gesetzentwurf stimmen. Heinz-Peter Haustein (FDP): Meine Kritik an der Politik der Bundesregierung in der Euro-Krise ist ele- mentar. Meine Bedenken sind grundlegender Art und durch kein einziges der Argumente der Befürworter der diversen Hilfsprogramme und Rettungsschirme für schwächelnde Euro-Staaten ausgeräumt. Einzig die Gefahr, dass bei Fehlen einer eigenen Mehrheit der Bundesregierung bei dem Gesetzesvorha- ben die christlich-liberale Koalition zerbrechen und nach Neuwahlen eine neue – potenziell rot-grüne – Bundesre- gierung gebildet werden könnte, die Euro-Bonds den Weg ebnet, lässt mich dem Gesetz zustimmen. Denn Euro-Bonds wären ein noch größeres Übel als der erwei- terte EFSF. Im Einzelnen: Aus gutem Grund wurde in der Europäischen Union vertraglich die sogenannte No-Bail-out-Klausel festge- halten, also das Verbot, dass weder die EU als Ganzes noch einzelne Staaten für die Schulden anderer Staaten aufkommen dürfen. Hiermit und mit den Stabilitätskriterien sollte gewähr- leistet werden, dass die Mitgliedstaaten sorgfältig haus- halten und die Staatsverschuldung nicht zu einer Staats- überschuldung wird, mithin solide Finanzpolitik den Grundstein legt für ein wirtschaftlich starkes und prospe- rierendes Europa. Die Bundesrepublik Deutschland hat ihr Wirtschafts- wunder und den daraus resultierenden und bis heute tra- genden Wohlstand nach der auch wirtschaftlichen „Stunde null“ nach 1945 vor allem den Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft zu verdanken. Das wohl wich- tigste dieser Prinzipien ist der Zusammenhang zwischen Rendite und Verlustrisiko. Wer das Risiko trägt, fährt zu Recht den Gewinn ein. Und wer den Gewinn erhält, er- hält ihn für ein getragenes Risiko. Diese Gesetzmäßig- keiten haben sich über Jahrzehnte in Deutschland, aber auch anderswo in der Welt mehr als bewährt. Hingegen sind alle staatlichen Versuche, davon abzuweichen und marktwirtschaftliche Prinzipien außer Kraft zu setzen, grandios gescheitert. Gerade für mich als ehemaligen DDR-Bürger ist die Soziale Marktwirtschaft daher nicht verhandelbar. Diese beiden elementaren Grundsätze, die No-Bail- out-Klausel und der Zusammenhang zwischen Rendite und Verlustrisiko, werden mit den Milliardenhilfen für Griechenland, Rettungsschirmen und Stabilitätsmecha- nismen ausgehebelt. Selbstverständlich gibt es eine Solidarität innerhalb der EU. Das erkenne ich nicht nur an, sondern unter- stütze es ausdrücklich. Und selbstverständlich gibt es eine Notwendigkeit zu staatlicher Intervention bei sys- temrelevanten Gefährdungen, also solchen Schwierig- keiten Einzelner, die das ganze System gefährden. Auch dies ist selbstverständlich. Doch beides, Solidarität und Systemgefährdung, darf nicht dazu führen, dass Grundprinzipien unserer Wirt- schaft und geltender Verträge außer Kraft gesetzt wer- den. Das ist mit den bereits beschlossenen Maßnahmen der Fall und es ist auch bei der Erweiterung des Rettungs- schirmes nun wieder der Fall. Immer springen die wirtschaftlich starken Staaten für die wirtschaftlich schwachen Staaten ein. Das bedeutet, dass, wer solide gewirtschaftet, in Krisenzeiten den Kon- sum gedrosselt und sparsam gehaushaltet hat, bestraft wird und derjenige, der jahre- und teilweise jahrzehnte- lang über die eigenen Verhältnisse gelebt hat, nun inso- fern belohnt wird, als dass andere für die entstandenen Schulden wenigstens indirekt oder teilweise aufkom- men. Dadurch geht der Leistungsanreiz verloren. Wo aber der Leistungsgedanke untergraben wird, soll Wohlstand auf Kosten der Allgemeinheit möglich sein. Das hat we- der in der DDR noch in irgendeinem anderen Land der Welt jemals funktioniert. Wer also von marktwirtschaftlichen Grundprinzipen abweicht, muss diese Abweichung sehr gut begründen. Abweichungen können nur in absoluten Notfällen erfol- gen. Insofern ist auch nicht derjenige unter Legitimations- zwang, der – wie ich – die Hilfsmaßnahmen ablehnt. Ge- nerell müsste die Beweislast bei den Befürwortern der Außerkraftsetzung der Marktwirtschaft liegen. Sie müs- sen alle Gegenargumente entkräften und erklären, wa- rum hier ausnahmsweise anders verfahren werden soll. 15424 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 (A) (C) (D)(B) Das können sie nicht. Denn niemand kann erklären, wel- che Risiken noch zu erwarten sind. Alljährlich wird über den deutschen Länderfinanzaus- gleich diskutiert. Insbesondere den sogenannten Geber- ländern Bayern und Baden-Württemberg ist nicht zu ver- mitteln, warum sie dauerhaft die finanzschwachen Länder unterstützen sollen, wenn diese sich Ausgaben leisten, die im Süden Deutschlands längst eingespart worden sind. Auch dabei wird der Leistungsanreiz unter- miniert und die Soziale Marktwirtschaft ausgehebelt. Die Aufrechterhaltung dieser Regelung ist nur damit zu erklären, dass es mehr Nehmerländer gibt als Geber- länder. Ein hinreichender Grund für den Quasiexport des deutschen Länderfinanzausgleichs nach Europa ist es nicht. In der Sicherheitspolitik gilt aus gutem Grund die Prämisse, dass der Staat nicht erpressbar ist. Mit Terro- risten, gleich wen sie als Geisel genommen haben oder welches Drohpotenzial sie haben, wird nicht verhandelt. Denn jedes Entgegenkommen des Staates würde in einer Art Lerneffekt Nachahmer auf den Plan rufen. Wenn ein „Geschäftsmodell“ Erfolg verspricht, mangelt es nicht an Nachahmern. So funktionieren auch die Wirtschaft und die Finanzwelt. Wo ein Geschäftsmodell Erfolg hatte, sind Nachahmer sofort zur Stelle. Mit den Hilfsmaßnahmen ist diese Prämisse, dass der Staat nicht erpressbar ist, aufgehoben worden. Die Euro- Staaten sind erpressbar geworden. Weil alles für sys- temrelevant erklärt wird, soll immer und überall gehol- fen werden müssen. Und weil kein Fachmann die noch auf uns zukommenden Risiken benennen kann, droht eine Endlosschleife. Die Wirtschaft ist imstande, schnell zu reagieren. Wenn sich die Situation ändert, sterben Geschäftsmo- delle in Sekunden, neue werden geboren. Wo sich zeigt, dass Rendite entsteht, während andere die Risiken tragen – der utopische Traum jedes Ge- schäftsmannes –, wird mehr und mehr investiert, nicht weniger, solange das Geschäftsmodell trägt. Dieser Me- chanismus wirkt bereits: Während andere unglaubliche Zinsen einnehmen, tragen die wirtschaftlich gesunden Euro-Staaten die finanziellen Lasten und halten Grie- chenland künstlich am Leben. Dieses Wirkprinzip muss zwangsläufig früher oder später zum Systemzusammenbruch führen, und zwar un- abhängig davon, wie viele Milliarden vorher gerade mit dem Argument der Systemerhaltung geflossen sind, weil auch die Finanzkraft der wirtschaftlich starken Länder nicht so groß sein kann wie der Renditehunger der Inves- toren. Es kann kein Weg daran vorbeiführen, dass die ins Straucheln geratenen Länder mit aller Kraft ihre Haus- aufgaben machen, ihre Haushalte konsolidieren und not- wendige Strukturreformen einleiten. Das und nur das wird die Märkte nachhaltig beruhigen und verloren ge- gangenes Vertrauen in die betroffenen Länder wieder herstellen. Jede Stützmaßnahme nimmt Reformdruck von den betroffenen Ländern. Das ist kontraproduktiv, weil damit der zwangsläufige Zusammenbruch hinausgezögert und der letztlich verursachte Schaden größer und größer wird, gleich Buchverlusten, die man eine Zeit lang igno- rieren, aber früher oder später realisieren muss. Der Volksmund weiß: Wer den Kopf in den Sand steckt, wird früher oder später mit den Zähnen knirschen. Auch die Kanzlerin erklärt mittlerweile, dass wir uns nur immer wieder Zeit erkaufen. Sind Staaten nicht zu den notwendigen Strukturrefor- men in der Lage, befürworte ich eine geordnete Insol- venz dieser Länder. Eine über Nothilfe hinausgehende Transferunion kann es nicht geben. Und dass Reformen schmerzhaft, aber möglich sind, zeigen Länder wie Irland und Portugal, die große Fort- schritte machen und insgesamt auf einem guten Weg sind, wenngleich noch eine große Strecke vor ihnen liegt. Das alles lässt mich zu dem Schluss kommen, dass getreu dem Motto „Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende“ der Zeitpunkt überfällig ist, an dem wir die Konsequenzen tragen für das völlig ent- fesselte Schuldenmachen mancher Länder einerseits und für den Irrsinn, dass man mit Schrottanleihen Geld ver- dienen kann. Und zwar wir alle in den Eurostaaten. Das Kasino muss schließen. Im Übrigen bin ich gewählter Abgeordneter des Deut- schen Bundestages und fühle mich daher zu allererst Deutschland verpflichtet und dann Europa. Nur ein Szenario ist noch schrecklicher als die Vor- stellung, dass die bisherige Praxis der Finanzhilfen und Rettungsschirme beibehalten wird: Die Idee, der Markt- wirtschaft mit Euro-Bonds noch schneller den Garaus zu machen. Sozialdemokraten und Grüne sind sich in dem Ziel der Einführung von Euro-Bonds einig. Sie wollen also die gute Kreditwürdigkeit Deutschlands und anderer wirtschaftlich und finanziell starker Länder aufgeben, um den wirtschaftlich strauchelnden Ländern mit besse- ren Kreditratings das Schuldenmachen noch zu erleich- tern. Dass damit auf Deutschland auch deutlich höhere Zinsen in Milliardenhöhe zukommen würden, ist zwangsläufig. Das wäre eine weitere Unterhöhlung des Leistungsgedankens, der kein Anhänger der Sozialen Marktwirtschaft zustimmen kann. Und eine rot-grüne Regierung ist ein reales Szenario, wenn man aktuellen Umfragen im Falle von Neuwahlen glauben mag. Nur diese Vorstellung lässt mich heute dem Gesetz- entwurf zustimmen, obwohl meine tiefste Überzeugung wie auch die etlicher Experten ist, dass es grundlegend falsch ist und uns die Rechnung für diese Entscheidung in nicht allzu ferner Zukunft präsentiert wird. Leider ist es dann nicht mehr nur unsere Rechnung, sondern auch die unserer Kinder, Enkel und Urenkel. Ich trage am heutigen Tag in Loyalität zu unserem Land und der christlich-liberalen Bundesregierung die- sen Gesetzentwurf mit, in einer der entscheidendsten Fragen der deutschen Politik seit Langem und gewiss auf absehbare Zeit. Ich trage damit die christlich-liberale Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15425 (A) (C) (D)(B) Bundesregierung mit. Ich tue das in der Überzeugung, dass diese Regierung noch immer die viel bessere Alter- native für unser Land und seine Menschen ist als eine rot-grüne „Euro-Bond-Regierung“. Aber ich tue es auch in der Überzeugung, dass es ein Fehler ist, der sich rächen wird. Dr. Matthias Heider (CDU/CSU): Ich stimme dem Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabi- lisierungsmechanismus zu. Die gemeinsame europäische Währung ist ein Mei- lenstein der europäischen Integration. Der Erfolg Deutschlands und seiner Wirtschaft hängt entscheidend vom Euro ab, eine Rückkehr in nationale Währungen ist aus heutiger Sicht nicht vorstellbar. Die Stabilisierung des Euro liegt damit im ureigenen Interesse Deutsch- lands und seiner Europäischen Partner. Ein umfassendes System der Stabilisierung, beste- hend aus Reduktion der Staatsverschuldung, Koordinie- rung der Wirtschaftspolitiken der EU-Mitgliedstaaten und Stabilisierung der Finanzmärkte, ist meines Erach- tens unabdingbar. Die EFSF und ihr Nachfolger, der ESM, als Notfallhilfen dürfen dabei lediglich einen Teil der Gesamtstrategie bilden. Dass der Schutz des Euro- Rettungsschirms dabei nicht „kostenlos“ sein darf, wurde hinreichend erörtert und klargestellt und von mei- ner Seite als selbstverständlich vorausgesetzt. Dennoch bin ich der Meinung, dass bestehende sowie neu einzuführende finanz- und wirtschaftspolitische Überwachungsinstrumente verstärkt in den Fokus des Stabilisierungssystems gerückt werden müssen. Hierzu zählen insbesondere das kontinuierliche Monitoring der Defizit- und Verschuldensregeln, die Einführung schnel- ler und umfassender Sanktionen bei Nichteinhaltung der Stabilitäts- und Wachstumsregeln, die Etablierung prä- ventiver nationaler Überwachungsmechanismen und die Förderung nachhaltiger Wirtschaftsstrukturen zur Bele- bung des Wettbewerbs. Nach meiner festen Überzeugung brauchen wir da- rüber hinaus ein Regelwerk, das vorgibt, wie die euro- päische Währungsgemeinschaft mit Euro-Mitgliedstaa- ten umgeht, die ihren Zahlungsverpflichtungen dauerhaft nicht nachkommen können und damit zah- lungsunfähig sind. Daher ist dringend an einem geordne- ten Verfahren zur Wiederherstellung der Schuldentragfä- higkeit von betroffenen Mitgliedstaaten zu arbeiten. So wie wir Unternehmen und Verbrauchern ein System der geordneten Insolvenz an die Hand geben, müssen Insti- tutionen, Instrumente und Regeln geschaffen werden, die zahlungsunfähigen Staaten die Chance auf eine echte Sanierung ermöglichen. Hierzu müssen Regelwerke ge- schaffen werden, die in verfassungs- und europarechtli- cher Abstimmung in der demokratisch dafür vorgesehe- nen Institution, dem Deutschen Bundestag debattiert werden müssen. Die parlamentarische Beteiligung des Deutschen Bundestages und seiner Ausschüsse bleibt ein wesentli- ches Element bei der Bekämpfung der Schuldenkrise und bei der Weiterentwicklung des Europäischen Stabili- tätsmechanismus. Christian Hirte (CDU/CSU): Dem Gesetz, das eine Ausweitung des bisherigen Rettungsschirmes vorsieht, stimme ich zu. Dem eingeschlagenen Weg der vergangenen Monate, der mit dieser Ausweitung des Rettungsschirmes weiter beschritten wird, stehe ich mit großer und wachsender Skepsis gegenüber. Ich halte die abermalige Ertüchti- gung der EFSF für falsch. Immer neue Kredite helfen Staaten wie Griechenland nicht weiter. Statt konkreter Hilfe, um die Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern, wer- den lediglich Gläubiger mit hohen Zinsen bedient. Warum dennoch die Zustimmung? Die deutliche Kri- tik der vergangenen Wochen und Monate und die Ableh- nung einzelner Abgeordneter für Griechenland- und Por- tugal-Hilfen, denen ich mich angeschlossen hatte, hat zu spürbaren Verbesserungen der Bedingungen geführt. Vor allem die Beteiligungsrechte des Bundestages wurden erheblich gestärkt. Nicht zuletzt das jüngste Urteil des Bundesverfassungsgerichtes hat deutlich gemacht, dass vor konkreten Hilfen für einzelne Länder das Parlament befragt werden muss. Kein Geld ohne Zustimmung des Bundestages. Diese Linie darf nach meiner festen Über- zeugung nie überschritten werden. Der Widerstand auch in den Reihen der Koalition hat dies ermöglicht. Die aktuelle Diskussion über mögliche nochmalige Ausweitungen der Maßnahmen beunruhigt mich sehr. Die Zusicherung von Kanzlerin Angela Merkel, in ei- nem solchen Fall nichts ohne die Zustimmung des Bun- destages zu tun, ermöglicht für die Zukunft, immer im Einzelfall zu prüfen, was richtige Schritte sein können. Die klaren Zustimmungsrechte des Bundestages sind eine wichtige institutionelle Einschränkung des Ret- tungsschirmes. Dem vorliegenden Gesetz stimme ich auch und vor allem zu, um die Regierung nicht zu destabilisieren. Die parlamentarische Mehrheit bei der Abstimmung ist vorab eindeutig. Die Opposition stimmt weit überwie- gend zu, stilisiert aber das Ergebnis der Stimmverteilung innerhalb der Reihen der Koalition zu einer rein politi- schen Frage, zu einer Machtfrage. Sie möchte die Skep- sis gegenüber einer Sachfrage, bei der es um mehrere hundert Milliarden Euro geht, zu einer Personalfrage machen. Diesem Ansinnen der Opposition bin ich nicht bereit nachzugeben. In der von Angela Merkel geführten Koalition sehe ich einen Garanten, eine noch größere Haftung Deutsch- lands zu verhindern. Insofern ist mein Ja auch ein Nein. Ein Nein zu den Bestrebungen der Oppositionsparteien nach völliger Vergemeinschaftung aller Schulden und der Einführung von Euro-Bonds. Es ist ein Ja zu euro- päischer Solidarität, von der auch wir profitiert haben, aber ein Nein zur Schuldenunion. Jeder Staat muss zu- nächst seine Krisen selbst bewältigen, seine Schulden- probleme selbst in den Griff bekommen. Die ausgewei- tete EFSF ändert daran nichts, sondern erhält diesen Status. Es bleibt dadurch zum Beispiel bei jeweils eige- 15426 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 (A) (C) (D)(B) nen Zinssätzen der Staaten. Dies halte ich für unver- zichtbar, weil nur so der Druck in den jeweiligen Län- dern zur Konsolidierung und Lösung der eigenen Probleme möglich wird. Im Hinblick auf künftige Entscheidungen und Ab- stimmungen, auch mit Blick auf den ESM, sind folgende Punkte Maßstab meiner Entscheidungen: Ich bin für die Erhaltung des Euro. Er ist nicht nur eine Errungenschaft eines geeinten Europa, sondern eine große Hilfe für unsere exportorientierte Wirtschaft. Stabilität der Währung ist ein Wert an sich. Sie ist wohlstandsfördernd für die Bürger in Deutschland und Europa. Eine zu hohe Staatsverschuldung ist eine Gefahr für diese Stabilität. Subsidiarität ist mehr als ein Füllwort für Sonntagsre- den. Europa wird nur gelingen, wenn zunächst jeder in seinem Verantwortungsbereich seine Arbeiten erledigt. Dazu gehört auch, Schulden zu machen und diese zu- rückzuzahlen. Daher halte ich grundsätzlich eine generelle Schul- denhaftung für Staaten bzw. besonders für deren jewei- lige Gläubiger für falsch. Eine über den nun festgelegten Rahmen hinausge- hende Verschuldungskompetenz des EFSF ist abzuleh- nen. Dem scheinbaren Vorteil der Hebelwirkung stünde die Austrocknung der regulären Kapitalmärkte für die Euro-Staaten gegenüber. Die jetzt erneut „gekaufte“ Zeit muss dringend ge- nutzt werden, klare Haftungsregelungen für die Gläubi- ger zu entwickeln. Der Markt, vor allem aber die Bürger, haben einen Anspruch darauf, zu wissen, woran sie sind und wann Grenzen erreicht sind. Europa droht nicht an mangelnder Solidarität zu scheitern, sondern an den ne- bulösen Unklarheiten, wohin die Kredithilfen führen. Ohne Haftungsausschluss droht ein permanentes Han- geln von Rettungsaktion zu Rettungsaktion. Damit würde sich dauerhaft jede Regierung und Politik als Ganzes unglaubwürdig machen. Ulla Jelpke (DIE LINKE): Gemeinsam mit meiner Fraktion Die Linke lehne ich den erweiterten Euro-Ret- tungsschirm ab. Anstatt die Konsequenzen aus der ge- scheiterten neoliberalen Politik zu ziehen, wird der Kurs fortgesetzt. Während Banken und Finanzinvestoren geschützt wurden, warfen die Regierungen der Euro-Zone, EU- Kommission, Europäische Zentralbank und IWF den Krisenländern Rettungsringe aus Blei zu. In den Krisen- ländern bezahlen die Werktätigen mit Lohn- und Renten- kürzungen und dem größten Sozialabbau in der europäi- schen Nachkriegsgeschichte für die Spekulationen der Privatbanken. In Deutschland werden die Steuerzahler in Haftung für die milliardenschweren Garantien genom- men. Diese Politik beschleunigt die Umverteilung von unten nach oben und setzt so eine zentrale Krisenursache fort. Die Spardiktate verhindern eine ökonomische Belebung der Krisenländer, es sind keine effektiven Maßnahmen zur Überwindung der wirtschaftlichen Ungleichgewichte in Euro-Zone und EU vorgesehen. Rechtspopulistische und faschistische Parteien, die die Ängste und die Wut der Menschen gegen Spardiktate in nationalistische und europafeindliche Propaganda kanalisieren, sind in vielen Ländern auf dem Vormarsch. Das Argument der Koali- tion – auch von SPD und Grünen –, es gehe mit dem Rettungsschirm darum, „Europa zu retten“ ist daher schlicht falsch. Ich habe heute gegen den erweiterten Rettungsschirm gestimmt, weil man die Krise nur lösen kann, wenn man das Kasino schließt, wenn man die Spekulanten an die Kette legt. Die Staaten müssen sich unabhängig von den Kapitalmärkten über eine Bank für öffentliche Anleihen finanzieren können. Die Finanzmärkte müssen endlich streng reguliert werden. Die Banken gehören unter öf- fentliche Kontrolle durch Verstaatlichung. Und die Ver- ursacher und Profiteure der Krise müssen zur Kasse ge- beten werden: Durch eine EU-weite Vermögensabgabe für Superreiche, durch eine Finanztransaktionsteuer und durch eine Beteiligung großer privater Gläubiger. Katja Kipping (DIE LINKE): Ein geeintes Europa ist als Vision nur vorstellbar als ein solidarisches Europa. Das, was in den vergangenen Wochen als Euro-Ret- tungsschirm diskutiert wurde und nun vom Bundestag beschlossen werden soll, hat mit Solidarität nichts zu tun. Mitgliedsländern brutale Sparprogramme als Ge- genleistung für Finanzhilfen abzuverlangen, verschärft deren Krise, anstatt sie zu lindern. Die Folge sind Entlas- sungen, Rentenkürzungen, Kürzungen im Sozialbereich und damit das Bedienen der Abwärtsspirale der Binnen- konjunktur. Reagierte die Bundesregierung mit dem Konjunkturpaket und der Abwrackprämie im Jahr 2010 selbst noch streng antizyklisch, möchte sie nun anderen Ländern das Gegenteil verordnen. Um Hilfe geht es hier nicht – es geht einzig und allein um die Geschäfte deut- scher Banken und der deutschen Wirtschaft. Die deutsche Politik deckt die Risiken deutscher Ban- ken und deutscher Rüstungskonzerne auf Kosten der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler – auf diesen Satz lässt sich das, was als Rettungsschirm wirklich ist, ganz ein- fach reduzieren. Mit keinem Wort erwähnt die Bundesre- gierung die Waffengeschäfte mit Griechenland – Verträge, bei denen es um Milliarden geht –: Panzer, U-Boote, Kampfflugzeuge. Einzig und allein die „gierigen“ Früh- rentnerinnen und Frührentner sowie die kleinen Beamte- ninnen und Beamten sollen schuld sein an der Misere der Staatsfinanzen eines Landes, das pro Kopf, auf die Ein- wohnerzahl gerechnet, die größte Armee Europas hat. Über 50 Milliarden Euro hat sich Griechenland die Mo- dernisierung seiner Armee in den letzten zehn Jahren kos- ten lassen – und Deutschland war und ist dick im Ge- schäft. Von den Finanzjongleuren und Krisengewinnlern, die auf die die Pleite ganzer Staaten wetten, ist bei den Be- dingungen für den Rettungsschirm ebenso wenig die Rede. Wer die europäischen Superreichen, deren Vermö- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15427 (A) (C) (D)(B) gen sich auf etwa 10 Billionen Dollar beläuft, nicht zur Kasse bittet, um den Schaden, den sie mit angerichtet ha- ben, zu beheben, vergibt die Chance auf Veränderung. Ich kann im „Euro-Rettungsschirm“, so wie er ist, kei- nen Sinn erkennen, der mehr als der Egoismus derer wäre, die diese Zustände herbeigeführt haben. Deshalb stimme ich dagegen – für ein gerechtes, friedliches und solidarisches Europa! Harald Koch (DIE LINKE): Ich habe heute gegen den erweiterten Rettungsschirm gestimmt, weil ich Ja zu einem sozialen und solidarischen Europa sage. Die Euro-Krise ist nur zu lösen, wenn man das Zockerkasino schließt, wenn man die Spekulanten und die staatlich gedeckte Finanzmafia an die Kette legt. Die Staaten müssen sich unabhängig von den Kapitalmärk- ten finanzieren können, über eine Bank für öffentliche Anleihen. Die Finanzmärkte müssen endlich streng re- guliert werden, schädliche Finanzprodukte sind zu ver- bieten, und Banken gehören unter öffentliche Kontrolle. Verursacher und Profiteure der Krise muss man stattdes- sen zur Kasse bitten: durch eine EU-weite Vermögensab- gabe für Reiche und Superreiche, durch eine Finanz- transaktionsteuer und durch eine Beteiligung großer privater Gläubiger. Den Ländern, die Gelder aus dem Rettungsfonds erhalten, wird in Wirklichkeit ein Ret- tungsring aus Blei zugeworfen. Die ökonomisch unsin- nigen und sozial ungerechten Kürzungsprogramme trei- ben diese Länder in die Rezession. Fest steht: Die Krise kann und darf nicht auf dem Rü- cken der Beschäftigten und sozial Benachteiligten Euro- pas gelöst werden. Manfred Kolbe (CDU/CSU): Ich stimme heute gegen das Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabilisierungsmechanismus auf Bundestagsdrucksache 17/6916, weil die bisherige Rettungsschirmpolitik nicht funktioniert hat. Im Monatsrhythmus beschließen wir neue Rettungsschirme, garantieren Hunderte von Mil- liarden, und Griechenland geht es dennoch immer schlechter. Tatsächlich finanzieren wir mit den Rettungs- schirmen die hohen Zinsen an Banken und Hedgefonds, nicht aber Griechenland. Für Griechenland brauchen wir eine Umschuldung, das heißt, die Gläubigerbanken müs- sen auf mindestens 50 Prozent ihrer Forderungen ver- zichten, damit das Land wieder eine echte Chance hat. Wir brauchen in Europa eine Politik der finanziellen Eigenverantwortung und keine Anleiheankäufe durch die EZB oder gar Euro-Bonds, für die alle gesamtschuld- nerisch haften. Das einziger wirksame Druckmittel, überschuldete Staaten zur Konsolidierung zu zwingen, sind steigende Marktzinsen, wie bei Berlusconi jüngst erlebt. Eine gesamtschuldnerische Schuldenhaftung gibt es nicht einmal unter den Bundesländern, den Kommu- nen eines Landkreises oder Geschwistern. Nur ein finan- ziell solides Europa kann in der Welt mitreden. Meiner Meinung nach stärken Neinstimmen aus der CDU die Bundeskanzlerin. Ihre internationale Verhand- lungsposition hat sich, sowohl aufgrund des ihren Spiel- raum einengenden Urteils des Bundesverfassungsgerich- tes als auch durch den Widerstand im Deutschen Bundestag verbessert. Vor Ort ist es wichtig, dass die Bürgerinnen und Bürger sehen, dass die CDU zwar soli- darisch hilft, aber klare Gegenleistungen fordert und eine uferlose Verschuldung nicht zulässt. Gunther Krichbaum (CDU/CSU): Durch die heu- tige Änderung des StabMechG werden die Beteiligungs- rechte des Deutschen Bundestages bei den Maßnahmen zur Euro-Stabilisierung deutlich ausgeweitet. Dies ist uneingeschränkt zu begrüßen. Insbesondere ist hervor- zuheben, dass die Bundesregierung Beschlüssen, durch die die haushaltspolitische Gesamtverantwortung be- rührt wird, nur nach einem positiven Votum des Deut- schen Bundestages zustimmen darf. Die Struktur der gefundenen Beteiligung kann aller- dings nicht zufriedenstellen. Zum einen ist es unbefriedi- gend, dass sich das nach § 3 Abs. 3 StabMechG zu bil- dende Gremium zur Beschlussfassung in eilbedürftigen oder vertraulichen Fällen ausschließlich aus Mitgliedern des Haushaltsausschusses zusammensetzt. Hier wäre ein breiter aufgestelltes Gremium wünschenswert gewesen. Zum anderen hätte eine Aufnahme des bewährten In- struments der Mitberatung durch weitere Ausschüsse des Deutschen Bundestages in § 4 StabMechG die Möglich- keit geboten, die fachliche Expertise des gesamten Hau- ses einzubinden. Daher darf die jetzt gefundene Regelung kein Präju- diz für die Beteiligungsstruktur des Deutschen Bundes- tages im Zustimmungsgesetz für den dauerhaften Stabi- lisierungsmechanismus ESM sein. Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP): Die Ausmaße der Schuldenkrise sind immens. Der Euro-Raum ist durch einige Mitgliedstaaten in eine bedrohliche Schief- lage geraten. Daran hat Deutschland unter der damaligen Regierung aus SPD und Grünen erheblichen Anteil, wenn sie nicht gar eine wesentliche Ursache für die Pro- bleme sind. Es rächt sich bitterböse, dass die Regierung Schröder/Fischer in unverantwortlicher Weise den Maastricht-Vertrag aufweichte und Griechenland den Weg in den Euro frei machte. Es ist erschütternd, dass erst 2010, ein halbes Jahr nach dem Regierungswechsel, das dramatische Ausmaß in Griechenland bekannt wurde. Die Frage stellt sich, warum frühere Bundesfinanzminister über die Vorgänge und Zustände nicht informiert waren oder – viel wahr- scheinlicher – die Öffentlichkeit bzw. das Parlament nicht informiert haben. Es ist schwer nachvollziehbar, warum die Bundesfinanzminister Hans Eichel und Peer Steinbrück entweder kein Wissen über die Zahlungs- schwierigkeiten hatten oder vielmehr ihr Wissen der Öf- fentlichkeit vorenthielten. Nicht nur die Ursachen der jetzigen Krise gehen zu einem gehörigen Teil auf das Konto von SPD und Grü- nen, sondern auch die verschleppte und vernachlässigte Prüfung seit der Griechenland-Aufnahme in den Euro- Raum. Es ist unerhört, dass die Schuld, die die damals 15428 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 (A) (C) (D)(B) Verantwortlichen auf sich geladen haben, nunmehr nach- folgende Abgeordnetengenerationen abzutragen haben. Geradezu unappetitlich ist es, wenn die damals Verant- wortlichen heute meinen, oberkluge Hinweise und wohl- feile Kritiken von sich geben zu müssen. Ich persönlich bin außerordentlich unzufrieden da- rüber, dass wir nicht nur zur Lösung von Problemen bei- tragen müssen, die durch falsches politisches Handeln, das meinen politischen Überzeugungen widerspricht, entstanden sind, sondern dafür auch noch von den Verur- sachern dieser Krise regelrecht beschimpft werden. Diese dramatische und sich stets verschärfende Situation wurde – grob ausgedrückt – durch Ausgabenwollust und unzureichende Einnahmeerhebung politisch Agierender hervorgerufen. Die eigene Schuld verdrängen SPD und Grüne und wollen nunmehr mit Maßnahmen der Schuldenkrise be- gegnen, die diese Krise erst verursachten. Wäre es nach Rot-Grün gegangen, hätte Deutschland seit 2010 im- mense Programme aufgelegt und Gelder zur Verfügung gestellt. Diese Gelder wären nicht zur Stabilisierung der Währung oder zur Sanierung der Haushalte genutzt wor- den, sondern in erster Linie zur Finanzierung der poli- tisch Regierenden aufgebracht worden. Damit hätte sich die Schuldenkrise durch diese rot-grünen Vorstellungen von Anfang an immens vergrößert. Die schwarz-gelbe Koalition muss nun vor allem Ver- trauen herstellen, das durch die Schulden verloren ging. Dabei gibt es aus meiner Sicht Zweifel, ob dies durch die bisherigen Maßnahmen gelingen kann. Hilfen für andere Euro-Staaten gehören nicht zu den Kernaufgaben im Euro-Raum. Die Risiken gerade für Deutschland und den deutschen Steuerzahler sind erheblich. Eine geord- nete Insolvenz Griechenlands halte ich nach wie vor für einen Weg, der nicht ausgeschlossen werden darf. Fraglich ist für mich, ob unter den vorgegebenen Be- dingungen die Höhe des EFSF-Schirms bewusst ausge- reizt wird oder für die EFSF gar die Möglichkeit besteht, sich selbst – entgegen seinem eigentlichen Auftrag und Sinn – eigenständig weitere Finanzmittel zu akquirieren. So befürchte ich, dass der Fonds angekaufte Anleihen als Sicherheit zum Beispiel bei der EZB hinterlegt, um sich weitere Mittel zu beschaffen. Dies könnte meiner Auffassung nach zu einer Kreditblase mit erheblichen Folgen führen. Ich habe Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble in der Fraktionssitzung der FDP am 26. September 2011 explizit auf den Umstand der Beleihung von Anleihen aufmerksam gemacht und darauf hingewiesen, dass diese mögliche zusätzliche, aber sehr riskante Einnah- mequelle weder Sinn der EFSF noch Wille der Gesetz- geber sein kann. Finanzminister Schäuble hat erklärt, dass dieser Fall durch die Guidelines geklärt werde. Au- ßerdem werde es ausdrücklich keinen Hebel oder einen sogenannten Leverage geben. Auf diese Aussagen ver- traue ich. Nach Durchsicht der rar gesäten Vorschläge der Op- position und mit Blick auf die sonstigen dargebotenen Verfahrensvorschläge muss ich als Parlamentarier nach möglichst bestem Wissen und Gewissen abwägen und entscheiden. Diese Entscheidung fällt ohnehin schwer. Inzwischen hat sich allerdings eine öffentliche Mei- nung aufgebaut, die durch effekthaschende Oppositions- führer und darauf abzielende Medien derart befeuert wurde, dass die eigentliche Sachfrage zunehmend in den Hintergrund rückt und es immer schwerer geworden ist, sachliche Antworten zu geben. Auf der anderen Seite wird vielmehr die Koalition auf den Prüfstand gestellt. Aus meiner Sicht ist es wichtig, dass diese Koalition in der Lage ist, Deutschland zu regieren und eben nicht wie unter Rot-Grün in Sachfragen in inflationärer Weise mit Vertrauensfragen zu verbinden. Insbesondere die Erwartungshaltung und der öffentli- che Druck der Opposition sowie die dies verstärkende Medien sorgten dafür, dass ein Zerrbild aufgebaut wurde: Die EFSF-Entscheidung gilt nunmehr als Quasi- Vertrauensfrage – was an sich unfassbar ist – bzw. als Bewährungsprobe für Schwarz-Gelb. Diese Situation macht es mir als Parlamentarier unmöglich, ausschließ- lich in der Sache abzustimmen. All dies muss ich berücksichtigen und in mein Ab- stimmungsverhalten einfließen lassen. Globale Um- stände, öffentliche Haltung, das geschlossene Vorgehen der Koalition sowie das in der Sache zu berücksichti- gende Wissen und Gewissen müssen in ein Verhältnis gesetzt werden. In dieser Abwägung habe ich der EFSF meine Zustimmung erteilt. Ralph Lenkert (DIE LINKE): Die Ausweitung des Euro-Rettungsschirms treibt die Spaltung Europas vo- ran! Meine Fraktion, Die Linke, und ich lehnen die Aufsto- ckung und Ausweitung der Europäischen Finanzstabili- sierungsfazilität, EFSF, ab, denn damit wird ein geschei- tertes Krisenmanagement fortgesetzt, das die soziale und wirtschaftliche Spaltung der Euro-Zone und der EU wei- ter vertieft. Die bisherige Euro-Rettung hat die Ausweitung der Krise nicht verhindert, im Gegenteil: Während Banken und Finanzinvestoren geschützt und die Ursachen der Krise ausgeblendet wurden, zwingen die „Rettungs- ringe“ von Ländern der Euro-Zone, EU-Kommission, Europäischer Zentralbank und IWF die Krisenländer zu Boden. Die an die Hilfskredite aus dem Rettungsschirm geknüpften radikalen Kürzungsauflagen würgten die Binnenkonjunktur der Krisenländer ab, verhinderten eine Erholung der Wirtschaft und verschärften durch wegbrechende Einnahmen die Schuldenkrise. Zu einer Beruhigung der Finanzmärkte reichten die Maßnahmen nicht, es wird weiter gegen angeschlagene Euro-Staaten spekuliert. Bereits jetzt gehen Fachleute und Finanz- marktakteure davon aus, dass auch die aufgestockte EFSF nicht ausreichen wird. Die Linke lehnt den erweiterten Euro-Rettungsschirm ab, denn der gescheiterte Kurs wird fortgesetzt. In den Krisenländern bezahlen Arbeitnehmerinnen und Arbeit- nehmer, Rentnerinnen und Rentner, Schülerinnen, Schü- ler, Studentinnen und Studenten mit Lohn- und Renten- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15429 (A) (C) (D)(B) kürzungen, dem größten Sozialabbau der europäischen Nachkriegsgeschichte und dem Zusammenstreichen der Bildungsausgaben dafür, dass private Banken weiter spekulieren können. In Deutschland wird die gesamte Bevölkerung in Haftung für die milliardenschweren Ga- rantien genommen. Solange die Finanzmärkte nicht strikt reguliert, die Großbanken vergesellschaftet und die Staatsfinanzierung nicht von den Kapitalmärkten abge- koppelt werden, ist die Krise nicht unter Kontrolle zu bringen. Die EFSF-Politik ist ungerecht, weil sie die Umver- teilung von unten nach oben beschleunigt und so eine zentrale Krisenursache fortschreibt. Sie ist ökonomisch gefährlich, weil die Spardiktate eine ökonomische Bele- bung der Krisenländer verhindern und keine effektiven Maßnahmen zur Überwindung der wirtschaftlichen Un- gleichgewichte in Euro-Zone und EU vorgesehen sind. Sie gefährdet zudem zunehmend die europäische Inte- gration: Rechtspopulistische Parteien, die die Ängste und die Wut der Menschen gegen Spardiktate in europa- feindliche und nationalistische Propaganda kanalisieren, sind in vielen Ländern auf dem Vormarsch. Das Argu- ment von Union, FDP, SPD und Grünen, es gehe mit dem Rettungsschirm darum, Europa zu retten, ist für mich falsch. Das europäische Projekt hat nur dann eine Zukunft, wenn es sozial gerecht, wirtschaftlich vernünftig und de- mokratisch gestaltet wird. Da die Euro-Rettung in genau die entgegengesetzte Richtung weist, kann ich der EFSF nicht zustimmen. Dr. Carsten Linnemann (CDU/CSU): Der erwei- terte Rettungsschirm EFSF trägt nicht zur Beseitigung der aktuellen Staatsschuldenkrise oder zur Verhinderung künftiger Schuldenkrisen bei. Durch den Rettungsschirm drohen die Schulden vielmehr vergemeinschaftet zu werden. Dann haben wir die Haftungsunion, die wir nie haben wollten. Aus diesem Grunde kann ich dem vorlie- genden Gesetz nicht zustimmen. Unbestritten ist, dass Deutschland als Exportnation ganz besonders vom Euro profitiert. Unbestritten ist auch, dass der Euro nur in einer Stabilitätsunion eine er- folgreiche Zukunft haben kann und nicht in einer Schul- denunion. Daher haben bereits die Gründerväter des Euro wichtige Instrumente zur Errichtung einer Stabili- tätskultur geschaffen: die Europäische Zentralbank zur Sicherung der Geldwertstabilität, den Stabilitäts- und Wachstumspakt zur Sicherung solider Staatshaushalte sowie die sogenannte No-Bail-out-Klausel, die sichern sollte, dass kein Staat für die Schulden eines anderen EU-Mitgliedstaates haften oder aufkommen muss. Ge- gen alle drei Grundsätze ist mittlerweile verstoßen wor- den. Die Folge ist, dass Europa heute in einer tiefen und strukturellen Staatsschuldenkrise steckt. Die Krisenursa- che ist daher mitnichten das Scheitern der Idee einer Eu- ropäischen Währungsunion, sondern das konsequente Ignorieren der Regeln. Angesichts dieses Befundes kann es grundsätzlich nur einen glaubwürdigen Ausweg aus der Staatsschulden- krise geben: Man greift den Kerngedanken des ursprüng- lichen Regelwerks wieder auf, indem man zukünftig Verstöße gegen die Stabilitätsziele automatisch ahndet und das Prinzip des Haftungsausschlusses konsequent anwendet. Nur mithilfe dieser klaren Perspektive kann man Staaten zu verlässlichen und nachhaltigen Haushal- ten disziplinieren. Daher unterstütze ich die derzeit zur Verschärfung der Stabilitätsverpflichtungen diskutierten Durchgriffs- rechte voll und ganz. Zu diesen gehört beispielsweise, dass Parlamente im Falle von massiven Regelverstößen ihre fiskalpolitische Souveränität einbüßen oder sogar ganz verlieren. Diese Regelung bedarf freilich vertragli- cher Änderungen. Die Erfahrung zeigt, dass solche ver- traglichen Änderungen nur schwer durchsetzbar sind. Es bedarf besonderer Umstände, die einen Handlungsdruck erzeugen. Die entscheidende Frage ist nun, ob nach Er- weiterung des Rettungsschirms EFSF, der in den ständi- gen Rettungsmechanismus ESM – Europäischer Stabili- tätsmechanismus – übergehen soll, überhaupt noch Handlungsdruck vorhanden ist. Ich meine, nein. Des Weiteren krankt der Rettungsschirm EFSF daran, dass er kein überzeugendes Anreizsystem zur Schulden- vermeidung bietet. Schlimmer noch: Der Rettungs- schirm EFSF erlaubt es, dass künftig marode Staatsan- leihen angekauft werden können. Der Ankauf von Staatsanleihen aber kommt einer Zinssubvention gleich und verhindert dadurch, dass der Markt für Staatsanlei- hen die Staaten mit hoher Verschuldung durch eine effi- ziente Preissetzung zügelt. Gerade ein hoher Anleihezins würde Staaten zu Reaktionen zwingen. Damit ist ein zentraler Hebel zur Disziplinierung von Staaten außer Kraft gesetzt. Kurzum: Der erweiterte Rettungsschirm wird weder das Verschuldungsproblem in Europa noch das Zah- lungsbilanzdefizit der Peripheriestaaten oder deren feh- lende Wettbewerbsfähigkeit lösen. Meine Sorge ist, dass das Schuldenproblem einzelner Staaten auf ganz Europa übergreifen könnte und damit das Projekt Euro insge- samt gefährdet wird. Ulla Lötzer (DIE LINKE): Ich stimme gegen den er- weiterten Euro-Rettungsschirm, weil nicht die Krisen- verursacher, die Finanzmarktakteure und Vermögenden für die Kosten der Krise herangezogen werden, sondern die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die Arbeitslo- sen, die Rentnerinnen und Rentner, hier wie auch in Griechenland. Stattdessen wäre eine europaweite Ver- mögensabgabe und eine gerechte Besteuerung von Ver- mögen und Kapitaleinkünften zwingend. Die Sparauflagen für die südeuropäischen Schuldner- staaten verschärfen die wirtschaftliche Krise in den Län- dern und führen die Staaten tiefer in die Schuldenkrise. Mit den Delegierten des Gewerkschaftstages von Verdi trete ich daher für ein sofortiges Ende der ökonomisch und sozial schädlichen Sparpolitik in den Schuldnerlän- dern ein. Die europäischen Regierungen und die EU unterwer- fen alle Länder nach wie vor dem Diktat der Finanz- marktakteure, statt sie endlich zu regulieren. Eine euro- 15430 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 (A) (C) (D)(B) päische Finanztransaktionsteuer kann nur der erste Schritt sein. Ich stimme gegen den erweiterten Rettungsschirm, weil ich für Europa bin. Statt Sparprogrammen ist ein europäisches Zukunfts- programm zur Sicherung von Beschäftigung und sozia- ler Gerechtigkeit erforderlich. Nur mit gleichen und gerechten Bedingungen für Wirtschafts-, Steuer- und Sozialpolitik ist Europa vor den Banken und Hedgefonds noch zu retten. Dorothee Menzner (DIE LINKE): Ich stimme dem Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabi- lisierungsmechanismus, EFSF, aus folgenden Gründen nicht zu: Eine weitere Aufstockung der Mittel des Euro-Ret- tungsschirmes ohne eine wirksame Regulierung der Fi- nanzmärkte, die Heranziehung der Riesenvermögen zur Schuldentilgung sowie eine konstruktive Unterstützung für die wirtschaftliche Entwicklung in Griechenland und anderen betroffenen Ländern ist ein Doktern am System ohne Bekämpfung der Ursachen. Es werden keine Kon- sequenzen aus der gescheiterten Politik gezogen. Die an die Hilfskredite aus dem Rettungsschirm ge- knüpften Auflagen radikaler Kürzungen würgen in den Krisenländern die Binnenkonjunktur weiter ab, verhin- dern eine nachhaltige Entwicklung und Erholung der Wirtschaft und verschärfen somit die Schuldenkrise. In den Krisenländern bezahlen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die Rentnerinnen und Rentner, Studentin- nen und Studenten und andere Gruppen der ganz norma- len Bevölkerung mit Lohn- und Rentenkürzungen, Ent- lassungen und dem größten Sozialabbau der europäischen Nachkriegsgeschichte, während die Reichen und Super- reichen, die Banken und Profiteure der ökonomischen Entwicklung der letzten Jahre und Jahrzehnte ein weiteres Mal ungeschoren davonkommen. In Deutschland werden im Haftungsfall ebenfalls die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler und nicht die Profi- teure des Kasinos die Zeche für eine Veranstaltung zah- len, an der sie nie teilgenommen haben. Die Risiken werden mittlerweile selbst von der Deutschen Bank auf über 400 Milliarden beziffert, die im Haftungsfall über lange Jahre die Bürgerinnen und Bürger immens belas- ten werden. Im Zusammenhang mit Bankenhilfe ohne Gegenleistung, Sozialkürzungen und Demokratieabbau ist dies für mich nicht zu verantworten. Die europäische Integration der letzten Jahrzehnte, die Voraussetzung für Frieden unter den Ländern Euro- pas, wirtschaftliche Entwicklung und die Entwicklung sozialstaatlicher Mechanismen in seinen Ländern war, wird mit dieser Art der vermeintlichen Stabilisierung aufs Spiel gesetzt. Europa ist mehr als eine gemeinsame Währung. Gerade in der Krise dürfen soziale Standards und Sicherheit für alle Bürgerinnen und Bürger Europas, demokratische Mechanismen und Teilhabe aller nicht zur Disposition stehen. Ich verwahre mich gegen alle Ansätze, die Ängste von Bürgerinnen und Bürgern schü- ren und nationalistisches Denken befördern können. Sie stehen einer zukunftsfähigen Entwicklung Europas ent- gegen. Ein Europa der Menschen ist notwendiges Ziel und nicht ein Europa, das sich nach den Interessen der Konzerne, Banken und Ratingagenturen entwickelt. Cornelia Möhring (DIE LINKE): Ich stimme heute gegen die Ausweitung und Aufstockung des Euro-Ret- tungsschirms, weil ich Ja zu einem solidarischen Europa sage. Dieser Rettungsschirm, über den wir heute abstim- men, verhindert ein solches Europa. Er rettet weder den Euro noch die EU oder gar die Menschen in Griechen- land – er rettet in Wahrheit nur die Banken und Speku- lanten. Statt die Gewinner der Krise für die Folgen ihrer ver- antwortungslosen Gier zur Kasse zu bitten, soll die Be- völkerung in Europa zahlen: In der Bundesrepublik kommen die Milliarden Euro für den Rettungsschirm aus Steuergeldern. In Griechenland, Irland und Portugal be- zahlen die Studierenden, Angestellten und Rentnerinnen und Rentner durch Massenentlassungen, Rentenkürzun- gen und andere sozial verheerende und volkswirtschaft- lich völlig unsinnige Kürzungsprogramme. Zu einer solchen Politik der Entlastung von Banken und Spekulanten und der Belastung der Bevölkerung sage ich Nein. Ich will, dass die Verursacher und Profi- teure der Krise zur Kasse gebeten werden. Wir brauchen eine Finanztransaktionsteuer, eine europaweite Vermö- gensabgabe und eine wirkliche Bankenabgabe. Statt den Finanzjongleuren weitere Milliarden für ihre Spekulationen in den Rachen zu werfen, sollte die Bun- desrepublik an den Ursachen der Krise ansetzen. Die Europäische Union kann nur gerettet werden, wenn sie endlich zu einer wirklichen Sozialunion wird, deren Ziel die Verbesserung der Lage der Beschäftigten und der Armen in allen Ländern der Gemeinschaft ist. Zusammen mit meiner Fraktion fordere ich deshalb: Weg mit Hartz IV und her mit dem flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn. Wir brauchen ein EU-weites Investitionsprogramm und eine stärkere, sozial ausge- richtete Politikkoordination, um den sozial-ökologischen Umbau in der EU voranzutreiben. Ich sage heute Nein zu einem Europa der Banken und Millionäre und Ja zu einem Europa der Millionen. Niema Movassat (DIE LINKE): Ich stimme aus fol- genden Gründen gegen den Gesetzentwurf zur Erweite- rung der EFSF. Erstens. Die EFSF ist im Ergebnis eine Unterstützung der Banken, der Finanzinstitute, der Spekulanten, der Reichen und der Superreichen. Im Haftungsfall werden die entstehenden Lasten aber von der großen Mehrheit der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler getragen. Zu be- fürchten ist auch eine Kürzung von Renten und anderen Sozialleistungen. Die Bundesregierung ist auch nicht be- reit, für die gegenwärtigen Sozialstandards eine Garan- tieerklärung abzugeben. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15431 (A) (C) (D)(B) Zweitens. Den Menschen in den Ländern, die Mittel von der EFSF erhalten, wird nicht geholfen: Die diesen Ländern aufgegebenen strengen Sparauflagen treffen dort vor allem die Geringverdiener, die Arbeitnehmerin- nen und Arbeitnehmer und die Rentnerinnen und Rent- ner. Die Binnennachfrage bricht ein, Wirtschaftswachs- tum und Steuereinnahmen sinken. Die Fähigkeit zur Rückzahlung der gewährten Kredite wird immer weiter eingeschränkt. Das zeigt die Entwicklung in Griechen- land. Drittens. Die demokratische Kontrolle des Bundes- haushalts durch das Parlament wird mit dem Änderungs- gesetz ausgehöhlt. Die Unterrichtung des Haushaltsaus- schusses ersetzt die parlamentarische Beteiligung nicht. Mit der EFSF findet eine Unterordnung demokratischer Verfassungsprinzipien unter das Diktat der Finanzmärkte statt. Es braucht einen völlig anderen politischen Weg zur Lösung der Krise: Notwendig ist eine strikte Regulie- rung der Finanzmärkte und eine Vergesellschaftung der privaten Banken. Die Riesenvermögen in der EU, die in etwa den gesamten Staatsschulden in der EU entspre- chen, müssen für die Schuldentilgung herangezogen werden. Es braucht eine konstruktive Unterstützung für die wirtschaftliche Entwicklung in Griechenland und an- deren betroffenen Ländern. Dazu gehört auch, dass Deutschland durch nachhaltige Lohnerhöhungen, unter anderem durch Einführung eines gesetzlichen, flächen- deckenden Mindestlohns, die eigene Binnennachfrage stärkt und so Exportüberschüsse, die Teil der Ursachen für die Krise in Europa sind, abbaut. Zuletzt möchte ich sagen, dass der Widerstand der griechischen Bevölkerung gegen die soziale Barbarei und wirtschaftliche Unvernunft meine Solidarität hat. Jan Mücke (FDP): Der Haushaltsausschuss hat in seiner Beschlussempfehlung vom 22. September 2011 – Drucksache 17/7067 – den Mitgliedern des Deutschen Bundestages empfohlen, den Antrag der Fraktionen CDU/CSU und FDP „Entwurf eines Gesetzes zur Ände- rung des Gesetzes zur Übernahme von Gewährleistun- gen im Rahmen eines europäischen Stabilisierungsme- chanismus“ – Drucksache 17/6916 – in geänderter Fassung anzunehmen. Ich folge dieser Empfehlung. Meine Zustimmung zur vorgenannten Beschlussemp- fehlung verknüpfe ich mit folgender persönlicher Erklä- rung: Die Ertüchtigung und Flexibilisierung der Europäi- schen Finanzstabilisierungsfazilität – EFSF – ist zwar notwendig, um die konkrete Gefahr einer ungeordneten Insolvenz Griechenlands und die möglichen Zuspitzun- gen von Zahlungsschwierigkeiten auch anderer Krisen- länder ohne weitere Anleihekäufe durch die Europäische Zentralbank – EZB – zu gewährleisten. Diese Befugnis- erweiterung reicht aber nicht aus, um die Krise dauerhaft einzudämmen. Die Unabhängigkeit der EZB ist gegeben. Dennoch kam es – und kommt es noch immer – zu Anleihekäufen durch die EZB, die dadurch bereits beträchtliche Risiken in ihre Bücher genommen hat. Es ist sehr zweifelhaft, ob die EZB dafür die notwendige Legitimation besitzt, da letztlich die einzelnen Nationalstaaten entsprechend ih- rer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit dafür haften. Die Gefahr besteht, dass die EZB auch nach Ertüchtigung der EFSF an ihrer Politik festhält und dass sich dieser ordnungspolitische Sündenfall insbesondere auf Kosten Deutschlands perpetuiert. Daher ist es zwingend not- wendig, der EZB die Grundlage für weitere Anleihe- käufe zu entziehen, ohne ihre Unabhängigkeit anzutas- ten. Dies sollte durch zweierlei Maßnahmen geschehen: Die Zielformulierung der Zentralbankpolitik muss sich ausschließlich auf die Gewährleistung der Preissta- bilität reduzieren. Die Erfolgsgeschichte der Deutschen Bundesbank lässt sich insbesondere darauf zurückfüh- ren. Die Stimmrechte im EZB-Zentralbankrat sind nach Kapitalanteilen zu gewichten. Andernfalls besteht weiter- hin die Gefahr, dass die Länder, die insbesondere für risi- koreiche Anleihen haften, von kleineren Ländern über- stimmt werden und weiterhin Risiken auf Deutschland und andere kapitalstarke Staaten abgewälzt werden. Beides macht eine Änderung der Satzung der EZB dringend erforderlich. Zudem sind mögliche Regeln einer geordneten Insol- venz eines Staates auszuloten. Diese müssen einen auto- matischen Schuldenschnitt unter Beteiligung privater Gläubiger beinhalten, sobald ein Staat über eine be- stimmte Zeit hinaus nicht in der Lage ist, seine Schulden zu bedienen. Den derzeitigen Gefahren für die Realwirtschaft, die mit möglichen Insolvenzen von Banken einhergehen, müssen wir entschieden entgegentreten. Kurzfristig sollte das durch höhere Eigenkapitalquoten geschehen. Mittelfristig ist es notwendig, sogenannte systemrele- vante Banken in kleinere Institute zu zerschlagen, sodass diese einzeln insolvent gehen können, ohne die gesamte Realwirtschaft mitzureißen. Diese Forderungen stellen nichts anderes als eine Rückkehr zu grundlegenden Prinzipien der Begründer der Sozialen Marktwirtschaft dar. Insbesondere das Pri- mat der Währungspolitik wurde missachtet und das Prin- zip der Haftung grob verletzt. Unter der Voraussetzung, dass die Wiederherstellung dieser Prinzipien eisern ver- folgt wird, stimme ich für den Gesetzentwurf. Ich bin zu- versichtlich, dass dieser Weg von der Koalition weiter verfolgt wird. Burkhardt Müller-Sönksen (FDP): Die Lösungen der Koalition in der europäischen Haushalts- und Fi- nanzpolitik sollen die derzeitigen Turbulenzen an den Finanzmärkten eindämmen und neues Vertrauen etablie- ren. Nicht alle der bisherigen und geplanten Maßnahmen finden meine Zustimmung. In verschiedenen Punkten bleiben bei mir auch wei- terhin Zweifel. Einer geordneten Insolvenz zum Beispiel für Griechenland hätte ich dem anstrebten Verfahren den Vorzug gegeben und vertrete die Auffassung, dass diese 15432 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 (A) (C) (D)(B) auch weiterhin als mögliches Instrument in Betracht ge- zogen werden sollte. Im Grundsatz lehne ich jedoch Hil- fen für andere Euro-Staaten nicht ab, wenn diese unter den passenden Rahmenbedingungen gewährt werden. Ich kann jedoch zum jetzigen Zeitpunkt nicht erken- nen, welche Risiken von anderen Staaten des Euro- Raums noch zu erwarten sind. Diese Risiken konnten bisher nicht benannt und meine Zweifel daher nicht voll- ständig ausgeräumt werden. Ich begrüße ausdrücklich, dass nach Angaben des Bundesministers der Finanzen die Erhöhung der Aus- leihkapazitäten der EFSF für Deutschland auf 211 Mil- liarden Euro beschränkt ist. Die Befassung des Bundes- tages bzw. in bestimmten Fällen des Haushaltsaus- schusses im Falle jedweder Änderung oder Erweiterung der EFSF ist für mich Grundlage meiner Zustimmung; dieses gilt insbesondere auch für den Ausschluss der so- genannten Hebelwirkung. Auch das Bewusstsein, dass es, falls heute keine Mehrheit aus der Koalition zustande kommt, zu noch stärkeren Unsicherheiten für die Märkte kommen wird, ist ausschlaggebend für mein Abstimmungsverhalten. Die Kapitalmärkte würden entsprechend negativ reagie- ren und die Bemühungen zur Stabilisierung somit kon- terkarieren. Auch mit Blick auf die europäischen Nach- barn und die Partner in der Welt ist es für Deutschland mit dem Ziel eines stabilen Euro wichtig, ein Zeichen für eine geschlossene und entschlossene Koalition zu set- zen. Das habe ich heute ebenfalls bei meinem Abstim- mungsverhalten zu berücksichtigen. Aufgrund dieser Abwägung stelle ich meine persönli- chen Bedenken und Zweifel zu den im Gesetzesvorha- ben getroffenen Regelungen zurück und stimme den Än- derungen an dem Gesetz zum europäischen Stabi- lisierungsmechanismus zu. Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Jede Krise markiert einen Wendepunkt. Insofern kann man auch der Euro- Schulden-Krise etwas Positives abgewinnen: Ein Weiter- So kann es politisch nicht geben. Der vermeintlich einfa- che Weg, Politik zu machen, indem man Schulden an- häuft und Probleme fremdfinanziert und zinslastig vor sich her schiebt, endet in einer Sackgasse. Ich bin stolz darauf, dass die CSU das längst erkannt und Bayern als erstes Bundesland Haushalte ohne Neu- verschuldung aufgestellt hat. Ich bin stolz darauf, dass wir im Grundgesetz eine Schuldenbremse verankert haben. Das war richtungs- weisend – nicht nur für den Bund, sondern für Europa. Seither sind die Finanzkrisen allerdings dazu angetan, uns von dem Weg abzubringen. Auch die „impliziten“ Schulden, beispielsweise die Pensionslasten, machen mir Sorgen. Der heutige Beschluss mag im engsten Sinne parla- mentarischer Gepflogenheiten keine Gewissensentschei- dung sein. Es ist aber eine Entscheidung, die mich schwer belastet – angesichts der finanziellen Dimensio- nen und der vielen ungeklärten Fragen. Die wiederum wurden von der Wissenschaft nur vieldeutig und wider- sprüchlich beantwortet. Das Orakel von Delphi wäre hier hilfreicher gewesen. Medien und Opposition haben ihren zweifelhaften Beitrag dazu geleistet, die kritische Sachfrage zu einer Machtfrage hochzustilisieren. Die Frage, ob die Koali- tion eine eigene Mehrheit hat, ist eben minder komplex als die vielfältigen Sachfragen, die mit der europäischen Schuldenkrise verbunden sind. Die Verunsicherung der Bürger durch eine mitunter unverantwortliche Berichterstattung mancher Medien ist Ausdruck dafür, dass die sogenannte Vierte Gewalt sich ihrer Verantwortung für die Demokratie in unserem Staat oft nicht bewusst ist, und das nicht einmal mit Blick auf das Eigeninteresse der Pressefreiheit. Diese konstruierte Machtfrage muss man heute klar beantworten. Die rot-grün-dunkelrote Opposition bietet eine Alternative, die ich für katastrophal halte: Die Ver- gemeinschaftung aller europäischen Schulden über Euro-Bonds, die Schuldnerstaaten geradezu animiert, zulasten unserer Bonität und mit entsprechend niedrigen Zinsen weiter Schulden zu machen. Das ist, als wolle man einen Alkoholiker mit Freibier zur Abstinenz brin- gen. Die EFSF wird heute eine breite Mehrheit bekom- men. Eine Gegenstimme ändert daran nicht nur nichts, sie würde dagegen den Eindruck erwecken, dass wir in einer so schwierigen Situation keinen Fonds bräuchten, um eine neuerliche Finanzkrise zu verhindern. Eine Sa- nierung Griechenlands halte ich persönlich für unwahr- scheinlich. Die notwendigen Einsparungen im öffentli- chen Bereich und der unabdingbare Reallohnverzicht sind meines Erachtens nicht durchsetzbar. Damit brau- chen wir die EFSF als Brandmauer, um bei einer Insol- venz Griechenlands einen Flächenbrand zu vermeiden. Ich habe aber trotz dieser Einsicht während der Debatte innerhalb meiner Fraktion mit Nein gestimmt. Es gehört zu meinen politischen Erfahrungen der letzten neun Jahre, dass ohne diesen Druck gerade in der Europapoli- tik demokratieferne Lösungen gesucht werden. Wer das anzweifelt, der möge den Antrag zum Parlamentsbeteili- gungsgesetz zum Lissabon-Vertrag der Union aus Oppo- sitionszeiten mit dem vergleichen, was dann später in der Regierungsphase beschlossen wurde. Das Ergebnis ist mindestens so beschämend wie die Regelungen zur Subsidiarität im Lissabon-Vertrag selbst. Oder die Tatsa- che, dass wir mittlerweile das Bundesverfassungsgericht brauchen, um das durchzusetzen, was eigentlich Ehren- sache für das Parlament sein müsste: parlamentarische Mitsprache. Richter zu fragen, wie weit man sich ent- rechten lassen darf: Zeichnet das selbstbewusste, auf- rechte Volksvertreter aus? Die, die uns einreden wollen, Europa gehe nur mit Demokratieverzicht, verraten die europäische Idee. Ohne die Rückbindung europäischer Entscheidungen an nationale Parlamente und damit an das Volk wird die ge- niale europäische Idee scheitern. Es ist dann schon der Gipfel der Ironie, wenn dieselben ihre Kritiker als Euro- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15433 (A) (C) (D)(B) pagegner diffamieren. Und es schadet der Sache, wenn sie in einer kritischen (Krisen-)Phase der EU versuchen, ihre Fantasien von den „Vereinigten Schuldenstaaten von Europa“ zu realisieren. Die CSU hat das Europa der Regionen in der Bayeri- schen Verfassung verankert. Das bleibt unsere Richt- schnur. Für geradezu schändlich halte ich es, wenn bei Dis- kussionen um Ausgestaltung und Vorgehen in einer Krise nicht auf Argumente eingegangen wird, sondern mit viel Pathos über Krieg und Frieden philosophiert wird. Diese Ablenkungsmanöver sind durchschaubar und Teil des Problems. Wir waren noch immer in der Lage, ökonomische Kriterien richtig zu beschreiben: bei der Euro-Einfüh- rung beispielweise das Schuldenübernahmeverbot und den Stabilitäts- und Wachstumspakt. Wider besseren Wissens müssen diese Ansprüche aber dann offenbar im- mer wieder angeblich höherrangigeren politischen Erwä- gungen weichen. Die Aufnahme Griechenlands in den Euro-Raum ist ein klassisches Beispiel dafür. Man kann sagen: Die Griechen haben ihre Zahlen geschönt. Aber die Gegen- seite, allen voran die Regierung Schröder, hat die fal- schen Zahlen doch glauben wollen. Jedenfalls kann man den Bundestagsprotokollen von damals entnehmen, dass CSU-Kollegen auf die Manipulation hingewiesen und von „einem schweren Fehler“ gesprochen haben. Von Europapathos befeuert, wollte man Griechenland im Euro haben. Die Griechen hätten übrigens wegen ihrer Produktivitätsdefizite, die sie nur durch die Abwertung der Drachme hätten ausgleichen können, gut daran ge- tan, dem Euro-Raum nicht beizutreten. Rot-Grün hat im Nachgang auch noch den Stabilitäts- und Wachstumspakt aufgeweicht – auch das wider bes- seres Wissen. Ein wenig mehr Demut in der Debatte hätte ich mir auch von dieser Seite gewünscht. Jetzt geben wir die No-Bail-out-Regel auf, wonach eine gegenseitige Schuldenübernahme wohlweislich nicht infrage kommt. Das beschwert mich besonders. Wir müssen zu einem Weg zurückfinden, der die diszi- plinierenden Kräfte des Marktes sicherstellt. Höhere Zinsen müssen Schuldner zum Sparen zwingen. Die Griechen haben den Realzinsvorteil nicht für Investitio- nen, sondern für Konsum genutzt. Mein Anliegen ist es, das, was zu Zeiten Theo Wai- gels richtig vereinbart wurde, zu verteidigen, insbeson- dere dem Stabilitäts- und Wachstumspakt Geltung zu verschaffen. Ich werde weiter eine Insolvenzordnung für Staaten einfordern. Die haushalterischen Eingriffsmöglichkeiten der EU gehören in diesen Kontext. Die EU darf nur in Funktion eines „Insolvenzverwalters“ in nationale Haus- halte eingreifen. Alle anderen Maßnahmen zur wirt- schafts- und finanzpolitischen Koordination bedürfen ei- ner demokratischen Rückbindung an die nationalen Parlamente. Sie müssen wir stärken, um das Befremden über einsame Brüsseler Entscheidungen zu beseitigen. Ehe wir den ESM dauerhaft installieren, müssen die Wirkmechanismen der EFSF analysiert werden. Hier geht Gründlichkeit vor Schnelligkeit. Mit der heutigen Debatte ist jedenfalls sicher kein Schlusspunkt gesetzt. Jens Petermann (DIE LINKE): Ich stimme gemein- sam mit meiner Fraktion gegen den erweiterten Euro- Rettungsschirm, weil er in eklatanter Weise demokrati- sche Prinzipien in ganz Europa verletzt. Ich bedaure es, dass CDU/CSU, FDP, Grüne und SPD nicht nur diesem neuen Rettungspaket für Banken und Spekulanten zustimmen, sondern auch den Einschrän- kungen der demokratischen Abgeordnetenrechte und der Rechte des Bundestags im Hinblick auf die Kontrolle des Euro-Rettungsfonds. Ich halte es in diesem Zusam- menhang für einer Demokratie nicht würdig, dass alle anderen Fraktionen gegen die Vorschläge der Linken ge- stimmt haben, wenigstens den Bundestag über die Ver- gabe der zusätzlichen Milliarden abstimmen zu lassen. Ich stimme gegen den erweiterten Euro-Rettungs- schirm, weil damit die Demokratie den sogenannten Fi- nanzmärkten geopfert wird. Ich stimme gegen den erweiterten Euro-Rettungs- schirm, weil unüberschaubare finanzielle Risiken auf die Bevölkerung zukommen. Mittlerweile qualifiziert selbst die Deutsche Bank die Risiken aus den Bürgschaften des Euro-Rettungsschirms für die Steuerzahler auf über 400 Milliarden Euro. Es ist grob fahrlässig, diesem Bün- del aus Demokratiebabbau, Sozialkürzungen und Ban- kenhilfe ohne Gegenleistung mit unabsehbaren finan- ziellen Risiken die Zustimmung zu erteilen. Ich stimme gegen den erweiterten Rettungsschirm, weil die Euro-Krise nur durch Schließung des Spekula- tionskasinos gelöst werden kann. Den Spekulanten muss der Boden entzogen werden. Die Staaten müssen sich unabhängig von den Kapitalmärkten finanzieren können, über eine Bank für öffentliche Anleihen. Die Finanz- märkte müssen endlich streng reguliert werden. Und die Verursacher und Profiteure der Krise müssen zur Kasse gebeten werden: Dies kann man durch eine EU-weite Vermögensabgabe für Superreiche, durch eine Finanz- transaktionsteuer und durch eine Beteiligung großer pri- vater Gläubiger realisieren. Mein Nein zum erweiterten Euro-Rettungsschirm ist ein Ja zu Europa, ein Ja zur Demokratie und ein Ja zum Primat der Politik über die Finanzmärkte. Richard Pitterle (DIE LINKE): Bei der Abstimmung über die Aufstockung und Ausweitung des Euro-Ret- tungsschirms, EFSF, im Deutschen Bundestag habe ich mit Nein gestimmt. Auch ich bin der Überzeugung, dass Maßnahmen er- forderlich sind, um die Staatsfinanzierung von den pri- vaten Finanzmärkten abzukoppeln, um zu verhindern, dass einzelne Staaten der Spekulation der Finanzmafia ausgesetzt werden. 15434 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 (A) (C) (D)(B) Die Einführung des Euro hatte die PDS im Bundestag zu Recht kritisiert, weil diese nicht mit einer Wirt- schafts- und Sozialunion verbunden war. Dennoch ist die Erhaltung des Euro ein richtiges Ziel, weil der Euro, von dem insbesondere die deutsche Wirtschaft profitiert hat, inzwischen mehr als ein ökonomisches Projekt ist. Wenn der Euro scheitert, besteht die große Gefahr, dass auch der europäische Gedanke und das Projekt der Europäi- schen Union massiv beschädigt werden und dies mit ei- ner Renationalisierung der Politik einher geht. Wir brau- chen zur Lösung der gewaltigen Probleme aber nicht weniger, sondern mehr europäische Integration. Wir brauchen und wollen als Linke auch gegenseitige Solida- rität und Hilfe in Europa. Darin unterscheiden wir uns von den Gegnern des Euro-Rettungsschirms, deren Mo- tivation darin liegt, den anderen in Schwierigkeiten gera- tenen Staaten die Solidarität ausdrücklich zu verweigern. Die Politik der Bundesregierung ist darauf gerichtet, den Europäischen Rettungsschirm nicht als Hilfe für die Menschen auszugestalten, sondern im Ergebnis zur Ret- tung von Banken und Versicherungen. Die Bedingungen, die an die Inanspruchnahme der Mittel aus dem Ret- tungsschirm geknüpft werden, sind nicht akzeptabel. Senkung der Löhne, Renten, Entlassungen, Erhöhung der Verbrauchsteuern, kurz massiver Sozialabbau für breite Bevölkerungskreise, sind Gift für das wirtschaftli- che Wachstum der betreffenden Staaten und machen die Rückzahlung von Krediten objektiv unmöglich. Die Banken und Gläubiger sind durch die Bürgschaft des Rettungsschirms, für die die Steuerzahlerinnen und Steu- erzahler haften, gegen Forderungsausfall gesichert. Die wirklich Vermögenden in den betreffenden Ländern, ebenso wenig wie in Deutschland, werden hingegen nicht zur Kasse gebeten. Eine Finanztransaktionsteuer, wird halbherzig angekündigt, aber bisher immer noch nicht eingeführt. Mit dieser würden die Spekulanten, die die Finanzkrise verursacht haben, endlich zur Kasse ge- beten. Hinzu kommt, dass ohne eine tiefgreifende und nicht nur kosmetische Regulierung der Finanzmärkte die Ur- sachen, die zur der Notwendigkeit des Rettungsschirms geführt haben, weiter fortwirken und der Rettungsschirm in Kürze von der Dimension her nicht ausreichen wird. Dieser ungerechten Politik, die die Mehrheit der Be- völkerung belastet und die Finanzmafia ungeschoren lässt, kann ich nicht zustimmen, sondern kann nur mit Nein stimmen. Yvonne Ploetz (DIE LINKE): Gerade als Anhänge- rin der europäischen Idee kann es für mich heute nur ein klares Nein geben. Die von der Bundesregierung ge- plante Erweiterung des Euro-Rettungsschirms, der soge- nannten EFSF, geht an den anstehenden Aufgaben schlicht vorbei. Ohne eine Lösung der gegenwärtigen Lohnkrise wird es auch keine Lösung der Euro-Krise ge- ben. Denn die Kanzlerin sieht nur die Oberfläche, aber nicht die tieferliegenden Ursachen der Krise. Die schwarz-gelbe Regierung setzt bei ihrer Euro-Politik abermals auf das falsche Pferd – wie so häufig in den letzten Wochen und Monaten. Die Krise der Euro-Zone ist letztlich eine globale Ver- teilungskrise. Jetzt rächt sich die Umverteilungspolitik von unten nach oben, die in den letzten Jahren alle neoli- beralen Parteien in Deutschland mitgetragen haben – von Schwarz, Gelb über Rot und Grün. Die Lohnein- kommen stagnieren seit geraumer Zeit weltweit, in Deutschland sind die Realeinkommen der Mehrheit der Menschen sogar gefallen. Nur die Vermögen einiger we- niger sind stark angewachsen, die breite Mehrheit hat deutlich verloren. Die Menschen reagieren darauf in der einzig für sie möglichen Art und Weise, nämlich indem sie ihre Nachfrage nach Konsumgütern einschränken. Deshalb stockt die Konjunktur, deshalb stockt die Bin- nennachfrage, deshalb spekulieren die großen Kapitalien in einem unverhältnismäßigen Umfang, da Realinvesti- tionen aus ihrer systemimmanenten Sicht sich nicht mehr für sie lohnen. Ohne eine demokratische Kontrolle des Banken- und Finanzsektors, ohne einen enormen Anwuchs der Löhne der „normalen Menschen“, ohne ein Ende des Lohndum- pings und ohne eine Besteuerung der Vermögenden wird diese Krise nicht gelöst werden können. Das Missver- hältnis von Finanz- und Realwirtschaft kann nur gelöst werden, wenn die Massenkaufkraft und die Massenein- kommen wieder steigen. Aber die Regierung zeigt sich konsequent orientierungslos. Derzeit ist es, als würden Politiker und Politikerinnen der Regierung „Steuerbord“ oder „Backbord“ rufen, ohne zu merken, dass sie eigent- lich in einem Zug sitzen. Ingrid Remmers (DIE LINKE): Ich stimme gegen dieses Gesetz, weil die Bedingungen für Länder, die Kredite im Rahmen der EFSF in Anspruch nehmen müs- sen, nicht akzeptabel sind und die „Rettung“ von einzel- nen europäischen Ländern nichts als eine weitere Ban- kenrettung mit Steuergeldern ist. Die Schuldenkrise ist vor allem eine Folge der Ban- kenkrise, in deren Rahmen die Verluste von privaten Banken auf die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler ab- gewälzt wurden – Verluste von jenen privaten Banken, die mit Wucherzinsen für neue Staatsanleihen den Rettungsschirm erst notwendig machen. Statt die Finanzmärkte endlich strikt zu regulieren, Banken zu vergesellschaften und die Staatsfinanzierung von den Kapitalmärkten abzukoppeln, würgen radikale Kür- zungsauflagen die Binnenkonjunktur der Krisenländer ab. Die Ungleichgewichte im Euro-Raum sind auch Er- gebnis der überdimensionierten Exportorientierung der deutschen Wirtschaft bei gleichzeitig stagnierenden Re- allöhnen und dauerhaft hohen Exportüberschüssen. Sie führen automatisch zu Defiziten und damit zur weiteren Verschuldung anderer Euro-Länder. Das beste Mittel da- gegen ist die Stärkung der Kaufkraft durch Mindest- löhne, die der hohen Produktivität in Deutschland ange- messen sind. Die von der Bundesregierung geforderten Zumutun- gen für die griechischen, irischen oder portugiesischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind nicht akzep- tabel. Lohnkürzungen, radikale Verkleinerung des öf- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15435 (A) (C) (D)(B) fentlichen Dienstes und Privatisierungen von öffentli- chen Gütern führen zu mehr Arbeitslosigkeit, weniger Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen und damit in die Rezession. Die unsägliche Neiddebatte vor allem gegenüber Griechenland ist ein Schlag ins Gesicht all derer, die vor, in und nach der Krise unter der hohen Ar- beitslosigkeit und den niedrigen Löhnen in vielen Län- dern Europas leiden. Europa ist kein armer Kontinent – bei strikter Regu- lierung der Finanzmärkte, einer konsequenten Verfol- gung von Steuerhinterziehung, echter Umverteilung durch wesentlich höhere Besteuerungen großer Vermö- gen und Einkommen und den Verzicht auf kostspielige Rüstungsprojekte wären die Staatshaushalte relativ ein- fach zu sanieren. Dafür steht die Linke. Swen Schulz (Spandau) (SPD): Ich stimme dem Gesetzentwurf zu, möchte aber auf erhebliche Bedenken hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit der vorgesehenen Parlamentsbeteiligung im Rahmen des europäischen Sta- bilisierungsmechanismus hinweisen. Verfassungsrechtliche Bedenken bestehen meines Er- achtens insbesondere in folgenden Punkten: Ich halte die Übertragung der Entscheidungsbefugnis des Plenums auf einzelne Mitglieder des Haushaltsaus- schusses – gemäß § 3 Abs. 3 StabMechGÄndGE – für äußerst problematisch. Die Budgethoheit liegt beim Bundestag als Ganzem. Eine Delegation dieser Befugnis auf den Haushaltsausschuss und noch weiter auf einige wenige – deren Status bislang nicht geklärt ist – verhin- dert die im Grundgesetz – Art. 38 Abs. 1 Satz 2 – garan- tierte Beteiligung aller Abgeordneten am parlamentari- schen Willensbildungsprozess. Daneben sieht das StabMechGÄndGE für bestimmte Fälle regelmäßig eine – von der Bundesregierung defi- nierte – besondere Eilbedürftigkeit und Vertraulichkeit vor, sodass automatisch statt dem Plenum nur einige we- nige Abgeordnete an Entscheidungen, die zum Teil Ga- rantien in großem Umfang betreffen, beteiligt werden. Eine Eilbedürftigkeit oder Vertraulichkeit im Hinblick auf Entscheidungen über vorsorgliche Maßnahmen oder für Kredite zur Rekapitalisierung von Finanzinstituten, wie sie das Gesetz vorsieht, halte ich für nicht zwingend gegeben. Darüber hinaus ist die Pflicht der Bundesregierung zur umfassenden und frühestmöglichen Unterrichtung des Bundestages und des Bundesrates im Grundgesetz garantiert – Art. 23 Abs. 2 Satz 2 GG. Im StabMech- GÄndGE – § 5 Abs. 7 – wird jedoch von „Unterrich- tungsrechten“ gesprochen und somit impliziert, dass es in der Hand der Bundesregierung liegt, zu entscheiden, ob und wann sie das Parlament unterrichtet. Diese Be- schränkung der Unterrichtung auf einzelne Abgeordnete halte ich für verfassungswidrig. Trotz der verfassungsrechtlichen Bedenken erscheint mir die Zustimmung zum Gesetzentwurf zwingend, da durch die Anpassung der Gewährleistungsermächtigung die auch weiterhin erforderlichen Notmaßnahmen zum Erhalt der Zahlungsfähigkeit einzelner Euro-Mitglied- staaten, durch die die Finanzstabilität in der Währungs- union insgesamt sichergestellt werden, ermöglicht wer- den. Betonen möchte ich jedoch, dass – wie im Entschlie- ßungsantrag meiner Fraktion ausgeführt (Drucksache 17/7175) – ich die von der Regierungskoalition vorge- legten Maßnahmen zur Bewältigung der derzeitigen Krise zwar als erforderlich, aber nicht für hinreichend erachte. Insbesondere sind weitere Maßnahmen zur Re- gulierung des Finanzsektors, die Einführung einer Fi- nanztransaktionsteuer sowie die Schaffung von wirksa- men Wachstumsimpulsen nötig. Ich verbinde meine Zustimmung mit der Erwartung, dass bei der vorgesehenen Einrichtung des dauerhaften Stabilitätsmechanismus ESM die Frage der Parlaments- beteiligung verfassungskonform gelöst wird und die weiteren erforderlichen Schritte zur Krisenbewältigung gegangen werden. Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU): Ich stimme dem Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabi- lisierungsmechanismus trotz massiver sachlicher Beden- ken zu. Ausschlaggebend für mein Stimmverhalten sind die verantwortungslosen Alternativen der Opposition, wel- che die Aufgabe der deutschen Haushaltsverantwortung bedeuten würden. Zwischen dem falschen Weg, den Peer Steinbrück in seiner heutigen Rede dargestellt hat, und des aus meiner Sicht noch unzureichend ausgestalteten EFSF und einem noch unklaren ESM ist die Zustim- mung zur Ertüchtigung des EFSF der verantwortungs- vollere Beitrag. Ein stabiles Europa fußt auf einem stabilen Euro. Seine Stabilität liegt deshalb im tiefsten deutschen Inte- resse. Die bisherigen Versuche, den Euro dauerhaft zu stabilisieren, sind gescheitert. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt hat nicht dazu geführt, Verstöße gegen Stabilitätskriterien wirkungsvoll zu sanktionieren. Auch die im Mai 2010 vom Bundestag beschlossenen Hilfen für Griechenland führten nicht etwa zu einer Stabilisie- rung der Situation. Entgegen der formulierten Erwartun- gen ist es Griechenland bis heute nicht gelungen, an den Kapitalmarkt zurückzukehren. Griechenland wird es auch durch die Maßnahmen, die wir einfordern, in ab- sehbarer Zeit nicht schaffen, an die Kapitalmärkte zu- rückzukehren. Griechenland wird nach meiner Überzeu- gung nicht um eine Insolvenz herumkommen, und wir müssen Griechenland hierbei helfen und die notwenigen Mechanismen zur Verfügung stellen. Auch die derzeitige Konstruktion des Euro-Stabilisie- rungsfonds EFSF kann nach meiner Überzeugung auf Dauer nicht zu der notwendigen Stabilisierung führen. Er löst weder das Verschuldungsproblem, noch wird ein überzeugendes Anreizsystem zur Schuldenvermeidung in den Euro-Staaten geschaffen. Im Ergebnis ermöglicht der EFSF neue Kreditzahlungen. Wenn das Problem in der zu hohen Verschuldung einiger Staaten der Euro- Zone besteht, vergrößern wir das Problem durch weitere 15436 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 (A) (C) (D)(B) Garantien nur. Dieses Vorgehen verhindert das notwen- dige Umdenken in der gesamten Euro-Zone. Der Kapi- talmarkt wird sich nicht disziplinieren, wenn er weiß, dass jedes Land stets gerettet wird. Ein Rettungsschirm darf daher nur zwei Auswege kennen: erfolgreiche Sa- nierung oder Insolvenz. Die Insolvenz Griechenlands ist faktisch sogar schon im Gange. Sollte für eine erfolgreiche Sanierung Griechenlands ein Schuldenschnitt unvermeidlich sein, muss ein Ret- tungsschirm die Kapitalisierung der Banken sicherstel- len, um Ansteckungsgefahren zu minimieren. Um diese Kapitalisierung zu gewährleisten, ist allerdings heute schon absehbar, dass der Umfang des EFSF zu klein ist. Für meine heutige Abstimmung ist aber maßgeblich, dass wir besser einen Rettungsschirm haben, der 440 Milliarden Euro aktivieren kann, als gar keinen Ret- tungsschirm; denn nach meiner Meinung wird die grie- chische Umschuldung sehr zeitnah kommen. Mit meiner Zustimmung zur Ertüchtigung des EFSF möchte ich den Weg eröffnen, dass wir zügig über die richtige Konstruktion des ESM nachdenken. Nur durch ein geschlossenes Auftreten des Deutschen Bundestages haben wir die nötige Durchsetzungskraft, in Europa für unsere Position der Stabilität zu werben. Aus diesem Grund stimme ich der Ertüchtigung des EFSF trotz der aufgeführten Bedenken und großer Sorge um Europa zu. Raju Sharma (DIE LINKE): Ich habe dem Euro-Ret- tungsschirm EFSF heute meine Zustimmung verweigert, denn er stellt keine sinnvolle Lösung zur dauerhaften Beseitigung der Euro-Krise dar. Stattdessen ist der Euro- Schutzschirm eine Maßnahme, die dem privaten Ban- kensektor einseitig Vorteile zulasten aller Bürgerinnen und Bürger zukommen lässt. Deutsche Banken gehören zu den größten Gläubigern der Mitgliedstaaten der Union, bei denen Zahlungs- schwierigkeiten bestehen oder erwartet werden. Im Falle Griechenlands sind es 23 Milliarden Euro, die deutsche Banken an Forderungen in den Büchern stehen haben. Im Falle Portugals sind es 34 Milliarden Euro. Nachdem diese Banken jahrzehntelang gute Gewinne mit Staatsan- leihen gemacht haben, sollen nun – geht es nach der Bundesregierung – die Bürgerinnen und Bürger für das Kreditrisiko der Banken haften. Dabei haben die Banken ihre Praxis weder nach dem Platzen der Dotcom-Blase vor zehn Jahren noch nach der Erfahrung Finanzkrise des Jahres 2009 geändert. Sie zocken an den Börsen und belohnen kurzfristige Profite mit hohen Boni. Den Steu- erzahlerinnen und Steuerzahlern darf diese Haftung nicht aufgebürdet werden. Die Bundesregierung setzte unabhängig davon, ob sie von Union, FDP, SPD oder Grünen gebildet wurde, da- rauf, Märkte radikal zu deregulieren und nahm die Risi- ken billigend in Kauf. Während die Gewinne in privater Hand blieben, mussten und müssen Verluste von der All- gemeinheit getragen werden. Wir müssen dieses Schema endlich durchbrechen und für eine Stärkung der Europäi- schen Idee streiten, die ein gemeinsames Europa nicht als Spielplatz ohne Regeln für die Finanzwirtschaft sieht, sondern vielmehr auf eine gemeinsame Wirt- schafts- und Sozialpolitik setzt, die diesen Namen ver- dient und den Ursachen der Krise grundlegend entgegen- wirkt. Die Vorschläge der Bundesregierung sind dazu gänzlich ungeeignet. Thomas Silberhorn (CDU/CSU): Der Euro ist un- sere gemeinsame Währung. Seine Stabilität zu sichern, liegt im deutschen und europäischen Interesse. Gerade unser Land als Exportnation profitiert von einem stabi- len Euro. Die Europäische Union gewinnt durch die Ge- meinschaftswährung an internationalem Gewicht. Die gegenwärtige Schuldenkrise einzelner Euro-Staaten muss daher so bekämpft werden, dass die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion als Ganzes gestärkt da- raus hervorgehen kann. Vor diesem Hintergrund ist es nicht gegen die euro- päische Integration gerichtet, wenn ich der Aufstockung und Erweiterung der Europäischen Finanzstabilisie- rungsfazilität nicht zustimmen kann. Im Gegenteil: Eine Gefährdung des Integrationsprojekts ist dann zu befürch- ten, wenn die Bemühungen zur Stabilisierung des Euro nicht den erhofften Erfolg zeitigen, weil dadurch das Vertrauen in die Staaten der Euro-Zone geschwächt würde. Schon heute ist absehbar, dass die Europäische Finanzstabilisierungsfazilität auch nach der Änderung des Rahmenvertrags nicht ausreichend wirksam sein kann, um die Euro-Zone zu stabilisieren. Es muss daher alles daran gesetzt werden, dauerhaft tragfähige Lösun- gen für die europäische Staatsschuldenkrise zu entwi- ckeln. Mit der Errichtung der Wirtschafts- und Währungs- union wurden die Grundlagen für die Geldwertstabilität des Euro gelegt: der Stabilitäts- und Wachstumspakt, die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank und das Verbot der Schuldenübernahme. Doch wie vielfache, stets sanktionslose Verstöße gegen den Stabilitäts- und Wachstumspakt zeigen, haben die Euro-Staaten die vor- handenen Instrumente zur Koordinierung der Wirtschafts- und Finanzpolitik – unter deutscher Mitwirkung – ausge- höhlt. Im Zuge der Schuldenkrise hat die Europäische Zentralbank durch den Ankauf von Staatsanleihen auf dem Sekundärmarkt ihre geldpolitischen Kompetenzen weit überdehnt und den Weg zur Vergemeinschaftung nationaler Schulden beschritten. Mit der Übernahme von Gewährleistungen für verschuldete Staaten haben die Euro-Mitglieder die Sozialisierung privater Verluste in Kauf genommen und das Verbot der Schuldenübernahme de facto ausgehebelt. Dennoch wende ich mich nicht generell gegen Finanz- hilfen. Dem ersten Hilfsprogramm für Griechenland habe ich ebenso zugestimmt wie der Errichtung der Europäi- schen Finanzstabilisierungsfazilität als befristetem Ret- tungsschirm. In Notfällen können Finanzhilfen durchaus dazu beitragen, die Stabilität der Euro-Zone als Ganzes zu wahren, sofern sie als letztes Mittel – Ultima Ratio – unter strikten Auflagen und zeitlich befristet gewährt werden. Der dadurch erkaufte Zeitgewinn muss jedoch genutzt werden – können –, um die Ursachen der Schuldenkrise zu beheben, also um die Staatsverschuldung abzubauen Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15437 (A) (C) (D)(B) und die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft wiederher- zustellen. Die Solidarität mit unseren europäischen Partnern stelle ich daher nicht infrage. Doch Hilfe darf nicht gren- zenlos gewährt werden. Sie muss zum Ziel haben, dass ein verschuldeter Mitgliedstaat der Euro-Zone zu einer eigenverantwortlichen Finanz- und Wirtschaftspolitik zurückfindet. Handeln und Haften müssen wieder zu- sammengeführt werden. Werden Finanzhilfen unter Kon- ditionen vergeben, dann darf es nicht folgenlos bleiben, wenn vereinbarte Sanierungsziele nicht erreicht werden. Hier darf die Grenze von temporären Liquiditätshilfen zu dauerhaften Transferleistungen nicht überschritten wer- den. Andernfalls würde ein europäischer Finanzaus- gleich geschaffen, der keinerlei Anreiz zur Lösung der Staatsschuldenkrise böte. Stattdessen würde die Ver- schuldung noch vergrößert und auf andere Euro-Staaten sowie nachfolgende Generationen abgewälzt. Der Konstruktionsfehler der Europäischen Finanzsta- bilisierungsfazilität liegt darin, dass dieser Rettungs- schirm einseitig auf die Gewährung von Finanzhilfen ausgerichtet ist. Solange aber die politische Zielsetzung aufrechterhalten bleibt, den Zahlungsausfall eines Euro- Mitglieds unter allen Umständen zu vermeiden, wird In- vestoren die Möglichkeit eröffnet, weiter gegen einzelne Staaten der Euro-Zone zu wetten, weil das Risiko sol- cher Wetten die Steuerzahler tragen. Der Rettungsschirm setzt damit eine Ursache für spekulative Attacken gegen Euro-Staaten. Das Kalkül solcher Investoren muss gezielt durch- kreuzt werden, damit die Staaten nicht zum Spielball der Finanzmärkte werden. Andernfalls droht der Dominoef- fekt, dass immer mehr Mitglieder der Euro-Zone unter den Rettungsschirm flüchten müssen – und wegen der niedrigeren Kreditzinsen auch flüchten wollen. Im Ge- genzug setzen die Geberländer – und in letzter Konse- quenz die Europäische Finanzstabilisierungsfazilität selbst – ihre eigene Bonität aufs Spiel. Der politische Preis dieses „Euro-Rettungswesens“ wird sehr hoch sein: Die Empfängerländer werden auf Jahre hinaus ihre poli- tische Handlungsfreiheit weitgehend verlieren. Den Ge- berländern droht die finanzielle Überforderung. Die Staaten der Europäischen Wirtschafts- und Wäh- rungsunion müssen ihre Gestaltungshoheit wahrnehmen und ihre Handlungsfähigkeit wiedergewinnen. Das erfor- dert zum Einen eine Regulierung der Finanzmärkte, die deren dienende Funktion für die volkswirtschaftliche Wertschöpfung zum Tragen bringt. Zum anderen müssen Leistungsbilanzdefizite innerhalb der Euro-Zone redu- ziert werden, indem die nationalen Haushalte entschuldet und wettbewerbsfähige Wirtschafts- und Verwaltungs- strukturen geschaffen werden. Ziel muss es sein, unter den Euro-Staaten eine gemein- same Stabilitätskultur zu entwickeln, die im Vertrag von Maastricht angelegt ist, zu der bislang aber der politische Wille gefehlt hat. Dazu gehört die Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts mit früheren und schärferen Sank- tionen bei Regelverstößen, deren Ahndung allerdings politischem Ermessen entzogen werden muss. Des Wei- teren ist die Unabhängigkeit der Europäischen Zentral- bank wiederherzustellen, indem der Ankauf von Staats- anleihen beendet wird. Schließlich ist das Verbot der Schuldenübernahme aufrechtzuerhalten, indem eine Re- strukturierung überschuldeter Staaten ermöglicht wird. Ein Sanierungsverfahren für überschuldete Staaten ist unverzichtbar, um die Gewährung von Finanzhilfen zu begrenzen und eine Überforderung der Geberländer zu vermeiden. Gerade wer vor den Ansteckungsgefahren ei- nes unkontrollierten Zahlungsausfalls warnt, muss ein Verfahren kontrollierter Sanierung schaffen, das rechtzei- tig vor einem Zahlungsausfall eingeleitet werden kann. Ein solches Sanierungsverfahren muss einen Schulden- schnitt einschließlich der zwingenden Haftung aller Gläu- biger für die von ihnen bewusst eingegangenen Risiken, die Rekapitalisierung von Banken und ein Programm für den Wiederaufbau beinhalten. Die Feststellung mangeln- der Schuldentragfähigkeit ist ohne politisches Ermessen ausschließlich anhand objektiv nachprüfbarer Kriterien zu treffen. Schließlich muss im Rahmen dieses Sanie- rungsverfahrens – gewissermaßen als letzter denkbarer Schritt zur Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit – die Mitgliedschaft des überschuldeten Staates in der Euro-Zone zeitweise ausgesetzt werden können, um die- sem eine Abwertung zu ermöglichen. Ich bin mir darüber im Klaren, dass eine solche Vorge- hensweise nicht nur die sofortige Realisierung von Ver- lusten mit sich bringt, sondern zusätzlich den Einsatz er- heblicher finanzieller Mittel erfordert. Doch nachdem es eine günstige Lösung ohnehin nicht gibt, ist die schiere Größe der Garantiesumme und des Ausleihvolumens des Rettungsschirms sowie des deutschen Haftungsanteils zwar von hoher Bedeutung, aber nicht entscheidend. Vielmehr kommt es maßgeblich darauf an, dass die Be- mühungen zur Stabilisierung des Euro – wenn sie denn schon enorme Anstrengungen erfordern – tatsächlich greifen und nicht erneut von der Wirklichkeit überholt werden. Eine nachhaltige Lösung der europäischen Staats- schuldenkrise erfordert Solidarität unter allen Mitglied- staaten der Europäischen Union, namentlich unter den Mitgliedern der Europäischen Wirtschafts- und Wäh- rungsunion. Notmaßnahmen dürfen jedoch nicht die Ret- ter selbst in Not bringen, sondern müssen Hilfe zur Selbsthilfe bleiben. Die verschuldeten Staaten müssen mit vereinten Kräften in die Lage versetzt werden, zu ei- genverantwortlichem Handeln zurückzukehren. Die vor- geschlagene Erweiterung und Aufstockung der Europäi- schen Finanzstabilisierungsfazilität geht darüber weit hinaus, weil sie keine wirksame Begrenzung von Finanz- hilfen ermöglicht, sondern Anreize zur Sozialisierung privater Verluste und zur Vergemeinschaftung nationaler Schulden setzt. Dies kann ich nicht mitverantworten. Die wirtschafts- und finanzpolitische Handlungsfähigkeit der verschuldeten Staaten muss wiederhergestellt werden, wenn die Stabilität des Euro dauerhaft erhalten bleiben soll. Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Dem Gesetz, mit dem für Notmaßnahmen zu- gunsten eines Mitgliedstaates des Euro-Währungs- 15438 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 (A) (C) (D)(B) gebiets Gewährleistungen bis zur Höhe von insgesamt 211 Milliarden Euro übernommen werden können, stimme ich nicht zu. Ich stimme mit Nein. Auch ich will der griechischen Bevölkerung helfen, aus der Krise zu kommen. Auch ich bin deshalb grund- sätzlich für die Verstärkung des Rettungsschirms, EFSF, durch weitere Milliarden. Lieber wäre mir ein drasti- scher Schuldenschnitt oder eine geregelte Insolvenz, die so gesteuert werden könnte, dass der sozial und einkom- mensmäßig schwächere Teil der Bevölkerung Griechen- lands nicht die Hauptlast trägt. Aber dafür fehlen noch die Regeln im EU-Währungsraum. Eine solche Rege- lung für eine Staatsinsolvenz muss dringend geschaffen werden. Aber solange es sie nicht gibt, bleibt nur die Hoffnung auf die Wirksamkeit des Rettungsschirmes, wenn auch die Hoffnung sehr trügerisch ist und mit wei- teren finanziellen Nachschüssen in Milliardenhöhe ge- rechnet werden muss. Der jetzt eingeschlagene Weg birgt allerdings Risiken für das europäische Währungssystem, die schon jetzt kaum noch zu verantworten sind. Der wesentliche Grund für meine Nichtzustimmung ist die mangelhafte parlamentarische Kontrolle, die das Gesetz vorsieht. Zwar sieht es vor, dass die Bundesregierung einem EU-Beschluss, der die „haushaltspolitische Gesamtver- antwortung des Bundestages“ berührt, nur zustimmen darf, wenn der Bundestag vorher zustimmt. Und diese haushaltspolitische Gesamtverantwortung sei berührt bei Abschluss einer Vereinbarung über eine Notmaßnahme, wesentlicher Änderung einer solchen, Änderungen des EFSF-Rahmenvertrages und bei der Überführung von Teilen daraus in den dauerhaften Europäischen Stabili- tätsmechanismus – ESM. Aber bei besonderer Eilbedürftigkeit oder Vertrau- lichkeit sollen dem Gesetz zufolge die Rechte des ge- samten Bundestages von nur wenigen Abgeordneten wahrgenommen werden dürfen – höchstens neun. Die Mitglieder dieses Geheimgremiums werden über die er- haltenen Informationen niemandem berichten dürfen, nicht einmal ihrem Fraktionsvorsitzenden. Ich befürchte, dies wird nicht Ausnahme, sondern die Regel werden. Dann bleibt im Regelfall der Bundestag außen vor. Denn eilbedürftig sind Notmaßnahmen stets; jedenfalls wird die Bundesregierung sich darauf berufen. Und Vertraulichkeit macht diese Bundesregierung eben- falls sehr häufig geltend; damit habe ich bereits reichlich schlechte Erfahrungen gemacht. Mit vielen parlamentarischen Anfragen in den ver- gangenen Jahren wollte ich zum Beispiel erfahren, zu welchen Bedingungen Kredite, Bürgschaften oder Ga- rantien in Milliardenhöhe für notleidende Banken gege- ben wurden und wie hohe Vergütungen sowie Boni de- ren Manager erhielten. Daraufhin berief sich die Bundesregierung dann regelmäßig auf eben solche Ver- traulichkeit wegen Geschäfts- bzw. Betriebsgeheimnis- sen der Banken und verweigerte die Antwort. Ich fürchte, ebenso wird die Bundesregierung auch in Zukunft begründen, dass Maßnahmen zur Euro-Rettung „vertraulich“ seien, sodass der Bundestag nicht beteiligt werden könne. Nach dem Gesetz soll allein die Bundesregierung die „Eilbedürftigkeit“ oder „Vertraulichkeit“ festlegen. Das Geheimgremium kann zwar widersprechen, aber nur mit Mehrheit, also nur wenn die Abgeordneten mitmachen, welche die Regierung tragen. Wenn es um vorsorgliche Notmaßnahmen geht oder um Kredite zur Rekapitalisierung von Banken oder An- kauf von Staatsanleihen, sind diese regelmäßig eilbe- dürftig oder vertraulich. Ausgenommen sind nur Ände- rungen des Rahmenvertrages, Überführung in ESM oder der erstmalige Antrag eines Mitgliedstaates. Wenn es um weniger wichtige Entscheidungen geht, muss der Haus- haltsausschuss zustimmen. Aber auch dies kann ersetzt werden durch Zustimmung des Geheimgremiums, wenn die Bundesregierung Eilbedürftigkeit oder Vertraulich- keit reklamiert. Damit wird das Haushaltsrecht des Parlaments weit- gehend abgeschafft und auf ein Rumpfparlament über- tragen : und zwar für Beträge in jeder Höhe, selbst wenn diese größer sind als der gesamte Bundeshaushalt eines Jahres. Das will ich mir als Bundestagsabgeordneter nicht ge- fallen lassen. Schlimmer noch, außer meinem Entscheidungsrecht soll selbst mein Recht auf Information und Unterrich- tung darüber, was mit dem Geld der Steuerzahler ge- schieht, beschränkt werden können: in Fällen behaupte- ter besonderer Vertraulichkeit, solange die Gründe dafür angeblich fortbestehen. Das kann Jahre dauern. So etwas geht überhaupt nicht. Wie soll ich dann mein Kontrollrecht wahrnehmen? Es ist doch das Geld der Bürgerinnen und Bürger, um das ich mich sorgen soll. Das ist eine meiner wichtigsten Aufgaben als Abge- ordneter. Wie soll das gehen und wie soll ich diese Auf- gabe wahrnehmen können, wenn ich nichts erfahre? Es gäbe doch durchaus die Möglichkeit, alle Abge- ordneten vertraulich wenigstens zu unterrichten. Ich will nicht, dass ich und 98 Prozent der Abgeord- neten unwissend gehalten werden können und außen vor bleiben, wenn für den Gesamtstaat sowie alle Bürgerin- nen und Bürger existenzielle Entscheidungen getroffen werden. Die Finanzmärkte sind nicht das Maß aller Dinge. Nach ihnen darf sich nicht richten, was die Ver- treter des ganzen Volkes wissen und entscheiden dürfen. Dagegen stimme ich. Sabine Stüber (DIE LINKE): Ich stimme dem Ge- setz zur Änderung des Gesetzes zur Übernahme von Ge- währleistungen im Rahmen eines europäischen Stabili- sierungsmechanismus aus zwei Gründen nicht zu: Erstens. Die Aufstockung der Mittel des Stabilisie- rungsfonds ist im Ergebnis eine Unterstützung der Ban- ken, der Finanzinstitute und der Reichen. Im Haftungs- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15439 (A) (C) (D)(B) fall werden die entstehenden Lasten aber von der großen Mehrheit der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler zu tra- gen sein. Es ist dann auch eine Kürzung von Renten und anderen Sozialleistungen zu befürchten. Die Bundesre- gierung ist jedenfalls nicht bereit, für die gegenwärtigen Sozialstandards eine Garantieerklärung abzugeben. Des- halb lehne ich das Gesetz ab. Den Menschen in den Ländern, die Gelder aus dem europäischen Rettungsfonds erhalten, wird nicht wirk- lich geholfen: Die strengen Sparauflagen, mit denen die „Hilfe“ für diese Länder verbunden ist, treffen dort vor allem die Geringverdienenden, die Rentnerinnen und Rentner. Deshalb wird die Binnennachfrage zurückge- hen. Wirtschaftswachstum und Steuereinnahmen sinken. Damit wird die Fähigkeit zur Rückzahlung der gewähr- ten Kredite immer weiter eingeschränkt. Das zeigt die Entwicklung in Griechenland jetzt schon. Auch deshalb stimme ich dem Gesetz nicht zu. Wir wollen stattdessen die Regulierung der Finanz- märkte, die Beteiligung der Reichen mit riesigem Ver- mögen an der Schuldentilgung und eine konstruktive Unterstützung für die wirtschaftliche Entwicklung in Griechenland und anderen betroffenen Ländern. Zweitens. Ich lehne das Gesetz auch deshalb ab, weil es die demokratisch-parlamentarische Kontrolle des Bundeshaushalts untergräbt. Im Rahmen des Euro-Kri- senfonds, EFSF, werden Entscheidungen getroffen, die Auswirkungen für spätere Generationen haben. Die de- mokratische Kontrolle kann nur funktionieren, wenn Unterrichtungen und Entscheidungen durch den zustän- digen Fachausschuss, den Haushaltsausschusses, vorbe- reitet werden. Es ist auch nicht mit demokratischen Grundsätzen vereinbar wenn wichtige parlamentarische Entscheidungen an ein kleines Sondergremium delegiert werden. Mit dem Gesetz beugt sich der Bundestag dem Diktat der Finanzmärkte. Auch deshalb sage ich Nein zu diesem Gesetz. Alexander Süßmair (DIE LINKE): Ich lehne die Aufstockung und Ausweitung der Europäischen Finanz- stabilisierungsfazilität, EFSF, ab, denn damit wird ein marktradikales und gescheitertes Krisenmanagement fortgesetzt, das die soziale und wirtschaftliche Spaltung der Euro-Zone und der EU weiter vertieft. Die an die „Hilfskredite“ aus dem Rettungsschirm ge- knüpften radikalen Kürzungsauflagen würgten die Bin- nenkonjunktur der Krisenländer ab, verhinderten eine nachhaltige Erholung der Wirtschaft und verschärften die Schuldenkrise. Die Finanzmärkte wurden dadurch nicht „beruhigt“; es wird weiter gegen Krisenstaaten spekuliert. Bereits jetzt gehen Expertinnen und Experten sowie Finanzmarktakteure davon aus, dass auch die auf- gestockte EFSF nicht ausreichen wird! Ich lehne den erweiterten Euro-Rettungsschirm ab, denn anstatt die Konsequenzen aus der gescheiterten marktradikalen Politik zu ziehen, wird der Kurs fortge- setzt. In den Krisenländern bezahlen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Rentnerinnen und Rentner, Schüle- rinnen und Schüler, Studenteninnen und Studenten, Er- werbslose und sozial Benachteiligte mit dem größten So- zialabbau der europäischen Nachkriegsgeschichte dafür, dass private Banken weiter spekulieren können. Damit wird die Agenda 2010 mit ihrem Sozialkahlschlag, Lohndumping und ihrer kurzsichtigen Fixierung auf den Export, nach Deutschland nun in Europa installiert. In Deutschland werden die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler für die milliardenschweren Garantien in Haftung genommen. Solange die Finanzmärkte nicht strikt reguliert, Banken nicht vergesellschaftet und die Staatsfinanzierung nicht von den Kapitalmärkten abge- koppelt wird, ist die Krise nicht unter Kontrolle zu brin- gen. Diese Politik ist ungerecht, weil sie die Umverteilung von unten nach oben beschleunigt und so eine zentrale Krisenursache fortschreibt. Sie ist ökonomisch gefähr- lich, weil die Spardiktate eine ökonomische Belebung der Krisenländer verhindern und keine effektiven Maß- nahmen zur Überwindung der wirtschaftlichen Un- gleichgewichte in der Euro-Zone und der EU vorgesehen sind. Sie gefährdet zunehmend die europäische Integration: Rechtspopulistische Parteien, die die Ängste und die Wut der Menschen gegen Spardiktate in europafeindli- che und nationalistische Propaganda kanalisieren, sind in vielen Ländern auf dem Vormarsch. Das gemeinsame Projekt eines vereinten und friedlichen Europas befindet sich durch diese Politik des grenzenlosen Kapitalismus in höchster Gefahr. Die Parlamente werden entmachtet und eine europäische „Wirtschaftsdiktatur“ errichtet. Die EU wurde von Anfang an nur im Interesse der Wirtschaft und Vermögenden gestaltet und nicht als ein Europa für alle Menschen. Meine Solidarität gilt den Menschen und nicht Banken oder Kapitalanlegern. Das europäische Projekt hat nur dann eine Zukunft, wenn es sozial, solidarisch, friedlich und demokratisch gestaltet wird. Dafür trete ich als demokratischer Sozialist ein. Da die „Euro-Rettung“ in genau die entgegengesetzte Rich- tung weist, kann Ich als Pro-Europäer nicht zustimmen. Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Ich lehne das Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabi- lisierungsmechanismus aus folgenden Gründen ab: Als Abgeordnete der Linken bin ich proeuropäisch, denn ich will eine soziale und solidarische europäische Gemeinschaft. Doch diesem Ziel wird der erweiterte Rettungsschirm nicht gerecht. Der Rettungsschirm lässt insbesondere die Bevölkerung von Europa im Regen ste- hen, denn sie soll für die Krise zahlen, nicht deren Verur- sacher und Profiteure. Damit vertieft er die soziale und wirtschaftliche Spaltung in der europäischen Gemein- schaft, statt sie sozial, ökologisch und wirtschaftlich zu einen. Die Ursachen der Krisen, vor allem die hochspekula- tiven, entfesselten Finanzmärkte werden mit ihm nicht beseitigt, sondern fortgeschrieben. Um Profite von Ban- ken, Versicherungen und Spekulationsgewinne zu si- chern, werden weiter Milliarden Steuergelder verbrannt. 15440 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 (A) (C) (D)(B) In den Krisenländern müssen dafür die Arbeiterinnen und Arbeiter, Angestellte, Rentnerinnen und Rentner Lohn- und Rentenkürzungen und den größten Sozialab- bau der europäischen Nachkriegsgeschichte hinnehmen. Auch in Deutschland haften die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler für die milliardenschweren Garantien. Die Alternativen zu diesem schwarz-gelben Rettungs- schirm liegen längst auf dem Tisch. Die Ursachen der Krise müssen bekämpft werden – und zwar europaweit. Ohne wirksame Regulierung des Finanzmarktes wird es nicht gehen. Schädliche Finanzinstrumente wie Leerver- käufe und hochspekulative Strukturen wie Hedgefonds oder Schattenbanken gehören verboten. Zur Sicherung einer finanzunabhängigen Staatsfinanzierung sollte eine europäische Bank für öffentliche Anleihen errichtet wer- den. Das europäische Projekt hat nur eine Zukunft, wenn es demokratisch, sozial gerecht und wirtschaftlich ge- recht gestaltet wird. Dazu braucht es dringend ein euro- päisches Konjunkturprogramm und eine koordinierte Wirtschafts- und Sozialpolitik innerhalb der EU. Der er- weitere Euro-Rettungsschirm zielt in die entgegenge- setzte Richtung und gefährdet so das Projekt Europa. Ein so untaugliches Gesetz muss ich ablehnen. Alexander Ulrich (DIE LINKE): Ja zu Europa heißt für mich ganz klar: Nein zur Ausweitung und Aufsto- ckung des Rettungsschirms. Daher habe ich heute gegen die Erweiterung des Euro-Rettungsschirms gestimmt. Der Rettungsschirm rettet nicht den Euro, er rettet nicht die EU – er rettet Banken und Spekulanten. Bezahlen müssen hierfür die Beschäftigten: die Be- schäftigten hier, die einen Großteil der Steuergelder zah- len, und die Beschäftigten in Griechenland, Irland und Portugal, die unter sozial verheerenden und ökonomisch völlig unsinnigen Kürzungsprogrammen leiden, die durch den Rettungsschirm diktiert werden. Steuergelder für Bankprofite – nicht mit uns! Ich habe gegen den ausgeweiteten Euro-Rettungs- schirm gestimmt, weil ich glaube, dass die EU nur auf anderen Wegen aus der Krise herauskommt: Die Verur- sacher und Profiteure der Krise müssen zur Kasse gebe- ten werden, die Spekulanten müssen an die Kette gelegt werden und die Banken unter öffentliche Kontrolle. Wir brauchen eine Finanztransaktionsteuer, eine europaweite Vermögensabgabe und eine wirkliche Bankenabgabe. Die EU kann nur gerettet werden, wenn sie zu einem Projekt für sozialen Frieden wird. Dazu muss die Lage der Beschäftigten und der sozial Schwachen in der ge- samten EU verbessert werden. Damit müssen wir in Deutschland anfangen: Weg mit Hartz IV, her mit dem gesetzlichen Mindestlohn! Auf diese Weise bauen wir die hohen Exportüberschüsse ab und setzen so an den Ursachen der Krise an. Ein EU-weites Investitionspro- gramm und eine stärkere, sozial ausgerichtete Politik- koordination sollen den sozial-ökologischen Umbau in der EU vorantreiben. Europa muss sozial sein, oder es wird nicht sein. Arnold Vaatz (CDU/CSU): Der Haushaltsausschuss hat in seiner Beschlussempfehlung vom 22. September 2011 – Drucksache 17/7067 – den Mitgliedern des Deut- schen Bundestages empfohlen, den Antrag der Fraktio- nen CDU/CSU und FDP „Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Übernahme von Gewährleis- tungen im Rahmen eines europäischen Stabilisierungs- mechanismus“ – Drucksache 17/6916 – in geänderter Fassung anzunehmen. Ich folge dieser Empfehlung. Meine Zustimmung zur vorgenannten Beschlussemp- fehlung verknüpfe ich mit folgender persönlicher Erklä- rung: Die Ertüchtigung und Flexibilisierung der Europäi- schen Finanzstabilisierungsfazilität – EFSF – ist zwar notwendig, um die konkrete Gefahr einer ungeordneten Insolvenz Griechenlands und die möglichen Zuspitzun- gen von Zahlungsschwierigkeiten auch anderer Krisen- länder ohne weitere Anleihekäufe durch die Europäische Zentralbank – EZB – zu gewährleisten. Diese Befugnis- erweiterung reicht aber nicht aus, um die Krise dauerhaft einzudämmen. Die Unabhängigkeit der EZB ist gegeben. Dennoch kam es – und kommt es noch immer – zu Anleihekäufen durch die EZB, die dadurch bereits beträchtliche Risiken in ihre Bücher genommen hat. Es ist sehr zweifelhaft, ob die EZB dafür die notwendige Legitimation besitzt, da letztlich die einzelnen Nationalstaaten entsprechend ih- rer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit dafür haften. Die Gefahr besteht, dass die EZB auch nach Ertüchtigung der EFSF an ihrer Politik festhält und dass sich dieser ordnungspolitische Sündenfall insbesondere auf Kosten Deutschlands perpetuiert. Daher ist es zwingend not- wendig, der EZB die Grundlage für weitere Anleihe- käufe zu entziehen, ohne ihre Unabhängigkeit anzutas- ten. Dies sollte durch zweierlei Maßnahmen geschehen: Die Zielformulierung der Zentralbankpolitik muss sich ausschließlich auf die Gewährleistung der Preissta- bilität reduzieren. Die Erfolgsgeschichte der Deutschen Bundesbank lässt sich insbesondere darauf zurückfüh- ren. Die Stimmrechte im EZB-Zentralbankrat sind nach Kapitalanteilen zu gewichten. Andernfalls besteht wei- terhin die Gefahr, dass die Länder, die insbesondere für risikoreiche Anleihen haften, von kleineren Ländern überstimmt werden und weiterhin Risiken auf Deutsch- land und andere kapitalstarke Staaten abgewälzt werden. Beides macht eine Änderung der Satzung der EZB dringend erforderlich. Zudem sind mögliche Regeln einer geordneten Insol- venz eines Staates auszuloten. Diese müssen einen auto- matischen Schuldenschnitt unter Beteiligung privater Gläubiger beinhalten, sobald ein Staat über eine be- stimmte Zeit hinaus nicht in der Lage ist, seine Schulden zu bedienen. Den derzeitigen Gefahren für die Realwirtschaft, die mit möglichen Insolvenzen von Banken einhergehen, müssen wir entschieden entgegentreten. Kurzfristig sollte das durch höhere Eigenkapitalquoten geschehen. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15441 (A) (C) (D)(B) Mittelfristig ist es notwendig, sogenannte systemrele- vante Banken in kleinere Institute zu zerschlagen, sodass diese einzeln insolvent gehen können, ohne die gesamte Realwirtschaft mitzureißen. Diese Forderungen stellen nichts anderes als eine Rückkehr zu grundlegenden Prinzipien der Begründer der Sozialen Marktwirtschaft dar. Insbesondere das Pri- mat der Währungspolitik wurde missachtet und das Prin- zip der Haftung grob verletzt. Unter der Voraussetzung, dass die Wiederherstellung dieser Prinzipien eisern ver- folgt wird, stimme ich für den Gesetzentwurf. Ich bin zu- versichtlich, dass dieser Weg von der Koalition weiter verfolgt wird. Johanna Voß (DIE LINKE): Meine Fraktion, Die Linke, und ich lehnen die Aufstockung und Ausweitung der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität, EFSF, ab, denn damit wird ein marktradikales und gescheitertes Krisenmanagement fortgesetzt, das die soziale und wirt- schaftliche Spaltung der Euro-Zone und der EU weiter vertieft. Ich wende mich entschieden gegen diese Politik des sozialen Kahlschlags, die mithilfe des Rettungsschirms diktiert wird. Die Länder, die sich unter den Rettungs- schirm begeben, werden zu Kürzungen gezwungen, die auf demokratischem Wege niemals durchsetzbar wären. Während sich alle Welt zum Richter über Griechenland aufschwingt und Frau Merkel nicht müde wird zu beto- nen, die Griechen müssten sich noch mehr anstrengen, wird völlig übersehen, was der griechischen Bevölke- rung alles abverlangt wird. Als Gegenleistung für die Fi- nanzhilfen aus der EU mussten sie unter anderem die Mehrwertsteuer von 19 auf 23 Prozent erhöhen, die Ren- ten kürzen, das Rentenalter erhöhen, die Preise für den öffentlichen Nahverkehr um 30 Prozent erhöhen, die öf- fentlichen Investitionen um 1,2 Milliarden Euro kürzen, die Mindestlöhne senken und den Kündigungsschutz lo- ckern. Für Portugal und Irland sieht es ähnlich aus. Ich lehne das Gesetz ab, denn der Rettungsfonds ist von den Banken diktiert und nützt nur ihnen, nicht Eu- ropa, nicht Griechenland. Schon die bisherige Euro-Ret- tung hat die Ausweitung der Krise nicht verhindert, im Gegenteil: Die Banken und Finanzinvestoren wurden ge- schützt. Doch den Krisenländern warfen die Regierun- gen der Euro-Zone, die EU-Kommission, die Europäi- sche Zentralbank und der IWF Rettungsringe aus Blei zu: Die an die Hilfskredite aus dem Rettungsschirm ge- knüpften radikalen Kürzungsauflagen würgten die Bin- nenkonjunktur der Krisenländer ab, verhinderten eine nachhaltige Erholung der Wirtschaft und verschärften die Schuldenkrise. Die Ursachen der Krise wurden voll- ständig ausgeblendet. Die Finanzmärkte wurden durch die „Rettungsmaßnahmen“ nicht beruhigt; es wird weiter gegen Krisenstaaten spekuliert. Bereits jetzt gehen Ex- pertinnen und Experten und sowie Finanzmarktakteure davon aus, dass auch die aufgestockte EFSF nicht aus- reichen wird. Die Linke lehnt den erweiterten Euro-Rettungsschirm ab, denn der neoliberale Kurs wird beibehalten, anstatt Konsequenzen aus der gescheiterten Politik zu ziehen. In den Krisenländern bezahlen Beschäftigte, Rentnerinnen und Rentner sowie andere Bevölkerungsgruppen mit Lohn- und Rentenkürzungen und dem größten Sozialab- bau der europäischen Nachkriegsgeschichte dafür, dass private Banken weiter spekulieren. In Deutschland wer- den die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler in Haftung für die milliardenschweren Garantien genommen. Diese Politik ist ungerecht, weil sie die Umverteilung von unten nach oben beschleunigt und so eine zentrale Krisenursache fortschreibt. Sie ist ökonomisch gefähr- lich, weil die Spardiktate eine ökonomische Belebung der Krisenländer verhindern und keine effektiven Maß- nahmen zur Überwindung der wirtschaftlichen Un- gleichgewichte in Euro-Zone und EU vorgesehen sind. Sie gefährdet zunehmend die europäische Integration: Rechtspopulistische Parteien, die die Ängste und die Wut der Menschen gegen Spardiktate in europafeindli- che und nationalistische Propaganda kanalisieren, sind in vielen Ländern auf dem Vormarsch. Das Argument der Koalition – auch von SPD und Grünen –, es gehe mit dem Rettungsschirm darum, „Europa zu retten“, ist da- her schlicht falsch. Solange die Finanzmärkte nicht strikt reguliert, Ban- ken nicht vergesellschaftet und die Staatsfinanzierung nicht von den Kapitalmärkten abgekoppelt werden, ist die Krise nicht unter Kontrolle zu bringen. Statt einer weiteren „Rettung“ müssen die öffentli- chen Haushalte aus der Abhängigkeit von den Kapital- märkten befreit werden. Dazu müssen die Staaten die Möglichkeit bekommen, über eine europäische Bank für öffentliche Anleihen zinsgünstige Kredite bei der EZB aufzunehmen. Gleichzeitig ist der Schuldenstand durch eine Beteiligung der Banken und privaten Gläubiger so- wie durch eine europaweite Vermögensabgabe für Mil- lionäre drastisch zu senken. Nur so können die Profi- teure und Verursacher der Krise angemessen zur Kasse gebeten werden. Das europäische Projekt hat nur dann eine Zukunft, wenn es sozial gerecht, wirtschaftlich vernünftig und de- mokratisch gestaltet wird. Da die „Euro-Rettung“ in ge- nau die entgegengesetzte Richtung weist, kann ich dem Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabi- lisierungsmechanismus nicht zustimmen. Marco Wanderwitz (CDU/CSU): Ein starker ge- meinsamer Wirtschaftsraum und eine starke gemein- same Währung der Europäer liegen in unserem nationa- len Interesse. Gerade unser Land als „kleine“ große Exportnation profitiert davon besonders. Europa darf nicht scheitern, wollen wir in der globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts, wo China, Indien, die rohstoffreichen Länder Afrikas, Lateinamerikas und Russland aufstre- ben, bestehen. Die aktuelle Staatsschuldenkrise Europas gefährdet das. Sie kam schleichend, aber nicht unvermittelt. Auch Deutschland ist nicht nur mittelbar betroffen; über alle staatlichen Ebenen in unserem Land waren ausgegli- chene Haushalte jahrzehntelang Mangelware. Die damit 15442 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 (A) (C) (D)(B) verbundene Lastenverschiebung in die Zukunft ist eine schwere Bürde für die jüngeren und künftige Generatio- nen. Auch die Möglichkeit zu gestaltender Politik sinkt mit jedem weiteren Euro Staatsschulden. Wir Deutschen erkannten erfreulicherweise früher als viele andere, dass ein „Weiter-so!“ in den Abgrund führt. Die neu im Grundgesetz festgeschriebene Schulden- bremse war die große Leistung der unionsgeführten Ko- alition der Jahre 2005 bis 2009. Die christlich-liberale Koalition erfüllt die Schulden- bremse nun mit Leben. Wir sind auf solidem Weg, haben die Chance, bereits vor 2016 die schwarze Null im Bun- deshaushalt zu erreichen. Leider sind aber auch in Deutschland noch nicht alle Bundesländer auf so soli- dem Pfad wie beispielsweise der Freistaat Sachsen seit Jahren und wir nun im Bund. Der Weg ist steinig, Besitz- stände stehen infrage – aber wenn etwas ohne sinnvolle Alternative ist, dann das. Und es ist auch unser Erwar- tungsmaßstab an unsere europäischen Partner. Die Alter- native heißt aufwachsende Inflation, Staatspleite, Wäh- rungsschnitt. Schon einmal gab es eine deutsche Bundesregierung, die Stabilität für Europa suchte. Das Europabild von Helmut Kohl und Theo Waigel war eines der Stabilität. Der Europäische Stabilitäts- und Wachstumspakt und die Euro-Kriterien waren die Pfeiler einer Euro-Zone der Stabilität. Das war damals genauso wenig Selbstzweck, wie heute. Ohne Stabilität kein dauerhaftes Prosperieren. Der Fehler von damals war, nicht schärfere Instru- mente der Stabilitätskultur zu schaffen. Der ehemalige Chefvolkswirt der Bundesbank und später der EZB, Issing, sagt zu Recht, dass das Mehrheitsprinzip dazu führe, dass Sünder über Sünder richten sollen, was nicht funktioniere. Die ersten Jahre gingen gleichwohl in die richtige Richtung. Die niedergelegten Grundsätze wurden beach- tet. Der erste Sündenfall war der Griechenland-Beitritt. Griechenland war zu keinem Zeitpunkt beitrittsreif, alle wussten es. Darüber hinaus waren die schon schlechten Bilanzen noch „geschönt“. CDU und CSU haben damals gewarnt. Die damalige rot-grüne Regierung Schröder hat uns das jetzige Elend rund um Griechenland damals be- schert. Und es kam noch schlimmer. Danach begann Deutschland unter Kanzler Schröder, die Schuldenma- cherei zur politischen Handlungsmaxime zu machen. Wir wurden vom Vorbild zum schlechten Beispiel, wa- ren die ersten, die das 3-Prozent-Neuverschuldungskrite- rium nicht einhielten. Und wir fanden Nachahmer. Das war leicht, da die deutsche Regierung zunächst in Eu- ropa die richtigen Grundsätze ihrer Vorgänger zugrunde richten musste, um Schulden machen zu können. Wieder gegen den Widerstand von CDU und CSU, die vergeb- lich kämpften. Die damals gelegte Saat ging in den Jahren auf. Durch die weltweite Finanzkrise drehte sich die Spirale dann schneller. Die Konjunkturspritzen waren in ganz Europa schuldenfinanziert. Das Ergebnis sehen wir nun – wir stehen vor einem Scherbenhaufen und tiefer in den Krei- debüchern der Kreditgeber. Ohne Verschuldung gäbe es keine Möglichkeit zur Spekulation. Wir „kaufen“ nun bisher immerzu neue Zeit, nutzen sie aber nicht ausreichend. Die Gefahr, dass künftige Ge- nerationen später dafür viel Geld zahlen müssen, ist nicht unerheblich. Unsere Interessen als Zahlerland müs- sen wir stärker betonen, und, wenn das nicht möglich ist, auch die Konsequenzen zu ziehen bereit sein. Auch diese würden aber sehr schmerzhaft sein. Die uneinheit- liche Sicht der Wirtschaftswissenschaft, insbesondere was „Endszenarien“ betrifft, macht die Entscheidung sehr schwierig. „Pest oder Cholera“, „Skylla oder Cha- rybdis“ – leider sind die Szenarien genau so. Der anstehende ESM-Vertrag, der eine Überarbeitung der Europäischen Verträge darstellt, wird entscheidend. Die Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts mit früheren und schärferen Sanktionen bei Regelverstößen, deren Ahndung politischem Ermessen entzogen, auto- matisiert werden muss, ist die Lösung. Für Griechenland wird das alles nichts mehr helfen; hier brauchen wir eine Sonderbehandlung. Auch die Unabhängigkeit der Europäischen Zentral- bank muss dringend wiederhergestellt werden, indem baldigst der Ankauf von Staatsanleihen beendet wird. Die Skepsis aufseiten der deutschen Regierungsfrak- tionen in den letzten Monaten, die auch mich betrifft, hat bereits zu spürbaren Verbesserungen geführt. Wir strei- ten dabei nicht mit unserer Regierung, sondern mit ihr gemeinsam in Europa. Die Beteiligungsrechte des Bun- destages werden nun erheblich gestärkt, sind einzigartig in Europa. Keine neuen Länderprogramme mehr ohne vorherige Zustimmung des Bundestages. Kein „konkre- tes“ Geld mehr ohne vorherige Zustimmung des Bundes- tages. Dies wird aber gerade erst wirksam mit dem heuti- gen Gesetz. Die von SPD und Grünen neben dem Weg in die of- fene Transferunion geforderten Euro-Bonds, die Verge- meinschaftung von fremden Schulden zu unseren Las- ten, wären ein katastrophales Instrument für unser Land. Sie kosteten uns Jahr für Jahr Milliarden und hätten kei- nen Nutzen. Im Gegenteil reizten sie geradezu dazu, weiter unsolide zu haushalten. Sie wären für Deutsch- land die schlechteste aller denkbaren Optionen. Dem heutigen Gesetz stimme ich zu, um die Regie- rung nicht zu destabilisieren, und weil endlich Verbesse- rungen erreicht wurden. Die rot-grüne Opposition stimmt zu, hebt aber medial das Ergebnis in den Reihen der Koalition zu einer rein politischen Machtfrage. Sie will das Ringen in unserer Fraktion um eine Sachfrage großer Tragweite zu einer Personalfrage machen. Das ist in höchstem Maße unverantwortlich. Diese Koalition und insbesondere Angela Merkel als Bundeskanzlerin sind Garanten für die bestmögliche Wahrnehmung unse- rer Interessen in Europa unter diesen schwierigen Bedin- gungen. Harald Weinberg (DIE LINKE): Ich stimme gegen die Aufstockung des Euro-Rettungsschirms, EFSF, weil ich weiß, dass es auf die Krise nur eine linke Antwort Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15443 (A) (C) (D)(B) geben kann. Die Euro-Stabilisierung darf nicht auf Kos- ten von Löhnen, Renten und Sozialleistungen gehen. Die Aufstockung der Mittel des Stabilisierungsfonds ist im Ergebnis eine Unterstützung der Banken, der Finanzinsti- tute, der Reichen und der Superreichen. Den Menschen in den Ländern, die Mittel vom EFSF erhalten, wird nicht wirklich geholfen: Die diesen Län- dern aufgegebenen strengen Auflagen treffen dort vor al- lem die Geringverdiener, die Rentnerinnen und Rentner. Die Binnennachfrage bricht ein. Wirtschaftswachstum und Steuereinnahmen sinken. Die Fähigkeit zur Rück- zahlung der gewährten Kredite wird immer weiter einge- schränkt. Das zeigt die Entwicklung in Griechenland. Auch deshalb sage ich. Nein zu dem Gesetz. Ich stimme gegen den erweiterten Euro-Rettungs- schirm, denn ein Ja zu diesem erneuten Geschenk an die Banken und Spekulanten würde ein Nein zu Europa be- deuten. Es ist mehr als bedenklich, dass hier im Bundes- tag alle Fraktionen bis auf Die Linke eine Politik gegen die große Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland und in Europa machen. Die Entscheidung von CDU/CSU, FDP, Grünen und SPD hilft weder Griechenland, noch rettet sie den Euro. Im Gegenteil: Diese Entscheidung ist das Todesurteil für die griechische Ökonomie. Und so- lange man sich nicht entschließen kann, die Verursacher und Profiteure der Krise zur Kasse zu bitten, wird auch der Euro weiter gefährdet bleiben. Auch die große Mehrheit der Beschäftigten und Ge- werkschaftsmitglieder lehnt diese erneute Sozialisierung der Verluste der Banken und Spekulanten ab. Ich be- grüße in diesem Sinne auch die Erklärung zur Euro- Krise des letzten Verdi-Bundeskongresses, bei dem auch ich gewesen bin, in der zu Recht kritisiert wird „dass Ar- beitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Rentnerinnen und Rentner sowie Arbeitslose die Zeche der großen Finanz- markt- und Wirtschaftskrise zahlen“. Banken, die es wie die Deutsche Bank lediglich gut verstehen, Gewinne zu privatisieren, aber dann der Öffentlichkeit ihre Unter- nehmensrisiken überhelfen wollen, sollten vergesell- schaftet werden. Auch hier heißt es ganz richtig in der Verdi-Erklärung: „Wir kritisieren, dass Rettungshilfen für Banken, Investmentfonds und Versicherungen nicht nach dem Prinzip ,Leistung nur für Gegenleistung‘ orga- nisiert wurden.“ Anlage 3 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Dr. Axel Troost und Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): zur namentli- chen Abstimmung über den Entwurf eines Ge- setzes zur Änderung des Gesetzes zur Über- nahme von Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabilisierungsmechanismus (Ta- gesordnungspunkt 3 a) Wir stimmen gegen den Euro-Rettungsschirm. Das Stolpern von Rettungspaket zu Rettungspaket ist hochgefährlich, weil es die Akzeptanz für ein solidari- sches Europa untergräbt und die Krise verschärft. Auch dieses Rettungspaket wird die Krise nicht lösen, sondern verlängern. Bereits jetzt ist ersichtlich, dass die Mittel der EFSF nicht ausreichen werden und das nächste Ret- tungspaket benötigt wird. Die Griechenland aufgezwungene Schocktherapie hat die Finanzsituation des Landes wesentlich verbessert. Sie bedeutet für die Masse der Bevölkerung jedoch eine Katastrophe. Die strukturellen Probleme des Landes können nicht in kürzester Zeit behoben werden. Die drastischen Kürzungen haben die griechische Wirtschaft stranguliert und das Land in eine Rezession gestürzt. Das neue Rettungspaket stellt zwar eine Verbesserung gegenüber bisherigen Maßnahmen dar, weil es auf eine längere Frist angelegt ist und auf Strafzinsen verzichtet. Durch das späte Handeln, die fehlende Entschlossenheit und die unzureichenden Maßnahmen konnte die Krise aber endgültig auf Spanien und Italien übergreifen. Durch Euro-Anleihen hätte die Spekulation gegen einzelne Staaten der Währungsunion wirkungsvoll un- terbunden werden können. Staaten würden nicht länger zum Spielball von Spekulanten und Ratingagenturen. Sie hätten auch eine Umschuldung mit einer substanziel- len und nicht bloß symbolischen Beteiligung der priva- ten Gläubiger ermöglicht, welche die drückende griechi- sche Schuldenlast gemindert und Risiken von den Steuerzahlern abgewendet hätte. Wir möchten auch ausdrücklich festhalten: Die Euro- Krise kann nicht ausschließlich auf Versäumnisse einzel- ner Staaten zurückgeführt werden. Die Währungsunion ist in der jetzigen Form eine Fehlkonstruktion, bei der Krisen wie die jetzige vorprogrammiert sind. Eine wesentliche Ursache für die Krise ist die völlig unzureichende makroökonomische Koordinierung. Die Euro-Mitgliedstaaten haben sich nicht über wesentliche Eckpunkte eines gemeinsamen Währungsraums wie Lohnentwicklung, Wirtschaftssteuerung und eine Politik des sozialen Fortschritts verständigt. Stattdessen haben sie mit der Währungs- und Freihandelsunion eine Staa- tenkonkurrenz festgeschrieben, von der vor allem das wirtschaftlich übermächtige Deutschland profitiert. Im- mer mehr Mitgliedstaaten können dem Unterbietungs- wettlauf um die niedrigsten Sozial-, Lohn- und Steuer- kosten nichts mehr entgegensetzen, seit Wechselkurse als Ausgleichsmechanismus wegfallen. Eine Folge sind die gewaltigen außenwirtschaftlichen Ungleichgewichte. Die Leistungsbilanzdefizite von Staaten wie Griechenland sind nur die Kehrseite der ge- waltigen Überschüsse von Staaten wie Deutschland. Sie konnten nur aufgebaut werden, weil Regierungen wie die deutsche sich keinen Deut um eine koordinierte Lohn- entwicklung geschert haben. Stattdessen wurden durch Lohndumping Vorteile zu Lasten anderer Staaten und der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verschafft. Um die Verwerfungen abzubauen, bedarf es zwingend Anpassungsmaßnahmen auch in Deutschland, etwa durch höhere Löhne und öffentliche Investitionen. Die Politik der Staatenkonkurrenz führt dazu, dass seit Jahren die Wohlstandszugewinne nur noch bei Rei- 15444 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 (A) (C) (D)(B) chen und Unternehmen ankommen. Diese entziehen sich zunehmend der Besteuerung, mit entsprechenden Haus- haltsproblemen. Der Masse der Menschen in Europa geht es zusehends schlechter. Aus Gründen der sozialen Gerechtigkeit, aber auch der Stabilität bedarf es einer Umverteilung von oben nach unten – etwa in Form einer Finanztransaktionsteuer, Steuern auf hohe Vermögen und ein entschlossenes Vorgehen gegen Steueroasen und die Finanzvehikel der Reichen und Mächtigen. Viele Probleme können nur noch international gelöst werden. Europa spielt dabei eine wichtige Rolle. Die Ge- staltung der Europäischen Union als Elitenprojekt war von Anfang an mit Demokratiedefiziten verbunden. Dies gilt auch für dieses Rettungspaket, das nicht das Euro- päische Parlament, sondern die Regierungschefs der EU zusammen mit Josef Ackermann und einem französi- schen Spitzenbanker ausgehandelt haben. Werden die Defizite der Währungsunion und das Demokratiedefizit nicht behoben, droht das gemeinsame Projekt gegen die Wand zu fahren. Anlage 4 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Dr. h. c. Jürgen Koppelin, Dr. Lutz Knopek und Joachim Günther (Plauen) (alle FDP) zur namentlichen Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabilisierungs- mechanismus (Tagesordnungspunkt 3 a) Die Lösungen der Koalition in der europäischen Haushalts- und Finanzpolitik sollen die derzeitigen Tur- bulenzen an den Finanzmärkten eindämmen und neues Vertrauen etablieren. Nicht alle bisherigen oder geplan- ten Maßnahmen finden unsere Zustimmung. Es bleiben bei uns erhebliche Zweifel. Einer geordne- ten Insolvenz zum Beispiel für Griechenland hätten wir den Vorzug gegeben. Wir sind nicht grundsätzlich gegen Hilfen für andere Euro-Staaten. Wir können jedoch nicht erkennen, welche Risiken von anderen Staaten des Euro- Raums noch zu erwarten sind. Diese Risiken konnten bisher nicht benannt und Zweifel nicht ausgeräumt wer- den. Die Schaffung eines kleinen Gremiums, das anstelle des Haushaltsausschusses entscheiden kann, lehnen wir ab, zumal dieses Gremium der Vertraulichkeit unterliegt. Es steht zu befürchten, dass damit die Beteiligung des Deutschen Bundestages ausgehebelt wird. Leider sind auch von der Opposition keine Konzepte und Alternativen zu den Vorschlägen der Regierung ge- kommen, die wir für diskussionswürdig hätten halten können. Eine freie Abstimmung wäre eine gute Stunde für den Deutschen Bundestag gewesen. Aufgrund des durch die Opposition entworfenen Sze- narios eines Endes der Koalition besteht nun die Not- wendigkeit, die Kanzlermehrheit für das Gesetz zu si- chern. Die Aussage der Vorsitzenden von Bündnis 90/ Die Grünen, Renate Künast, dass die heutige Abstim- mung über den erweiterten Euro-Rettungsschirm EFSF im Bundestag als Bewährungsprobe für die schwarz- gelbe Koalition zu sehen sei, macht es uns unmöglich, nur in der Sache abzustimmen. Uns ist auch klar, dass es, falls heute keine Mehrheit aus der Koalition zustande kommt, zu noch stärkeren Unsicherheiten für die Märkte kommen wird. Die Kapi- talmärkte werden entsprechend reagieren. Auch mit Blick auf die europäischen Nachbarn und die Partner in der Welt ist es für Deutschland mit dem Ziel eines stabi- len Euro wichtig, ein Zeichen für eine geschlossene und entschlossene Koalition zu setzen. Das haben wir heute ebenfalls bei unserem Abstim- mungsverhalten zu berücksichtigen. Aufgrund dieser Abwägung stellen wir unsere per- sönlichen Bedenken und Zweifel zu den im Gesetzesvor- haben getroffenen Regelungen zurück und stimmen den Änderungen an dem Gesetz zum europäischen Stabili- sierungsmechanismus zu. Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Werner Schieder (Weiden), Klaus Barthel, Dr. Bärbel Kofler, Daniela Kolbe (Leipzig), Hilde Mattheis, René Röspel und Rüdiger Veit (alle SPD) zur namentlichen Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabilisierungs- mechanismus (Tagesordnungspunkt 3 a) Bei der namentlichen Abstimmung über die Erweite- rung der EFSF haben wir mit Ja gestimmt. Das bedeutet aber keineswegs, dass wir ansonsten die falsche Antikri- senpolitik der Bundesregierung unterstützen. Erstens. Wir haben zugestimmt, weil wir es grund- sätzlich für richtig halten, mit einem handlungsfähigen Rettungsschirm die Attacken von spekulierenden Fi- nanzmärkten gegen einzelne Länder abzuwehren und so die Refinanzierung von Krisenstaaten zu vernünftigen Zinsen sicherzustellen. Notwendig ist eine glaubwürdige Garantie der gesamten Euro-Zone. Deshalb bedarf es ei- ner Institution, die als Vermittlungsstelle zwischen die Staaten, deren Refinanzierung sichergestellt werden muss, und die aggressiven Finanzmärkte, denen die ein- zelnen Länder mangels eigener Währung und Zentral- bank schutzlos ausgeliefert sind, gestellt wird. Zweitens. Vor diesem Hintergrund ist allerdings auch der erweiterte EFSF unzureichend. Erstens, weil erneut offen bleibt, ob und in welchem Umfang einzelnen Län- dern tatsächlich geholfen wird, wenn sie in Refinanzie- rungsschwierigkeiten kommen. Zweitens ist das be- grenzte Ausleihvolumen nicht ausreichend, wenn zum Beispiel auch Länder wie Italien und Spanien in solche Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15445 (A) (C) (D)(B) Schwierigkeiten – ausgelöst durch Wetten im Finanz- marktkasino – geraten. Drittens. Vielmehr ist es notwendig, den EFSF zu ei- ner „Bank für Staatsanleihen“ weiterzuentwickeln – Euro-Bonds –, die eine verlässliche und glaubwürdige Garantie für die gesamte Euro-Zone darstellt. Diese Bank muss sich bei der EZB refinanzieren können. Ihr effektives Ausleihvolumen ist nicht begrenzt. Zudem entsteht dadurch ein hochliquider Markt für Staatsanlei- hen in Euro, der für Anleger attraktiv ist. Viertens. Die Bundesregierung muss ihre einseitige Fixierung auf die Staatsverschuldung als angebliche Folge nachlässiger Haushaltspolitik aufgeben. Der An- stieg der Staatsverschuldung seit 2007/2008 ist eindeutig eine Folge der Finanzkrise und damit das Resultat unre- gulierter Finanzmärkte. Vor der Finanzkrise hatten alle Länder nachweisbar Konsolidierungserfolge erzielt. Das Hochschnellen der Staatsschulden seit Ausbruch der Krise hätte weder durch Schuldenbremsen noch durch einen verschärften Stabilitätspakt verhindert werden können. Fünftens. Neben der Besicherung der Euro-Zone sind die Ungleichgewichte in Wettbewerbsfähigkeit und Leistungsbilanzen in den Fokus zu nehmen, die den ent- scheidenden realwirtschaftlichen Hintergrund für die Krise der Euro-Zone bilden. Hier braucht vor allen Din- gen Deutschland als mit Abstand größtes Überschuss- land einen Kurswechsel hin zu einer dauerhaften Aus- weitung der Binnennachfrage und einer expansiveren Lohnpolitik. Dem verwehrt sich dogmatisch die Bundes- regierung und steuert so die gesamte Euro-Zone in eine anhaltende Phase der Stagnation. Mehr noch: Das Risiko des Auseinanderbrechens der Währungsunion bleibt ge- rade deswegen virulent mit der wahrscheinlichen Folge, dass ein Teil der Rettungskredite nicht zurückgezahlt wird und die Steuerzahler belastet werden. Für diese denkbare Entwicklung übernehmen wir mit unserer Zu- stimmung zum Rettungsschirm keine Verantwortung – sie liegt einzig bei der Bundesregierung. Sechstens. Die Bundesregierung hat mit ihrer fatalen Antikrisenpolitik den ökonomischen Niedergang Grie- chenlands beschleunigt. Ungeachtet der hausgemachten Probleme und Versäumnisse in Griechenland hat die von der Bundesregierung durchgesetzte Politik der radikalen Spardiktate und drastischer Lohn- und Ausgabenkürzun- gen Griechenland endgültig in eine schwere Rezession mit verheerenden wirtschaftlichen und sozialen Auswir- kungen getrieben. Die Bundesregierung trägt dadurch – aber auch, weil sie alle bisherigen Stabilisierungsmaß- nahmen bis zum heute vorliegenden erweiterten EFSF immer erst monatelang abgelehnt hat – eine wesentliche Mitverantwortung für die Eskalation der Euro-Krise und die Gefahr der Ansteckung weiterer Euro-Länder. Siebentens. Wir stellen fest, dass die gegenwärtige Krise nicht verursacht worden ist von Rentnern, Arbeit- nehmern und der jüngeren Generation, sondern von un- regulierten und maßlosen Finanzspekulanten, die aus rücksichtloser Gier handeln. Wir treten daher weiterhin für eine strenge Regulierung und Redimensionierung der Finanzmärkte ein. Anlage 6 Erklärung nach § 31 GO Des Abgeordneten Volker Beck (Köln) (BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) zur Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes und zur Reformierung des Wahlrechts (Tagesordnungspunkt 5) Namens und im Auftrag meiner Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen erkläre ich zur Abstimmung über den von der Fraktion Die Linke eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes und zur Reformierung des Wahlrechts – Drucksachen 17/5896, 17/7069 – Folgendes: Meine Fraktion wird sich der Stimme bei der geteilten Abstimmung über den oben genannten Gesetzentwurf enthalten, soweit sie die in Art. 2 Nrn. 1, 3 bis 7, 13, 16 bis 18 und Art. 10 enthaltenen Vorschriften betrifft. Die darin befindlichen Regelungen zur Beseitigung des so- genannten negativen Stimmgewichts finden zwar die un- eingeschränkte Zustimmung meiner Fraktion. Denn mit ihnen wird das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 3. Juli 2008 in adäquater Weise umgesetzt. Eine Zu- stimmung zu den genannten Vorschriften des Gesetzent- wurfs ist meiner Fraktion dennoch nicht möglich, da sel- bige inzident auch die Streichung der 5-Prozent-Hürde im geltenden Wahlrecht regeln. Letzteres lehnt meine Fraktion ab. Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Feststellung und Anerken- nung im Ausland erworbener Berufsqualifika- tionen (Tagesordnungspunkt 7) Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU): Lassen Sie mich am Anfang meiner Rede noch einmal die we- sentlichen Ziele des Gesetzes formulieren. Erstens. Wir schaffen über das Anerkennungsgesetz endlich eine verbindliche Möglichkeit, die Lebensleis- tung von Menschen anzuerkennen, die im Ausland ihren Berufsabschluss oder ihre Berufsqualifikation erworben haben. Dieses ist integrationspolitisch für die betroffe- nen Menschen ein lang erwarteter wichtiger Schritt. Zweitens. Gerade vor dem Hintergrund des aufkom- menden Fachkräftemangels können wir durch das Heben dieser Potenziale eine Entlastung auf dem Arbeitsmarkt herbeiführen. Ich erinnere an dieser Stelle noch einmal an die durch den Mikrozensus 2008 festgestellte Anzahl von bis zu 300 000 Migrantinnen und Migranten, die im Ausland eine Ausbildung oder Qualifikation abgeschlos- sen haben und jetzt möglicherweise diese auch in Deutschland anerkennen lassen können. Drittens. Wir können auch für potenzielle Zuwanderer ein verbindliches Verfahren schaffen, welches ihnen 15446 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 (A) (C) (D)(B) hilft, bereits vor der Zuwanderung ein Anerkennungs- verfahren zu durchlaufen. Und letztendlich viertens sei neben der Vereinheitli- chung des Verfahrens das Ziel der Entkoppelung der Be- wertung und Anerkennung von der Frage der Staatsbür- gerschaft genannt. Denn bisher existierte lediglich ein Rechtsanspruch für EU-Bürger und Spätaussiedler auf ein Anerkennungsverfahren, während für alle anderen Staatsangehörigkeitsgruppen keine einheitlichen Rechts- grundlagen bestanden. Nachdem wir bereits in der Großen Koalition im Rah- men der Qualifizierungsinitiative das Ziel zwischen Bund und Ländern definiert hatten, dass im Ausland er- worbene Abschlüsse zügig auf Anerkennung geprüft werden sollen und gegebenenfalls Teilanerkennungen ausgesprochen werden sollen, setzen wir hier die Verein- barung aus dem Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und FDP um. Dass dieses Verfahren durchaus längere Zeit in Anspruch genommen hat, ist sicherlich auch der Tatsache geschuldet, dass nicht nur ein Berufsqualifika- tionsfeststellungsgesetz erstellt wurde, sondern zudem weitere 60 Berufsgesetze und Verordnungen geändert werden mussten. Dieses musste nicht zuletzt in der Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Anerkennungsverfahren“ vorgeklärt werden. Ich erwähne das deshalb, weil der Vorwurf, dass dieses Gesetz an den Interessen der Län- der vorbeigehe, aus diesem Grund nicht haltbar ist. Es war das Bestreben der Bundesregierung, auch aufgrund der Komplexität der gesamten Thematik, den Prozess der Gesetzeserstellung eng mit den Bundesländern abzu- stimmen. Vor diesem Hintergrund erscheint es erstaun- lich, dass einige Ministerpräsidenten sich jetzt überra- schend kritisch über die Inhalte und handwerkliche Umsetzung des Themas äußern. Wir als Regierungskoalition sind mit den eingebrach- ten Änderungen seitens der Fraktionen, aber auch der Länder, zufrieden. Wichtig war für uns als CDU/CSU, dass die Psychotherapeuten, entgegen der ursprüngli- chen Absicht der Bundesregierung, mit in das Gesetz aufgenommen wurden. Sie werden insoweit gegenüber den Ärzten nicht mehr benachteiligt werden. Auch dass wir uns bei den Ärzten aus Drittstaaten auf eine abge- stufte Kenntnisprüfung geeinigt haben, die nicht mehr die volle staatliche Examensprüfung darstellt, lag im In- teresse unserer Fraktion. Für die Gesundheitsfachberufe gilt in Zukunft, dass für Anpassungsqualifizierungen, so- fern diese vom Bewerber anstatt einer Prüfung gewählt werden, der Anpassungslehrgang lediglich mit einer Er- folgskontrolle abgeschlossen werden muss. Viele weitere darüber hinausgehende Veränderungs- wünsche und Punkte wurden von der Bundesregierung übernommen. Die Wünsche der Opposition allerdings sind in weiten Teilen sowohl bei der Frage der Finanzie- rung als auch der Umsetzung nicht nur problematisch, sondern auch unrealistisch. Dem Wunsch der SPD ent- sprechend einen konkreten Beratungsanspruch im Ge- setz zu verankern, würde dazu führen, dass wir eine Überfrachtung mit unverhältnismäßig hohen Kosten und Aufwand bekommen hätten. Die Bundesregierung er- weitert das Angebot der Beratung deutlich in den nächs- ten Jahren. Wir selbst als Koalitionsfraktionen haben durch einen Haushaltsantrag bereits im letzten Jahr die Mittel für das Beratungs- und Informationsangebot im Rahmen des Anerkennungsverfahrens um 2 Millionen Euro erhöht. Auch die Forderung nach einem Rechtsanspruch auf die passende Nachqualifizierung ist abzulehnen. Der Staat müsste ansonsten ein entsprechendes Angebot be- reithalten, welches aufgrund der Breite der Nachfrage extrem aufwändig und teuer geworden wäre. Im Übrigen würde das zu einer Inländer-Diskriminierung führen. Die Opposition müsste wissen, dass wir eine ganze Palette von Angeboten für Qualifizierungsmaßnahmen bereits über die bestehenden Angebote abdecken. Auch die Forderung nach einer zentralen Agentur für Qualitätssicherung würde überflüssige und zusätzliche Strukturen schaffen, die bereits heute regional angeboten werden. Wir wollen und müssen die Verwaltungskosten gering halten und setzen daher auf die Eigenkoordina- tion der Fachbereiche, wie zum Beispiel DIHK oder ZdH. Am Ende des langen Prozesses kann der Deutsche Bundestag konstatieren, dass wir mit dem Berufsqualifi- kationsfeststellungsgesetz ein verbindliches Verfahren auf den Weg bringen, welches hoffentlich vielen der fast 3 Millionen Menschen, die im Ausland eine Qualifika- tion, einen Beruf oder ein Studium absolviert haben, dazu verhelfen wird, möglichst zügig in diesem Beruf dann auch tatsächlich zu arbeiten. Dieses Gesetz und die geänderten Berufsgesetze und Verordnungen sind dann tatsächlich ein Meilenstein im Hinblick auf die arbeits- marktpolitische Integration. Wir werden in den nächsten Monaten und Jahren den Prozess der Umsetzung auch als Parlament begleiten und gegebenenfalls bei feststell- baren Problemen auch nachjustieren. Swen Schulz (Spandau) (SPD): Alle Fraktionen sind sich im Bundestag einig: Eine Verbesserung im Be- reich der Anerkennung von Abschlüssen aus dem Aus- land ist dringend nötig. Die Zustände heute sind schlecht: Die Leute müssen sich durch einen Behörden- dschungel durchkämpfen, die Rechtspositionen sind teil- weise schwach und unklar, es herrscht ungleiche Be- handlung der Anerkennung Suchenden je nach Beruf, Nationalität sowie Herkunft der Abschlüsse. Und nicht zuletzt ist die Praxis in den einzelnen Bundesländern sehr uneinheitlich. Mit einem Wort: Es herrscht Anerken- nungschaos. Und das ist nicht akzeptabel, weil die Men- schen ihre Fähigkeiten hier nicht einbringen können – das verhindert Integration und das ist vor dem Hintergrund des viel beklagten Fachkräftemangels eine riesige Dummheit. Bis zu 500 000 hier lebenden Menschen wird die Anerkennung verweigert. Ihnen wollen wir Respekt entgegenbringen und eine Anerkennungskultur etablieren. In der letzten Legislaturperiode hatten wir bereits ei- nen Anlauf für ein Anerkennungsgesetz gemacht. Vor zwei Jahren haben wir dann einen Antrag eingebracht. Erst danach zog die Bundesregierung mit Eckpunkten nach. Und dann: Dann gab es ein langes, langes Warten Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15447 (A) (C) (D)(B) auf einen Gesetzentwurf. Gut Ding will Weile haben, heißt es, doch das vorliegende Ergebnis ist enttäuschend. Man hat den Eindruck: Je länger die Regierungskoalition über das Thema nachgedacht hat, desto leichtgewichti- ger wurde das Gesetz. Aber zuerst das Positive: Es wird der richtige Weg be- schritten, dieses Gesetz bringt Verbesserungen gegen- über der aktuellen Situation, weil ein Rechtsanspruch auf ein Anerkennungsverfahren definiert wird. Aber das ist fast schon alles – CDU/CSU und FDP haben sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner geeinigt. Dabei wa- ren sie schon viel weiter, etwa in ihren Eckpunkten vor zwei Jahren oder im letzten Jahr mit dem Antrag der Ko- alition zum Thema. Doch wer wirklich Erfolg haben will, der stellt nicht nur ein Verfahren, sondern auch Beratung, Unterstüt- zung und Förderung sicher. Der baut Brücken, die bis ins Erwerbsleben reichen. Wir haben darum eine Reihe von Verbesserungen be- antragt. Wir wollen einen Rechtsanspruch auf umfas- sende Beratung. Der fehlt im Gesetzentwurf. Es reicht nicht aus, ein Internetangebot zu machen, eine Telefon- hotline zu schalten und ein Beratungsnetzwerk zu för- dern – alle diese Maßnahmen können auch mit dem nächsten Haushalt wieder einkassiert werden. Wir wollen die Gebühren bundesweit einheitlich re- geln und darüber hinaus sicherstellen, dass die Gebühren aufgrund ihrer Höhe nicht zur sozialen Hürde werden. Es können schnell mehrere Tausend Euro auflaufen – viele würden sich das nicht leisten können. Wir wollen die Fristen klar und einheitlich regeln, nämlich drei Monate für alle, mit der Möglichkeit einer ausnahmsweisen Verlängerung um einen Monat. Die im Gesetzentwurf vorgesehene Ungleichbehandlung und die unbestimmte Öffnung der Frist sind nicht tragbar. Wir wollen ein modernes Kompetenzfeststellungsver- fahren, damit nicht nur nach Papierlage, sondern nach Fähigkeiten entschieden wird. Wir wollen für diejenigen, die keine volle Anerken- nung erhalten konnten, einen Rechtsanspruch auf soge- nannte Anpassungsmaßnahmen, also etwa Lehrgänge, schaffen. Dazu sind Prüfungsvorbereitungsmaßnahmen und berufsspezifische Sprachkurse nötig, damit die Menschen auch wirklich eine Arbeit finden können. Da- für müssen auch Förderungen für diejenigen zur Verfü- gung gestellt werden, die sozial schwach sind und sich Anpassungsmaßnahmen sonst nicht leisten könnten – das könnte etwa über ein Einstiegs-BAföG oder den Ausbau bestehender Förderinstrumente geschehen. Wir wollen die Bündelung, Vereinheitlichung und Qualitätssicherung der Verfahren. Es darf nicht vom Wohnort abhängen, ob jemand eine Anerkennung erhält oder nicht. Darum müssen wir etwa eine zentrale Agen- tur für Anerkennungsstandards einrichten. Die ausgestellten Bescheide müssen einheitlich, klar und transparent sein, damit die Arbeitgeber damit auch etwas anfangen können. Und die Berufe müssen stärker als im Gesetzentwurf gleichbehandelt werden. Es werden teilweise sehr deut- lich von den Grundsätzen des Gesetzentwurfs abwei- chende Regelungen für die einzelnen reglementierten Berufe und auch nach Herkunft der Abschlüsse gefun- den – das ist jedenfalls in diesem Umfang nicht akzepta- bel. Viele dieser Forderungen finden sich in den eigenen Papieren der Regierungskoalition wieder. Doch unsere Anträge wurden allesamt abgelehnt – CDU/CSU und FDP haben sich damit selbst widersprochen, sie haben die eigenen Forderungen abgelehnt! Ihre Argumentation muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen. Zu den Ausgleichsmaßnahmen teilt Staatssekretär Braun etwa mit, dass davon auszugehen sei, dass der Weiterbildungsmarkt entsprechende Ange- bote machen werde. Na großartig. Das macht er viel- leicht, vielleicht auch nicht – die Bundesregierung küm- mert sich nicht darum. Vor allem stellt sich dann auch die Frage, ob sich die Leute, die ja erst in den Beruf wollen, solche Angebote privat finanzieren können. Was sagt der Staatssekretär dazu? Kein Problem, sagt er, es gebe ja die Instrumente der Arbeitsförderung. Was er dabei mal eben vergisst zu sagen, ist, dass die Förderung von eben dieser Koalition zusammengestrichen wird: von 2011 bis 2015 26,5 Mil- liarden Euro weniger, dazu 12 Milliarden Kürzungen des Bundes beim Zuschuss! Und dann habe ich gestern in der Fragestunde den Staatssekretär gefragt, wie es denn mit geplanten Mehrausgaben im Bereich der Agentur für Arbeit aussieht. Die Antwort kurz gefasst lautet: Null! Dann kommt die Koalition immer mit dem Argument Inländerdiskriminierung. Man dürfe für die Antragsteller nach diesem Gesetz keine Bevorzugung beschließen. Dazu ist zu sagen: Erstens haben es immer noch vor al- lem Migranten schwerer auf dem Arbeitsmarkt. Und zweitens ist doch das Hauptproblem die Kürzungspolitik dieser Koalition. Die Schlussfolgerung kann doch nicht lauten, nichts mehr zu machen, sondern es müssen gene- relle Verbesserungen her, etwa im Rahmen eines Er- wachsenenbildungsfördergesetzes. Ich betone für die SPD-Fraktion nochmal: Dieses Ge- setz ist ein Fortschritt, doch es wird so nicht zu dem er- hofften echten Fortschritt führen. Wir wollen nicht, dass nur geguckt wird, ob jemand passt oder nicht – und im Zweifelsfall gibt es ja genug Antragsteller aus dem Aus- land. Sondern wir wollen die Menschen, die hier leben, die mittun wollen, unterstützen, ihnen eine Chance ge- ben. Die Koalition warnt vor einem Vermittlungsverfah- ren, das durch den Bundesrat beschlossen werden könnte. Dieses Gesetz müsse jetzt endlich schnell in Kraft treten, man habe schon lange genug gewartet. Doch es war diese Koalition, die für die lange Wartezeit verantwortlich ist. Da kann man nicht den anderen Be- teiligten sagen: „Jetzt macht mal schneller“. Vor allem aber ist es die schwachbrüstige Ausgestaltung des Geset- zes, die das Risiko erzeugt, dass der Bundesrat den Ver- mittlungsausschuss anruft. Der böte jedenfalls die 15448 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 (A) (C) (D)(B) Chance auf Verbesserungen, zu denen die Koalition trotz Sachverständigenanhörung und trotz unserer Anträge nicht willens oder in der Lage war. Aydan Özoğuz (SPD): Immerhin zeigt die Debatte eins ganz deutlich: Alle Fraktionen sind sich darin einig, dass die verbesserte Anerkennung ausländischer Berufs- qualifikationen dringend notwendig ist. Das ist ja schon Mai eine wichtige Voraussetzung, um in einem Thema weiterzukommen, dessen Titel so klingt, als wolle man nur gegenüber Zuwanderern freundlich sein. Zur Wahr- heit gehört natürlich dazu, dass wir unserer Gesellschaft und unserem Land keinen Gefallen damit tun, wenn wir Ausbildungen von Menschen schlicht nicht wahrnehmen wollen und diese sogar mit akademischen Abschlüssen als „ungelernt“ in unseren Statistiken und auf den Arbeitsämtern führen. Der Rechtsanspruch auf ein Prüf- verfahren ist auch ein Stück Willkommenskultur für Bürgerinnen und Bürger mit ausländischer Berufsquali- fikation. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokra- ten wollen denen, die sich für Deutschland entschieden haben, zeigen: Wir brauchen dich mit all deinen Qualifi- kationen und Kompetenzen. Leider bleibt der Gesetzentwurf in vielen Passagen hinter den Erwartungen zurück. Zu wenig serviceorien- tiert ist das Anerkennungsverfahren und zu zaghaft ist der Gesetzentwurf bei der Finanzierung und Organisa- tion der Nachqualifizierungen. Dies hat übrigens auch der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Inte- gration und Migration angemerkt. Im Bundesrat werden wir uns für wesentliche Verbesserungen, die wir auch in unserem Entschließungsantrag formuliert haben, einset- zen. Dass im Gesetz ein Rechtsanspruch auf Beratung fehlt, ist ein wirkliches Manko. Viele Anspruchsberech- tigte werden das ihnen zustehende Verfahren nicht durchlaufen, sollten sie überhaupt von ihrem Recht auf das Anerkennungsverfahren erfahren haben. Es fehlt auch eine umfassende Betreuung von Beginn der An- tragstellung bis zum Ergebnis des gesamten Verfahrens. Das ist sehr bedauerlich, denn mit einer guten Beratung steht und fällt vieles, wie wir aus anderen Bereichen wis- sen, sei es im Gesundheitssystem, in der Arbeitsvermitt- lung oder eben bei der Anerkennung der ausländischen Berufsqualifikation. Wir alle kennen Beispiele aus unseren Wahlkreisen für fehlende Anerkennungen von Abschlüssen: Verzwei- felte Bürgerinnen und Bürger mit ausländischer Berufs- qualifikation wenden sich an uns. Und wir sehen, wie kompliziert sich scheinbar einfache Sachverhalte dar- stellen, zum Beispiel bei der Bund-Länder-Koordina- tion, wo es gemeinsam noch einiges zu klären gibt. Mich erreichte kürzlich das Schreiben einer russischstämmi- gen Bürgerin, die seit 20 Jahren als Lehrerin in Russland die Fächer Deutsch, Latein, Englisch und Französisch unterrichtet hatte. Ihr Abschluss, aber auch ihre Berufs- erfahrung, wurden nach ihrem Umzug nach Nord- deutschland nicht anerkannt; sie bekam lediglich den Hinweis, ein Studium auf Lehramt ab dem 1. Semester an der Universität aufzunehmen – nach 20 Jahren Be- rufserfahrung! Die Konsequenz für die Russin: Sie plant mit ihrem deutschen Ehemann die Auswanderung nach Norwegen. Genau das ist das Problem: Hochqualifizierte Menschen mit Zuwanderungsgeschichte, die unser Land so dringend braucht, wenden sich enttäuscht ab und wandern aus. Wir wissen doch ganz genau, dass nur bei einem klei- nen Teil der Antragstellerinnen und Antragsteller die vollständige Gleichwertigkeit festgestellt werden wird. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf ist den Betroffe- nen dann aber wenig geholfen: Die Finanzierung der Nachqualifikationen ist ungeklärt, ebenso fehlen Förder- maßnahmen während der Qualifizierungsphase. Wir hät- ten ein ambitionierteres Gesetz gebraucht. Leider haben Sie die vielen Verbesserungsvorschläge der Opposition, des Bundesrates und der Sachverständigenanhörung im Bildungsausschuss vom 6. Juli freundlich ignoriert. Wie- der einmal hat die Koalitionen eigentlich gutes integra- tionspolitisches Vorhaben selbst ausgebremst. Heiner Kamp (FDP): Der heutige Tag verdeutlicht, wie eng Deutschland mit Europa und der restlichen Welt verwoben ist. Politik lässt sich nicht länger auf den Nati- onalstaat begrenzen – wir sind gezwungen, unseren Blick über die Grenzen, ja sogar über die Schlagbäume des Schengener Raums zu richten. Wir haben heute Vormittag die Weichen in Richtung einer Stabilitätsunion für Europa gestellt. Damit haben wir der europäischen Idee ein ökonomisches Fundament geschaffen und die Basis für unseren gemeinsamen Wirt- schaftsraum zementiert. Zugleich haben wir dafür ge- sorgt, dass die parlamentarische Demokratie gestärkt wurde. Es geht kein Weg mehr am Deutschen Bundestag vorbei. Die Mitspracherechte sind nunmehr so stark wie in keinem anderen Mitgliedstaat der Euro-Länder. Nun folgt das sogenannte Anerkennungsgesetz, me- dial vielleicht mit ein bisschen weniger Beachtung ge- segnet, doch nicht mit minderer Wirkung für die Zu- kunftsfähigkeit unseres Landes. Das von der schwarz- gelben Bundesregierung eingebrachte Gesetz zur Ver- besserung der Feststellung und Anerkennung im Aus- land erworbener Berufsqualifikationen ist ein bedeuten- der Meilenstein auf dem Weg hin zu einem modernen, offenen, leistungsstarken Land. Mit dem Anerkennungsgesetz verwirklichen wir das, was wir im Koalitionsvertrag vereinbart haben. Bereits in der vergangenen Wahlperiode hatte die FDP gefor- dert, dass es mit den Berufsschranken und Zugangssper- ren für qualifizierte Ausländer ein Ende haben müsse. Jeder kennt die Berichte von Ärzten oder Anwälten, die nicht praktizieren dürfen. Mit dem Anerkennungsgesetz wollen wir nun einen Schlussstrich unter dieses leidige Kapitel setzen. Wir sorgen dafür, dass die Zahl derjeni- gen, die an der „gläsernen Trennscheibe“ deutscher Be- hörden scheitern, deutlich reduziert wird und unser Land endlich von den bis dato vergeudeten Fähigkeiten und Kompetenzen dieser Menschen profitieren kann. Wir be- hindern Menschen nicht mehr dabei, sich selber helfen zu können – damit wird eine langjährige Forderung der Liberalen endlich Gesetzeswirklichkeit. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15449 (A) (C) (D)(B) Vorherige Regierungen wollten das Problem nicht an- fassen, sind vor der Aufgabe zurückgeschreckt. Ein zu heißes Eisen für Rot-Grün! Schwarz-Rot hat zumindest über die Anerkennung von Bildungsabschlüssen nachge- dacht. Insoweit kann ich die Kritik der Genossen nicht nachvollziehen. Versucht da jemand verzweifelt, Haare in die Suppe zu streuen, die er selbst nicht hat kochen können? Union und FDP haben das Thema gemeinsam und konstruktiv angepackt. Wir haben uns die nötige Zeit ge- nommen und ein Gesetzespaket geschnürt, das sich wirklich sehen lassen kann. Das vorliegende Artikelge- setz ist ein echter Meilenstein. Mit dem Berufsqualifika- tionsfeststellungsgesetz als neuem Bundesgesetz sowie den zahlreichen Anpassungen in den Berufsgesetzen und Verordnungen legen wir als Bund vor. Nun sind die Län- der am Zug, in ihrem Zuständigkeitsbereich entspre- chend nachzuziehen. Drei Punkte sind mir in unserem neuen Anerken- nungsgesetz ganz besonders wichtig. Erstens schaffen wir mit dem neuen Gesetz die Vo- raussetzung dafür, den Schatz der in unserem Land noch schlummernden Qualifikationspotenziale zu heben. Wir heißen qualifizierte Migranten in Deutschland willkom- men. Wir etablieren eine echte Anerkennungskultur. Wir zeigen unsere Anerkennung für Bildungsleistungen im Ausland. Viele Zugewanderte, die bereits bei uns leben, haben aus ihrer Heimat Qualifikationen mitgebracht. Bislang konnten sie diese in Deutschland nicht voll ein- setzen. Oder sie mussten sie unter Wert verkaufen. Das wird sich nun ändern. Zweitens öffnen wir das Tor für qualifizierte Zuwan- derung nach Deutschland. Wer aus dem Ausland in Deutschland eine Arbeit anstrebt, kann bereits von sei- ner Heimat aus überprüfen, ob sein Abschluss hier aner- kannt wird. Als Nächstes sollten wir nun ein Punktesys- tem für eine gesteuerte Zuwanderung auf den Weg bringen. Das Anerkennungsgesetz ist dafür ein geeigne- tes Instrument. Drittens ist das Anerkennungsgesetz ein wichtiger Beitrag zur Integration. Wir senden ein Zeichen des Willkommens, zeigen unseren Respekt für im Ausland erworbene Qualifikationen und geben die Chance, vor- handene Fähigkeiten zu entfalten. So können künftig auch Ärzte aus Drittstaaten approbiert werden. Wir schauen nur noch auf den Abschluss, nicht auf die Her- kunft. Herzlich willkommen! Die Wachstumsfahrt der deutschen Wirtschaft ist bei- spiellos. Deutschland erfährt weithin Respekt und Aner- kennung dafür, wie wir aus der Krise herausgekommen sind. Unsere Wirtschaftspolitik hat die Weichen richtig gestellt. Auch wenn sich der heiße Konjunkturkessel nun langsam wieder auf normale Betriebstemperatur herun- terregelt, sind die Aussichten doch im Vergleich blen- dend. Damit sich unsere deutsche Wachstumsfahrt so dy- namisch fortsetzen kann, sind qualifizierte Fachkräfte ganz entscheidend. Und hier haben wir bereits heute Engpässe. In den Pflege- und Medizinberufen sowie im MINT-Bereich sind schon jetzt Fachkräfte knapp. De- mografie und Wachstum werden dafür sorgen, dass sich dieser Trend verschärft. Einige Branchen suchen hände- ringend nach Fachkräften und werden nicht fündig, weil der Binnenmarkt praktisch leergefegt ist. Wir müssen attraktiver werden für qualifizierte Zu- wanderung. Gemeinsam mit der Ausschöpfung der noch im Land brachliegenden Potenziale können wir dem Fachkräftemangel begegnen. Gemeinsam können wir diesem Engpass unserer deutschen Wachstumsfahrt ent- gegenwirken. Wir müssen die Lokomotive in Europa bleiben. Das Anerkennungsgesetz ist hierfür ein wichti- ger Beitrag. Nun gilt es, das Anerkennungsgesetz gut durch das weitere parlamentarische Verfahren zu bringen. In der Stellungnahme des Bundesrates wurden einige Verbesse- rungsvorschläge unterbreitet, von denen viele übernom- men werden konnten. Manche haben sich auch als nicht erforderlich herausgestellt. Was zählt, ist: Das Ergebnis stimmt. Das haben auch die Anhörung des Ausschusses sowie die Beratungen gezeigt. Wer jetzt einen Verzögerungs- oder Blockadekurs im Bundesrat fährt, lastet dies nicht nur den unmittelbar be- troffenen Personen an. Auch diejenigen, die händerin- gend auf den Einsatz dieser Fachkräfte warten, werden darunter leiden. Das sind nicht nur Fabriken und Hand- werksbetriebe. Das sind auch Seniorenheime und Kran- kenhäuser. Das sind Arztpraxen, Sozialstationen und Hospize. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, helfen Sie mit, dass wir etwas für eine echte Willkom- menskultur, eine gesteuerte Zuwanderung und die Be- kämpfung des Fachkräftemangels tun. Sprechen Sie mit Ihren Länderkollegen, und tragen Sie dazu bei, dass das Anerkennungsgesetz die letzten parlamentarischen Hür- den nehmen kann. „Wer etwas gelten will, muss andere gelten lassen.“ Dieses Goethe-Wort trifft, was wir mit dem Anerken- nungsgesetz vorhaben. Sevim Dağdelen (DIE LINKE): Ob sich nun nach Jahren für die in Deutschland lebende Ärztin aus Russ- land, die putzen gehen muss, die kamerunische Akade- mikerin, die trotz Promotion als Küchenhilfe arbeitet, oder den deutschen oder iranischen Ingenieur, der Taxi fahren muss, etwas ändern wird, bleibt abzuwarten. Sie haben jetzt zwar einen formalen Rechtsanspruch auf ein Anerkennungsverfahren für ihre im Ausland erworbenen Qualifikationen. Doch vielen wird dieser nicht viel brin- gen. Dafür hat die Bundesregierung mit ihrem inhaltlich und handwerklich unzureichenden Gesetzentwurf ge- sorgt. Die Bundesregierung hat die Anerkennung vom Geldbeutel und sozialen Status der Betroffenen abhängig gemacht. Viele Antragsteller müssen mit hohen Kosten – es stehen Kosten von bis zu 5 000 Euro im Raum – für ein Anerkennungsverfahren rechnen – und das bei Men- schen, denen man jahrelange Dequalifizierung, Diskri- minierung und Ablehnung zugemutet hat. Das ist nicht hinnehmbar. 15450 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 (A) (C) (D)(B) Erst schiebt die rot-grüne, dann die Große Koalition und jetzt die schwarz-gelbe Koalition diese Menschen in den Niedriglohnsektor ab. Nun sollen die Betroffenen dafür auch noch derartige Beträge zahlen. Das ist zy- nisch. Zynisch ist es auch, wenn die Bundesregierung diesen Gesetzentwurf als großen Wurf feiert. Das ist er keines- falls. Auf die großspurigen Ankündigungen der Bundes- regierung folgt mal wieder die triste Realität ihrer Des- integrationspolitik. Erinnern wir uns: Bereits 2007 legte Die Linke einen Antrag vor (Drucksache 16/7109). Wir machten Vor- schläge zur erleichterten Anerkennung von im Ausland erworbenen Qualifikationen. Darüber hinaus forderten wir gezielte Angebote zur Ergänzungsqualifizierung und eine Beratungsstruktur. So sollte eine vollständige Aner- kennung ermöglicht werden. Zwei Jahre dauerte es, bis die Bundesregierung über- haupt auf das Problem einging. Im Dezember 2009 legte sie ihre Eckpunkte vor. Erst im März 2011 folgte dann ihr Referentenentwurf bzw. im Juni ihr Gesetzentwurf. Wofür dabei vier Jahre gebraucht wurden, bleibt aller- dings vollkommen unklar. Waren schon die Eckpunkte eine Enttäuschung, ist der Gesetzentwurf für die Betroffenen eine Zumutung. Die Bundesregierung kann erneut nicht einmal ihrem ei- genen Anspruch gerecht werden. Und der war ja ohnehin noch nie besonders hoch. Mehr Transparenz und Verein- fachung sollte das Gesetz bringen. Doch das Gegenteil ist und bleibt der Fall: Die Kammern sollen die Anerken- nungsverfahren durchführen. Damit ist unverändert eine Vielzahl von Anlaufstellen in 16 verschiedenen Bundes- ländern für die verschiedenen Berufsgruppen zuständig. Sie haben die Gelegenheit verstreichen lassen, eine ein- heitliche Bewertungsstelle zu schaffen. Es ist eine Zu- mutung für die Betroffenen, dass die Bewertung ihrer Qualifikationen dem Zufall des Wohnortes überlassen wird. Da reicht es auch nicht, wenn einzelne Kammern eine zentral zuständige Kammer benennen wollen. Wie und ob ihre angekündigte Datenbank hier Abhilfe schaf- fen soll, steht ja auch noch in den Sternen. Ich hoffe für die Betroffenen, dass es besser läuft als mit dem dialog- orientierten Zulassungsverfahren für Studierende. Die warten nämlich schon seit Jahren. Die Linke prophezeit ihnen: Es wird zwischen den Bundesländern auch wei- terhin ungleiche Bewertungsergebnisse gleicher Qualifi- kationen geben. Und genau das sollte ursprünglich end- lich der Geschichte angehören. Das ist wirklich beschämend, dass sie nach so langer Zeit eine so man- gelhafte Regelung hier vorlegen. Im Widerspruch zu den Eckpunkten wollen Sie einen Anspruch auf Beratung gesetzlich nicht verankern. Ihr Gesetz soll kostenneutral bleiben. Sie verweisen auf be- stehende Beratungsangebote. Dabei ist doch klar, wo ge- spart wird, wenn es finanziell eng wird. Es ist doch völlig absurd, dass das Anerkennungsge- setz ohne den Einsatz zusätzlicher Mittel wirksam wer- den soll. Denn es müssen ja erst die notwendige Infra- struktur sowie ein Angebot an Ergänzungs- und Anpassungsqualifizierungen über das schon existierende hinaus geschaffen werden. Auch hier fehlt aus unserer Sicht eine gesetzliche Verankerung, die nicht nur für die reglementierten Berufe gilt. Die Linke fordert deshalb, 100 Millionen Euro zusätzlich für die Anpassungs- und Ergänzungsqualifikationen zur Verfügung zu stellen. Denn bereits jetzt ist absehbar, dass die aktuellen Mittel den Bedarf nicht decken können. Es wird deutlich, dass Integration für die Bundes- regierung und die Regierungsfraktionen lediglich eine Floskel ist. Denn wenn es darum geht, die Rahmenbe- dingungen für die soziale Integration zu schaffen, versa- gen Sie – und das wissentlich. Lassen Sie endlich den vorwurfsvollen Ton gegen Migrantinnen und Migranten, sie würden sich nicht integrieren lassen! Schüren Sie nicht weitere rechtspopulistische Vorurteile! Verhindern Sie nicht die Integration, sondern ermöglichen Sie diese endlich, indem Sie unserem Antrag zustimmen! Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die bessere Anerkennung ausländischer Berufsausbildun- gen und -abschlüsse in Deutschland ist seit langem über- fällig. Es ist nicht hinnehmbar, dass Hunderttausende weit unterhalb ihres Qualifikationsniveaus beschäftigt oder sogar arbeitslos sind wegen einer schlechten Aner- kennungspraxis. Das ist eine Missachtung der individu- ellen Leistung. Es ist aber auch aus gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Gründen zutiefst irrational. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung ist zweifel- los ein erheblicher Fortschritt gegenüber dem bisherigen Status quo. Dass dieser Entwurf nun mit erheblicher Ver- zögerung vorgelegt wird, sagt nicht nur etwas über die Komplexität der Materie, sondern belegt auch, wie stark nach wie vor die Widerstände verschiedener Interessen- gruppen gegen eine angemessene Modernisierung auf diesem Gebiet sind. Das spiegelt sich leider auch im vor- liegenden Gesetzentwurf wider, der deshalb leider teil- weise hinter den Notwendigkeiten zurückbleibt. Positiv ist, dass im allgemeinen Teil des Gesetzes der Zugang zum Anerkennungsverfahren nicht mehr von der Staatsangehörigkeit abhängig sein soll. Positiv ist auch, dass sich die Anpassungsmaßnahmen und Kenntnisprü- fungen auf die festgestellten Defizite gegenüber dem deutschen Referenzberuf beziehen sollen und nicht eine deutsche Gesamtprüfung verlangt wird. Negativ ist aber, dass in den dann anschließenden Fachgesetzen von Re- geln und Prinzipien des allgemeinen Anerkennungsge- setzes ohne erkennbaren Grund abgewichen wird. Hier haben sich offenkundig starke Lobbygruppen durchge- setzt. Dies ist auch deshalb bedauerlich, weil zu befürchten ist, dass dies erst recht geschehen wird, wenn die Bun- desländer Regelungen für die Berufe treffen müssen, für die sie zuständig sind, und dann Landespolitiker zuhauf mit Horrorszenarien konfrontiert werden, als würden demnächst Klempner zur Patientenbehandlung einge- setzt und Analphabeten zur Brückenkonstruktion. Er- kennbar geht es bei diesen Diskussionen meist weniger um Verbraucherschutz, sondern mehr um die Abwehr Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15451 (A) (C) (D)(B) von Konkurrenz. Da ist von Bildungs- und Integrations- politikerinnen und -politikern Standhaftigkeit gefragt. Damit komme ich zu einem weiteren Schwachpunkt im Gesetz: Gerade weil zu befürchten ist, dass nicht überall die Anerkennungsverfahren im Sinne einer bes- seren Integration durchgeführt werden, sondern sich zum Teil auch Exklusionsstrategien durchsetzen könn- ten, wäre eine zentrale Stelle für die Sicherung und Weiterentwicklung einheitlicher Qualitäts- und Verfah- rensstandards, für das Wissensmanagement und die Ent- wicklung von Fortbildungsstrategien wichtig gewesen. Eine Hotline und eine statistische Datenbank kann dies nicht ersetzen. Hier wurde eine entscheidende Weichen- stellung für einheitliche faire Verfahren versäumt. Versäumt wurde leider auch, einen Rechtsanspruch auf dezentrale Begleitung und Beratung im Verfahren im Gesetz zu verankern. Davon werden für viele die Er- folgsaussichten aber abhängig sein. Ohne Rechts- anspruch droht hier eine begleitende Beratung nach Kas- senlage, und die sieht bekanntlich vielerorts mau aus. Das ganze Gesetz läuft aber ins Leere und verfehlt seinen Zweck, wenn es nicht ein ausreichendes Angebot an Anpassungsqualifizierungen und für berufsspezifi- sches Deutsch gibt. Hier scheint mir eine Bund-Länder- Kontroverse auf dem Rücken der Betroffenen geradezu vorprogrammiert. Die Diskussion über das Anerkennungsgesetz und über eine mögliche Diskriminierung von Inländern in diesem Zusammenhang hat auch eines deutlich gemacht: Deutschland ist bei der beruflichen Weiterbildung für Erwachsene noch Entwicklungsland. Ich wünsche mir, dass vom Anerkennungsgesetz ein Impuls dafür ausgeht, dass die Bundesregierung auf dem Feld der Erwachse- nenbildungsförderung insgesamt endlich einmal Fahrt aufnimmt. Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bildung und Forschung: Zu Beginn zwei Fakten: In Deutschland hat jeder Fünfte Wurzeln im Ausland. Etwa zwei Drittel von ihnen sind zugewandert. Darunter sind viele, die in ihrer Heimat eine Berufsausbildung oder ein Studium absolviert haben. Viele von ihnen können aber nicht in ihrem Beruf arbeiten, weil die Anerkennung fehlt. Zweiter Punkt: der demografische Wandel. Deutsch- landweit fehlen Pflegerinnen und Pfleger. Auf dem Land gibt es vielerorts zu wenige Ärzte. Und auch im MINT- Bereich suchen Unternehmen nach qualifizierten Fach- kräften. Das Anerkennungsgesetz, über das wir heute ent- scheiden, leistet einen richtungsweisenden Beitrag dazu, gut qualifizierte Zuwanderer besser in den Arbeitsmarkt und die Gesellschaft zu integrieren und den Fachkräfte- bedarf in Deutschland zu decken. Keine Bundesregie- rung zuvor hat sich dieser komplexen Herausforderung gestellt: Das Gesetz umfasst mehr als 60 Berufsregelun- gen auf Bundesebene. Etwa 285 000 Menschen sind in unserem Land unter- halb ihrer Qualifikation beschäftigt oder arbeitslos, weil ihre Abschlüsse nicht anerkannt werden. Es ist Zeit, die- sen Menschen Respekt für ihre Lebensleistung zu zollen und ihnen zu zeigen, dass ihre Qualifikationen und ihre Berufserfahrung in Deutschland gebraucht und wertge- schätzt werden. Das Anerkennungsgesetz ist ein wichtiges und über- fälliges Signal für Integration. Wir schaffen damit einen gesetzlichen Anspruch auf Prüfung der Gleichwertigkeit ausländischer Berufsausbildungen. Ausschlaggebend wird nur mehr die Qualität des Abschlusses und nicht die Herkunft der Antragsteller sein. Spätaussiedler haben künftig ein Wahlrecht zwischen dem bisherigen und dem neuen Verfahren. Mit dem Anerkennungsgesetz legen wir erstmals bun- deseinheitliche Kriterien und weitgehend einheitliche Verfahren für die Gleichwertigkeitsprüfung fest. Eine einmal festgestellte Gleichwertigkeit gilt für ganz Deutschland und kann nicht von einem Land anerkannt und vom anderen abgelehnt werden. Bei den Ausbildungsberufen ist selbst ein ablehnen- der Bescheid für Betriebe und Antragsteller von Nutzen: Denn zum einen werden damit die vorhandenen Qualifi- kationen dokumentiert, zum anderen wird erklärt, wo noch Weiterqualifizierungsbedarf besteht. Wer jetzt aber daherkommt und einen allgemeinen Anspruch auf Nachqualifizierung fordert, schießt weit über das Ziel hinaus. Das wäre ein klarer Fall von Inlän- derdiskriminierung. Klar ist, dass Nachqualifizierungen notwendig sind. Die gibt es aber auch heute schon. Sie stehen zur Verfügung, insbesondere über die Förderung der Arbeitsverwaltung und die Instrumente der indivi- duellen Bildungsfinanzierung. An die Adresse einiger Länder sage ich: Mich ver- wundert an so mancher Stelle die Kritik, die jetzt laut wird. In einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe haben wir konkrete Vorschläge zur Vereinheitlichung der Verwal- tungspraxis erarbeitet. Diese Vorschläge werden von den Ministerpräsidenten im Oktober erneut beraten. Ich gehe davon aus, dass sich die Ministerpräsidenten an ihre Be- schlüsse vom Dezember 2010 erinnern, in denen sie eine schnelle und unbürokratische Neuregelung auch in den Ländern angemahnt haben. Jetzt sind die Länder am Zug. Das Bundesgesetz liegt vor! Das Anerkennungsverfahren haben wir bewusst bei den Stellen angesiedelt, wo schon Sachverstand und Er- fahrung vorliegen. Neu ist, dass die Aufgaben auf ge- meinsame Stellen übertragen und gebündelt werden kön- nen. Die Industrie- und Handelskammern beispielsweise bereiten schon den Aufbau einer zentralen Anerken- nungsstelle in Nürnberg vor. Mitentscheidend für den Erfolg des Anerkennungsge- setzes ist ein gut ausgebautes Beratungssystem. In den nächsten drei Jahren investiert der Bund dafür rund 75 Millionen Euro. Wir verzahnen arbeitsmarktbezogene Unterstützungsleistungen in regionalen Netzwerken. Wir richten eine Telefonhotline, ein Informationsportal und bundesweit ein flächendeckendes Netz von Anlaufstel- len zur Erstinformation ein. Ein Großteil dieser Erstan- laufstellen arbeitet bereits sehr erfolgreich – es kann also 15452 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 (A) (C) (D)(B) keine Rede davon sein, dass der Bund keine Beratung anbietet. Im Interesse der Menschen mit ausländischen Qualifi- kationen bitte ich Sie um Unterstützung für dieses Ge- setz. Das Anerkennungsgesetz gibt uns die Möglichkeit, angesichts des demografischen Wandels Potenziale zu nutzen, die derzeit zum Schlummern verdammt sind. Wir brauchen dieses Gesetz. Es ist Teil einer Integrationskul- tur, Teil einer Willkommenskultur. Wer jetzt das Gesetz verzögert, schadet vor allem den Betroffenen, die auf das Gesetz warten! Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Weitere Daten- schutzskandale vermeiden – Gesetzentwurf zum effektiven Schutz von Beschäftigtendaten vorlegen (Tagesordnungspunkt 10) Michael Frieser (CDU/CSU): Was soll man groß zu dem Antrag der SPD sagen? Denn eigentlich ist er völlig indiskutabel und erscheint mir als fraktioneller Schnell- schuss. Er bietet mir deshalb in erster Linie als Bericht- erstatter der CDU/CSU-Fraktion eine gute Gelegenheit, mich hier einmal grundsätzlich zum Thema Beschäftig- tendatenschutz zu äußern, bevor wir in den nächsten Wo- chen das Gesetzesvorhaben der Bundesregierung erfolg- reich beenden werden. Auffällig ist: Sie stehen mit Ihrem heutigen Antrag in Widerspruch zu Ihren bisherigen Zielen und Vorschlägen im Bereich des Arbeitnehmerdatenschutzes. Und Sie fal- len mit Ihren Forderungen weit hinter Ihre bisherigen Grundsätze zurück. Dies fällt auf, wenn man einmal den Vorschlag Ihres ehemaligen Bundesarbeitsministers Olaf Scholz danebenlegt; den Vorschlag haben Sie ja vor nicht langer Zeit hier in den Bundestag eingebracht. So sollte man davon ausgehen, dass er noch für Sie Gültig- keit hat. Warum Sie davon jetzt abweichen, müssen Sie uns hier erklären. Ich darf Sie erinnern, dass Olaf Scholz mit seinem Entwurf die bestehenden Vorschriften und Gerichtsur- teile zum Beschäftigtendatenschutz vereinheitlichen wollte. Dies gesetzlich zu regeln, hat er allerdings nicht hinbekommen. Es ist die christlich-liberale Bundesregierung unter Bundeskanzlerin Merkel, die den ersten Gesetzentwurf für ein solches Gesetz dem Bundestag vorlegt. Und die- ser Entwurf verfolgt genau zwei Grundsätze: Es wird ein Ansatz verfolgt, der zwischen den berechtigten Interes- sen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern ausgleicht, der sich weitgehend an der vorhandenen Rechtsprechung orientiert. Denn es gibt zwar bereits heute zu vielen Fragen des Beschäftigtendatenschutzes eine einzelfallbezogene Rechtsprechung der Arbeitsgerichte. Diese ist allerdings oft uneinheitlich. Obergerichtliche Urteile sind selten. Der Gesetzentwurf kann daher mit seinen Regelungen zu größerer Rechtssicherheit im Beschäftigungsverhältnis beitragen, für beide Seiten; dies scheinen die Vertreter auf den Oppositionsbänken immer zu vergessen. Die Bundesregierung geht in ihrem Entwurf zum Wohle der Beschäftigten in einigen Bereichen weit über die gegenwärtige Rechtsprechung hinaus. Hierzu gehört eindeutig das Verbot der Überwachung von Mitarbeitern durch versteckte Kameras. Daran werden wir nicht rüt- teln. Denn diese sogenannte verdeckte Videoüberwa- chung wird nicht zuletzt aufgrund der vergangenen Datenschutzskandale im Gesetzentwurf ausdrücklich verboten. Es ist meines Erachtens ein für den Schutz der legitimen Interessen der Beschäftigten zentraler Punkt und stellt eine deutliche Verbesserung der gegenwärtigen Rechtslage dar. Ich will hier noch einmal betonen: Die Bundesregie- rung geht mit ihrem Gesetzentwurf einen bemerkens- werten Schritt: Die Bundesregierung unterbreitete mit ihrem Entwurf dem Bundestag einen Vorschlag für eine gesetzliche Regelung einer Materie, nach welcher viele Datenschutzexperten mit wachsender Vehemenz seit den 1990er-Jahren gerufen haben. Der Grund für das bisherige Zögern der Bundesregie- rungen liegt auf der Hand: Der Datenschutz im Beschäf- tigungsverhältnis steht in einem starken Interessenge- gensatz von Arbeitgebern einerseits und Arbeitnehmern andererseits. Die Arbeitnehmer sollen sicher vor Bespit- zelungen sein. Gleichzeitig müssen aber den Arbeitge- bern verlässliche Instrumente für den Kampf gegen Kor- ruption an die Hand gegeben werden. Selbstverständlich geht es bei der Frage nach Datenschutz in Unternehmen auch um den Umgang mit einer wachsender Korrup- tionsanfälligkeit, um den Umgang mit Geheimnisverrat und um die Bekämpfung von Straftaten. Ich erinnere mich an unsere Debatte im Februar, als ich Ihnen, Herr Kollege Reichenbach, den Begriff „Compli- ance“ erklären musste. Als kleine Erinnerung: Unter dem Begriff „Compliance“ versteht man das Durchsetzen und das Einhalten von Rechtsvorschriften. Ein Unternehmen kann sich beispielsweise dem Deutschen Corporate Go- vernance Kodex unterwerfen. Grundsätzlich geht es um die legalen Grundlagen. Das kann ich nicht ins Belieben des Unternehmers, des Arbeitgebers oder der Betriebs- verfassung stellen. Vielmehr geht es darum, dass sich das Unternehmen verpflichtet, alles zu tun, damit diese Grundregeln wirklich eingehalten werden. Daher ist das Ziel des Gesetzes, einen interessenaus- gleichenden Ansatz zu verfolgen. Genau diesen Grund- satz aber haben Sie vergessen. Sie sollten sich vor einer Grabenkampfrhetorik hüten: Es ist schlichtweg falsch, die Erhebung der Daten des Arbeitnehmers durch einen Arbeitgeber reflexhaft als ei- nen unzulässigen Eingriff, als etwas Anrüchiges und Un- erlaubtes zu verurteilen. Es ist in einem Bundesgesetz nun einmal nicht ausreichend, alles pauschal zu verbie- ten. Und es reicht auch die pauschale Forderung nach ei- ner Verhinderung von vorangegangenen Datenschutz- skandalen nicht, denn dies würde nichts anderes sein als Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15453 (A) (C) (D)(B) die Forderung: Lasst uns endlich verbieten, was schon il- legal ist. Ich helfe Ihnen hier nicht, ein falsches Bild zu malen. Es gibt neben den Daten, die für einen ordnungsgemä- ßen Betrieb eines Unternehmens erforderlich sind, auch viele Daten, die zugunsten der Arbeitnehmer vom Ar- beitgeber erfragt werden: Hierzu gehören nicht nur die Kontonummer, bei der monatlich das Gehalt eingeht, sondern auch Unternehmens- und Kapitalbeteiligungen, Bonus- und Rabattprogramme, gesundheitliche Vorsor- geprogramme und betriebliche Versicherungen. Bereits in der vorliegenden Fassung der Regierung stellt der Gesetzentwurf eine Verbesserung und Auswei- tung des Schutzes der Arbeitnehmerdaten dar. Das Gesetz wird ganz unmittelbar mehr als 40 Millionen Ar- beitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland be- treffen. Sie alle werden in diesem nachlesen können, welche personenbezogenen Daten der Arbeitgeber erhe- ben, speichern und verarbeiten darf. Um die Einheitlichkeit des Datenschutzrechts zu ge- währleisten, haben wir uns darauf geeinigt, den Beschäf- tigtendatenschutz im Bundesdatenschutzgesetz, BDSG, aufzunehmen. Es wäre nicht sinnvoll, den Datenschutz im Betrieb über mehrere Gesetze zu verstreuen. Dies hat praktische Vorteile für die Anwendung des Gesetzes durch die betrieblichen Datenschutzbeauftragten und für die Angestellten in den Betrieben und Unternehmen. Diese Entscheidung wurde auch von den Sachverständi- gen in der Anhörung ausdrücklich begrüßt. In den bisherigen Beratungen wurde deutlich, dass an dem derzeitigen Entwurf an der einen oder anderen Stelle noch technische Änderungen vorzunehmen sind. Dies ist begründet mit der Tatsache, dass wir eine Reihe von konzeptionellen Richtlinien und Betriebsvereinba- rungen, aber vor allem eine umfassende Rechtsprechung vorfinden. Das macht es sehr schwierig, eine gelebte Praxis ausfindig zu machen. Ich selber kann mit Blick auf meine Tätigkeit in der freien Wirtschaft sagen: Es ist wichtig und notwendig, sich sehr tief einzuarbeiten, um zu wissen, wie der Datenschutz in den Unternehmen praktisch umgesetzt werden kann. Es geht natürlich um die Frage, inwieweit verschiedene Sphären gegeneinan- der abgewogen werden können. Auf der einen Seite haben wir die Personalität des Mitarbeiters, des Arbeitnehmers. Er unterliegt der infor- mationellen Selbstbestimmung und muss in seinem Be- reich geschützt werden. Auf der anderen Seite haben wir das Rechtssubjekt des Mitarbeiters, der seinen Arbeits- vertrag erfüllen muss. Der Mitarbeiter hinterlässt zu je- der Zeit Daten, die zweierlei Zwecken dienen: erstens der Selbstdefinition als Person, zweitens der Erbringung der Arbeit und der Umsetzung des Arbeitsauftrages. Es ist deshalb entscheidend, dass wir an dieser Stelle die Unternehmen stärken und gleichzeitig die Mitarbeiter schützen; hier liegt die Herausforderung bei diesem Ge- setzentwurf. Aus meiner Sicht gehört hierzu das zu strikte Verbot abweichender betrieblicher und individueller Vereinba- rungen. Hier gilt es, eine Regelung zu finden, die dem Gedanken der Privatautonomie ausreichend Rechnung trägt, ohne den Schutz des Arbeitnehmers zu vernachläs- sigen. Unsere Aufgabe ist es daher, Fälle zu identifizie- ren, in denen wir solche Abweichungen zulassen wollen, und solche, bei denen es der Schutz des Arbeitnehmers verbietet. Die Regelung wird es jedoch nicht zulassen, das Schutzniveau des Beschäftigtendatenschutzgesetzes zu unterschreiten. Erforderlich sind in meinen Augen darüber hinaus Regelungen über eine (auch) private Nutzung von Tele- kommunikationsmitteln des Arbeitgebers. Es geht da- rum, wie Mitarbeiter am Arbeitsplatz mit ihren Daten umgehen. Dürfen sie privat telefonieren? Dürfen sie pri- vat ins Internet? Dürfen sie private E-Mails verwenden? Auch hier kann es Fälle geben, in denen der Arbeitgeber unter engen Voraussetzungen Einblick in bestimmte Da- ten des Arbeitnehmers nehmen können muss. Die Alter- native wäre, die private Nutzung des Internets und Tele- fons am Arbeitsplatz vollständig zu untersagen – eine lebensfremde Vorstellung. Zudem werden wir eine Regelung schaffen, die den Datenaustausch innerhalb eines Konzerns erleichtert. Diese Überlegungen werden Gegenstand eines parla- mentarischen Änderungsantrages sein. Ich bin aber über- zeugt, dass dieses Gesetz beiden Seiten – sowohl dem Arbeitnehmer wie auch dem Arbeitgeber – Vorteile brin- gen wird. Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): In Ihrem Antrag erheben Sie neben der Forderung nach einer Vielzahl von kleinteiligen Regelungen für einen zukünf- tigen Beschäftigtendatenschutz auch die grundsätzliche Forderung, den Beschäftigtendatenschutz in einem ei- genständigen Gesetz zu regeln. Dies ist jedoch nicht nur antiquiert, sondern geht auch völlig an der Sache vorbei. Ihr Antrag belegt bereits die Verknüpfungen und Verbin- dungen zum allgemeinen Datenschutzrecht. Sie nehmen schließlich fortwährend auf die allgemeinen Grundprin- zipien des geltenden Datenschutzrechts Bezug. Dies ist auch nicht weiter verwunderlich. Schließlich gelten der Grundsatz der Datenvermeidung und der Datensparsam- keit, der Zweckbindung aber auch die Möglichkeit der Einwilligung in die Erhebung und Verarbeitung von Daten auch im Verhältnis von Arbeitgeber und Arbeit- nehmer. Es ist daher wesentlich effizienter, den Beschäf- tigtendatenschutz in das bestehende Bundesdatenschutz- gesetz einzufügen und ihn so unmittelbar mit den bereits vorhandenen Normen zu verbinden. Zugegeben, im Verhältnis Arbeitgeber zum Arbeit- nehmer kann es auch Konstellationen geben, in denen von den vorgenannten Prinzipien abgewichen werden muss. Nur kann dies mit Sicherheit nicht in dem Umfang erfolgen, den Sie in Ihrem Antrag darstellen. Denn schließlich gilt auch für den Beschäftigtendatenschutz der Grundsatz, dass ein Interessenausgleich zwischen den widerstreitenden Grundrechten der Beteiligten ge- funden werden muss. Ich möchte an dieser Stelle daher auch noch einmal deutlich daran erinnern, dass nicht nur Arbeitnehmer 15454 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 (A) (C) (D)(B) Grundrechte haben, auf die sie sich berufen können, son- dern selbstverständlich auch die Arbeitgeber bzw. Unter- nehmen. Es muss daher auch in Zukunft die Möglichkeit für die Unternehmen bestehen, Qualitätskontrollen durchzuführen und Fehlverhalten aufzudecken, um so wirksam ihr eigenes und das Eigentum der Mitarbeiter schützen zu können. In Ihrem Antrag vermisse ich je- doch diese Gedanken völlig. Einseitig fordern Sie neben erheblichen Einschränkungen beim automatisierten Da- tenabgleich auch ein generelles Verbot der Videoüber- wachung von Beschäftigten zur Qualitätskontrolle. Ist Ihnen bewusst, dass Sie damit in erheblichem Maße den Wirtschaftsstandort Deutschland belasten würden? Schließlich genießt Deutschland in der Welt gerade auf- grund seiner Präzision und hohen Qualität bei Waren und Dienstleistungen einen exzellenten Ruf. „Made in Germany“ ist ein echtes Qualitätsmerkmal, welches auch zukünftig Bestand haben muss. Dies setzt aber selbstverständlich auch Qualitätskontrollen und gegebe- nenfalls auch Videoüberwachung voraus. Zudem führen Sie mit Ihrem Antrag die mittlerweile in Deutschland etablierte Corporate-Governance-Rege- lung völlig ad absurdum. Unternehmensinterne Regeln haben seit den 90er-Jahren immer mehr an Bedeutung gewonnen. Sie sorgen vor Ort für Transparenz und einen angemessenen Interessenausgleich. Oftmals vermitteln sie den Arbeitnehmern sogar noch ein höheres Schutzni- veau als das geltende Recht. Folgt man jedoch Ihrem Antrag, kann die Einhaltung dieser unternehmensinter- nen Regelungen zukünftig überhaupt nicht mehr über- prüft werden. Schließlich ist eine Datenerhebung zur Aufklärung von Verstößen nicht mehr erlaubt. Darüber hinaus sollen nach Ihrem Antrag Beschäftigte zukünftig datenschutzrechtliche Missstände gar nicht erst ihrem Arbeitgeber mehr melden, wozu sie übrigens zivilrecht- lich verpflichtet sind, sondern direkt den Aufsichtsbe- hörden. Würden wir alle diese Vorschläge umsetzen, würden wir im Gegenzug nicht einen effektiven Schutz von Be- schäftigtendaten erhalten, sondern nur ein schlechtes Be- triebsklima in den deutschen Unternehmen. Die christ- lich-liberale Koalition verfolgt deswegen auch ein anderes Ziel: Sie will die bisher in vielen einzelgerichtli- chen Entscheidungen der Arbeits-, Verwaltungs- und So- zialgerichtsbarkeit getroffenen grundlegenden Aussa- gen zum Beschäftigtendatenschutz kodifizieren und so für mehr Rechtssicherheit und Transparenz für alle Be- teiligten sorgen. Die Dauer des Gesetzgebungsverfah- rens zeigt, dass es sich dabei nicht nur um eine rechtlich schwierige Materie handelt, sondern auch, dass wir es uns bei der Abwägung der verschiedenen Interessen nicht so einfach wie die Opposition machen. Uns ist das Spannungsfeld, in dem sich der Beschäftigtendaten- schutz bewegt, sehr wohl bewusst. Wir wollen die berechtigen wirtschaftlichen Interes- sen der Unternehmen auf der einen und das Interesse des Arbeitnehmers an der Einhaltung seines Rechts auf in- formationelle Selbstbestimmung auf der anderen Seite zu einem schonenden Ausgleich führen und keine Schieflagen produzieren. Wir halten daher Erleichterun- gen für die Weitergabe von bereits erhobenen Daten in- nerhalb eines Konzerns für überlegenswert. Schließlich macht es mehr Sinn einen rechtlichen Rahmen für eine solche erleichterte Weitergabe zu schaffen, als die Daten erneut bei den Betroffenen zu erheben. Wir überlassen Verwendungs- und Verwertungsge- bote den zuständigen Gerichten. Schließlich haben Ver- wendungs- und Verwertungsgebote im deutschen Recht einen prozessualen Charakter und sind immer auch auf den vorliegenden Einzelfall zu beziehen. Eine gesetzli- che Regelung wird daher immer unvollständig sein. Wir lassen selbstverständlich Fragen zu der Ausübung eines Ehrenamtes zu. Schließlich setzen wir uns für die Förde- rung des Ehrenamtes ein. Ehrenamtlichkeit mobilisiert Kompetenz und Einsatz für vielfältige soziale und kultu- relle Zwecke, die professionell so zielgenau gar nicht verfügbar gemacht werden könnten. Viele Betriebe unterstützen daher zu Recht ehrenamt- liches Engagement mit Flexibilität bei den Arbeitszeiten von Mitarbeitern oder Auszubildenden. Ausbildungs- erfolg und berufliche Leistungsfähigkeit profitieren von den Fähigkeiten und Fertigkeiten, die in ehrenamtlichen Aufgaben erworben werden. Es ist daher völlig absurd, einem Bewerber die Gelegenheit zu nehmen, darzustel- len, wie und mit welchem Einsatz er sich für unsere Ge- sellschaft einsetzt. Ich denke, es ist deutlich geworden, dass sich die christlich-liberale Koalition bereits beim Grundverständ- nis eines effektiven Beschäftigtendatenschutzes von der Opposition unterscheidet. Auch wenn die Ergänzung des vorgelegten Gesetzentwurfs der Bundesregierung noch ein wenig Zeit in Anspruch nehmen wird, wird sie im Ergebnis zu einem ausgewogenen und schonenden Aus- gleich der Interessen führen. Dies wird dann auch zu mehr Rechtssicherheit bei allen Beteiligten führen. Josip Juratovic (SPD): Wir sprechen hier nicht zum ersten Mal über den Arbeitnehmerdatenschutz. Einer- seits freue ich mich darüber, dass dieses Thema mehr Aufmerksamkeit bekommt. Andererseits ist es aber ein Armutszeugnis, dass es die Bundesregierung trotz höchster Dringlichkeit immer noch nicht geschafft hat, dazu ein wirksames Gesetz auf den Weg zu bringen. Wir Sozialdemokraten hatten schon in der großen Koalition ein solches Gesetz eingefordert. Jedoch kam immer der damalige Innenminister Schäuble dazwischen. Es ist schön, dass die Regierung nun lernfähig ist und die Be- deutung des Themas erkennt. Schließlich geht es hier um das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, das in einigen Betrieben – ich nenne nur Telekom und Lidl – mit Füßen getreten wird. Wir alle wissen, dass sich die Arbeitswelt entschieden verändert hat. Als ich am Fließband stand, waren alle meine Daten auf einer Karteikarte vermerkt. Wenn mein Arbeitgeber kontrollieren wollte, wofür ich meine Ar- beitszeit nutze, konnte er erst nach Ankündigung und Zustimmung des Betriebsrates vorbeikommen und mir zuschauen. Das war sehr transparent. Heute aber gibt es Unternehmen, die wie Kraken Daten sammeln zu allen Lebenslagen, sei es zur Arbeit, zu Krankheiten oder zum Familienstand. Und damit geschieht viel Missbrauch. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15455 (A) (C) (D)(B) Oft wird dieser Datenmissbrauch als Kavaliersdelikt abgetan. Aber ein solcher Missbrauch verletzt nicht nur die Persönlichkeitsrechte der Arbeitnehmer. Ein solcher Missbrauch gefährdet auch die Leistungsfähigkeit der Betriebe; denn in einem Betrieb, in dem die Mitarbeiter ausgespäht werden, hat keiner mehr Lust, sich für das Unternehmen einzusetzen. Wir brauchen also klare Ver- hältnisse im Bereich des Arbeitnehmerdatenschutzes, damit der Betriebsfrieden erhalten bleibt und der Betrieb mit einem guten Arbeitsklima wirtschaftlich erfolgreich ist. Wir Sozialdemokraten fordern seit langem, dass dies in einem eigenständigen Gesetz geregelt werden soll. Leider will die Bundesregierung den Arbeitnehmerda- tenschutz jedoch verwurschteln im Bundesdatenschutz- gesetz. Wenn das so kommt, brauchen Arbeitnehmer und Arbeitgeber unnötigen zusätzlichen Rechtsbeistand, um zu wissen, was jetzt Sache ist. Das Ziel des Arbeitneh- merdatenschutzes muss aber sein, den Menschen Recht und Sicherheit zu geben, anstatt die Juristen zu beschäf- tigen. In unserem Antrag fordern wir daher detailliert, was sich am Gesetzentwurf der Bundesregierung ändern muss. Derzeit ist dies nämlich eher der Entwurf eines Arbeitnehmerüberwachungsgesetzes. Lassen Sie mich nur auf wenige Beispiele eingehen: Erstens muss im Ge- setzentwurf geregelt sein, dass Ortungssysteme nur dann eingesetzt werden dürfen, wenn sie der Sicherheit des Beschäftigten dienen, also nicht zur Überwachung, wo sich der Mitarbeiter gerade befindet. Zweitens dürfen Daten in einem Konzern nicht ein- fach an alle Konzernteile weitergegeben werden. Drittens muss die Videokontrolle stark eingeschränkt werden. In Räumen, die auch privat genutzt werden, wie Pausen- und Umkleideräumen, darf keine Kamera mit- laufen. Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP, glau- ben Sie mir, es lohnt sich, die Forderungen aus unserem Antrag in den Gesetzentwurf der Bundesregierung ein- zubauen; denn nur dann haben wir einen wirksamen Ar- beitnehmerdatenschutz, der den Arbeitnehmern und den Arbeitgebern Nutzen bringt. Gerold Reichenbach (SPD): Stellen Sie sich bitte folgendes Szenario vor: Ein Beschäftigter in einem Un- ternehmen soll vertrauliche Informationen an die Me- dien gegeben haben. Die Konzernspitze will wissen, wer. Sie weist die Überwachung der Telefonverbin- dungsdaten von Mitarbeitern, Aufsichtsräten und Arbeit- nehmervertretern an. Daten werden automatisiert abge- glichen. Mitarbeiter werden videoüberwacht. Vorgänge wie diese haben in den letzten Jahren immer wieder zu Skandalen geführt. Sie haben deutlich gemacht, dass beim Arbeitnehmerdatenschutz in unserem Land einiges im Argen liegt. Wir brauchen dringend zusätzliche Re- gelungen zum Schutze der Arbeitnehmer. Wir haben dazu einen Gesetzentwurf eingebracht. Sie wollten dem nicht folgen, und die Regierung hat einen eigenen vorgelegt. Dabei haben Sie schon bei der Vor- lage im Parlament angekündigt, dass der Gesetzesvor- schlag so nicht bleiben kann, sondern geändert werden muss. Und jetzt ist ein Jahr verstrichen, ohne dass etwas passiert ist. Die Experten haben bei der Anhörung im Innenaus- schuss des Deutschen Bundestages im Mai 2011 den Ge- setzentwurf überwiegend kritisiert. Er ist völlig ungeeig- net, die Persönlichkeitsrechte der Beschäftigten zu schützen. Aber statt aus diesem Verriss der Sachverstän- digen Konsequenzen zu ziehen, haben Sie in einem Eck- punktepapier weitere Verschlechterungen angedroht. Der Gesetzentwurf erlaubt den automatisierten Da- tenabgleich und die Ausspähung ohne Kenntnis des Be- schäftigten bereits dann, wenn nur der Verdacht auf eine schwerwiegende Pflichtverletzung besteht. Private Tele- fongespräche und E-Mails sollen ausgewertet werden können. Der Arbeitgeber darf sogar über einen bestimm- ten Zeitraum seinen Beschäftigten durch einen Detektiv beobachten lassen, wenn der Verdacht auf eine schwer- wiegende Pflichtverletzung besteht, die einen wichtigen Kündigungsgrund darstellen würde. Sie erlauben die ununterbrochene Videoüberwa- chung der Beschäftigten, wenn der Arbeitgeber sie für die Qualitätskontrolle erforderlich hält. Sie legalisieren Überwachungsmaßnahmen von Arbeitgebern, die einen schweren Eingriff in die Persönlichkeitsrechte der Be- schäftigten darstellen. Die Würde des Arbeitnehmers am Arbeitsplätz wird für Sie zum Abwägungsgegenstand gegenüber Betriebs- und Arbeitgeberinteressen. Ein Szenario wie am Anfang dargestellt, wäre kein Skandal mehr. Es wäre legal. Sie wollen jetzt auch noch, dass der ohnehin schwa- che Schutz des Gesetzes durch die Einwilligung des Ar- beitnehmers und durch Betriebsvereinbarungen ausgehe- belt werden kann. Wir fordern die Bundesregierung deshalb auf, die Konsequenzen aus der Anhörung zu zie- hen. Die Würde des Menschen hört nicht am Werkstor auf. Wir wollen sie auch am Werkstor schützen. Darum for- dern wir ein Gesetz, das den Arbeitnehmer bereits bei der Bewerbung schützt. Informationen im Netz und bei Dritten sollen nur eingeholt werden dürfen, wenn der Bewerber sie auch als Referenz angegeben hat. Seien wir doch einmal ehrlich: Wenn ein Arbeitgeber bei einem Bewerber anruft und sagt, wir möchten Sie gerne zum Bewerbungsgespräch einladen, aber geben Sie uns doch bitte vorher Ihre „freiwillige“ Einwilli- gung, dass wir sämtliche Daten über sie erheben dürfen – wer würde denn Nein sagen, wenn er Arbeit sucht? Wir fordern ein Gesetz, das die anonyme Datenerhe- bung bzw. den Datenabgleich nur zur Aufklärung von Straftaten und nur anlassbezogen zulässt, etwa bei Un- treue oder Bestechlichkeit. Ein Gesetz, das arbeitsrecht- lich untersagte Fragen, etwa nach Schwangerschaft, nicht offen lässt. Wir wollen auch keine Betriebsverein- barungen zuungunsten der Beschäftigten oder die nach- trägliche Einführung eines Konzernprivilegs. 15456 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 (A) (C) (D)(B) Ziehen sie den Gesetzentwurf zurück, er macht den Skandal legal. Lassen Sie uns die Regierung auffordern, ein Gesetz vorzulegen, das die Arbeitnehmer wirklich vor Daten- missbrauch und exzessiver Überwachung schützt. Die Eckpunkte dazu haben wir in unserem Antrag beschrie- ben. Stimmen Sie ihm zu. Gisela Piltz (FDP): Grundsätzlich finde ich es ja im- mer erfreulich, wenn man sich an die eigenen guten Vor- sätze von einst erinnert; denn auch Sie, werte Kollegin- nen und Kollegen von der SPD, hatten einmal den wenigstens gut gemeinten Vorsatz, den Datenschutz am Arbeitsplatz reformieren zu wollen. In der Zeit von 1998 bis 2009 blieb es dann auch bei diesem Vorsatz, und der Arbeitnehmerdatenschutz geriet bei Ihnen in Vergessenheit. Über ein Jahrzehnt haben Sie es nicht auf die Reihe bekommen, Ihrer Ankündigungs- politik auch Taten folgen zu lassen. Jetzt kommen Sie mit Anträgen und werfen sich quasi hinter den fahrenden Zug. Im Gegensatz zu Ihnen halten wir unsere Verspre- chen und räumen endlich auf mit Ihren Versäumnissen der zurückliegenden elf Jahre, in denen Sie immerhin den zuständigen Minister gestellt haben. Dass es diese schwarz-gelbe Bundesregierung ist, die den lang angemahnten Reformbedarf beim Beschäftig- tendatenschutz endlich anpackt, muss Ihnen nicht gefal- len. Hätten Sie allerdings ein echtes Interesse an einem praxisgerechten Beschäftigtendatenschutz, der die Be- lange aller Beteiligten angemessen berücksichtigt, wür- den Sie endlich anfangen, sich konstruktiv in die Diskus- sion einzubringen, anstatt hier eine Nebelkerze nach der anderen zu zünden. Besonders interessant wird es allerdings, wenn man Ihren Gesetzentwurf aus dem Jahr 2009 mit dem jetzigen Antrag vergleicht. Erstes Bespiel: Datenerhebung im Be- werbungsverhältnis. Was in Ihrem Gesetzentwurf noch ausdrücklich für zulässig erachtet wurde, soll durch Ih- ren Antrag nun generell – das heißt ohne Ausnahme – verboten sein. Zweites Beispiel: Gesundheitsuntersuchungen im lau- fenden Beschäftigungsverhältnis; im Gesetzentwurf er- laubt, im Antrag nunmehr grundsätzlich verboten. Drittes Beispiel: internationaler Transfer von Beschäf- tigtendaten. Was im heute vorgelegten Antrag rundweg abgelehnt wird, sollte über den Gesetzentwurf noch ohne große Hürden – anders formuliert: unter Absenkung des geltenden Schutzniveaus – legitimiert werden. Diese Aufzählung ließe sich weiter fortführen. So geht man nicht mit diesem sensiblen Thema um und auch nicht mit den Betroffenen. Das ist nicht verlässlich. Sämtliche Forderungen, die Sie eigens aufgestellt hatten und von denen Sie jetzt nichts mehr wissen wollen, fin- den sich nahezu eins zu eins im Gesetzentwurf der Bun- desregierung. Was Sie heute hier tun, ist nichts anderes als ein oppositionelles Spielchen. Werte Kolleginnen und Kollegen von der SPD, nur damit Sie mich nicht falsch verstehen: Ihr Gesetzentwurf vom November 2009 war beileibe nicht der große Wurf. Im Vergleich zu dem, was Sie heute hier abliefern, muss allerdings sogar dieser missglückte Entwurf als Sternstunde Ihrer Fach- politiker eingestuft werden. Die Berichterstatter der Koalitionsfraktionen hatten bereits im Rahmen der ersten Lesung zum Gesetzent- wurf der Bundesregierung deutlich gemacht, dass auch dieses Gesetz den Deutschen Bundestag nicht so verlas- sen würde, wie es hineingekommen ist. Dieser Maßgabe entsprechend haben wir bereits im Vorfeld der öffentli- chen Anhörung im Mai dieses Jahres Vorschläge ge- macht, wie der Gesetzentwurf im Detail verbessert wer- den könnte. Vorschläge, die im Übrigen von zahlreichen Sachverständigen der öffentlichen Anhörung ausdrück- lich begrüßt wurden. Hierzu zählt unter anderem, dass die Zulässigkeit von Gesundheitsuntersuchungen im Beschäftigungsverhält- nis an engere Voraussetzungen geknüpft werden muss. Hierzu zählt auch, dass es dem Arbeitnehmer weiterhin möglich sein muss, selbstbestimmt in für ihn vorteilhafte Datenerhebungen und -verarbeitungen einzuwilligen. Hierzu zählt schließlich auch, dass es den Betriebspar- teien weiterhin möglich sein soll, im Bedarfsfall auch da- tenschutzrechtlich relevante Sachverhalte eigenverant- wortlich zu regeln. Ich sage bewusst „weiterhin“. Sie tun ja gerade so, als würden wir mit dieser Regelung eine neue Rechtslage einführen. Dass es seit dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts im Jahr 1986 allerdings nunmehr ein Vierteljahrhundert lang anerkannt ist, datenschutz- rechtliche Belange auch und gerade durch die Betriebs- parteien selbstständig regeln zu lassen, verschweigen Sie dabei nur allzu gern. Sie müssen mir schon einmal erklären, meine Damen und Herren von der SPD, warum Sie auf der einen Seite regelmäßig die Rechte der Betriebsräte nie hoch genug ansetzen können, bei Fragen des betrieblichen Daten- schutzes der Betriebsrat jedoch schön seinen Mund zu halten hat. Im Gegensatz zu Ihnen sprechen wir den Be- triebsräten die Kompetenz im Bereich des Datenschutzes nicht ab. Ihre Bevormundungspolitik wird in diesem Hause keine Chance haben. Das parlamentarische Verfahren zum Gesetzentwurf der Bundesregierung ist nahezu abgeschlossen. Ich bin zuversichtlich, dass wir das Gesetz noch in diesem Jahr verabschieden werden. Der heute vorgelegte Antrag wird sich damit in Kürze schlicht durch Zeitablauf erle- digen. Petra Pau (DIE LINKE): Es ist höchste Zeit! Erstens. Wir reden wieder einmal über Datenschutz für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Die erste For- derung nach einem expliziten Gesetz stammt übrigens aus dem Jahr 1984. Ein entsprechendes Gesetz aber gibt es immer noch nicht. Keine Partei, die seither regierte, hat sich besonders hervorgetan: nicht die CDU/CSU, nicht die SPD, nicht die FDP, nicht Bündnis 90/Die Grü- nen. Zweitens. Erst die gravierenden Datenschutzpannen und Überwachungsskandale der zurückliegenden Jahre Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15457 (A) (C) (D)(B) – bei Lidl, bei der Telekom, bei der Bahn AG usw. – scheinen ein Umdenken bewirkt zu haben. Im Frühjahr dieses Jahres hat die aktuelle Bundesregierung endlich einen Gesetzentwurf vorgelegt. Er wird zu Recht kriti- siert, auch von der Fraktion Die Linke. Drittens. Ich stelle deshalb noch einmal grundsätzlich klar: Datenschutz bedeutet nicht, rechtlich zu regeln, wie möglichst viele Daten legal erfasst werden dürfen. Da- tenschutz bedeutet im Gegenteil, von definierten Aus- nahmen abgesehen, das Erfassen, Speichern, Verknüpfen und Weitergeben persönlicher Daten zu unterbinden. Da- ran gemessen ist der Regierungsentwurf ein Rückschritt. Viertens. Offene Videoüberwachung von Arbeitneh- merinnen und Arbeitnehmern könnte per Gesetz alltäg- lich werden. Heimliche Videoüberwachungen würden erleichtert. Auf das und mehr haben die Sachverständi- gen nahezu unisono hingewiesen. Nach Vorstellungen der CDU/CSU und der selbsternannten Bürgerrechtspar- tei FDP verkäme die Arbeitswelt endgültig zur Casting- show. Das darf nicht sein. Fünftens. Nun hat die SPD einen eigenen Antrag vor- gelegt, nach der Linken und nach den Grünen. Ich wünschte, dass die Oppositionsfraktionen endlich ge- meinsam auf hohe Datenschutzstandards für Arbeitneh- merinnen und Arbeitnehmer drängten, und dies mit den berechtigten Forderungen der Gewerkschaften bündelt. Es ist spät, sehr spät oder, positiv formuliert: Sechstens. Es ist höchste Zeit, zu handeln. Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): „Ein moderner Datenschutz ist gerade in der heu- tigen Informationsgesellschaft von besonderer Bedeu- tung. Wir wollen ein hohes Datenschutzniveau … Hierzu werden wir das Bundesdatenschutzgesetz unter Berücksichtigung der europäischen Rechtsentwicklung lesbarer und verständlicher sowie zukunftsfest und tech- nikneutral ausgestalten.“ Klingt gut. Könnte von uns sein. Oder gar vom Kollegen Wiefelspütz. Aber ich zi- tiere Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP. So steht es nämlich in Ihrem Koalitionsvertrag für die 17. Legislaturperiode mit dem Titel „Wachstum. Bil- dung. Zusammenhalt.“. In diesem Koalitionsvertrag steht auch, dass der Arbeitnehmerdatenschutz in einem eigenen Kapitel des Bundesdatenschutzgesetzes ausge- staltet werden wird. Über zwei Jahre später ist das alles – nichts. Es ist nicht das Papier wert, auf dem es steht. Sie haben großspurig angekündigt und dann nicht ge- liefert, wie in so vielen Bereichen, eben auch im Daten- schutz. Wir hatten hier vor mehreren Monaten eine erste Lesung Ihres Gesetzes mit dünnen Eckpunkten, bei der die Kollegin Piltz gleich eine ellenlange Liste an Ände- rungen am eigenen Gesetzentwurf anmeldete. Und seit- her: Still ruht der See. Einige Herausforderungen im Bereich des Daten- schutzes haben sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und FDP, ja im Koalitionsvertrag erkannt – immerhin. Dennoch haben sie bis heute nichts auf den Weg gebracht. Es gibt keine Stiftung Datenschutz, keine rote Linie und eben auch keine Reform des Bundesda- tenschutzgesetzes. Wie es Ihnen hier schon vielfach und zu Recht attestiert wurde: Von einem zeitgemäßen Ar- beitnehmerdatenschutzgesetz ist bislang keine Spur. Auch im sonstigen Datenschutz ist diese Bundesregie- rung weiterhin blank. Das stößt nicht nur bei immer mehr Bürgerinnen und Bürgern auf Unsicherheit und Unverständnis. Inzwi- schen beklagen auch große Teile der Wirtschaft die Un- fähigkeit dieser Regierung, Ihrer Verpflichtung als Ge- setzgeber gerecht zu werden, und das völlig zu Recht. Denn Unternehmen und junge Firmen müssen wissen, in welchem Rechtsrahmen sie sich bewegen. Die Entwick- lung, Ausbreitung und Qualität der IT-Technologie und des Internets in den letzten Jahrzehnten ist eine Revolu- tion. Aber aufgrund Ihrer Arbeitsverweigerung hantieren wir noch immer mit einem Gesetz aus einer Zeit, als ein- fache Rechner noch riesig und sehr, sehr langsam waren. Mit den Formulierungen im Koalitionsvertrag zum Inter- net und zur Digitalisierung wollten Sie sich ein progres- sives Image geben. Was sie liefern ist analog und 1.0. Zum Arbeitnehmerdatenschutz: Wir wünschen uns auch weiterhin eine eigenständige gesetzliche Regelung. Sie wollen die Normen in ein Gesetz packen, dem sie selbst im Koalitionsvertrag größte Unverständlichkeit bescheinigen. So oder so, ein Beschäftigtendatenschutz- gesetz ist dringend erforderlich. Das bestätigen alle un- abhängigen Fachleute, das war das Fazit des Skandal- jahrs 2008 – Skandale bei der Telekom, bei Lidl, Daimler usw. –, und das ist Ergebnis der Anhörung. Sie hat klar ergeben: Eine Beschäftigtendatenschutzregelung schafft Klarheit in einem Umfeld, in dem Vertrauen die entscheidende Grundlage ist, auch im Hinblick auf die unübersichtliche Rechtsprechung. Wir brauchen drin- gend effektive Schutzmaßnahmen hinsichtlich ausufern- der Datenerhebungen bei Bewerbern sowie ausufernder Datenverarbeitungen zu Zwecken der Verhaltenskon- trolle in den Betrieben. Zudem brauchen wir ein verbes- sertes internes Kontrollsystem. Zum Antrag der SPD: Der Antrag der SPD holt nun lediglich nach, was die SPD in ihrem eigenen Gesetzent- wurf verschlafen hat. Dieser Entwurf kam noch aus dem Arbeitsministerium des ehemaligen Kollegen Scholz. Heute ist offensichtlich, dass der Entwurf seinerzeit of- fensichtlich nicht ansatzweise die Priorität bekam, die angemessen gewesen wäre. Heute stellt sich die Frage, was nun eigentlich vonseiten der SPD gilt: Der Entwurf des Kollegen Scholz oder der vorliegende Antragskata- log? Immerhin deckt sich der Antrag zu 75 Prozent mit dem Gesetzentwurf, den meine Fraktion und ich an die- ser Stelle vor einigen Monaten vorgelegt haben. Zumin- dest die 75 Prozent sind gut. Richtig finden wir zum Bei- spiel die Klarstellung, dass die Beschäftigten das Recht haben, sich bei Rechtsverstößen direkt an Datenschutz- beauftragte wenden zu können. Dissens haben wir aber zum Beispiel bei der strikten Ablehnung des Konzern- privilegs. Zugegeben, es ist kompliziert, aber das schlichte Verbot hilft niemanden. Wer die Praxis kennt, der weiß, dass es sich um ein berechtigtes Anliegen der Arbeitge- 15458 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 (A) (C) (D)(B) ber handelt, das eben beschäftigtenfreundlich ausgestal- tet werden muss. Also, wie so oft bei der SPD: Licht und Schatten. Trotzdem geht der vorliegende Antrag in die richtige Richtung. Man kann in der Tat nur hoffen, dass auch die Bundesregierung sich nun endlich besinnt und das Thema endlich ernsthaft angeht. Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Bericht des Parlamentarischen Beirats für nachhaltige Entwicklung zum Indikatoren- bericht 2010 des Statistischen Bundesamtes und Erwartungen an den Fortschrittsbericht 2012 zur nationalen Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung – Antrag: VN-Konferenz Rio+20 – Nachhal- tigkeit global umsetzen (Tagesordnungspunkt 11 und Zusatztagesord- nungspunkt 4) Marcus Weinberg (Hamburg)(CDU/CSU): Mit der heutigen Debatte behandeln wir zwei für die Nachhaltig- keit wichtige Aspekte. Mit unseren auf dem Indikatoren- bericht 2010 basierenden Erwartungen an den Fort- schrittsbericht 2012 greifen wir nochmals aktiv in die laufende Konsultationsphase der Bundesregierung zur Weiterentwicklung der nationalen Nachhaltigkeitsstrate- gie ein. Mit dem Antrag „Rio+20: Nachhaltigkeit global umsetzen“ greifen wir einen zweiten wichtigen Meilen- stein der Nachhaltigkeitsagenda auf: die UN-Konferenz Rio+20 im Sommer des nächsten Jahres. Lassen Sie mich zunächst auf den Indikatorenbericht und unsere Erwartungen an den Fortschrittsbericht 2012 zur Weiterentwicklung der nationalen Nachhaltigkeits- strategie eingehen. Der Indikatorenbericht 2010 zum Stand der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie zeigt, dass wir hinsichtlich der gesteckten Ziele insgesamt auf ei- nem guten Weg sind. Mir geht es in der heutigen Debatte aber nicht so sehr darum, einen Blick zurückzuwerfen und das Erreichte zu bewerten. Mir geht es vielmehr darum, ausgehend von einigen Ergebnissen des Indikatorenberichts 2010 einen Blick nach vorne zu werfen auf den Fortschrittsbericht 2012 der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie. Welche Erwartungen an die Fortschreibung der nationalen Nach- haltigkeitsstrategie haben wir? Bei der Fortschreibung der nationalen Nachhaltig- keitsstrategie ist es aus unserer Sicht wichtig, das Spek- trum der Schwerpunktthemen um einen weiteren, ge- wichtigen Aspekt zu erweitern. Vor dem Hintergrund, dass die Energiefrage durch die aktuellen Ereignisse und Entscheidungen immer stärker an Gewicht gewinnt, sollte Energie als drittes Schwerpunktthema in den Fort- schrittsbericht 2012 aufgenommen werden. Die bislang im Entwurf enthaltenen Ausführungen werden aus unse- rer Sicht der größer gewordenen Bedeutung des Themas nicht gerecht. Hier ist eine Aufwertung zum Schwer- punktthema des Fortschrittsberichtes 2012 absolut ge- rechtfertigt und geboten. Hinsichtlich der Indikatoren lässt sich deutlich fest- stellen: Diese sind nicht in Stein gemeißelt. Es ist zu be- grüßen, dass die Bundesregierung derzeit prüft, inwie- weit Indikatoren angepasst werden können. Dabei ist es richtig, dass eine gewisse Kontinuität gewahrt werden sollte, um auch über längere Zeiträume vergleichbare Daten vorliegen zu haben. Richtig ist auch, dass nur sol- che Indikatoren aufgenommen werden sollten, wenn sie mit einem gewichtigen Ziel verbunden sind. Allerdings sollten wir bei Indikatoren, die sich in den zurückliegen- den Jahren als ungeeignet erwiesen haben, auch die Kraft aufbringen, diese dann entsprechend zu ändern. Der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwick- lung hat in seinen Stellungnahmen mehrfach den Finger in offene Wunden gelegt und aufgezeigt, an welchen Stellen er Nachbesserungsbedarf sieht. Bei den Studienanfängerzahlen liegt Deutschland un- ter dem OECD-Schnitt und zum Teil sehr deutlich unter dem Durchschnitt einzelner Länder. Dies wird dadurch beeinflusst, dass die Berufsausbildung in Deutschland weitgehend im dualen System erfolgt, während in ande- ren Staaten solche Ausbildungen überwiegend an den Hochschulen erfolgen. Hier wird deutlich: Die Tücke liegt im Detail. Um verlässliche Vergleichszahlen zu er- halten, müssten zunächst die bestehenden Unterschiede herausgerechnet werden. Insgesamt sollte es jedoch nicht um die reine Erfüllung von Akademikerquoten ge- hen, sondern um die Qualifizierung der Menschen. Unter diesem Aspekt ist Deutschland mit den beiden – berufli- chen und akademischen – gleichwertigen Bildungswe- gen Ländern mit hohem Akademikeranteil eher überle- gen. Insofern regt der Parlamentarische Beirat für nachhal- tige Entwicklung an, statt ausschließlich die Studienan- fängerquote auszuweisen, auch die Ausbildungszahlen in die Darstellung des Indikators einzubeziehen. Zum Indikator 15 – Kriminalität – haben wir uns sei- tens des Parlamentarischen Beirats für nachhaltige Ent- wicklung schon oft geäußert. Es ist fast schon so wie mit Cato und Carthago, nur dass wir nicht jede Rede mit un- serer Forderung nach Änderung des Indikators Krimina- lität abschließen. Nach wie vor wird unsererseits der Tatbestand Ein- bruchsdiebstahl als nicht signifikant genug gesehen, um für den Bereich Kriminalität einen aussagekräftigen In- dikator abzubilden. Im Entwurf zum Fortschrittsbericht 2012 sind weitere Kennzahlen aufgeführt, die wesentlich aussagekräftiger wären. Hierzu gehört unter anderem auch die Aufklärungsquote. Aus Sicht des Parlamentari- schen Beirats für nachhaltige Entwicklung kann der In- dikator 15 in der bestehenden Form nicht bestehen blei- ben. Alternativ bieten sich, wie vom PBNE in seiner Stellungnahme zum Indikatorenbericht 2010 zuletzt ge- fordert, Delikte gegen Leib und Leben sowie die Aufklä- rungsquote an. Sollte eine Änderung des Indikators abso- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15459 (A) (C) (D)(B) lut unverhandelbar sein, empfehle ich – frei nach Cato –, den Indikator ganz zu streichen. Ein aus Sicht nachhaltiger Entwicklung fast hoff- nungsloser Fall ist der Indikator Flächeninanspruch- nahme. Der Anstieg der Siedlungs- und Verkehrsfläche liegt weit über dem in der Nachhaltigkeitsstrategie ange- peilten Ziel von 30 Hektar pro Tag. Das hat viele und vor allem vielschichtige Gründe. Allerdings sollte auch einmal darüber nachgedacht werden, inwieweit die Definition der „verbrauchten Flä- che“ tatsächlich zielführend ist. Bislang zählt die ge- samte Siedlungs- und Verkehrsfläche, also alles, was nicht mehr land- und forstwirtschaftlich genutzt werden kann, zum Flächenverbrauch. Damit fallen auch Grünan- lagen, Friedhöfe und Erholungsgebiete in die Kategorie „verbrauchte Fläche“. Dadurch wird es erheblich er- schwert, nicht mehr benötigte Gebäude zu „renaturie- ren“, also abzureißen und durch Grünland zu ersetzen, um den Flächenverbrauch zu reduzieren. Denn sofern re- naturierte Flächen nicht uneingeschränkt der Land- oder Fortstwirtschaft zur Verfügung stehen, weil sie zum Bei- spiel als Park oder Gartenkolonie ausgewiesen sind, ver- brauchen Sie weiterhin Fläche. Unter diesen Definitions- voraussetzungen dürfte es schwierig werden, den Flächenverbrauch signifikant zu reduzieren und die Ziel- vorgabe zu erreichen. Auch wenn bereits recht viele Indikatoren vorhanden sind und Forderungen nach Ergänzungen eher kritisch gesehen werden, sollte aus unserer Sicht geprüft werden, inwieweit ein Indikator „nachhaltiger Konsum“ aufge- nommen werden kann. Das Indikatorensystem ist nicht statisch, sodass eine Ergänzung durchaus möglich ist. Nachhaltiger Konsum ist ein wichtiges Themenfeld nachhaltiger Entwicklung. Dieses sollte auch mit einem passenden Indikator abgebildet werden. Meine Damen und Herren, ich freue mich, dass wir die Debatte zum Indikatorenbericht 2010 und zu unseren Erwartungen an den Fortschrittsbericht 2012 heute füh- ren können. Morgen, also am 30. September, endet das Konsultationsverfahren, das die Bundesregierung zum Entwurf des Fortschrittsberichtes 2012 durchführt. Da- mit haben wir heute noch einmal die Gelegenheit, neben den bereits abgegebenen Stellungnahmen aktiv in das Diskussionsgeschehen einzugreifen. Noch mehr freue ich mich natürlich, wenn die Bundesregierung unsere Anregungen vor allem hinsichtlich der Weiterentwick- lung der Indikatoren und zur Aufnahme eines weiteren Schwerpunktthemas aufgreift. Ziel unseres Antrags „Rio+20: Nachhaltigkeit global umsetzen“ ist es, dass mit der Konferenz der Vereinten Nationen „Rio+20“ im Juni des nächsten Jahres Nach- haltigkeit und damit die Leitlinien nachhaltiger Entwick- lung global stärker umgesetzt werden. Ich freue mich, dass es uns in einem großen Kraftakt gelungen ist, diesen interfraktionellen Antrag zu erarbei- ten und in den Deutschen Bundestag einzubringen. Da- mit nutzen wir unsere Chance als Parlament, unsere Positionen der Bundesregierung bei ihren Vorbereitungs- gesprächen mit auf den Weg zu geben und damit uns in die laufenden Vorbereitungsverhandlungen zur Rio- Konferenz 2012 mit einzubringen. Ein Themenschwerpunkt der Konferenz Rio+20 wird die Frage des Nachhaltigkeitsmanagements auf interna- tionaler Ebene sein. Wie ist die Nachhaltigkeitsstrategie international 20 Jahre nach der Konferenz von Rio 1992 verankert? Bei dieser Frage kommt man auch bei wohl- wollender Betrachtung zu dem Ergebnis: eher schlecht. – Es besteht ein Umsetzungs- und Koordinationsdefizit. Die UN-Kommission für nachhaltige Entwicklung ist zudem ineffizient und nur wenig umsetzungsorientiert, und auf Ebene der UN-Mitgliedstaaten gibt es noch viele weiße Flecken ohne nationale Nachhaltigkeitsstrategien. Ziel unseres Antrages ist es, das Nachhaltigkeitsma- nagement im UN-Verbund zu stärken. Die Konferenz von Rio im Sommer 2012 ist eine große Chance, das Nachhaltigkeitsmanagement weltweit zu verbessern. Die Stärkung kann auf drei Wegen erfolgen: entweder durch eine Verbesserung der bestehenden CSD-Struktur oder die Verankerung des Themas bei ECOSOC oder in ei- nem eigenen UN-Nachhaltigkeitsrat. Hier können wir uns zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht auf eine Variante festlegen. Aber bei drei zur Verfügung stehenden Alter- nativen sollte es aus meiner Sicht möglich sein, eine Position zu finden, die dem nicht nur von uns angestreb- ten Ziel sehr nahekommt. Aber nicht nur die Vereinten Nationen sind gefordert, Nachhaltigkeit stärker zu berücksichtigen und das Nach- haltigkeitsmanagement zu verbessern. Bei der Konfe- renz von Rio 1992 haben sich die Vertragsstaaten ver- pflichtet, nationale Nachhaltigkeitsstrategien zu ent- wickeln. Dem sind längst nicht alle nachgekommen, so- dass aus unserer Sicht die Konferenz Rio+20 auch ge- nutzt werden sollte, alle Industriestaaten – nochmals – darauf zu verpflichten, eigene nationale Nachhaltigkeits- strategien mit aussagekräftigen Indikatoren zu entwi- ckeln, sofern sie hier noch nicht tätig geworden sind. Gleichzeitig sollte bei den Entwicklungs- und Schwel- lenländern dafür geworben werden, stärker auf nachhal- tiges Wirtschaften zu setzen. Hier muss stärker auf die Chancen nachhaltiger Entwicklung hingewiesen und Angst bei der Ausgestaltung von „Green economy Roadmaps“ genommen werden. Die heutige Debatte zeigt, wie nah nachhaltige Ent- wicklung auf nationaler und internationaler Ebene bei- einander liegt. Wenn wir uns den Stand der Nachhaltig- keitsstrategie in Deutschland vor Augen führen, sehen wir, dass wir auf einem guten Weg sind, Nachhaltigkeit immer stärker im politischen und gesellschaftlichen All- tag zu verankern. Diesen Weg sollten wir auch interna- tional beschreiten und immer wieder verstärkt für die Leitlinien nachhaltiger Entwicklung werben. Dann kann auch von der VN-Konferenz Rio+20 im Juni 2012 ein deutliches Signal für eine Stärkung des Nachhaltigkeits- managements ausgehen. Ich freue mich, wenn wir wei- terhin gemeinsam sowohl national als auch international den Aspekt nachhaltiger Entwicklung weiter voranbrin- gen. 15460 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 (A) (C) (D)(B) Dr. Matthias Miersch (SPD): Fast 20 Jahre ist es nun her – mit dem Erdgipfel in Rio de Janeiro im Jahr 1992 wollte die internationale Staatengemeinschaft dem Thema Nachhaltigkeit ein Gesicht geben. Heute stellen wir fest, dass der Begriff der Nachhaltigkeit häufig miss- braucht und immer wieder in inhaltsleeren Floskeln ver- wendet wird. Nachhaltigkeit ist zur Beliebigkeit ver- kommen. Dabei ist gerade die heutige Zeit großflächiger Krisen eine Zäsur für unsere Lebensart des ungehemm- ten Wachstums und Raubbaus an den Ressourcen des Planeten: Hungerkatastrophen, Dürreperioden, Finanz- desaster, nukleare Unfälle – ein Umsteuern ist dringend geboten, heute noch deutlich mehr als vor 20 Jahren. Bereits im 18. Jahrhundert setzte sich die Einsicht durch, dass nur ein nachhaltiges Wirtschaften Zukunfts- fähigkeit bringt. Im Bereich der Forstwirtschaft entstand die Formel, wonach nur so viele Bäume gefällt werden dürften, wie neue gepflanzt werden. Eine einleuchtende Formel. Wie würde die Welt aussehen, wenn seit dieser Zeit entsprechende Grundsätze in den unterschiedlichs- ten Politikfeldern berücksichtigt worden wären? Wir hätten keine Finanzkrise, kein rasantes Artensterben, keinen verantwortungslosen Umgang mit natürlichen Ressourcen und keine Armut. Es wäre Rücksicht ge- nommen worden – auch auf die Interessen künftiger Ge- nerationen. Es wäre ein Schritt in Richtung eine genera- tionenübergreifenden Verantwortung gewesen. Heute merken wir, dass wir schon jetzt mit den Versäumnissen der vergangenen Jahre umgehen müssen. Und schon heute ist dies eine große Herausforderung. Es gibt also zahlreiche Gründe, den Weltgipfel im kommenden Jahr auch durch das nationale Parlament zu begleiten und vor allem die notwendigen Schlüsse aus der Konferenz zu ziehen. Ich bin deshalb froh, dass es uns im Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Ent- wicklung gelungen ist, einen interfraktionellen Antrag zur Konferenz der Vereinten Nationen in Rio im kom- menden Jahr auf den Weg zu bringen. Darin betonen wir die Dringlichkeit einer tiefgreifenden Veränderung des globalen Wirtschaftens. Wir sprechen die großen He- rausforderungen der Bekämpfung des Klimawandels, dem Schutz der Ökosysteme oder die Vermeidung von Hungerskatastrophen an. Die Menschheit steht vor enor- men ökologischen, ökonomischen und sozialen Heraus- forderungen. Noch nie war es wichtiger, sich an den Zie- len einer nachhaltigen Entwicklung zu orientieren. Bei der Konferenz in Rio wird es vor allem um zwei Hauptbereiche gehen. Es wird darum gehen, das Thema der nachhaltigen Entwicklung institutionell so zu veran- kern, dass es sein Nischendasein verliert und in den Mainstream der politischen Arbeit der Vereinten Natio- nen Einzug hält. Hier sind Veränderungen in der Organi- sation dringend angezeigt, um Effizienz und Effektivität zu erreichen. Ohne Details zu nennen kann man schon heute prognostizieren, dass es des besonderen Einsatzes der Bundesregierung bedürfen wird, um in dieser Frage substanzielle Fortschritte in Rio erreichen zu können. Hoffen wir gemeinsam, dass wir hier nicht verzagen! Es geht aber auch um die Sicherstellung des interdisziplinä- ren Ansatzes, der stets mit dem Ziel der nachhaltigen Entwicklung verbunden ist. So müssen zum Beispiel die Themenbereiche Klimapolitik und Schutz der Biodiver- sität viel stärker miteinander vernetzt werden. Nach die- sem Muster müssen wir versuchen, auf institutioneller Ebene eine Verzahnung zu erreichen, die von allen Be- teiligten verlangt, Nachhaltigkeit immer mitzudenken. Der zweite Schwerpunktbereich in Rio wird das Thema umweltverträgliche Wirtschaft im Kontext von nachhaltiger Entwicklung und Armutsbekämpfung sein. Wir müssen endlich die natürlichen Grenzen unseres Planeten respektieren. Glauben wir Prognosen, nach de- nen in einigen Jahren bereits 9 Milliarden Menschen auf dieser Erde leben werden, kommen wir nicht umhin, Wachstum und Wohlstand komplett neu zu denken. Es geht dabei auch nicht mehr um die Frage des Ob, son- dern nur noch um die Frage des Wann. Wann lernen wir, einen nachhaltigen Umgang mit unserer Umwelt zu pfle- gen, und schaffen wir diesen Paradigmenwechsel, bevor es endgültig zu spät ist? Wir können als Menschen viele Dinge organisieren, regeln und entwickeln. Die Erde können wir nicht aus den Angeln heben, das müssen wir endlich begreifen. Und in diesem Zusammenhang ist klar, dass es gerade die Industrieländer – gerade die erste Welt ist –, die hier mit guten Beispielen vorangehen muss. Die Entwicklungs- und Schwellenländer betrach- ten unser Verhalten sehr aufmerksam. Sie haben erkannt, dass es vor allem wir sind, die bislang ihr Wirtschaften in vielen Bereichen nicht nachhaltig ausgerichtet haben. Gerade wir sind es deshalb, die Dinge verändern müs- sen, bevor wir es anderen Ländern vorschreiben. Wir haben es auf Konferenzen wie in Kopenhagen er- lebt, dass Dynamiken entstehen und die Dinge fürchter- lich schieflaufen können. Wir haben gesehen, wie sehr schnell viel Vertrauen verspielt werden kann, wenn Zusa- gen nicht eingehalten werden. Wenn wir den Prozess des Umdenkens aber nicht global organisieren können, weil uns unsere Partner die Hand nicht reichen wollen, werden unsere eigenen Anstrengungen noch so groß sein können, sie werden nicht genügen. Deshalb ist internationale Ver- trauensbildung der Schlüssel. Nur so werden wir künftig in den wichtigen Feldern der Ressourceneffizienz, der umweltverträglichen emissionsarmen Wirtschaft oder Überwindung des Wirtschaftens mit endlichen Energie- trägern vorankommen. Das sind die Themen, die in Rio eine große Rolle spielen müssen und die wir in unserem Antrag gemeinsam aufgreifen. Wir beraten heute gleichzeitig auch den Fortschritts- bericht, mit dem die deutsche Nachhaltigkeitsstrategie begleitet wird. Ich halte es an dieser Stelle für einen glücklichen Zufall, diese beiden Themen in einer Rede verknüpfen zu können, denn die Verantwortung Deutschlands ist, wie ich bereits erwähnte, eine ganz be- sondere. Ohne unser volles Engagement hier in Deutsch- land werden wir unsere Vorreiterrolle einbüßen und den global ohnehin schwierigen Prozess weiter verlangsa- men. Die Klimaverhandlungen in Kopenhagen und die im Nachgang nicht eingehaltenen Zusagen über die Fi- nanzierung des internationalen Klimaschutzes sind uns ein warnendes Beispiel. Der Fortschrittsbericht soll die Entwicklung hin zu ei- ner nachhaltigen Verantwortung der Politik begleiten. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15461 (A) (C) (D)(B) Natürlich begrüßen wir dieses Ziel. Allerdings zeigen uns die Berichte der letzten Jahre, beispielsweise der In- dikatorenbericht des Jahres 2010, dass wir diese Ent- wicklung bisher kaum vollzogen haben. Die Politik ist dringend gefordert, die bisherigen Defizite schnell anzu- gehen: Wir verfehlen regelmäßig die selbst auferlegten Ziele im Artenschutz, wir versiegeln unsere Umgebung mit Beton und wir leben immer mehr auf Kosten der kommenden Generationen, in dem wir gigantische Schuldenberge auftürmen. Uns mag all dies aus dem Moment heraus notwendig erscheinen, lange werden wir uns dieser Illusion aber nicht mehr hingeben können. Der Fortschrittsbericht 2012 spricht gerade die eben ge- nannten Handlungsfelder leider nur oberflächlich an. Ich betone es deshalb noch einmal: Wir stehen unter interna- tionaler Beobachtung, unsere Glaubwürdigkeit ist ein Pfand in internationalen Verhandlungen im Rahmen ei- ner globalen Umstrukturierung unserer Wirtschafts- weise. Machen wir nicht zunächst unsere eigenen Haus- aufgaben richtig, verlieren wir dieses Pfand. Es sollte uns also ein doppeltes Anliegen sein, nicht nur wohlklin- gende Berichte zu verfassen, sondern unser Handeln an Tatsachen zu messen. Der Fortschrittsbericht schlägt in Bezug auf die UN- Konferenz in Rio vor, den Schwung der Konferenz für die Weiterentwicklung der deutschen Nachhaltigkeits- strategie im nächsten Jahr zu nutzen. Ich wünsche mir, dass die Bundesregierung dieses Vorgabe ernst nimmt. Wir werden dafür sorgen, dass dieser Regierung beim Schwungholen für Nachhaltigkeit nicht die Puste aus- geht. Michael Kauch (FDP): Politik für Nachhaltigkeit ist Politik für kommende Generationen. Mit der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie hat Deutschland einen Politik- ansatz, mit dem über Wahlperioden und Fraktionsgren- zen hinweg Ziele gesteckt werden. Diese Ziele – und das ist bedeutsam – werden regelmäßig durch Indikatoren überprüft: Sind wir auf dem richtigen Weg, oder muss nachgesteuert werden? Der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwick- lung hat in seiner Stellungnahme zum Indikatorenbericht 2010 verschiedene Vorschläge gemacht, wie die Nach- haltigkeitsindikatoren weiterentwickelt werden können. Weiterhin hat er allgemeine Erwartungen an den Fort- schrittsbericht 2012 formuliert. Der Entwurf des Fort- schrittsberichts 2012 liegt nun vor, und ich freue mich, dass die Bundesregierung wieder in einem öffentlichen Konsultationsverfahren allen interessierten Bürgerinnen und Bürgern, Verbänden und Institutionen die Möglich- keit gibt, ihre Anregungen einzubringen. Dass bei Änderungen im Indikatorensatz behutsam vorgegangen werden muss, ist klar. Gerade wenn längere Zeiträume betrachtet werden sollen, ist eine gewisse Kontinuität geboten. Wenn sich allerdings bestimmte In- dikatoren als offensichtlich ungenügend erweisen, sollte auch der Mut aufgebracht werden, diese zu ändern. Ich freue mich deshalb, dass die Bundesregierung signali- siert hat, den seit Jahren vom Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung kritisierten Indikator zur Kriminalität zu ersetzen und sich nicht ausschließlich auf die zwar leicht erhebbaren, aber allein wenig aussa- gekräftigen Wohnungseinbruchsdiebstähle zu beschrän- ken. Neben der Diskussion um die Messung nachhaltiger Entwicklung auf Bundesebene müssen wir in einem fö- deralen Staat auch ein Augenmerk auf die vertikale Inte- gration bei der Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele le- gen. Bislang verfügen die Bundesländer teilweise über eigene Nachhaltigkeitsstrategien, aber von unterschiedli- cher Qualität und politischer Gewichtung. Eine bessere Vernetzung der Bundes- mit den Länderstrategien ist wichtig, um die Nachhaltigkeitsziele konsequent zu ver- folgen. Parallel zur Anbindung der Nachhaltigkeitsstra- tegie im Bundeskanzleramt sollten die Nachhaltigkeits- strategien der Länder im unmittelbaren Umfeld der Regierungschefs angesiedelt werden. Zudem wäre eine eigenständige und themenübergreifende Querschnittsar- beitsgruppe in der Ministerpräsidentenkonferenz wün- schenswert. Dies würde dem Thema auf Länderebene eine größere Bedeutung beimessen und der Querschnitts- aufgabe gerecht werden. Wir debattieren heute neben der Unterrichtung des Beirats den interfraktionellen Antrag zur UN-Konferenz in Rio de Janeiro im nächsten Jahr, auf der es zwei Schwerpunkte gibt: die Reform der Umwelt- und Nach- haltigkeitsinstitutionen bei den Vereinten Nationen sowie die Frage, wie man eine Weiterentwicklung der nationalen Volkswirtschaften hin zu nachhaltigen Wirt- schaftsmodellen voranbringen kann. In Deutschland sind wir hier auf einem guten Weg. Wir haben erkannt, dass eine umweltverträgliche Wirtschaft in keinem Wider- spruch zu Wachstum steht, sondern ganz im Gegenteil zum Wachstumsmotor werden kann. Diese Entwicklung sollte auch in Entwicklungs- und Schwellenländern an- gestoßen werden, allerdings ohne dabei neue Formen des Protektionismus zu etablieren. Bei der UN-Institutionenreform stehen wir vor der Herausforderung, die stark fragmentierten Umwelt-Go- vernance-Strukturen effizienter und effektiver zu gestal- ten. Der Vorschlag der Aufwertung des United Nations Environment Programmes, UNEP, zu einer United Na- tions Environment Organization, UNEO, scheint hier der Vielversprechendste zu sein. Bei der Nachhaltigkeitsgo- vernance gilt es, eine Alternative zu der weitgehend er- gebnislos arbeitenden Commission on Sustainable Deve- lopment, CSD, zu finden. Hier stehen verschiedene Vorschläge im Raum. Die Bundesregierung sollte sich im Verhandlungsprozess in Rio dafür einsetzen, dass in einer neuen Governance-Struktur die Bereiche Wirt- schaft, Umwelt und Soziales besser vernetzt werden und eine wirkungsvolle Koordination der entsprechenden Arbeitseinheiten der Vereinten Nationen stattfindet. Ralph Lenkert (DIE LINKE): Nachhaltigkeit in Zei- ten der Kapitalkrise und enthemmter Finanzmärke, das ist nicht mehr als die Quadratur des Kreises. Die Bun- desregierung hat sich das Gleichgewicht von Mensch, Natur und Wirtschaft als Leitprinzip des politischen Handelns auf die Fahne geschrieben. Nachhaltigkeit soll 15462 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 (A) (C) (D)(B) – ich zitiere aus der Nachhaltigkeitsstrategie der Bundes- regierung – „die Erreichung von Generationengerechtig- keit, sozialem Zusammenhalt, Lebensqualität und Wahr- nehmung internationaler Verantwortung zum Ziel haben“. Leider lassen sich diese ehrenwerten Ziele nur schwer nachprüfen. Da kann auch der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwicklung wenig tun. Denn seine Messinstrumente sind stumpf. Bestes Beispiel ist der In- dikator „wirtschaftlicher Wohlstand“. Das weltweite Finanzvolumen ist in den letzten 25 Jahren um über 1 000 Prozent auf 140 Billionen US-Dollar gestiegen. Ein verschwindend geringer Teil der Weltbevölkerung, Manager und Vermögensverwalter, bewegen so viel Ka- pital wie nie in der Geschichte. Und die Kassen klingeln. In den letzen 20 Jahren ist der weltweite Handel mit Finanzderivaten um sage und schreibe 3 800 Prozent ge- wachsen – seit Beginn der Messung um jährlich ein Fünftel. Der Derivatenmarkt kommt heute auf über 610 Billionen Euro, also eine 61 mit – lassen Sie mich rechnen – 13 Nullen. Das Problem: Die Geldwirtschaft hat die weltweite Realwirtschaft im Verhältnis 17 : 1 längst abgehängt. Spekulation, Wettgeschäfte und Managergehälter gehen – auch hierzulande – noch zu oft vor Arbeit, Vertrauen und Arbeitsplätze. Taucht diese absurde Realität im Indi- katorenbericht auf? Fehlanzeige! Das Bundeskanzleramt gibt die Nachhaltigkeitsindi- katoren vor. Das Parlament muss damit zurechtkommen. Zur Messung wirtschaftlichen Wohlstandes dient allein das Bruttoinlandsprodukt. So zeigt der Indikatorenbe- richt 2010 denn auch – alle Jahre wieder – heiter Son- nenschein. Bei nachweislich steigender Armut von Kin- dern, Arbeitslosen, Niedriglohnjobbern und Rentnern wird ohne Scham vermeldet, das BIP pro Einwohner sei zwischen 1991 und 2009 preisbereinigt um 20 Prozent gestiegen! Was für ein Hohn! Fragen wir doch einmal die Menschen auf der Straße, was von den 20 Prozent in ihrem Geldbeutel angekommen ist! Wenn sich die Le- benswirklichkeit von Millionen von Bürgerinnen und Bürgern mangels ehrlicher Indikatoren nicht im Fort- schrittsbericht 2012 der Bundesregierung widerspiegelt, dann frage ich mich: Was für ein Fortschritt messen wir eigentlich?! In Deutschland klafft die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander. Im Sinne des erklärten Nachhaltigkeitsziels Sozialen-Zusammenhalt-Stärken muss endlich ein Maß gefunden werden, das diese ge- fährliche – ganz und gar nicht nachhaltige Entwicklung – wirklichkeitsgetreu abbildet. Warum machen wir es nicht wie die Vereinten Natio- nen? In ihrem jährlichen Weltbericht zur menschlichen Entwicklung wird soziale Ungleichheit nach Einkom- men und Geschlecht schon seit Jahren thematisiert. Die entsprechenden Indikatoren sind da, sie müssen nur an- gewendet werden. Aber der Bundesregierung fehlt der Wille fürs genaue Hinschauen. Kein Wunder! Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung rechnet vor: Seit den 1990er-Jah- ren gehen die niedrigsten Einkommen und höchsten Ein- kommen auseinander. Die Mittelschicht schrumpft. Von 2002 bis 2005 schrumpfte das Durchschnittseinkommen der Bürger um fast 5 Prozent. Bei den reichsten 10 Pro- zent aber stiegen die Einkünfte um 6 Prozentpunkte. Bei den Superreichen um 17 Prozent, die 650 reichsten Deutschen verbuchten 35 Prozent mehr, die 65 Reichs- ten sogar 53 Prozent mehr! Der Zusammenhang zwi- schen mehr Finanzwirtschaft, weniger Realwirtschaft und mehr sozialer Ungleichheit, die in Deutschland das höchste Niveau seit der Erhebung der Ungleichheits-Da- ten erreicht hat, liegt doch auf der Hand. Die Linke sagt darum: Soziale Ungleichheit darf kein Tabu mehr sein: Oder wollen sie Londoner Verhältnisse? Wir fordern darum einen Ungleichheitsindikator. Die Fi- nanzwirtschaft hat bereits einmal die Realwirtschaft an die Wand gefahren und die Gefahr besteht erneut. Nach- haltigkeit darf nicht zur hohlen Propagandaparole ver- kommen. Sie von der schwarz-gelben Regierung erin- nern uns Linke doch immer mal gerne an die DDR. Ich sage Ihnen: Lernen Sie von diesen Erfahrungen. Auch die DDR vermeldete nachhaltige Planerfüllung, bis zu- letzt. Das Ende ist ja hinlänglich bekannt. Also lassen Sie uns gemeinsam ehrliche Nachhaltig- keitskriterien finden und nutzen! Die Linke wird mit Ih- nen allen Lösungen suchen. Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Heute Morgen haben wir uns hier in diesem Hause er- neut mit der Stabilisierung des europäischen Finanz- marktes beschäftigen müssen – leider. Deutschland hat seinen Anteil am Gewährleistungs- rahmen deutlich auf 211 Milliarden Euro erhöht. Das sind zwei Drittel des Volumens eines jährlichen Bundes- haushalts. Ist das nachhaltig oder nicht? Darüber wird heftig gestritten. Wirklich wissen werden wir das erst, wenn alles wieder im Lot ist. Die Finanzkrise macht deutlich, dass wir um eine nachhaltige Wirtschaftsweise nun wirklich nicht mehr herumkommen. Wenn Schulden nicht ausreichend reale Werte gegenüberstehen, klappt das Kartenhaus aus Spe- kulationen zusammen. Aber es gibt durchaus Wege aus diesem Dickicht he- raus: Ein wesentlicher Baustein ist, dass der Nachhaltig- keit der Staatsfinanzen ausreichend Rechnung getragen wird. Davon sind wir bei der Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung und deren Fortschreibung, über die wir heute reden, noch weit entfernt. Darüber sind wir uns im Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwick- lung übrigens über alle hier im Bundestag vertretenen Fraktionen einig. Jetzt zur Nachhaltigkeit unseres Naturkapitals; denn wir reden heute auch über den interfraktionellen Antrag zur Konferenz für Umwelt und Entwicklung nächstes Jahr in Rio de Janeiro. Noch mitten in der Phase des ge- waltigen Wirtschaftswachstums nach den Weltkriegen, 1972, wurden wir auf die Grenzen des Wachstums – so lautete der Titel des Buches – aufmerksam gemacht. Manch einer erinnert sich noch an die autofreien Sonn- tage 1973 zu Zeiten der ersten Ölkrise. Das Phänomen der Verschwendung von Gütern, die nichts kosten, ist Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15463 (A) (C) (D)(B) schon lange in der Volkswirtschaftslehre bekannt. Sie werden externe Effekte genannt. Treibhausgase, Meeres- verschmutzung, die Zerschneidung von Landschaften und Lebensräumen und der damit einhergehende Verlust an Artenvielfalt zählen zum Beispiel dazu. Aber auch die Endlichkeit von Ressourcen bildet sich nicht wirk- lich im Marktpreis ab. Würden wir die Tiefseebohrungen verbieten, würde der Preis pro Barrel Öl in die Höhe schnellen, weit mehr als die Grünen dies jemals vorge- schlagen haben. Wir verhalten uns bislang so, als hätte die Erde keine Grenzen. Heute wissen wir alle, das wir uns hier geirrt haben. Vorgestern, am 27. September, fand der Earth Overshoot Day statt. Von Feiern können wir da wirklich nicht reden. Schließlich leben wir zulasten unserer nach- folgenden Generationen. Aber immer noch zögern wir, die notwendigen Maß- nahmen zu treffen. Woran liegt das? Gäbe es eine demo- kratisch legitimierte globale Regierung, eine Global Go- vernance, die Standards setzen würde, so würden sie für alle gelten. Wir haben sie nicht. Aber ohne kompetente Zuständigkeit auf globaler Ebene kommen wir nicht weiter. Wir sollten sie schaffen, zumindest im Umweltbe- reich, möglichst aber auch im Nachhaltigkeitsbereich, also auch in den Bereichen Ökonomie und Soziales. Das ist eine gemeinsam getragene Forderung im interfraktio- nellen Antrag, die wir der Bundesregierung mit auf den Weg geben zur Weiterentwicklung des Rio-Prozesses – für die Verhandlungen jetzt im Oktober auf europäischer Ebene und für die im Juni nächsten Jahres auf Ebene der Vereinten Nationen. Zudem benötigen wir einen regulatorischen Rahmen für die Wirtschaftsakteure. Freiwillige Selbstverpflich- tungen helfen nur, solange Gewinn gemacht wird. Wir brauchen mehr Verbindlichkeit. Was ist zu tun? Wir müssen auf der einen Seite um- weltschädliche Subventionen abbauen, auf der anderen Seite dafür sorgen, dass Zukunftstechnologien auf dem Markt eine Chance bekommen. Dazu brauchen wir ein politisches Instrumentarium, mit dem in die richtige Richtung gesteuert wird. Die Endlichkeit von fossilen Ressourcen, aber auch der Grad an Emissionen bei Ab- bau, Transport, Verarbeitung und auch der Wiederver- wertung müssen darin zum Ausdruck kommen. Preise müssen also die wahren Kosten widerspiegeln. Erst so schaffen wir die Basis für Effizienz und für echte zu- kunftsfähige Alternativen. Nehmen wir jetzt unsere Verantwortung wahr, han- deln wir und geben wir den weniger entwickelten Län- dern ein gutes Beispiel. Sonst setzen wir alles aufs Spiel, auch hier bei uns. Anlage 10 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: EU-Weißbuch Ver- kehr – Neuausrichtung der integrierten Ver- kehrspolitik in Deutschland und in der Europäi- schen Union nutzen (Tagesordnungspunkt 12) Veronika Bellmann (CDU/CSU): Am 28. März die- ses Jahres hat die Europäische Kommission ihr Weiß- buch „Fahrplan zu einem einheitlichen europäischen Verkehrsraum – Hin zu einem wettbewerbsorientierten und ressourcenschonenden Verkehrssystem“ vorgelegt. Hintergrund dieses Weißbuches ist, die verschiedenen Herausforderungen der Zukunft, wie zum Beispiel die Nachhaltigkeit und Sicherheit im Verkehr, aber auch die Weiterentwicklung des Binnenmarktes strategisch zu- sammenzufassen und einen Ausblick bis 2050 zu geben. Dabei legt die Europäische Kommission den Schwer- punkt eindeutig auf die Nachhaltigkeit im Verkehr und den Abbau der Abhängigkeit vom Rohstoff Öl. Das Weißbuch ergänzt damit die zur Umsetzung der europäi- schen Leitinitiative „Europa 2020“ notwendigen Initia- tiven im Energie- und Klimabereich. Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, das Weißbuch ist notwendig. Europa braucht eine einheitli- che und umfassende Strategie zur Sicherung einer nach- haltigen Mobilität. Auch hier gilt wieder eine Verknüp- fung von Ökologie und Ökonomie mit Augenmaß. Die individuellen und wirtschaftlichen Anforderun- gen an Mobilität bezüglich Wirtschaftswachstum und nachhaltigen Strukturen abzubilden ist eine Herausfor- derung für uns alle; denn Europa braucht gerade für ei- nen so herausragenden Bereich wie die Verkehrspolitik ein strategisches Konzept. Für uns alle persönlich stellt die Mobilität ein großes Stück Lebensqualität dar. Aber die Mobilitätsbranche, gerade im Industrieland Deutsch- land, ist auch eine innovative und leistungsstarke ökonomische Größe, die einen hohen Anteil am wirt- schaftlichen Wachstum und an der Schaffung von Ar- beitsplätzen in unserem Land hat. Vor diesem Hintergrund ist es umso wichtiger, das die zukünftige Verkehrsstrategie der Europäischen Union drei wesentliche Dinge vereint: Wir müssen unsere Mo- bilität erstens umwelt- und klimagerecht ausgestalten. Wir müssen zweitens darauf achten, dass die Mobilität der Zukunft den Bedürfnissen der Bürgerinnen und Bür- ger entspricht. Wir müssen drittens darauf achten, dass die Mobilität der Zukunft den wirtschaftlichen Wachs- tums- und Entwicklungszielen in Europa sinnvoll und nachhaltig gerecht wird. Nur wenn wir diese drei Grundelemente im Weißbuch vereinen, erreichen wir den Schutz unserer Natur, die Zufriedenheit der Bürgerinnen und Bürger sowie eine in- novations- und wachstumsstarke Mobilitätsbranche. Vor diesem Hintergrund darf ich Ihren Blick auf die Liste der 40 Initiativen, die dem Weißbuch anhängen, richten. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang auf einige Punkte eingehen. Als wichtigste Forderung, auch im Sinne der europäi- schen Integration, ist die Vollendung eines einheitlichen europäischen Verkehrsraums. Mit der Vollendung des einheitlichen europäischen Eisenbahnmarktes, dem Transeuropäischen Kernnetz oder dem Single European Sky liegen gute Vorschläge auf dem Tisch, die die fairen Wettbewerbsbedingungen und die Marktöffnungspro- 15464 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 (A) (C) (D)(B) zesse vorantreiben sowie die Zulassungsverfahren har- monisieren. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Förderung von Innovation und Nachhaltigkeit. Die Entwicklung und Einführung alternativer Antriebe mindert die Abhängig- keit vom Rohstoff Öl und trägt zur Minderung des CO2- Ausstoßes maßgeblich bei. Auch die Entwicklung und der verkehrsträgerübergreifende Einsatz von Informa- tions- und Kommunikationsmitteln mit dem Ziel einer verbesserten Verkehrssteuerung und -optimierung wird dazu beitragen. Lassen Sie mich als dritten und letzten Punkt die Finanzierbarkeit einer modernen Infrastruktur anführen. Wir müssen das Transeuropäische Kernnetz als ein euro- päisches Mobilitätsnetz ausbauen. Hierbei ist eine Schwerpunktsetzung nach dem Kosten-Nutzen-Prinzip notwendig, die einen europäischen Mehrwert bringt. Aufgrund der knappen finanziellen Möglichkeiten in- folge der Finanz- und Wirtschaftskrise und der daraus resultierenden Konsolidierung in vielen europäischen Ländern muss das Augenmerk auf der Auflösung von Engpässen sowie dem Ausbau vorhandener Kapazitäten gerichtet sein. Hierbei gilt es aber, das Subsidiaritäts- prinzip zu wahren. Auch in Zukunft muss die Infrastruk- turplanung in der Hoheit der Mitgliedstaaten bleiben. Nur durch die weitere Förderung der Komodalität ist es möglich, die Verkehrsträger in sogenannten multimo- dalen Personen- und Güterverkehrskorridoren so zu ver- binden, dass die angepeilten Klimaschutzziele erreicht werden und auch eine Akzeptanz bei der Bevölkerung erreicht wird. Zudem muss die Infrastruktur bezahlbar sein, auch für die Nutzer. Vor diesem Hintergrund erscheint es mir sinnvoll zu prüfen, wie neue Finanzierungsmodelle die bestehenden sinnvoll ergänzen. So muss die Internalisie- rung der externen Kosten alle Verkehrsträger gleicher- maßen betreffen. Auch der Vorschlag der Europäischen Kommission zur Einführung sogenannter Projektanlei- hen oder ÖPP-Modelle ist zu prüfen. Wichtig erscheint es mir allerdings, dass durch solche Modelle keine Schattenhaushalte aufgebaut werden. Insofern erscheint mir bei den Projektanleihen eine Absicherung über die Europäische Investitionsbank als sinnvoll. Leider finden sich die von mir angesprochenen Punkte – es gibt noch eine ganze Reihe weiterer Ansätze – nur unzureichend in der Programmatik des Weißbuchs. Aus diesem Grund werden wir demnächst einen Koalitions- antrag vorlegen, mit dem wir aufzeigen werden, mit wel- chen Justierungen das Weißbuch zu einem Erfolgsbuch in Europa wird. Meine sehr verehrten Damen und Herren der SPD. Ih- ren heutigen Antrag werden wir ablehnen. Wir lehnen ihn aus zwei Gründen ab. Erstens wollen Sie, dass der Bundestag beschließt, dass die unstrittigen Ziele des Weißbuchs durch noch mehr Regulierung erreicht wer- den. Zweitens fehlt nach unserer Auffassung in Ihrem Antrag das klare Bekenntnis zu einem detaillierten Ge- samtfahrplan, den der derzeitige Entwurf des Weißbuchs nicht hergibt. Einzig die Erreichung der Klimaschutz- ziele ist hier berücksichtigt und auf die verschiedenen Verkehrsträger umgelegt. Alles in allem ist Ihr Antrag eine Aufzählung von All- gemeinplätzen, eine Art Wünsch-dir-was-Katalog. Da, wo Sie ins Detail gehen, muss man sich schon fragen, ob das denn tatsächlich europäisch geregelt werden muss, so zum Beispiel die Behandlung von Kundenbeschwer- den im ÖPNV oder die Verpflichtung der Fahrradmit- nahme im Schienenverkehr. Dies wird meiner Ansicht nach dem Ziel einer nachhaltigen, dem Bedürfnis der Bürger angemessenen und ökonomisch sinnvollen Mo- bilität und der nachhaltigen Entwicklung der europäi- schen Verkehrswirtschaft nicht gerecht. Deshalb wäre es falsch, würde ich Sie für Ihren An- trag loben. Daran dürfte Ihnen auch gar nicht gelegen sein; denn wer mit falschem Lob motiviert, wird die fal- schen Motive wecken. Karl Holmeier (CDU/CSU): Das Weißbuch Verkehr, das die EU-Kommission den Mitgliedstaaten vorgestellt hat, kann in seiner Bedeutung gar nicht hoch genug ein- geschätzt werden. Es soll uns eine strategische Richtung für die europäische Verkehrspolitik bis zum Jahr 2050 vorgeben. Es ist daher außerordentlich wichtig, dass sich der Deutsche Bundestag intensiv mit diesem sowohl zeitlich als auch inhaltlich weitreichenden Thema be- fasst. Ich freue mich daher auch, dass die Kollegen von der SPD dieses wichtige Thema aufgegriffen haben. Aller- dings hätten sie sich vielleicht besser etwas mehr Zeit mit ihrem Antrag lassen sollen. Schnelligkeit ist bei die- sem Thema keineswegs der richtige Weg. Der Antrag der SPD enthält durchaus wichtige und aus meiner Sicht auch richtige Aspekte. Er lässt mich aber an einigen Stellen auch einfach nur den Kopf schütteln. So gibt es nicht nur Widersprüche, sondern es fehlen auch wichtige Aspekte, die letztlich für uns alle weitreichende Konse- quenzen haben. Der Vorschlag der EU-Kommission, die Treibhaus- gasemissionen im Verkehrsbereich bis 2050 um 60 Pro- zent zu reduzieren, ist meiner Ansicht nach schon mehr als nur ambitioniert. Man sollte diesen Wert daher allen- falls als Orientierungsrahmen sehen und die Realität nicht aus den Augen verlieren. Hier noch draufzusatteln und eine noch ambitioniertere Ausgestaltung der CO2- Reduzierung zu fordern, ist schlichtweg unseriös. Offen- bar hat die SPD-Fraktion nichts aus der gescheiterten Lissabon-Strategie gelernt. Auf der anderen Seite fordern die Oppositionskolle- gen – übrigens sehr richtig –, dass Mobilität für die Bür- gerinnen und Bürger auch bezahlbar bleibt. Diese Aus- sage teile ich uneingeschränkt. Ich frage mich nur, wie Sie das mit Ihren utopischen Klimaforderungen in Ein- klang bringen wollen. Wie wollen Sie diesen Zielkon- flikt auflösen? Vielleicht muss man in der Opposition keine Antwort darauf haben, verantwortungsvolle Poli- tik sieht allerdings meiner Ansicht nach anders aus. Den Vorschlag der Kommission, bis 2050 im Stadt- verkehr auf solche Pkw zu verzichten, die mit konven- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15465 (A) (C) (D)(B) tionellem Kraftstoff betrieben werden, nimmt der SPD- Antrag nur zur Kenntnis, ohne inhaltlich dazu Stellung zu beziehen. Hier muss man doch ganz klar sagen: Eine vollständige und undifferenzierte Verbannung von Ver- brennungsmotoren darf es nicht geben! Es kann doch nicht zielführend sein, bestimmte Technologien von vornherein auszuschließen, ohne zu wissen, welche tech- nologischen Möglichkeiten es dazu in 40 Jahren gibt. Die CSU/CSU-Fraktion bekennt sich hier eindeutig zur Technologieoffenheit und wird das auch ausdrücklich gegenüber der EU-Kommission klarmachen. Unsere Position ist es, zu sagen, wir wollen Mobilität ermöglichen und sie nicht einschränken. Dieser Ansatz findet sich genauso im Vorschlag der EU-Kommission wieder und auch der SPD-Antrag begrüßt diesen Ansatz. Wer allerdings ernsthaft gewillt ist, Mobilität nicht ein- zuschränken, sondern zu ermöglichen, darf auch nicht von vornherein einen bestimmten Verkehrsträger aus- schließen. Er darf auch nicht einen bestimmten Ver- kehrsträger bevorzugen. Jeder Verkehrsträger hat seine Stärken und Vorteile. Daher muss auch jeder Verkehrs- träger entsprechend dieser Stärken eingesetzt werden, um das Verkehrsaufkommen optimal bewältigen und bestmögliche Mobilität gewährleisten zu können. Eine dirigistische und pauschale Verlagerungspolitik wird dem nicht gerecht. Unser Ziel ist es daher, die einzelnen Verkehrsträger richtig und intelligent miteinander zu verknüpfen. Verla- gerung sollte es nur dort geben, wo es auch sinnvoll ist. Alles andere ist kontraproduktiv, schränkt Mobilität ein und verringert die Akzeptanz der Nutzer. Meine Ausführungen zeigen, welche Dimension das Weißbuch Verkehr hat und wie wichtig eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Thema ist. Die SPD-Frak- tion lässt diese Ernsthaftigkeit leider vermissen. Ich kann daher nur dringend dazu raten, den hier zur Debatte stehenden Antrag abzulehnen. Michael Groß (SPD): Europa muss zu einem Ver- kehrsraum zusammenwachsen, um Mobilität klimascho- nend, sicher, bezahlbar, mit hoher Qualität und sozialen Standards sicherstellen zu können. Europa muss auf der Straße, Schiene, Wasserstraße und im Luftverkehr zu- sammenwachsen. Dafür brauchen wir gemeinsame Ziele, ein abgestimmtes Mobilitätsverständnis, kompa- tible Konzepte und gemeinsame Strategien. Zehn Ziele und 40 Initiativen für einen einheitlichen europäischen Verkehrsraum, weg von der Ölabhängig- keit, hin zu 60 Prozent Emissionseinsparung und um- weltverträglicheren Verkehren bei mindestens gleichblei- bender Wirtschaftskraft und wachsenden Verkehren – die kürzeste Umschreibung des Europäischen Weißbuches und des damit verbundenen umfassenden Prozesses im europäischen Verkehr. Der Grund des umfassenden neuen „Fahrplans zu ei- nem einheitlichen europäischen Verkehrsraum – hin zu einem wettbewerbsorientierten und ressourcenschonen- den Verkehrssystem“ liegt auf der Hand. Die Analyse zur Halbzeitbilanz zum Weißbuch Verkehr der EU legt offen, dass die Treibhausgasemissionen im Verkehr trotz technischer Weiterentwicklungen, erhöhter Verkehrssi- cherheit, Verkehrslenkung, verbesserter Kraftstoffe und alternativer Antriebe stetig steigt. Ein Grund sind die enormen Verkehrszuwächse, die global agierender Wirt- schaft und global agierendem Handel geschuldet sind. Um die ambitionierten Klimaschutzziele der 20-20-20- Strategie der Mitgliedstaaten zu erreichen, sind ein grundlegender Strukturwandel und ein generelles Um- denken nötig. Die Idee der verkehrsträgerübergreifenden Mobili- tätsplanung und die Entwicklung eines hocheffizienten und dabei benutzerfreundlichen Kernnetzes ist sehr zu begrüßen. Die Bundesregierung sollte die Chance mit dem neuen Bundesverkehrswegeplan nach 2015 nutzen, um sich aktiv in die europäischen Strategien und Mobili- tätskonzepte mit ihren Vorstellungen und Anforderungen von einem bundesweiten Verkehrsnetz im europäischen Kontext einzubringen. Mit einer alleinigen Fortschrei- bung des bestehenden Bundesverkehrswegeplanes wird es nicht getan sein. Hier sind klare Prioritätensetzungen auf Grundlage einer bundesweiten verkehrsträgerüber- greifenden Netzstrategie erforderlich. Die Schaffung eines einheitlichen Luft-, Schifffahrts- und Eisenbahnverkehrsraumes, die Möglichkeit der fle- xibleren Nutzung, aber auch die Vereinfachung des In- formationszugangs und Ticketerwerbs ist überaus posi- tiv, und zwar nicht nur für den einzelnen Verbraucher, sondern gerade auch für die Wirtschaftsunternehmen des europäischen und internationalen Marktes. Mit der Anpassung der Systeme, beispielsweise zwi- schen west-, mittel- und osteuropäischer Verkehrsinfra- struktur, liegt noch viel Arbeit vor uns. Ich habe gelernt, dass die Deutsche Bahn im bisherigen System zum Bei- spiel nicht mit genügend IC-Zug-Anhängern nach Schip- hol fahren kann, da unterschiedliche technische Voraus- setzungen, Bahnhofslängen und Ausstiegsmöglichkeiten Hindernisse darstellen. Wir unterliegen in den einzelnen Mitgliedstaaten unabgestimmten Planungskonzepten und sogar unterschiedlichen Spurbreiten. Der Hand- lungs- und Abstimmungsbedarf liegt hier klar auf der Hand. Aber gerade auch bei der Einführung neuer und regenerativer Antriebsformen, den damit verbundenen zukünftigen Tank- und Ladestationen wird eine europa- weite Harmonisierung und Abstimmung notwendig sein, damit mein alternativ betriebenes Mobil nicht nur in Recklinghausen starten, sondern auch in Brüssel nachla- den kann. Hier kann ich nur an die Bundesregierung appellieren, den Zug im wahrsten Sinne des Wortes nicht abfahren zu lassen, den die EU-Kommission hier in Gang setzt. Die Personen- und Güterverkehre des europäischen Raumes sollen verstärkt auf die klimafreundlichere Schiene ge- bracht werden. Strecken ab 300 Kilometer sollen zu- künftig über die Verkehrsträger Schiene und Wasser- straße abgewickelt werden. Hierfür müssen wir unsere Schiene ertüchtigen, und europäische Verbindungslinien wie beispielsweise die Betuwe-Linie zügig voranbrin- gen. Die TEN-V-Projekte sind Teil des bestehenden Bundesverkehrswegeplanes. Die Hauptlast der Finanzie- 15466 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 (A) (C) (D)(B) rung von TEN-V 2007 bis 2013 liegt bei den jeweiligen Mitgliedstaaten. Wir haben unsere Projekte noch lange nicht abgearbeitet. Dies gilt ebenso für die Wasserstraßen und ihre Schleusensysteme. Ob die derzeitige Reform der Was- ser- und Schifffahrtsverwaltungen zu einem integrierten europäischen Wasserstraßenkonzept beitragen kann, wage ich zu bezweifeln. Wir müssen von Haustür zu Haustür denken und Mo- bilität anbieten. In Ballungsräumen wie dem Ruhrgebiet fehlen bedarfsgerechte öffentliche Nahverkehrsange- bote. Lange Anreisen, häufige Umstiege mit langen Wartezeiten lassen die Bürger den Pkw bevorzugen. Hier sind wir meilenweit entfernt von den CO2-freien inner- städtischen Verkehren in Ballungszentren bis 2050. Pro- jekte wie der RRX in NRW müssen jetzt umgesetzt wer- den, wenn wir die ambitionierten Ziele erreichen wollen. Die Straßen füllen sich. Laut Pressemeldungen der letzten Tage stieg allein die Zahl der Neuzulassungen für Nutzfahrzeuge um 15,7 Prozent in der Europäischen Union. Deutschland wird davon als Transitland unmittel- bar betroffen sein. Der Verkehrsetat ist gnadenlos unter- finanziert. Bereits aus dem letzten Investitionsrahmen- plan wurden 213 Maßnahmen nicht abgearbeitet. Allein für den Bereich der Straße wird der Erhaltungsbedarf nur zu etwa zwei Drittel finanziert, Aus- und Neubau nur zur Hälfte. Mit circa 130 Euro pro Einwohner Investitionen in das Straßennetz liegt Deutschland auf den hintersten Plätzen im europäischen Vergleich – Tendenz sinkend. Der Bundesverkehrsminister selbst fordert 14 Milliar- den vom Finanzminister, um die nötigen Verkehrspro- jekte aus dem Bundesverkehrswegeplan umzusetzen. Bereits jetzt kann sich der Verkehrsminister nach eige- nen Aussagen durch die Mittelbindung der laufenden Vorhaben in den nächsten Jahren grundsätzlich keine Neubeginne erlauben. Mit dem Ruf nach mehr Finanz- mitteln schiebt der Verkehrsminister die Verantwortung an den Finanzminister ab oder ruft nach der Pkw-Maut. Ich persönlich halte sie, aber auch viele Fachleute halten sie aktuell für den falschen Weg. Die Pkw-Maut stellt eine zusätzliche Belastung der Autofahrer dar, ohne dem Einzelnen dabei alternative Verkehrslösungen anzubie- ten. Gerade in den ländlichen Räumen der Europäischen Union sind viele Menschen auf das Auto angewiesen. Außerdem bieten die zurzeit angedachten und favorisier- ten Modelle zu einer Pkw-Maut keine Steuerungs- möglichkeit. Die Vignette löst weder Probleme der Verkehrslenkung noch trägt sie zur Verbesserung des Klimaschutzes bei. Der Bundesregierung fehlen bisher klare Mobilitäts- konzepte. Das fängt, wie von der EU-Kommission ge- fordert, mit der Priorisierung eines Kernnetzes, und zwar auch eines bundesweiten Kernnetzes im Rahmen eines Mobilitätskonzeptes an. Aber auch die EU-Kommission bleibt die Antwort zur Finanzierungsfrage des Strukturwandels in weiten Teilen schuldig. Für den Ausbau der Infrastruktur wer- den bis 2030 allein 1,5 Billionen Euro veranschlagt. Der Mittelbedarf bei der Umsetzung der Ziele des EU-Weiß- buches für Verkehr wird bis auf 90 Milliarden Euro pro Jahr geschätzt. Nach dem Weißbuch soll dies durch den EU-Haushalt, die nationalen Haushalte und den Nutzer finanziert werden. Hier ist die Bundesregierung aufge- fordert, bei der EU-Kommission nachzuhaken. Die Klä- rung der Finanzierung wird eine der zentralen Fragen für das Gelingen des Strukturwandels sein. Die von der Kommission angestrebte verpflichtende Prüfung der Finanzierung über sogenannte Public-Pri- vate-Partnerships, PPP, für jedes Vorhaben muss schon im Sinne der Bürokratievermeidung abgelehnt werden. Eine Finanzierung über PPP muss unter den Vorbehalt der Vorteilhaftigkeit für die öffentliche Hand – also die Bürger und Bürgerinnen – gestellt werden. Notwendig ist eine wissenschaftlich fundierte Auswertung aller bis- herigen PPP-Projekte. Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt ausdrücklich, dass die EU-Kommission mit ihren Vorschlägen auf den Dreiklang von nachhaltiger, sozialer und wirtschaftlicher Verkehrspolitik in einem grundlegenden Strukturwandel setzt. Die im Weißbuch vorgeschlagenen Sozialdialoge reichen jedoch nicht aus, um die Fragen und die Durch- setzung der Mitbestimmung, der Mindestlöhne usw. zu lösen. Wir müssen soziale Standards auf hohem Niveau europaweit sichern. Keine Frage, Europa braucht wirtschaftliches Wachs- tum, nachhaltiges Wachstum, um Arbeitsplätze zu si- chern und zu schaffen. Nachhaltigkeit bedeutet das Zu- sammenspiel von Umwelt und Klimaschutz, sozialen Standards, sozialer Absicherung sowie wirtschaftlichem Erfolg und Vernunft. Die zentrale Frage wird zu klären sein: Welches Wachstum wollen wir vor diesem Hinter- grund akzeptieren? Muss demnächst etwas über den See- weg nach Wilhelmshaven oder Rotterdam transportiert und dort gelöscht werden, um in Italien dem Kunden an- geboten zu werden? Eine Tütensuppe, so wurde mir er- klärt, enthält 70 Inhaltsstoffe, reist mehr als einmal um den Globus und kostet den Verbraucher 80 Cent. Für die Umsetzung eines funktionierenden europäi- schen Verkehrsnetzes ist eine europaweite Abstimmung mit nationaler und europäischer Prioritätensetzung not- wendig. Hierfür sind zielorientierte Qualitätskriterien als Entscheidungskriterien zu definieren, die nicht in erster Linie Reisezeitverkürzungen und Hochgeschwindigkeits- korridore priorisieren, sondern Zuverlässigkeit, Planbar- keit, kurze Fahrplantakte, Vermeidung von Staus und Überlastung, und dabei Sicherheit, Bezahlbarkeit, Zu- gänglichkeit, Barrierefreiheit und Mindestservicestan- dards in den Vordergrund stellen. Europa wächst zusammen und wir müssen intelligent und finanzierbar mithilfe von Infrastruktur eine Mobili- tät der Zukunft schaffen. Oliver Luksic (FDP): Wenn wir heute über das Weißbuch Verkehr der Europäischen Kommission disku- tieren, dann diskutieren wir meiner Ansicht nach über ei- nen der fast wichtigsten Bereiche des vereinten Europas. Denn Mobilität macht im Alltag für den Bürger die Vor- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15467 (A) (C) (D)(B) teile eines freien Europas deutlich und ganz praktisch – und regelrecht im Wortsinne – erfahrbar. Wir begrüßen es daher, dass die Kommission im März nach langen Debatten im Vorfeld endlich ihr Weißbuch zu ihren Vorstellungen zur Zukunft der Mobilität in Eu- ropa veröffentlicht hat. Ebenso empfinde ich es also sehr positiv, dass gleich vier Bundestagsfraktionen Anträge zum Weißbuch vorgelegt haben bzw. bald vorlegen wer- den. Deutschland hat gerade als Transitland eine wichtige Funktion innerhalb des europäischen Verkehrssystems; daher sollten wir uns auch intensiv an den Debatten in Brüssel beteiligen – und das so frühzeitig wie möglich. Daher freue ich mich auch besonders über positive Aspekte, die sich im Weißbuch finden: etwa den Aspekt, dass Verkehrskommissar Kallas betont hat, dass die Aus- sage „Die Einschränkung von Mobilität ist keine Op- tion.“ für ihn den Kernsatz im Weißbuch darstellt. Das unterstützen wir ausdrücklich. Ebenso zu begrüßen ist das klare Bekenntnis, dass sich neue Verkehrskonzepte dem Bürger nicht aufzwingen lassen. Ganz richtig! Nur die Akzeptanz durch den Bürger und die Wirtschaft kann gewährleisten, dass Mobilitätskonzepte in der Praxis wirken. Wir müssen wegkommen von ideologisch motivierter Verkehrspolitik, die die Bürgerinnen und Bürger umer- ziehen will. Lassen Sie uns die ewigen Eingriffe der Politik in Richtung dieses oder jenen Verkehrsträgers be- enden und die Bürger und die Wirtschaft entscheiden, wie sie sich bewegen und wie sie ihre Waren von A nach B transportieren möchten! Auch dass das Weißbuch sich über alternative Finan- zierungskonzepte wie ÖPP und Projektanleihen Gedan- ken macht, halte ich angesichts der Finanzierungs- schwierigkeiten der öffentlichen Hand für dringend geboten. Denn ohne eine verlässliche Finanzierungs- grundlage können wir uns hier die schönsten Wunsch- zettelprojekte ausdenken – aber auf die Umsetzung in die Praxis kommt es an. Aber ich will auch nicht verhehlen, dass wir bei vie- len Punkten des Weißbuches Bauchschmerzen haben. Denn der zentrale Satz, dass die Einschränkung von Mo- bilität keine Option ist, zieht sich nicht so als roter Faden durch das Weißbuch, wie wir uns das wünschen würden. Dafür finden wir zu viel Dirigismus im Weißbuch, etwa das vielzitierte Ziel, dass bis 2050 konventionell betrie- bene Fahrzeuge aus den Innenstädten verschwinden sol- len. Ganz grundsätzlich wird Verkehr zu negativ und vor allem als CO2-Emittent betrachtet. Dabei hatte Kommis- sar Kallas in seiner Anhörung noch betont, dass Verkehr nicht nur CO2-Reduzierung ist. Dafür widmet sich das Weißbuch zu wenig den zahl- reichen anderen Herausforderungen des Verkehrsbe- reichs wie dem massiven Anstieg der Verkehrsströme in den kommenden Jahren und seiner Bewältigung und den Schwierigkeiten der Speditions- und Logistikbranche Auch fällt das Bekenntnis zur Komodalität unserer Ansicht nach nicht klar genug aus. Der Begriff wird zwar verwendet, allerdings lassen doch einige Vor- schläge der Kommission, etwa die quantitativen Verla- gerungsziele, eher an Modalshift als an eine faire Komo- dalität denken. Für uns ist klar: Wir werden in allen verkehrspoliti- schen Diskussionen der nächsten Jahre streng auf die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips achten. Das gilt etwa ganz konkret für das Thema Verkehrsrecht. Ob in Städten Tempo 30 herrschen sollte oder nicht, wird am besten vor Ort und nicht in Brüssel entschieden. Einige Sätze zum SPD-Antrag: Der Antrag hat unse- rer Ansicht nach richtige Ansätze, er versucht allerdings einen Spagat, der nicht gelingt. Positiv zu erwähnen sind die Bekenntnisse zur Stär- kung der Wettbewerbsfähigkeit der Verkehrswirtschaft und zur Achtung des Subsidiaritätsprinzips. Bei dem Ziel einer bezahlbaren Mobilität für alle sind wir uns ebenfalls selbstverständlich einig. Dass Sie sich allerdings gegen innovative Finanzie- rungsinstrumente wie ÖPP und Projektbonds ausspre- chen, halte ich angesichts der Finanzierungsschwierig- keiten im Infrastrukturbereich für völlig unangebracht. Wieso Mindestlöhne die Lösung für die Probleme im Verkehrssektor sein sollen, erschließt sich mir auch nicht. Für fatal halte ich, dass Sie sich in Ihrem Antrag wei- terhin gegen Trennung von Netz und Betrieb im Schie- nenverkehr aussprechen, ausgerechnet in einem Antrag zur europäischen Verkehrspolitik, wo doch auch im Weißbuch die strukturelle Trennung zwischen Infra- strukturbetreiber und Dienstleister empfohlen wird und derzeit schon ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik läuft. Lassen Sie uns also in der Debatte über den Antrag der Koalitionsfraktionen zum Weißbuch Verkehr noch einmal intensiv über die zustimmungs-, aber auch über die kritikwürdigen Punkte sprechen! Ihr Antrag enthält einige richtige Ansätze, aber auch vieles, dem wir nicht zustimmen können. Sabine Leidig (DIE LINKE): Verkürzte Analyse, ambitionierte Ziele, unzureichende Maßnahmen und im grundlegenden Widerspruch zur Fixierung auf Wachs- tum und Wettbewerb in Europa – so könnte man das Weißbuch Verkehr der EU-Kommission zusammenfas- sen. Zur Analyse: Die weltweite Ölförderung geht zurück. Die Konflikte darum nehmen zu. Der Ölpreis wird stei- gen. Die Treibhausgasemissionen müssen drastisch re- duziert werden, um die Klimaschutzziele zu erreichen. Beides weiß mittlerweile jedes Kind; in Sonntagsreden ist es immer wieder Thema. Aber im Verkehrssektor hat es seit 1990 einen erheblichen Anstieg der CO2-Emissio- nen gegeben, und zwar um über 30 Prozent. Schaut man sich aber die Verkehrsplanung der Bundesregierung an, 15468 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 (A) (C) (D)(B) dann sieht es so aus, als wäre ein Weiter-so möglich. Die EU-Kommission dagegen formuliert hehre Ziele. Bis 2050 soll der der CO2-Ausstoß im Verkehr um rund 70 Prozent reduziert werden. Selbst dieses Ziel ist nicht ausreichend, weil dann allein der Verkehrssektor noch mehr CO2 emittieren würde als die angestrebte Ge- samtemission. Dass die SPD eine Überprüfung und ge- gebenenfalls Absenkung dieses Ziels fordert, ist ein schwaches Bild. Aber richtig ist: Selbst dieses Ziel ist ambitioniert und erfordert – wie es die Kommission schreibt – einen grundlegenden Strukturwandel im Ver- kehrssektor. Die Analyse des Weißbuchs geht jedoch nicht in die Tiefe: Während Zahlen das angeblich weiter- hin notwendige Wachstum belegen sollen, fehlen wich- tige Fakten zu den Umwelt- und Sozialauswirkungen. Ohne eingehende Analyse der bestehenden Infrastruktur, der Auswirkungen des gegenwärtigen Verkehrs und der herrschenden verkehrspolitischen Ansätze kann aber keine Zukunftsstrategie erarbeitet werden. So sind dann auch die vorgeschlagenen Maßnahmen unzureichend. Dies kommt schon im Zwischenziel zum Ausdruck: Reduktion bis 2030 – also etwa zur Halbzeit bis 2050 – um lediglich 20 Prozent gegenüber 2008. Da- mit lägen die Emissionen dann immer noch über dem Niveau von 1990. Natürlich, ein grundlegender Struktur- wandel braucht Zeit, gerade wenn man die Bürgerinnen und Bürger mitnehmen will. Aber dieses Zwischenziel ist vor allem der Strategie geschuldet, auf noch zu entwi- ckelnde Technologien zu setzen. Das ist aber sehr ge- fährlich. Gefährlich ist zudem, die Notwendigkeit einer Verkehrsreduktion auszublenden. Bei gleichzeitiger Fi- xierung auf Wachstum und Wettbewerb als Ziele an sich lassen sich die Probleme nicht lösen. Leider bleibt auch der Antrag der SPD dieser Ideologie verhaftet. Verkehrsvermeidung muss nicht weniger Mobilität für die Menschen bedeuten. Im Gegenteil: Es kann mit mehr Lebensqualität verbunden sein. Dieses setzt aber eine andere Intelligenz voraus, als sie im Weißbuch, be- zogen auf intelligente Verkehrsmanagementtechnolo- gien, anvisiert ist. Wir müssen die Gesamtwirtschaft, Stadtplanung und die Bedürfnisse der Menschen zusam- mendenken. Welche Transporte sind notwendig? Welche Orte wollen die Menschen erreichen? Wie können die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen verbes- sert werden? Das sind die ersten Fragen, die zu stellen sind. Wenn Verkehrspolitik sich nur der Aufgabe stellt, Verkehrsströme besser zu lenken und Fahrzeuge effi- zienter zu machen, wird ein grundlegender Strukturwan- del nicht gelingen. Trotz dieser strukturellen Unzulänglichkeit enthält das Weißbuch positive Ansätze. Einige sind längst über- fällig, die unabhängig vom europäischen Harmonisie- rungsprozess von der Bundesregierung schnellstens um- gesetzt werden sollten. Dazu zählt: Lückenschluss und Ausbau vor Neubau. In diese Richtung hat sich ja nun auch Herr Ramsauer geäußert – es müssen aber noch Ta- ten folgen. Internalisierung der externen Kosten: Hier geht es um die Berücksichtigung der gesellschaftlichen Kosten von Investitionen, von Lärm und Abgasen sowie von Stau und Unfällen bei der Ausgestaltung der Steuern und Abgaben. Die Sonderstellung von Firmenwagen so- wie die Freistellung des See- und Luftverkehrs von Mehrwert- und Energiesteuern ist hier eine der eklatan- testen Schieflagen. Bei der Verkehrssicherheit die Orien- tierung an der „Vision Zero“ – keine Todesfälle im Ver- kehr. Die soziale Dimension des Verkehrssektors stärken und die Arbeitsbedingungen attraktiver gestalten. Wenn dann aber die verpflichtende Ausschreibung für alle öffentlichen Dienstleistungen und die Abschaffung der Lotsenpflicht gefordert wird, kommt wieder die neo- liberale Ideologie zum Ausdruck. Mehr Sicherheit, bes- sere Arbeitsbedingungen und ein höherer ökologischer Standard sind damit nicht zu erreichen. Zu Recht mahnt die SPD die stiefmütterliche Behand- lung des nicht motorisierten Verkehrs an. Fuß- und Rad- verkehr müssen zusammen mit dem ÖPNV in Zukunft den Hauptteil des städtischen Verkehrs ausmachen. Fazit: Wir müssen so schnell wie möglich weg vom Öl und runter mit den Treibhausgasemissionen. Dafür brauchen wir eine andere Infrastruktur, für die wir heute den Grundstein legen müssen. Den notwendigen grund- legenden Strukturwandel können wir daher nicht weiter in die Zukunft verschieben. Und: Wir müssen das reine Verkehrsmanagement verlassen und zuerst die grundle- genden Fragen stellen: Welche Transporte sind notwen- dig? Welche Mobilitätsbedürfnisse haben die Men- schen? In diesem Sinne ist das Weißbuch völlig unzu- reichend – und leider auch der Antrag der SPD. Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das im März dieses Jahres von der EU-Kommission vor- gelegte Weißbuch Verkehr ist grundsätzlich zu begrüßen. Es wurde Zeit, dass öffentlich anerkannt wird, wie nötig wir eine Trendwende in der Verkehrspolitik brauchen, um insbesondere die enorme Ölabhängigkeit dieses Sek- tors zu verringern und natürlich unsere Klimaschutzziele zu realisieren. Dafür braucht es klare CO2-Minderungs- ziele, ein Bündel an konkreten Maßnahmen und natür- lich einen realistischen festgeschriebenen Zeitplan. Was die Ziele betrifft, hat die Kommission mit dem Weißbuch bewiesen, dass sie grundsätzlich weiter denkt, als es hier die Bundesregierung tut. So wird im Weiß- buch – anders als in der Koalitionsvereinbarung von Schwarz-Gelb – ein konkretes CO2-Reduktionsziel für den Verkehrssektor genannt. Bis 2050 soll eine Minde- rung um 60 Prozent gegenüber 1990 erreicht werden. Das Streben nach einem umweltfreundlicheren EU-Ver- kehrssektor wird damit festgeschrieben. Nun sollte sich endlich auch die Bundesregierung öf- fentlich zu dieser Notwendigkeit einer neuen Verkehrs- politik bekennen und den Worten dann auch Taten fol- gen lassen. Bisher haben wir hiervon leider nichts gesehen. Oder möchte uns hier jemand weismachen, dass das Werben für eine drastische Mittelerhöhung zum Straßenneubau – womöglich finanziert über eine Pkw- Maut – und weiterhin eine Priorisierung des Autover- kehrs nach innovativen, nachhaltigen, umweltschonen- den Mobilitätskonzepten klingt? Wohl kaum! Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15469 (A) (C) (D)(B) Auch was die Maßnahmen betrifft, wird in dem Weiß- buch zumindest ein künftiger Rahmen abgesteckt, hinter dem die Bundesregierung derzeit deutlich hinterher- hinkt. Wir freuen uns deshalb umso mehr, dass auf euro- päischer Ebene deutlich gemacht wird, wie zentral die Verlagerung des Straßenverkehrs auf die Schiene ist, dass alle externen Kosten im Verkehrsbereich internali- siert werden müssen und dass dazu beispielsweise die Lkw-Maut sukzessive auf alle Straßen und alle Fahr- zeuge ab 3,5 Tonnen ausgeweitet werden muss. Auch das Ziel von emissionsfreien Städten sowie der Aufhe- bung von Wettbewerbsverzerrungen durch die ungleiche Besteuerung von Verkehrsmitteln wird in dem Weißbuch genannt und ist selbstverständlich als Aufforderung an die nationalen Regierungen zu verstehen. Ich fordere die Bundesregierung daher auf, diesen europäischen Vorga- ben zu folgen und die nötigen Weichen für eine Trend- wende in der Verkehrspolitik zu stellen. Jetzt wäre die Zeit, endlich das seit Januar letzten Jah- res angekündigte Energie- und Klimakonzept für den Bereich Verkehr vorzulegen. Jetzt sollte eine Strategie vorgelegt werden, mit der die Ölabhängigkeit entschie- den reduziert werden kann, und jetzt sollte ein Aktions- plan erarbeitet werden, der die langfristige Finanzierung des öffentlichen Personennahverkehrs sichert. Auch sollte man nicht nur auf Effizienzsteigerungen durch technische Innovationen hoffen, sondern sich auch trauen, über sinnvolle Verkehrsvermeidung nachzuden- ken. All das lässt schon viel zu lange auf sich warten. Was den Zeitplan des EU-Weißbuchs Verkehr betrifft, muss allerdings festgestellt werden, dass man sich trotz aller großen Worte und ambitionierteren Ziele noch ein- mal zurücklehnt und die Herausforderung auf morgen und übermorgen verschiebt. So begnügt sich die Kom- mission bis 2030 mit klitzekleinen Schritten von jährlich 1 Prozent, um bis dahin gegenüber 2008 lediglich 20 Prozent Treibhausgasemissionen einzusparen. Nach diesem Plan lägen wir in gut 18 Jahren immer noch 8 Prozent über dem Niveau von 1990. Es kann aber doch nicht sein, dass wir uns jetzt noch Bequemlichkeit erlau- ben, während dann künftige Generationen Wunder zu vollbringen haben. Denn ab 2030 sollen plötzlich Rie- senschritte folgen, um bis 2050 eine Minderung um min- destens 60 Prozent gegenüber 1990 zu erreichen. Selbst wenn dies gelänge, wären die Anstrengungen nicht mit dem selbstgesteckten EU-Ziel einer gesamtwirtschaftli- chen Minderung um 80 bis 95 Prozent bis 2050 verein- bar. Angesichts dieses Missverhältnisses fordere ich die Bundesregierung auf, sich für schrittweise Minderungs- ziele von 25 Prozent bis 2020, 40 Prozent bis 2030, 55 Prozent bis 2040 und letztlich 70 Prozent bis 2050 einzusetzen. Nur mit solchen festen überprüfbaren Weg- marken kann der langfristige Kurs hin zu einer nachhal- tigen, ressourcenschonenden und effizienten Verkehrs- politik auch gehalten und verwirklicht werden. Wer an der Machbarkeit dieser Ziele zweifelt und lieber ein Weiter-so propagiert, um das Problem in die Zukunft zu verschieben, der sollte sich überlegen, ob er diese He- rausforderung nicht besser anderen überlässt. Anlage 11 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsver- fahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfah- ren (Tagesordnungspunkt 13) Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU): Mit dem Rechtsschutz für Betroffene von überlangen Ge- richtsverfahren schließen wir eine Rechtsschutzlücke, die bereits seit Langem besteht und seit einigen Jahren Gegenstand der EGMR-Rechtsprechung ist. Auch wäh- rend des Gesetzgebungsverfahrens, das wir heute voran- bringen wollen, wurde und wird Deutschland vom Euro- päischen Gerichtshof für Menschenrechte wegen des hier mangelnden Rechtsschutzes verurteilt: So hat der EGMR erst im vergangenen Mai in der Sa- che „Kuppinger gegen Deutschland“ die überlange Ver- fahrensdauer in einem Familiengerichtsverfahren gerügt. Angesichts der Beschleunigungsmaxime des § 155 des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit, FamFG, ist dieser Sachverhalt tatsächlich erschreckend: Zu Beginn des Umgangsverfahrens vor dem Amtsge- richt Frankfurt Main im Mai 2005 war das betroffene Kind eineinhalb Jahre alt. Das Verfahren war im Oktober 2010, als das Kind bereits im schulfähigen Alter war, noch nicht abgeschlossen. Als Familienrichterin weiß ich aus eigener beruflicher Erfahrung, welche Bedeutung der zeitliche Aspekt ge- rade in Verfahren hat, in denen der Umgang mit dem ei- genen Kind Streitgegenstand ist. Hier sollte es in den In- stanzen eher um Monate als um Jahre gehen, steht doch das persönliche Näheverhältnis in der Eltern-Kind-Be- ziehung zur Disposition. Angesichts solcher Sachver- halte tritt die Rechtsschutzlücke ganz offen zu Tage. Selbst die klare Beschleunigungsregelung des FamFG vermochte hier nicht, effektiven Rechtsschutz herbeizu- führen. Am vergangenen Donnerstag wurde Deutschland in zwei weiteren Verfahren (Köster./.Deutschland und Otto./.Deutschland) wegen Verfahrensdauern, die ihren gerichtlichen Ausgangspunkt beide bereits 1989 hatten, verurteilt. Auch für den heutigen Tag und für Mitte Ok- tober sind weitere Entscheidungen des EGMR angekün- digt, die sich mit unangemessenen Verfahrenslängen in der Bundesrepublik beschäftigen. Dementsprechend bin ich froh, dass wir dem zum 1. Januar 2012 ein Ende set- zen werden. Mit dem hier abschließend beratenen Gesetz fügen wir einen weiteren Baustein ins Gesamtgebilde des deut- schen Staatshaftungsrechts. Dabei ist das Gesetz kein Schritt hin zu einer einheitlichen Kodifizierung dieses Rechtsgebiets. Wir verbessern lediglich punktuell den Rechtsschutz gegenüber staatlichem Handeln oder eben Nichthandeln. Eine umfassende Reform und damit eine Systematisierung der Vielzahl staatshaftungsrechtlicher Anspruchsgrundlagen steht auch nach Verabschiedung des Gesetzes weiter auf unserer Agenda. 15470 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 (A) (C) (D)(B) Klar ist mit der Schaffung eines Rechtsmittels bei Überlänge eines gerichtlichen Verfahrens, dass künftig auch in Deutschland jedermann, der sich einer nicht mehr hinnehmbaren Verfahrenslänge ausgesetzt sieht, über Rechtsschutzmöglichkeiten verfügt. Ich nutze diese Debatte aber auch gerne, um vorab nochmals festzustellen: Die deutsche Justiz arbeitet ins- gesamt schnell und auf hohem Qualitätsniveau. Eine knappe Personalausstattung, die in gewissem Maße zu einer längeren Verfahrensdauer beiträgt, hat die Justiz nicht zu verantworten. Vielmehr hat sie die große Auf- gabe, im Rahmen der Haushaltsmittel ein bürgernahes und effektives Rechtsschutzsystem zu gewährleisten. Für den Betrag, der hier insgesamt zur Verfügung steht, zeichnet die Politik auf verschiedenen Ebenen verant- wortlich, die hier eine Abwägung gegenüber anderen wichtigen politischen Zielsetzungen zu treffen hat, bei- spielsweise der Finanzierung von Bildung, Sozialleis- tungen oder Infrastruktur. Deshalb kann es kein Anliegen sein, hier über die An- gemessenheit hinaus besonders hohe Entschädigungs- bzw. gar vollumfängliche Schadenersatzansprüche zu schaffen. Bei der konkreten Bemessung der Entschädi- gungshöhe geraten wir in den Beratungen regelmäßig in einen Überbietungswettbewerb. Deshalb war der Antrag der Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grü- nen betreffend eine Entschädigung für Nichtvermögens- nachteile in Höhe von 1 000 Euro pro Monat der Verzö- gerung nicht zielführend. Das Geld würde an anderer Stelle fehlen. Jedem muss doch in Zeiten der Schulden- bremse und des Abbaus der Staatsverschuldung klar sein, dass hohe Forderungen in einem Bereich zu Kür- zungen in anderen Bereichen führen. Außerdem würde eine monatliche Bemessung den Eindruck erwecken, dass sich die unangemessene Dauer eines Gerichtsver- fahrens in Monaten bemessen würde. Es geht hierbei aber immer um Zeitspannen, die in Jahren zu bemessen sind. Ich denke, wir haben im parlamentarischen Verfahren einige wesentliche Verbesserungen zum Regierungsent- wurf vorgenommen: So passen wir die Rechtsfolgenseite des Entschädi- gungsanspruchs nach § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG an die Rechtsprechung des EGMR an, indem wir einen An- spruch auf angemessene Entschädigung vorsehen. Damit gehen wir bewusst von schadenersatzrechtlichen Erwä- gungen im Regierungsentwurf ab, die nicht zuletzt An- sprüche hinsichtlich entgangenen Gewinns umfasst hät- ten. Hiermit wären wir einerseits als Gesetzgeber weit über die Straßburger Vorgaben hinausgegangen. Ande- rerseits hielte ich es nicht für vertretbar, die Landeshaus- halte mit der Regelung eines staatshaftungsrechtlichen Teilbereichs einem solch erheblichen zusätzlichen Kos- tenrisiko auszusetzen. Ferner befinden wir uns bei den nun normierten An- sprüchen im Bereich der verschuldensunabhängigen Haftung. Hier sehe ich für Ansprüche nach den §§ 249 ff. BGB keinen Raum. Im deutschen Staatshaf- tungsrecht hat sich ein ausgewogenes Verhältnis von Verschulden/Verschuldensunabhängigkeit einerseits und dem Anspruchsumfang andererseits ausgeprägt. Mit der angemessenen Entschädigung bei Nachteilen wegen überlanger Gerichtsverfahren entsprechen wir nun dieser Systematik. Ferner sieht § 198 Abs. 3 und 4 GVG die Möglichkeit der Entschädigung immaterieller Nachteile „auf andere Weise“ vor, welche beispielsweise in der gerichtlichen Feststellung einer unangemessenen Verfahrensdauer lie- gen kann. An dieser Stelle wird deutlich, dass wir uns systematisch richtigerweise nicht im Bereich des Scha- denersatzrechts, sondern vielmehr im Entschädigungs- recht befinden. Mit der Vermutungsregelung hinsichtlich des Vorlie- gens eines immateriellen Nachteils bei bloßem Vorliegen einer Verfahrensüberlänge tragen wir den Beweis- und Darlegungsschwierigkeiten der Betroffenen in diesem Bereich Rechnung. Materielle Nachteile hingegen sind mit den allgemeinen Regeln, beispielsweise des An- scheinsbeweises oder der Berücksichtigung typischer Kausalverläufe, angemessen geregelt. Um hier aber letzte Sicherheit zu bekommen, werden wir die Erfah- rungen bei der Geltendmachung materieller Nachteile evaluieren. Ich muss zugeben, dass ich mir noch einige weitere Verbesserungen gewünscht hätte. So weiß ich um eini- gen Unmut aus den Regionen, die in einem OLG-Bezirk liegen, welcher nicht den Sitz der Landesregierung um- fasst. Wie nun die Richterkollegen beispielsweise im OLG-Bezirk Karlsruhe der Beurteilung ihrer Verfahrens- längen durch das OLG Stuttgart gegenüberstehen, ver- mag ich nicht abschließend zu beurteilen. Hier hätte ich, hätte die Union keinen Anlass gesehen, auf der Ebene des Entschädigungsverfahrens den OLG-Bezirk zu ver- lassen. Wir werden beobachten, ob das Gesetz auch in diesem Punkt den eingespielten Abläufen in den Landes- justizverwaltungen nicht entgegensteht. Auch wäre es meines Erachtens hilfreich gewesen, mit dem Tatbestandsmerkmal „überlange Dauer“ in § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG einen sprachlich deutlicheren Bezug zur EGMR-Rechtsprechung im Gesetz zu veran- kern. Es sollte nicht das Signal an die Rechtsanwender ausgesendet werden, dass bereits vergleichsweise ge- ringe Verzögerungen zur sogenannten Rüge berechtigen. Dennoch besteht die Hoffnung, dass die Praxis aus der Gesetzesbegründung und nicht zuletzt aus den Plenar- protokollen entnimmt, dass die nun normierte „Unange- messenheit“ der Verfahrensdauer allein auf die „Ausrei- ßer“ bezogen ist, die der EGMR in seiner Recht- sprechung zum Gegenstand macht. Die Verfahrenslän- gen liegen hier bei mehreren Jahren, die in den Instanzen nicht selten in den zweistelligen Bereich gehen, wie „Sürmeli gegen Deutschland“ aus 2006 mit Verfahrens- beginn 1982 oder die beiden eingangs genannten Fälle, die ihren Ausgang beide im Jahr 1989 hatten. Aus all diesen Erwägungen werden wir schließlich evaluieren. Wir wollen genau beobachten, welche Erfah- rungen die Rechtsuchenden und die Justizverwaltungen mit den Neuregelungen machen. Auch wenn ich fest da- von ausgehe, dass der Entschädigungsanspruch für erlit- tene materielle Nachteile von den deutschen Gerichten Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15471 (A) (C) (D)(B) nicht unterhalb des Maßstabs der bisherigen EGMR- Rechtsprechung angesetzt werden wird, wollen wir prü- fen, ob den Belangen der Betroffenen mit den jeweils ausgeurteilten Entschädigungshöhen hinreichend Rech- nung getragen wird. Gleiches gilt für die Anforderungen an den Nachweis eines kausalen Vermögensnachteils. Die parlamentarischen Beratungen können sicherlich nicht alle Unwägbarkeiten in Bezug auf die künftige Handhabung des neuen Rechtsmittels auflösen. Wenn beispielsweise befürchtet wird, dass künftig ein rügebe- fangenes Verfahren vorrangig gegenüber anderen Streit- sachen behandelt wird, oder wenn die Sorge vor einer Schwemme von unangemessenen Verzögerungsrügen geäußert wird, so liegt es an den Gerichten selbst, dies auszuräumen. Ich bin zuversichtlich, dass der Rechts- staat auch an dieser Stelle in der Lage ist, Rechtsverlet- zungen präventiv zu verhindern oder eben angemessen zu entschädigen. Um jedoch zum Kontext, in dem dieses Gesetz steht, zurückzukehren: Gerade vor dem Hintergrund einer künftigen umfassenden Reform des Staatshaftungsrechts ist es aus meiner Sicht richtig, die Erfahrungen mit ei- nem neuen Rechtsmittel detailliert zu erfassen und in all- gemeine staatshaftungsrechtliche Beratungen einfließen zu lassen. Nicht umsonst haben wir uns im Koalitions- vertrag darauf verständigt, das Staatshaftungsrecht zu kodifizieren und einheitlich auszugestalten. Angesichts eines solch umfassenden Projekts, für das es in den ver- gangenen Jahrzehnten schon mehrere gescheiterte An- läufe für ein Staatshaftungsgesetz gab, ist es wichtig, auch einzelne Rechtsmittel wie das gegen Verfahrens- überlängen so auszuformen, dass sie ihrerseits der bishe- rigen Systematik entsprechen. Mit dem nun gestalteten Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren behalten wir die bisherige historisch entwickelte staatshaftungs- rechtliche Systematik bei. Das deutsche Staatshaftungsrecht ist mit seiner Viel- zahl von Normen und Anspruchsgrundlagen bisher nicht transparent geregelt. Wenn es uns gelingt, die Regelun- gen in einem einheitlichen Gesetz zusammenzuführen, könnten wir eine nun mehrere Jahrzehnte diskutierte offene Wunde der Rechtspolitik schließen. Dabei geht es gar nicht so sehr um Veränderungen der Haftungsmaß- stäbe und die Ausweitung des Entschädigungsumfangs, sondern um eine Systematisierung der Anspruchsgrund- lagen. Ich bin zuversichtlich, dass wir nach der Schlie- ßung von wichtigen Baustellen wie dem Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren in absehbarer Zeit auch ein transparent und schlüssig gestaltetes Staatshaf- tungsrecht auf den Weg bringen werden. Dr. Edgar Franke (SPD): Wir beraten heute in zwei- ter und dritter Lesung den Gesetzentwurf der Bundesre- gierung über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichts- verfahren und, was nicht vergessen werden darf, bei strafrechtlichen Ermittlungsverfahren. Worum geht es bei diesem Gesetzentwurf? Es geht darum, das Gesetzgebungsverfahren abzuschließen und eine Rechtsschutzlücke im deutschen Recht zu schlie- ßen. Kurz: Es geht darum, dass die Verzögerungsrüge und unter Umständen die daraus folgenden Entschädi- gungszahlungen im Detail gesetzlich geregelt werden. Ich bin überzeugt, dass wir mit der in den Beratungen gefundenen Regelung dazu beitragen, dass das Vertrauen in die Arbeit der Gerichte und Staatsanwaltschaften, letztlich in den deutschen Rechtsstaat, gestärkt wird. Die Normen sind verfassungsrechtlich notwendig. Denn Art. 19 Abs. 4 GG, Art. 20 Abs. 3 GG sowie die Europäische Menschenrechtskonvention in Art. 6 Abs. 1 fordern einen Anspruch auf effektiven Rechtsschutz in angemessener Zeit. Die Regelungen sind aus der gericht- lichen Praxis heraus auch tatsächlich geboten. Sie wer- den eine Verkürzung der Dauer des Verfahrens bewir- ken. Tatsächlich wird das Gesetz zu einer Bewusstseinsbil- dung und -schärfung auch mit Blick auf die Geschäfts- verteilung der Gerichte führen. In Zukunft wird zum Beispiel ein Gerichtspräsidium Maßnahmen wie Umver- teilungen innerhalb eines Gerichtes eher vornehmen, um Gerichtsverfahren gerade schneller zu erledigen und sich damit nicht dem Vorwurf eines überlangen Verfahrens auszusetzen. Auch wird es präventiv dazu führen, dass jeder Richter sich bemühen wird, zumindest vermeid- bare Verfahrensverlängerungen, die in seinem Verant- wortungsbereich liegen, zu verhindern. Der Präsident des Finanzgerichts in Baden-Württemberg, Dr. Hans- Peter Korte, hat es im Rahmen der öffentlichen Anhö- rung zu dem Gesetzentwurf am 23. März 2011 auf den Punkt gebracht: Er hat ausgeführt, dass „ein zeitgerech- ter Abschluss eines Verfahrens auch ein hohes Qualitäts- merkmal“ ist. „Qualität der Justiz ist nicht nur, geschlif- fene Urteile zu schreiben, sondern auch in angemessener Zeit ein Verfahren zum Abschluss zu bringen.“ Sicher- lich ist es so, dass man Richter nicht dem Vorwurf aus- setzen sollte, lieber schnell anstatt richtig im Verfahren zu entscheiden. Aber die Befürchtungen, die auch immer wieder vom Richterbund geäußert werden, die richterli- che Unabhängigkeit werde dadurch beeinträchtigt, dass durch das Instrument der Verzögerungsrüge unzulässiger Druck auf diese ausgeübt werde, halte ich für abwegig. Auch ist die Befürchtung, dass mit dem Inkrafttreten des Gesetzes eine Flut von Verzögerungsrügen quer über die einzelnen Gerichte hereinbrechen könnte, sicherlich übertrieben. Zusammenfassend möchte ich feststellen, dass der vorliegende Gesetzentwurf aus meiner Sicht sachgerecht erscheint. Wir als SPD Bundestagsfraktion begrüßen zu- dem ausdrücklich das Ziel des Gesetzentwurfs, durch eine Konzentration der Verfahrens bei einem Gericht eine möglichst einheitliche Rechtsprechung in einem Land zu erreichen. Der pauschale Entschädigungs- anspruch für immaterielle Schäden in Höhe von 1 200 Euro für jedes Jahr der Verzögerung ist zwar eher gering als zu hoch einzuschätzen. Aber durch die in dem Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen einge- führte Evaluierung des Gesetzes nach zwei Jahren kann diese Höhe im Rahmen der Evaluierung nochmal über- prüft werden. Aus Sicht der SPD wird dieses Gesetz generalpräven- tiv Druck auf die Gerichte insgesamt ausüben, die Ver- 15472 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 (A) (C) (D)(B) fahrensdauer von Gerichtsverfahren insgesamt zu ver- kürzen. Dabei darf natürlich nicht außer Acht gelassen werden, dass in der Fachgerichtsbarkeit – zum Beispiel bei den Sozialgerichten – eine ordentliche Personal- und Finanzausstattung vonnöten ist. Gleichwohl ist dieses Gesetz aus Sicht der SPD-Bun- destagsfraktion das Ergebnis einer sach- und fachgerech- ten Abwägung der berechtigten Interessen der Gerichte und ihrer Richter auf der einen, aber auch der rechtsu- chenden Bürger – und deren Anspruch auf schnelle Ent- scheidung – auf der anderen Seite. Christian Ahrendt (FDP): Die FDP-Bundestags- fraktion begrüßt ausdrücklich, dass wir den Betroffenen überlanger Gerichtsverfahren nun ein wirksames Mittel in die Hand geben, um sich gegen unangemessen lange Prozesse zur Wehr zu setzen. Es ist untragbar, wenn die übermäßige Verfahrensdauer zu einer persönlichen und finanziellen Belastung der Betroffenen führt. Jeder soll Anspruch auf gerichtlichen Rechtsschutz in angemessener Zeit haben. Gerichtsverfahren dauern trotzdem vereinzelt zu lang, auch wenn Deutschland bei der Prozessdauer im internationalen Vergleich gut da- steht. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, EGMR, hat in der Vergangenheit von Deutschland bes- sere Rechtsbehelfe bei überlangen Verfahren verlangt. Bei vier von fünf Verurteilungen Deutschlands durch den EGMR ging es um überlange Prozesse. Aber auch das Bundesverfassungsgericht und die Landesverfas- sungsgerichte haben mehrfach den Stellenwert des An- spruchs auf angemessene Verfahrensdauer bekräftigt. Zu lange gab es bei überlangen Gerichtsverfahren im deutschen Recht keine speziellen Rechtsschutzmöglich- keiten. Dem wird nun ein Riegel vorgeschoben. Mit die- sem Gesetz schaffen wir nun die notwendigen Voraus- setzungen für mehr Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsprozessen und schließen damit die Rechts- schutzlücke, die sowohl nach den Anforderungen des Grundgesetzes als auch nach denen der Europäischen Menschenrechtskonvention besteht. Betroffene müssen zunächst im Ausgangsverfahren auf die Verzögerung hinweisen. Dies gibt den Richtern erst einmal die Möglichkeit, bei berechtigter Kritik Ab- hilfe zu schaffen. Auch soll eine Verzögerungsrüge erst nach einer Wartefrist von sechs Monaten wiederholt werden können, damit Gerichte nicht durch mehrfache Rügen unnötig belastet werden und ein Richter ausrei- chend Zeit hat, wirksam zu reagieren und somit das Ver- fahren zu fördern. Aus dem gleichen Grund kann im An- schluss an eine Verzögerungsrüge auch frühestens nach sechs Monaten Klage beim Entschädigungsgericht ein- gelegt werden. Die ausschließliche Zuständigkeit für die Entschädigungsklagen gegen ein Land liegt bei dem Oberlandesgericht, in dessen Bezirk die Regierung des beklagten Landes ihren Sitz hat, für Klagen gegen den Bund beim Bundesgerichtshof. Bei einer Verletzung des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer sind dem Betroffenen die daraus resul- tierenden Nachteile zu ersetzen. Der Ersatz umfasst die materiellen Nachteile und, soweit nicht nach den Einzel- fallumständen Wiedergutmachung auf andere Weise aus- reichend ist, auch die immateriellen Nachteile. Dieser Ansatz bietet damit nicht nur einen effektiven Rechts- schutz, sondern vermeidet auf der anderen Seite unnö- tige Mehrbelastungen für die Justiz. Die Betroffenen konnten bisher nur versuchen, sich mit einer Dienstaufsichtsbeschwerde gegen den Richter oder äußerstenfalls mit einer Verfassungsbeschwerde zu wehren. Für den Ausgleich von Nachteilen gab es nur den allgemeinen Amtshaftungsanspruch, der oft nicht weiterhalf, da er nur für schuldhafte Verzögerungen gilt, um die es in vielen Fällen aber nicht geht. Außerdem deckt die Amtshaftung keine immateriellen Nachteile ab, wie etwa seelische oder gesundheitliche Belastungen durch überlange Gerichtsverfahren. Der Entwurf setzt auf Prävention vor überlangen Pro- zessen und auf Kompensation der daraus resultierenden Folgen. Aufgrund der Unterschiede bei der zeitlichen Behandlung von Rechtssachen ist von den Justizverwal- tungen und den für die Haushalte der Länder verantwort- lichen Stellen zu erwarten, dass der im Gesetzentwurf vorgesehene Anspruch auf Entschädigung zum Anlass genommen werde, die Ressourcen der Justiz zu verbes- sern. Durch den Druck, der durch die Entschädigungsvo- raussetzungen ausgeübt wird, wird man zudem dem Be- schleunigungsgebot angemessen gerecht und fördert konkludent das Verfahren. Jens Petermann (DIE LINKE): Was lange währt, sollte besonders gut werden. So hatte ich meinen Beitrag in der ersten Beratung dieses Gesetzentwurfes im Januar begonnen. Doch weder eine öffentliche Anhörung, noch Änderungs- und Entschließungsanträge der Regierungs- koalition konnten diesem Gesetzentwurf die nötige fach- liche und praktische Brillanz verleihen. Auch meine Fraktion hat durch die Einbringung eines Änderungsan- trages in den Rechtsausschuss versucht, sich konstruktiv zu beteiligen. Leider wurde unser Antrag abgelehnt, und leider nehmen Sie unsere Argumente immer erst dann ernst, wenn sie diese ein paar Jahre später vom Bundes- verfassungsgericht oder vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte hören. Mit Ihrem Entwurf sind Sie wieder einmal im Verzug, ein fast schon gewohntes Phänomen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte die Bundesrepu- blik Deutschland am 2. September 2010 verpflichtet, binnen eines Jahres einen wirksamen innerstaatlichen Rechtsbehelf oder eine Kombination solcher Rechtsbe- helfe einzuführen. Jede Anwaltskanzlei, die so nachläs- sig gesetzte Fristen missachtet, hätte schon längst Insol- venz anmelden müssen. Anscheinend ist es sinnvoll, einen Rechtsbehelf gegen überlange Gesetzgebungsver- fahren oder eine Untätigkeitsrüge gegen die Bundesre- gierung einzuführen. Der EGMR stellt in seiner Entscheidung fest, dass es sich bei den überlangen Gerichtsverfahren in Deutsch- land um ein strukturelles Problem handelt. Das in dem Regierungsentwurf vorgesehene Rechtsmittel ist allen- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15473 (A) (C) (D)(B) falls die zweitbeste Lösung für dieses Problem. Als sol- ches sieht nämlich der EGMR ein vorbeugendes Rechts- mittel an. Grundsätzlich ist es die Aufgabe des Staates, ausrei- chende personelle und sachliche Ressourcen zu Verfü- gung zu stellen, damit es nicht erst zu überlangen Ver- fahren kommt. Durch das nun vorgeschlagene Entschädigungsverfahren werden unnötig Kapazitäten bei den Instanzgerichten durch Erhebung der Verzöge- rungsrüge sowie bei den Oberlandesgerichten durch die Entscheidung über den Entschädigungsantrag gebunden. Dafür bleiben andere Verfahren, insbesondere Hauptsa- cheverfahren, liegen. Die von der Koalition angedachte Beschleunigungswirkung wird ins Gegenteil verkehrt. Anscheinend gehen sie davon aus, dass die Richterinnen und Richter im Moment noch über ausreichend freie Ar- beitszeit verfügen, um sich mit den Gründen der Verzö- gerung zu beschäftigen. Dem ist aber nicht so, und das sage ich Ihnen aus 20-jähriger Erfahrung als Arbeits- und Sozialrichter. Es besteht die Gefahr, dass die betrof- fenen Richterinnen und Richter sowie Staatsanwältinnen und Staatsanwälte das jeweilige Verfahren nach Eingang einer Verzögerungsrüge auf Kosten anderer – ebenfalls wichtiger und dringlicher Verfahren – vorziehen. Ich habe einen anderen Lösungsvorschlag: Sorgen Sie für eine ausreichende sachliche und personelle Ausstattung der Gerichte und Staatsanwaltschaften, geben Sie der Justiz mehr Autonomie, dann bekommen wir die Pro- bleme mit überlangen Gerichtsverfahren in den Griff. Die Gründe für überlange Verfahrensdauern sollten nicht immer bei den Gerichten gesucht werden. So wurde zum Beispiel durch Ihre verfassungswidrige Hartz-IV-Gesetzgebung eine Prozessflut an den Sozial- gerichten provoziert. 41 Gesetzesnovellen in sechs Jah- ren haben zum Teil zu chaotischen Zuständen in der So- zialgerichtsbarkeit geführt. Da muss sich niemand mehr wundern, wenn aufgrund der Vielzahl von sozialrechtli- chen Verfahren beispielsweise ein rentenrechtliches Ver- fahren mit einem Antrag im Jahre 2000 beginnt, über die Instanzen acht Jahre bis zu einer Entscheidung benötigt und im Jahre 2010 mit einer Rüge des Europäischen Ge- richtshofs für Menschenrechte wegen überlanger Verfah- rensdauer abgeschlossen wird. Wo wir gerade beim SGB II sind: Was bleibt eigentlich einem Hartz-IV-Emp- fänger, wenn er eine Entschädigung für ein mehrere Jahre dauerndes Verfahren zugesprochen bekommt? Wahrscheinlich nichts; denn diese wird wohl auf seine Regelleistungen angerechnet. Die gesetzliche Festlegung eines bestimmten Geldbe- trages, der Nicht-Vermögensschäden ausgleichen soll, lehnen wir ab. Stattdessen sollte ein Betrag für jeden Monat der Verzögerung als Untergrenze und nicht als feste Entschädigung festgelegt werden. Dies ist gerade vor dem Hintergrund der unterschiedlichen psychischen Belastungen der am Gerichtsprozess Beteiligten sinn- voll. Mit einem Änderungsantrag zu ihrem eigenen Ge- setzentwurf versucht die Koalition den Anspruch zu be- schränken. Indem man die „Entschädigung“ in eine „an- gemessene Entschädigung“ umwandelt und dann erklärt, dass damit eine verschuldensunabhängige Haftung gege- ben ist, darf der tatsächlich entstandene Schaden nicht mehr ersetzt werden. Die Haftung für den entgangenen Gewinn ist damit ausgeschlossen. Da man sich aber auch noch nicht sicher ist, ob dieses neue Instrument missbraucht werden oder überhaupt bei den Gerichten auf Zustimmung stoßen wird, sieht die Koalition in einem Entschließungsantrag zu ihrem eige- nen Gesetzentwurf vor, die praktischen Folgen dieses Gesetzes nach zwei Jahren zu überprüfen. Dabei werden Sie merken, dass Ihre Lösung nicht den Anforderungen des EGMR entspricht, was wir Ihnen aber schon heute sagen können. Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das Grundgesetz und die Europäische Menschenrechts- konvention gewährleisten den Anspruch jedes Bürgers und jeder Bürgerin auf Rechtsschutz – und zwar in ange- messener Zeit. Wir alle wissen: Die große Mehrzahl der gerichtlichen Verfahren in Deutschland wird zeitnah ab- geschlossen. Dennoch gibt es einzelne Verfahren, die Jahre oder gar Jahrzehnte dauern. Der Europäische Ge- richtshof für Menschenrechte in Straßburg hat deshalb zu Recht die Bundesrepublik in über 50 Fällen wegen unangemessener Verzögerung von Gerichtsverfahren verurteilt. Zusätzlich hat der Europäische Gerichtshof für Men- schenrechte festgestellt, dass wir im deutschen Recht noch keinen wirksamen Rechtsbehelf gegen überlange Gerichtsverfahren haben. Er hat auch Mindestanforde- rungen an einen solchen Rechtsbehelf aufgestellt. Diese Anforderungen müssen und wollen wir gesetzlich um- setzen. Aber warum sollten wir uns auf diese Mindestvorga- ben beschränken? Das Grundgesetz und die Europäische Menschenrechtskonvention geben lediglich den äußeren Rahmen für die Gesetzgebung vor. Die Ausgestaltung dieses Rahmens ist unsere Aufgabe im Bundestag. Hier gilt es, möglichst wirkungsvoll zu arbeiten und nicht auf halbem Wege stehen zu bleiben! Der Gesetzentwurf der Bundesregierung konzentriert sich auf die Einführung einer Verzögerungsrüge und einer nachträglichen Ent- schädigungslösung. Die Entschädigung für immaterielle Nachteile kann nur verlangt werden, „soweit nicht“ – so der Wortlaut des Entwurfs – „Wiedergutmachung auf andere Weise“ ausreichend ist. Die „Wiedergutmachung auf andere Weise“ soll insbesondere durch eine gerichtliche Fest- stellung erfolgen, dahin gehend, dass die Verfahrens- dauer unangemessen war. In welcher Weise kann solch eine Feststellung aber etwas wiedergutmachen? Und: Welchen Nutzen soll der Betroffene aus dieser Feststel- lung ziehen? Wir Grünen setzen uns für eine Umkehr der Rang- folge im Entwurf ein: In der Regel ist die Entschädigung in Geld zu leisten; nur in Ausnahmefällen kann die Wie- dergutmachung auch auf andere Weise erfolgen. Hinzu kommt: Der Entwurf sieht eine Entschädigung von 1 200 Euro für jedes Jahr der Verzögerung vor. Das 15474 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 (A) (C) (D)(B) bedeutet zum einen, dass derjenige, dessen Verfahren sich zum Beispiel um elf Monate verzögert, keine Kom- pensation erhält. Zum anderen könnte es für Bund und Länder günstiger sein, überlange Verfahren hinzuneh- men, anstatt an den Strukturen in der Justizverwaltung zu arbeiten und eventuell auch neue Richter und Richte- rinnen einzustellen. Diese Entschädigung ist viel zu niedrig. Angemessen wäre ein Entschädigungsbetrag von 1 000 Euro pro Monat. Eine nachträgliche Entschädigungslösung ist aber auch nicht ausreichend. Wir müssen auch präventiv den- ken. Um sicherzustellen, dass Gerichtsverfahren in ange- messener Zeit abgeschlossen werden, schlagen wir des- halb eine Regelung vor, gemäß der das Präsidium des Gerichts ein Verfahren an den Vertretungsrichter übertra- gen kann, wenn der zuständige Richter verzögert arbei- tet. Bewusst stellen wir die Entscheidung hierüber in das Ermessen des Präsidiums, um die Unabhängigkeit der Richter zu wahren und den Gerichten eine Entscheidung im Einzelfall zu ermöglichen. Die Arbeit der Justiz hängt natürlich zudem von der sachlichen und personellen Ausstattung der Gerichte ab. Der Schlüssel zur Gewährleistung effektiven Rechts- schutzes liegt also auch in der Bereitstellung von ausrei- chenden Mitteln für die Justiz. Wir meinen deshalb, dass das Präsidium des Gerichts feststellen sollte, wie viele Richterstellen voraussichtlich zur ordnungsgemäßen Er- füllung der Aufgaben benötigt werden. Diese Feststel- lung sollte das Präsidium dann dem Haushaltsgesetzge- ber zuleiten können. Wir Grünen fordern mit unseren Änderungsanträgen zum Regierungsentwurf dazu auf, nicht auf halbem Weg stehen zu bleiben. Wir wollen das Ziel – die Gewährung effektiven Zugangs zum Recht – umfassend anzugehen. Anlage 12 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Eine Europäische Gemeinschaft für die Förderung erneuerbarer Energien gründen – EURATOM auflösen (Ta- gesordnungspunkt 14) Roderich Kiesewetter (CDU/CSU): Bevor ich auf Einzelheiten des hier zu beratenden Antrags eingehe, möchte ich eine grundlegende Überlegung vorwegstel- len: In Ihrem Antrag, meine Damen und Herren der Fraktion Die Linke, schlagen Sie eine duale Vorgehens- weise vor: Zum einen wollen Sie im Lichte des Reaktor- unfalls von Fukushima nicht nur die Mitgliedschaft Deutschlands in der Europäischen Atomgemeinschaft, Euratom, beenden, sondern sprechen sich darüber hinaus auch für deren grundsätzliche Auflösung aus. Zum ande- ren aber wollen Sie die Forschung im Bereich erneuer- barer Energien auf europäischer Ebene stärken. Diese antagonistische Betrachtungsweise der Dinge teile ich grundsätzlich nicht. Die Europäische Atomgemeinschaft gehört zu den drei Vertragsregimes, auf deren Grundlage das verfasste Europa entstanden ist. Sie wurde zeitgleich mit der Eu- ropäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, EGKS, und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, EWG – der späteren Europäischen Gemeinschaft, EG –, in den Römischen Verträgen von 1957 begründet und besteht seither ohne wesentliche Änderungen fort. Mit dem In- krafttreten des Vertrags von Lissabon am 1. Dezember 2009 ging die EG in der Europäischen Union, EU, auf; damit bleibt nur die Euratom als eigenständige Organisa- tion bestehen, ist jedoch in ihren Strukturen vollständig an die EU angegliedert. Was sind überhaupt die Aufgaben von Euratom? Art. 1 des Vertrags führt aus: Aufgabe der Atomgemeinschaft ist es, durch die Schaffung der für die schnelle Bildung und Ent- wicklung von Kernindustrien erforderlichen Vo- raussetzungen zur Hebung der Lebenshaltung in den Mitgliedstaaten und zur Entwicklung der Be- ziehungen mit den anderen Ländern beizutragen. Heute geschieht dieses insbesondere über die For- schungsaktivitäten. Hierzu hat sich in den letzten Jahr- zehnten der gesellschaftliche Konsens in Deutschland tatsächlich verändert, worauf ich später nochmals einge- hen werde. Politisch wichtig ist aber, dass die Gründung von Euratom darüber hinaus stets das Ziel der europäischen Friedenssicherung verfolgte – indem ähnlich wie schon bei der Montanunion durch „Vergemeinschaftung“ der Nukleartechnik eine gegenseitige Kontrolle ermöglicht wird – Art. 2 Buchstabe e. Diese Zielsetzung in diesem sensiblen Bereich der Hochtechnologie ist bis heute gül- tig. Jenseits dieser grundsätzlichen Dimension ist aber vor allem zu beachten, dass die Energiepolitik für alle europäischen Staaten und damit auch für Deutschland vor großen Herausforderungen steht. Die Sicherheit un- ser aller Energieversorgung wird maßgeblich durch zwei Entwicklungen vor völlig neue Herausforderungen ge- stellt: Erstens führt der gewaltig steigende Energiebedarf der aufstrebenden Wirtschaftsmächte China und Indien sowie anderer Schwellenländer bei begrenzten Energie- reserven und -ressourcen zu einem deutlichen Anstieg des globalen Energieverbrauchs und damit zu einer ver- schärften Nachfragekonkurrenz auf den internationalen Energiemärkten. Zweitens wächst die Abhängigkeit Deutschlands von Energieimporten aus politischen Krisenregionen. Beide Entwicklungen machen deutlich, dass die Frage der Versorgungssicherheit ein Anliegen nationaler Si- cherheit nicht nur für Deutschland darstellt. Die außen- und sicherheitspolitische Dimension des Themas wird in anderen Staaten bereits seit geraumer Zeit berücksich- tigt. Außerdem ist die Energieversorgung seit 2001 Be- standteil der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspoli- tik, GASP, der Europäischen Union. Wenn man aber diese zentralen strategischen Aspekte der Versorgungssi- cherheit vernachlässigt, erhält man kein vollständiges Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15475 (A) (C) (D)(B) Bild des Zusammenhangs, in dem wir Euratom zu be- werten haben. Meine Damen und Herren von der Linken, das macht sehr deutlich, dass Ihre im Antrag erhobene Forderung nach genereller Auflösung von Euratom in Europa keine Mehrheit finden würde, da wesentliche Partnernationen wie Frankreich und Großbritannien an Nuklearenergie als strategisch wichtigem Bestandteil ihrer jeweiligen Energieversorgung festhalten. Energiepolitik unter Ein- bezug von Nuklearenergie bleibt auf europäischer Ebene ein Faktum – auch wenn wir in Deutschland einen ande- ren Weg gehen wollen. Ob der zweite Teil Ihrer Forderung – also der nach ei- nem einseitigen Austritt Deutschlands – weise überlegt ist, bezweifele ich außerdem. Es ist nicht nur so, dass es mutmaßlich rechtlich sehr schwierig wäre, einen solchen Schritt zu vollziehen. Aber angenommen, Deutschland würde austreten: Es würde an Einflussmöglichkeiten und Mitspracherechten, beispielsweise in Bezug auf die Ein- haltung von Sicherheitsstandards in Atomkraftwerken, verlieren. Das kann gerade mit Blick auf die in den Nachbarstaaten betriebenen Kernkraftwerke nicht unser Interesse sein. Auch deshalb lehnt die Fraktion von CDU und CSU nicht nur eine allgemeine Auflösung von Euratom ab, sondern auch einen einseitigen Austritt Deutschlands. Sehr viel mehr Sympathie habe ich für Ihre Forderung nach Stärkung der Erforschung erneuerbarer Energien. So geht ein Bericht der EU-Kommission über die Ver- sorgungssicherheit der EU von 2005 davon aus, dass die Abhängigkeit der EU von Energieimporten von 50 Pro- zent auf 70 Prozent im Jahr 2030 steigt. Bis dahin wird die EU 90 Prozent ihres Erdölbedarfs und 70 Prozent ih- res Erdgasbedarfs importieren müssen. Zugleich wird sich die weltweite Energieförderung auf immer weniger Länder – vor allem in der instabilen Region des erweiter- ten Nahen und Mittleren Ostens und Nordafrikas, MENA – konzentrieren: 65 Prozent aller Erdölreserven und 34 Prozent aller Gasreserven finden sich im Persi- schen Golf. Ein politisch in höchstem Maße krisenanfäl- liges Land wie der Iran verfügt nach Saudi-Arabien über die weltweit zweitgrößten Erdölvorkommen und nach Russland über die weltweit zweitgrößten Erdgasvorkom- men. Diese Abhängigkeiten müssen reduziert werden – und deshalb ist die Förderung erneuerbarer Energien richtig, ja notwendig. Mit den Beschlüssen zur Energiewende wird die Bun- desregierung die weltweit führende Rolle Deutschlands bei Konzepten und Technologien im Bereich der Ener- gieeffizienz und der erneuerbaren Energien nutzen, um die Abhängigkeit unserer Energieversorgung weiter zu reduzieren. Dazu müssen wir alles tun, die technologi- sche Führungsrolle zu verteidigen und auszubauen – hierzu fördern wir national, aber auch europäisch bereits heute in erheblichen Größenordnungen. Ob dann die von Ihnen vorgeschlagene Konstruktion einer Europäischen Gemeinschaft für die Förderung er- neuerbarer Energien allerdings der richtige Weg ist, wage ich zu bezweifeln. Der historische Trend seit den 1950er-Jahren läuft doch gerade genau andersherum: Vergemeinschaftung und Integration anstatt Zersplitte- rung und Differenzierung. Insofern liegt die Zuständig- keit zur Förderung dieser neuen Energieträger im Kon- text des europäischen Forschungsrahmenprogramms genau richtig, nämlich bei der Europäischen Kommis- sion. Die Gründung einer neuen europäischen Gemein- schaft ist demnach institutionell sinnlos, politisch unklug und alles andere als zeitgemäß. Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Ich bin bekannter- maßen ein Verfechter der erneuerbaren Energien, und ich bin stolz darauf, dass wir in Deutschland sagen können: Erneuerbare lieferten im ersten Halbjahr 2011 mehr als 20 Prozent des Stroms in Deutschland. Das ist eine Leis- tung des deutschen Gesetzgebers – eine Leistung, die auf das unter Helmut Kohl eingeführte Stromeinspeisegesetz zurückzuführen ist, auf dem heute das EEG basiert und das benannte Output von heute mehr als 20 Prozent Er- neuerbare geschaffen hat. Das ist mir wichtig zu sagen, wenn Sie in Ihrem An- trag etwa formulieren: Der Umstieg von Atomenergie auf erneuerbare Energien ist sowohl politisch als auch finanziell längst überfällig. Guten Morgen, meine Kollegen von den Linken! Deutschland hat in Europa in Sachen Aufbau von Er- neuerbaren und Ausstieg aus der Kernenergie eine – wenn auch sehr mutige und optimistische – Vorreiter- rolle eingenommen. Das Thema Aufbau der Erneuerbaren haben wir poli- tisch in Deutschland längst auf den Weg gebracht. In den nächsten Jahren werden unsere europäischen Nachbarstaaten sicherlich ein besonderes Augenmerk darauf haben, wie wir in Sachen Speicher und Netze vo- rankommen, damit auch nach unserem sukzessiven Aus- stieg aus der Kernenergie die Netzstabiliät genauso ge- währleistet werden kann, wie die Grundlast und Bedarfsspitzen abgedeckt werden können. Die Praktikabilität unseres deutschen Ausstiegs aus der Kernenergie, das wird das A und O sein, nach dem der deutsche Ausstieg in Europa und international beur- teilt wird. Hierauf muss unser Augenmerk liegen. Wenn die Linke nun in Ihrem Antrag eine weitere In- stitutionalisierung über eine „alternative Europäische Gemeinschaft zur Förderung von erneuerbaren Energien und Energieeinsparung“ vorschlägt, dann stellt sich mir als Ökonom die Frage: Mit welcher Zielrichtung? Unse- ren deutschen Weg werden wir vor allen Dingen mit markt- und energiewirtschaftlichen Fakten belegen müs- sen. Ich darf am Rande daran erinnern: Wir haben bereits eine internationale Organisation für erneuerbare Ener- gien – nämlich IRENA, eine internationale Organisation, die sich ausschließlich auf erneuerbare Energien konzen- triert – auf den Weg gebracht. Das Gründungsstatut ha- ben die Europäische Union und fast 150 Staaten längst gezeichnet. IRENA wird dabei eng mit anderen interna- 15476 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 (A) (C) (D)(B) tionalen Organisationen, etwa der Internationalen Ener- gie-Agentur, auch kurz „IEA“ genannt, sowie mit Netz- werken wie REN21, zusammenarbeiten. Eine weitere Institutionalisierung vorzuschlagen – ihre Zielrichtung ging dabei wohl mehr dahin, Ihren An- trag formal aufzufüllen. Aber dessen ungeachtet lassen Sie mich einen kurzen Exkurs machen: Was wäre die Zielrichtung einer solchen europäischen Institution? Wollten Sie damit das leidige Harmonisierungsthema im Bereich Erneuerbare in Europa beflügeln, um über die Europäische Union zu versuchen, unser EEG-Erfolgsgesetz durch eine Quoten- regelung zu ersetzen? Durch eine solche Quotenregelung würden wir Wert- schöpfung im eigenen Land – und zwar gerade im Herz- stück der deutschen Wirtschaft, dem Mittelstand – ver- lieren. Außerdem hätten wir bei einer Quotenregelung nicht mehr die Chance, durch Rohstoffe aus dem eigenen Land unabhängiger zu werden. Von Effektivitätsfragen ganz zu schweigen! Wir ha- ben mit dem EEG eben nicht zufällig für Deutschland eine Vorreiterrolle bei den Erneuerbaren erzielt. Das dür- fen wir nicht einfach im Zuge einer europäisch initiierten Gleichmacherei dulden. Aber nun zum zentralen Anliegen Ihres Antrags, Euratom aufzulösen, das ist ja bereits aus sich heraus als schlicht untauglich zu bewerten. Zunächst vorab: Was ist Euroatom? Vielleicht liegt der Grund dafür, dass Ihr Antrag unbrauchbar ist, schlicht darin begründet, dass Sie den Kern des Euratom-Vertrags nicht verstanden haben: Der Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft, also der Euratom-Vertrag, gehört zu den 1957 geschlossenen sogenannten Römischen Verträgen. Die Regelung der friedlichen Nutzung der Kernenergie durch den Euratom-Vertrag hat sich historisch bedingt aus der Nachkriegszeit heraus entwickelt. Dabei geht die Rege- lung aber weit über den Bereich der Nuklearenergie im engeren Sinne hinaus und betrifft etwa auch den Anwen- dungsbereich der nuklearen Medizin sowie der For- schung und Wissenschaft. Wichtig ist: Deutschlands Entscheidung eines vorzei- tigen Ausstiegs aus der Kernenergie wird durch den Euratom-Vertrag nicht beeinträchtigt. Klar muss uns in Deutschland aber auch sein, dass unser deutscher Weg in Sachen Energiepolitik ein Sonderweg war, den Europa nicht einfach so mitgehen wird, und wir können die Mit- gliedstaaten auch nicht dazu „verhaften“. Hierzu gibt es schlicht keine Rechtsgrundlage. Wir können nur auf dem beschriebenen Weg – mit energie- und wirtschaftspoliti- schen Fakten – Überzeugungsarbeit leisten. Zu Ihrem Antragsanliegen, Euratom aufzulösen: Der Euratom-Vertrag sieht kein Kündigungsrecht vor. Viel- mehr regelt Art. 208, dass der Vertrag auf unbegrenzte Zeit geschlossen wird. Hier gilt: Pacta sunt servanda. Das heißt: Verträge sind einzuhalten. Will heißen: Es gibt das Gebot der Vertragstreue. Und an dieses Gebot hat man sich in demokratischen rechtsstaatlichen Gefil- den zu halten – auch wenn das jenem Teil der Linken, die dem alten SED-Geschwader angehörten, vielleicht noch heute nicht in der Gänze verständlich erscheint. Ich darf zusammenfassen: Ein einseitiger Austritt Deutschlands aus der Europäi- schen Atomgemeinschaft ist eben nicht vorgesehen. Anhaltspunkte für das, was Juristen „Wegfall der Ge- schäftsgrundlage“ nennen, gibt es keine. Allein der EU-Vertrag sieht eine Kündigungsmög- lichkeit für EU-Mitgliedstaaten vor, der Euratom-Ver- trag nicht. Deswegen wäre ein Verlassen des Euratom- Vertrages nur bei einem Ausscheiden aus der EU mög- lich. Eine EU-Mitgliedschaft ohne Mitgliedschaft in der Europäischen Atomgemeinschaft ist unionsrechtlich ebenso wenig vorgesehen wie eine Mitgliedschaft in der Europäischen Atomgemeinschaft durch nicht der EU an- gehörende Drittstaaten. Und darf ich hier angesichts der Tragweite einer sol- chen Entscheidung einmal zaghaft nach der Sinnhaftig- keit eines Ausstiegs aus Euroatom fragen? Wenn man beim Thema „nukleare Sicherheit“ Maß- stäbe setzen möchte, dann muss man das im internatio- nalen Verbund tun. Der Euroatom-Vertrag und andere in- ternationale Verträge und Konventionen tragen dafür Sorge und tragen dem Rechnung. Deshalb wäre es – un- abhängig von der nationalen Entscheidung eines frühe- ren Ausstiegs aus der Kernenergie in Deutschland – fatal, anzunehmen, man bräuchte die deutsche Mitglied- schaft in Euroatom nicht mehr. Denn damit würde die deutsche Mitsteuerungsmöglichkeit ausgeschlossen – und das ist nicht im deutschen Interesse. Vorab hatte ich bereits auf den Regelungsbereich von Euroatom hingewiesen: Die Regelungen von Euroatom greifen weit über den Bereich der Nuklearenergie im en- geren Sinne hinaus und betreffen ja beispielsweise auch Anwendungsbereiche der nuklearen Medizin etc. Deshalb muss man zusammenfassend sagen: Ihr Pro- pagandaantrag 17/6151 – das kann man so klar und deut- lich zusammenfassen – ist das Papier nicht wert, auf dem er geschrieben ist. Marco Bülow (SPD): Im Sommer haben wir zum zweiten Mal den Atomausstieg beschlossen. Nachdem Union und FDP den rot-grünen Atomkonsens zwischen- zeitlich aufgelöst und die Laufzeiten verlängert hatten, stehen endlich alle Fraktionen zum Ausstieg. Mit den Bundestagsbeschlüssen vom Sommer haben wir aller- dings nur den Atomausstieg in Deutschland. Wir wissen aber, dass von jedem Atomkraftwerk, von jeder Atoman- lage auf dieser Welt eine Gefahr für Mensch und Um- welt ausgeht – und zwar über nationalstaatliche Grenzen hinaus. Die Abschaltung der deutschen Atomkraftwerke macht Europa sicherer und verstärkt die Chance zu einer wirklichen Energiewende. Es ist völlig inkonsequent, in- folge der Ereignisse im japanischen Fukushima die Atomkraftwerke in Deutschland nach und nach abzu- schalten, aber kein Problem darin zu sehen, dass in be- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15477 (A) (C) (D)(B) nachbarten Ländern gefährliche Atomanlagen auf Dauer weiterbetrieben werden. Direkt in Grenznähe zu Deutschland laufen zum Teil mit völlig veralteter Tech- nik betriebene Atomkraftwerke wie Temelin, Fessen- heim oder Cattenom noch viele Jahre weiter. Von daher müssen wir jetzt den nächsten Schritt ge- hen und für einen internationalen Atomausstieg kämp- fen. Es kann nicht sein, dass die Bundesregierung mit Hermesbürgschaften den Neubau von Atomkraftwerken in Brasilien absichert. Wenn wir es ernst meinen, müssen wir uns in Europa jetzt für einen EU-weiten Atomaus- stieg engagieren. In Deutschland auf der einen Seite aus- zusteigen und den über 50 Jahre alten und kaum verän- derten Euroatom-Vertrag auf der anderen Seite weiterhin so zu belassen, wie er ist, das passt nicht zusammen. Die Ausrichtung des Euroatom-Vertrags mit dem Ziel der „Entwicklung einer mächtigen Kernindustrie“ ist schon lange nicht mehr aktuell. Die Entwicklung der Atom- energienutzung in Europa muss zu Ende gehen. Jetzt sollte die Abwicklung das Ziel sein. Der Euratom-Ver- trag muss daher grundlegend reformiert werden. Diese Erkenntnis gibt es allerdings schon länger. Die Bundesrepublik hat gemeinsam mit anderen europäi- schen Mitgliedstaaten eine Erklärung zur Schlussakte von Lissabon vom 13. Dezember 2007 abgegeben, in der sie ihre Unterstützung für eine zeitgemäße Veränderung des Euratom-Vertrags dokumentiert hat. Eine substan- zielle Veränderung hat es bisher aber nicht gegeben. Man könnte sich natürlich hinstellen und sagen: Wir tre- ten aus der Europäischen Atomgemeinschaft aus. Ob das überhaupt möglich ist, bleibt umstritten. Obwohl die Europäische Atomgemeinschaft eine eigenständige Rechtspersönlichkeit ist, wäre ein Austritt aufgrund der Finanz- und Personalunion von EU und Europäischer Atomgemeinschaft kaum umsetzbar. Selbst wenn es möglich wäre, würde man dadurch auch den Einfluss verlieren, den Vertrag zu ändern. Den auf unbestimmte Zeit geschlossenen Euratom-Vertrag jetzt einfach auflö- sen zu wollen, ist gemessen an den in Europa herrschen- den Verhältnissen auch unrealistisch. Wir müssen uns vielmehr ans Werk machen und in Europa Überzeugungsarbeit für einen Atomausstieg leis- ten. Wir müssen Europa und der ganzen Welt zeigen, dass man es nicht nur ohne Probleme schaffen kann, aus der Atomenergienutzung auszusteigen, sondern dadurch auch noch massiv gewinnt. Wir gewinnen nicht nur deut- lich mehr Sicherheit, wir gewinnen auch ökologisch und wirtschaftlich: ökologisch, weil wir mit einem konse- quenten Umbau der Energieversorgungsstrukturen viel stärker auf eine umweltfreundliche und klimaschonende Energieversorgung setzen, wirtschaftlich, weil durch den Ausbau der erneuerbaren Energien viele Arbeitsplätze entstehen und gesichert werden und weil Deutschland hier auf dem Weltmarkt eine Führungsrolle einnimmt. Je mehr Länder aus der Atomenergie aussteigen und gleichzeitig vorrangig auf erneuerbare Energien setzen, umso mehr profitiert auch Deutschland. Wir hätten ein immenses Plus an Sicherheit. Wir würden davon profi- tieren, dass der CO2-Ausstoß sinkt. Es würden sich aber vor allem auch neue Märkte erschließen. Deswegen ist es einfach nur logisch, sich in Europa für einen Atom- ausstieg einzusetzen, und deswegen kann der Euratom- Vertrag nicht so bleiben, wie er ist. Die durch den Euratom-Vertrag festgeschriebene Sonderstellung der Atomenergie muss beseitigt werden. Alle Passagen, die Investitionen in die Atomkraft be- günstigen, müssen gestrichen werden. Forschung und Entwicklung auf dem Gebiet der Kernspaltung darf sich nur auf Sicherheits- und Gesundheitsfragen beschrän- ken. Hauptaufgabe muss sein, in Europa einheitliche Si- cherheitsstandards auf höchstem Niveau zu garantieren und die Entwicklung von Endlagerkonzepten voranzu- treiben. Diesen Forderungen des Bundesratsantrags des Landes Nordrhein-Westfalen kann ich mich nur an- schließen. Euratom muss so umgebaut werden, dass die geord- nete Abwicklung der Atomenergie im Mittelpunkt steht und, solange Atomkraftwerke in Europa noch am Netz sind, das höchste Sicherheitsniveau gewährleistet wird. Unabhängig davon sollten wir die Schaffung einer Euro- päischen Gemeinschaft für erneuerbare Energien anstre- ben. Sollten wir hier nicht rechtzeitig handeln, so müs- sen wir uns nicht wundern, wenn der Protest gegen eine rückwärtsgewandte Energiepolitik erneut auf die Straße getragen wird. Ich kann friedliche Demonstrationen und Aktionen für die Abschaltung beispielsweise des franzö- sischen AKW Fessenheim nur unterstützen. René Röspel (SPD): Vor über 50 Jahren haben sich europäische Regierungsvertreter in Rom zusammenge- funden und die Europäische Atomgemeinschaft, heute Euratom, gegründet. Damals lebte man noch in der Überzeugung, dass „… die Kernenergie eine unentbehr- liche Hilfsquelle für die Entwicklung und Belebung der Wirtschaft und für den friedlichen Fortschritt darstellt …“. Ich glaube, diesen Satz teilt heute keiner mehr in diesem Parlament. Insofern wird hier auch keiner mehr dafür eintreten wollen, „... entschlossen die Vorausset- zungen für die Entwicklung einer mächtigen Kernindus- trie zu schaffen ...“. Genau diese beiden Sätze stehen aber so im Euratom-Vertrag – und zwar bis heute – und spiegeln damit den Geist des Euratom-Vertrages wider. Von der heutigen politischen Einschätzung zur Kern- energie ist dies aber weit entfernt. Insofern ist klar, dass dieser Vertrag reformiert werden und der Realität ange- passt werden muss. Bereits 2007 hat Deutschland unter der rot-grünen Bundesregierung zusammen mit den Regierungen von Irland, Ungarn, Österreich und Schweden auf europäi- scher Ebene dazu aufgefordert, die Substanz des Vertra- ges an die aktuellen Verhältnisse anzupassen. Leider hat sich seitdem wenig – besser gesagt nichts – getan. Das hat auch mit dem Regierungswechsel in Berlin zu tun. Denn CDU/CSU und FDP glaubten bis Fukushima ja immer noch an das Heil der Atomkraft. Aktuell hat die rot-grüne Landesregierung meines Bundeslandes Nord- rhein-Westfalen einen Entschließungsantrag in den Bun- desrat eingebracht, der ebenfalls eine Reform des Eura- tom-Vertrages anmahnt. Sie sehen, liebe Kolleginnen und Kollegen, die SPD zusammen mit den Grünen be- 15478 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 (A) (C) (D)(B) schäftigt sich schon lange und intensiv mit dem Thema Euratom. Um die Ziele des Euratom-Vertrages zu erreichen, wurde seitens der EU-Kommission im Rahmen des aktu- ellen 7. Forschungsrahmenprogramms für den Zeitraum 2007 bis 2011 insgesamt über 3 Milliarden Euro für For- schungsaktivitäten zur Verfügung gestellt. Über 2 Mil- liarden Euro gingen dabei in die Fusionsforschung, ins- besondere für die kontrovers diskutierte Entwicklung des Fusionsforschungsreaktors ITER. Für den Zeitraum 2012 bis 2013 wurde der Betrag für Euratom auf 2,5 Milliarden Euro festgelegt. Auch hierbei geht der größte Anteil des Geldes an ITER, nämlich 2,2 Milliar- den Euro. Fakt ist also, dass der Forschungsförderungs- bereich im Euratom-Vertrag derzeit vorwiegend zur Fi- nanzierung der Fusionstechnologie genutzt wird. Ob das Geld dort gut aufgehoben ist, darüber lässt sich trefflich streiten. Wir haben da große Zweifel. Es ist nicht eindeutig geklärt, ob Deutschland einsei- tig zum Beispiel durch Kündigung aus dem Euratom- Vertrag aussteigen kann. Unabhängig davon finde ich eine andere Argumentation überzeugender: Einen Verein oder eine Partei verändert man am besten von innen. Beim Euratom-Vertrag ist das nicht anders. Deshalb ver- stehe ich, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Lin- ken, Ihre Argumentation in diesem Punkt nicht. Sie for- dern im vorliegenden Antrag eine Reform und gleichzeitig den Ausstieg aus Euratom. Wenn man aber etwas verändern will, kann man doch nicht einfach aus dem Entscheidungsgremium aussteigen. Völlig logisch ist doch, dass sich Euratom nach einem Ausstieg Deutschlands gar nicht verändert. Übernahme von Ver- antwortung sieht meiner Meinung nach anders aus. In Deutschland wird 2022 endlich das letzte Atom- kraftwerk vom Netz gehen. Der strahlende Müll wird hingegen noch Generationen nach uns beschäftigen. Denn eine Lösung haben wir dafür immer noch nicht. In Europa wird es nach heutigem Stand leider auch über das Jahr 2022 Atomkraftwerke geben. Wir als Deutsche haben deshalb ein großes Interesse, dass die EU für alle Atomkraftwerke sowie Zwischen- und Endlager höchste einheitliche Sicherheitsstandards vereinbart. Im Bereich der Sicherheits- und Endlagerkonzepte besteht somit eu- ropäischer Forschungs- und Entwicklungsbedarf. Auch in der medizinischen Forschung wäre eine stärkere euro- päische Zusammenarbeit von Vorteil. Ich denke dabei zum Beispiel an die Behebung des Technetium-99-Man- gels. Klar muss aber auch sein, dass die Forschungsför- derung zum Ausbau oder sogar Neubau von Atomkraft- werken zur Energiegewinnung nicht Aufgabe einer gemeinsam finanzierten Forschungsförderung sein darf. Ob die Fusionsforschung im heutigen Finanzrahmen weitergeführt werden sollte, bleibt ebenfalls zu diskutie- ren. Die verstärkte Förderung von erneuerbarer Energie ist notwendig und richtig. Hierfür sind mehr nationale und europäische Anstrengungen nötig. Ob auf europäischer Ebene ein eigener Vertrag das adäquate Mittel ist, muss nun geprüft werden. Grundsätzlich halten wir den Schwenk von der europäischen Atompolitik hin zur För- derung von Effizienz und erneuerbaren Energien für un- ausweichlich, unverzichtbar und mit großen Chancen verbunden. Ich freue mich somit auf die weiteren Dis- kussionen zu den angesprochen Punkten mit Ihnen im Ausschuss. Heinz Golombeck (FDP): Der Euratom-Vertrag verpflichtet die einzelnen Mitgliedstaaten der Europäi- schen Union nicht, die Kernkraft zur Energiegewinnung zu nutzen bzw. den Kernenergiesektor in den eigenen Ländern auszubauen. Die Vorschriften des Vertrags bilden vielmehr den Rahmen für eine Zusammenarbeit der europäischen Mit- gliedstaaten auf den Gebieten der nuklearen Sicherheit und der Entsorgung, wie etwa bei den jüngst beschlosse- nen EU-weiten Risiko- und Sicherheitsbewertungen für Kernkraftwerke. Diese sind daher aus nicht verbrei- tungspolitischen Gründen und unter Aspekten des Strah- lenschutzes unabdingbar. Der Euratom-Vertrag erleichtert zudem die Zusam- menführung von Wissen, Infrastrukturen und Finanzmit- teln für die Kernenergie. Er gewährleistet die Sicherheit der Kernenergieversorgung im Rahmen eines zentrali- sierten Überwachungssystems. Die Euratom-Forschung findet im Rahmen mehrjähri- ger Programme statt, die aus dem EU-Haushalt finan- ziert werden. Gemäß dem Euratom-Vertrag sind die Euratom-Rahmenprogramme auf fünf Jahre begrenzt. Die EU-Kommission will das Euratom-Budget ent- sprechend dem Siebten Forschungsrahmenprogramm der EU bis 2013 verlängern. Es handelt sich um einen formal notwendigen Schritt, um die Laufzeit des Euratom-Rahmenprogramms der siebenjährigen Lauf- zeit des allgemeinen Siebten Forschungsrahmenpro- gramms, RP7, der EU anzupassen, das 2013 ausläuft. Der Vorschlag beinhaltet keine Änderung der Politik. Die EU-Organe hatten bei der Einleitung beider Pro- gramme im Jahr 2007 seine Vorlage bereits eingeplant. Bei Verabschiedung des vorgelegten Vorschlags durch den Rat könnten die laufenden Forschungsarbeiten fort- gesetzt werden, die insbesondere der Erhöhung der nuklearen Sicherheit und dem Strahlenschutz dienen. Das Euratom-Rahmenprogramm soll die Führung Europas im Bereich der Kernenergie aufrechterhalten, indem es vorkommerzielle Forschung unterstützt und den Technologietransfer zwischen Hochschulen und In- dustrie erleichtert. Insbesondere soll es zu einem sehr hohen Niveau im Bereich der nuklearen Sicherheit und der Gefahrenabwehr sowie zur Nichtverbreitung von Kernwaffen beitragen. Der Schwerpunkt wird auf der Ausbildung liegen, auf der Steigerung der Wettbewerbs- fähigkeit der bestehenden Nuklearindustrie und auf der Schaffung einer neuen spitzentechnologischen Industrie- branche für die Fusionsenergie. Für die FDP-Bundestagsfraktion ist die Investition in Zukunftsenergien, die keine das Klima schädigenden Emissionen, keine Endlagerprobleme und keine Prolife- rationsprobleme mit sich bringen und die die Energie- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15479 (A) (C) (D)(B) versorgung in der Grundlast dauerhaft sichern, lohnend und vielversprechend. Wir unterstützen daher die For- schung sowohl auf dem Gebiet der erneuerbaren Ener- gien als auch auf dem Gebiet der Kernspaltungs- oder Kernfusionsforschung. Nur so können wir die Heraus- forderungen einer sich rasch wandelnden Umwelt be- wältigen. Nicht zuletzt sind am ITER-Projekt führende deutsche Forschungseinrichtungen beteiligt. Dies unter- stützen wir maßgeblich, damit die deutsche Forschung auch weiterhin im internationalen Vergleich leistungs- und wettbewerbsfähig bleibt. Das vorgesehene Budget für das Euratom-Rahmen- programm von 2,5 Milliarden Euro für die Jahre 2012 und 2013 umfasst etwas mehr als 2,2 Milliarden Euro für die Kernfusionsforschung (86 Prozent), bei der der Schwerpunkt im Wesentlichen auf dem Bau des interna- tionalen Fusionsversuchsreaktors ITER in Frankreich liegt. Für die Forschungsprojekte im Bereich der Kernspal- tung – einschließlich Strahlenschutz – werden 118 Mil- lionen Euro bereitgestellt. Die Nuklearforschungs- arbeiten und die Arbeiten zur Gewährleistung der kerntechnischen Sicherheit der Gemeinsamen For- schungsstelle der Kommission werden mit 233 Millio- nen Euro unterstützt. Die FDP unterstützt die Arbeit der Gemeinsamen Forschungsstelle der Europäischen Kommission in der Weiterführung ihres Kernforschungsprogramms. Wir werden auch in Zukunft Unterstützung leisten bei der Entwicklung politischer Optionen für den geeignetsten „Energiemix“ für das 21. Jahrhundert, der den Zielen des Europäischen Strategieplans für Energietechnologie – SET-Plan für die Entwicklung von Technologien mit geringen CO2-Emissionen – entsprechen soll. Bestrebungen in Richtung einer einseitigen Kündi- gung des Euratom-Vertrages erteilt die FDP aus den ebengenannten Gründen eine entschiedene Absage. Es ist unser aller Aufgabe, dafür Sorge zu tragen, dass kein Mitgliedstaat sich einseitig von seiner jeweils übernom- menen Verantwortung für die nukleare Sicherheit in Europa verabschiedet. Eine Änderung des Euratom-Vertrages ist nur im Konsens aller EU-Mitgliedstaaten möglich. Ein einseiti- ger Austritt Deutschlands aus der Europäischen Atomge- meinschaft, EAG, ist unionsrechtlich nicht vorgesehen. Ein Austritt aus der EAG kann vielmehr nur im Paket mit einem Austritt aus der EU erfolgen. Die FDP-Fraktion setzt sich für eine Führungsrolle Europas im Bereich der nuklearen Sicherheit und der Gefahrenabwehr sowie für die Nichtverbreitung von Kernwaffen ein. Die Unterstützung der Euratom-Rah- menprogramme ist, insbesondere im Hinblick auf die Entwicklung politischer Optionen für den geeignetsten Energiemix der Zukunft, dringend notwendig. Dieses Ziel verliert der Linken-Antrag völlig aus den Augen. Wir lehnen ihn daher ab. Alexander Ulrich (DIE LINKE): Seit dem Bestehen der Europäischen Atomgemeinschaft, Euratom, also seit 54 Jahren, wird die Atomenergie in Europa von allen EU-Mitgliedsländern und damit von all ihren Bürgerin- nen und Bürgern mit Milliarden subventioniert und ge- fördert. Dies geschieht im Wesentlichen von der Öffent- lichkeit unbemerkt – nicht etwa weil die Menschen nicht interessiert daran wären, zu wissen, wohin ihr Geld fließt, nein, die Wahrheit ist vielmehr, dass sie davon gar nichts wissen können! Denn das Entscheidungsverfahren und die Finanzierung von Euratom verläuft intransparent und damit völlig undemokratisch. Die Bürgerinnen und Bürger der EU können weder Einfluss auf die Kreditvergabe und Forschungsförderung für Atomkraftwerke und Atomenergie nehmen, noch könnten sie sie verhindern. Aber selbst wenn das Verfah- ren transparenter wäre, hätten sie rechtlich nicht die ein- mal Möglichkeit, zu intervenieren. Denn die Finanzie- rung der europäischen Atomgemeinschaft unterliegt keiner demokratischen Kontrolle durch das Europäische Parlament. Dies ist aus mehreren Gründen mehr als skandalös. Zum einen ist die öffentliche Meinung mehrheitlich ge- gen den Ausbau der Atomenergie, mehrere Länder be- treiben keine Atomkraftwerke, haben einen Ausstiegsbe- schluss oder haben die Atomfreiheit, wie es in Österreich der Fall ist, in der Verfassung fest verankert. Trotzdem aber werden sie alle über den Euratom-Vertrag verpflichtet, Atomenergie weiterhin zu fördern. Selbst Firmen wie Siemens überlegen inzwischen, aufgrund des hohen Risikos der Atomenergie aus der Kernenergieforschung auszusteigen, auch hier fehlt es aufgrund des Euratom-Vertrages an politischer Unter- stützung. Zum Zweiten stellt diese milliardenschwere Subven- tionierung der Atomenergie in Europa einen Skandal an- gesichts der Ereignisse allein der letzten Monate dar. Die Nuklearkatastrophe von Fukushima, die Explosion im Atomkraftwerk Marcoule in Südfrankreich sowie die Feststellung von erhöhten Strahlenwerten in Gorleben haben gezeigt, dass die Nutzung der Atomenergie eine immense Gefahr für Mensch und Umwelt bedeutet und dass sie trotz dieser Milliardeninvestitionen und Subven- tionierungen keineswegs sicherer geworden ist. Mit Blick auf die angeblichen Ambitionen der EU- Kommission und der Bundesrepublik Deutschland, eine Energiewende hin zu erneuerbaren Energien vorantrei- ben zu wollen, gewinnt das Ganze eigentlich sarkasti- sche Züge. Denn es ist entlarvend, dass die EU seit Jahr- zehnten die größten Summen – und dies hat sich auch mit der Nuklearkatastrophe in Japan nicht geändert – nicht etwa in die Förderung der erneuerbaren Energien steckt, sondern in das Euratom-Programm. Und es ist auch entlarvend, dass die größten Summen des Euratom-Budgets nicht, wie offiziell behauptet wird, in den Strahlenschutz oder in die Verbesserung der Sicherheitsstandards investiert werden, sondern in die Erforschung der Kernspaltung und besonders der Kern- fusion. Ebenso wird die doppelgleisige Fahrt deutlich, indem die Bundesregierung die Milliardenbürgschaft für den 15480 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 (A) (C) (D)(B) Bau des brasilianischen Atomkraftwerkes Angra 3 ver- längert hat und keine Ambitionen zeigt, aus dem Eura- tom-Vertrag auszutreten oder ihn wenigsten einmal zu kritisieren, um damit einen am Ende sinnvollen Schritt hin zur Energiewende möglich zu machen. Auch dass SPD und Grüne, Letztere als angebliche Protagonisten der Umweltpolitik, keine konsequente Ini- tiative gegen und Kritik am Euratom-Vertrag und somit an der EU-weiten Förderung der Atomenergie starten, zeigt ihre heuchlerische Haltung in Sachen Atomenergie. Denn die Aufrechterhaltung des Euratom-Vertrages ver- wässert und konterkariert den von der Bundesregierung und von SPD und Grünen gestützten „Ausstiegsbe- schluss“. Denn ein ernst gemeinter Atomausstieg ist nur ohne Euratom möglich! Die Milliarden Euro, die in Euratom fließen, hätten längst für den Ausbau von erneuerbaren Energien und die hierfür benötigte Forschung verwendet werden müs- sen. Dies hätte uns gewiss schon ein großes Stück weitergebracht. Dieses Geld ist dringend nötig, um eine umweltverträgliche, arbeitsmarktorientierte und verant- wortungsvolle Energieversorgung zu ermöglichen. Die Linke fordert die Bundesregierung auf, sich für die Auflösung von Euratom und den Abschluss eines neuen europäischen Vertrages einzusetzen, auf dessen Grundlage eine alternative europäische Gemeinschaft zur Förderung von erneuerbaren Energien und Energie- einsparung eingerichtet wird. Die Linke fordert zudem, dass die Bundesregierung, solange die Auflösung von Euratom noch nicht durchgesetzt werden konnte, eine Initiative für die Entflechtung der vertraglichen Grundla- gen der EU und von Euratom zu ergreifen und den Eura- tom-Vertrag einseitig zu kündigen. Auf nationaler Ebene muss die Bundesregierung sich für den vollständigen Atomausstieg bis 2014 einsetzen und den Atomausstieg im Grundgesetz verankern. Strompreise sollen sozial abgefedert, und die Marktauf- sicht soll wahrgenommen werden. Nicht zuletzt müssen die großen Energiekonzerne entmachtet und die Ener- giewende demokratisiert werden. Die Energiewende auf- grund neuer Technologien wird viele neue Arbeitsplätze schaffen. Wir müssen diese Chance nutzen und eine de- zentrale und für alle Menschen bezahlbare Energiever- sorgung mit einer transparenten und demokratischen Bürger- und Bürgerinnenbeteiligung, mit verbindlichen Konzepten für faire Übergangsstrategien, die die Arbeit- nehmerinteressen in den Vordergrund stellen, und mit Umschulungs- und Fortbildungsmaßnahmen endlich auf den Weg bringen. Die vielen Mitgliedsländer der EU und ihre vielen Bürgerinnen und Bürger, die sich inzwischen deutlich gegen die Nutzung der Atomkraft aussprechen, müssen in ihrer Meinung endlich politische und rechtliche Un- terstützung finden. Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der im breiten gesellschaftlichen Konsens und fraktions- übergreifend beschlossene Atomausstieg bringt Deutschland nicht nur in die Vorreiterrolle für die um- weltverträgliche Energieversorgung. Es liegt auch im In- teresse Deutschlands, aus europäischer Verantwortung zum Motor bei der Neuausrichtung europäischer Ver- träge zu werden. Der deutsche Wissenschafts- und Produktionsstandort profitiert von der Weichenstellung hin zu einer an Nach- haltigkeitsgesichtspunkten ausgerichteten Industriepoli- tik. Deutsche Traditionsunternehmen, zum Beispiel Sie- mens, folgen bereits dem nun nach 2001 schon zum zweiten Mal eingeschlagenen Pfad des Atomausstiegs und ziehen sich aus dieser Risikotechnologie zurück. Das stärkt die Marktführerschaft im Sektor der erneuer- baren Energien und die Ausrichtung an den großen ge- sellschaftlichen Herausforderungen wie dem Klimawan- del und dem Schutz der natürlichen Ressourcen. Ein praktisch seit 1957 unverändert bestehender Ver- trag, wie Euratom, entspricht nicht mehr den energie- politischen und gesellschaftlichen Anforderungen der heutigen Zeit. Heute gilt es, die Entwicklung und Förde- rung erneuerbarer Energien voranzutreiben, um so eine Energieversorgung ohne unbeherrschbare Technologieri- siken sicherzustellen. Die Ausrichtung des Euratom-Ver- trages mit dem Ziel der „Entwicklung einer mächtigen Kernindustrie“ ist heute ein Anachronismus, der drin- gend neu verhandelt gehört. Nicht nur eine neue Risikobewertung führt zu dieser Einsicht, auch die Entsorgungsfrage ist nach wie vor un- gelöst. Heute sind wir uns der Verantwortung gegenüber nachfolgenden Generationen durch die falsche Weichen- stellung der Kernenergienutzung weit mehr bewusst als vor über einem halben Jahrhundert. Daher muss die durch den Euratom-Vertrag festgeschriebene Sonderstel- lung der Atomenergie endlich abgeschafft werden. Ins- besondere sollen alle Passagen des Euratom-Vertrages gestrichen werden, die Investitionen, Forschungsförde- rung und Genehmigungsprivilegien der Atomkraft ein- schließlich der Kernfusion begünstigen. Mit der Erklärung zur Schlussakte von Lissabon 2007 hat auch die Bundesregierung auf die zeitgemäße Anpas- sung des Euratom-Vertrages gedrängt. Da ohnehin 12 der 27 EU-Mitgliedstaaten keine Atomkraftwerke betreiben und sicherlich weitere Staaten dem Vorbild Deutsch- lands folgen, werden sich auf einer einzuberufenden Regierungskonferenz auch Mehrheiten für die grundle- gende Überarbeitung von Euratom finden. Sollte diese Neuausrichtung auf europäischer Ebene nicht durchsetz- bar sein, fordern wir die Bundesregierung auf, den Euratom-Vertrag von deutscher Seite aus zu kündigen. Jetzt gilt es, den europaweiten Ausstieg aus der Atomkraft vorzubereiten. Der Euratom-Vertrag steht da- bei grundsätzlich infrage und muss mit einem Enddatum versehen werden. Bei seinem Abschluss 1957 war Euratom auch ein Bekenntnis zur Gemeinschaft. Um dieses Bekenntnis zeitgemäß zu erneuern, fordern wir statt Euratom die Schaffung einer Europäischen Ge- meinschaft für erneuerbare Energien. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15481 (A) (C) (D)(B) Anlage 13 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Finanzkraft der Kommunen – Antrag: Wer bestellt, bezahlt – Konnexität zugunsten der Kommunen im Grundgesetz verankern – Antrag: Gemeindefinanzkommission ge- scheitert – Jetzt finanzschwache Kommunen – ohne Sozialabbau – nachhaltig aus der Schuldenspirale befreien (Tagesordnungspunkt 15 a bis c) Peter Götz (CDU/CSU): Heute ist ein guter Tag nicht nur für Europa, sondern auch für Städte, Gemein- den und Kreise in Deutschland. Das Gesetz zur Stärkung der Finanzkraft der Kommu- nen, das wir in erster Lesung beraten, ist der Einstieg in die größte Entlastung der Kommunen seit Bestehen der Bundesrepublik, und zwar ohne dass neue kostenträch- tige Aufgaben und sonstige Ausgabenpflichten übertra- gen werden. Es steht im Kontext mit dem bereits beschlossenen Bildungspaket. Zusammen gesehen entlastet der Bund die Kommunen bis zum Jahr 2020 in einer Größenord- nung von mehr als 50 Milliarden Euro. Dies reiht sich nahtlos in die kommunalfreundliche Politik der CDU/CSU-geführten Bundesregierung ein. Seit 2009 leisten wir in unterschiedlichsten Bereichen immer wieder wichtige Beiträge zugunsten kommunaler Kassen. Wir stärken so die Handlungsfähigkeit der Städte, Gemeinden und Kreise systematisch. So haben wir für die Kommunen durchgesetzt, dass sie die wichti- gen Investitionen des Konjunkturprogramms II einfacher umsetzen können; dass sie vom Wachstums- und Ar- beitsmarktimpuls seit 2010 profitieren; dass mit der Hartz-IV-Organisationsreform das Prinzip der Hilfe aus einer Hand in eine verfassungsfeste Form überführt wurde; dass sich noch mehr Kreise und Städte auf eige- nen Wunsch hin selbstständig um Langzeitarbeitslose kümmern können; dass der Ausbau der Kinderbetreuung und die frühkindliche Sprachförderung mit zusätzlichen Bundesmitteln massiv unterstützt werden; dass das Bil- dungspaket bei voller Kostenerstattung durch den Bund in kommunale Zuständigkeit überführt wurde; dass ih- nen zusätzlich drei Jahre lang 400 Millionen Euro für Schulsozialarbeiter und Hortmittagessen zustehen; dass sich der Bund an den Hartz-IV-Unterkunftskosten mit ei- ner festen Quote an den tatsächlichen Kosten beteiligt – um nur einige Punkte zu nennen. Heute beseitigen wir einen kommunalfeindlichen Akt der früheren rot-grünen Bundesregierung aus dem Jahr 2003. Die Kommunalpolitiker in unserem Land wissen ganz genau, wem sie die Kostenexplosion der vergange- nen Jahre im sozialen Bereich zu verdanken haben. Gerhard Schröder und Rot-Grün hatten die Altersgrund- sicherung im Jahr 2003 eingeführt und auf die Kommu- nen übertragen, ohne für die notwendige Finanzierung zu sorgen. Seit ihrer Einführung haben sich die Kosten der Grundsicherung verdreifacht. Sie belaufen sich zur- zeit auf jährlich 3,9 Milliarden Euro – mit dynamisch steigender Tendenz. Von der Übernahme der Grundsicherung im Alter profitieren verstärkt Kommunen mit strukturellen Pro- blemen und hoher Arbeitslosigkeit. Sie leiden besonders unter Finanzproblemen, weil sie in der Regel wenige Einnahmen, dafür aber besonders hohe Sozialausgaben haben. Der Anteil der Menschen mit einer schwachen Er- werbsbiografie ist in den Kommunen mit hoher Arbeits- losigkeit besonders hoch. Das heißt, dort leben viele Menschen, die auf die Grundsicherung im Alter ange- wiesen sind und damit die kommunalen Kassen überpro- portional mit besonders hoher Dynamik belasten. Durch die Übernahme der Grundsicherung wird die kommunale Selbstverwaltung wieder möglich. Der Deutsche Städtetag kommentierte dazu beispielsweise: „Die drückende Last der Sozialausgaben wird sich da- durch auf Dauer spürbar verringern.“ Bereits im Koalitionsvertrag haben sich CDU, CSU und FDP auf rasche und nachhaltige Hilfe für Städte, Gemeinden und Kreise verständigt – obwohl nach der Finanzverfassung die angemessene Finanzausstattung der Kommunen in die Zuständigkeit der Länder fällt. Wichtig ist uns, dass am Ende des Tages die Bundesmit- tel tatsächlich vor Ort ankommen und nicht an den kleb- rigen Fingern der Länderfinanzminister hängen bleiben oder über den kommunalen Finanzausgleich der Länder wieder abgeschöpft werden. Ich rate deshalb den kom- munalen Spitzenverbänden, ob in NRW, Rheinland- Pfalz oder Baden-Württemberg: Schauen Sie in den nächsten Jahren besonders genau ihren Landesregierun- gen auf die Finger! Wenn wir heute eine Debatte über die Kommunen führen, sollten wir uns auch anschauen, wie sich die kommunalen Investitionen entwickelt haben. Die Bilanz ist eindeutig: Ein Teil des unter Rot-Grün in den Jahren 1998 bis 2005 aufgebauten kommunalen Investitions- staus konnte unter unserer Führung aufgelöst werden. In den Jahren der Finanzkrise 2009 und 2010 stammte jeder sechste in den Kommunen investierte Euro aus den Mit- teln der Konjunkturpakete des Bundes. Allein 2010 be- deutete dies eine Steigerung der kommunalen Bauausga- ben um 10,5 Prozent auf 18,6 Milliarden Euro. Ich fasse also zusammen: Der wirtschaftliche Erfolg gibt Deutschlands Reform- politik recht. Die Politik hat die Weichen frühzeitig ge- stellt und gute Rahmenbedingungen geschaffen. Noch vor Ausbruch der weltweiten Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise initiierten CDU und CSU die Moderni- sierung unserer bundesstaatlichen Ordnung. 15482 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 (A) (C) (D)(B) Mit der Föderalismusreform wurde die in den vergan- genen Jahrzehnten aufgebauschte Verflechtung von Bund und Ländern gestoppt. Die Aufgabenzuweisung vom Bund an die Kommu- nen wurde ausgeschlossen, und so wurden die Kommu- nen nachhaltig geschützt. Das Staatswesen insgesamt wurde handlungsfähiger gemacht. In einer zweiten Reform sicherte die unionsgeführte Bundesregierung die langfristige Stabilität der Staatsfi- nanzen. Es gelang eine effektive Schuldenbegrenzung der öffentlichen Haushalte zu formulieren und diese im Grundgesetz einzumeißeln. Heute gilt die deutsche Schuldenbremse europaweit als Vorbild für nachhaltige Stabilität und Generationen- gerechtigkeit. Sie wird zunehmend von anderen europäi- schen Ländern übernommen. Die Koalition hat wichtige Ziele erreicht: Der Arbeitsmarkt ist in der besten Verfassung seit der Wiedervereinigung. Die Zahl der Erwerbstätigen ist größer als je zuvor. Deutschland ist gestärkt aus der Krise hervorgegangen. Als Träger der Sozialhilfe und der Unterkunftskosten von Hartz IV profitieren die Kommunen von dieser posi- tiven Entwicklung ebenso wie von den kräftig steigen- den Einnahmen bei der Gewerbesteuer. Kurzum, heute steht Deutschland sehr gut da! Und bei der internationalen Diskussion um die Stabilität in Europa schaut genau deshalb die ganze Welt auf uns. Die Kommunen in Deutschland stehen trotzdem noch vor vielen gewaltigen Aufgaben. Diese reichen vom Ausbau frühkindlicher Betreuung und Bildung über die Integration von Ausländerinnen und Ausländern bis zur Bewältigung der demografischen Herausforderung. Die städtebauliche Entwicklung und die Infrastruktur gilt es ebenso an die tatsächlichen Bedürfnisse der Men- schen anzupassen wie die örtlichen Strukturen zur Siche- rung der öffentlichen Daseinsvorsorge. Dazu gehört übrigens auch die anstehende Novelle des Kreislaufwirt- schaftsgesetzes. Nur mit starken Kommunen, die sich im Wettbewerb langfristig behaupten, kann in Deutschland Wohlstand gesichert werden. Wir vertrauen auf die Kraft und Leis- tungsfähigkeit unserer Gemeinden, unserer Städte und Kreise. Wir wollen, dass die Menschen vor Ort ihre Hei- mat selbst gestalten können. Das Gesetz zur Stärkung der Finanzkraft der Kommunen ist dazu ein wichtiger Beitrag des Bundes. Lassen Sie uns diesen Weg gemeinsam fortsetzen! Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Es ist ganz wichtig, dass wir Lösungen zur Stärkung der Finanzkraft der Städte und Gemeinden finden. Es darf nicht sein, dass Kommunen ihre Aufgaben zur Daseinsvorsorge für die Bürgerinnen und Bürger nicht mehr erbringen können, weil ihre Kassen leergespült sind. Wir können uns ein Gemeinwesen, das immer stärker ausblutet, nicht leisten. Deshalb haben wir uns im Ver- mittlungsausschuss zur Reform der Regelsätze im Januar und Februar dieses Jahres auch für die Kommunen stark gemacht. Wir haben durchgesetzt, dass die Grundsiche- rung im Alter vom Bund übernommen wird. Bisher zah- len dies zum größten Teil die Kommunen. Es hat mit den Ländern eine Vereinbarung gegeben, wie dies umgesetzt werden soll. Man hat sich auf drei Stufen beginnend ab 2012 mit einer Entlastung ab 2014 von 4,4 Milliarden Euro pro Jahr verständigt. Heute liegt uns nun der Gesetzentwurf der Ministerin vor. Man staune: Wir finden im Gesetz nur die Absiche- rung der ersten der insgesamt vereinbarten drei Stufen ab 2012 mit einem Volumen von 1,2 Milliarden Euro. Also mich wundert es nicht, dass die Kommunen von diesem Gesetzentwurf enttäuscht sind. Ich bin es im Übrigen auch. Im Begründungsteil des Gesetzentwurfs finden wir dann den Hinweis, warum zurzeit nur der erste Schritt möglich sei und die vereinbarte Anhebung der Bundes- beteiligung – also die Stufen zwei und drei –, ich zitiere, „einem weiteren Gesetzgebungsverfahren vorbehalten bleibt“, das allerdings erst im Laufe des Jahres 2012 er- folgen könne. Überzeugend ist diese Begründung nicht. Warum, so frage ich Sie, Frau Ministerin von der Leyen, haben Sie nicht frühzeitiger mit der Arbeit be- gonnen und rechtzeitig Ihre Hausaufgaben gemacht? Die Einigung im Vermittlungsausschuss liegt doch schon sie- ben Monate zurück. Schwarz-Gelb verunsichert mit dem jetzt vorgelegten Gesetzentwurf die Kommunen und bringt sie um die dringend notwendige Planungssicherheit. Nach der Eini- gung im Vermittlungsausschuss haben die Kommunen, der Deutsche Städtetag und natürlich auch die Länder zu Recht erwartet, dass die Regelung der vereinbarten Übernahme der Grundsicherung in einem Gesetzge- bungsakt erfolgt. Der Bundesrat hat sich dazu klar posi- tioniert – auch CDU-geführte Länder wollen das ganz genau so. Der Gesetzentwurf führt aber auch noch an einer wei- teren Stelle zur Verunsicherung. Wie soll die Kosten- erstattung gegenüber den Kommunen aussehen? Die Kommunen haben sich darauf verlassen, dass die tat- sächlich anfallenden Kosten der Grundsicherung wie verabredet in 2012 zu 45 Prozent, in 2013 zu 75 Prozent und dann ab 2014 zu 100 Prozent übernommen werden. Der Gesetzentwurf sieht jetzt jedoch vor, dass nicht die jeweils aktuellen Ausgaben, sondern lediglich die des Vorvorjahres als Berechnungsbasis gelten sollen. Die Städte und Gemeinden müssen also die Kostensteigerun- gen von zwei Jahren selbst tragen. Für Berlin wären das beispielsweise 40 Millionen Euro. Ich kann die Enttäu- schung der Kommunen darüber verstehen und wäre an ihrer Stelle auch misstrauisch. Wichtig ist, dass es rasch zu einer Einigung mit den Ländern kommt, denn der Gesetzentwurf braucht nicht nur die Zustimmung im Bundestag, sondern auch den Segen des Bundesrates. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15483 (A) (C) (D)(B) Die Entlastung bei der Grundsicherung im Alter ist für die Kommunen von großer Bedeutung: Im Jahr ihrer Einführung, 2003, bezogen etwa 439 000 Personen diese Leistung und bis zu den letzten verfügbaren bundeswei- ten Daten 2009 stieg die Zahl fast kontinuierlich auf knapp 764 000 an. Dementsprechend steigerten sich auch die Ausgaben von 1,45 Milliarden Euro im Jahr 2003 auf über 4 Milliarden Euro für 2009. In einer Stadt wie Lübeck, aus der ich komme, mit gut 210 000 Einwohnern wuchsen die Kosten kontinuierlich von rund 18 Millionen Euro im Jahr 2006 an, und sie werden dieses Jahr etwa 24 Millionen Euro erreichen. Abzüglich der bisherigen Erstattungen durch Bund und Land würde die Kostenübernahme durch den Bund für meine Hansestadt eine Entlastung von knapp 15 Millio- nen Euro jährlich bedeuten. Das ist ein toller Erfolg, den wir im Vermittlungsausschuss ausgehandelt haben. Al- lerdings werden aufgrund der von der Ministerin ge- wählten Abrechnungsbasis auch meiner Stadt 2 Millio- nen Euro fehlen. Die Ausgaben für die Grundsicherung im Alter wer- den sich durch die demografische Entwicklung weiter erhöhen. In meinem Wahlkreis wird von jährlichen Stei- gerungen von bis zu 5 Prozent ausgegangen. In anderen Städten wird es ähnlich aussehen. Was können wir tun, um die Kosten der Grundsiche- rung im Alter nicht aus dem Ruder laufen zu lassen – ganz egal, wer sie zahlt? Die Antwort ist eigentlich recht einfach: Liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/ CSU und FDP, machen Sie endlich eine Politik, die den Menschen hilft, gute Arbeit zu finden und faire, mindes- tens existenzsichernde Löhne zu erzielen; denn dann sind sie im Alter nicht auf Grundsicherung durch den Staat angewiesen. Stimmen Sie endlich einem gesetzli- chen Mindestlohn zu. Sorgen Sie dafür, dass Menschen nicht mehr von einem befristeten Arbeitsverhältnis ins nächste geschoben werden. Stellen Sie gleichen Lohn für gleiche Arbeit sicher. Legen Sie den Niedriglohnsek- tor trocken. Frauen sind überproportional von Grundsicherung im Alter betroffen, weil sie trotz guter Bildungsabschlüsse mit miesen Jobs und unfairen Löhnen abgespeist wer- den. Frauen im Westen Deutschlands erhalten nur eine halb so hohe Rente wie die Männer. Das ist eine soziale Schieflage, die sich unsere Gesellschaft nicht leisten darf. Handeln Sie endlich, und verbessern Sie die Chan- cen von Frauen auf dem Arbeitsmarkt. Ich fürchte, wir haben nicht viel in dieser Richtung von Ihnen zu erwarten. Statt die Chance sinkender Ar- beitslosigkeit zu nutzen, um Menschen wirksam zu hel- fen, die es auf dem Arbeitsmarkt trotzdem weiterhin schwer haben, streichen Sie die arbeitsmarktpolitischen Instrumente planlos zusammen und sparen so an den Ärmsten in unserer Gesellschaft. Das ist der falsche Weg. Wir werden dies ändern – spätestens 2013. Kirsten Lühmann (SPD): Wir beraten heute in ers- ter Lesung über den Entwurf eines Gesetzes zur Stär- kung der Finanzkraft der Kommunen. Das ist ein starker Name für ein längst überfälliges Vorhaben, ein Vorha- ben, das die Länder im Vermittlungsausschuss nach zä- hen Verhandlungen mit dem Bund erstritten haben. Ein starker Name, in der Tat. Aber das ist leider auch alles, was dieser Gesetzentwurf zu bieten hat. Meine Kollegin Frau Hiller-Ohm hat es bereits aufge- zeigt. Aber lassen Sie mich den Sachverhalt trotzdem noch einmal kurz zusammenfassen: Mit der Einigung im Vermittlungsausschuss zum SGB II Anfang 2011 ist auch vereinbart worden, dass der Bund schrittweise und ab 2014 vollständig die Grundsicherung im Alter über- nimmt. Ziel ist es, damit die Kommunen von Sozialaus- gaben zu entlasten. Diese Vereinbarung ist durch die Bundesregierung in der abschließenden Sitzung der Ge- meindefinanzkommission Mitte Juni 2011 noch einmal ausdrücklich bestätigt worden. Das jetzt angelaufene Gesetzgebungsverfahren zu der Umsetzung der Verein- barung lässt allerdings erhebliche Zweifel aufkommen, ob die Bundesregierung überhaupt eine vollständige Ent- lastung der Kommunen vornehmen will; denn der vorlie- gende Gesetzentwurf der Bundesregierung beinhaltet nur die Anhebung der quotalen Beteiligung des Bundes an den Kosten der Grundsicherung auf 45 Prozent in 2012. Dies ist jedoch nur die erste Stufe der Vereinbarung. Die Bundesregierung vertritt die Auffassung, dass die weiteren Schritte erst einer umfassenden Abstimmung mit den Ländern und den Kommunalen Spitzenverbän- den bedürften. Das, meine Damen und Herren, ist jedoch nur ein Spiel auf Zeit, ein Spiel auf Zeit zulasten der Kommunen und damit auch ein Spiel auf Zeit zulasten der Bürgerin- nen und Bürger, denn die Kommunen können ihren um- fassenden Aufgaben und Verpflichtungen gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern nur dann gerecht werden, wenn ihre finanzielle Leistungsfähigkeit mittel- und langfristig gesichert ist und die Kommunen damit hand- lungsfähig bleiben. Die finanzielle Lage der Kommunen ist ohnehin dra- matisch. Der summierte Finanzierungssaldo der Jahre 2009 bis 2011 beläuft sich nach Schätzung der Bundes- vereinigung der Kommunalen Spitzenverbände auf 23 Milliarden Euro. Allein 2011 beliefen sich die Kosten für die Kommunen, insbesondere durch weiter steigende Sozialausgaben, auf über 42 Milliarden Euro. Aber auch durch eine stetige Ausweitung von bereits bestehenden Aufgaben durch die Bundesgesetzgebung wird die finan- zielle Notlage der Kommunen stetig verschärft. Der Bundesregierung scheint dies aber völlig gleichgültig zu sein. Sie setzt sogar noch an überaus erfolgreiche Pro- gramme wie beispielsweise die „Soziale Stadt“ gnaden- los den Rotstift an. Durch dieses verantwortungslose Handeln entwickelt sich die Krise der Kommunen zuse- hends zu einer großen Strukturkrise. Die Bundesregierung scheint dies jedoch noch nicht im Ansatz realisiert zu haben. Im Gegenteil: Sie scheint sogar der Auffassung zu sein, sie habe mit der Über- nahme der Kosten der Grundsicherung im Alter ein All- heilmittel in der Hand, welches sie vor jeglicher finan- zieller Verantwortung gegenüber den Kommunen 15484 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 (A) (C) (D)(B) schütze. Ganz gleich, um welche finanziellen Vorhaben oder Kosten zulasten der Kommunen es geht, die Bun- desregierung bezieht sich gebetsmühlenartig auf die Kostenübernahme der Grundsicherung im Alter. Man bekommt gar den Eindruck, diese Maßnahme sei für die Bundesregierung ein Dukatenesel, mit dem sie das Land bereist und jede zukünftige Mehrbelastung bei den Kommunen bezahlen kann. Ein jeder, der die Grundrechenarten auch nur halb- wegs beherrscht, wird erkennen können, dass diese Rechnung vorne und hinten nicht aufgeht. Schlimmer noch: Die Bundesregierung erweckt dadurch den Ein- druck, sie würde mit der Übernahme der Kosten der Grundsicherung im Alter in Vorleistung treten. Das Ge- genteil ist jedoch der Fall: Dies ist eine längst überfällige Nachleistung, die in der jetzigen Form bei weitem nicht ausreicht, um die in Zukunft für die Kommunen entste- henden Kosten zu decken. Was die Bundesregierung überdies überhaupt nicht auf der Rechnung hat, sind die Befürchtungen der Kom- munen, dass die vom Bund zu erstattenden Kosten nicht vollständig oder nur unter Bedingungen an die Kommu- nen weitergegeben werden. Hier muss der Bund drin- gend handeln und mit den Ländern in den Dialog treten. Lassen Sie mich abschließend sagen: Ein Gesetz zur Stärkung der Finanzkraft wäre dringend geboten und er- forderlich. Die uns vorliegende Drucksache ist ein erster Schritt in diese Richtung, nicht mehr, aber auch nicht weniger. In den kommenden parlamentarischen Beratun- gen wird noch einiges zu klären sein, damit dieses Ge- setz seinem eigenen Anspruch annähernd gerecht wird. Pascal Kober (FDP): Mit dem heute eingebrachten Gesetz zur Stärkung der Finanzkraft der Kommunen vollziehen wir einen weiteren Schritt bei der Umsetzung des Vermittlungsergebnisses der Hartz-IV-Verhandlun- gen aus dem Februar dieses Jahres. Mit dem Gesetz beschließen wir den ersten Schritt zur Erhöhung der Bundesbeteiligung an den Nettoausgaben in der Grund- sicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. Die Gemeindefinanzkommission hat in ihrer Sitzung am 15. Juni dieses Jahres das Ergebnis des Vermittlungs- verfahrens einvernehmlich begrüßt. Es sorgt dafür, dass die Kommunen allein im Zeitraum zwischen 2012 und 2015 um voraussichtlich mehr als 12 Milliarden Euro entlastet werden. Noch nie wurden die Kommunen auf einen Schlag so stark entlastet. Obwohl die angemessene Finanzausstattung der Kommunen in der Zuständigkeit der Länder liegt, leistet der Bund mit der Kostenüber- nahme einen gewaltigen Beitrag zur Stärkung der Kom- munalfinanzen. Die Kostenübernahme für die Grundsicherung im Al- ter ab dem Jahr 2013 werden wir nach Klärung aller of- fenen Fragen mit den Ländern in einem eigenständigen weiteren Gesetzgebungsverfahren angehen. Es steht aber außer Frage, dass es zur Übernahme der Kosten der Grundsicherung im Alter kommen wird. Es gibt aber noch Gesprächsbedarf über das Wie der Ausgestaltung. Ab dem Jahr 2013 treten wir durch die Kostenüber- nahme in eine Bundesauftragsverwaltung ein, da der Bund über 50 Prozent der Kosten übernimmt. Dies erfor- dert eine Vielzahl von Rechtsänderungen sowie eine Verankerung von Prüf- und Weisungsrechten des Bun- des. Da die Ausgaben für die Grundsicherung trotz der in die richtige Richtung gehenden Vorhaben von Dr. Ursula von der Leyen im Rahmen des Rentendialogs im Alter künftig wohl weiter steigen werden, ist mit der Kosten- übernahme auch für eine nachhaltige Entlastung der kommunalen Finanzen gesorgt. Zudem können wir auch aufgrund einer erfolgreichen Wirtschafts-, Steuer- und Finanzpolitik dieser schwarz- gelben Bundesregierung positive Zahlen bei den Kom- munalfinanzen feststellen. So lag das Defizit der Kom- munen in den ersten sechs Monaten dieses Jahres nur noch bei 4,8 Milliarden Euro und damit um 3,5 Milliar- den Euro niedriger als im letzten Jahr. Das Statistische Bundesamt führt dies vor allem auf eine Steigerung der Einnahmen um 7,4 Prozentpunkte zurück. Die Steigerung ist vor allem auf ein Plus von 12,8 Prozent bei den Steuereinnahmen zurückzuführen. Sie machen innerhalb des Einnahmeplus den größten Teil aus. Dies ist vor allem durch die Gewerbesteuer be- dingt und damit sehr konjunkturabhängig. Leider konn- ten die Kommunen im Rahmen der Gemeindefinanz- kommission nicht davon abgebracht werden, an der Gewerbesteuer festzuhalten. Die FDP hätte die Einnahmen der Kommunen gerne konjunkturunabhängiger und damit auch nachhaltiger gestaltet. So kann ich schon jetzt vorhersagen, dass wir in der nächsten konjunkturellen Flaute wieder vermehrt Klagen aus den Kommunen über zu geringe Mittel hören werden. Sollte es dann wieder Initiativen geben, dass auch Freiberufler Gewerbesteuer zahlen sollen, wie dies heute auch wieder im Antrag der Grünen gefordert wird, werden wir dies entschieden ablehnen. Freiberufler sind eine wesentliche Säule der deutschen Wirtschaft und schaffen eine Vielzahl von Arbeitsplätzen. Sie tun dies unter persönlicher Haftung und leisten mit ihrer Eigen- verantwortung einen enormen gesellschaftlichen Bei- trag, der unsere Anerkennung verdient. Die Einführung der Gewerbesteuer, wie sie Ihnen vorschwebt, würde zu einer zusätzlichen steuerlichen Belastung für Selbstständige führen, was wiederum für Bürgerinnen und Bürger zu Preissteigerungen führen würde, die entweder direkt oder durch höhere indirekte Kosten zum Beispiel im Gesundheitswesen und dann durch höhere Sozialversicherungsbeiträge durchschla- gen würden. Sie von Bündnis 90/Die Grünen kritisieren die Steuer- senkungsabsichten der Koalition. Dabei sind Sie doch die größte Steuersenkungspartei in der jüngeren Ge- schichte der Bundesrepublik Deutschland. Sie haben in Ihrer Regierungszeit die Steuern in einem Volumen von 32 Milliarden Euro gesenkt. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15485 (A) (C) (D)(B) Ziel der FDP bleibt eine nachhaltige, solide Finanzie- rung der Kommunalfinanzen. Einen ersten Schritt schaf- fen wir mit diesem Gesetz. Katrin Kunert (DIE LINKE): Die Entlastung der Kommunen ist der Koalition so wichtig, dass sie die erste Lesung des „Gesetzentwurfs zur Stärkung der Fi- nanzkraft der Kommunen“ an das Ende der heutigen Sit- zung platziert hat. Am 15. Juni 2011 hat die Gemeindefinanzkommis- sion ihre Arbeit eingestellt. Nach mehr als einem Jahr hat sie ihr klägliches Laienspiel beendet. Positiv schlägt zu Buche, dass Schwarz-Gelb mit dem Versuch geschei- tert ist, die Gewerbesteuer abzuschaffen. Negativ ist, dass sich an der Finanznot vieler Kommunen nichts än- dert wird. Hier hat die Gemeindefinanzkommission ver- sagt. Die Reform der Gemeindefinanzen bleibt auf der Ta- gesordnung. Die Finanznot der Kommunen kann man nur lindern, indem man sie stärker am Gesamtsteuerauf- kommen beteiligt und indem man die Einnahmen aus der Gewerbesteuer stabilisiert und sie in Form einer Ge- meindewirtschaftsteuer verlässlicher gestaltet. Die Linke wird hierzu auch weiterhin initiativ werden. Wir werden auch alle Initiativen im Bundestag unterstützen, die eine wirkliche Stärkung der Finanzkraft der Kommunen zum Ziel haben. Einziges Ergebnis der Gemeindefinanzkommission im Bereich Finanzen ist die Entlastung der Kommunen bei der Grundsicherung im Alter. Die Bundesregierung hat erklärt, die Kosten hierfür schrittweise und ab 2014 ganz zu übernehmen. Sicher wäre dies zu begrüßen, wenn nicht andere Entscheidungen dies ins Gegenteil verkehren würden. Anmaßend und zynisch finde ich es, den uns vorlie- genden Gesetzentwurf „Gesetz zur Stärkung der Finanz- kraft der Kommunen“ zu nennen. Zur Stärkung der der Finanzkraft der Kommunen gehört mehr als eine Entlas- tung der Kommunen im Bereich der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. Außerdem werden im gleichen Atemzug die Kommu- nen an anderer Stelle wieder belastet und ein Teil der Mittel – 400 Millionen Euro – mit dem Gesetzentwurf bereits verplant. Die Übernahme der Kosten für die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung soll durch eine dras- tische Reduzierung der Bundesbeteiligung an der Ar- beitsförderung refinanziert werden. Dadurch werden we- niger Mittel für die aktive Arbeitsmarktpolitik zur Verfügung stehen, was zulasten von Arbeits- und Er- werbslosen geht. Die Kommunen brauchen zwar dringend eine Entlas- tung bei den Sozialausgaben, dies muss aber geschehen, ohne dass es gleichzeitig an anderer Stelle zu entspre- chenden Kürzungen kommt. Sowohl die Grundsiche- rung im Alter als auch die Arbeitsmarktinstrumente die- nen der Absicherung allgemeiner Lebensrisiken, für die nicht die Kommunen, sondern die Bundesregierung zu- ständig sind. Die Kommunen sind nur für die örtlichen Risiken und deren Lösung zuständig. Die Bundesregierung erwartet, dass die Kommunen die frei werdenden Mittel für eine dauerhafte Finanzie- rung des Mittagessens in Schulhorten oder für Schulso- zialarbeit einsetzen. Das ist ein Eingriff in die kommu- nale Selbstverwaltung, den Die Linke nicht mittragen wird. Darüber hinaus ignoriert der Gesetzentwurf auch schwerwiegende Kritikpunkte der kommunalen Spitzen- verbände und des Bundesrates. Ich möchte an dieser Stelle auf drei Punkte eingehen. Erstens. Es ist nach wie vor offen, wie sichergestellt werden soll, dass das Geld bei den Kommunen vollstän- dig ankommt. Die Kommunen haben hier bereits leid- volle Erfahrung gemacht. Die Länder haben in der Ver- gangenheit Mittel des Bundes für die Kommunen nicht oder nicht ausreichend weitergeleitet. Der Forderung der Kommunen, hier eindeutige Regelungen zu schaffen, sind Sie von der Bundesregierung nicht nachgekommen. Das aber ist Voraussetzung dafür, dass die Kommunen wirklich entlastet werden. Ich fordere Sie daher auf, dies umgehend nachzuholen. Zweitens. Bisher sollen der Berechnung der Bundes- beteiligung nicht die tatsächlichen Ausgaben der Länder und Kommunen für die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung zugrundegelegt werden. Berech- nungsgrundlage sollen die Ausgaben im jeweiligen Vor- vorjahr sein. Das aber bedeutet, dass Länder und Kom- munen den Anstieg der Ausgaben im laufenden Jahr im Vergleich zum Vorjahr selbst finanzieren müssen. Damit entsteht für sie ein dauerhafter Fehlbetrag. Allein an die- ser Regelung wird deutlich, wie ernst Sie es meinen mit der Entlastung der Kommunen. Drittens. Der Referentenentwurf des BMAS vom 6. Juni 2011 regelte noch die Kostenübernahme für die Jahre 2012, 2013 und 2014. Der nun vorliegende Gesetz- entwurf regelt nur die Kostenübernahme für 2012. Die weiteren Steigerungsschritte sollen später geregelt wer- den. Die Begründung der Bundesregierung dafür lautet, ich zitiere aus der Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesrates: „Die Erhöhungs- schritte für die Jahre 2013 (auf 75 Prozent) und 2014 (auf 100 Prozent) bleiben einem gesonderten Gesetzge- bungsverfahren vorbehalten, weil aufgrund des Errei- chens und Überschreitens eines hälftigen Anteils der Bundesmittel an den Nettoausgaben für die Grundsiche- rung im Alter und bei Erwerbsminderung ab dem Jahr 2013 nach Art. 104 a Abs. 3 Satz 2 des Grundgesetzes Bundesauftragsverwaltung eintritt. Da die Erhöhung der Bundesbeteiligung für das Jahr 2012 bis zum Jahresende 2011 beschlossen werden muss, steht im vorliegenden Gesetzgebungsverfahren nicht ausreichend Zeit zur Re- gelung der Umsetzung der Bundesauftragsverwaltung zur Verfügung.“ Liebe Bundesregierung, das wussten Sie bereits im Februar. Es war also genügend Zeit, um diese Änderun- gen mit dem heutigen Gesetzentwurf vorzulegen. Ich meine, dass Sie sich mit der jetzigen Regelung eine Hin- 15486 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 (A) (C) (D)(B) tertür offen lassen wollen. Möglicherweise wollen Sie Ihre Entscheidung noch einmal überdenken? Ich kann Ihnen versprechen, die Linke wird sehr genau hin- schauen und darauf drängen, damit Sie Ihrer Verantwor- tung nachkommen. Sollte sich an dem Gesetzentwurf nichts ändern, wird meine Fraktion dieses Gesetz ablehnen. Es ist nicht nur mit großen Mängeln behaftet, es ist auch ein vergiftetes Geschenk an die Kommunen. Auch wenn sich die Einnahmen aus der Gewerbe- steuer nach dem krisenbedingten Einbruch insgesamt wieder erholen, gibt es keinen Grund zur Entwarnung. Die Entlastung der Kommunen – auch das sei an dieser Stelle gesagt –, die nur einem Teil der Kommunen zugu- tekommt, ist keine befriedigende Lösung. Die Kosten für die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung machen nur 10 Prozent der gesamten Sozialausgaben aus. Das strukturelle Defizit wird nicht beseitigt. Und das Problem, dass Bund und Länder ständig neue Aufgaben auf die Kommunen übertragen und dafür nur unzurei- chend Mittel zur Verfügung stellen, wird auch nicht ge- löst. Der Bund kann zwar nicht mehr auf direktem Wege den Kommunen Aufgaben übertragen. Dieser Weg ist dem Bund seit der Föderalismusreform verwehrt. Aber er hat die Möglichkeit, über die Länder den Kommunen neue Aufgaben zu übertragen und bereits übertragene Aufgaben qualitativ und quantitativ zu erweitern. Und davon macht er zur Genüge Gebrauch. Ein aktuelles Beispiel: Am 26. September 2011 fand eine Anhörung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Stärkung des Schutzes von Kindern und Jugendli- chen statt. Das Anliegen des Gesetzes ist sicher zu be- grüßen. Was nicht zu begrüßen ist, ist, dass wieder ein- mal versucht wird, neue Aufgaben über die Länder auf die Kommunen zu übertragen bzw. bestehende zu erwei- tern, ohne sie auskömmlich zu finanzieren. Die Kommu- nen erhalten dafür nicht die Mittel, die notwendig wären, um die Aufgaben in der entsprechenden Qualität zu er- füllen. Ich zitiere aus der Stellungnahme der kommunalen Spitzenverbände zum Gesetzentwurf: „Der vorliegende Gesetzentwurf beinhaltet … einige ganz wesentliche Aufgabenverdichtungen und ebenso einige ganz grund- sätzliche neue Aufgaben der Jugendhilfe. Hierzu erfolgt eine nicht nachvollziehbare Kosteneinschätzung seitens des BMFSFJ, dessen Auskömmlichkeit vor dem Hinter- grund des Umfangs der mit dem Gesetzentwurf verbun- denen Aufgaben grundlegend bezweifelt wird. … Neben der Auskömmlichkeit dieser Mittel steht hier zu befürch- ten, dass nach Auslaufen der befristeten Bundesfinanzie- rung eine kommunale Verstetigung erwartet wird.“ Weitere Beispiele sind: Änderungen im Vormund- schafts- und Betreuungsrecht, im Eichwesen, die Einfüh- rung des elektronischen Aufenthaltstitels und die Ein- führung des elektronischen Personalausweises haben zur Erweiterung der Aufgaben geführt, ohne dass die dafür notwendigen Mittel bereitgestellt worden wären. Die Bundesregierung muss endlich begreifen, dass auch für sie gilt: Wer die Musik bestellt, muss zahlen. Die Einführung eines Konnexitätsprinzips dürfte ei- gentlich in diesem Hause auf breite Zustimmung stoßen. Es ist nicht nur unsere Auffassung, auch Bündnis 90/Die Grünen und SPD erheben diese Forderung. Und selbst die FDP hatte in der letzten Wahlperiode immer wieder die Einführung eines Konnexitätsprinzips gefordert. Sie haben nicht nur einen Antrag zur Einfüh- rung eines Konnexitätsprinzips eingebracht, sondern auch jede sich bietende Möglichkeit genutzt, dies zu for- dern. Insbesondere Frau Piltz hat zum Beispiel am 29. August 2007 im Zusammenhang mit dem Kitaaus- bau erklärt: „Das Hickhack um die Finanzierung zeigt einmal mehr, dass es ein kapitaler Fehler war, im Rah- men der Föderalismusreform kein Konnexitätsprinzip im Grundgesetz zu verankern. Wenn sich bei einer gesamt- gesellschaftlichen Aufgabe wie der Kindertagesbetreu- ung eigentlich alle einig sind, dass etwas getan werden muss, ist es unverantwortlich, dass die Kostentragung nicht schnell und unkompliziert geklärt werden kann. Die FDP wird sich daher weiterhin für die Verankerung des Grundsatzes ‚Wer bestellt, bezahlt‘ im Grundgesetz einsetzen.“ Ich bin gespannt, wie die FDP sich zu unserem An- trag verhalten wird. Die Einführung eines Konnexitätsprinzips im Grund- gesetz ist dringender denn je. Es schützt die Kommunen vor Mehrbelastungen und eröffnet ihnen die Möglich- keit, gegen den Bund – wenn erforderlich – auch gericht- lich vorzugehen. Bisher können durch den Bund ausge- löste Aufgabenübertragungen von den Kommunen nicht auf dem direkten Rechtsweg angegriffen werden. Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir diskutieren heute einen Gesetzentwurf, mit dem die Bundesbeteiligung an der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsunfähigkeit neu geregelt werden soll. Diese finanzielle Unterstützung seitens des Bundes ist bereits im Februar im Zuge des Hartz-IV-Kompromisses verein- bart worden. Sie ist für die strukturell unterfinanzierten Kommunen eine dringend notwendige Maßnahme, wer- den doch ausweislich des Gemeindefinanzberichtes die Ausgaben der Kommunen für soziale Leistungen allein in diesem Jahr von 42 Milliarden Euro auf 45 Milliarden Euro steigen. Zehn Jahre zuvor waren es noch 26 Mil- liarden Euro. Die Kostenentwicklung bei den sozialen Pflichtleistungen ist mithin dramatisch. Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP, sind im Februar durch die Lande gezogen und haben den Kommunen eine Entlastung von rund 4 Mil- liarden Euro ab dem Jahr 2014 versprochen. Dabei ha- ben Sie nicht erwähnt, dass Sie von den Kommunen im Gegenzug verlangen, dass sie ab diesem Jahr auch das im Hartz-IV-Kompromiss vereinbarte Hortessen und die Ausgaben für die Einstellung von 3 000 Schulsozialar- beiterinnen und -arbeitern finanzieren sollen. Jedenfalls versuchen Sie nun, im Gesetzentwurf durch die Hinter- tür eine Zweckbindung zu erreichen, indem Sie in der Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15487 (A) (C) (D)(B) Begründung erwähnen, dass die Kommunen nun auch genügend Mittel zur Übernahme dieser Kosten hätten. Für die Bürgerinnen und Bürger in den Gemeinden ist es kein gutes Signal, dass Sie die Vereinbarung zur Grundsicherung im Alter aus dem Vermittlungsverfah- ren zu Hartz IV auch im Schlussbericht der Gemeinde- kommission abfeiern mussten, damit Sie dort überhaupt ein Ergebnis zu vermelden haben, nachdem Sie mit Ih- rem Projekt, die Gewerbesteuer abzuschaffen, zum Glück gescheitert sind. Damit hätten Sie die Gemeinde- finanzen weiter geschwächt. Jetzt, da Sie die Chance haben, Ihre Versprechen ein- zulösen, regeln Sie mit dem Gesetzentwurf nur den ers- ten Schritt der vereinbarten Entlastung: die Erhöhung des Bundesanteils von 16 auf 45 Prozent im Jahr 2012. Die Kommunen, die in 2011 trotz besserer Steuereinnah- men immer noch ein Defizit von 5 Milliarden Euro aus- weisen, brauchen jetzt dringend ein Zeichen für Pla- nungssicherheit. Warum säen Sie jetzt Zweifel, dass Sie auch gewillt sind, sich ernsthaft an Ihre Zusagen, nämlich 75 Prozent in 2013 und 100 Prozent in 2014 zu übernehmen, zu hal- ten? Die Begründung im Gesetzentwurf, dass die Umset- zung der weiteren Schritte daran scheitere, dass es zu ei- ner Bundesauftragsverwaltung käme, greift nicht. Die Bundesregierung hatte seit Februar dieses Jahres, als der Hartz-IV-Kompromiss besiegelt wurde, Gelegenheit, ein Abstimmungsverfahren mit den Ländern und den kom- munalen Spitzenverbänden dazu einzuleiten. Auch der Bundesrat sieht in seiner Stellungnahme vom 23. September 2011 offenbar kein Problem darin, alle vereinbarten Schritte sofort in diesem Gesetzentwurf umzusetzen. Es gibt also keinen sachlichen Grund, das Versprechen, die Grundsicherung im Alter ab 2014 voll- ständig zu übernehmen, jetzt auch gesetzlich umzuset- zen. Offenbar wollen Sie die Ausgaben für die Grund- sicherung auch nicht eins zu eins an die Kommunen wei- terleiten. Der Gesetzentwurf sieht eine Kostenerstattung auf Basis der tatsächlichen Ausgaben des Vorvorjahres vor. Anstatt eine Spitzabrechnung vorzunehmen, schie- ben Sie den Kommunen die Last der Vorfinanzierung von zwei Jahren zu. Vor dem Hintergrund von jährlichen Steigerungsraten von 7 Prozent enthalten Sie Kommu- nen damit eine halbe Milliarde Euro vor. Das ist nicht trivial. Einer Stadt wie Bielefeld, die heute rund 19 Mil- lionen Euro für die Grundsicherung ausgibt, fehlen da- durch 2,7 Millionen Euro. Damit ließe sich kommunal eine Menge auf die Beine stellen oder so manches Haus- haltsloch stopfen. Wenn Sie schon nicht in der Lage sind, mit der von Ihnen eingerichteten Gemeindefinanzkommission die Einnahmen der Kommunen, insbesondere durch Refor- men der Gewerbe- und der Grundsteuer, zu stärken und zu stabilisieren, sollten Sie wenigstens das einzig nen- nenswerte Resultat dieser Kommission vollständig um- setzen. Statt mit Trickspielen die Abrechnungen zuguns- ten des Bundes zu schönen, sollten Sie den Bürgerinnen und Bürgern vor Ort in den Städten und Gemeinden zei- gen, dass Sie es ernst meinen mit Ihrem Versprechen, die Gemeinden von den wachsenden Belastungen aus der Grundsicherung im Alter zu entlasten. Angesichts dramatischer Haushaltsnotlagen, insbe- sondere bei Gemeinden in strukturschwachen Gebieten, kann die Übernahme der Grundsicherung im Alter nur ein erster Schritt zur Stärkung der Kommunalfinanzen sein. Die Länder machen sich inzwischen auf, Entschul- dungsprogramme für ihre Kommunen in Haushaltsnotla- gen umzusetzen. Vor dem Hintergrund der Schulden- bremse ist dies für die Länder, insbesondere für Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen, ein großer finanzieller Kraftakt. Diese Entschuldungsprogramme werden trotz harter Sparvorgaben bei den betroffenen Kommunen ins Leere laufen, wenn die Kommunen bei den sozialen Pflichtleistungen nicht weiter nachhaltig entlastet werden. Wegen des Zusammenhangs zwischen Arbeitslosig- keit, Unterkunftskosten und kommunalen Kassenkredi- ten plädieren wir Grüne weiter für höhere Bundesanteile an den Unterkunftskosten für ALG-II-Beziehende. Die Kostenaufwüchse der Vergangenheit und künftige Kos- tensteigerungen dürfen nicht mehr einseitig allein von den Kommunen getragen werden. Hier haben Sie, werte Kolleginnen und Kollegen von der CDU, ein weiteres Mal schlecht für die Städte und Gemeinden gesorgt, als Sie in dem besagten Hartz-IV-Kompromiss die Bundes- anteile an den Unterkunftskosten für ALG-II-Bezie- hende auf 25,1 Prozent eingefroren haben. Ich erinnere Sie daran, dass Ihre Parteikollegen in Nordrhein-Westfa- len gemeinsam mit den Grünen und der SPD eine Bun- desbeteiligung von 50 Prozent gefordert haben. Schließlich fordert meine Fraktion in unserem An- trag, finanzschwache Kommunen ohne Sozialabbau zu unterstützen. Völlig inakzeptabel ist die Gegenfinanzie- rung der Übernahme der Grundsicherung im Alter durch eine Streichung des Bundeszuschusses für die Arbeits- agentur in gleicher Höhe. Flankiert durch die sogenannte Instrumentenreform bei den arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen drohen massive Kürzungen in der Arbeits- marktpolitik vor Ort. Wir Grüne sind deshalb zu Recht im Februar aus dem Vermittlungsverfahren um Hartz IV ausgestiegen. Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Arbeit und Soziales: Mit dem vor- liegenden Gesetzentwurf zur Stärkung der Finanzkraft der Kommunen setzen wir die Protokollerklärung des Vermittlungsausschusses vom Februar dieses Jahres um, indem der Bund schrittweise die Kosten der Grundsiche- rung im Alter und bei Erwerbsminderung vollständig übernimmt und die Kommunen damit im Milliardenbe- reich jährlich entlastet. Die Annahme der Protokollerklä- rung hat maßgeblich zur Einigung in dem jahrelangen Streit über die Höhe der Regelbedarfe in der Sozialhilfe und in der Grundsicherung für Arbeitsuchende beigetra- gen. Ich glaube, dass es sich lohnt, daran zu erinnern, wie der Streit eigentlich entstanden ist. Vor zehn Jahren, im Jahr 2001, hat die damalige Bun- desregierung mit der damaligen Parlamentsmehrheit be- schlossen, die bedarfsorientierte Grundsicherung im Al- 15488 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 (A) (C) (D)(B) ter und bei Erwerbsminderung in der Form einzuführen, dass bei Bedürftigkeit im Alter auf enge Familienange- hörige nur noch dann Rückgriff genommen wird, wenn das Jahreseinkommen dieser engen Familienangehöri- gen mindestens 100 000 Euro beträgt. Der den Kommu- nen insbesondere daraus entstehende sogenannte grund- sicherungsbedingte Mehraufwand wurde im Jahr 2001 von der damaligen Bundesregierung ursprünglich auf 600 Millionen DM oder 307 Millionen Euro pro Jahr ge- schätzt. Nur diese Summe sollte aus der Sicht der im Jahr 2001 im Bund Regierenden den Mehraufwand der Kommunen ausgleichen. Eine Dynamisierung war nicht vorgesehen. Entsprechend hat eine Rednerin der SPD- Fraktion am 26. Januar 2001 unter dem Beifall ihrer Fraktion in diesem Hohen Haus festgestellt, dass – ich zitiere – „die den Kommunen dadurch“ – durch den Ver- zicht auf den Unterhaltsrückgriff – „entstehenden Kos- ten vom Bund getragen werden. Die Kommunen werden also nicht belastet (…).“ Zitat Ende. Entsprechend heißt es auch in der Gesetzesbegrün- dung, dieser Betrag stelle sicher – ich zitiere –, „dass der Bund den Ländern diejenigen Mehrausgaben ausgleicht, die den Kreisen und kreisfreien Städten als Trägern der Sozialhilfe wie auch als Trägern der Grundsicherung un- mittelbar aufgrund der gegenüber dem Sozialhilferecht besonderen Regelungen im Gesetz über eine bedarfs- orientierte Grundsicherung im Alter und bei Erwerbs- minderung entstanden sind.“ Zitat Ende. Dem sich an- schließenden Vermittlungsverfahren ist es zu verdanken, dass der Betrag zumindest auf 409 Millionen angehoben wurde. Ich bin froh darüber, dass heute niemand mehr ernsthaft der Meinung ist – anders als vor zehn Jahren, als die damalige Opposition schon erklärt hat, das sei zu wenig für die Kommunen, sich aber nicht durchsetzen konnte –, dass mit 409 Millionen Euro oder gar nur 307 Millionen Euro der grundsicherungsbedingte Mehr- aufwand gedeckt ist. In der Großen Koalition ist die absolute Summe der Bundesbeteiligung dann auf eine prozentuale Summe umgestellt und dynamisiert worden, so dass wir heute bei einer Beteiligung von 15 Prozent sind und nach der geltenden Rechtslage im nächsten Jahr bei einer Beteili- gung von 16 Prozent wären, die wir aber nicht umsetzen wollen, weil der Bund in der Protokollerklärung zuge- sagt hat, seinen Anteil an den Nettoausgaben für die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung im Jahr 2012 auf 45 Prozent‚ im Jahr 2013 auf 75 Prozent und vom Jahr 2014 an auf 100 Prozent zu erhöhen. Zu dieser übernommenen Verpflichtung steht der Bund ohne Wenn und Aber. Ich weise in diesem Zusam- menhang darauf hin, dass in der Protokollerklärung keine Verabredung getroffen worden ist, diese Zusage in einem einzigen Gesetz in diesem Jahr umzusetzen. Dazu besteht auch keine Notwendigkeit. Wir legen hier einen Gesetzentwurf vor, der vorsieht, für das nächste Jahr die Beteiligung des Bundes in Höhe von 45 Prozent festzu- setzen. Kritik wurde dahin gehend laut, dass die Bundesre- gierung aufgrund des Eintretens von Bundesauftragsver- waltung die weiteren Erhöhungsschritte der Bundesbe- teiligung in einem separaten Gesetzgebungsverfahren regeln will. Bundesauftragsverwaltung liegt unstreitig dann vor, wenn mindestens 50 Prozent der Geldleistun- gen vom Bund erbracht werden. Bei der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung bringt sie erhebli- che Veränderungen mit sich, mit denen im Sozialhilfe- recht Neuland betreten wird. Es gibt bislang kein in der Dimension vergleichbares Sozialleistungssystem, das in Bundesauftragsverwaltung durchgeführt wird. Ich denke nur daran, dass sich die Ausführung auf rund 450 Sozial- hilfeträger verteilt und dass rund 770 000 leistungs- berechtigte Personen betroffen sind. Niemand wird er- warten, dass der Bund Ausgaben von jährlich etwa 5 Milliarden Euro übernimmt, ohne die gemeldeten Aus- gaben und ihre Verwendung überprüfen zu können. Bundesauftragsverwaltung wird auch in Zukunft nicht das gesamte Zwölfte Buch Sozialgesetzbuch be- treffen, sondern nur den Teilbereich der genannten Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung; im Übrigen bleibt es bei der Eigenverwaltung. Bei der Um- setzung der Bundesauftragsverwaltung geht es folglich auch um die Frage, ob Eigenverwaltung und Auftrags- verwaltung in einem Gesetz nebeneinander stehen kön- nen, ob sich hieraus ein funktionsfähiges und ver- fassungskonformes Gesetz ergibt. Das alles sind komplizierte Rechtsfragen, die zu erörtern sind. Was die Kritik an der im Gesetzentwurf der Bundes- regierung vorgesehenen Orientierung an den Ausgaben des Vorvorjahres bei der Erstattung betrifft, so ist festzu- stellen, dass die entsprechenden Daten des Statistischen Bundesamtes zur Sozialhilfestatistik für ein Kalender- jahr nicht früher vorliegen. Das heißt, verdeutlicht an ei- nem Beispiel: Im Jahr 2011 wurde die Bundesbeteili- gung am 1. Juli an die Länder gezahlt. Erst zum 1. April 2011 lagen – über das Statistische Bundesamt – die end- gültigen Ergebnisse der Nettoausgaben bei der Grund- sicherung im Alter und bei Erwerbsminderung für das Jahr 2009 vor. Ich glaube, es ist unser gemeinsames Interesse, zu ei- ner korrekten, sorgfältigen und verfassungsfesten Um- setzung der Protokollerklärung zu kommen. Deswegen legen wir einen Gesetzentwurf vor, der zunächst in die- sem Jahr die für das nächste Jahr notwendigen Schritte vornimmt. Es kann keinen Zweifel daran geben, dass der Bund zu seiner Zusage einer nachhaltigen finanziellen Entlas- tung der Kommunen steht. Im heute zu beratenden Ent- wurf eines Gesetzes zur Stärkung der Finanzkraft der Kommunen sind die entsprechenden finanziellen Aus- wirkungen schwarz auf weiß dargestellt. Die Erhöhungs- schritte für 2013 und 2014 mit ihren finanziellen Aus- wirkungen bis zum Jahr 2015 sind darüber hinaus in der mittelfristigen Finanzplanung des Bundes enthalten. Die finanziellen Auswirkungen für den Bund sind in entspre- chende Beschlüsse der Bundesregierung und in den vor- liegenden Gesetzentwurf bereits eingepreist. Ich betone: Die bei der Einführung des Gesetzes vor zehn Jahren für die Kommunen vorgesehene Finanzaus- stattung war nicht ausreichend. Ich bin froh, dass es ge- lungen ist, hier einen Konsens herzustellen. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15489 (A) (C) (D)(B) Mit dem vorliegenden Gesetz leistet der Bund einen großen Beitrag zur Stärkung der Handlungsfähigkeit der Kommunen. Bereits in der Großen Koalition haben wir diesen Weg eingeschlagen. Jetzt gehen wir ihn in der christlich-liberalen Koalition konsequent weiter. Anlage 14 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts: Seenotrettung im Mittelmeer konse- quent durchsetzen und verbessern (Tagesord- nungspunkt 16) Erika Steinbach (CDU/CSU): Die Welt ist in Bewe- gung, in einer ständigen Bewegung rund um den Globus. Unsere Aufmerksamkeit richtet sich seit Beginn des Jah- res auf die Umwälzungen im arabischen Raum, den ara- bischen Frühling. Der Erfolg der Aufständischen in Tu- nesien und Ägypten steckte junge Menschen in der gesamten Region, von Marokko bis Saudi-Arabien gera- dezu an, für ihre Freiheit auf die Straße zu gehen. Die zu befürchtenden Repressionen der seit Jahrzehnten herr- schenden autokratischen Regime hielten die Menschen nicht mehr auf. Deutschland leistete im Rahmen der Transformations- partnerschaften mit Tunesien und Ägypten unter ande- rem flankierende Hilfe, um die Entwicklung hin zu De- mokratie und Rechtstaatlichkeit zu ermöglichen. Eine möglichst breite Beteiligung der Menschen am Über- gangsprozess in ihren Ländern war das Ziel. Deutsch- land hat zahlreiche Projekte für Demokratieförderung, Berufsbildung und Jugendbeschäftigung sowie für Kre- dite an kleinere und mittlere Unternehmen auf den Weg gebracht. Nachhaltiger Stabilität den Weg zu bahnen, ist die Absicht. Erste humanitäre Hilfsmaßnahmen, wie medizinische Notversorgung für die Libyer, leistete Deutschland be- reits im Februar. Für die Betroffenen der Auseinander- setzungen wurden rund 15 Millionen Euro in den Mona- ten Februar bis August bereitgestellt. Das ist Hilfe, die dazu beiträgt, Situationen zu entschärfen und stabilisie- ren. Oberste Priorität muss es sein, die Menschen in ih- ren Heimatländern zu unterstützen und Flucht verhin- dern zu helfen. Doch sind die Zahlen der Vertriebenen und Flüchtlinge allein in Libyen in der Tat erschreckend hoch. Rund 970 000 Menschen waren im Mai den Schät- zungen OCHAs zufolge auf Hilfe angewiesen, 330 000 Binnenvertriebene unter ihnen. Ich will aber auch darauf hinweisen, dass gerade Li- byen durchaus ein Land ist, das ohne unsere finanzielle Hilfe sprichwörtlich „auf die Beine kommen“ wird. Die UNO hatte bereits Ende August 1,5 Milliarden US-Dol- lar freigegeben, die an libyschen Geldern eingefroren waren. Der französische Präsident Nicolas Sarkozy kün- digte schon Anfang des Monats an, dass rund 15 Milliarden Euro sofort freigegeben würden. In der Zentralbank in Tripolis fanden sich 16 Milliarden Euro; die Opposition fordert die Freigabe weiterer 170 Milliar- den Euro. Seit Jahren sind wir mit der Problematik konfrontiert, dass afrikanische Flüchtlinge versuchen, über das Mit- telmeer nach Europa zu gelangen. Bis Mitte des Jahres sind 32 000 Menschen auf diesem Weg aus Nordafrika nach Italien gekommen, vorwiegend Wirtschaftsmigran- ten. Migration kann jedoch nicht die Lösung für die Pro- bleme der Herkunftsländer sein. Die Regierungen der Staaten sind ebenfalls und in erster Linie in der Pflicht. Die Flüchtlinge, die Italien erreichen, wollen nicht dort bleiben, sondern in andere Länder Europas weiterreisen, um Arbeit aufzunehmen. Die Weiterreise ist mit den von italienischen Behörden ausgestellten temporären Aufent- haltsgenehmigungen möglich. Deutschland hat im vergangenen Jahr 41 332 Flücht- linge aufgenommen. Das ist eine Verdoppelung im Ver- gleich zum Vorjahr und Platz 2 innerhalb der Europäi- schen Union; nur Frankreich nahm eine noch größere Zahl an Flüchtlingen auf. Italien steht mit 8 200 aufge- nommenen Flüchtlingen im Jahr 2010 bei der Betrach- tung der relativen Zahlen, dem Verhältnis der Asylbe- werber zur Bevölkerungszahl, auf Platz 17. Die Aufnahmeleistung Italiens entspricht einem Anteil von 0,01 Prozent Asylbewerber pro Einwohner. Zweifels- ohne steht Italien vor einer großen Herausforderung, nicht aber von einer Überforderung. Hilfe, die Deutsch- land angeboten hat, wurde von italienischer Seite nicht angenommen. Schlepperbanden finden in Situationen der Instabilität den größten Markt für ihr verbrecherisches Treiben. Ge- nau diese Situation beobachten wir mit großer Sorge ver- stärkt in den vergangenen Monaten. Auf seeuntüchtigen und völlig menschenüberladenen Booten schicken Schlepperbanden Flüchtlinge auf illegalem Weg von Nordafrika nach Europa. Doch seit Jahren erreichen uns Meldungen, dass Menschen dabei auf See den Tod fin- den. Jedes Jahr ertrinken mehrere Hundert Menschen bei dem Versuch, als illegale Einwanderer das Mittelmeer von Nordafrika in Richtung Italien oder Spanien zu überqueren. Die Antwort kann nur lauten, dass Migration konse- quenter Kontrolle bedarf. Die Überwachung der Seeau- ßengrenzen der Europäischen Union trägt dazu bei, im positiven Sinn. Sie verhindert oder verringert nicht Mi- gration, sondern ihre Wege, die – wie wir sorgenvoll feststellen müssen – auf hoher See lebensgefährlich sind. Wem also keine Hintertür geöffnet werden darf, ist der organisierten Kriminalität, den Schleppern und Men- schenhändlern. Sie passen die Wege und Mittel ihres menschenverachtenden Geschäfts so rasant den vorzu- findenden Rahmenbedingungen an, dass es ihnen ein Leichtes ist zu behaupten, sie würden seenotrettend un- terwegs sein. Deshalb ist ein genereller, grundsätzlicher Schutz vor Strafverfolgung und die Forderung des finan- ziellen Ausgleichs für „Seenotrettende“ nicht ansatz- weise zielführend. Die Rettung Schiffbrüchiger ist in der Tat ist ein wichtiges Anliegen. Die Forderung jedoch, jederzeit ei- nen Raum wie das Mittelmeer dahin gehend zu überwa- chen und abzusichern, ist schlichtweg unrealistisch und nicht zu leisten. Hier lautet die Antwort wiederum, die 15490 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 (A) (C) (D)(B) Wege der Migration sind zu verändern und zu kontrollie- ren, um der Menschen willen. Lobend und beispielhaft erwähnen will ich die Orga- nisation der Seenotrettung in Deutschland. Sie wird durch die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrü- chiger, DGzRS, eine nichtstaatliche Rettungsorganisa- tion, durchgeführt. Die Gesellschaft finanziert sich über- wiegend durch freiwillige Zuwendungen und komplett ohne Steuergelder. Die erste deutsche Rettungsstation wurde 1809 in Memel gegründet. Heute betreibt die DGzRS eine Flotte von 61 Seenotkreuzern und Seenot- rettungsbooten auf 54 Stationen. Seenotrettung ist grundsätzlich Teil nationalstaatlicher Kompetenz. Würde die Seenotrettung für das Mittelmeer europäisch geregelt, welches Hochseegewässer würde dann der na- tionalen Seenotrettung weiterhin unterstehen und wel- ches nicht, oder organisiert und finanziert die EU dann auch die Seenotrettung im Atlantik, dem Schwarzen Meer und in der Nord- und Ostsee? Wolfgang Gunkel (SPD): Es gibt eine seit Jahrhun- derten geltende stolze Tradition der Seefahrt, die in na- hezu allen Kulturen und Regionen der Welt Geltung hat. Ich spreche vom selbstverständlichen Gebot, Menschen in Seenot Beistand zu leisten. Das völkerrechtliche grundsätzliche Übereinkommen, Schiffbrüchigen das Recht auf Hilfe zu garantieren, findet sich folgerichtig auch im Seerechtsübereinkommen der Vereinten Natio- nen wieder. Dort heißt es: Jeder Staat verpflichtet den Kapitän eines seine Flagge führenden Schiffes (…) jeder Person, die auf See in Lebensgefahr angetroffen wird, Hilfe zu leisten; Insofern muss es sehr verwundern, dass wir einen An- trag kontrovers debattieren, der im Kern schlicht und einfach die Einhaltung der völkerrechtlichen Pflicht zur Seenotrettung einfordert, mithin eine unstrittige rechts- staatliche Grundwahrheit. Das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen spricht von mindestens 2 000 Menschen, die in diesem Jahr bereits im Mittelmeer auf der Flucht ertrunken sind. Das Bundesministerium des Innern geht von etwa 50 000 – wie es dort heißt – Migranten aus, die bis heute aus Nordafrika über das Mittelmeer nach Europa gekom- men sind. 9 000 Menschen wurden laut BMI in Seenot gerettet. Über Fälle, in denen Boote abgedrängt oder zum Kentern gebracht wurden, wie es immer wieder von Menschenrechtsorganisationen zu hören ist, liegen dem Bundesinnenministerium keine Informationen vor. So jedenfalls wurde im Menschenrechtsausschuss des Bun- destages berichtet. Aber natürlich kennt auch die Bun- desregierung die von Nichtregierungsorganisationen ge- nannten Zahlen, hinter denen Schicksale von Menschen auf der Flucht stehen, die auf hoher See verhungert, ver- durstet oder ertrunken sind. Die „Europäische Agentur für die operative Zusam- menarbeit an den Außengrenzen“, kurz Frontex genannt, koordiniert, wie wir wissen, auch die Einsatzkräfte der EU-Mitgliedstaaten im Mittelmeer. Menschenrechtsor- ganisationen weisen seit langem auf die – vorsichtig aus- gedrückt – problematische Rolle hin, die Frontex im Umgang mit den Flüchtlingen nicht nur im Mittelmeer, sondern auch an der griechisch-türkischen Grenze spielt. So behauptet zum Beispiel Human Rights Watch, dass Frontex eine Mitschuld trage, wenn sie Migranten wis- sentlich Bedingungen aussetze, die eindeutig gegen in- ternationale Menschenrechtsstandards verstoßen. Die EU müsse dringend die Regeln für Frontex-Einsätze ver- schärfen und sicherstellen, dass zur Verantwortung gezo- gen wird, wer diese Regeln nicht einhält. Auf Anfrage heißt es aus dem Bundesinnenministe- rium zwar, dass Frontex sich nach den einschlägigen menschenrechtlichen Leitlinien richte, sich an das Ver- bot einer Ausschiffung von Flüchtlingen halte und auch das Nonrefoulement-Prinzip achte – also keine Flücht- linge zwangsweise in Staaten zurückgewiesen werden, in denen sie unmittelbare existenielle Bedrohung zu be- fürchten haben. Dennoch scheint man Handlungsbedarf erkannt zu haben. So plant die EU-Kommission ein Pro- jekt zur besseren Überwachung der Seesicherheit im Mittelmeer, an dem 6 Mitgliedstaaten und 37 Behörden beteiligt sein sollen. Außerdem soll bei Frontex ein Menschenrechtsforum angegliedert werden, in dem auch das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen eine Stimme erhält. Ein Verhaltenskodex in Menschen- rechtsfragen ist für Frontex geplant, der Sanktionen bei Verstößen vorsieht. Im Rahmen der gemeinsamen euro- päischen Asylpolitik will man die Rechtssicherheit bei Frontex-Einsätzen verstärken. So weit, so gut. Nur wissen wir aus bitterer Erfah- rung: Papier ist geduldig. Den geplanten Maßnahmen der Bundesregierung und der EU-Kommission, mit de- nen Menschenrechtsverletzungen geahndet und besten- falls sogar verhindert werden sollen, müssen nicht nur beschlossen, sondern auch effektiv umgesetzt werden. Es ist ja nicht so, dass Frontex zentral gesteuerte eigene Einsatzkräfte hätte. In vielen Fällen handeln Einsatz- kräfte eines EU-Mitgliedstaates allein und mit Unterstüt- zung von Frontex. So gibt es zum Beispiel beim Einsatz „Hermes“ vor Lampedusa im Mittelmeer keine Ret- tungs- oder Marineschiffe von Frontex. Frontex beteiligt sich nur an der Finanzierung italienischer Einsatzmittel und Einsatzkräfte. Lediglich die Maßnahmen an Land bei der Registrierung der Flüchtlinge und beim soge- nannten Screening finden unter Beteiligung von Frontex statt. Auch bei der Luftüberwachung unterstützt Frontex den Einsatz. Die Maßnahmen auf See entziehen sich aber der unmittelbaren Kontrolle jedweder EU-Behör- den. Kurz: Ohne ein funktionierendes Kontrollregime bleibt ein Verhaltenskodex und Menschenrechtsforum für Frontex ein Papiertiger. Wie wenig die geplanten Maßnahmen zur Überwa- chung der Seenotrettung auf EU-Ebene einem tatsächli- chen politischen Durchsetzungswillen folgen, zeigt zu- gleich ein anderer Aspekt, der – aus welchen Gründen auch immer – in der Debatte kaum zu hören ist: Die See- notrettung liegt gar nicht in der Kompetenz des für Fron- tex zuständigen Innenministeriums, sondern in der des Bundesverkehrsministeriums. Und hier gibt es weder eine Koordinierung unter den EU-Mitgliedern noch eine Initiative, eine solche zu institutionalisieren. Wie also Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15491 (A) (C) (D)(B) soll ein Verhaltenskodex für den Umgang mit Flüchtlin- gen im Mittelmeer umgesetzt und kontrolliert werden, wenn es in der Europäischen Gemeinschaft überhaupt keine Koordinierung der Seenotrettung gibt? Es ist überhaupt keine Frage, dass die EU angesichts der Flüchtlinge aus Nordafrika vor sehr großen Heraus- forderungen steht. Einfache Antworten und Lösungen der Probleme wird es hier nicht geben. Aber es verbietet sich auch nur der Gedanke, potenzielle Flüchtlinge vor ihrem Weg nach Europa abzuschrecken, indem man un- ter anderem tatenlos zusieht, wie Tausende Menschen auf hoher See ertrinken. Gerade darum geht es in dem Antrag, den wir hier einstimmig beschließen sollten. Es geht darum, alles uns Mögliche in die Wege zu leiten, um das Sterben auf ho- her See zu beenden. Dazu bedarf es einer Koordinierung der EU-Staaten bei der Seenotrettung, einer rechtlichen Regelung für Seenotrettende, einer finanziellen Unter- stützung für die EU-Mitgliedstaaten an den Seegrenzen, und schließlich brauchen wir dringend eine gemeinsame europäische Asylpolitik, um humanitäre Antworten auf die drängende Flüchtlingsfrage zu finden. Deshalb kann die Ablehnung des Antrages durch CDU/CSU und FDP auf nichts anderes als Unverständ- nis stoßen, gerade auch weil die offiziellen Begründun- gen für ihr Votum wenig zielführend sind. Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe im Deutschen Bundestag hätte die geschlossene Unterstützung eines solch genuin humanitären Antrags mit Forderungen an die Bundesregierung gut zu Gesicht gestanden. Serkan Tören (FDP): Das Parlament beschäftigt sich in der heute vorliegenden Beschlussempfehlung mit dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zum Thema „Seenotrettung im Mittelmeer konsequent durch- setzen und verbessern“. In ihrem Antrag fordert die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Bundesregierung zu Folgendem auf: eine völkerrechtliche Pflicht zur See- notrettung im Mittelmeerraum innerhalb der Europäi- schen Union konsequent durchzusetzen. Wenn das Thema nicht so ernst, so emotional bewe- gend und so sensibel wäre, könnte berechtigterweise ge- fragt werden, was Rot-Grün in den Jahren 1998 bis 2005 im Bereich der Seenotrettung im Mittelmeer bewegt hat. Denn die Flüchtlingsströme über das Mittelmeer gibt es ja nicht erst seit der Regierungsübernahme der christ- lich-liberalen Koalition im Jahr 2009, auch wenn die mi- litärischen Handlungen in Libyen aus jüngster Zeit resul- tieren. Es war Bundesinnenminister Otto Schily, der noch im Jahr 2004 unter Rot-Grün forderte: Wir brau- chen Auffanglager in Afrika. Er sagte: „Afrikas Pro- bleme müssen in Afrika gelöst werden.“ Wie zynisch und selbstgerecht ist es nun von den Grünen, die aktuelle christlich-liberale Bundesregierung für das eigene Versa- gen von 1998 bis 2005 verantwortlich zu machen. Jetzt in der Opposition, sehr geehrte Damen und Her- ren von den Grünen, fordern Sie lautstark Reformen be- züglich der Seenotrettung im Mittelmeer. In Ihren eige- nen sieben Jahren Regierungszeit haben Sie in dieser Hinsicht nichts getan und vollkommen versagt. Mit erschütternder Regelmäßigkeit erreichen uns dra- matische Nachrichten von Flüchtlingen, die auf dem Weg nach Europa im Mittelmeer Schiffbruch erleiden und umkommen. Die schwierige Situation in Nordafrika und die Hoffnung auf Verbesserung der eigenen wirt- schaftlichen Lage treibt viele Personen, besonders junge, dazu, eine von Strapazen gekennzeichnete Reise zu un- ternehmen, um von dort aus die Seereise in die EU anzu- treten. Auf ihrem langen Weg sind diese Menschen oft korrupten Beamten ausgeliefert und müssen sich für den Transfer über das Meer nach Europa in die Hände von skrupellosen Menschenschleppern begeben. Um der Verhaftung zu entgehen, zwingen diese Schlepper die Flüchtlinge regelmäßig, noch vor Erreichen der europäi- schen Küste ins Meer zu springen und die restliche Stre- cke zum rettenden Land schwimmend zurückzulegen. Für viele Flüchtlinge endet diese letzte Etappe tödlich. In anderen Fällen erweisen sich die Boote schon wäh- rend Überfahrt als nicht seetüchtig, sodass die Menschen an Bord Schiffbruch erleiden. Wir dürfen nicht außer Acht lassen: Kriminelle Schleuser locken Menschen aus Geldgier mit falschen Versprechungen nach Europa. Wir dürfen nicht die Au- gen davor verschließen: Solche Schlepperbanden neh- men sogar den Tod der Verschleppten auf See billigend in Kauf. Wenn sich Menschen, durch falsche Verspre- chungen verlockt, selbst in Gefahr bringen, etwa auf See, dann ist Seenotrettung zwar notwendig, aber keine Ursachenbekämpfung. Vielmehr muss sowohl in den Herkunftsländern der Migranten als auch in der EU da- rauf hingewirkt werden, dass solche Tragödien gar nicht erst stattfinden. Nun zu dem Antrag: Im Großen und Ganzen lehnt die FDP-Bundestagsfraktion den Antrag der Fraktion Bünd- nis 90/Die Grünen ab. Der Antrag enthält zwar einzelne Punkte, denen man zustimmen kann. Es gibt aber aus Sicht der Liberalen im Wesentlichen zu viele kritische Aspekte. Zum einen wird in dem Antrag verlangt, eine europa- rechtliche Regelung einzuführen, um Seenotrettende vor Strafverfolgung zu schützen. Dem ist entgegenzuhalten: Die Thematik der Seenotrettung ist völkerrechtlich gere- gelt. In europarechtlicher Hinsicht gehört die Seenotret- tung nicht zu den vergemeinschafteten Bereichen. Hier ist nationales Handeln vorrangig. Ferner muss auch ge- fragt werden, wer hier geschützt wird. Dies ist insofern ein großes Problem, als unklar ist, wie zwischen Rettern und Schlepperbanden unterschie- den werden kann. Es besteht folgende Gefahr: Schlep- perbanden nutzen eine derartige Vorschrift aus, um ih- rem Geschäft ungestört nachgehen zu können. Es darf keine Hintertür geöffnet werden, die den Menschen- händlern das Leben noch einfacher macht. Hier ist des- halb eine Einzelfallprüfung nötig, ob ein Straftatbestand vorliegt. Eine pauschale Regelung zur Straflosigkeit ist aus unserer Sicht keine Lösung. Der Menschenhandel ist leider heutzutage noch profitabler geworden als der Dro- genhandel. Aus unserer Sicht muss die Politik weiterhin in der Lage sein, im Einzelfall zwischen Flüchtlingen und kri- 15492 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 (A) (C) (D)(B) minellen Schlepperbanden zu differenzieren. Hier for- dert der Antrag der Grünen de facto eine Blankovoll- macht und malt zu sehr schwarz-weiß. Wir müssen für Folgendes sorgen: Vor Ort muss ge- holfen werden, damit die Menschen sich nicht genötigt sehen, ihre Heimat zu verlassen. Sie brauchen Perspekti- ven im eigenen Land. Seit Jahresbeginn sind 57 000 Migrationsbewegungen festgestellt worden: zunächst junge, männliche Tunesier, derzeit Personen aus Libyen, Eritrea, Äthopien und dem Tschad. In über 9 000 Fällen hat Frontex Seenothilfe geleistet. Deutschland hat sich mit zwei seenotrettungstauglichen Helikoptern an der Mission beteiligt und zeitweilig auch Personal zur Identitätsfeststellung mutmaßlicher Flücht- linge nach Lampedusa entsandt. Dieses Angebot hält die Bundesregierung aufrecht, auch wenn es zurzeit nicht abgerufen wird. Die von der Opposition genannten Kritikpunkte sind für uns nicht unbedingt an den Fakten orientiert. Das es angeblich glaubwürdige Berichte gibt, wonach Frontex durch Abdrängmanöver Schiffe zum Kentern gebracht hat, ist für uns nicht verifizierbar. Insgesamt darf die Frontex-Mission auch nicht als Allheilmittel missver- standen bzw. als Alleinverantwortlich verteufelt werden, wie in dem Antrag der Grünen leider geschehen. Frontex wird in erster Linie im Bereich des Grenzschutzes tätig. Im Rahmen des kommenden EU-Ministerrates wird allerdings eine zusätzliche Verordnung erlassen werden. Diese bildet dann die Grundlage für die Schaffung eines Menschenrechtsbeauftragten durch den Frontex/Verwal- tungsrat. Auch werden durch die kommende Verordnung zahlreiche menschenrechtsrelevante Standards verbind- lich. Zur Kontrolle von Frontex ist zu sagen: Hier hat das Beispiel der Grenzmission Griechenland-Türkei gezeigt: Allein die Anwesenheit und Berichterstattung deutscher Bundespolizisten führt zu einer Erhöhung von Men- schenrechtsstandards im Bereich grenzpolizeilicher Maßnahmen. Die Rettung Schiffbrüchiger ist ein wichti- ges Anliegen. Die Forderung der Grünen, dies jederzeit für das gesamte Mittelmeer zu leisten, ist allerdings schlichtweg unrealistisch. Lassen Sie mich zum Abschluss aufgrund der Aktua- lität der Libyen-Krise noch Folgendes sagen, was die Definition des Begriffes „Seenotrettung“ angeht: Aus unserer Sicht ist ein Seenotfall anzunehmen, wenn der Kapitän eines in Not geratenen Bootes oder Schiffes ei- nen entsprechenden Notruf absetzt bzw. wenn erkennbar ist, dass sich Personen auf See in Lebensgefahr bzw. in Seenot befinden. Völkerrechtlich besteht hier für die Schifffahrt die Pflicht zur Hilfeleistung. Gesetzlich verankert ist dies im Art. 98 Abs. 1 des UN-Seerechtsübereinkommens. Im Falle von Seenot auf der hohen See ist der Kommandant eines Schiffes, das sich vor Ort befindet, verpflichtet, al- les Notwendige zur Rettung von Schiffbrüchigen zu ver- anlassen, soweit keine unvertretbare Gefährdung eigener Kräfte besteht. Wenn er in sonstiger Weise von einem Hilfsbedürfnis Kenntnis erhält, eilt er Personen in See- not zu Hilfe, wenn dies vernünftigerweise von ihm erwartet werden kann. Es gelten die durch die Internatio- nale Seeschifffahrts-Organisation, IMO, festgelegten Standards auch für Kriegsschiffe. Folgendes muss aus unserer Sicht im konkreten Fall in Bezug auf Libyen beachtet werden: Ein Arbeitsüberein- kommen zur Zusammenarbeit zwischen der NATO und Frontex besteht nicht. Bei den im Rahmen der Frontex eingesetzten Schiffen zur Seegrenzüberwachung handelt es sich bis dato ausschließlich um Schiffe der italieni- schen Behörden. Diese unterliegen in Fällen von Seenot ebenfalls dem UN-Seerechtsübereinkommen. Darüber hinaus gilt die Ergänzung des Schengener Grenzkodexes, die sogenannte Frontex Leitlinie. Diese enthält verbindli- che Vorschriften für das Abfangen und den Aufgriff von Schiffen bzw. Booten sowie Leitlinien für die Durchfüh- rung von Such- und Rettungsmaßnahmen an den See- grenzen. Neben der Beachtung der Pflicht zur Hilfeleistung auf See unterliegt Deutschland als Nichtanrainer-Staat im Mittelmeer keinen weitergehenden Pflichten zur Verbes- serung der Seenotrettung. Da sich die Bundesrepublik Deutschland im Mittelmeer nicht an der NATO-Opera- tion mit Seekriegsmitteln, Schiffen, Booten beteiligt, wurden seitens der Bundesregierung auch insoweit keine speziellen Maßnahmen initiiert. Abschließend ist daher zu sagen: Die FDP-Bundes- tagsfraktion begrüßt, dass die Koordination auf EU- Ebene funktioniert und darüber hinaus weiter verbessert wird. Die neuen Frontex-Regeln, wie etwa die Einset- zung eines Frontex-Grundrechtebeauftragten, werden in Kürze in Kraft treten. Annette Groth (DIE LINKE): Was sich seit Jahren an den Außengrenzen der Europäischen Union abspielt, ist ein moralischer Skandal. Die humanitären Katastro- phen vor den Grenzen der „Festung Europa“ haben wir mit unserer Politik zu verantworten. Die „Festung Europa“ wurde unter rot-grüner Bundesregierung maß- geblich fortentwickelt und heute unter schwarz-gelber Bundesregierung weiter aufgerüstet. Diese „Festungs- politik“ hat eine legale Einreise für Migrantinnen und Migranten in die EU faktisch unmöglich gemacht. Die Politik der Abschottung zwingt Menschen, sich menschenverachtenden Schleuserbanden zuzuwenden, welche die Not der Menschen ausnutzen und sie auf see- untüchtigen Booten zusammenpferchen. Bei der Diskus- sion über Schleuser dürfen wir jedoch nicht Ursache und Folgen verwechseln. Ursache der zunehmenden Schleu- sertätigkeiten an den EU-Außengrenzen ist die EU-Poli- tik der Abschottung. Ich möchte daran erinnern, dass es die rot-grüne Regierung war, die Frontex maßgeblich zur heutigen Flüchtlingsabwehragentur aufgerüstet hat. Das zeigt sich auch deutlich an der Grundausrichtung des Antrags von Bündnis 90/Die Grünen: Ich vermisse in dem Antrag eine grundsätzliche Kritik an Frontex! Alleine in den Jahren 2009 bis 2011 liegt das Budget für die EU-Grenz- schutzagentur Frontex bei jährlich etwa 88 Millionen Euro. Human Rights Watch hat in seinem kürzlich vor- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15493 (A) (C) (D)(B) gelegten Bericht darauf hingewiesen, dass die Frontex- Behörde Migrantinnen und Migranten unmenschlicher und erniedrigender Behandlung aussetzt. Die Linke for- dert, die Ausrichtung der Aufgaben von Frontex grund- sätzlich zu verändern. Ebenfalls fehlt in dem Antrag eine scharfe Kritik an der Untätigkeit der NATO-Stellen, die das Mittelmeer lückenlos überwachen. Der Antrag greift daher in eini- ger Hinsicht zu kurz. Die Fraktion Die Linke unterstützt im Grundsatz eine Ausweitung der Seenotrettung. Von den Staaten der Eu- ropäischen Union fordern wir, großflächige Kapazitäten für die Rettung von Menschen im Mittelmeer zur Verfü- gung zu stellen. Die Argumentation, dass hierdurch der angebliche „Flüchtlingsstrom nach Europa“ zunehmen würde, ist nicht nur zynisch, sondern auch falsch. Das hat mit der Realität der Flüchtlingszahlen nichts zu tun. Im Jahr 2010 gab es etwa 44 Millionen Flüchtlinge. Das waren ungefähr 400 000 mehr als im Jahr 2009. Über 80 Prozent aller Flüchtlinge waren Binnenflücht- linge oder Menschen, die in die direkten Nachbarländer flohen. Nur jeder fünfte Flüchtling schaffte es in die westli- chen Industrieländer. 2010 lebten die meisten Flüchtlinge in Pakistan – 1,9 Millionen –, im Iran – 1,1 Millionen – und in Syrien – 1,0 Millionen –. In Deutschland leben zurzeit knapp 600 000 Flüchtlinge. Also sind es die ar- men Länder des Südens, die den Großteil der Flücht- lingsbewegungen aufgenommen haben! In einem neuen Positionspapier beklagt Amnesty die völlig ungenügende Bereitschaft der meisten europäi- schen Länder, die etwa 5 000 Flüchtlinge aufzunehmen, die aufgrund der Kämpfe aus Libyen fliehen mussten. Die Antwort der EU fiel, wie zu erwarten, bisher sehr zögerlich aus: Neben den USA, Australien und Kanada haben sich nur acht europäische Länder zur Aufnahme von insgesamt lediglich 800 Menschen bereit erklärt. Die Europäische Union baut immer höhere Mauern zur Abwehr von Flüchtlingen auf. Menschen werden ganz bewusst im Stich gelassen und müssen qualvoll im Mittelmeer ertrinken. Alleine in diesem Jahr sind mehr als 2 000 Menschen ertrunken, als sie versuchten, in die Europäische Union zu gelangen. Die Gemeinschaft der europäischen Staaten schaut hier bewusst weg. Am 20. September brach im Zuge von Protesten ein Brand in einem überfüllten Flüchtlingslager auf der ita- lienischen Insel Lampedusa aus. Der UNHCR erklärte hierzu, der Brand sei die Folge der wachsenden Span- nungen unter den Flüchtlingen, die zu lange in haftähn- lichen Bedingungen in den übervollen Lagern festge- halten werden. Mehrere Hundert minderjährige unbegleitete Flüchtlinge leben zurzeit unter unzumutba- ren Bedingungen auf Lampedusa, manche bereits seit über sechs Wochen. An der griechisch-türkischen Land- grenze werden aufgegriffene Migrantinnen und Migran- ten in völlig überfüllte, menschenunwürdige Haftzentren überstellt. Diese Bilder sollen abschrecken und Men- schen davon abhalten, um Hilfe in der EU zu bitten. Diese menschenunwürdige Behandlung ist ein Armuts- zeugnis für Europa und seine humanitären Grundsätze! Genau hier muss eine effektive und humane Flücht- lingspolitik in der Europäischen Union beginnen. Die Fraktion Die Linke fordert auch seit vielen Jahren eine solidarische Flüchtlingspolitik für die Europäische Union. Staaten, die an der Außengrenze der EU liegen, dürfen wir nicht alleine lassen. Wir wollen, dass Kapitäne und Schiffsbesatzungen verpflichtet werden, Menschen in Not zu helfen. Das in- ternationale Recht muss so weiterentwickelt werden, dass Kapitäne, die Menschen in Seenot nicht helfen, sich für ihr Verhalten strafrechtlich verantworten müssen. Unterlassene Hilfeleistung auf See muss ein schwerwie- gender Straftatbestand sein. Der im Antrag der Grünen eingebrachte Vorschlag, Schiffe, die Menschen in Seenot helfen, dafür eventuell auch zu entschädigen, ist intensiv zu prüfen. Gleichzeitig zeigt dieser Vorschlag auch die gesamte Perversität der heutigen Diskussion um die Seenotrettung auf: Menschen in Seenot werden deshalb im Stich gelassen, weil hier- durch wirtschaftliche Interessen berührt sind und even- tuell zusätzliche Kosten für die Reedereien entstehen. Der Tod von Menschen auf hoher See wird also be- wusst in Kauf genommen, weil hierdurch die wirtschaft- lichen Gewinne von Reedereien geringer ausfallen könn- ten! Das ist eine wahrhaft traurige Bilanz für unsere humanitären Grundsätze. Hier müssen wir endlich um- denken und zu einer menschlicheren Politik finden. Stattdessen erleben wir sogar, dass Kapitäne, die Menschen auf See retten, wegen angeblicher Schleppe- rei angeklagt werden. Der Prozess gegen den ehemali- gen Cap-Anamur-Vorsitzenden, Elias Bierdel, hat welt- weit für Schlagzeilen gesorgt. Auch der Fall des Fischers Zenzeri, der am 8. August 2007 auf ein kaputtes Schlauchboot mit 44 Flüchtlingen aus dem Sudan, Eritrea, Äthiopien, Marokko, Togo und der Elfenbeinküste stieß, ist ein Skandal. Die Tageszei- tung berichtet, dass das kaputte Boot bei schwerer See manövrierunfähig in maltesischen Hoheitsgewässern trieb. Der Fischer tat das einzig Richtige: Er entschied, dass das Boot, auf dem auch zwei Kinder, eines von ih- nen behindert, und zwei schwangere Frauen waren, so schnell wie möglich an Land musste. Nachdem die Fischer SOS abgesetzt hatten, schickten die italienischen Behörden kein Boot zur Hilfe, sondern eine Patrouille der italienischen Küstenwache. Für diese Hilfe wurde dem Fischer sein Schiff abgenommen, und heute steht er vor Gericht mit einer Anklage wegen Schlepperei. Das ist unfassbar! Solche Anklagen müssen in Zukunft unmöglich sein. Die Rettung von Schiffbrüchigen muss als oberstes Ziel und verbindliche Verpflichtung in den internationalen Abkommen, aber auch in den Rechtssystemen der Mit- gliedstaaten der EU festgeschrieben werden. Die Linke begrüßt, dass mit dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen die überfällige und notwendige Debatte über den Schutz von Flüchtlingen durch die Staaten der EU in Gang gekommen ist. Dieser Antrag muss jedoch weiterentwickelt werden, damit wir endlich zu einer Flüchtlingspolitik finden, die Menschen in Not und auf der Flucht nicht mehr als Last begreift. Die Hilfe (A) (C) (D)(B) für solche Menschen muss zu einem wesentlichen Be- standteil des humanitären Handelns von Staaten und Staatengemeinschaften werden. Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Seit Januar 2011 haben nach Angaben des UN-Flüchtlings- hilfswerkes 2 000 Menschen auf ihrer Flucht vor Men- schenrechtsverletzungen, Gewalt und Armut ihr Leben im Mittelmeer verloren. In Anbetracht dieser Todesfälle ist es vollkommen unverständlich, wenn nun die Regie- rungsfraktionen unseren Antrag zur Seenotrettung mit der Begründung ablehnen möchten, es gebe bereits Ver- besserungen, und es müsse nichts mehr getan werden. Wenn Tausende Menschen vor den Küsten Europas er- trinken, ist der Handlungsbedarf doch offensichtlich. Die Bundesregierung sollte sich in dieser humanitären Kata- strophe drei zentrale Prinzipien einer menschenrechtlich vertretbaren Flüchtlingspolitik in Erinnerung rufen. Erstens. Die Rettung von Menschenleben hat oberste Priorität. Deshalb fordern wir in unserem Antrag die Bundesregierung auf, die Seenotrettung im Mittelmeer gemeinsam mit anderen EU-Mitgliedstaaten zu verbes- sern. Die Ursachen der Schiffsunglücke sind nicht auf ein lückenhaftes völkerrechtliches Regelwerk zurückzu- führen, sondern vielmehr auf die mangelnde Durchset- zung der bereits bestehenden seerechtlichen Verpflich- tungen. Die derzeitige Situation ist humanitär und menschenrechtlich unhaltbar. Da es kaum noch Mög- lichkeiten gibt, die EU auf legalem und sicherem Weg zu erreichen, gehen Flüchtlinge lebensgefährliche Risiken ein, um Schutz in Europa zu finden. Es muss ein sicherer Korridor geschaffen werden, der das Überleben der Flüchtlinge sichert. Europäische Maßnahmen dürfen nicht mit dem Schutz der Grenzen und dem Verbarrika- dieren der „Festung Europa“ beginnen. Es geht zualler- erst um den Schutz von Leib und Leben der Flüchtlinge an der Grenze. Es ist für Europa als Ganzes unwürdig, dass mit Fron- tex zwar eine sehr effiziente Agentur zum Schutz der Grenzen gefunden wurde, es aber keine europäische In- stitution gibt, die das Mittelmeer in der Frage der Seenotrettung sichert. Die Rettung von Menschenleben als oberste Priorität nicht zu erkennen, ist eine Katastro- phe. Die Europäische Union mit ihrem Wertekanon und Deutschland mit seinem Grundgesetz können es sich nicht leisten, sehenden Auges die Menschen zu Tausen- den im Mittelmeer ertrinken zu lassen. Europa muss sich entscheiden, der Tragödie zuzusehen oder zu helfen. Wenn wir jetzt nicht handeln, werden uns nachfolgende Generationen zu Recht vorwerfen, dass Deutschland zwar die Menschenrechte weltweit gepredigt, beim Drama im Mittelmeer aber tatenlos zugesehen hat. Zweitens. Die Flüchtlingsfrage ist keine nationale, sondern eine europäische Angelegenheit. Die Präambel der Genfer Flüchtlingskonvention betont nicht ohne Grund, dass eine befriedigende Lösung nur durch eine Zusammenarbeit der Staaten erreicht werden kann. Hu- manitäre Pflichten, die mit der Aufnahme von Flüchtlin- gen einhergehen, dürfen nicht allein den Ländern des Südens überlassen bleiben. Deutschland trägt Mitverant- wortung für das, was in anderen EU-Mitgliedstaaten und was im Mittelmeer geschieht. Am 21. Januar 2011 hat Offsetdruc sellschaft mbH, Postfach 10 05 34, 50445 Kö der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Be- dingungen in griechischen Flüchtlingslagern als men- schenunwürdig und erniedrigend verurteilt. Laut Human Rights Watch tragen Frontex und beteiligte EU-Mit- gliedstaaten, darunter auch Deutschland, eine Mitschuld an den Menschenrechtsverletzungen, da sie Flüchtlinge wissentlich menschenunwürdigen Bedingungen ausset- zen. Jetzt haben auch Unionspolitiker nach ihrer Reise nach Griechenland erkannt, dass die Situation men- schenrechtlich untragbar ist. Die entscheidende Frage aber bleibt, ob die Bundesregierung die richtigen Konse- quenzen aus dieser Erkenntnis zieht. Hierzu gehört, die Aussetzung von Rückführungen nach der Dublin-II-Ver- ordnung nach Griechenland auf unbefristete Zeit zu ver- längern. Außerdem sollte die Bundesregierung ihre Blockade- haltung gegenüber einem einheitlichen europäischen Asylsystem aufgeben. Gemeinsame Regeln für die Bear- beitung von Asylanträgen und einheitliche Aufnahmebe- dingungen sind unbedingt notwendig. 2009 lag die Wahrscheinlichkeit, dass ein Iraker Asyl erhielt, in Frankreich bei 82 Prozent, in Griechenland nur bei 2 Prozent. Insgesamt sollte für Flüchtlinge an den EU- Außengrenzen eine europäische Lösung gefunden wer- den, die allen Menschenrechtsnormen gerecht wird. Dazu gehört auch eine solidarische Verteilung der Flüchtlinge innerhalb Europas. Die Bundesregierung be- ruft sich immer noch auf die Dublin-II-Verordnung. Das ist für Deutschland ohne EU-Außengrenzen bequem, sieht aber keine gerechte Teilung der Verantwortung vor. Drittens sollten wieder alle Staaten eng mit dem Ho- hen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen zu- sammenarbeiten. Hierzu gehört die finanzielle Unter- stützung seiner Arbeit, zum Beispiel bei der Bewältigung der humanitären Katastrophe am Horn von Afrika, aber auch die Aufnahme von einer bestimmten Anzahl von Flüchtlingen. Der UNHCR hat Bundesin- nenminister Hans-Peter Friedrich am 15. März 2011 ge- beten, die dauerhafte Neuansiedlung von Flüchtlingen aus Libyen in Deutschland zu ermöglichen. Das UN- Flüchtlingshilfswerk sucht 8 000 solcher Resettlement- Plätze für Flüchtlinge aus Eritrea, Somalia, Äthiopien und dem Sudan. Diese können weder nach Libyen noch in ihre Heimatländer zurückkehren. Weltweit stehen bis- her nur 900 Plätze zur Verfügung. Ägypten und Tunesien tragen weiterhin die Hauptverantwortung bei der Auf- nahme der Flüchtlinge aus Libyen. Weniger als 1 Pro- zent dieser Flüchtlinge sind nach Europa gelangt. Die abschlägige Antwort der Bundesregierung ist daher beson- ders beschämend. Und sie steht im Widerspruch zur Genfer Flüchtlingskonvention, die Staaten zur Kooperation mit dem UNHCR verpflichtet. Deutschlands Einsatz für einen demokratischen Wandel und einen besseren Schutz der Menschenrechte in Nordafrika muss auch die Bereitschaft zur Aufnahme von Menschen einschließen, die durch den Konflikt in Libyen ihre Zuflucht verloren haben. Mit der Umsetzung dieser drei Prinzipien kämen wir den Grundwerten einer menschenwürdigen Flüchtlings- politik ein Stück näher. Es ist ein Gebot der Menschlich- keit, Flüchtlinge zu retten. Europa muss sich dieser Ver- antwortung stellen. Ich bitte Sie daher, unserem Antrag zur Seenotrettung zuzustimmen. 15494 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 kerei, Bessemerstraße 83–91, 1 ln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de 22 130. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 Inhalt: Redetext Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Anlage 2 Anlage 3 Anlage 4 Anlage 5 Anlage 6 Anlage 7 Anlage 8 Anlage 9 Anlage 10 Anlage 11 Anlage 12 Anlage 13 Anlage 14
Gesamtes Protokol
Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1713000000

Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie herzlich zur 130. Sitzung des Bundestages.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufge-
führten Punkte zu erweitern:

ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
der CDU/CSU und FDP:

Haltung der Bundesregierung zur Frage einer
Umlenkung von Verkehrsinvestitionsmitteln
des Bundes für die Autobahn A 100 auf andere
Verkehrsprojekte des Bundes in Berlin

(siehe 129. Sitzung)


ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-
fahren

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Omid Nouripour, Ute Koczy, Undine Kurth

(Quedlinburg), weiterer Abgeordneter und der

Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Naturlandschaft Senne schützen – Militäri-
sche Nutzung des Truppenübungsplatzes

Rede
nach Abzug der Briten beenden

– Drucksache 17/4555 –
Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss (f)

Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Harald Terpe, Birgitt Bender, Maria
Klein-Schmeink, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Wirksame Strukturreformen f
tientenorientierte Gesundheit
auf den Weg bringen

– Drucksache 17/7190 –
tzung

n 29. September 2011

.01 Uhr

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der
SPD:

Steuerabkommen mit der Schweiz und damit
zusammenhängende Fragen der Steuergerech-
tigkeit

ZP 4 Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

VN-Konferenz Rio+20: Nachhaltigkeit global
umsetzen

– Drucksache 17/7182 –

Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-
weit erforderlich, abgewichen werden.

Außerdem ist vorgesehen, die Tagesordnungspunk-
te 7 und 9 zu tauschen. Morgen sollen der Tagesord-
nungspunkt 31 abgesetzt und der Tagesordnungs-
punkt 33 an diese Stelle vorgezogen werden.

Schließlich mache ich auf eine nachträgliche Aus-
schussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste auf-

text
merksam:

Der am 12. Mai 2011 überwiesene nachfolgende Ge-
setzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Verkehr,
Bau und Stadtentwicklung (15. Ausschuss) zur Mitbe-
ratung überwiesen werden:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung telekommunikationsrechtlicher Regelun-
gen

– Drucksache 17/5707 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)


sschuss
usschuss
ss für Ernährung, Landwirtschaft und

cherschutz
ss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
ür eine pa-
sversorgung

Innenau
Rechtsa
Ausschu
Verbrau
Ausschu

Ausschuss für Kultur und Medien





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)

Ich frage Sie, ob Sie mit diesen Veränderungen ein-
verstanden sind. – Das ist offensichtlich der Fall. Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich rufe unseren Tagesordnungspunkt 3 a und b auf:

a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-
nen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes zur Änderung des Geset-
zes zur Übernahme von Gewährleistungen im
Rahmen eines europäischen Stabilisierungs-
mechanismus

– Drucksache 17/6916 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Haushalts-
ausschusses (8. Ausschuss)


– Drucksachen 17/7067, 17/7130 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Barthle
Carsten Schneider (Erfurt)

Otto Fricke
Roland Claus
Priska Hinz (Herborn)


b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)

zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und
FDP

Parlamentsrechte im Rahmen zukünftiger
europäischer Stabilisierungsmaßnahmen si-
chern und stärken

– Drucksachen 17/6945, 17/7067, 17/7130 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Barthle
Carsten Schneider (Erfurt)

Otto Fricke
Roland Claus
Priska Hinz (Herborn)


Zu dem Gesetzentwurf, über den wir später nament-
lich abstimmen werden, liegen ein Änderungsantrag der
Fraktion Die Linke, ein Entschließungsantrag der Frak-
tion der SPD, zwei Entschließungsanträge der Fraktion
Die Linke und ein Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. – Auch da-
rüber scheint es keine Meinungsverschiedenheiten zu
geben, sodass wir so verfahren können.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir entscheiden un-
ter diesem jetzt aufgerufenen Tagesordnungspunkt über
ein Projekt, das nicht wenige für das wichtigste einzelne
Gesetzgebungsvorhaben dieser Legislaturperiode halten.
Ihm kommt tatsächlich überragende Bedeutung zu, so-
wohl mit Blick auf die wirtschaftlichen und finanziellen
Größenordnungen als auch mit Blick auf die exemplari-
sche neue Regelung parlamentarischer Mitwirkung bei
einem Vorgang, der bislang typischerweise in die exeku-
tive Zuständigkeit fiel.
Darüber ist nun wochenlang in den verschiedensten
Gremien des Bundestages und in den Fraktionen verhan-
delt worden. Es wird nicht wirklich überraschen, dass
sich viele Kolleginnen und Kollegen mit dieser Ent-
scheidung sehr schwergetan haben. Das wird sicher auch
in der Diskussion deutlich werden. Ich weise deswegen
schon jetzt darauf hin, dass über diese gerade vereinbarte
Redezeit hinaus einzelne Kolleginnen und Kollegen, die
deutlich machen wollen, warum sie für sich am Ende zu
einer anderen Abwägung gekommen sind, als es die
überwiegende Auffassung der jeweiligen Fraktion ist,
das während dieser Debatte tun können. Damit folgen
wir sowohl unserem Selbstverständnis wie den Regelun-
gen, die wir in unserer Geschäftsordnung dafür vorgese-
hen haben.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-
nächst dem Kollegen Volker Kauder für die CDU/CSU-
Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Volker Kauder (CDU):
Rede ID: ID1713000100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!

Heute fällen wir im Deutschen Bundestag eine wichtige
Entscheidung, eine wichtige Entscheidung für die Zu-
kunft unseres Landes und für die Zukunft Europas. Wir
fällen nicht nur eine inhaltliche Entscheidung, sondern
– der Präsident hat es angesprochen – es findet heute
auch ein kleiner, aber doch sehr bedeutender Paradig-
menwechsel statt. Man kann sagen: Von einem Europa
der nationalen Regierungen, die in den Räten beieinan-
dersitzen, sind wir auf dem Weg zu einem Europa der
Parlamente. Eine solche Parlamentsbeteiligung, wie wir
sie heute beschließen, hat es bei Aufgaben, die zunächst
einmal rein als Regierungshandeln gesehen wurden, im
Deutschen Bundestag noch nie gegeben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Selbst über das, was wir im Zusammenhang mit dem
Einsatz der Bundeswehr beim Parlamentsbeteiligungs-
gesetz gemacht haben, gehen wir heute weit hinaus. Bis-
her lief Parlamentsbeteiligung immer so ab: Die Regie-
rung hat einen Antrag vorgelegt, und wir haben dazu Ja
oder Nein gesagt, oder die Regierung hat verhandelt und
uns Ergebnisse mitgeteilt. Heute beschließen wir, dass
wir zunächst darüber entscheiden, wie sich die Vertreter
unserer Regierung in den jeweiligen Gremien zu verhal-
ten haben. Das ist etwas ganz Neues. Es stärkt die
Rechte des Parlaments und geht weit über das hinaus,
was das Bundesverfassungsgericht von uns verlangt hat.
Das heißt, die ganz bedeutenden Fragen „Wer kann unter
einen Schutzschirm kommen?“, „Wie sieht Hilfe aus?“
und „Welche Bedingungen verlangen wir dafür, dass wir
Hilfe gewähren?“ werden in Zukunft hier im Deutschen
Bundestag entschieden, und das ist auch richtig so.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Klar ist, dass es für uns nicht einfacher wird. Wir
müssen die Themen im Deutschen Bundestag inhaltlich
beraten. Es kann sein, dass wir sehr schnell entscheiden
müssen; denn bestimmte Entscheidungen lassen nicht





Volker Kauder


(A) (C)



(D)(B)

auf sich warten. Dies alles wissen wir. Dazu sind wir be-
reit.

Ich möchte sagen: Wir wissen sehr wohl, dass
schnelle Entscheidungen intensivere Beratungen erfor-
dern. Aber eines ist klar: Eine Beratung, die mehrere
Monate dauert, führt nicht immer zu besseren Ergebnis-
sen als eine schnellere Beratung, wenn sie intensiv
durchgeführt wurde. Ich kann nur sagen: Das, was wir
heute vorlegen, ist das Ergebnis eines intensiven Bera-
tungsprozesses,


(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Das stimmt!)


sowohl was die Beteiligungsrechte als auch was die in-
haltliche Seite anbelangt. Ich möchte auch feststellen: Es
war ein Prozess, in dem jeder die Gelegenheit und Mög-
lichkeit hatte, sich einzubringen, seine Fragen zu stellen
und sich zu beteiligen. Es war ein guter Gesetzgebungs-
prozess, ein gutes Gesetzgebungsverfahren. Wir fühlen
uns von niemandem überfahren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Im Übrigen: Zu manch einer Äußerung, die ich in die-
sen Tagen gelesen habe – es hieß zum Beispiel: Regie-
rung überfährt Parlament –, und zu all dem, was ich so
höre, kann ich nur sagen: Es sollte sich bitte niemand
täuschen. Wir sind selbstbewusst genug, um unsere
Rechte wahrzunehmen. Deswegen haben wir auch gro-
ßen Wert darauf gelegt, dass nicht die Regierung uns ei-
nen Vorschlag zur Parlamentsbeteiligung macht, sondern
dass wir dies selber tun. Diesen Anspruch haben wir:
Wir sind ein selbstbewusstes Parlament und nehmen un-
sere Rechte wahr, so wie wir es für richtig und notwen-
dig erachten, liebe Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wenn man sich die Äußerungen mancher Wirtschafts-
verbände in den letzten Tagen vor Augen führt, wird klar
und deutlich, dass es heute um mehr als nur um die Er-
tüchtigung bzw. Erweiterung eines Rettungsschirmes in
Europa geht. Vielmehr geht es hier tatsächlich um unsere
Zukunft. Es geht um Arbeitsplätze. Es geht um Perspek-
tiven, vor allem die der jungen Generation.

Wir haben in unserer Generation, der ersten Nach-
kriegsgeneration, Europa als eine große Friedensversi-
cherung angesehen, und wir haben damals gesagt: Wir
müssen in Europa zusammenkommen und eng zusam-
menarbeiten, damit es in Europa nie wieder kriegerische
Auseinandersetzungen gibt. – Diesen Anspruch, den wir
in unserer jungen Generation damals hatten, haben wir
erfüllt. Dieses Europa ist ein friedliches Europa und hat
damit die Voraussetzung für Sicherheit und Wohlstand
geschaffen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dieses Zusammenwachsen in Europa und dieses „Nie
mehr Krieg in Europa“ waren die existenziellen Voraus-
setzungen dafür, dass wir es in Europa zu Wohlstand ge-
bracht haben. Die heutige junge Generation wird mit
dem Satz „Nie mehr Krieg in Europa“ nur relativ wenig
anfangen können. Sie wird ihn bestätigen und sagen:
Das ist ja in Ordnung. – Für die jetzige junge Generation
bedeutet Europa eine Perspektive und die Möglichkeit,
überall in Europa arbeiten, leben und sich ausbilden las-
sen zu können. Das heißt, mit diesem Europa können wir
im Wettbewerb auf der Welt vorankommen.

Schauen wir uns doch einmal die Situation an. Es gibt
große starke Zentren in Asien: in China, in Indien. Selbst
ein starkes Deutschland wäre zu schwach, um einen
Wettbewerb mit ihnen aufzunehmen. Deswegen haben
wir in unserer heutigen Zeit ein existenzielles nationales
Interesse an der Stabilität in Europa und an der Stabilität
des Euro.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Heute geht es darum, dass wir ein Instrument verbes-
sern bzw. schärfen, das wir brauchen, um Probleme in
Europa lösen zu können. Um dies auch den Menschen zu
sagen, die uns heute zuhören: Es geht nicht um Grie-
chenland und um die Auszahlung von Geld an Griechen-
land,


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein wahres Wort!)


sondern es geht schlicht und ergreifend darum, dass wir
einen Schutzschirm spannen können, dass wir denjeni-
gen, die Schwierigkeiten haben bzw. in Schwierigkeiten
geraten sind, unterstützend helfen und dass wir dafür
sorgen, dass andere nicht angesteckt werden. Dies ist in
unserem deutschen nationalen Interesse.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wir sorgen vor, damit wir mit unserer Wirtschafts-
kraft in keiner Situation unter Druck kommen. Bei man-
chen Äußerungen, wie zum Beispiel „Was lädt Deutsch-
land sich hier auf?“, kann ich nur sagen: Wir sorgen
dafür, dass wir unsere nationale Produktionskraft erhal-
ten können. Wir sind in Europa noch immer die Produk-
tionsnation und müssen dafür sorgen, dass das auch so
bleibt und dass unser Mittelstand ausreichend mit Kapi-
tal versorgt werden kann. Deswegen haben wir ein natio-
nales Interesse an der Stabilität unserer Banken.

Natürlich ist dies nur ein erster Schritt, und natürlich
haben all diejenigen recht, die sagen: Wir müssen aber
auch Instrumente finden, mit denen es uns möglich ist,
Länder, die in Schwierigkeiten gekommen sind, zu re-
strukturieren und ihnen eine Perspektive zu geben. – Ge-
nau dies haben wir in einem weiteren Schritt vor, näm-
lich bei dem sogenannten ESM, dem Europäischen
Stabilitätsmechanismus. Wir werden dafür sorgen, dass
die Privaten noch stärker daran beteiligt werden; wir
werden Instrumente dafür schaffen, dass Länder, die in
Schwierigkeiten gekommen sind, mit Perspektive re-
strukturiert werden können, und wir werden dafür sor-
gen, dass auch Kontrollen und Überprüfungen schärfer
werden.

Ich habe mich sehr gefreut, dass im Europäischen
Parlament einen Tag vor dieser Diskussion heute im
Deutschen Bundestag ganz entscheidende und wegwei-
sende Dinge vorangebracht wurden, die zu einer schärfe-
ren Kontrolle und besseren Struktur führen.





Volker Kauder


(A) (C)



(D)(B)


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gegen den Widerstand der Bundesregierung! Jetzt freuen Sie sich schon über Ihre Niederlagen!)


Dazu kann ich nur sagen: Diejenigen, die behaupten, es
bewege sich in Europa nichts zum Positiven, können ei-
nen Blick auf das werfen, was gestern im Europäischen
Parlament geschehen ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir können unseren Kolleginnen und Kollegen im Euro-
päischen Parlament dazu nur gratulieren, dass dies ge-
schehen ist.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie gratulieren ihnen dafür, dass sie sich gegen die Bundesregierung durchgesetzt haben!)


– Lieber Herr Trittin, was Sie – das gilt auch für die
SPD – in den letzten Tagen geboten haben, ist schon be-
sonders bemerkenswert. Auf bestimmte Anzeigen, die
sich hart an der Grenze dessen bewegen, was man sich in
einer Demokratie noch erlauben kann, will ich gar nicht
zu sprechen kommen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Mit Steuergeldern, die für Fraktionsarbeit vorgesehen
sind, solche Anzeigen zu schalten, ist nicht in Ordnung,
liebe Kolleginnen und Kollegen, um das mal klar zu sa-
gen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Sigmar Gabriel [SPD]: Endlich reden Sie mal mit uns! Gott sei Dank haben Sie sich in Ihrer Rede jetzt mal an uns gewandt!)


Herr Kollege Trittin, es ist durchaus richtig, wenn wir
jetzt sagen: In einer solchen Situation sind wir uns unse-
rer Verantwortung bewusst. – Das wird auch von Ihnen
und von der SPD – wenn Sie heute zustimmen – so for-
muliert. Aber so zu tun, als ob Sie dabei nie ein Erkennt-
nisproblem gehabt hätten, ist schon bemerkenswert. Bei
den Euro-Bonds rotierten Sie herum: Zunächst einmal
hat Herr Steinbrück im Jahr 2010 gesagt, dass es sie auf
gar keinen Fall geben dürfe. Dann hat er gesagt: Ja. – Sie
haben auch mitgemacht. Ja, nein, ja. – Ich kann nur sa-
gen: Bei uns war die Position klar: keine Vergemein-
schaftung von Schulden. Wir waren immer gegen Euro-
Bonds.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Lachen bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


– Wenn man erwischt wird, wie man rumeiert, nutzt
auch ein doofes Geschrei nichts, meine sehr verehrten
Damen und Herren auf der linken Seite des Hauses.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir werden heute einen wichtigen Beitrag für unser
Land, für die Zukunft Europas und für die Stabilität des
Euro leisten. Wir werden heute, abgestimmt mit dem
Deutschen Bundestag, einen Beitrag leisten, der unserer
Regierung bei den schwierigen Verhandlungen, die auf
europäischer Ebene stattfinden werden, den Rücken
stärkt. Heute werden wir sicherlich eine breite Zustim-
mung im Deutschen Bundestag, aber auch in unserer
Koalition haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Es gibt Kolleginnen und Kollegen, die heute eine andere
Auffassung haben.


(Michael Schlecht [DIE LINKE]: Das ist auch gut so!)


Aber wir werden zeigen, dass diese Koalition hand-
lungsfähig ist und die Probleme, die auf sie zukommen,
sachgerecht lösen kann.


(Sigmar Gabriel [SPD]: Und die Sie sich selber schaffen, auch?)


Wir werden zeigen: Deutschland ist bei dieser Koalition
in guten Händen, Europa auch.


(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1713000200

Nächster Redner ist der Kollege Peer Steinbrück für

die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Peer Steinbrück (SPD):
Rede ID: ID1713000300

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Da-

men und Herren! Gegen den ersten Teil Ihrer Rede, Herr
Kauder, habe ich nicht viele Einwände. Ich hatte nur den
Eindruck, dass das eine Rede war, die eher auf die Frak-
tionsebene – in den Fraktionssaal der CDU/CSU – ge-
hörte.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Den zweiten Teil mit dem leichten Florettangriff ge-
gen meine Fraktion vergessen wir schnell. Bezogen auf
meine Einwendungen und meine Position zu den Euro-
Bonds haben Sie sich im Datum geirrt. Ich bin vor Aus-
bruch der Krise innerhalb der Währungsunion in der Tat
gegen Euro-Bonds gewesen, aber nicht mehr in der
Phase, als Euro-Bonds gegebenenfalls unter bestimmten
Bedingungen, unter einer gewissen Konditionalität – –


(Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Ah!)


– Das ist doch nichts Neues für Sie. Entschuldigen Sie
bitte. Sie lesen doch meine Interviews genauso wie ich
Ihre. Also vergessen Sie es! Und ich will mich davon
nicht ablenken lassen.

Ich will mit der Bemerkung beginnen, dass wir es,
wie ich glaube, gemeinsam in diesem Haus – damit
meine ich das gesamte politische Spektrum – versäumt
haben, den Menschen unseres Landes rechtzeitig eine
neue Erzählung von und über Europa zu liefern. Statt-
dessen haben wir Europa in den vergangenen Jahren in
unseren Beiträgen sehr stark reduziert: auf eine Wäh-
rungsunion, einen Binnenmarkt, eine Dienstleistungs-
richtlinie. Wir haben die Menschen mit finanztechni-





Peer Steinbrück


(A) (C)



(D)(B)

schen Begriffen und Abkürzungen überflutet und sind
selten in der Lage gewesen, uns selbst und vor allen Din-
gen den Bürgerinnen und Bürgern dieses Landes die
Komplexität dessen darzustellen, was in Europa passiert.

Wir haben Europa auf eine intergouvernementale Ver-
anstaltung von 26 Männern und Frau reduziert. Wir ha-
ben gleichzeitig einer Entwicklung Vorschub geleistet,
dass sich die Europäische Kommission in dem einen
oder anderen Fall Kompetenzen aneignete, die eigentlich
nicht auf ihre Ebene gehörten, sondern in den nachgela-
gerten Ebenen sehr viel besser hätten organisiert werden
können. Das fängt bei dem Krümmungsgrad der Salat-
gurke an, geht über Regelungen zur Glühbirne bis hin zu
Eingriffen in den ÖPNV.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch abgeschafft! Handelsklassen sind abgeschafft!)


Jacques Delors hat darauf hingewiesen, dass wir über
diese Debatten andere Themen verdunkelt haben. Über
die Beschäftigung mit der Währungskrise haben wir die
Themen verdunkelt, welches Verhältnis Europa zu den
USA hat, zu Russland hat, wie ein außen- und sicher-
heitspolitisches Konzept aussieht, wie das soziale Eu-
ropa aussieht. Vor diesem Hintergrund ist es nicht ver-
wunderlich, dass heute viele Menschen eher ein
gewisses Unverständnis gegenüber dem, was auf der eu-
ropäischen Ebene passiert, ja Skepsis, gegebenenfalls
sogar gewisse Ressentiments haben. Einige dieser Res-
sentiments werden entweder durch naive oder unbe-
dachte Äußerungen, auch aus dem Regierungslager, eher
geschürt als abgebaut.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Also müssen wir über Europa eine Neuerzählung ent-
wickeln. Diese Neuerzählung beginnt dort, wo Herr
Kauder im ersten Teil seiner Rede gewesen ist. Diese
Neuerzählung über Europa beginnt in einer kleinen Kir-
che in Cornwall, in einer kleinen Kirche in der Bretagne
oder in einer kleinen Kirche in der Altmark, wo man Ge-
denktafeln sieht – das sage ich insbesondere denjenigen
der jüngeren Generation, die uns zuhören –, und zwar
mit den Namen der Toten aus den Kriegen von 1914 bis
1918 und 1939 bis 1945. Auf diesen Gedenktafeln sind
die Namen von Familien zu lesen, deren Ehemänner und
Kinder in diesen Kriegen verheizt worden sind.

Das heißt, in einer historischen Rückbetrachtung ist
dieses Europa die Antwort auf 1945. Es ist nicht deutlich
genug zu machen, dass seit 1945 und danach diejenigen,
die mit der europäischen Integration begannen, Schuman,
Monnet, De Gasperi, auch Adenauer, in einem privile-
gierten – –


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Vor allem Adenauer, heißt das! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU)


– Sind Sie nicht in der Lage, einem solchen Redebeitrag
einigermaßen ruhig zu folgen?


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE])

Wie nervös müssen Sie eigentlich sein, dass Sie eine sol-
che Formulierung zum Anlass für Einlassungen neh-
men?


(Beifall bei der SPD)


Mit Beginn dieses europäischen Projektes Anfang der
50er-Jahre durch die Namen, die ich nannte, bewegen
wir uns in einem privilegierten Ausnahmezustand, je-
denfalls gemessen an der europäischen Geschichte. Das
ist das eine.

Das andere ist, dass dieses Europa die Antwort auf
das 21. Jahrhundert vor dem Hintergrund ist, dass sich
global ökonomische und politische Machtverhältnisse
verändern. Wenn wir die Vorstellung haben, dass
Deutschland in Europa in einer Alleinstellung diesen
globalen Veränderungen, den Machtverschiebungen, den
neuen Schwergewichten, gewachsen sein könnte, dann
täuschen wir uns selber.

Aber Europa ist mehr als das. Europa ist Rechtsstaat-
lichkeit, Sozialstaatlichkeit, die Tatsache, dass man die
Regierung verklagen kann. Europa ist Freizügigkeit,
Medien- und Pressefreiheit. Europa ist kulturelle Viel-
falt. Europa ist so, dass niemand nachts Angst haben
muss, dass jemand an der Tür klingelt und einen abführt.
Vor dem Hintergrund dieser Qualitäten, insbesondere der
Medien- und Pressefreiheit, ist es umso beschämender
gewesen, dass weder die Europäische Kommission noch
der Europäische Rat noch die nationalen Parlamente ge-
gen die ungarische Pressegesetzgebung so aufgetreten
sind, wie dies notwendig gewesen wäre.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es bleibt hinzuzufügen, dass es ohne das Einverneh-
men und die Zustimmung unserer europäischen Nach-
barn keine deutsche Wiedervereinigung gegeben hätte.
Es bleibt schließlich auch hinzuzufügen – was Sie ja alle
wissen –, dass dieses Europa mit einem Bruttosozialpro-
dukt von über 12 Billionen Euro und über 500 Millionen
Menschen einen ökonomischen Stellenwert hat.

All dies ist Europa. Das ist der Hintergrund – wenn
Sie so wollen: der Überbau – für die heutigen und kom-
menden Beschlüsse, an denen wir uns orientieren soll-
ten.

Sie, Frau Bundeskanzlerin werden den Vorwurf ertra-
gen müssen, dass Sie diesen Hintergrund für unsere Bür-
gerinnen und Bürger nicht hinreichend beleuchtet haben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ein Leitgedanke, eine Perspektive oder eine Strategie
auch unter Einschluss eines Planes B oder C ist seit Be-
ginn der Krise in der europäischen Währungsunion vor
ungefähr anderthalb Jahren, im Frühjahr 2010, nicht er-
kennbar. Sie haben mindestens lange Zeit versäumt, den
Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland zu erklären,
warum und dass die Bundesrepublik Deutschland einen
bedeutenden und auch belastenden Beitrag zur Stabili-
sierung Europas leisten muss.





Peer Steinbrück


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie haben Europa politisch nach innenpolitischen
Stimmungslagen und innerparteilichen Rücksichtnah-
men betrieben. Sie haben laviert, unglaubwürdige De-
mentis abgegeben, mehrfache Volten geschlagen und
nach Ihren europäischen Arien in Brüssel manchmal
auch deutschtümelnde Volkslieder, nicht nur im Sauer-
land, gesungen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Widersprüche innerhalb des Regierungslagers
und innerhalb Ihrer eigenen Fraktion sind offensichtlich.
Es sind nicht nur Widersprüche; es sind klaffende Risse.

Ihr Satz, Frau Merkel, „Scheitert der Euro, dann
scheitert Europa“ ist ja nicht falsch; denn uns allen ist
bewusst, dass in dem Fall, dass der Euro scheitert, auto-
matisch auch die europäische Integration um zwei Jahr-
zehnte zurückgeworfen wird und einer monetären Re-
nationalisierung selbstverständlich auch eine politische
Renationalisierung zulasten Europas folgt.

Dieser Satz von Ihnen ist also richtig. Nur: Der CSU-
Vorsitzende Horst Seehofer sieht diesen Zusammenhang
im Gegensatz zu Ihnen nicht. Er glaubt auch nicht, dass
eine Stärkung der europäischen Institutionen mit zusätz-
lichen Kompetenzen etwas zur Lösung der aktuellen
Krise beitragen könnte. Tatsächlich? Sie und wir reden
aber mit Blick auf die rigidere Koordinierung der Wirt-
schafts- und Fiskalpolitik, auf eine makroökonomische
Überwachung, auf den Abbau der Staatsverschuldung
und auf mögliche Sanktionen über nichts anderes als
über eine Stärkung der europäischen Institutionen und
ihrer Kompetenzen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Will sagen: In welchem Orbit zieht Herr Seehofer ei-
gentlich seine Umlaufbahnen?


(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: In einem kleineren sicherlich! – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zwischen Chiemsee und Starnberger See!)


Wie passt das zu Ihrer Position?

Ich habe übrigens gestern in München erfahren, dass
Herr Seehofer zusammen mit Frau Stamm, der Präsiden-
tin des Bayerischen Landtages, Anfang dieser Woche
eine Pressekonferenz gegeben hat, in der sie signalisier-
ten, heute in der Abstimmung dem Gesetzentwurf zuzu-
stimmen, aber ab morgen erklären zu wollen, warum das
nicht so gemeint sei. Warten wir also die morgigen Er-
klärungen ab.

Ihre Medizin, Frau Bundeskanzlerin, Zeit zu kaufen,
indem mit Hilfskrediten der Kapitaldienst Griechenlands
und anderer finanziert wird, und Griechenland parallel
dazu einer radikalen Diätkur zu unterziehen, mit der das
Land dann sehen soll, wie es wieder auf die Beine
kommt, ist gescheitert. Der erste Teil stellt sich als Pla-
cebo dar, und der zweite Teil, die Diätkur, als eine le-
bensgefährliche Angelegenheit für Griechenland.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Der Ansatz, Zeit zu kaufen, ist übrigens auch deshalb
gescheitert, weil die Zeiten immer schlechter geworden
sind, seit Sie vor anderthalb Jahren damit begonnen ha-
ben. An die doppelte Medizin glauben übrigens weder
die Märkte noch die Menschen, weder die Menschen bei
uns noch die Menschen in Griechenland. Es ist an der
Zeit, dass die Politik die Bürger auch nicht mehr glauben
zu machen versucht, dass dies eine Lösung sei und dass
diese Strategie verfangen könnte.

Griechenland wird aus eigener Kraft auf absehbare
Zeit nicht mehr zu einigermaßen verträglichen Konditio-
nen an die Kapitalmärkte zurückkehren können. Das ist
die nackte Realität.

Die bloße Finanzierung seines Kapitaldienstes ändert
rein gar nichts an der fundamentalökonomischen Vo-
raussetzung dafür, jemals wieder Wind unter die Flügel
zu bekommen, und der Rausschmiss aus der Währungs-
union, der übrigens verfahrensrechtlich gar nicht vorge-
sehen ist, auch nicht.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Eine Diät à la Brüning’scher Notverordnungen, über die
der Wirtschaftsmotor mit massiven Folgen für das grie-
chische Wirtschaftswachstum und den Arbeitsmarkt ab-
gewürgt wird, bringt den Patienten endgültig auf das La-
ger und nicht mehr auf die Beine.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Ertüchtigung, die Mandatserweiterung des tem-
porären Rettungsschirms mit dem Kürzel EFSF und die
Umsetzung des gestern in der Tat lobenswerterweise
vom Europäischen Parlament verabschiedeten soge-
nannten Sixpacks, also verschiedener Vorschläge der Eu-
ropäischen Kommission, sind ein richtiger Schritt. Auf
die Darstellung von Einzelheiten verzichte ich in der An-
nahme, dass uns allen das geläufig ist.


(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Die Annahme ist falsch!)


Die SPD wird daher unbenommen ihrer grundsätzli-
chen Kritik am Krisenmanagement der Bundesregierung
aus einer übergeordneten Verantwortung für die Geset-
zesänderung stimmen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die mit dieser Gesetzesänderung verbundene Einigung
über die Beteiligungsrechte des Bundestages im Vorfeld
von Entscheidungen des Managements über diesen
Fonds tragen wir ebenfalls mit. Diese Rechte stellen eine
Stärkung der parlamentarischen Beteiligung dar, wie sie
den Vorgaben der beiden Urteile des Bundesverfas-
sungsgerichts entspricht.

Richtig ist allerdings auch: Wir stimmen heute über
notwendige Schritte ab, die dazu dienen, die Europäi-





Peer Steinbrück


(A) (C)



(D)(B)

sche Währungsunion zu stabilisieren. Hinreichend sind
sie nicht.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich will Ihnen die Reden und die Zitate von Frank-
Walter Steinmeier, Sigmar Gabriel und mir sowie ande-
ren Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion nicht
aufzählen,


(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Das ist auch besser so!)


in denen wir Ihnen seit anderthalb Jahren Vorschläge ge-
macht haben, aus denen hervorgeht, wie eine umfassen-
dere und tiefgreifendere Strategie zur Stabilisierung der
Euro-Zone aussehen könnte. Kommen Sie mir nicht im-
mer wieder, Herr Kauder, mit den ewigen Hinweisen
– diesen von Ihnen selbst geklebten Pappkameraden, die
Sie dann hier theatralisch erwürgen –, die die Schulden-
union betreffen, in die die SPD dieses Land hineinjagen
will.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Genau so!)


– Überhaupt nicht! Sie können überall nachlesen, was
wir formuliert haben. – Diese Hinweise sind nichts ande-
res als Ausdruck Ihrer eigenen Ratlosigkeit und vor al-
lem Ihrer Unwahrhaftigkeit, weil Sie längst den Weg in
eine Haftungsunion beschritten haben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE])


Sie haben diesen Weg in eine Haftungsunion durch das
Versagen des Europäischen Rates im Mai 2010 beschrit-
ten, wo die EZB zu einem Ersatzakteur gemacht bzw. ge-
nötigt wurde. Wenn mich nicht alles täuscht, wird inzwi-
schen intern – zumindest in der Regierung, jedenfalls am
Rande des Treffens des IWF – eine weiter gehende Instru-
mentalisierung der Europäischen Zentralbank und über
mögliche Hebelwirkungen des Rettungsfonds debattiert.
Ich bin gespannt, ob dies heute im Rahmen dieser Debatte
offen angesprochen wird, weil das im Hinblick auf das
Abstimmungsverhalten der beiden Regierungsfraktionen
sehr delikat werden könnte.

Im Übrigen hat Frau Merkel den Finger zugunsten ei-
ner weiteren Haftungsgemeinschaft gehoben, als sie am
21. Juli der Mandatserweiterung des Rettungsfonds zu-
stimmte, die zum Inhalt hat, dass dieser auch auf den Se-
kundärmärkten, also direkt von Banken, Staatsanleihen
aufkaufen darf. Frau Merkel, wenn ein Land seine
Staatsanleihen nicht zurückzahlen kann: Können Sie
dem Publikum erklären, wer dann haftet? Würden Sie
mir zustimmen, dass die Bundesrepublik Deutschland
pro rata mit 27 Prozent an einer solchen Haftungsge-
meinschaft beteiligt ist? Ist es nicht an der Zeit, dies of-
fen darzulegen und die Menschen dementsprechend zu
informieren?


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Norbert Barthle [CDU/CSU]: Steht doch im Gesetz!)

Mit dem bisherigen Krisenmanagement kommen wir
jedenfalls nicht aus. Auch das Sixpack wird nicht rei-
chen. Ich bin mir ganz sicher, dass wir, bezogen auf
Griechenland, an einem Schuldenschnitt unter Einbezie-
hung der Gläubiger nicht vorbeikommen. Warum neh-
men Sie nicht das ziemlich einhellige Urteil der Fach-
welt zur Kenntnis, wonach wir an einem solchen
Schuldenschnitt nicht vorbeikommen? Wir reden längst
nicht mehr über das Ob, sondern darüber, wie, wann und
unter welcher Begleitung mögliche Kollateraleffekte mi-
nimiert werden können.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


In diesem Zusammenhang wird es um die Rekapitali-
sierung von Banken gehen; das ist richtig. Aber ich
würde gerne Stichworte aufgreifen, die wir schon früher
genannt haben. Es ist an der Zeit, grenzüberschreitend in
Europa auch ein Verfahren für eine Bankeninsolvenz
vorzusehen, sodass einige Banken geordnet abgewickelt
werden können. Dies ist eine Antwort auf die leidige
Problematik des „too big to fail“ oder die Erpressbarkeit,
der die Politik unterliegt, indem sich Banken als sys-
temrelevant immunisieren, mit dem Ergebnis, dass die
Steuerzahler anschließend zahlen müssen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Griechenland wird ein wirtschaftliches Hilfspro-
gramm benötigen, um die realökonomischen Vorausset-
zungen dafür zu schaffen, um wieder Überschüsse zu
produzieren. Wo ist dieser Ansatz aufgegriffen worden?
Wer ergreift die Initiative, die europäischen Struktur-
fonds, den Kohäsionsfonds und gegebenenfalls auch das
Aufkommen aus einer Umsatzsteuer auf Finanzge-
schäfte zu benutzen, um Länder wie Griechenland wett-
bewerbsfähiger zu machen?


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir brauchen einen verbindlichen Fahrplan zum Ab-
bau der Staatsverschuldung. Die EZB muss auf ihre al-
leinige geldpolitische Funktion zurückgeführt werden,
und sie darf nicht mehr fiskalpolitisch instrumentalisiert
werden, wie es in den letzten anderthalb Jahren der Fall
war.


(Beifall bei der SPD)


Finanzmarktgeschäfte sind zu besteuern, gegebenen-
falls auch im Konvoi von den kontinentaleuropäischen
Ländern, die dazu bereit sind. Ich finde es bemerkens-
wert, dass die Europäische Kommission mit Blick auf
die Besteuerung von Finanzmarktgeschäften inzwischen
ehrgeiziger ist als diese Bundesregierung.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es geht darum, die Wachstumsstrategie Europa 2020
zu konkretisieren und Sorge dafür zu tragen, dass sie
nicht ebenso scheitert wie die Lissabon-Strategie für das
erste Jahrzehnt dieses Jahrhunderts. Es geht darum, die
Wirtschafts- und Fiskalpolitik sehr viel rigider zu koor-





Peer Steinbrück


(A) (C)



(D)(B)

dinieren, jedenfalls damit anzufangen, bevor man lange
über die Einführung einer Wirtschaftsregierung räso-
niert. Es geht darum, Steuerdumping, Steuerbetrug und
Steuerhinterziehung zu bekämpfen. Das Thema der Re-
gulierung der Finanzmärkte gehört dringend wieder auf
die Tagesordnung.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich will eine abschließende Bemerkung machen.


(Zurufe von der CDU/CSU: Das ist gut!)


– Mein Gott, dieses rituelle Echo, das ich von der CDU/
CSU bekomme!


(Zurufe von der CDU/CSU)


Es könnte sein, dass hinter der Finanzkrise weit mehr
noch eine politisch-legitimatorische Krise liegt. Die
Grundidee der sozialen Marktwirtschaft, dass Risiko mit
Gewinn belohnt, aber dass Verspekulieren mit Ruin be-
straft wird, gilt offenbar nicht mehr. Haftung und Risiko
fallen auseinander, Gewinne werden privatisiert, Ver-
luste werden sozialisiert. Die Verursacher der Krise wer-
den nicht an der Finanzierung der Folgekosten beteiligt,
weil sie sich, wie ich gesagt habe, als systemrelevant im-
munisiert haben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Jan Korte [DIE LINKE]: Das haben Sie doch gemacht!)


Die Politik erscheint nicht mehr als Handelnder, sondern
als Getriebener. Ich erinnere an die Daumenbewegun-
gen, die Ratingagenturen vollführen.

Täuschen wir uns nicht: Das prägt die Wahrnehmung
von vielen Menschen und ihr Verhältnis zu Staat und
Politik. Der Journalist Cordt Schnibben hat in einem
Artikel geschrieben: „Die ideologischen Folgen des mo-
netären Kollapses sind dauerhafter als die wirtschaftli-
chen, …“. – Das könnte sein. Das Paradigma der Dere-
gulierung, die Fixierung auf Quartalsbilanzen, die
Margenmaximierung und die Verachtung der alten
Deutschland AG haben einem ungezähmten Kapitalis-
mus Raum gegeben. Dieser neigt zu Exzessen, er neigt
zur Zerstörung von Vermögen, und er erschüttert auch
die Ideale der Demokratie.


(Beifall bei der SPD)


Was wir jetzt erleben – das müsste eigentlich die bei-
den Regierungsfraktionen beschäftigen –, greift auch das
bürgerlich-liberale und das konservative Selbstverständ-
nis von Haftung und Risiko, Belohnung und Bestrafung,
Gemeinwohlverpflichtung des Eigentums, Maß und
Mitte an. Es sind Ihre Wählerinnen und Wähler, die da-
von betroffen sind. Vielleicht waren es Ihre Wähler.
Diese wollen heute jedenfalls nicht, dass Sie ihnen das
Ideal des Modells Irland wie eine Monstranz vorhalten,
und können wahrscheinlich mit der Beschlusslage des
Leipziger Parteitags der CDU als Antwort auf die jetzige
Situation auch nicht mehr so viel anfangen.

Das eindimensionale Programm der FDP – weniger
Staat, mehr Markt, weniger Steuern – ist jedenfalls eine
Beschädigung der Handlungsfähigkeit des Staates und
wirkt nicht nur angesichts dieser Finanzkrise und Staats-
verschuldung anachronistisch, die Wähler bewerten es
auch zunehmend als anachronistisch.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE])


Die Bundesregierung und die Regierungsfraktionen
geben weder die Einsicht noch die Kraft zu erkennen,
das Krisenmanagement von einem Durchlavieren in ei-
nen umfassenderen Lösungsansatz zu überführen. Ich
wette, Sie werden den Deutschen Bundestag weiterhin
scheibchenweise mit Fortsetzungskapiteln konfrontie-
ren.

Sie haben weder die Einsicht noch die Kraft, zu er-
kennen, dass das, was über den ungezähmten Finanzka-
pitalismus stattfindet, durchaus zu einer sozialen Ent-
fremdung in dieser Gesellschaft beitragen könnte.

Ihnen und Ihrer Regierung, Frau Bundeskanzlerin,
fehlt in Zeiten der Gefahr die wichtigste politische Qua-
lität: Vertrauen. Vertrauen erwächst aus Überzeugung
und Begründung, aus Konsistenz und Erkennbarkeit.
Aber genau daran fehlt es dieser Regierung.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Vor diesem Hintergrund geraten Ihre großen Sprech-
blasen – „Herbst der Entscheidungen“, „Jahr des Ver-
trauens“ und „die geistig-moralische Wende“ – zu einer
sehr bitteren Pointe. Nach dem chinesischen Kalender
befinden wir uns im Augenblick im Jahr des Hasen.
Nach meiner Wahrnehmung vermittelt diese Regierung
auch genau diesen Eindruck.

Vielen Dank.


(Anhaltender Beifall bei der SPD – Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1713000400

Rainer Brüderle ist der nächste Redner für die FDP-

Fraktion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Rainer Brüderle (FDP):
Rede ID: ID1713000500

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der Tat:

Die Welt sortiert sich neu. Dies ist kein europäisches
Zeitalter mehr. Zwei Drittel des weltweiten Wirtschafts-
wachstums stammen von Schwellenländern, etwa China,
Indien, Brasilien und Russland. Europa muss sich in die-
sem verschärften weltweiten Wettbewerb neu aufstellen.
Ich teile die Einschätzung, dass Europa für uns Staatsrä-
son ist. Deutschland darf sich nie wieder singularisieren.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Wir brauchen Europa, aber wir müssen es richtig ma-
chen.

Jetzt geht es darum, dass wir die Wirtschaftskraft Eu-
ropas schützen und stärken. Auch müssen wir unsere





Rainer Brüderle


(A) (C)



(D)(B)

Währung schützen und stabil halten, damit Europa eine
gute Perspektive hat. Eine Lehre der Geschichte ist:
Wenn das Geld schlecht wird, wird alles schlecht. –
Auch das haben wir in der deutschen Geschichte gehabt:
von Hyperinflation über Massenarmut bis hin zum Krieg
und den fatalen Fehlentwicklungen in Deutschland.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Deshalb ist unsere Mitgift für die europäische Zukunft
die deutsche Stabilitätskultur. Deswegen schaffen wir
die EFSF als einen Zwischenschritt hin zu einem dauer-
haften Mechanismus.

Die Kriterien, die wir damals mit dem Stabilitäts- und
Wachstumspakt – eine Wirtschafts- und Währungsunion,
keine politische Union! – auf den Weg gebracht haben,
wurden gerissen: als Erstes von Rot-Grün in Deutsch-
land, aber auch von Frankreich. Die Kriterien wurden in
der Summe 68-mal gerissen. Aber Konsequenzen und
Sanktionen gab es nie. Deshalb müssen wir einen Stabi-
litätspakt II schaffen. Das, was wir heute beschließen, ist
der Zwischenschritt auf dem Weg dahin, einen Stabili-
tätspakt II zu schaffen und zu gestalten.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Entscheidend ist, dass man Regeln hat, die eingehal-
ten werden. Europa kann und muss rechtsstaatlich sein.
Aber Rechtsstaatlichkeit heißt auch, dass man verein-
barte Regeln einhält. Die Realität darf nicht sein, dass
man Beschlüsse fasst und Verträge schließt, die nicht
eingehalten werden. Deshalb müssen wir dies neu aus-
richten.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Wir brauchen quasi Automatismen. Herr Steinbrück,
Sie haben sich zu dem bekannt – Stichwort „Sixpack“ –,
was gestern im Europaparlament beschlossen wurde.
Aber Sie wissen, dass Ihre Genossen und auch die Grü-
nen dagegen gestimmt haben. Sie haben es abgelehnt,
die Stabilität in Europa zu stärken. Als es ernst wurde,
haben sie sich mal wieder vom Acker gemacht.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Widerspruch der Abg. Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Eines hat Rot-Grün in Europa beschlossen: Wenn
Deutschland Exporterfolge hat, dann müssen wir sie in
der Makroökonomie zurückführen. Erklären Sie einmal
den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, den Be-
triebsräten und den Gewerkschaften, dass wir unsere Er-
folge, die wir aufgrund von Fleiß und Anstrengungen er-
reicht haben, einseitig zurückführen müssen. Das ist Ihre
Politik. Das müssen Sie den Arbeitnehmern in Deutsch-
land einmal erklären.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


In den Worten hart, in den Taten weich: Das erinnert
an Ihren Umgang mit dem Stabilitätspakt.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Deshalb ist es entscheidend, dass es nationale Schulden-
bremsen gibt und private Gläubiger beteiligt werden,
dass es Tests für Wettbewerbsfähigkeit und Elemente ei-
ner staatlichen Insolvenzordnung gibt und dass die Un-
abhängigkeit der Europäischen Zentralbank – Herr
Steinbrück, da haben Sie recht – wiederhergestellt wird.
Ihre Aufgabe ist Geldpolitik und nicht Fiskalpolitik.
Deshalb schaffen wir heute dieses Instrument, damit
diese Fehlentwicklung bei der Europäischen Zentral-
bank, die Gelddruckmaschine an der falschen Stelle ein-
zusetzen, gestoppt wird.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben Sie doch zu verantworten!)


Volker Kauder hat zu Recht herausgestellt, dass durch
unsere Beratungen etwas Modellhaftes für Europa ent-
standen ist, nämlich eine umfassende Parlamentsbeteili-
gung. Vielleicht werden noch andere Länder unserem
Beispiel folgen. Ohne den Willen Deutschlands, ohne
den Willen des deutschen Parlaments wird es eine Aus-
zahlung von weiteren Mitteln nicht geben. Die klare
Botschaft ist: Der Souverän, die Vertretung des Volkes,
entscheidet darüber. Das ist auch richtig.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Wir müssen doch allem, worüber im Dunstkreis von
Tagungen aufgeblasen diskutiert wird, klar entgegentre-
ten. Der Rettungsschirm darf nicht zu einer Investment-
bank werden – Stichwort „Hebelwirkung“. Warren
Buffett hat die Hebelprodukte als Massenvernichtungs-
waffen bezeichnet. Dieser Unfug muss unterbleiben. Wir
sollten diesen Versuchungen widerstehen.


(Peer Steinbrück [SPD]: Ja!)


Wenn wir anders handeln würden, Herr Steinbrück, dann
kämen wir auf die schiefe Ebene. Da sind wir einer Mei-
nung.


(Peer Steinbrück [SPD]: Das müssen Sie anderen sagen!)


– Nein, Herr Schäuble hat sich dazu klar geäußert. Ich
habe heute Morgen im Deutschlandfunk gesagt: Einem
ehrenwerten Finanzminister wie Wolfgang Schäuble zu
unterstellen, dass er hier tarnt und täuscht, ist unredlich.
Dieser Mann ist in Ordnung und hat unsere volle Unter-
stützung.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So weit ist es schon!)


– Herr Trittin, Sie haben Deutschland das Dosenpfand
beschert. Sie möchten gerne Finanzminister werden. Wir
werden verhindern, dass Sie Europa eine Blechwährung
bescheren werden.


(Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Wir müssen den Finanzjongleuren ihr Spielzeug weg-
nehmen. Der Entschließungsantrag der SPD heute ent-
hält einen richtigen Gedanken. Dieser umfasst die Ei-
genkapitalunterlegung von Risikoprodukten. Das halte
ich für richtig. Darüber sollten wir diskutieren, und dies
machen wir. Das Bundesverfassungsgericht hat für den





Rainer Brüderle


(A) (C)



(D)(B)

Rettungsschirm einen klaren Deckel hinsichtlich der
Rettungsinstrumente gesetzt.

Herr Steinbrück, Sie haben heute ein bisschen an Ih-
rem Image der Vergangenheit, an Ihrem Heiligenschein
poliert. Das ist verständlich; denn der Wettlauf, wer
Kanzlerkandidat der SPD wird, hat begonnen nach dem
Motto „Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist der
schönste Sozi im Land?“.


(Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Okay, das kann man so machen.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Aber wie war es denn bei der Lehman-Krise? Da ha-
ben Sie gesagt: Das ist ein rein amerikanisches Problem.
Dass uns das voll erwischt hat, das haben Sie nicht er-
kannt.


(Peer Steinbrück [SPD]: Lesen Sie meine Rede!)


Das hat uns viel Zeit gekostet. Dann haben Sie über die
Hypo Real Estate schwadroniert, und an der Börse hat es
gebumst. Also, so doll ist es mit den Erkenntnissen
nicht. Sie sind da sehr selektiv.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Daraus folgt die klare Erkenntnis: Besserwisser sind
noch keine Bessermacher.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Sie haben heute vieles von dem, was Sie draußen er-
zählen, nicht gesagt. Ich zitiere einmal: Griechenland ist
pleite – es ist so langsam Zeit, sich das einzugestehen –;
ohne einen Schuldenschnitt kommt man da nicht heraus;
im Extremfall geht es um ein geordnetes staatliches In-
solvenzverfahren. – Wenn der Vizekanzler nur zart an-
deutet, dass man das nicht völlig ausschließen kann,
wird er von Ihnen massiv beschimpft. Sie predigen das.


(Peer Steinbrück [SPD]: Von mir nicht!)


– Sind Sie kein Sozialdemokrat mehr, Herr Steinbrück?


(Peer Steinbrück [SPD]: Ich bin Steinbrück!)


– Sie sind Steinbrück; das ist bemerkenswert. Sie sind
nicht mehr Sozialdemokrat; Sie sind Steinbrück.


(Peer Steinbrück [SPD]: Quatsch!)


Möglicherweise ist das ein Fortschritt. Herzlichen
Glückwunsch!


(Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Aber, Herr Steinbrück, wo waren Sie, wo war Herr
Steinmeier, als Herr Gabriel, Ihr Parteivorsitzender, die
SPD sich bei dem ersten Hilfspaket für Griechenland hat
kraftvoll enthalten lassen? Das ist eine tolle Haltung:
Nicht Ja, nicht Nein; man enthält sich; „Ich weiß nicht,
was ich wissen will“, meine Damen und Herren.


(Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Dem fällt nichts mehr ein!)

So kann man das nicht machen.


(Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Sie stimmen heute zu, weil es ja gar nicht anders geht.


(Sigmar Gabriel [SPD]: Das gilt aber für Sie auch!)


Vorher haben Sie gesagt: Ich weiß nicht. Vielleicht sagen
Sie morgen wieder Nein. Das ist Zickzack. Ihre Genos-
sen in Europa sagen Nein; Sie sagen: Es ist notwendig.


(Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Das ist unwahr!)


Irgendwann müssen Sie sich einmal entscheiden, was
Sie wollen, welche Meinung Sie haben, und Sie dürfen
die Menschen nicht nur verwirren.


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 2 Prozent!)


Thema Euro-Bonds. Das ist in Ihrem Entschließungs-
antrag gar nicht mehr drin. Uns haben Sie dafür be-
schimpft, dass wir gegen diese Vergemeinschaftung der
Schulden sind. Ich empfehle Ihnen, den Arbeitnehmern
an den Werkstoren einmal zu sagen, was auf sie zu-
kommt, wenn Deutschland für sämtliche Schulden Euro-
pas geradesteht. Das ist wie eine Enteignung breiter
Teile der deutschen Bevölkerung.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Ihre Basis lehnt das ab. Das Bundesverfassungsge-
richt lehnt das ab.


(Zuruf von der SPD: Was?)


Die Wirtschaftsweisen lehnen es ab. Diese neue Form
von Zinssozialismus ist der falsche Weg.

Stellen Sie sich hier einen Moment vor, wir hätten
jetzt in Deutschland eine rot-grüne Regierung. Dann wä-
ren wir schon längst in der Transferunion, in den Trans-
fermechanismen Europas. Es ist ein Glücksfall, dass
jetzt eine bürgerliche Regierung dran ist.


(Lachen bei Abgeordneten der SPD)


Solche Regierungen haben immer die Wegmarken der
Republik gesetzt: bei den europäischen Verträgen, bei
der Wiedervereinigung und jetzt bei der Neuausrichtung
Europas.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Eine rot-grüne Regierung wäre ein hohes Risiko für die
europäische und deutsche Entwicklung. Deshalb müssen
Sie dort bleiben, wo Sie sind: in der Opposition.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1713000600

Herr Kollege Brüderle, gestatten Sie eine Zwischen-

frage?


Rainer Brüderle (FDP):
Rede ID: ID1713000700

Nein, ich beantworte keine Zwischenfragen. Ich dis-

kutiere am Stück.





Rainer Brüderle


(A) (C)



(D)(B)

Es war Gerhard Schröder, der den Euro als „krän-
kelnde Frühgeburt“ bezeichnet hat. Die Entscheidungen
dieses Kanzlers wirken bis heute und sind Mitursache
für die europäische Krise: Ihre Aufnahme Griechen-
lands, Ihre Fehlentscheidung bezüglich Griechenlands,
Ihre Brechung des Stabilitätspaktes, das sind doch die
Ursachen der heutigen Probleme. Sie sollten in Demut
hier sitzen, die Köpfe nach unten senken und keine di-
cken Backen machen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zurufe von der SPD)


Die Augen der Welt


(Christine Lambrecht [SPD]: Sind entsetzt über Ihre Rede!)


bezüglich der Euro-Rettung sind auf Deutschland ge-
richtet,


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber die Ohren der Welt werden gerade zugehalten!)


und zwar deshalb, weil Deutschland wieder Power-
house der wirtschaftlichen Entwicklung ist. Das ist ein
Ergebnis des Fleißes der Menschen in Deutschland, aber
auch der richtigen Politik dieser Koalition.


(Lachen bei Abgeordneten der SPD – Sigmar Gabriel [SPD]: Hören Sie auf das Pfeifen im Wald?)


Zu Zeiten von Rot-Grün waren wir der kranke Mann
Europas. Heute sind wir das Powerhouse.

Meine Damen und Herren, es geht weit über Europa
hinaus. Wir müssen sehen, dass weltweit neue Strategien
entwickelt werden. Die Chinesen wollen ihre Währung
in den Vordergrund stellen. Außerdem spielt die Dollar-
dominanz eine Rolle. Die Äußerungen des Präsidenten
der USA der letzten Tage – auch wenn es Wahlkampf
war – haben bei mir den Eindruck erweckt, dass die
Amerikaner möglicherweise gar kein Interesse daran ha-
ben, dass der Euro in Europa eine Erfolgsgeschichte ist.

Umso wichtiger ist es, dass wir das Richtige machen.
Die Bundeskanzlerin hat klare Signale zur Änderung der
europäischen Verträge gesetzt. Wenn jemand Geld
nimmt, muss er Kontrolle akzeptieren. Wenn er die Ur-
sachen nicht beseitigt, muss es Durchgriffsrechte geben.
Dann muss er temporär einen Teil seiner Souveränität an
Europa abtreten. Nur die Hand aufzuhalten und die Ur-
sachen der Fehlentwicklung nicht zu beseitigen, ist nicht
solidarisch. Das ist unfair. Deshalb muss das ein Ende
haben.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Die Chance, mit dem Stabilitätspakt II den ESM neu
auszurichten, müssen wir nutzen. Der ESM könnte eine
Art Wettbewerbfähigkeitsminister sein. Wir brauchen
keinen europäischen Finanzminister. Wir brauchen klare
Strukturveränderungen, die Europa voranbringen.

Wir haben lange miteinander gerungen. Wir haben
diskutiert, und wir haben uns entschieden. Wir stehen
– und das ist gut so –, und wir werden auch weiter ste-
hen. Wir sind da, und wir bleiben da. Wir werden auch in
Zukunft für die richtigen Ziele kämpfen. Es ist gut, dass
Deutschland Rot-Grün erspart bleibt.

Vielen Dank.


(Anhaltender Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1713000800

Das Wort erhält nun der Kollege Gregor Gysi für die

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1713000900

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr

Brüderle, ich habe Ihnen wieder gerne zugehört.


(Gunther Krichbaum [CDU/CSU]: Wir auch!)


Ich muss Ihnen allerdings eines sagen: Wenn Sie weiter
so leidenschaftlich sind, bekommen Sie bald einen Herz-
infarkt. Passen Sie etwas auf!

Herr Brüderle, mit Ihrer Rede haben Sie den Wahl-
kampf eröffnet. Sind Sie sich so sicher, dass es Neuwah-
len gibt, dass Sie glauben, jetzt schon solche Attacken
reiten zu müssen? Das ist wirklich interessant.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Herrn Steinbrück habe ich natürlich auch gern zuge-
hört. Herr Steinbrück, Sie haben festgestellt, die CSU
werde heute zustimmen und morgen erklären, warum es
falsch sei. Sie haben mir aber heute schon erklärt, dass es
falsch sei und Sie trotzdem zustimmen. Darauf wollte
ich lediglich einmal hingewiesen haben.


(Beifall bei der LINKEN)


Das Bundesverfassungsgericht hat eine höhere Parla-
mentsbeteiligung gefordert. Herr Kauder hat erklärt,
diese Vorgabe sei übererfüllt. Ich sage Ihnen: Ich halte es
für einen Skandal, dass schon wieder ein Geheimaus-
schuss gebildet werden soll, der entscheidet, ob Tran-
chen aus dem aufgestockten Rettungsfonds ausbezahlt
werden.


(Zuruf des Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Was heißt das denn? Die Mitglieder dieses Geheim-
ausschusses dürfen noch nicht einmal die anderen Abge-
ordneten, geschweige denn die Bevölkerung informie-
ren. Hierbei geht es aber um das Geld der Bevölkerung.
Es ist unerhört, dass die Bevölkerung nicht informiert
wird, wenn dieses Geld ausgegeben wird. Das ist nicht
hinnehmbar. Das ist keine wirkliche Parlamentsbeteili-
gung.


(Beifall bei der LINKEN)


Der Präsident der USA hat erklärt, dass die Krise in
Europa der ganzen Welt Angst mache. Außerdem hat er
gesagt, dass die Regierungen in Europa nicht rasch genug
und nicht konsequent genug entschieden hätten. Jeder





Dr. Gregor Gysi


(A) (C)



(D)(B)

weiß, dass er damit in erster Linie die deutsche Bundes-
regierung gemeint hat. Weiter hat Herr Obama gesagt,
dass wir hier in Europa nicht die richtigen Schlussfolge-
rungen aus der Krise des Jahres 2008 gezogen hätten.
Wir hätten uns den Herausforderungen, um die es eigent-
lich geht, nicht gestellt. Ich weiß nicht, ob Obama über
WikiLeaks bei uns abschreibt, aber auf jeden Fall ist es
genau das, was wir Ihnen seit geraumer Zeit sagen. Nun
sagt es selbst der amerikanische Präsident. Vielleicht hö-
ren Sie ja wenigstens ihm zu.


(Beifall bei der LINKEN)


Am letzten Wochenende fanden zwei Jahrestagungen
statt, zum einen vom Internationalen Währungsfonds
und zum anderen von der Weltbank. Da gab es, glaube
ich, zwei wichtige Momente. Erstens hat der US-Finanz-
minister erklärt, dass die Staatsschulden und der Ban-
kenstress in Europa größte Risiken für die Weltwirt-
schaft nach sich ziehen. Zweitens hat die Direktorin des
Internationalen Währungsfonds, Madame Lagarde, ge-
fordert, was wir ebenfalls seit Jahren fordern: die großen
privaten Banken öffentlich-rechtlich zu gestalten.


(Beifall bei der LINKEN)


Das sagt die ehemalige, konservative Finanzministerin
Frankreichs!


(Beifall bei der LINKEN – Christian Lindner [FDP]: Und wer soll das bezahlen?)


Wir können diese Banken nicht privat lassen, weil die
Abhängigkeit der Regierungen und Parlamente von den
großen privaten Banken politisch, demokratisch und
auch wirtschaftlich unerträglich ist.


(Beifall bei der LINKEN)


Aber Sie vollziehen auch nicht die weiteren Schritte,
die erforderlich sind. Sie alle erklären immer, wir
bräuchten gegen die privaten amerikanischen Rating-
agenturen endlich eine öffentlich-rechtliche Ratingagen-
tur in Europa. Wo bleibt sie denn? Wo ist Ihr Vorschlag?
Wo ist das Konstrukt?


(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Richtig!)


Nichts passiert diesbezüglich! Die Frau Bundeskanzle-
rin, der französische Präsident – alle sprechen jetzt von
der Finanztransaktionsteuer. Nun kommt der EU-Chef
Barroso und sagt: 2014 soll sie eingeführt werden. Darf
ich Sie daran erinnern, dass dieser Bundestag in der
Lage war, zur Rettung der Banken innerhalb einer Wo-
che 480 Milliarden Euro zur Verfügung zu stellen? Für
die Finanztransaktionsteuer aber brauchen Sie sechs
Jahre. Noch glaubt kein Mensch, dass sie 2014 kommt.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir brauchen – und das muss eines Tages auch die
FDP begreifen – die Unabhängigkeit der Euro-Staaten
von den großen privaten Banken, das heißt: vom derzei-
tigen Finanzmarkt. Wie könnten wir das erreichen? Wir
könnten das erreichen, wenn wir endlich eine öffentlich-
rechtliche Bank in Europa schüfen – oder die Europäi-
sche Zentralbank dazu machten –, die berechtigt sein
soll – –


(Christian Lindner [FDP]: Die WestLB!)

– Kommen Sie mir nicht mit Ihrer blöden WestLB, die
Sie mit in den Sumpf gefahren haben, und zwar weil Sie
verlangt haben, dass sie wird wie die Deutsche Bank,
statt zu sagen, sie soll eine öffentlich-rechtliche Bank
sein.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Sparkassen sind öffentlich-rechtlich, und die sind
nicht unser Problem. – Also zurück: Diese öffentlich-
rechtliche europäische Bank könnte dann an Staaten wie
Griechenland, Italien, Irland, Spanien oder Portugal
zinsgünstige Kredite geben. Dann wären sie nicht mehr
auf die privaten Banken angewiesen. Dann könnten die
privaten amerikanischen Ratingagenturen diese Staaten
sogar herabstufen, solange sie wollen – es änderte ja
nichts daran, dass sie zinsgünstige Kredite von dieser
Bank bekämen. Dann wäre das Problem gelöst. Warum
gehen Sie denn nicht diesen Weg? Stattdessen machen
Sie die privaten Banken täglich mächtiger.


(Beifall bei der LINKEN)


Der Höhepunkt ist, dass eine private Bank bei der Eu-
ropäischen Zentralbank – also von unser aller Geld, dem
Geld der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler aller Euro-
Staaten – Kredite für 1,5 Prozent Zinsen bekommt. An-
schließend gibt sie das Geld weiter an Griechenland für
18 Prozent Zinsen. Das ist eine unvertretbare Zocke, die
Sie zulassen, gegen die Sie nichts unternehmen!


(Beifall bei der LINKEN)


Jetzt passiert Folgendes: Herr Schäuble, in der EU-
Kommission gibt es immer mehr Menschen, die das
Ganze so sehen wie die Linke in Deutschland. Die sa-
gen: Das geht so nicht weiter. Sie wollen eine europäi-
sche öffentlich-rechtliche Bank, die entsprechende Kre-
dite gewähren kann. Warum? Weil sie gemerkt haben,
dass die Abhängigkeit von den großen Privatbanken ins
Fiasko führt; weil sie gemerkt haben, dass die Demokra-
tie schwer beschädigt wird.

Es gibt zwei Gegner in der EU-Kommission: Bundes-
kanzlerin Merkel und Bundesfinanzminister Schäuble.
Ich bitte Sie, doch mal zu erklären: Was haben Sie denn
dagegen, ein Primat der Politik über die Banken wieder-
herzustellen? Was haben Sie denn gegen mehr Demokra-
tie, gegen die Unabhängigkeit der Staaten von den priva-
ten Finanzmärkten, gegen eine Unabhängigkeit der
Euro-Staaten gegenüber den Privatbanken? Was haben
Sie dagegen? Warum gehen Sie auf die Vorschläge der
anderen Mitglieder der EU-Kommission nicht ein?

Übrigens, diese Unabhängigkeit erreichten wir natür-
lich schneller und konsequenter, wenn wir die Banken
dezentralisierten und sie eben, wie es auch Frau Lagarde
gefordert hat, öffentlich-rechtlich gestalteten. Ich sage es
Ihnen noch einmal – ich habe es schon im Zusammen-
hang mit den Landesbanken gesagt –: Die Sparkassen in
Deutschland waren und sind nicht unser Problem und
werden es nicht sein. Selbst Brüssel hat inzwischen auf-
gehört, über die Sparkassen zu meckern. Hätten wir die
Sparkassen nicht gehabt, wären wir in einer viel größe-
ren Katastrophe.


(Beifall bei der LINKEN)






Dr. Gregor Gysi


(A) (C)



(D)(B)

Wenn dieser staatliche Weg beschritten würde, könnte
übrigens ein wirklicher Schuldenschnitt erfolgen. Ich
weiß: Darüber redet noch keiner gern; aber – ich sage es
Ihnen – er wird kommen. Jetzt sage ich Ihnen, was aus
unserer Sicht hinter der Ausweitung des Rettungs-
schirms steht – wir glauben es sehr ernsthaft; darüber
wird immer mehr gesprochen und niemand kann es wi-
derlegen –: Über kurz oder lang wird es einen Schulden-
schnitt geben. Wenn es einen Schuldenschnitt gibt, ist
die Auszahlung der zweiten Tranche von 109 Milliarden
Euro an Griechenland gar nicht mehr erforderlich, weil
Griechenland dann sowieso nur noch die Hälfte der
Schulden hat etc. Dann haben aber die großen Privatban-
ken riesige Verluste. Wer erstattet sie? Der Rettungs-
schirm. Deshalb wird er aufgestockt. Ich sage Ihnen: Das
ist ein Rettungsschirm nicht für die Griechinnen und
Griechen, sondern für die Banken. Genau deshalb sagen
wir Nein dazu.


(Beifall bei der LINKEN)


Lieber Herr Brüderle, lieber Herr Kauder, Sie haben
wieder mit großer Leidenschaft Euro-Bonds abgelehnt.
Ich finde das unfair, und zwar deshalb, weil Sie der Be-
völkerung nicht die Wahrheit sagen. Ich habe es hier
schon am 7. September gesagt – ich muss mich aber
gleich korrigieren, weil inzwischen schon wieder drei
Wochen vergangen sind und mehr passiert ist –: Die Euro-
päische Zentralbank, mithin das Eigentum der Steuerzah-
lerinnen und -zahler aller Euro-Staaten, damit vornehm-
lich auch der deutschen Steuerzahlerinnen und -zahler, hat
Staatsschulden aufgekauft; damals habe ich gesagt: „im
Wert von 129 Milliarden Euro“, und zwar „von Grie-
chenland, Portugal, Irland, Italien und Spanien“. Ich
habe Ihnen auch gesagt: „Den privaten deutschen Ban-
ken und Versicherungen hat sie ein Drittel dieser Staats-
schulden abgekauft.“ Jetzt gehören sie alle uns. Da sagen
Sie, es gebe keine Euro-Bonds? Damit haften wir doch
dafür.

In den drei Wochen ist aber etwas passiert, Herr
Brüderle – Sie waren an der Regierung –: Die Europäi-
sche Zentralbank hat weitere Staatsanleihen gekauft.
Nun besitzt sie solche im Werte von 150 Milliarden
Euro. Warum sagen Sie denn der Bevölkerung nicht,
dass das längst unser Eigentum ist? Da haben Sie doch
die Euro-Bonds indirekt eingeführt. Lassen Sie doch die
Diskussion um etwas, das längst Realität geworden ist.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir können aus diesen Gründen der Ausweitung des
Rettungsschirms nicht zustimmen. Aber es gibt weitere
Gründe: Bei Griechenland, Spanien und den anderen
Ländern wird ein völlig falscher Weg beschritten. Man
handelt nicht nur sozial ungerecht, sondern schwächt
auch die Wirtschaft, senkt die Einnahmen des Staates
und verbuddelt damit auch unser Geld. Diese Länder
brauchen keinen Abbau der Investitionen, sondern mehr
Investitionen.


(Beifall bei der LINKEN)


Sie brauchen keinen Abbau von Löhnen, Renten und So-
zialleistungen, sondern eine Steigerung, auch um die
Kaufkraft zu stärken und damit die Binnenwirtschaft zu
beleben. Nur über eine solche Politik flössen Steuern an
die Staaten; damit flösse das Geld, das kreditiert wird,
auch an uns zurück. Alles andere – der gegenteilige
Weg, den Sie beschreiten – heißt auch, die deutschen
Steuergelder zu veruntreuen. Sollte Griechenland pleite-
gehen oder in der Nähe der Pleite stehen, wird der Ret-
tungsschirm, den sie heute ausweiten, eben nicht ihm zu-
gutekommen, sondern den privaten Banken und – ich
muss ergänzen – den Fonds, Versicherungen und Hedge-
fonds. Die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler haften
dafür.

Aber auch das reicht noch nicht. Es gibt Vermögende
in Europa. Über dieses Vermögen muss hier gesprochen
werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Denn die weltweite Verteilung des Vermögens, auch in
Europa und Deutschland, wird immer ungerechter. Eine
Linke ist keine Linke, wenn sie nicht Eigentumsgerech-
tigkeit fordert; sie wird sonst von keiner Fraktion im
Bundestag gefordert.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich sage Ihnen dazu etwas: Sie haben festgelegt, dass die
Vermögen der Vermögenden in Europa und Deutschland
nicht mit einem halben Cent zur Finanzierung der ge-
samten Krise herangezogen werden; die Vermögenden
haben die Krise verursacht und sind dadurch reich ge-
worden, aber sie müssen keinen halben Cent von ihrem
Vermögen dafür zahlen. Das, was Sie hier an Ungerech-
tigkeit organisieren, ist nicht hinnehmbar.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich sage es noch einmal: Die Staatsschulden der Euro-
Staaten belaufen sich auf 10 Billionen Euro. Das Vermö-
gen nur der Vermögensmillionäre der Euro-Zone beträgt
7,5 Billionen Euro.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Alles wegnehmen!)


– Nein, nein. Ich sagte: eine angemessene Steuer. Das ist
nicht Wegnehmen. Seien Sie doch nicht so plump! Ma-
chen Sie doch einmal eine richtige Steuer! Dann können
wir gerne miteinander reden und über die Höhe verhan-
deln.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Staatsschulden in Deutschland belaufen sich auf
2 Billionen Euro. Das Vermögen der 10 Prozent, die den
reichsten Teil der Bevölkerung ausmachen, beläuft sich
auf 3 Billionen Euro. Die haben 1 Billion Euro mehr, als
wir insgesamt an Staatsschulden haben. Diese Tatsache
muss doch einmal genannt werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich gebe zu: Ich war etwas naiv. Ich habe mich geirrt.
Ich dachte, in der Finanzkrise nimmt die Zahl der Ver-
mögensmillionäre ab; wie ich darauf gekommen bin,
weiß ich heute gar nicht mehr. Die Zahl hat aber zu-
genommen. Es sind jetzt 51 000 mehr. Wir haben jetzt
861 000 Vermögensmillionäre, die, wie gesagt, nicht mit
einem halben Cent haften.





Dr. Gregor Gysi


(A) (C)



(D)(B)

Herr Brüderle, ich bitte Sie um eines – Sie spucken
hier schließlich immer große Töne für die Arbeitnehme-
rinnen und Arbeitnehmer –: Erklären Sie den Arbeitneh-
merinnen und Arbeitnehmern, den Rentnerinnen und
Rentnern, den Arbeitslosen sowie den Kleinunternehme-
rinnen und Kleinunternehmern, weshalb die Löhne, die
Renten und Sozialleistungen sowie die Einnahmen seit
zehn Jahren real zurückgeschraubt wurden, während Sie
das Vermögen der immer zahlreicher werdenden Vermö-
gensmillionäre nicht mit einem halben Cent belasten. Er-
klären Sie es! Erklären Sie es der Bevölkerung!


(Beifall bei der LINKEN)


Nun komme ich zum letzten Punkt. Seitens der Regie-
rung – das gilt insbesondere für Sie, Frau Bundeskanzle-
rin – fehlt eine notwendige Garantieerklärung. Ich
möchte an Folgendes erinnern: Bei der ersten Finanzkrise
im Jahre 2008 sind Sie zusammen mit Ihrem damaligen
Bundesfinanzminister vor das Mikrofon getreten – das
war übrigens die Zeit, als Sie Herrn Steinbrück noch zu-
geklatscht haben; das haben Sie auch schon vergessen –
und haben eine Garantieerklärung für die Sparerinnen
und Sparer abgegeben. Sie haben gesagt: Die Spareinla-
gen werden im Rahmen der Krise nicht gekürzt. Warum
machen Sie heute nicht etwas Ähnliches? Die Frage wird
man doch stellen dürfen.


(Beifall bei der LINKEN)


Wenn der Rettungsschirm in Anspruch genommen
wird, haftet die deutsche Bevölkerung für 211 Milliarden
Euro. Die Deutsche Bank hat ausgerechnet, dass sich das
Ganze durch die Zinslasten, die noch hinzukommen, auf
bis zu 400 Milliarden Euro steigern kann. Sie organisie-
ren, dass dieser Fall eintritt.


(Norbert Barthle [CDU/CSU]: So ein Blödsinn!)


Es stellt sich mir die Frage, wer das bezahlen soll. Wir
könnten es durch eine Millionärsteuer, einen höheren
Spitzensteuersatz bei der Einkommensteuer, eine Fi-
nanztransaktionsteuer, eine höhere und gerechtere Kör-
perschaftsteuer und eine endlich nennenswerte Banken-
abgabe finanzieren. Oder müssen etwa wieder die
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die Rentnerinnen
und Rentner, die Arbeitslosen und die Kleinunternehme-
rinnen und Kleinunternehmer das Ganze bezahlen? Auf
diese Frage antwortet niemand aus der Regierung. Es
wird aber höchste Zeit, dass Sie darauf antworten.


(Beifall bei der LINKEN)


Frau Bundeskanzlerin, ich erwarte, dass Sie heute
eine Garantieerklärung abgeben und den Betroffenen sa-
gen, dass sie nicht dafür bezahlen müssen.


(Beifall bei der LINKEN)


Sie haben noch etwas Zeit, Frau Bundeskanzlerin. Wenn
Sie diese Garantieerklärung nicht vor der Ratifizierung
der entsprechenden Verträge abgeben, dann wissen alle
Bürgerinnen und Bürger, wen es treffen wird, wenn der
Haftungsfall eintritt.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Das ist die Wahrheit!)

Ich sage Ihnen: Es gibt wieder einen Riesenunter-
schied zwischen SPD und Grünen auf der einen und uns
auf der anderen Seite. Wir verlangen die Garantieerklä-
rung. Sie verlangen sie nicht. Warum eigentlich nicht?
Warum machen Sie das nicht wenigstens zur Bedingung
Ihrer Zustimmung?


(Beifall bei der LINKEN)


Nun gibt es auch Abgeordnete von FDP und Union,
deren Gewissen ein Nein verlangt. Aber sie stehen vor
der Frage, was sie höher bewerten: ihr Gewissen oder
die Angst vor Neuwahlen. Wir werden es nachher sehen.
Auf das Ja von SPD und Grünen können Sie sich verlas-
sen. Unser Nein ist sicher. Ich weiß schon jetzt, dass
Herr Trittin uns dann als europafeindlich bezeichnen
wird. Deshalb möchte ich ihm sagen, dass er auch in die-
sem Punkt schwer irrt.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich sage Ihnen, warum er sich irrt: Ich weiß aufgrund
der Geschichte meiner Familie sehr gut, dass die vergan-
genen Jahrhunderte von Kriegen zwischen den Ländern
in Europa, die heute Mitgliedsländer der Europäischen
Union sind, gezeichnet waren. Der große Fortschritt der
Europäischen Union ist, das verhindern zu können. Das
ist eine zentrale Frage, an der in Deutschland niemand
vorbeikommt. Das begrüßen wir in jeder Hinsicht.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir wissen auch, dass die EU für die Wirtschaft wichtig
ist. Auch das muss man uns nicht erklären. Aber wir ha-
ben bei der Einführung des Euro vor Fehlentwicklungen
gewarnt. Sie waren ja alle schlauer, auch die Grünen,
und haben gesagt: Nichts davon wird passieren. – Viel-
leicht schauen Sie sich das noch einmal an und nehmen
zur Kenntnis, dass unsere Warnungen gestimmt haben
und nicht die Glorifizierung der gesamten Vorgänge, die
Sie an den Tag gelegt haben.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich sage Ihnen auch: Wir wollen die EU. Wir wollen
auch den Euro. Wir machen ja Vorschläge zu seiner Ret-
tung, aber keine unsozialen. Das ist der Unterschied. Wir
wollen sogar mehr Europa. Jetzt nenne ich Ihnen den
Unterschied – der Unterschied ist ganz klar –: Sie alle
wollen ein Europa der Banken. Wir aber wollen ein Eu-
ropa der Menschen, der Bürgerinnen und Bürger, der Be-
völkerungen. Das ist der eigentliche Unterschied.


(Lebhafter Beifall bei der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1713001000

Das Wort erhält nun der Kollege Jürgen Trittin, Bünd-

nis 90/Die Grünen.


Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1713001100

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber

Gregor Gysi, wer für Europa ist, wer für internationale
Solidarität ist, der darf sich heute nicht einem Instrument
verweigern, das dazu dient, Mitgliedstaaten der Europäi-
schen Union vor der Spekulation an den Finanzmärkten
in Schutz zu nehmen.





Jürgen Trittin


(A) (C)



(D)(B)


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Ackermann! Nicht die Bürger!)


Das ist das Versagen von Solidarität, und das ist nicht
europäisch; das ist national und klein und borniert.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Klaus Ernst [DIE LINKE]: So ein Unfug!)


Genau darum geht es. Es geht nicht darum, ob wir die
nächste Tranche für Griechenland zahlen.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Doch!)


Es geht um etwas, das diese Bundesregierung um mehr
als ein Jahr verschleppt hat. Es geht darum, wie dieses
gemeinsame Europa künftig mit solchen Krisen besser
umgehen kann, und zwar bevor man Hunderttausende
Beamte entlassen muss, bevor man die Pensionen kürzen
muss. Um solche Instrumente geht es. Die sollen heute
hier verabschiedet werden. Es geht darum, liebe Freun-
dinnen und Freunde von der Linken, dass Spekulationen
gegen den Euro und Spekulationen gegen unser gemein-
sames Europa erschwert und verhindert werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zurufe von der LINKEN)


Diese Aufgabe wird nicht länger einer getriebenen
Regierung überlassen. Künftig muss die Bundesregie-
rung den Bundestag fragen. Wir müssen zustimmen.
Künftig gilt Schweigen nicht mehr als Zustimmung. Das
ist ein Gewinn an demokratischer Souveränität. Das hat
dieses Haus gegen diese Regierung durchgesetzt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD])


Diese Diskussion findet in einem bemerkenswerten
Umfeld statt. Noch nie in der Geschichte der Europäi-
schen Union war Deutschland so isoliert wie heute.


(Lachen des Abg. Hermann Gröhe [CDU/ CSU])


Sie haben über ein Jahr lang den Ankauf von Staatsanlei-
hen durch die Stabilisierungsfazilität blockiert, angestif-
tet von den Neoliberalen und den Europafeinden aus
Bayern in ihren eigenen Reihen. Sie haben sich öffent-
lich gegen einen europäischen Währungsfonds ausge-
sprochen.

Als Nächstes geht es um den Europäischen Stabili-
tätsmechanismus. Er stellt die Instrumente für eine Staats-
insolvenz zur Verfügung. Er ermöglicht einen Schulden-
schnitt mit privater Gläubigerbeteiligung. Und was pas-
siert? Während die Welt, die USA, China und der Rest
Europas, darauf drängen, dass das möglichst schnell in
Kraft gesetzt wird, höre ich heute Morgen von Herrn
Seehofer und zuvor von Herrn Brüderle: Nein, so schnell
geht das nicht; da müssen wir noch ein bisschen nach-
bessern und nachdenken. Was passiert mitten in der
Krise? Diese Koalition spielt erneut auf Zeit.

Liebe Frau Bundeskanzlerin, Sie haben versucht, die-
ses Auf-Zeit-Spielen bei Günther Jauch als Politik der
kleinen Schritte zu verharmlosen. Aber ich sage Ihnen:
Dieses Zaudern und Zögern, diese kleinen Schritte ha-
ben die deutschen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler
viel Geld gekostet, weil sie die Krise verlängert und da-
mit verteuert haben. Das ist das Ergebnis der kleinen
Schritte. Diese Krise ist zu groß für kleine Schritte und
offensichtlich zu groß für Sie.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich neige ja manchmal auch zu Lautstärke, lieber Kol-
lege Brüderle. Aber bei Ihrer Lautstärke habe ich mich
gefragt: Woran mag das wohl liegen? Ich will es Ihnen
sagen. Wann hat es so etwas schon einmal gegeben?
Nicht nur Gewerkschaften, sondern auch der Bundesver-
band der deutschen Industrie, die Industrie- und Han-
delskammern und die deutschen Arbeitgeber mussten öf-
fentlich einen Brief an die Abgeordneten Ihrer Koalition
schreiben, um sie aufzufordern, der Erweiterung des
Euro-Rettungsschirms zuzustimmen. Man muss sich das
auf der Zunge zergehen lassen. Ausgerechnet diejenigen,
die immer Schwarz-Gelb wollten, die Ihren Wahlkampf
mit Millionen gesponsert haben,


(Unruhe bei der FDP)


müssen nun für eine Kanzlermehrheit für den Rettungs-
schirm werben. Ich glaube, da haben Sie eine Erklärung
für Ihre Lautstärke. Sie wissen, dass Sie sich fürchterlich
verrannt haben, meine Damen und Herren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ja, es ist wahr. Es gibt keine gemeinsame Währung
ohne eine gemeinsame Wirtschaftspolitik. Es war ein
sehr harter Kampf, lieber Kollege Kauder, den das Euro-
päische Parlament und die Kommission zu führen hat-
ten, um diesen neuen Wachstums- und Stabilitätspakt auf
den Weg zu bringen. Interessant ist nur, wenn Sie denen
jetzt auch noch gratulieren. Gegen wen musste dieser
Kampf geführt werden? Er musste geführt werden gegen
die deutsche Bundesregierung; denn sie war es, die nicht
wollte, dass auch die Überschussländer in Ergänzung zu
den Regeln dieses Stabilitäts- und Wachstumspakts
überwacht werden. Da haben Sie eine krachende Nieder-
lage erlitten, und das ist gut so. Es ist gut so, dass Sie
sich nicht haben durchsetzen können, sondern das Euro-
päische Parlament.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es ist nämlich so, dass die Defizite der einen die
Überschüsse der anderen sind.


(Gunther Krichbaum [CDU/CSU]: Das ist Unsinn!)


– Lieber Kollege Krichbaum, Sie wissen das als Vorsit-
zender des Europaausschusses sehr gut. Es ist an der
Zeit, dass Deutschland seine gravierende Nachfrage-
schwäche endlich behebt. Es ist Zeit dafür. Ich sage Ih-
nen, es ist deswegen Zeit dafür, weil nur das dazu führen
wird, dass diese Krise, die keine Krise der Defizitländer
ist, sondern eine Krise des gesamten Euro-Raumes,
überwunden wird. Das ist der Grund, warum das Parla-





Jürgen Trittin


(A) (C)



(D)(B)

ment recht hatte und die deutsche Bundesregierung diese
Auseinandersetzung zu Recht verloren hat.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir brauchen eine europäische Wirtschaftsregierung.
Aber José Manuel Barroso hatte recht, als er gestern
sagte: Die Kommission ist die wirtschaftspolitische Re-
gierung der Union. – Ihr Versuch, Frau Merkel, die
Kommission in dieser Frage zu entmachten, ist schäd-
lich. Wir brauchen starke, demokratisch legitimierte eu-
ropäische Institutionen. Das ist der Weg zu mehr Souve-
ränität in einer globalisierten Welt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, wer der Krise begegnen
will, der muss sich auch einmal klarmachen, um was für
eine Krise es sich handelt. Diese Krise ist keine staatli-
che Verschuldungskrise. Diese Krise begann 2007, als
Michel Glos – ich will Ihnen nicht ersparen, zu sagen,
dass auch Herr Steinbrück zu dieser Zeit im Kabinett ge-
sessen hat – noch gesagt hat, das könnte nie zu uns hi-
nüberschwappen. Diese Krise hat uns 6 Prozent des
Bruttosozialprodukts gekostet. Sie hat in Deutschland al-
lein in einem Jahr 80 Milliarden Euro neue Staatsschul-
den verursacht. Sie hat ein Land wie Spanien, das bei der
Staatsverschuldung immer besser war als Deutschland,
mittlerweile an die Kante der Maastricht-Kriterien ge-
bracht.

Das Schlimme ist: Diese Krise ist nicht beendet. Bis
heute haben Sie es nicht geschafft, die Krise der Banken
von der Schuldenkrise der Staaten zu trennen. Es gibt
keine schlagkräftige europäische Bankenaufsicht. Wo ist
Ihre Initiative für ein europäisches Insolvenzrecht? Wa-
rum gibt es immer noch keine Schuldenbremse für Ban-
ken? Wir brauchen sie so dringend wie für Staaten!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es gibt Alternativen – nicht die von Herrn Gysi; viel-
leicht ist das für Sie kompatibler –: Schauen Sie einmal
in die Schweiz. Die Schweiz hat ihre beiden Großbanken
zu saftigen Erhöhungen des Eigenkapitals gezwungen.
Bei uns kann die Deutsche Bank 4 Milliarden Euro Ge-
winn machen, ohne dass sie gezwungen wird, ihr Eigen-
kapital zu erhöhen.


(Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister: Aber wir halten uns an das Gesetz!)


Sie sabotieren Maßnahmen gegen Spekulationen. An-
geblich sind Sie für eine Finanztransaktionsteuer. Ges-
tern hat die Kommission ihren Vorschlag vorgelegt. Die
erste Reaktion von Herrn Brüderle? Er ist gegen diese
Finanztransaktionsteuer. Liebe Frau Merkel, ich frage
Sie: Wer hat in Ihrer Koalition eigentlich die Richtlinien-
kompetenz,


(Zuruf von der SPD: Keiner!)


Sie oder der rheinland-pfälzische Dampfplauderer?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Meine Damen und Herren, Ihr Zickzackkurs hat die
Krise verlängert, verschlimmert und verteuert. Ohne
diese regierungsunfähige Koalition hätten wir schon
lange einen dauerhaften Krisenmechanismus, und ohne
sie wären wir bei der Errichtung einer europäischen
Wirtschaftsregierung weiter. Nun sollen wir sogar die
Urabstimmung bei der FDP abwarten. Stellen Sie sich
einmal vor, was passieren würde, wenn sich die Mitstrei-
ter von Herrn Schäffler durchsetzen würden und sich die
größte Wirtschaftsmacht in der Europäischen Union ge-
gen die Installation eines permanenten Rettungsmecha-
nismus stellen würde. Ich möchte mir das nicht vorstel-
len; denn das würde für Deutschland unendlich teuer
werden. Das muss verhindert werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Herr Präsident, ich komme zum Schluss.


(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist auch besser so!)


Die Welt schaut zurzeit auf dieses Land. Müsste sie sich
nur auf die Bundesregierung verlassen, wäre sie verlas-
sen. Dass sich unsere Nachbarn auf Deutschland verlas-
sen können, liegt auch daran, dass es in diesem Hause
eine verantwortungsbewusste und europaverlässliche
Opposition gibt.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Die bürgerlichen Tugenden, die Sie so gerne in An-
spruch nehmen – dazu gehört Verlässlichkeit –, haben
sich in Ihrem Koalitionszoff schon lange in schwarz-gel-
ben Rauch aufgelöst. Damit muss Schluss sein. Deutsch-
land hat eine Verantwortung. Wir müssen dieser Verant-
wortung in Europa bei dieser Krise gerecht werden. Das
geht nicht mit dem Dauerzoff in Ihren Reihen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1713001200

Das Wort erhält nun der Bundesminister der Finanzen

Dr. Wolfgang Schäuble.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finan-
zen:

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir führen diese Debatte in einer Zeit, in der die
Menschen in unserem Lande mit großen Sorgen auf das,
was wir hier zu behandeln und zu entscheiden haben,
schauen. Nicht nur die Menschen in unserem Lande,
sondern auch die Menschen in vielen anderen Ländern in
Europa und auf anderen Kontinenten dieser Welt ma-
chen sich Sorgen, dass sich die unruhige Lage auf den
Finanzmärkten – anders als 2008, aber in einer ver-
gleichbaren Weise – zu einer großen Krise ausweiten
könnte. Das hat auch die Tagung von Weltbank und In-
ternationalem Währungsfonds in der vergangenen Wo-
che sehr geprägt. Wir müssen uns dieser Verantwortung
bewusst sein.





Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble


(A) (C)



(D)(B)

Wir müssen uns im Übrigen auch bewusst sein – ich
glaube, das gilt auch für die Art und Weise, wie wir diese
Debatte führen, nämlich mit Respekt vor den Argumen-
ten des einen und den Bedenken des anderen; denn kei-
nem fällt diese Entscheidung leicht –, dass sich die große
Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in diesem Lande
fragt: Ist die Politik in der Lage, diese Entwicklungen zu
steuern? Sind die Entscheidungen, die wir treffen, zu
verantworten? Haben wir die Chance, das, was wir in
Jahrzehnten erreicht haben, für die Zukunft zu sichern?

Es ist wichtig, dass man klarmacht: Wir haben im ver-
gangenen Jahr, in der Nacht vom 9. auf den 10. Mai
2010, beschlossen, übergangsweise eine Finanzstabili-
sierungsfazilität in Europa zu schaffen, die ermöglichen
soll, Ansteckungsgefahren zu bekämpfen, bis wir, um
den Zeitraum zu überbrücken, eine dauerhafte Regelung
in Europa zustande bringen. Das braucht in Europa
manchmal mehr Zeit, als wir für wünschenswert halten;
aber es ist so.

Diese ist auf ein Volumen von 440 Milliarden Euro
festgelegt worden. Diese 440 Milliarden Euro werden
durch die Entscheidungen, die wir jetzt in nationale Ge-
setzgebung umsetzen, bereitgestellt. Die Mechanik die-
ser Finanzstabilisierungsfazilität ist so ausgestaltet, dass
wir unter der Bedingung der Bewertung mit der höchsten
Bonitätsstufe nur dann 440 Milliarden Euro – dieser Be-
trag ist die Obergrenze – auf den Anleihemärkten auf-
nehmen können, wenn die Garantien der Länder, die
über diese Bonität verfügen, entsprechend aufgestockt
werden. Deswegen beträgt der deutsche Garantierahmen
211 Milliarden Euro; er wird nicht erhöht und steht nicht
zur Debatte. Das ist die Entscheidung, die getroffen
wurde.

Im Übrigen treffen wir heute auch die Entscheidung
– der Vorsitzende der Unionsfraktion, Volker Kauder, hat
das ausgeführt –, dass in Zukunft alle Entscheidungen in
diesem Zusammenhang – niemand weiß, was die Zu-
kunft bringt; das ist immer so gewesen – der Zustim-
mung des Deutschen Bundestags bedürfen. Insofern
sollten wir uns nicht gegenseitig fragen: Was kommt als
Nächstes? Wer hat dies oder jenes vor? Entweder führt
dies zu Verunsicherung oder es ist unseriös. In Wahrheit
ist es auch unanständig.

Herr Kollege Schneider, da gestern Vormittag unter
den Sprechern im Haushaltsausschuss verabredet wor-
den ist, dass die persönliche Anwesenheit des Bundes-
finanzministers im Haushaltsausschuss nicht erwartet
wird, sollte man abends nach der Sitzung nicht das Ge-
genteil sagen. Das ist eine Form der Diffamierung, die
ich persönlich für nicht in Ordnung halte.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Das ist nicht verabredet worden! Sie hätten sich dem stellen müssen!)


Es wird auch nichts vergeheimnist und verschwiegen.


(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Ach ja!)


Natürlich darf man aber nicht zu jedem Zeitpunkt jede
Spekulation auf dem Markt austragen.
Herr Kollege Oppermann, von der Europäischen Fi-
nanzstabilisierungsfazilität, die ein Gesamtvolumen von
440 Milliarden Euro hat – auch dazu braucht es keine
Aufforderung; die entsprechenden Zahlen sind oft genug
im Deutschen Bundestag genannt worden –, sind bisher
durch das Programm für Portugal insgesamt 26 Milliar-
den Euro und durch das Programm für Irland insgesamt
17,7 Milliarden Euro zulasten der EFSF belegt worden.
Davon wurden jeweils die bisherigen Raten ausbezahlt,
nicht mehr und nicht weniger. Das ist im Haushaltsaus-
schuss zu jeder Zeit dargelegt worden. Hier wird also
nichts verschwiegen. Ich habe Ihre Aufforderung aber
gerne zum Anlass genommen, dies noch einmal klarzu-
stellen.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1713001300

Herr Minister, darf der Kollege Schick Ihnen eine

Zwischenfrage stellen bzw. eine Zwischenbemerkung
machen?


(Zurufe von der CDU/CSU: Oh nein! – Muss das sein? – Gegenruf der Abg. Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum denn nicht?)


Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finan-
zen:

Bitte, ja.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Minister, ich habe gestern in der Fragestunde die
Frage gestellt, ob die Bundesregierung eine Nutzung
der in Washington diskutierten Instrumente, die ein
Leveraging bezüglich der Garantien im Rahmen der
EFSF vorsehen, ausschließt. Daraufhin hat der Staatsmi-
nister bei der Bundeskanzlerin, Herr von Klaeden, ge-
sagt: Ja. Dann hat Herr Kampeter weitere Ausführungen
gemacht, mit denen er meine Frage aber nicht beantwor-
tet hat.

Ich möchte gerne von Ihnen wissen, was Sie mit der
Formulierung der effizienten Nutzung der EFSF, die Sie
in Washington getroffen haben, gemeint haben – alle
Fachleute verstehen darunter die Hebelung der EFSF;
das heißt, dass mit den gewährten Garantien ein wesent-
lich größerer Umfang an Krediten ausgereicht werden
kann – und ob diese Hebelung vor dem Hintergrund der
Entscheidung, die der Bundestag heute zu treffen hat,
möglich ist oder ob es dazu einer neuen Parlamentsent-
scheidung bedarf. Wenn es dazu nämlich keiner neuen
Parlamentsentscheidung bedarf, dann müssen die Abge-
ordneten dieses Hauses wissen – das gilt auch mit Blick
auf die Öffentlichkeit –, dass sie mit ihrer heutigen Ent-
scheidung auch eine Hebelung ermöglichen. Mein
Kenntnisstand dazu ist, dass darüber bereits verhandelt
wird. Ich finde, dem Bundestag muss bekannt sein, ob
dem so ist oder nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)







(A) (C)



(D)(B)

Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finan-
zen:

Herr Kollege, die Antwort ist völlig eindeutig: Die
Guidelines, die für die erweiterte EFSF angewendet wer-
den, sind noch nicht abschließend verhandelt.


(Zuruf von der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Aha!)


– Warten Sie vor dem „Aha“ doch meinen zweiten Satz
ab. – Der Bundestag hat die Absicht, zu beschließen
– genau das steht in dem Gesetzentwurf, den wir hier in
zweiter und dritter Lesung behandeln –, dass diese
Guidelines der Zustimmung des Deutschen Bundestags
bedürfen. Danach werden wir das in diesem Rahmen be-
handeln. Deswegen ist jede Verdächtigung und jede
Verunsicherung unanständig und unangemessen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Im Übrigen bleibt es dabei: Wir beschließen einen
deutschen Garantierahmen von 211 Milliarden Euro. Der
ist hoch genug.


(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Was ist mit den Hebeln?)


– Ich habe das doch gerade beantwortet. Durch Wieder-
holung der Frage wird es nicht besser. Herr Kollege
Schneider, Ihre Methoden habe ich gerade an einem kon-
kreten Beispiel dargelegt.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Können Sie es ausschließen?)


Die Sache ist zu ernst,


(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Ja, eben!)


als dass Sie die Bevölkerung, die verunsichert genug ist,
auf diese Weise weiter durch falsche Behauptungen und
Insinuierungen verunsichern sollten, wenn Sie mit uns
gemeinsam Verantwortung dafür tragen wollen, dass wir
Europas Sicherheit und unsere Währung erhalten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ich will eine zweite Bemerkung machen. Herr Kol-
lege Steinbrück, man muss sich entscheiden. Wir sind
übereinstimmend der Auffassung, dass die Europäische
Zentralbank auch in Extremsituationen – Sie wissen,
was alles Extremsituationen sein können; Sie haben das
im Amt des Bundesfinanzministers erlitten – nicht die
Aufgabe hat oder nicht haben sollte, am Sekundärmarkt
zu intervenieren. Gerade deswegen ist es richtig, dass
wir der EFSF diese Möglichkeit unter engen Vorausset-
zungen einräumen. Es bedarf in jedem Fall eines Memo-
randum of Understanding, und auf jeden Fall ist durch
das, was wir heute beschließen, die Beteiligung des
Deutschen Bundestages an diesen Entscheidungen si-
chergestellt. Das eine oder das andere müssen wir ma-
chen. In Ihrer Rede haben Sie beides kritisiert. Das war
eines zu viel. Darauf wollte ich aufmerksam machen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt noch einmal in
großer Klarheit: Wir sind in einer außergewöhnlich
schwierigen Lage, weil die Nervosität an den Finanz-
märkten hoch ist und weil die Gefahr besteht, dass sich
die Beunruhigung der Finanzmärkte auch auf die Real-
wirtschaft auswirken kann.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sagen Sie einmal der FDP!)


Das haben wir erlebt. Sie haben das vor drei Jahren nicht
für möglich gehalten. Es ist dann so gekommen; man
kennt die Zukunft nicht genau im Vorhinein. Deswegen
ist es klug, dass wir unsere Verantwortung mit großem
Ernst wahrnehmen und dass über jeden Schritt offen dis-
kutiert und auch entschieden wird.

Ich will daher die nächsten Schritte beschreiben: Wir
gehen jetzt hinsichtlich des Kreditprogramms für Grie-
chenland, das im April des vergangenen Jahres beschlos-
sen wurde, weiter vor. Internationaler Währungsfonds,
Europäische Zentralbank und Europäische Kommis-
sion, die zu prüfen haben, ob die Voraussetzungen für
die Auszahlung der nächsten Tranche gegeben sind, wer-
den ihre Mission heute wieder aufnehmen. Nur wenn
diese Voraussetzungen gegeben sind, wird die nächste
Tranche ausgezahlt werden. Darüber wird voraussicht-
lich in der Sitzung der Euro-Gruppe am 13. Oktober
2011 eine Entscheidung zu treffen sein. Die Entschei-
dung ist offen, weil wir den Bericht noch nicht haben.
Erst wenn wir den Bericht haben, werden und können
wir entscheiden.

Dann wird sich zeigen – darüber haben wir im Juni
und Juli schon diskutiert –, welche Voraussetzungen er-
füllt werden müssen, damit Griechenland auf längere
Sicht tragfähig wird. Der griechische Ministerpräsident
hat in diesen Tagen auch auf Initiative der deutschen
Bundesregierung – Herr Kollege Rösler, wir beide haben
uns da sehr engagiert – mit vielen verantwortlichen Ver-
tretern der deutschen Wirtschaft darüber geredet, ob die
deutsche Wirtschaft bereit ist, sich stärker am Aufbau ei-
ner wettbewerbsfähigen Wirtschaft in Europa zu beteili-
gen.

Die Europäische Kommission soll die Fonds noch ef-
fizienter und noch schneller nutzen können. Die Bundes-
regierung drängt darauf; die Staats- und Regierungschefs
haben das verlangt. Aber jeder weiß: Die Entscheidungs-
prozesse in Brüssel sind nicht so schnell und einfach,
wie wir uns das gelegentlich wünschen würden.

Um auch dieses zu sagen: Ich bin froh, dass die Euro-
päische Kommission endlich – ich habe anderthalb Jahre
darauf gedrängt – eine Initiative für eine Finanztransak-
tionsteuer ergriffen hat; denn sie alleine hat das Recht
für solche Initiativen. In den letzten anderthalb Jahren
haben wir hier wieder und wieder darüber geredet. Ges-
tern hat sie endlich den Vorschlag gemacht. Sie können
sich darauf verlassen, dass die Bundesregierung alles da-
ransetzen wird, dass diese Initiative so schnell wie mög-
lich zu einem Erfolg gebracht wird. Ich glaube, dass das
ein weiterer guter Schritt ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf des Abg. Sigmar Gabriel [SPD])


– Wir sind uns doch in diesen Fragen einig. Das ist eine
gemeinsame Position der Bundesregierung. Die Staats-





Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble


(A) (C)



(D)(B)

und Regierungschefs der Euro-Zone haben das am
21. Juli wieder gefordert.

Übrigens, das, was jetzt in den fast sechs Gesetzge-
bungsvorschlägen zur Verstärkung des Stabilitäts- und
Wachstumspaktes im Parlament akzeptiert worden ist,
geht auf die Arbeiten der Taskforce unter dem Ratspräsi-
denten Van Rompuy zurück, die auf Initiative der Bun-
deskanzlerin zur Stärkung des Stabilitäts- und Wachs-
tumspaktes im vergangenen Jahr eingeleitet wurden. Das
wird jetzt umgesetzt, und ich bin froh, dass es endlich er-
reicht worden ist.

Herr Kollege Trittin, mit allem Respekt: Überschüsse
und Defizite sind etwas Unterschiedliches. Im Gesetz-
gebungspaket ist genau festgelegt, dass das nicht das
Gleiche ist. Die Euro-Zone als Ganzes hat ein Gleichge-
wicht nur deswegen, weil Deutschland einen Leistungs-
bilanzüberschuss hat. Sonst wäre der Euro eine Defizit-
währung. Gott sei Dank hat Deutschland einen
Leistungsbilanzüberschuss, mit dem wir Europa insge-
samt stabilisieren können. Deswegen sollten Sie das
nicht kritisieren und nicht sagen, die Überschüsse seien
schuld an den Problemen. Nein, die Schulden und die
Defizite sind die Ursache der Probleme, und die müssen
wir gemeinsam bekämpfen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich will auch sagen: Wir werden jede Möglichkeit
nutzen. Was wir national noch an Gesetzgebungsspiel-
raum hatten, haben wir ausgeschöpft. Wir haben in
Deutschland im Gegensatz zu anderen ein Restrukturie-
rungsgesetz für die Banken verabschiedet. Wir haben im
Gegensatz zu anderen im Alleingang – viel kritisiert –
bereits im vergangenen Jahr ungedeckte Leerverkäufe
national verboten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Mehr Spielraum hat der nationale Gesetzgeber nicht.
Aber wir werden darauf drängen – ich hoffe, alle im Eu-
ropäischen Parlament, auch Ihre Kollegen und Freunde –,
dass wir mehr und schneller regulieren. Ich bin in der Tat
der Meinung, dass die Frage, ob die Politik für die
Märkte schnell genug ist, so beantwortet werden muss,
dass wir als Politik die Märkte so regeln, dass klar ist,
dass die demokratisch legitimierte Politik die Regeln
macht, Grenzen setzt und dies auch durchsetzt.

Es darf nicht sein, dass wir wegen des Arguments der
Standortvorteile am Ende nicht in der Lage sind, zu Ent-
scheidungen zu kommen. Nein, wir wollen besser regu-
lierte Märkte. Wir wollen die strukturierten Produkte
transparenter und besser regulieren. Bei jedem Schritt in
diese Richtung werden wir im europäischen und welt-
weiten Rahmen darauf drängen, so schnell wie möglich
voranzukommen. Es muss klar sein: Gerade bei der
Frage der demokratischen Legitimation geht es einer-
seits darum, dass die Märkte der Welt nicht sicher sind,
ob die westlichen Demokratien noch schnell genug die
notwendigen Entscheidungen treffen können –


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1713001400

Herr Minister, lassen Sie noch eine weitere Frage zu?
Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finan-
zen:

– Herr Präsident, ich würde gerne den Satz zu Ende
führen –, und andererseits darum, dass unsere Bürgerin-
nen und Bürger hinsichtlich der Frage verzweifeln, ob
die Märkte die Oberhand haben oder ob die Politik ent-
scheidet. Wenn die freiheitlich und rechtsstaatlich ver-
fasste Demokratie stabil bleiben will, muss sie klarma-
chen, dass sie die Regeln setzt und diese auch durchsetzt,
und dazu ist die Bundesregierung entschlossen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Herr Präsident.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1713001500

Es gab noch den Wunsch nach einer Zwischenbemer-

kung durch den Kollegen Schlecht, die ich, auch wenn
die gemeldete Redezeit eigentlich überschritten ist, noch
gerne zulassen würde, weil sie vorher angemeldet war,
wenn Sie damit einverstanden sind.

Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finan-
zen:

Bitte, Herr Präsident.


Michael Schlecht (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1713001600

Herr Minister, Sie haben eben die Außenhandelsüber-

schüsse Deutschlands angesprochen und behauptet, sie
seien nicht das eigentliche Problem, sondern das eigent-
liche Problem sei die Verschuldung. Sie müssten schon
noch einmal erläutern, weshalb jenseits der deutschen
Grenzen – rauf und runter – insbesondere die deutschen
Außenhandelsüberschüsse und die Schwäche des deut-
schen Binnenmarktes im Grunde genommen als eine der
zentralen Ursachen dafür benannt wird, dass die Ver-
schuldung der anderen Länder spiegelbildlich zu dieser
Entwicklung zustande gekommen ist. Man muss konsta-
tieren: Wir haben in Deutschland über die letzten zehn
Jahre einen aufsummierten Außenhandelsüberschuss
von 1,2 Billionen Euro. Dieser wurde nur möglich, weil
sich die anderen Länder verschulden mussten.


(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Hanebüchene Logik!)


Die Frage ist, weshalb Sie diesen Zusammenhang ein-
fach negieren und nicht sehen, dass wir in Deutschland
etwas dafür tun müssen, dass dieser Außenhandelsüber-
schuss abgebaut wird, insbesondere durch eine Stärkung
der Binnennachfrage.


(Beifall bei der LINKEN)


Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finan-
zen:

Schauen Sie, Herr Kollege, das Problem liegt darin:
Wenn man wie die Linke davon überzeugt ist, dass eine
Wirtschaft möglichst staatlich durchreguliert und zentra-
lisiert verwaltet werden muss


(Zurufe von der LINKEN)


– lassen Sie mich doch die Frage beantworten –, und
man nicht an die Überlegenheit einer Ordnung, die auf
Markt und Wettbewerb gründet, glaubt, dann hält man





Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble


(A) (C)



(D)(B)

natürlich den Wettbewerb für etwas Negatives. Wenn
man aber an den Wettbewerb glaubt, dann heißt das, dass
derjenige, der erfolgreicher ist, von den anderen natür-
lich etwas beneidet wird. Es ist leicht, zu sagen: Wärt ihr
nicht so erfolgreich, würde unsere Schwäche nicht so
auffallen. – Aber Europa hängt an der Stärke der deut-
schen Wirtschaft.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Deswegen, liebe Freunde: Die Solidarität der Deut-
schen ist klar. Sie muss sich auch darin zeigen, dass wir
weiterhin eine Finanz- und Wirtschaftspolitik betreiben,
die dafür sorgt, dass Deutschland ein Anker der Stabilität
in Europa und ein Motor des europäischen Wachstums
bleibt. Die Bundesregierung wird auf diesem erfolgrei-
chen Weg weiter vorangehen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1713001700

Das Wort erhält nun der Kollege Carsten Schneider

für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Carsten Schneider (SPD):
Rede ID: ID1713001800

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eu-

ropa ist in einer kritischen Situation. Aber noch viel kri-
tischer als die Situation an den Finanzmärkten in Europa
ist die Situation dieser Koalition; denn nicht anders kann
ich die Büttenrede interpretieren, die Sie, Herr Brüderle,
heute an die Adresse Ihrer Koalition gerichtet gehalten
haben.


(Beifall bei der SPD)


Sie war weder angemessen noch in der Sache irgendwie
berechtigt.

Herr Minister Schäuble, Sie haben eben gesagt, wir
hätten darauf verzichtet, Sie gestern im Haushaltsaus-
schuss zu hören. Das Gegenteil ist richtig: Ich habe be-
antragt, dass Sie uns im Haushaltsausschuss, bevor wir
hier im Bundestag über diesen Gesetzentwurf abstim-
men – das auch nach Ihren Aussagen das wichtigste Ge-
setz dieser Legislaturperiode ist –, Klarheit darüber ver-
schaffen, ob weitere Maßnahmen geplant sind oder
nicht, ob wir in Richtung einer weiteren Verschuldung
gehen oder nicht. Sie sind diese Antwort, auch im Rah-
men der Frage des Kollegen Schick, schuldig geblieben.
Ich finde das nicht hinnehmbar!

Ich habe den Eindruck, dass wir, insbesondere vor
dem Hintergrund der wackligen Koalitionsmehrheit, hin-
ter die Fichte geführt werden sollen. Worum geht es in
diesem Paket? Es wird nicht nur um die 750 Milliarden
Euro gehen. Es wird auch um die Frage gehen, ob das
Risiko eventuell noch höher ist. Das wird mit dem Be-
griff „Hebel“ beschrieben.

Ich will zitieren, was in der heutigen Ausgabe des
Handelsblatts steht:

Berlin habe Barroso „dringend gebeten“, das heikle
Thema in seiner Grundsatzrede zur Lage der EU am
Mittwoch im Straßburger Europaparlament nicht zu
erwähnen, sagte ein hochrangiger Vertreter der
Euro-Zone. … Dabei ist der Hebel längst beschlos-
sene Sache. Frankreichs Premier François Fillon
hat ihn vorgestern im französischen Parlament be-
reits angekündigt: „Wir werden Vorschläge ma-
chen, um den Kampf gegen die spekulativen An-
griffe auszuweiten.“ Dabei sprach er ausdrücklich
von einer „Hebelung der Mittel“ des Fonds.

Herr Minister, ich finde, Sie wären Ihrer Verantwor-
tung als Bundesfinanzminister vor dem deutschen Volk,
aber auch vor den Kollegen, die hier im Bundestag ab-
stimmen, dann gerecht geworden, wenn Sie Auskunft
darüber gegeben hätten, was Sie beim Internationalen
Währungsfonds beraten und bereits zugesagt haben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es ist nicht so, dass der Deutsche Bundestag darüber
entscheiden wird, ob es diesen Hebel geben wird. Es ist
so, dass der Haushaltsausschuss darüber entscheiden
wird. Jeder, der heute diesem Gesetzentwurf seine
Stimme gibt, muss wissen, dass er diese Entscheidung an
die Mitglieder des Haushaltsausschusses delegiert. Das
muss man wissen, bevor man abstimmt! Sie wollen das
aber nicht transparent machen, weil Sie Angst um die ei-
gene Mehrheit in Ihrer Koalition haben. Das ist der
Grund.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Diese Angst und Unsicherheit ziehen sich ebenso wie Ihr
permanenter Zickzackkurs, wenn überhaupt von einem
Kurs die Rede sein kann, durch die gesamte Griechen-
land-Krise.

Ich will kurz daran erinnern, wie das Ganze abgelau-
fen ist. Im Februar 2010 haben Sie gesagt: Griechenland
ist kein Problem. Es wird kein deutsches Geld geben. –
Im Mai haben wir ein Hilfspaket in Höhe von 22 Milliar-
den Euro beschlossen. Der Kollege Fricke sagte hier
noch: 22 Milliarden Euro und keinen Cent mehr. Dem
hat keiner von Ihnen widersprochen. Am selben Tag, an
einem Freitag, ist die Bundeskanzlerin nach Brüssel ge-
fahren und hat dort ein Paket über 123 Milliarden Euro
vereinbart.

Meine Damen und Herren, Sie sind in Europa Getrie-
bene der Märkte. Sie führen nicht. Sie haben Deutsch-
land isoliert, und Sie haben mit Ihrem fehlerhaften
Krisenmanagement die Krise verschärft, statt zu deeska-
lieren.


(Beifall bei der SPD)


Dass Sie Angst um Ihre eigene Mehrheit haben, kann
ich nachvollziehen. Denn bei allem, was Sie bisher be-
schlossen haben, ist das Gegenteil eingetreten; denn Sie
sind von den Märkten und der Notwendigkeit, die ande-
ren europäischen Länder zu überzeugen, überholt wor-
den.

Ich habe einen Entschließungsantrag herausgesucht,
den die Fraktionen der CDU/CSU und der FDP am





Carsten Schneider (Erfurt)



(A) (C)



(D)(B)

26. Oktober 2010 zu dem Thema vorgelegt haben. Darin
geht es um den Stabilitätspakt, der gestern im Europäi-
schen Parlament beschlossen worden ist. Unter Punkt 3
des Antrags steht – ich zitiere –:

Diese Sanktionen müssen zudem früher als bisher
und weitgehend automatisch zum Einsatz kommen.

Genau diesen Automatismus hat die Bundeskanzlerin ei-
nen Tag später in Deauville geopfert. Der Stabilitätspakt
war nicht Bestandteil ihrer Verabredung mit Herrn
Sarkozy. Erst das Europäische Parlament hat ihn wieder
eingebracht.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Unter Punkt 5 des Antrags steht:

Dies beinhaltet zur Vermeidung von Fehlanreizen
den Verzicht auf die Einrichtung eines dauerhaften
Fonds für überschuldete Staaten, in dem andere
Staaten der Währungsunion oder die EU Kredite
oder Garantien bereitstellen müssen. Auch eine
Entfristung des gegenwärtigen Rettungspakets wird
abgelehnt …

Heute beschließen wir wieder das glatte Gegenteil von
all dem, was Sie uns vor einem Jahr vorgetragen haben.


(Beifall bei der SPD)


Das, was wir heute beschließen wollen, ist zwar rich-
tig, es hätte aber ein Jahr früher kommen müssen. Dann
hätte es erst gar keine Krisensituation in Italien und Spa-
nien gegeben, die dazu führt, dass wir heute mit mehr
Geld gegen die Finanzmärkte vorgehen müssen. Diesen
Punkt muss man Ihnen vorhalten; denn Sie sind nicht be-
reit, Führung zu übernehmen und der deutschen Öffent-
lichkeit zu sagen, was für Vorteile wir von Europa ha-
ben. Sie setzen auf Populismus, sind damit aber letztlich
zu Recht gescheitert.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie machen uns, die wir die Verantwortung mittragen,
Vorwürfe. Wir sind an dieser Stelle von Ihrer Seite be-
schimpft worden. Ich habe in Washington viele Gesprä-
che mit Vertretern anderer Länder geführt. Ihre erste
Frage war immer: Wird denn die Opposition mit dafür
stimmen? Das ist uns wichtig. Denn auch wir wissen,
dass diese Regierung nicht mehr lange hält, und wir
brauchen Sicherheit in Europa.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


All das, was dazu geführt hat, dass wir in Europa so
stark sind, dass wir wirtschaftlich prosperieren und dass
die Arbeitslosigkeit sinkt, haben Sie abgelehnt. Sie ha-
ben die Konjunkturprogramme, das Kurzarbeitergeld
und die Investitionsprogramme abgelehnt. Das alles aber
macht uns heute stark. Nichts davon ist Ihr Thema gewe-
sen. Sie haben das in der Oppositionszeit abgelehnt und
keine Alternativen gehabt.


(Beifall bei der SPD)

Sie sollten still sein und dankbar dafür sein, dass Sie
trotz dieser Regierung eine breite Mehrheit im Bundes-
tag bekommen werden.

Zum Thema Schuldenbremse: Sie tun jetzt so, als wä-
ren Sie der intellektuelle Urheber gewesen. Wenn ich
mich richtig entsinne, geht der Entwurf der Schulden-
bremse – die hoffentlich auch in anderen nationalen Par-
lamenten eingeführt wird und dazu führt, dass Europa
auch eine Stabilitätsunion wird und letzten Endes stärker
daraus hervorgeht als bisher, dass die Länder zusammen-
rücken, die Finanzpolitiken vereinheitlicht werden und
das bisherige Steuerdumping unterbunden wird – auf
Peer Steinbrück zurück. Wie haben Sie sich damals in
der Abstimmung im Deutschen Bundestag verhalten,
Herr Brüderle? Sie haben sich enthalten. Sehr mutig!


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zurufe von SPD: Oh! – Hört! Hört!)


Wir Sozialdemokraten werden heute dem Gesetzent-
wurf zustimmen. Wir sind der Auffassung, dass wir ein
wehrhaftes Europa brauchen, das zusammenhält, und
zwar unter der klaren Kondition, die Haushalte zu sanie-
ren und die Wettbewerbsfähigkeit herzustellen, aber
auch den sozialen Zusammenhalt in Europa nicht zu ge-
fährden. Das bedeutet, auch die Finanzmärkte an den
Kosten der Krise zu beteiligen. Das haben Sie in den
letzten Jahren verhindert.


(Beifall bei der SPD)


Das bedeutet, dass die Finanzmärkte, diejenigen, die
Spekulationsgewinne erzielen und noch heute enorme
Gewinne mit griechischen Papieren machen, besteuert
werden und dass die daraus resultierenden Steuereinnah-
men genutzt werden, um die Investitionstätigkeit in
Griechenland und anderen südeuropäischen Ländern vo-
ranzubringen. Reines Sparen ist zu wenig. Wir brauchen
einen Ansatz, der die Investitionstätigkeit wieder anregt.


(Beifall bei der SPD)


All dies bleiben Sie leider schuldig. Meine Hoffnung
ist, dass die anderen europäischen Länder Sie so wie bis-
her auf den rechten Weg bringen. Eine weitere Hoff-
nung, die ich habe, ist: Jede Abstimmung in diesem Par-
lament wird zu einem Lackmustest für diese Regierung.
Über kurz oder lang werden Sie daran zerbrechen. Heute
werden Sie vielleicht noch einmal die Mehrheit bekom-
men. Aber das wird nicht auf Dauer so sein. Je früher
Ihre Regierungszeit endet, desto besser für Europa und
für Deutschland!


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Norbert Barthle [CDU/CSU]: Wunschbilder der Opposition! Das kann man nicht verstehen!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1713001900

Das Wort erhält nun der Bundesminister für Wirt-

schaft, Philipp Rösler.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)







(A) (C)



(D)(B)

Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Wirtschaft
und Technologie:

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Wir haben in Deutschland nicht nur
großartige Wachstumszahlen.


(Zurufe von der SPD: Trotz Ihrer Partei! – Aber nicht bei der FDP!)


Gerade heute hat Frau von der Leyen auch großartige
Zahlen zu verkünden, was die Beschäftigung anbelangt.
Im September ist die Zahl der Arbeitslosen in Deutsch-
land unter 2,8 Millionen gesunken.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dass wir Wachstum, Wohlstand und Beschäftigung ha-
ben, ist unter anderem ein Verdienst eines starken, ge-
meinsamen Europas und eines starken, stabilen Euro.
Deswegen ist es richtig, dass wir alles dafür tun, beide
zu stärken. Wir brauchen ein starkes gemeinsames Eu-
ropa, aber auch eine gemeinsame, starke Währung, eben
einen stabilen Euro.

Das ist das Problem: Die Menschen haben längst das
Vertrauen verloren.


(Zurufe von der SPD: Ja! – In euch! – Klaus Ernst [DIE LINKE]: In Ihre Partei! – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Wir haben leider eine geordnete Insolvenz der FDP! – Weitere Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


– Ich komme gleich auf Sie zu sprechen, aber das
Schreien nutzt Ihnen nichts. – Es schadet der Politik ins-
gesamt, dass die Menschen das Vertrauen verloren ha-
ben. Sie glauben nicht, dass ihnen Europa guttut und
dass Europa richtig ist. Deswegen müssen wir alles dafür
tun, das Vertrauen zurückzugewinnen. Jeder, der pro-
europäisch denkt und fühlt, muss alles dafür tun, die Ak-
zeptanz Europas zu erhöhen.


(Zuruf von der SPD: Wo haben Sie Ihre Wahlplakate in Berlin gelassen?)


Das heißt, man muss alles, was man macht, vernünftig
erklären. Man muss die Frage beantworten, in welche
Richtung sich Europa in den nächsten Jahren entwickeln
soll. Wir beantworten diese Frage sehr klar. Wir wollen
nicht wie Sie ein Schuldeneuropa, sondern endlich eine
echte Stabilitätsunion in Europa.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Sie haben die Maastricht-Kriterien aufgeweicht. Sie
wollen Euro-Bonds für alle. Obwohl Sie hier anders re-
den, haben Rot und Grün gestern im Europäischen Parla-
ment gegen eine Verschärfung der Stabilitätskriterien
gestimmt. Das hat nichts mit proeuropäischer Geistes-
haltung zu tun und erst recht nichts mit wirtschaftspoliti-
scher Kompetenz.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1713002000

Herr Minister, darf der Kollege Heil Ihnen eine Zwi-

schenfrage stellen?

Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Wirtschaft
und Technologie:

Nein.

Es ist richtig, dass wir heute gemeinsam über die
EFSF und das Gesetz zum Stabilisierungsmechanismus
diskutieren.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie, wir diskutieren heute doch nicht mehr darüber! Was ist das denn schon wieder? – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Wir stimmen heute ab!)


Denn hier werden klare Kriterien vorgegeben. Rettungs-
pakte sind immer nur das letzte Mittel.


(Zuruf von der SPD: Wir wollen Guido wiederhaben!)


Sie können und dürfen niemals der Ersatz für verfehlte
Haushaltspolitik und verfehlte Wirtschaftspolitik in an-
deren Mitgliedstaaten der Euro-Zone sein. Künftig wird
es Hilfen nur unter klar definierten Bedingungen geben.
Ob es solche Hilfen gibt, wird dann positiv beschieden,
wenn Einstimmigkeit in den entsprechenden Gremien
herrscht. Das ist ein eindeutiger Vorteil im Vergleich zu
anderen Gremien, in denen Deutschland wie in der EZB
überstimmt werden kann und Entscheidungen manchmal
vielleicht gegen die ordnungspolitische Vernunft und
den ordnungspolitischen Sachverstand getroffen werden.
Das wird jetzt durch die zu beschließenden Maßnahmen
eindeutig besser werden.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Haftungsobergrenze ist selbstverständlich festge-
legt. Natürlich kann es hier nur mithilfe des Deutschen
Bundestages zu Änderungen kommen. Das heißt, das,
was immer gefordert wurde und was vollkommen richtig
ist, nämlich dass der Haushaltsgesetzgeber immer das
letzte Wort hat, wird hiermit verwirklicht. Damit bleibt
es dabei: Das Königsrecht, das Haushaltsrecht, bleibt
beim Parlament. Das ist eine richtige und kluge Ent-
scheidung und eine vernünftige Ausgestaltung der im
Änderungsgesetz enthaltenen Maßnahmen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich kann deswegen nur an Sie appellieren, nicht aus
parteitaktischen Erwägungen zuzustimmen, sondern
weil Sie wissen, dass Sie damit den richtigen Weg in
Richtung einer Stabilitätsunion gehen, die klare Regeln
vorgibt. So muss die Schuldenbremse in allen Mitglied-
staaten verankert werden, es muss ein Wettbewerbs-
fähigkeitstest, für den wir heute im Anschluss im Wett-
bewerbsfähigkeitsrat werben werden, eingeführt werden,
und es müssen Maßnahmen für all die Staaten ergriffen
werden, die nicht aus eigener Kraft in der Lage sind, die
wirtschaftliche Leistungsfähigkeit herzustellen. Dafür





Bundesminister Dr. Philipp Rösler


(A) (C)



(D)(B)

brauchen diese Staaten die neuen Instrumente der EFSF
und später des ESM. Das zeigt, dass wir mit den Maß-
nahmen, die jetzt noch anstehen, genau die richtigen
Schritte in eine Stabilitätsunion tun; denn man muss den
Menschen die Frage beantworten: Wohin soll sich Eu-
ropa in den nächsten Jahren entwickeln? Nur wenn man
diese Frage beantworten kann, dann wird man wieder
Vertrauen in die Politik insgesamt herstellen können.
Dafür steht die Regierungskoalition aus CDU/CSU und
FDP.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1713002100

Ich mache jetzt einige wenige geschäftsleitende Be-

merkungen. Es gibt zwei Wünsche auf Kurzintervention,
und zwar des Kollegen Heil und des Kollegen Ernst. Die
Kollegen werde ich gleich der Reihe nach aufrufen. Da-
nach wird der Minister Gelegenheit haben, darauf zu
antworten.

Des Weiteren will ich, wie von Einzelnen gewünscht,
gerne darauf aufmerksam machen, dass im weiteren Ver-
lauf der Debatte sowohl der Kollege Willsch als auch der
Kollege Schäffler das Wort erhalten, sie aber nicht für
die jeweiligen Fraktionen, denen sie angehören, reden.
Sie machen von dem Rederecht Gebrauch, das sie als
Mitglieder des Deutschen Bundestages selbstverständ-
lich haben, mit und ohne Zugehörigkeit und Zuordnung
zur jeweiligen Fraktion. Ich denke, es entspricht sowohl
unserem Selbstverständnis als auch der völlig unmiss-
verständlichen Verfassungslage, dass wir diesem An-
spruch Rechnung tragen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Nun bekommt der Kollege Heil die Gelegenheit zu ei-
ner Kurzintervention.


Hubertus Heil (SPD):
Rede ID: ID1713002200

Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Bundesminister

Rösler, Sie haben eben davon gesprochen, dass es darum
gehe, eine klare proeuropäische Position zu beziehen,
dazu zu stehen und Vertrauen zu schaffen. Ich frage Sie
deshalb, warum Sie als Vorsitzender der FDP in den Ta-
gen vor der Berliner Abgeordnetenhauswahl, als Ihre
Partei in dieser Stadt in unverantwortlicher Art und
Weise plakatiert und mit antieuropäischen Ressenti-
ments gespielt hat, wobei die Strategie Gott sei Dank ge-
scheitert ist, so beredt geschwiegen haben, wenn es Ih-
nen angeblich um Verantwortung geht. Im Gegenteil: Sie
haben die Stimmung noch befeuert.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)


Bei aller persönlichen Wertschätzung, Herr Rösler,
kann ich Ihnen einen Vorwurf nicht ersparen. Mich hat
Ihr Verhalten, kurz vor der Wahl populistische Strömun-
gen Ihrer Partei nicht nur laufen zu lassen, sondern sie
sogar noch zu befeuern, an das Verhalten Ihres Vorgän-
gers, der neben Ihnen sitzt, in einer Wahlkampfsituation
mit Herrn Möllemann erinnert. Ich sage Ihnen: Wenn Sie
nicht verhindern, dass Ihre Partei – wir werden gleich
Herrn Schäffler hören – in unverantwortlicher Art und
Weise antieuropäischen Populismus schürt, dann tragen
Sie dazu bei, dass sich die Bevölkerung in diesem Land
in die falsche Richtung orientiert. Herr Rösler, erklären
Sie einmal den Menschen hier, warum Sie heute so re-
den, vor einigen Wochen aber geschwiegen oder den
Populismus sogar noch befeuert haben.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1713002300

Nun hat Kollege Ernst Gelegenheit zu einer Kurzin-

tervention.


Klaus Ernst (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1713002400

Herr Rösler, ich habe eigentlich eine sehr einfache

Frage. Können Sie in dem Fall, dass die vielen Bürg-
schaften und Verpflichtungen, die wir heute, wenn wir
Ihrem Antrag folgen würden, in Deutschland eingehen,
wirksam werden, ausschließen, dass nicht die Bürgerin-
nen und Bürger in der Bundesrepublik Deutschland
durch sinkende Renten, durch sinkende Löhne und durch
sinkende Sozialleistungen zur Kasse für das gebeten
werden, was wir hier beschließen?


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1713002500

Herr Minister, Sie haben Gelegenheit zur Antwort.

Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Wirtschaft
und Technologie:

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren Abgeordnete! Sehr geehrter Herr
Abgeordneter Heil, Sie haben von antieuropäischen Ten-
denzen gesprochen. Ich habe die Wortmeldung des Ab-
geordneten eben sehr wohl als antieuropäisch verstan-
den. Das ist aber ausdrücklich nicht unsere Linie. Ich
habe immer gesagt: proeuropäische Ausrichtung gepaart
mit wirtschaftspolitischer Vernunft. Daran werden Sie
unsere Worte, aber auch unser Handeln messen müssen.

Jetzt frage ich Sie – am Abstimmungsverhalten sollt
ihr sie erkennen –: Wo ist denn Ihre proeuropäische Hal-
tung gewesen, als Sie das aufgeweicht haben, was unsere
Vorväter bei der Einführung des Euro bedacht haben,
nämlich die Maastricht-Kriterien?


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Wo ist denn Ihre proeuropäische Haltung, wenn es bei
Diskussionen um Euro-Bonds genau darum geht, sol-
chen Wortbeiträgen wie gerade entgegenzutreten? Wir
wollen nicht, dass Schulden vergemeinschaftet werden.
Die Menschen dürfen auch nicht das Gefühl haben, es
würde in Deutschland so kommen. Wo waren Sie denn
gestern, als die Sozialdemokraten und die Grünen im





Bundesminister Dr. Philipp Rösler


(A) (C)



(D)(B)

Europäischen Parlament bei den wichtigen Abstimmun-
gen zu den weiteren Stabilitätsmaßnahmen und Stabili-
tätsmechanismen auf europäischer Ebene ihre Zustim-
mung verweigert haben? Am Abstimmungsverhalten
sollt ihr sie erkennen. Sie haben klar entgegen dem euro-
päischen Geist und auch klar gegen wirtschaftspolitische
Vernunft gehandelt.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Herr Rösler, was ist mit meiner Frage?)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1713002600

Das Wort hat nun Klaus-Peter Willsch.


Klaus-Peter Willsch (CDU):
Rede ID: ID1713002700

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Ich hätte es auch noch selbst gesagt: Ich spreche
heute leider nicht für meine Fraktion und bin dem Bun-
destagspräsidenten dankbar dafür, dass ich meine Ge-
danken gleichwohl hier vortragen kann.

Ich kämpfe zeit meines politischen Lebens dafür, dass
wir in dieser Konstellation christlich-liberal miteinander
arbeiten. Der Wirtschaftsminister hat die Erfolge gerade
aufgezählt, die sich sehen lassen können: 3,6 Prozent
Wirtschaftswachstum im letzten Jahr, und die Arbeitslo-
sigkeit liegt unter 2,8 Millionen. Das ist eine stolze Leis-
tung. Wir haben hier gut vorgelegt.

Da ich jetzt in einer Sachfrage nicht folgen kann,
möchte ich erläutern, was ich an diesem Weg für falsch
halte.

Erster Punkt: Im letzten Mai haben wir begonnen, uns
mit dem Griechenland-Paket auf eine schiefe Ebene zu
begeben. Danach gab es bekanntlich kein Halten mehr:
einmalig, befristet, konditioniert – aber es wurde immer
mehr. Das Konzept, zu versuchen, mit immer mehr
Schulden übermäßige Schulden zu bekämpfen, geht
nicht auf.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Es funktioniert nicht, Disziplin in Haushaltsfragen zu er-
reichen, indem man Zinsen heruntersubventioniert. Das
einzige Mittel gegen eine übermäßige Verschuldung sind
hohe Zinsen. Ich befürchte, dass dieser Weg viel Geld
kosten wird, das wir nicht haben.

Das Geld, das sich in Bürgschaften ausdrückt und
sich jetzt auf 211 Milliarden Euro summiert, wenn heute
hier entsprechend abgestimmt wird – alleine für die
EFSF; Griechenland kommt noch hinzu –, haben wir
nicht. Ich glaube, das Risiko, das wir den kommenden
Generationen damit aufladen, ist zu groß. Wir leihen die-
ses Geld, das wir ins Schaufenster stellen, von unseren
Kindern und Enkeln; wir haben es nicht.


(Beifall der Abg. Arnold Vaatz [CDU/CSU] und Frank Schäffler [FDP])


Auch deshalb kann ich das nicht mittragen. – Das ist der
zweite Punkt.

Der dritte Punkt: Wir haben, als wir den Euro einge-
führt haben, viel Überzeugungsarbeit leisten müssen. Die
D-Mark, die als weltweites Markenzeichen und als Aner-
kennung des Wiederaufstiegs, des wirtschaftlichen Er-
folgs nach dem Krieg galt, hatte für uns Deutsche einen
hohen Symbolwert. Als wir die D-Mark aufgegeben ha-
ben, haben wir den Menschen versprochen: Der Euro
wird genauso sicher und genauso stabil, wie die D-Mark
es war. Zudem wird er nachhaltig von der Europäischen
Zentralbank geschützt, die der Geldwertstabilität ver-
pflichtet ist. – Der Euro ist stark. Er ist mit 88 US-Cent
gestartet und liegt jetzt je nach Tagesform zwischen 130
und 145 US-Cent. Der Euro ist in dieser Zeit stabil ge-
wesen. Aber ich befürchte, diese Stabilität werden wir
nicht aufrechterhalten können, wenn wir diesen Weg
weiter gehen.

Wir haben den Menschen ein weiteres Versprechen
gegeben. Wir haben gesagt: Niemand wird für die Schul-
den eines anderen Staates in diesem Währungsraum auf-
kommen müssen. Jeder muss seinen Haushalt selbst aus-
gleichen. Genau das brechen wir mit dieser Schirm-
Politik.


(Beifall des Abg. Frank Schäffler [FDP])


Ich halte dies ökonomisch für den absolut falschen
Weg, der meinen Grundüberzeugungen widerspricht.
Natürlich gibt es Alternativen. Wir haben nach der
Finanzkrise Instrumente geschaffen, um Banken stützen
und rekapitalisieren zu können. Es wäre aber ein sehr
viel treffsicherer Weg, wenn wir sagen würden: Lasst die
Gläubiger ihren Teil tragen! Erst wenn es Probleme gibt,
sollten wir unterstützend helfen, damit systemrelevante
Bereiche unserer Volkswirtschaft nicht infiziert werden.

Zum Thema Gläubigerbeteiligung. Wir müssen uns
einmal einen Moment zurückbesinnen und uns fragen,
über was wir da eigentlich reden. Es gibt ein Vertrags-
verhältnis zwischen dem Gläubiger, also demjenigen,
der Geld gibt, und dem Schuldner, also demjenigen, der
den Kredit in Anspruch nimmt. Wenn der Kredit ausfällt,
dann ist das Sache des Gläubigers. Dass wir jetzt darüber
reden, ob nur ein Teil des Kreditausfalls von den Gläubi-
gern getragen werden muss und ob nicht vielmehr der
Staat für dieses private Geschäft automatisch im Obligo
ist, zeigt, dass wir hier die Dinge auf den Kopf gestellt
haben. Wir sollten uns daher bemühen, die Diskussion
wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen.

Ich appelliere im Interesse der nachfolgenden Gene-
rationen an Sie alle, dass wir diesen Weg möglichst
schnell beenden, anstatt ihn mit immer höheren Volumen
zu verlängern. Ich glaube, dass wir ansonsten dem Euro
und Europa schaden würden. Es wird in den Hauptstäd-
ten nicht mehr gegen die jeweiligen Regierungen de-
monstriert, sondern gegen Europa und einzelne Länder
wie Deutschland. Wir können nicht jedem unsere Art zu
leben aufdrängen. Wir können aber auf der Einhaltung
selbstakzeptierter Regeln bestehen. Genau das sollten
wir tun.

Ich bedanke mich ausdrücklich, dass es mir möglich
war, hier vorzutragen. Mit Blick auf meine eigene Frak-
tion sage ich: Danke, dass ihr das ertragen habt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)







(A) (C)



(D)(B)


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1713002800

Das Wort hat nun Priska Hinz für die Fraktion Bünd-

nis 90/Die Grünen.

Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Reden
aus den Reihen der Koalition zeigen bislang ganz deut-
lich, dass Sie ein echtes Problem haben. Ihnen fehlt
schlichtweg die Orientierung in dieser Krise.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Ach was!)


Das hängt damit zusammen, dass der Regierung ein
Kompass fehlt und damit jegliche Überzeugungskraft,
wie man diese Krise in Europa, in der Europäischen
Union, in der Euro-Zone überwinden kann.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das findet Ausdruck in Ihrer Salamipolitik. Seit an-
derthalb Jahren markieren Sie rote Linien, die Sie regel-
mäßig übertreten haben. Zunächst hieß es: kein Cent für
Griechenland; dann gab es das Rettungspaket für Grie-
chenland. Die nächste rote Linie war: kein Rettungs-
schirm; dann gab es umgehend diesen Rettungsschirm.
Dann hieß es: kein dauerhafter Rettungsschirm; jetzt
wird es den ESM geben. Dann wurde gesagt: keine An-
käufe auf dem Sekundärmarkt, und heute werden wir sie
beschließen. Euro-Bonds haben Sie heute wieder ausge-
schlossen. Über die Frage der Hebelung der jetzt erwei-
terten EFSF wird in der Regierung schon wieder trefflich
gestritten. Zumindest hat der Finanzminister dies vorhin
nicht ausgeschlossen. Es wäre aber notwendig, dass Sie
vor Abstimmungen der Bevölkerung und nicht nur den
Parlamentariern die Wahrheit sagen, damit Sie Vertrauen
in diesen Kurs herstellen können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dieses Verfahren kostet nicht nur Zeit und Geld, son-
dern es kostet vor allen Dingen Vertrauen in der Bevöl-
kerung. Herr Bundesminister Rösler, ich fand es schon
vergnüglich, dass Sie hier vom fehlenden Vertrauen in
das Handeln der Regierung und in ihre Fähigkeit, die
Euro-Krise zu überwinden, sprechen. Sie tragen doch
höchstpersönlich dazu bei, dass dieses Vertrauen fehlt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Sie fabulierten über die Insolvenz Griechenlands. Dabei
haben wir noch keinen Mechanismus für eine geordnete
Insolvenz. Die FDP war gegen Aktionen auf dem Sekun-
därmarkt. Das führte dazu, dass die EZB tätig werden
musste, was Sie hinterher umgehend wieder kritisiert ha-
ben. Sie sind gegen Finanzmarktregulierung und spre-
chen sich noch heute gegen eine Finanztransaktionsteuer
aus. Wie soll da Vertrauen in Regierungshandeln entste-
hen?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Auch wir Grünen führen Diskussionen. Auch wir
Grünen haben viele Fragen bezüglich der Euro-Rettung
und fragen, ob der eingeschlagene Weg richtig ist. Wis-
sen Sie aber, was den Unterschied ausmacht? Wir haben
ein Ziel vor Augen: ein geeintes, starkes, soziales Eu-
ropa.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD])


Wir wollen den Erhalt der Euro-Zone, und wir wollen
weitere Schritte der politischen Integration. Danach kön-
nen wir die ergriffenen Maßnahmen bewerten. Wir sagen
Ihnen seit über einem Jahr: Ihre Trippelschritte reichen
nicht aus. Wir sagen das nicht, weil wir immer alles bes-
ser wissen, sondern weil wir einen Maßstab haben, an
dem wir diese Maßnahmen messen können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir sind für umfangreiche Lösungen, und Sie folgen
uns ja auch immer – allerdings leider nur mit Verzöge-
rung. Wir brauchen die Entkopplung von Schulden- und
Bankenkrise. Wir brauchen die schnellere Einführung
des dauerhaften Rettungsschirms. Wir brauchen eine
strengere haushalts- und finanzpolitische Koordinierung,
und wir brauchen mindestens die Finanztransak-
tionsteuer als wichtigen Teil der Finanzmarktregulie-
rung. Außerdem brauchen wir künftig gute Euro-Bonds
unter bestimmten Konditionen. Wenn es weitere Ände-
rungen der europäischen Verträge für eine bessere euro-
päische Integration braucht, dann müssen wir dafür
kämpfen. Dafür brauchen wir aber eine proeuropäische
Regierung und keine zaudernde Regierung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Norbert Barthle [CDU/CSU]: Oje, oje!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1713002900

Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Schluss kom-

men.

Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):

Eine letzte Bemerkung. – Meine Damen und Herren,
das Gesetz ist nicht hinreichend, aber notwendig, und
wir stimmen ihm zu – nicht wegen, sondern trotz der Re-
gierung. Europa hat nämlich Besseres verdient als die
Tatsache, dass eine Regierung auf zufällige schwarz-
gelbe Mehrheiten im Parlament angewiesen ist.

Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1713003000

Das Wort hat nun Gerda Hasselfeldt für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1713003100

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Thema der





Gerda Hasselfeldt


(A) (C)



(D)(B)

heutigen Debatte verdient meines Erachtens eine ernst-
hafte Auseinandersetzung mit den Fakten, den konkreten
Entscheidungsalternativen und deren Konsequenzen. In
einer solch ernsthaften Debatte haben Spekulationen,
Unterstellungen oder gar Fehlinterpretationen keinen
Platz.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Deshalb will ich für die CSU klarstellen: Für uns – auch
für mich persönlich – ist Europa das größte Friedenspro-
jekt unserer Geschichte.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Dazu gehört die gemeinsame europäische Währung, der
Euro. Zur Wahrheit gehört auch, dass wir in Deutschland
davon auch ökonomisch profitiert haben und profitieren.
Deshalb haben wir eine ganz besondere Verantwortung
für die Stabilität dieser Währung und für den Zusam-
menhalt in Europa.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wir sind für den Europäischen Stabilitätsmechanis-
mus in dieser Form, weil damit Solidarität verankert
wird, und zwar nicht wegen irgendeines einzelnen Lan-
des, sondern wegen des gemeinsamen Euro-Raumes,
wegen unserer gemeinsamen Währung und wegen unse-
rer nationalen Betroffenheit und Verantwortung. Es geht
also einerseits um Solidarität und andererseits um die Ei-
genverantwortung der einzelnen Nationalstaaten. Bei-
des gehört zusammen und ist im Projekt des Europäi-
schen Stabilitätsmechanismus sowie im Projekt der
Ertüchtigung der EFSF enthalten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Der Debatte darüber, was sonst noch notwendig ist,
will ich hinzufügen: Dieses Europa, wie wir es verste-
hen, ist ein Europa souveräner Nationalstaaten. Wenn
Kompetenzen abgegeben werden, muss ganz genau un-
tersucht werden, ob das notwendig ist, ob das der Stabili-
tät Europas und der Stabilität der gemeinsamen Wäh-
rung dient, ja nicht nur, ob das der Stabilität dient,
sondern auch, ob das unabdingbar notwendig ist. Das
muss geprüft werden, weil wir an der nationalen Verant-
wortung festhalten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Zur Klarstellung gehört aber auch, dass das Problem
durch die Nichteinhaltung von Regeln entstanden ist.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die rot-grüne Koalition hat damals nicht nur ein biss-
chen dazu beigetragen, sondern sie hat die Weichen da-
für gestellt, dass diese Regeln nicht eingehalten werden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Peer Steinbrück [SPD]: Das sind doch Unterstellungen!)

Das gehört auch zur Wahrheit. Die Konsequenzen daraus
waren nämlich das Aufweichen der Stabilitätskriterien,
der Weg in die Verschuldung einiger Euro-Staaten und
die fehlende Wettbewerbsfähigkeit einer Reihe von
Euro-Staaten, die zum Teil schon gegeben war, aber
dann noch verstärkt wurde. All das wirkt sich auf den
gesamten Euro-Raum und somit auch auf uns aus. Des-
halb stehen wir mit in der Verantwortung.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1713003200

Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin

Hendricks?


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1713003300

Ja.


Dr. Barbara Hendricks (SPD):
Rede ID: ID1713003400

Frau Kollegin Hasselfeldt, wir mögen uns persönlich

sehr. Außerdem glaube ich, dass wir in der Finanzpolitik
ähnliche Herangehensweisen haben. Deshalb will ich Ih-
nen auch nicht zum Vorwurf machen, was ich jetzt sage.
Vielmehr möchte ich ein für alle Mal für das ganze Haus
klarstellen – das habe ich schon häufiger versucht –: Als
die Stabilitätskriterien in Europa geändert wurden, in der
Tat auf Betreiben der französischen und der deutschen
Regierung


(Zuruf von der CDU/CSU: Aha!)


– das ist gar nicht zu bestreiten –, wurden die
Maastricht-Kriterien neu gefasst.


(Zuruf von der CDU/CSU: Aufgeweicht!)


Das ist offenbar Teufelszeug für die andere Seite des
Hauses.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Bitte nehmen Sie zur Kenntnis, dass die Schulden-
bremse, die in unserer Verfassung steht und die wir nach
ganz Europa exportieren wollen, genau diesen
Maastricht-Kriterien nachgebildet worden ist. Das ist of-
fenbar aber kein Teufelszeug.


(Beifall bei der SPD)


Wir sollten einfach einmal fachlich und redlich mitei-
nander umgehen. Außerdem sollte die andere Seite die-
ses Hauses diese falsche Behauptung einfach nicht mehr
aufstellen.


(Beifall bei der SPD)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1713003500

Frau Kollegin Hendricks, ich lege großen Wert da-

rauf, dass meine Behauptung nicht falsch war. Im Ge-
genteil, Sie haben sie sogar noch bekräftigt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Sie haben zugegeben, dass auf deutsches und franzö-
sisches Betreiben hin die Stabilitätskriterien auf euro-
päischer Ebene geändert und damit in ihrer Wirkung
aufgeweicht wurden. Das ist unbestritten. Die Schul-





Gerda Hasselfeldt


(A) (C)



(D)(B)

denbremse im nationalen Bereich hingegen ist auf eine
nationale Entscheidung zurückzuführen, die mit der eu-
ropäischen nichts zu tun hatte. Diese finanzpolitische
Bindung der Haushalte des Bundes und der Länder hat
nichts mit der europäischen Regelung zu tun.


(Petra Merkel [Berlin] [SPD]: Doch!)


Diese hat im Übrigen eine ganz andere Qualität, weil wir
keine gemeinsame Finanzpolitik auf europäischer Ebene
haben. Auf nationaler Ebene haben wir aber sehr wohl
eine gemeinsame Finanzpolitik.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Jetzt bin ich bei der Situation in Europa. Gestern hat
das Europäische Parlament die Verschärfung des Stabili-
tätspakts beschlossen; das wurde schon angesprochen.
Ich muss schon sagen: Sie haben keine Konsequenzen
aus Ihren Fehlern gezogen; denn hier haben Sie den glei-
chen Fehler gemacht. Die Grünen, die Sozialdemokraten
und die Linken haben bei der Abstimmung über die Ver-
schärfung des Stabilitätspakts wieder den Versuch unter-
nommen, die Kriterien aufzuweichen und zwischen gu-
ten Schulden und schlechten Schulden zu unterscheiden.
Sie wollten differenzieren und haben, weil das nicht ge-
lungen ist, nicht zugestimmt. Den gleichen Fehler, den
Sie damals gemacht haben, begehen Sie jetzt wieder.
Das ist wirklich unverantwortlich.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Sie haben wohl nichts aus dem gelernt, was wir in den
letzten Monaten erlebt haben.

Aufgrund unserer Erfahrungen aus der Aufweichung
der Kriterien und der Verschuldungssituation einiger
Länder haben wir einen europäischen Rettungsschirm
aufgespannt mit den entsprechenden Garantien und Kre-
ditmöglichkeiten, aber auch in Verbindung mit strengen
Auflagen. Dass das Konzept grundsätzlich richtig ist,
zeigen die Entwicklungen in Irland und in Portugal. Da
funktioniert dieser Rettungsschirm mit genau diesem
Mechanismus. Das ist ein Zeichen dafür, dass wir mit
unserem Grundansatz richtig liegen.

Was wir mit der Verabschiedung dieses Gesetzes an-
streben, ist eine Ertüchtigung dieses Rettungsschirms,
und zwar in dreierlei Hinsicht: Erstens kann sich die
EZB wieder auf ihre geldpolitische Verantwortung kon-
zentrieren. Zum Zweiten kann die EZB Vorsorgemaß-
nahmen treffen. Zum Dritten – das ist das Wichtigste –
stehen bei definitiver Zahlungsunfähigkeit eines Landes
Instrumente zur Verfügung, um das Überschwappen der
Krise eines Landes auf die anderen Länder im Euro-
Raum zu verhindern.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das ist der Kern dessen, was wir heute beschließen.
Wenn wir diese Instrumente nicht bekommen sollten,
dann riskieren wir eine Krise mit verheerenden und
unkalkulierbaren Auswirkungen auf Arbeitsplätze, Spar-
einlagen, Versicherungen und unsere Wirtschaft – nicht
nur in Deutschland, sondern in ganz Europa, vielleicht
sogar darüber hinaus. Das ist nicht zu verantworten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Klar ist aber auch – das haben wir schon bei der Ein-
richtung des Rettungsschirms entschieden –, dass das
Ganze nur als Ultima Ratio in Betracht kommt, dass Ein-
stimmigkeit herrschen muss und dass es vor allem ver-
bunden sein muss mit strengen Auflagen und der Über-
prüfung dieser Auflagen. Mindestens so wichtig wie die
Auflagen selbst sind die Überprüfung der Auflagen und
die konsequente Einhaltung der Sanktionen, also die
Nichtkreditgewährung, wenn die Auflagen nicht einge-
halten werden.

Das ist etwas ganz anderes als das, was Rot-Grün im-
mer wieder vorschlägt und wovon Sie sich jetzt zu dis-
tanzieren versuchen: die Euro-Bonds. Damit wären näm-
lich keine Auflagen für die einzelnen nationalen Staaten
verbunden. Damit wären auch nicht der Druck zur
Durchsetzung von Reformen sowie der Druck hin zu
Veränderungen der Strukturen verbunden. Ebenso wenig
wäre damit die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit
der einzelnen Nationen verbunden. Das wäre der Weg in
eine unbegrenzte Schuldenunion – zulasten der deut-
schen Steuerzahler noch dazu.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Diesen Weg kann niemand verantworten. Diesen Weg
werden wir mit Sicherheit nicht durchgehen lassen. Sie
haben schon einmal eine falsche Weichenstellung vorge-
nommen. Noch einmal werden wir Sie diesen Fehler
nicht machen lassen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Mit dem heute vorliegenden Gesetzentwurf haben wir
durch die intensive Diskussion über die Fraktionsgren-
zen hinweg eine umfassende, fast einmalige Parlaments-
beteiligung erreicht. Diese Parlamentsbeteiligung geht
weit über das hinaus, was wir bisher bei vergleichbaren
Entscheidungen erlebt haben. Bei jeder einzelnen Maß-
nahme, über die auf europäischer Ebene im Zusammen-
hang mit dem Rettungsschirm entschieden wird, muss
nämlich vorher die Zustimmung des Parlaments, min-
destens eines Parlamentsgremiums, eingeholt werden.
Dieses Votum des Parlaments ist dann bindend. Das
heißt, der deutsche Vertreter ist quasi an der Leine des
Parlaments.


(Norbert Barthle [CDU/CSU]: So ist das!)


Man muss sich das einmal vor Augen halten. Ich finde,
das, was die Kolleginnen und Kollegen hier fraktions-
übergreifend in den Verhandlungen erreicht haben, ist
ein großartiger Erfolg, der bei der Gesamtabstimmung
deutlich macht: Der Herr des Verfahrens ist das nationale
Parlament. Das, meine Damen und Herren, ist nicht etwa
gegen die Regierung durchgesetzt worden, sondern im
Einvernehmen mit der Regierung.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)






Gerda Hasselfeldt


(A) (C)



(D)(B)

Nun wissen wir alle, dass sich keiner und keine von
uns heute die Entscheidung leicht macht. Wir haben viel
diskutiert, nicht nur in vielen Gremien des Parlaments,
sondern darüber hinaus mit vielen Fachleuten, die uns
im Übrigen ganz unterschiedliche Ratschläge gegeben
haben. Die einzige Bemerkung, die bei all diesen Rat-
schlägen einhellig fiel, lautete: Aber die Verantwortung
habt ihr.

Für mich ist klar, dass der vorgesehene Weg besser
verantwortbar ist als jeder andere Weg, der bisher disku-
tiert wurde. Er gibt uns Instrumente, um einen mögli-
chen Flächenbrand einzugrenzen. Er stärkt der Regie-
rung bei den schwierigen Verhandlungen auf EU-Ebene
den Rücken. Ich bin fest davon überzeugt, dass dies in
der schwierigen Situation, die wir zu bewältigen haben,
der richtige Weg ist. Deshalb empfehle ich Ihnen die Zu-
stimmung zu diesem Gesetz.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1713003600

Das Wort hat nun der Abgeordnete Frank Schäffler.


Frank Schäffler (FDP):
Rede ID: ID1713003700

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Am 11. Februar 2010 haben sich die Staats- und Re-
gierungschefs der Europäischen Union zum kollektiven
Rechtsbruch verabredet. Griechenland sollte auf jeden
Fall finanziell geholfen werden. Damit haben die Staats-
und Regierungschefs nichts anderes verkündet als den
Bruch der Nichtbeistandsklausel in den europäischen
Verträgen.

Uns wurde im Deutschen Bundestag versprochen,
dass die Griechenland-Hilfe eine einmalige Hilfe ist, die
absolute Ausnahme, und sonst nichts. Die Tinte war
noch nicht trocken, schon wurde einen Tag später in
Brüssel der jetzige Schuldenschirm, die Einrichtung der
EFSF, vereinbart. Als der Deutsche Bundestag das soge-
nannte Euro-Rettungspaket verabschiedete, wurde hier
erklärt, dass ohnehin niemand unter diesen Schirm
flüchten wird. Bereits wenige Monate später drängten
sich erst Irland, dann Portugal und bald auch Griechen-
land unter den Schirm.

Am 27. Oktober 2010 erklärten Sie, Frau Bundes-
kanzlerin, hier im Hohen Hause:

Er läuft 2013 aus. Das haben wir auch genau so ge-
wollt und beschlossen. Eine einfache Verlängerung
kann und wird es mit Deutschland nicht geben, weil
der Rettungsschirm nicht als langfristiges Instru-
ment taugt, weil er Märkten und Mitgliedstaaten
falsche Signale sendet und weil er eine gefährliche
Erwartungshaltung fördert.

Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren,
keine vier Wochen später galt all dies nichts mehr.

Am 11. März 2011 wurde dann in Brüssel sogar ein
Weg zur Änderung der europäischen Verträge einge-
schlagen, der erstens ein Weg zur Ausweitung des beste-
henden Euro-Schuldenschirms ist, die der Bundestag nie
wollte, der zweitens ein Weg zur unbefristeten Verlänge-
rung der Laufzeit des Euro-Schuldenschirms ist, die der
Bundestag nie wollte, und drittens ein Weg zur qualitati-
ven Veränderung der europäischen Wirtschaftsverfas-
sung ist, die der Bundestag nie wollte.

Allen Bekundungen zum Trotz hat bereits die erste
Griechenlandhilfe die Situation für Griechenland nicht
entschärft, sondern verschärft. Griechenland nimmt we-
niger Steuern ein als 2010 und gibt – absolut und prozen-
tual, auch ohne Zinsen – mehr Geld aus. Allen Be-
kundungen zum Trotz hat der Schuldenschirm die
Überschuldungskrise von Staaten und Banken nicht ent-
schärft, sondern verschärft. Es wird nur teure Zeit ge-
kauft. Doch Griechenland kann aus seiner Überschul-
dung nicht herauswachsen, erst recht nicht mit noch
mehr Schulden.

Die angeforderten Hilfen und die Aufstockung des
Schuldenschirms werden die Lage noch weiter verschär-
fen. Am 17. März und am 10. Juni dieses Jahres haben
wir hier in diesem Hohen Hause beschlossen:

Der Deutsche Bundestag erwartet aus verfassungs-
rechtlichen, europarechtlichen und ökonomischen
Gründen, dass gemeinsam finanzierte oder garan-
tierte Schuldenaufkaufprogramme ausgeschlossen
werden.

Genau diese Schuldenaufkaufprogramme sind Ge-
genstand des heutigen Gesetzes. Not bricht nicht jedes
Gebot. Der Verfassungsbruch ist nicht alternativlos!
Papst Benedikt XVI. zitierte in seiner großen Rede vor
dem Deutschen Bundestag den Heiligen Augustinus mit
den Worten: „Nimm das Recht weg – was ist dann ein
Staat noch anderes als eine große Räuberbande?“


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Räuberbandenkoalition!)


Nun wird beim Internationalen Währungsfonds, bei
der Zentralbank und bei der Kommission in Brüssel be-
reits über die Vervierfachung des Schuldenschirms ge-
sprochen. Sie wollen ihn hebeln.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das ist die Zukunft der FDP! Das ist die Zukunft der Regierung!)


Die Wirkung wird dann jedoch sein, dass der Schulden-
schirm dieselben Risiken ermöglicht wie ein Hedge-
fonds. Er wird auf Kredit spekulieren. Die europäischen
Steuerzahler aber haften für diese Spekulationen.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das ist die FDP! Das ist Teil Ihrer Regierung! Eine Schande!)


Angst war schon immer ein schlechter Ratgeber. Aber
mit Angst wird seit September 2007 eine Politik ge-
macht, die Recht und Freiheit schleift. Sie fördert die
Angst vor dem Zusammenbruch unseres Finanzsystems.

Das vereinte Europa ist von seinen Gründervätern als
ein Ort der Freiheit gegen alle Formen der Diktatur, Un-
freiheit und Planwirtschaft erträumt worden. Das heutige
Europa ist auf dem Weg in die monetäre Planwirtschaft
und in den politischen Zentralismus. Wir sind auf dem
Weg in die Knechtschaft, weil wir uns aus Angst vor ei-





Frank Schäffler


(A) (C)



(D)(B)

nem Zusammenbruch des Finanzsystems erpressen las-
sen.

Die Gründerväter Europas wollten ein Europa des
Rechts und der Rechtsstaatlichkeit. Die heutigen Regie-
rungen des Euro-Raums, die EU-Kommission und die
Zentralbank verabreden sich hingegen wiederholt zum
kollektiven Rechtsbruch, obwohl die EU-Kommission
als Hüterin der Verträge und die nationalen Regierungen
zum Schutz des Rechts verpflichtet sind.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1713003800

Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.


Frank Schäffler (FDP):
Rede ID: ID1713003900

Sie nutzen die Angst vor einem Zusammenbruch des

Finanzsystems, um Europa in eine neue Stufe des Zen-
tralismus zu leiten.

Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1713004000

Das Wort hat nun Kollege Hermann Otto Solms für

die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Klären Sie den Kollegen mal auf! Das ist ja ein Trauerspiel, was hier vorgeführt wird!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1713004100

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als wir im

Mai letzten Jahres die EFSF eingeführt haben, habe ich
damals schon der Einführung nicht zugestimmt, weil ich
folgende Sorge hatte – ich will das aus meiner persönli-
chen Erklärung von damals zitieren –:

Die institutionellen Veränderungen bedeuten einen
irreversiblen Schritt hin zur Transferunion, bei der
die Steuerzahler der stabilitätsorientierten Länder
automatisch für die Disziplinlosigkeit und Ver-
schwendungssucht der anderen Staaten haften.

Das galt es zu verhindern. Wir haben aber jetzt eine an-
dere Erfahrung gemacht. Deswegen komme ich jetzt zu
einer anderen Schlussfolgerung als die Kollegen Willsch
und Schäffler.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Die letzten anderthalb Jahre haben gezeigt, dass der
Prozess zurück zur Stabilitätsunion zwar nicht schlagar-
tig, aber doch langsam und mühsam begonnen worden
ist und Früchte gezeigt hat. Man muss sich doch nur ein-
mal die Ergebnisse und die Fakten anschauen: Irland war
eines der am schwersten belasteten Länder. Irland wird
heute schon zu niedrigeren Zinsen auf den Märkten be-
wertet als noch vor wenigen Wochen. Das zeigt: Die
Märkte haben den Aufschwung und die Entwicklung ak-
zeptiert. Portugal und Griechenland unternehmen riesige
Anstrengungen. Portugal hat ebenfalls eine sehr positive
Perspektive. Griechenland ist ein extremer anderer Fall.
Spanien hat die Schuldenbremse in seiner Verfassung
bereits eingeführt.


(Jörg van Essen [FDP]: So ist es!)


Wer hätte vor einem halben Jahr gedacht, dass das so
schnell ginge? Italien und Frankreich haben im Übrigen
zugesagt, sie ebenfalls einführen zu wollen, und haben
Sparprogramme auf den Weg gebracht. Das heißt, die
Philosophie „Zurück zum Stabilitätspakt“ hat gezündet.
Was wir mit dieser Ertüchtigung des EFSF jetzt machen,
ist nichts anderes, als diesen Weg noch fachlicher zu be-
gleiten, mit noch klareren Konditionen zu verbinden und
die Instrumente nachzureichen, die wir im Moment nicht
haben.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


In diesem Zusammenhang möchte ich zwei Dinge
ganz besonders herausheben:

Erstens. Endlich wird die Möglichkeit vorgesehen, im
Falle einer Krise eine Bankenrekapitalisierung zu finan-
zieren. Das wird die Union in die Lage versetzen, sich
aus der Situation einer ständigen Erpressung durch die
Finanzmärkte zu befreien. Dann kann dieser Infektions-
prozess – von Bank zu Bank, von Land zu Land – nicht
mehr stattfinden. Wenn das Geld bereitsteht, ist es mög-
lich, die gefährdeten Banken zu sichern, so wie das 2008
bei der Commerzbank gemacht worden ist. Sie haben
gesehen, dass die Commerzbank den größten Teil des
Darlehens bereits mit Zinsanteil zurückgezahlt hat.


(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Genau so ist es!)


Das war für den Staat und den Steuerzahler die viel
preiswertere Variante.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Das Zweite ist: All diese finanzwirksamen Entschei-
dungen stehen unter dem Vorbehalt der Zustimmung
durch den Deutschen Bundestag.


(Beifall des Abg. Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP])


Das ist eine fundamentale Veränderung im Verhältnis
zwischen Bundestag und Bundesregierung. Das wird
den Mitgliedern der Bundesregierung nicht immer ganz
angenehm sein.


(Otto Fricke [FDP]: Ist aber gut so!)


Es hilft ihnen aber auch. Es stärkt ihre Position in den
Verhandlungen mit den anderen Staaten.

Herr Gysi hat sich wegen dieses kleinen Gremiums
aufgeregt. Das ist doch klar: Wenn am Wochenende eine
Krise wegen einer oder zwei Banken entsteht, dann muss
schnell gehandelt werden. Dann können wir nicht den
Deutschen Bundestag einberufen, sondern dann muss
ein kleines Gremium handeln, und zwar vertraulich, weil
diese Banken sonst sofort in eine Krise geraten würden.
Das ist eine Selbstverständlichkeit. Der Bundestag kann
aber die Zuständigkeit für diese Genehmigung immer an
sich ziehen, sodass die Verdächtigungen, die in diese
Richtung zielen, wirklich unberechtigt sind.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)






Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)

Lassen Sie mich noch eine letzte Bemerkung machen.
Wir haben uns bei der Einführung der Schuldenbremse
für Deutschland gemeinsam mehrere Jahre Zeit genom-
men, nämlich von 2011 bis 2016. Wir können von unse-
ren Partnerländern nicht verlangen, dass sie das alles viel
schneller hinbekommen, obwohl sie eine schlechtere
Ausgangsposition haben. Auch diese Länder brauchen
natürlich einige Jahre der Anpassung. Diese Jahre der
Anpassung müssen begleitet werden, auch durch diese
gemeinschaftlichen Finanzinstrumente. Es müssen aber
immer strikte Bedingungen und Auflagen bestehen, da-
mit der Weg zur Stabilitätsunion gesichert ist.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1713004200

Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1713004300

Herr Präsident, ich komme zum Schluss.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Kommt noch einmal jemand von der FDP?)


Deswegen bin ich überzeugt davon, dass die heutige
Entscheidung eine richtige ist, die man gerade auch als
kritisch denkender Ökonom mit voller Überzeugung
treffen kann. Wir werden zustimmen.

Danke.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1713004400

Nun hat Norbert Barthle für die CDU/CSU-Fraktion

das Wort.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sprechen Sie jetzt für die Fraktion? – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sprechen jetzt nicht für die FDP, oder?)



Norbert Barthle (CDU):
Rede ID: ID1713004500

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Lassen Sie mich zunächst zwei Vor-
bemerkungen machen:

Erstens. Das, was die Kollegen Schneider und Schick
hier versucht haben, nämlich die Glaubwürdigkeit der
Bundesregierung zu untergraben, halte ich für einen
wirklich unanständigen Vorgang.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wie kann man von der Bundesregierung Aussagen zu ei-
nem Vorgang erwarten, der noch gar nicht abgeschlossen
ist? Sich abschließend zu den Guidelines zu äußern, die
erst verhandelt werden, ist schlechterdings unmöglich.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber Sie können uns doch sagen, wie Sie das haben möchten!)


Nebenbei bemerkt: Wenn wir dieses Gesetz heute be-
schließen und der Bundespräsident unterschrieben hat,
dann muss über diese Guidelines zuerst im Haushalts-
ausschuss entschieden werden, bevor der Bundesfinanz-
minister auf europäischer Ebene zustimmen kann. Das
weiß der Kollege Schneider ganz genau. Deshalb halte
ich sein Vorgehen für schäbig.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Zweite Vorbemerkung. Es ist sicherlich ein bemer-
kenswerter Vorgang, dass zwei der bekannten Neinsager
in dieser regulären Debatte reden konnten.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Als Fraktionslose! – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Weil Sie ihnen keine Redezeit abgegeben haben!)


Ich denke, das ist einerseits bemerkenswert, aber ande-
rerseits auch Ausweis einer besonderen demokratischen
Kultur; denn in der Öffentlichkeit wurde ständig der Ein-
druck erweckt, die sogenannten Abweichler würden un-
terdrückt oder gar gemobbt. Heute haben wir das Gegen-
teil dessen erlebt. Darauf kann dieses Parlament auch
stolz sein.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Johannes Kahrs [SPD]: Dann sollten die auf Ihre eigene Fraktionszeit reden! Das ist doch unglaublich!)


Jetzt zur Sache. Ich glaube, abschließend kann man
drei Aspekte nochmals in den Vordergrund rücken:

Erstens. Verantwortung für Stabilität muss gelebte
Kultur aller Mitgliedstaaten der Europäischen Wäh-
rungsunion sein. Das ergibt sich, meine Damen und Her-
ren, schon aus der Architektur dieses Rettungsschirms;
denn der Rettungsschirm dient der zielgerichteten, be-
fristeten Krisenhilfe, die immer an strikte Auflagen für
Reformen und für Haushaltskonsolidierung geknüpft ist.
Es wird also aus diesem Fonds keine dauerhafte Unter-
stützung überschuldeter Staaten, keine Transferunion ge-
ben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Aus diesem Rettungsfonds resultiert auch kein Einfalls-
tor für die sogenannten Euro-Bonds; denn wir agieren
generell nach dem Prinzip der Hilfe zur Selbsthilfe. Wir
geben also betroffenen Ländern mehr Zeit, um sich
selbst helfen zu können. An dieser Stelle sage ich ein-
deutig und klar: Ich bin froh, dass Rot-Grün dieses Land
derzeit nicht regiert; dann hätten wir nämlich die Euro-
Bonds schon.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Deshalb ist es gut für unser Land, dass wir eine christ-
lich-liberale Regierung haben. Es ist gut für unser Land,
dass wir regieren.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Johannes Kahrs [SPD]: Aber das hört auch bald auf!)


Nebenbei bemerkt, liebe Kolleginnen und Kollegen: Er-
freulicherweise lernt die SPD bei dieser Frage inzwi-
schen dazu und distanziert sich vorsichtig von der Idee
der Euro-Bonds.





Norbert Barthle


(A) (C)



(D)(B)

Was ist Ursache all dieser krisenhaften Entwicklun-
gen? Das, meine Damen und Herren, sind unsolide
Staatsfinanzen. Deshalb sind unsolide Staatsfinanzen
auch der Ansatzpunkt für die Lösung der Probleme. Des-
halb brauchen wir einen Wandel der Stabilitätskultur.
Aus diesem Grunde ist dieses Projekt in den betroffenen
Ländern nicht nur ein ökonomisches Projekt. Es ist – er-
lauben Sie mir, dies zu sagen – auch ein soziokulturelles
Projekt. Wir sollten alles dafür tun, dass bei den soge-
nannten Wackelkandidaten genau dieser Gesinnungs-
wandel unterstützt wird. Das betrifft auch das Europäi-
sche Parlament. Das betrifft selbstverständlich auch
europäische Institutionen, die entsprechend gestärkt
werden müssen. Da halte ich die gestrigen Entscheidun-
gen zum sogenannten Sixpack für einen ersten wichtigen
und guten Schritt.

Für alle, meine Damen und Herren, die an der Wirk-
samkeit dessen zweifeln, kann ich nur sagen: Von
Schlittschuhläufern wissen wir, dass das richtige Maß an
Druck auch das härteste Eis zum Schmelzen bringt, und
dann flutscht es. Genau in dem Sinne gehen wir weiter
voran.

Was wir derzeit an Veränderungen in Griechenland
erleben, sollten wir mit großem Respekt zur Kenntnis
nehmen; denn es geht letztlich um die simple Einsicht:
Ohne Verantwortung für Stabilität kann die Währungs-
union nicht funktionieren. Genau deshalb ist auch unsere
Schuldenbremse mittlerweile für ganz Europa ein
Exportschlager geworden. Wir setzen darauf, dass Stabi-
lität Grundlage ist für Vertrauen in der Wirtschaft und
für Vertrauen in den Märkten. Darin unterscheiden wir
uns übrigens auch von einigen anderen Staaten. Wir hal-
ten eben nichts davon, die Notenpresse anzuwerfen und
letztlich über Inflation Haushalte zu sanieren, sondern
wir setzen auf Stabilität.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ein zweiter Aspekt. Dieser größere Rettungsfonds re-
duziert die Gefahr, dass kleine Länder die Stabilität der
gesamten Euro-Zone gefährden. Gerade deshalb ist die
Ausweitung, die Ertüchtigung dieses Rettungsschirms
von so großer Bedeutung. Um es auf den Punkt zu brin-
gen – auch im Hinblick auf die Reden unserer beiden
Neinsager –: Derjenige, der ein gefährdetes Euro-Land
retten will, muss der Ausweitung der EFSF zustimmen.
Aber auch derjenige, der die Insolvenz eines Landes in
Kauf nehmen will, muss diesem Rettungsschirm zustim-
men, damit wir die Folgen besser beherrschen können.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


An dieser Stelle haben diejenigen, die diesem Gesetzent-
wurf nicht zustimmen, einen echten Bruch in der Logik
ihrer Argumentation. Diesen Vorwurf kann ich ihnen
nicht ersparen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Lassen Sie mich auf den dritten wichtigen Aspekt, der
schon von mehreren Vorrednern benannt wurde, noch
einmal zusammenfassend eingehen. Mit diesen neuen
Regeln zur Parlamentsbeteiligung wird die demokrati-
sche Legitimation europäischer Entscheidungen massiv
gestärkt. Wir erleben eine Weichenstellung, die mit Si-
cherheit Strahlkraft auch auf zukünftige europäische
Projekte ausüben wird, denn es geht um eine bessere de-
mokratische Legitimation fundamentaler Entscheidun-
gen auf europäischer Ebene, die aber die nationale Poli-
tik im Kern betreffen.

Unsere Aufgabe als Parlamentarier ist, die Arbeit die-
ses Rettungsschirms in Zukunft konstruktiv und auch
kritisch zu begleiten und dabei immer das Haushalts-
recht des deutschen Parlaments zu wahren. Darum geht
es im Kern. Deshalb bin ich überzeugt: Mit der Rege-
lung, die wir getroffen haben, mit dem abgestuften Ver-
fahren der Parlamentsbeteiligung, haben wir eine
Lösung gefunden, die Entscheidungen der Bundesregie-
rung künftig auf eine ganz neue Form der demokra-
tischen Legitimation stellt. Das ist ein Quantensprung in
dieser Richtung. Ich danke an dieser Stelle Herrn
Regling, dass er – dies hat er in der Anhörung gesagt –
darin keine Nachteile für die Wirksamkeit der EFSF
sieht. Das ist eine bedeutsame Aussage.

Ich komme zum Schluss und darf zusammenfassend
sagen: Die Erweiterung des europäischen Rettungsfonds
ist ein wichtiger Schritt hin zu einer stabileren und zu-
kunftsfähigeren Währungsunion. Der italienische Fi-
nanzminister Tremonti hat kürzlich gesagt:


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1713004600

Herr Kollege, Sie müssen wirklich zum Schluss kom-

men.


Norbert Barthle (CDU):
Rede ID: ID1713004700

Ich bin am Schluss. – „Jetzt hängt alles an Europa und

Europa hängt von Deutschland ab“. In diesem Sinne
bitte ich alle, der Verantwortung, die wir haben, gerecht
zu werden und diesem Gesetzentwurf mit großer Einig-
keit zuzustimmen.

Danke.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1713004800

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Ent-
wurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur
Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines eu-
ropäischen Stabilisierungsmechanismus. Der Haushalts-
ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksachen 17/7067 und 17/7130, den
Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und FDP
auf Drucksache 17/6916 in der Ausschussfassung anzu-
nehmen.

Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Die
Linke vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)

für den Änderungsantrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/7179? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der
Fraktionen der CDU/CSU, FDP, SPD und Grünen gegen
die Stimmen der Linken abgelehnt.

Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen von CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen gegen
die Stimmen der Linken angenommen.

Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wir stimmen nun über den
Gesetzentwurf namentlich ab. Dazu liegen eine ganze
Reihe schriftlicher Erklärungen vor.1) Ebenso haben elf
Abgeordnete der Fraktion der Linken beantragt, mündli-
che Erklärungen zur Abstimmung abzugeben. Diese Er-
klärungen werden nach den Abstimmungen zu diesem
Thema abgegeben, damit wir jetzt eine reibungslose Ab-
stimmung haben.

Ich bitte nun die Schriftführerinnen und Schriftführer,
die vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Vorne rechts
fehlen noch Schriftführer. – Ich glaube, jetzt kann die
Abstimmung beginnen.

Ich eröffne die Abstimmung.

Nun die obligate Frage: Haben alle anwesenden Mit-
glieder des Hauses ihre Stimme abgegeben? – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das offensichtlich der Fall.
Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführe-
rinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu begin-
nen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später
bekannt gegeben.2)

Wir kommen zu den Abstimmungen über die Ent-
schließungsanträge.


(Unruhe)


– Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie herzlich,
Platz zu nehmen, damit wir diese Abstimmungen ord-
nungsgemäß, also übersichtlich, durchführen können.
Vor allem vor der Regierungsbank ist eine gewisse Un-
übersichtlichkeit eingetreten.


(Johannes Kahrs [SPD]: Die Regierung ist unübersichtlich!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, könnten Sie Platz neh-
men?

Wir kommen zum Entschließungsantrag der Fraktion
der SPD auf Drucksache 17/7175. Wer stimmt für diesen
Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen
der CDU/CSU, der FDP und der Linken gegen die Stim-
men der SPD und der Grünen abgelehnt.

Wir kommen zum Entschließungsantrag der Fraktion
Die Linke auf Drucksache 17/7180. Wer stimmt für die-
sen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? –

1) Anlagen 2 bis 5
2) Ergebnis Seite 15236 C
Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag ist gegen die
Stimmen der Fraktion Die Linke von allen anderen Frak-
tionen abgelehnt worden.

Wir kommen zum Entschließungsantrag der Fraktion
Die Linke auf Drucksache 17/7194. Wer stimmt für die-
sen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag ist mit den
gleichen Mehrheitsverhältnissen wie zuvor abgelehnt.

Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/7195: Wer stimmt für diesen
Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen
von CDU/CSU, FDP und Linken gegen die Stimmen der
SPD und der Grünen abgelehnt.

Wir setzen die Abstimmungen zu der Beschlussemp-
fehlung und dem Bericht des Haushaltsausschusses auf
den Drucksachen 17/7067 und 17/7130 fort.

Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner
Beschlussempfehlung, den Antrag der Fraktionen der
CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/6945 mit dem
Titel „Parlamentsrechte im Rahmen zukünftiger europäi-
scher Stabilisierungsmaßnahmen sichern und stärken“
für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von
CDU/CSU, FDP, Grünen und der Linken bei Stimment-
haltung der SPD angenommen.

Bevor wir zum nächsten Tagesordnungspunkt kom-
men, kommen wir nun zu den mündlichen Erklärungen
nach § 31 unserer Geschäftsordnung. Aus der Fraktion
der Linken haben elf Kolleginnen und Kollegen ver-
langt, solche mündlichen Erklärungen abzugeben. Das
geschieht nun nacheinander und könnte eine Stunde dau-
ern; mal sehen, wie lange es dauert.

Es beginnt Sahra Wagenknecht.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Sahra Wagenknecht (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1713004900

Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich muss schon sa-

gen: Ich habe selten eine Parlamentsdebatte im Deut-
schen Bundestag erlebt, in der so viel und so schamlos
geheuchelt und gelogen wurde wie in der heutigen De-
batte.


(Beifall bei der LINKEN – Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Das ist doch Ihr Metier! – Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Oh!)


Ich habe gegen die Erweiterung des sogenannten
Euro-Rettungsschirms gestimmt;


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Jo mei!)


denn durch diesen Euro-Rettungsschirm wird die euro-
päische Währung nicht gerettet, und schon gar nicht
werden die Lebensverhältnisse der Menschen in Europa
abgesichert und gerettet. Das Einzige, was durch diesen
Rettungsschirm wirklich gerettet wird, sind die Gewinne
der Banken, der Hedgefonds und der Spekulanten, und
das ist perfide.


(Beifall bei der LINKEN)






Sahra Wagenknecht


(A) (C)



(D)(B)

Dass Sie das hier dann auch noch mit schönen Worten
und schönen Ideen verklären, ist unglaublich, zumal Sie
den Leuten noch nicht einmal reinen Wein darüber ein-
schenken, wie hoch die Haftung wirklich ist, die hier
eingegangen wird – gerade auch vor dem Hintergrund
der aktuellen Pläne zur weiteren Hebelung.


(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Nebelkerze!)


Das ist kein Programm für weniger Schulden, sondern
das ist ein Programm für mehr Schulden und mehr Ver-
schuldung,


(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Ohne Hand und Fuß!)


und zwar einerseits in der Bundesrepublik Deutschland,
wenn nämlich all diese Bürgschaften irgendwann tat-
sächlich bedient werden müssen, und andererseits ist es
ein Programm für mehr Schulden und mehr Verschul-
dung in den betroffenen Ländern, denen damit angeblich
geholfen werden soll. In Wirklichkeit müssen diese Län-
der ihre Wirtschaft aber mit martialischen Sparprogram-
men in die Knie zwingen. Es sollte Ihnen schon irgend-
wie zu denken geben, dass Griechenland eineinhalb
Jahre nach Beginn der angeblichen Rettung 20 Milliar-
den Euro mehr Schulden als vorher hat.

Wer Schulden wirklich reduzieren will, der muss ers-
tens auch Vermögen reduzieren, aber bitte schön nicht
die Vermögen der einfachen Leute, die mit diesem gan-
zen Desaster nichts zu tun haben, sondern bitte schön die
Vermögen derer, die profitiert haben von der steigenden
Staatsverschuldung,


(Beifall bei der LINKEN – Max Straubinger [CDU/CSU]: So wie es die Kommunisten immer getan haben!)


profitiert haben von Steuerdumping, profitiert haben von
der Bankenrettung, profitiert haben von der ganzen Spe-
kulation. Es ist doch kein Zufall, dass die Vermögen der
Millionäre und Multimillionäre in Europa in den letzten
Jahren ähnlich explodiert sind wie die Schulden der
Staaten. Das hängt doch zusammen. Das sind zwei Sei-
ten einer Medaille.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: So wie SED und PDS es in der Vergangenheit getan haben!)


Darüber reden Sie nicht, weil Sie darüber nicht reden
wollen.


(Beifall bei der LINKEN)


Wer Schulden wirklich reduzieren will, der muss
zweitens dieses aberwitzige System beenden, das dafür
sorgt, dass die Finanzierungsspielräume der Staaten am
Ende davon abhängen, ob Banker oder Ratingagenturen
den Daumen heben oder senken. Das ist ein völlig absur-
des System. Wer nichts dafür tut, die Staaten aus der
Geiselhaft dieser Finanzhaie zu befreien, der hat die De-
mokratie abgeschrieben.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Warum war denn die Staatsbank in der DDR pleite?)

Sie haben die Demokratie abgeschrieben, und Sie ha-
ben auch abgeschrieben, einen wirklichen Ausweg aus
dieser Krise zu finden, und zwar nicht, weil es keine
Auswege gibt, sondern weil Sie alle – die Regierung und
auch die angebliche Opposition aus SPD und Grünen,
die heute wieder einmal belegt hat, dass sie mit der Re-
gierung in solchen Fragen absolut einer Meinung ist –
schlicht und ergreifend zu feige und zu devot sind, eine
Politik zu machen, die sich mit den Bankern anlegt und
die gegen die Banker gerichtet ist. Das tun Sie alle nicht.


(Beifall bei der LINKEN)


Der Weg, den Sie gehen, ist unverantwortlich; denn es
ist das hart erarbeitete Steuergeld von Millionen Men-
schen, das hier verpulvert wird, um die Ackermänner
zufriedenzustellen. Der Weg, den Sie gehen, ist ökono-
mischer Aberwitz; denn er wird am Ende sehr wahr-
scheinlich die Währungsunion sprengen. Und der Weg,
den Sie gehen, ist antieuropäisch; denn er trägt dazu bei,
das Vertrauen der Menschen in das europäische Projekt
restlos zu untergraben. Das ist das eigentliche Problem.


(Beifall bei der LINKEN)


Deswegen meine ich: Jeder, dem die europäische Idee
oder die ökonomische Vernunft irgendwie am Herzen
liegt, musste bei dieser Abstimmung gegen die Erweite-
rung des sogenannten Rettungsschirms stimmen.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1713005000

Nun hat Andrej Hunko das Wort.


Andrej Hunko (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1713005100

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich gebe

eine persönliche Erklärung zur Abstimmung zur EFSF
als jemand ab, der aus der Europastadt Aachen kommt,
der dort im Dreiländereck Belgien-Niederlande-
Deutschland aufgewachsen ist und der in der Parlamen-
tarischen Versammlung des Europarates aktiv an der eu-
ropäischen Integration beteiligt ist. Ich gebe sie auch als
Mitglied von Attac ab, einer europaweiten Organisation,
die schon sehr frühzeitig etwa die Finanztransaktion-
steuer gefordert hat.

Diese Debatte heute hat allerdings nichts mit proeuro-
päisch oder antieuropäisch zu tun, sondern sie hat etwas
damit zu tun, wer für die Kosten der Krise zahlen soll.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich habe die EFSF erstens abgelehnt, weil sie in erster
Linie ein Airbag für die Finanzindustrie sowie für die
Spekulanten und Finanzhaie ist, die aus Steuermitteln
gerettet werden sollen. Anstatt die Gläubiger an den
Kosten der Krise zu beteiligen, wird ein Mechanismus
zur Risikoabsicherung der Spekulationsgewinne, eine
dauerhafte Pipeline aus Steuergeldern in den Finanzsek-
tor, geschaffen.

Der zweite Grund, warum ich das ablehne, ist, dass
die mit dieser EFSF verknüpften Austeritätsprogramme
die Krise gerade in Griechenland weiter verschärfen
werden. Anstatt etwa in Griechenland Sozialleistungen





Andrej Hunko


(A) (C)



(D)(B)


gesamten Staatsschulden auf EU-Ebene entsprechen, so-
wie mit den extremen Leistungsbilanzunterschieden in-
die Staatsschulden durch eine kräftige Vermögensabgabe
reduziert, die deutschen Exportüberschüsse durch nach-
haltige Lohnerhöhungen ausgeglichen und die Finanz-
märkte endlich reguliert werden. All das ist in der EFSF
nicht vorgesehen.

Besonders peinlich bin ich von dem Brief des griechi-
schen Parlamentspräsidenten berührt, der uns allen vor-
gestern zugestellt wurde. Er bittet uns um Würdigung all
der Kürzungen im Sozialbereich, die er detailliert auflis-
tet: Rentenkürzungen, Kürzungen im öffentlichen Dienst
usw. Sie kennen die Liste.

Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 611;
davon

ja: 523
nein: 85
enthalten: 3

Ja

CDU/CSU

Ilse Aigner
Peter Altmaier
Peter Aumer
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck


(Reutlingen)

Manfred Behrens (Börde)

Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer

Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen


(Bönstrup)

Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer (Göttingen)

Dirk Fischer (Hamburg)

Meine Damen und Herren, zwischendurch darf ich,
damit die Ungeduld nicht zu groß wird, das von den
Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergeb-
nis der namentlichen Abstimmung zum Entwurf eines
Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Übernahme von
Gewährleistungen im Rahmen eines Europäischen Stabi-
lisierungsmechanismus, Drucksachen 17/6916, 17/7067
und 17/7130, mitteilen: abgegebene Stimmen 611. Mit
Ja haben gestimmt 523, mit Nein haben gestimmt 85,
Enthaltungen 3. Der Gesetzentwurf ist damit angenom-
men.


(KarlsruheLand)


Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Dr. Hans-Peter Friedrich


(Hof)

Michael Frieser
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Michael Glos
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund

Monika Grütters
Olav Gutting
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Ursula Heinen-Esser
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Thomas Jarzombek
nerhalb des Euro-Raums. Um die Krise zu lösen, müssen

Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1713005200

zu kürzen und öffentliches
preiszugeben, wäre in Griech
sches Aufbauprogramm, fin
teiligung, kräftige Vermögen
der überhöhten Militärausgab


(Beifall bei de Drittens lehne ich die EFS Europäischen Union eine En auch gegenüber dem griechis land ist ja die Wiege der Dem tet. Gerade jetzt in der Krise nem Mehr an Demokratie zu einer Beteiligung der Bevö wie zum Beispiel in Island wurde, wer die Kosten der Bank zahlen soll. Wir brauc keine Entdemokratisierung in (Beifall bei de Die Euro-Krise steht im Z orbitant gestiegenen privaten Eigentum dem Ausverkauf enland ein sozial-ökologi anziert durch Gläubigerbesabgaben und Reduzierung en, notwendig. r LINKEN)


F ab, weil sie innerhalb der
tdemokratisierung – gerade
chen Parlament; Griechen-
okratie in Europa – bedeu-
wäre es notwendig, zu ei-
kommen – etwa auch zu

lkerung durch Referenden
, wo darüber abgestimmt
Krise im Fall der Icesave-
hen mehr Demokratie und
der Krise.

r LINKEN)

usammenhang mit den ex-
Vermögen, die in etwa den
Ich kann diese Politik nic
auch nicht entsprechen. Im G
findet nicht in meinem Name
Fraktion Die Linke statt. Ich
derstand der griechischen Bev
Barbarei, die dort stattfindet
liche Unvernunft.


(Beifall bei de Ich möchte auch würdige schen Bewegung „¡Democrac in Zusammenarbeit mit Atta Bewegung von unten zu sch ropa, ein soziales Europa. I beim europaweiten Aktionst Europäischen Zentralbank i Das ist der Weg der direkt brauchen ein anderes Europa sonst wird uns diese EU um d Vielen Dank. (Beifall bei de ht würdigen. Ich kann ihr egenteil: Dieses Programm n und nicht im Namen der würdige hingegen den Wiölkerung gegen die soziale , und gegen die wirtschaft r LINKEN)


n, dass jetzt von der spani-
ia real YA!“ versucht wird,
c europaweit endlich eine
affen: für ein anderes Eu-
ch möchte dazu aufrufen,

ag am 15. Oktober vor der
n Frankfurt mitzumachen.
en Bürgerbeteiligung. Wir
, ein Europa, das sozial ist,
ie Ohren fliegen.

r LINKEN)





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)

Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung (Konstanz)

Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster

(Villingen Schwenningen)

Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers


(Heidelberg)

Andreas G. Lämmel
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer (Altötting)

Dr. Michael Meister
Dr. Angela Merkel
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller (Erlangen)

Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann (Bremen)

Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche (Potsdam)

Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht (Weiden)

Anita Schäfer (Saalstadt)

Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt (Fürth)

Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön (St. Wendel)

Dr. Kristina Schröder
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer

(Weil am Rhein)

Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl (Heilbronn)

Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel (Kleinsaara)

Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg (Hamburg)

Peter Weiß (Emmendingen)

Sabine Weiss (Wesel I)

Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Elisabeth Winkelmeier-

Becker
Dagmar G. Wöhrl
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew

SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Bärbel Bas
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding (Heidelberg)

Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann


(Hildesheim)

Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Martin Burkert
Petra Crone
Dr. Peter Danckert
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Sebastian Edathy
Ingo Egloff
Siegmund Ehrmann
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Sigmar Gabriel
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf (Rosenheim)

Kerstin Griese
Michael Groschek
Michael Groß
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann


(Wackernheim)

Hubertus Heil (Peine)

Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz (Essen)

Frank Hofmann (Volkach)

Dr. Eva Högl
Christel Humme
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe (Leipzig)

Fritz Rudolf Körper
Anette Kramme
Nicolette Kressl
Angelika Krüger-Leißner
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange (Backnang)

Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel (Berlin)

Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Dietmar Nietan
Manfred Nink
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Aydan Özoğuz
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth (Esslingen)

Michael Roth (Heringen)

Marlene Rupprecht


(Tuchenbach)

Anton Schaaf
Axel Schäfer (Bochum)

Bernd Scheelen
Marianne Schieder


(Schwandorf)

Werner Schieder (Weiden)

Ulla Schmidt (Aachen)

Silvia Schmidt (Eisleben)

Carsten Schneider (Erfurt)

Swen Schulz (Spandau)

Ewald Schurer
Frank Schwabe
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)

Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Uta Zapf
Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries

FDP
Christian Ahrendt
Christine Aschenberg-

Dugnus
Daniel Bahr (Münster)

Florian Bernschneider
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Klaus Breil
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Marco Buschmann
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Dr. Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Paul K. Friedhoff
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Miriam Gruß
Joachim Günther (Plauen)

Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Heiner Kamp
Michael Kauch
Dr. Lutz Knopek
Pascal Kober
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth (Kyffhäuser)

Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Sabine Leutheusser-

Schnarrenberger
Lars Lindemann
Christian Lindner
Dr. Martin Lindner (Berlin)

Michael Link (Heilbronn)

Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Horst Meierhofer
Patrick Meinhardt
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Petra Müller (Aachen)

Burkhardt Müller-Sönksen
Dr. Martin Neumann


(Lausitz)

Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto


(Frankfurt)

Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Dr. Christiane Ratjen-

Damerau
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Dr. Stefan Ruppert
Björn Sänger
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Marina Schuster
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Judith Skudelny
Dr. Hermann Otto Solms
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Dr. Rainer Stinner
Stephan Thomae
Florian Toncar
Serkan Tören
Johannes Vogel


(Lüdenscheid)

Dr. Daniel Volk
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)


BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck (Bremen)

Volker Beck (Köln)

Cornelia Behm
Birgitt Bender
Viola von Cramon-Taubadel
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Harald Ebner
Hans-Josef Fell
Dr. Thomas Gambke
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz (Herborn)

Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Ingrid Hönlinger
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Memet Kilic
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Ute Koczy
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Fritz Kuhn
Stephan Kühn
Renate Künast
Markus Kurth
Undine Kurth (Quedlinburg)

Monika Lazar
Dr. Tobias Lindner
Nicole Maisch
Agnes Malczak
Jerzy Montag
Kerstin Müller (Köln)

Beate Müller-Gemmeke
Ingrid Nestle
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann E. Ott
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth (Augsburg)

Krista Sager
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Christine Scheel
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Till Seiler
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang Strengmann-

Kuhn
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Daniela Wagner
Wolfgang Wieland
Dr. Valerie Wilms
Josef Philip Winkler

Nein

CDU/CSU
Wolfgang Bosbach
Thomas Dörflinger
Herbert Frankenhauser
Alexander Funk
Dr. Peter Gauweiler
Josef Göppel
Manfred Kolbe
Dr. Carsten Linnemann
Thomas Silberhorn
Klaus-Peter Willsch

SPD
Wolfgang Gunkel
FDP

Jens Ackermann
Frank Schäffler
Torsten Staffeldt

DIE LINKE

Jan van Aken
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Karin Binder
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm
Steffen Bockhahn
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Sevim Dağdelen
Dr. Diether Dehm
Heidrun Dittrich
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Klaus Ernst
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Diana Golze
Annette Groth
Dr. Gregor Gysi
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Inge Höger
Dr. Barbara Höll
Andrej Hunko
Ulla Jelpke
Katja Kipping
Harald Koch
Jan Korte
Jutta Krellmann
Katrin Kunert
Caren Lay
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Stefan Liebich
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Ulrich Maurer
Dorothee Menzner
Cornelia Möhring
Kornelia Möller
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Petra Pau
Jens Petermann
Richard Pitterle
Yvonne Ploetz
Ingrid Remmers
Paul Schäfer (Köln)

Michael Schlecht
Dr. Ilja Seifert
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Alexander Süßmair
Dr. Kirsten Tackmann





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


genden sind nämlich zwei Seiten einer Medaille. löhne um 4,5 Prozent senkt,

(Beifall bei de Ich habe heute diesen so abgelehnt, weil ich eine Po Profitwünschen der Banken los unterordnet. Ich sagte heu nicht den Interessen der Meh r LINKEN)


genannten Rettungsschirm
litik ablehne, die sich den
und Konzerne bedingungs-
te Nein zu einer Politik, die
rheit der Bevölkerung, son-

(Max Straubinger [CD mehr Arbeitsplätze dann werden zwar der Expor überschüsse gesteigert, dann dass die Binnennachfrage ni Land mit der höchsten Bevöl U/CSU]: Wir haben in Deutschland!)


t verbilligt und die Export-
führt das aber auch dazu,
cht steigt, und das in dem
kerungszahl in Europa.
Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler
Johanna Voß
Sahra Wagenknecht

Halina Wawzyniak
Harald Weinberg

BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Hans-Christian Ströbele


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie der Abg. Dr. Barbara Hendricks [SPD])


Wir setzen jetzt die Serie der mündlichen Erklärungen
fort. Ich erteile das Wort Kollegin Sevim Dağdelen.


(Beifall bei der LINKEN)



Sevim Dağdelen (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1713005300

Verehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren!

Ich habe heute gegen die Erweiterung des sogenannten
Euro-Rettungsschirms gestimmt, weil ich es einfach ver-
antwortungslos finde, dass jetzt schon wieder Milliarden
an Steuergeld versenkt werden, um Bankprofite und
Spekulationsgewinne zu sichern.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Erweiterung des sogenannten Euro-Rettungs-
schirms wird weder den Euro retten, noch Europa retten,
noch wird es den Menschen in Griechenland, Portugal,
Irland oder irgendwo anders helfen. Das Gegenteil ist
der Fall: Die wirtschaftlich unsinnigen und sozial unge-
rechten Kürzungsprogramme in den Krisenländern sind
Rettungsringe aus Blei, die zu noch mehr Schulden füh-
ren werden und diese Länder weiter in die Rezession
treiben werden. Das können wir ja aktuell in Griechen-
land beobachten.

Sie sagen, Sie wollen die Demokratie retten. Dabei
haben Sie heute wieder eine Politik gegen die Mehrheit
der Menschen im Land gemacht. Sie setzen heute das
Diktat der Finanzmafia um, statt den Willen der Mehr-
heit der Bevölkerung in Deutschland, die gegen die Er-
weiterung dieses Rettungsschirms ist. Zu Recht ist die
Mehrheit der Bevölkerung gegen diesen Rettungs-
schirm; denn für die mindestens 253 Milliarden Euro
Bürgschaft Deutschlands muss letztlich der Steuerzahler
geradestehen. Ich werde mich nicht daran beteiligen, we-
der heute noch morgen, dass weiterhin die kleinen Leute
für die Party der Zockerbuden und der Superreichen zah-
len sollen. Deshalb habe ich heute die Erweiterung die-
ses sogenannten Euro-Rettungsschirms abgelehnt.

Sie sagen, Sie wollen die Schulden reduzieren und ab-
bauen. Wer die Schulden aber wirklich abbauen will, der
muss auch die Vermögen reduzieren. Die Schuldenkrise
und auch der wachsende private Reichtum der Vermö-
Enthalten

CDU/CSU

Veronika Bellmann

SPD

Ottmar Schreiner

FDP

Sylvia Canel

dern vor allem denen der Banken, Spekulanten und obe-
ren Zehntausend dient.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Was für ein Unsinn!)


Ihre Solidarität gilt nur diesen Zockerbanden, der
Finanzmafia. Unsere Solidarität gilt stattdessen den
Menschen in den Ländern, die diese Krise aufgrund der
von Ihnen betriebenen deutschen Wirtschaftspolitik, die
in den letzten Jahre zu Lohndumping führte, durchleben
müssen. Unsere Solidarität gilt den Menschen, die sich
in Griechenland gegen die Kürzungsprogramme und die
Rettungsringe aus Blei, die Sie ihnen vorwerfen, erhe-
ben. Wir sind solidarisch mit den Menschen in Portugal
und Irland, die Nein sagen zu einem Europa, das unso-
zial und ungerecht ist. Deshalb habe ich heute mit Nein
gestimmt.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1713005400

Die nächste mündliche Erklärung gibt Diether Dehm

ab.


(Beifall bei der LINKEN – Hans-Michael Goldmann [FDP]: Na endlich! Singen Sie sie am besten!)



Dr. Jörg-Diether Dehm-Desoi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1713005500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich

habe heute gegen die Aufstockung der EFSF gestimmt,


(Jörg van Essen [FDP]: So eine Überraschung!)


weil mit dem Gesetzentwurf erneut gegen die großartige
Idee eines friedlichen und sozialen Europa verstoßen
wird. Mit der EFSF-Aufstockung werden nicht die Grie-
chen gerettet, sondern die Besitzer griechischer Schuld-
verschreibungen.

Die mit der EFSF verordnete Austeritätspolitik für
Griechenland hat antieuropäische Konsequenzen, übri-
gens so wie das deutsche Lohndumping, das den Export
verbilligt und zu den Überschüssen führt. Wenn man,
wie in Deutschland, innerhalb von zehn Jahren die Real-





Dr. Diether Dehm


(A) (C)



(D)(B)

Ich weiß nicht, ob Herr Brüderle noch anwesend ist.
Er verbreitet sich ja gelegentlich in Interviews darüber,
dass der Druck auf die Griechen weiter verschärft wer-
den muss. Aber richten Sie bitte den Blick auf die Kon-
sequenzen: Die Streichung von 174 000 Stellen im öf-
fentlichen Dienst bis Ende dieses Jahres, wie es die
griechische Regierung vorhat, und zwar 84 000 letztes
Jahr und 90 000 dieses Jahr, entspräche in Deutschland
dem Statistischen Bundesamt zufolge der Streichung
von 917 000 Stellen im öffentlichen Dienst.

Die Kürzung der Sozialausgaben in Griechenland, die
Sie verordnen, entspricht 1,5 Prozent des griechischen
BIP. Auf Deutschland übertragen entspräche das
131,8 Milliarden Euro, also fast einem Viertel der im
Einzelplan für Arbeit und Soziales veranschlagten Aus-
gaben.

Unter den europäischen Völkern zählen die Deut-
schen gewiss eher zu den duldsamen. Aber mit diesen
Kürzungen würden Sie auch in diesem Land ein Pulver-
fass anrühren.

Das alles geschieht, ohne die Ackermänner und Groß-
profiteure der Krise in Deutschland und die Jachtbesitzer
in Griechenland zur Steuerkasse zu bitten.


(Lachen des Abg. Hans-Michael Goldmann [FDP])


Ich denke, auch der soziale Frieden ist ein Wirtschafts-
faktor. Jedenfalls wurde das an diesem Rednerpult in der
Vergangenheit oft gesagt.

Wo der Staat seine in Art. 20 unseres Grundgesetzes
verbriefte Sozialstaatlichkeit aufgibt, verspielt er das
Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger und nährt die
Rechtspopulisten, die sich europaweit in einem einzigen
Siegeszug wähnen. Die deutsche und griechische Politik
verwalten den Mangel. Überall wird gekürzt. Aber die
europäischen Banken haben allein in diesem Jahr bereits
Dividenden in Höhe von 40 Milliarden Euro ausgeschüt-
tet.

Die Großzocker werden weder gezähmt noch regu-
liert noch gerecht zur Kasse gebeten. Eine echte Gläubi-
gerbeteiligung findet nicht statt. Bei der Deutschen Bank
ist bei einem gesamten Bilanzvolumen von 2 000 Mil-
liarden Euro nur ein hartes Eigenkapital von 30 Milliar-
den Euro vorhanden. Das entspricht nicht dem, was wir
uns von der Aufstockung des Eigenkapitals erwartet ha-
ben.

Dieser unsozialen und ungerechten Politik, die nicht
zugunsten der Opfer, sondern zugunsten der Ackermän-
ner und anderer Täter auf dem Rücken der Bürgerinnen
und Bürger ausgetragen wird, kann ich nach bestem
Wissen und Gewissen meine Stimme nicht geben.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1713005600

Die nächste mündliche Erklärung gibt Inge Höger ab.


(Beifall bei der LINKEN)


Inge Höger-Neuling (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1713005700

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich lehne

die Ausweitung und Stärkung des sogenannten EU-Ret-
tungsschirmes ab. Das Gesetz ist eine schlechte Nach-
richt für die Menschen in Europa. Es ist eine schlechte
Nachricht für die Beschäftigten in Griechenland. Sie sol-
len dank der EU-Auflagen künftig noch weniger Geld in
der Tasche haben, dafür aber länger arbeiten – wie irr-
witzig! Es ist eine schlechte Nachricht für Griechenlands
Rentnerinnen und Rentner. Auch sie sollen für eine
Krise zahlen, die sie nicht verursacht haben.

Den Beschäftigen des öffentlichen Dienstes droht nun
Arbeitslosigkeit. Und die Menschen in Griechenland, die
auf öffentliche Daseinsvorsorge angewiesen sind, sind
die Leidtragenden dieses ungerechten Krisenmanage-
ments. Ich denke zum Beispiel an kranke Menschen, die
es sich nicht leisten können, die hohen Kosten in privati-
sierten Krankenhäusern zu tragen. Der Rettungsschirm
sieht nämlich weitere Privatisierungen vor. Das ist auch
eine schlechte Nachricht für die Studierenden, die sich
keine Studiengebühren leisten können. Zweiklassenbil-
dung, Zweiklassenmedizin, Zweiklasseneuropa!

Das alles gilt letztendlich nicht nur für Griechenland,
sondern übt auch Druck auf andere EU-Länder aus. Ich
frage die Abgeordneten, die dafür gestimmt haben: Wis-
sen Sie eigentlich, was Sie da anrichten? Ich befürchte,
einige von Ihnen wissen es. Der EU-Rettungsschirm ist
eine gute Nachricht für die europäischen Eliten, eine
gute Nachricht für die Konzerne und Banken, die an
Griechenland Kredite vergeben haben, denn sie können
weiter ungehindert Geschäfte machen – ich denke da be-
sonders an die deutsche Rüstungsindustrie –, eine gute
Nachricht für Europas Spekulanten, denn sie können
weiter zocken in dem Vertrauen, dass es eine EU gibt,
die für ihren Schaden aufkommt. Zahlen müssen wieder
die kleinen Leute. Ich kann nur hoffen, dass die Proteste
und Streiks in Griechenland und anderswo so viel wie
möglich von dem verhindern, was Sie heute beschlossen
haben.


(Beifall bei der LINKEN)


Ihre Euro-Rettung ist auch eine gute Nachricht für
diejenigen, die die Menschen in Europa gegeneinander
aufbringen wollen; denn das Problem sind nicht in erster
Linie die griechischen Staatsfinanzen. Schließlich sind
andere Staaten auch hoch verschuldet. Das Problem ist
vielmehr die Finanzmarktliberalisierung, die Rot-Grün
2004 eingeführt hat. Sie lenken von dieser gescheiterten
Politik im Interesse der Ackermänner ab. Sie machen die
Griechinnen und Griechen zu Sündenböcken und geben
damit Anlass für rassistische Hetzkampagnen. Sie spie-
len damit Faschisten und Nazis in die Hände. Was das
mit Völkerverständigung, Solidarität oder europäischer
Integration zu tun haben soll, soll mir mal einer erklären.

Ich kann nur wiederholen, was in den Reihen der eu-
ropäischen Linkspartei in diesen Tagen des Öfteren ge-
sagt wird: Die EU wird entweder demokratisch, sozial
und solidarisch werden, oder sie wird nicht bestehen.


(Beifall bei der LINKEN)







(A) (C)



(D)(B)


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1713005800

Nächste persönliche Erklärung, Heidrun Dittrich.


(Beifall bei der LINKEN)



Heidrun Dittrich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1713005900

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen

und Herren! Ich stimmte gegen das Gesetz, weil ich ge-
gen Ihre Politik des Lohndumpings stimme. Diese Poli-
tik hat erst recht in die Krise geführt. Sie wird fortge-
setzt, sie wird aber keine Lösung bieten; denn das ist
keine Europarettung. Das ist ein Angriff auf die arbei-
tenden Menschen in ganz Europa. Diesem Angriff wi-
dersetzen wir uns hier als Linke.


(Beifall bei der LINKEN)


Den Griechen wurde mit den Finanzhilfen der EU ein
Kürzungsprogramm aufgezwungen. Das ist unsozial.
Die Menschen in Griechenland mussten Rentenkürzun-
gen, Erhöhungen des Renteneintrittsalters und Preiser-
höhungen im öffentlichen Nahverkehr um 30 Prozent
hinnehmen. Die Mindestlöhne wurden gesenkt und der
Kündigungsschutz gelockert. Es ist noch nicht einmal si-
cher – so hat es der griechische Finanzminister im Fern-
sehen gesagt –, ob die Löhne und Renten überhaupt noch
ausgezahlt werden können. Wenn das auch der deut-
schen Bevölkerung droht, dann werden alle aufwachen.

Ich verstehe nicht: Aus welchem Grund müssen die
Schüler, die Rentner und die Beschäftigten die Krise al-
lein bezahlen? Ich stimmte dagegen, weil ich meine,
dass die Verursacher und die Profiteure der Krise zur
Kasse gebeten werden müssen.


(Beifall bei der LINKEN)


Das sind die Banken, die Investmentfonds und die Versi-
cherungen. Es ist die Aufgabe des Deutschen Bundesta-
ges, zum Wohle des Volkes zu handeln und nicht zum
Wohle der Finanzmärkte.

Allein das Gesamtvermögen der Millionäre in Europa
– das wurde heute schon gesagt – beläuft sich auf
7,5 Billionen Euro. Dem stehen Staatsschulden in Höhe
von 10 Billionen Euro gegenüber. Da muss man nicht
groß rechnen, sondern es wird klar: Besteuert die Super-
reichen, und es ist Geld da, um die Schuldenkrise zu
überwinden.


(Beifall bei der LINKEN – Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das sollten Sie noch mal nachlesen!)


Europa besteht nicht nur aus Vorstandsmitgliedern
und Bankiers. Es besteht vor allem aus vielen Völkern.
Mein Respekt gilt den streikenden Menschen in Grie-
chenland, in Spanien und in Großbritannien, wo die Ge-
werkschaften für den 2. Oktober zur Verteidigung des
Sozialstaats aufgerufen haben.

Ich stimmte dagegen, weil die Linke für ein soziales
Europa eintritt. Ich hätte dafür gestimmt, wenn wir so-
ziale Mindeststandards eingeführt, höhere Mindestlöhne
festgelegt und das Renteneintrittsalter gesenkt hätten.
Europa kann nur funktionieren, wenn der Lebensstan-
dard verbessert wird. Ebenso wie meine Kollegin vorhin
möchte ich François Mitterand zitieren, der bereits 1973
festgestellt hat: Europa wird sozial sein, oder es wird
nicht sein.

Danke für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1713006000

Es folgt Michael Schlecht.


(Beifall bei der LINKEN)



Michael Schlecht (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1713006100

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich

habe mit Nein gestimmt, weil alle sogenannten Hilfskre-
dite mit scharfen Lohn- und Sozialkürzungen verbunden
sind, die das Leben der Menschen in Griechenland und
in anderen Ländern wie zum Beispiel in Portugal nur
noch weiter verschlechtern. Dies ist nicht nur unsozial,
sondern die betroffenen Länder werden noch weiter in
die Krise gestürzt. Deshalb habe ich mit Nein gestimmt.
Ich habe auch mit Nein gestimmt, weil diese Euro-Ret-
tung in Wirklichkeit ein Rettungsring aus Blei ist, der al-
les nur noch schlimmer macht.


(Beifall bei der LINKEN)


Wohin dies führt, kann man am brutalsten am Bei-
spiel von Griechenland sehen: 2009, als in Deutschland
die Wirtschaft um 5 Prozent einbrach, ging es Griechen-
land noch einigermaßen gut. Aber als dann Griechenland
im Jahr 2010, maßgeblich durch Intervention der deut-
schen Regierung, die ersten Schritte hin zu einer Auste-
ritätspolitik und die ersten Lohn- und Sozialkürzungen
aufgezwungen worden sind, brach das Wirtschafts-
wachstum in Griechenland um 4,5 Prozent ein. Es steht
zu befürchten, dass es im Jahr 2011 noch schlimmer
wird. Die Experten schätzen, dass das Wachstum in
Griechenland um mindestens weitere 5 Prozent ein-
bricht. Das führt dazu, dass sich die Wirtschaft Grie-
chenlands schlechter entwickelt; denn die Leute haben
kein Geld mehr, um Einkäufe zu tätigen, und die Unter-
nehmer haben weniger zu tun. Es ist vollkommen klar,
dass in einer solchen Situation die Steuereinnahmen
noch stärker zurückgehen. Dadurch ist man von dem
Ziel der Haushaltskonsolidierung und einer besseren
wirtschaftlichen Entwicklung nunmehr himmelweit ent-
fernt. Ich plädiere dafür, dass man die Lohn- und Sozial-
kürzungen in Griechenland und den anderen Ländern
stoppt und die Massenentlassungen, die jetzt diesen Län-
dern aufgebürdet werden, verhindert.

Ich habe auch deswegen gegen das Gesetz gestimmt,
weil nicht erkennbar ist, dass man dadurch dringend not-
wendige Maßnahmen auf den Weg bringt. Ich nenne als
Beispiel Aufbauhilfen für Griechenland und andere Län-
der. Das wäre wirklich notwendig; denn auch Deutsch-
land wurde nach dem Zweiten Weltkrieg geholfen. Es ist
ein Skandal, dass das nicht im Fokus der Debatte steht.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich habe auch deshalb dagegen gestimmt, weil weder
das Gesetz noch die Debatten, die wir erlebt haben, da-
von zeugen, dass auch nur annähernd ein Verständnis da-





Michael Schlecht


(A) (C)



(D)(B)

für herrscht, wo die eigentlichen Ursachen der Krise lie-
gen. Hier wird nur von der Verschuldung der
Krisenländer wie Griechenland und Portugal geredet und
so getan, als ob das deren eigene Schuld sei. Es gibt
überhaupt keinen Anhaltspunkt, dass verstanden würde,
dass die eigentlichen Ursachen dieser sogenannten Euro-
Krise in Deutschland liegen. Von den anderen vier Frak-
tionen in diesem Haus ist in den letzten zehn Jahren ins-
besondere mit der Agenda 2010 über Befristungen,
Leiharbeit, die Einführung von Minijobs und Hartz IV
ein Repressionssystem am Arbeitsmarkt eingeführt wor-
den, das dazu geführt hat, dass die Tariferosion deutlich
zugenommen hat und die Löhne in Deutschland gesun-
ken sind.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Ist Arbeitslosigkeit besser als Arbeit? – Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Das ist doch keine Erklärung mehr!)


Ich habe gegen den Gesetzentwurf gestimmt, weil
nicht erkennbar ist, dass auf dieser Grundlage irgendwel-
che Verbesserungen erreicht werden. Denn die Ursachen
des Problems bestehen darin, dass die deutschen Exporte
durch das Lohndumping immer stärker und der Binnen-
markt immer schwächer geworden sind. Dadurch konn-
ten die anderen Länder immer weniger importieren. Der
Außenhandelsüberschuss ist dramatisch auseinanderge-
gangen, und die deutschen Unternehmer haben andere
Märkte erobert. Das hat dazu geführt, dass die Verschul-
dung in den anderen Ländern dramatisch angestiegen ist.
Das deutsche Lohndumping ist also die Ursache für die
Verschuldung dieser Länder.

Ich habe gegen den Gesetzentwurf gestimmt, weil er
überhaupt keine Elemente enthält, mit denen diesem
Problem begegnet und das Ganze wieder rückgängig ge-
macht werden kann.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der LINKEN – Max Straubinger [CDU/CSU]: Das war wirklich schlecht!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1713006200

Nun Kathrin Vogler.


(Beifall bei der LINKEN)



Kathrin Vogler (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1713006300

Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Ich habe gegen die Erweiterung des soge-
nannten Euro-Rettungsschirms gestimmt. Dies habe ich
als überzeugte Europäerin getan.


(Lachen des Abg. Max Straubinger [CDU/ CSU])


Ich sage ganz klar Ja zu Europa; denn ich komme aus
der deutsch-niederländischen Grenzregion und weiß,
was Europa für uns, die wir dort leben, bedeutet. Ich
sehe, wie wir uns unseren niederländischen Nachbarin-
nen und Nachbarn annähern, wie wir den Austausch ver-
bessert haben und welche Erleichterung es für uns ist,
den Euro als gemeinsame Währung zu haben. Auch bin
ich Mitglied der Deutsch-Niederländischen Parlamen-
tariergruppe, weil es mir wichtig ist, die Beziehungen zu
vertiefen und zu pflegen.

Dieser sogenannte Rettungsschirm ist aber nicht pro-
europäisch. Er ist unsozial, ökonomisch unsinnig und ein
weiterer Schritt zur Spaltung Europas.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Auflagen, die Sie, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen, dem griechischen Volk heute verordnen wollen,
sind absolut kontraproduktiv. Statt die griechische Wirt-
schaft anzukurbeln, werden Löhne und Gehälter gekürzt.
Das Ergebnis dieser falschen Politik ist absehbar: Es
wird einen weiteren Rückgang der Wirtschaftsleistung
mit der Folge eines massiven Anstiegs der Arbeitslosig-
keit geben. Gewerkschaften rechnen schon mit 26 Pro-
zent Arbeitslosigkeit in Griechenland. In Spanien steht
eine Generation gut ausgebildeter junger Leute bereit,
denen der Einstieg in den Arbeitsmarkt vollständig ver-
schlossen ist. Das ist eine soziale Katastrophe. Daran
kann ich mich nicht beteiligen.


(Beifall bei der LINKEN)


Hinzu kommt: Die Wählerinnen und Wähler in mei-
nem Wahlkreis und auch in den benachbarten Niederlan-
den verstehen überhaupt nicht, dass die Europäische Zen-
tralbank Geld für 1,5 Prozent an Privatbanken verleiht,
die dieses Geld dann für Wucherzinsen zum Beispiel an
Griechenland weitergeben. Dabei haben die Privatbanken
überhaupt kein Risiko; denn wenn Griechenland nicht
zahlen kann, müssen die Steuerzahlerinnen und Steuer-
zahler in Europa, also die Verkäuferin bei Lidl und der
niederländische Tulpenzüchter, dieses Risiko tragen.
Deshalb ist dieser Euro-Rettungsschirm aus meiner Sicht
ein Rettungsschirm für die Banken und nicht für die Men-
schen.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich hätte zugestimmt, wenn wir die Banken mit einem
entsprechenden Programm unter öffentliche Kontrolle
bekommen hätten, wenn das Finanzsystem reguliert
worden wäre, damit Ratingagenturen und Hedgefonds
künftig nicht genauso weitermachen können wie bisher,
und wenn die Sozialleistungen und Löhne in Europa er-
höht worden wären. Dann könnte nämlich nicht nur der
Euro gerettet werden, sondern dann könnte das Projekt
Europa als soziales Friedensprojekt wieder von mehr
Menschen akzeptiert werden.

Deshalb ist es mir gerade als Europäerin wichtig, dass
dieses erfolgreiche Friedensprojekt – und das ist die Eu-
ropäische Union – nicht einer falschen Wirtschaftspoli-
tik und den Profiten der Banken sowie ihrer Aktionäre
geopfert wird. Dafür kann ich meine Stimme nicht abge-
ben.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1713006400

Nun Annette Groth.


(Beifall bei der LINKEN)







(A) (C)



(D)(B)


Annette Groth (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1713006500

Auch ich habe heute gegen den sogenannten Ret-

tungsschirm gestimmt, weil ich absolut davon überzeugt
bin, dass dieser Bleischirm weitere soziale Verwerfun-
gen nach sich ziehen und die Krise weiter verschärfen
wird.


(Beifall bei der LINKEN)


Als überzeugte Europäerin, aber auch als Internati-
onalistin kämpfe ich seit langem für ein soziales, öko-
logisches und gerechtes Europa. Die Einhaltung der
Menschenrechte und die Durchsetzung von sozialer Ge-
rechtigkeit sind dabei von zentraler Bedeutung. Diesen
Weg hat die EU seit dem Maastrichter Vertrag aufgege-
ben. Mit der Aufnahme der durch den damaligen Bundes-
finanzminister Waigel durchgesetzten Stabilitätskriterien
wurde der Weg in die Krise der EU vertraglich festge-
schrieben.

Mit dem Rettungsschirm werden die Parlamente auf
weitere Haushaltskürzungen verpflichtet. Mit dem an-
geblichen Ziel der Schuldenreduzierung werden Sozial-
leistungen, Renten und Löhne gekürzt. Massensteuern
wie die Mehrwertsteuer dagegen werden erhöht. Das
heißt, Arme und Bezieher mittlerer Einkommen werden
immer stärker belastet. Reiche bleiben außen vor. Das,
was ich hier so kritisiere, ist das neoliberale Grundkon-
zept.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir alle, glaube ich, wissen, dass mit diesen Maßnah-
men eine Schuldenreduzierung nicht möglich ist. Sie
versuchen aber, es uns glaubhaft zu machen. Eine effek-
tive Schuldenreduzierung geht nur mit effektiven Um-
schichtungen des beispiellosen Privatvermögens von
10 Billionen Dollar. Profiteure der Krise sind Kapitalbe-
sitzer, Großbanken und Hedgefondsmanager. Sie müs-
sen an der Finanzierung beteiligt werden, sonst wird das
nichts.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich habe bis heute nicht verstanden, warum die dama-
ligen Versprechungen von Frau Merkel und anderen,
Hedgefonds und andere toxische Papiere zu verbieten,
nicht eingehalten worden sind. Hätten Sie das gemacht,
wäre die Krise heute wesentlich kleiner.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich habe auch die Befürchtung, dass diese Politik der
Regierungsparteien die europafeindlichen und rechts-
populistischen Grundströmungen in einem Teil unserer
Gesellschaft noch weiter befördern wird. Damit werden
nationalistische und sozialdarwinistische Positionen ge-
stärkt. Das will ich nicht verantworten.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich will ein soziales und gerechtes Europa. Darum bin
ich solidarisch und stelle mich hinter die vielen Millio-
nen Menschen, die seit Monaten in anderen europäi-
schen Ländern auf die Straße gehen und ihren Protest ge-
gen Lohnkürzungen und Sozialkürzungen vehement
zum Ausdruck bringen.

(Beifall bei der LINKEN)


Weil ich ab und zu selbst auf der Straße protestiere,
gehe ich natürlich am 15. Oktober nach Brüssel. Ich
möchte, dass dieser europäische Aktionstag ein Riesen-
erfolg wird. Wir müssen zeigen, dass ein anderes Europa
möglich und sehr, sehr nötig ist.

Danke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1713006600

Nun Heike Hänsel.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Habt ihr sie bald alle durch?)



Heike Hänsel (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1713006700

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich

habe heute gegen die Erweiterung des Rettungsschirms
gestimmt, weil ich nicht länger zusehen will, wie die Fi-
nanzmärkte die Politik weiter vor sich hertreiben. Ich
frage mich wirklich: Wo sind wir eigentlich angekom-
men, wenn Angela Merkel frühmorgens erst einmal die
Kommentare der Ratingagenturen und die Börsenkurse
anschauen muss, bevor sie ins Kabinett geht und ihre
Politik weiterentwickelt? Das ist ein Versagen jeglicher
Demokratie.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich kann das in dieser Form nicht verantworten.

Die ganze Politik, alles, was hier heute beschlossen
wurde, wird die Umverteilung von unten nach oben vo-
rantreiben. Die Umverteilung ist eine Ursache dieser
Krise. Deswegen hilft diese Politik nicht aus der Krise
heraus; vielmehr verschärft diese Politik die Krise.


(Beifall bei der LINKEN)


Es wurde schon mehrfach angesprochen: Diese Poli-
tik gefährdet ernsthaft jeglichen Ansatz einer europäi-
schen Integration. Wir erleben in vielen Ländern, wie
rechtspopulistische Parteien und Bewegungen die Wut
und das Gefühl der Ohnmacht der Menschen zu instru-
mentalisieren versuchen. Eine Politik, die diese Ent-
wicklung ignoriert, ist verantwortungslos. Wir müssen
eine soziale Politik für die Menschen dagegenstellen.
Nur so können wir auch rechten Bewegungen eine klare
Absage erteilen.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich habe auch deswegen gegen den sogenannten Ret-
tungsschirm gestimmt, weil darin viel Geld gebunden
wird, das wir für gute, zukunftsweisende Ideen in Eu-
ropa bräuchten. Wir könnten ganz Europa auf regenera-
tive Energien umstellen. Wir könnten völlig neue Ent-
wicklungen befördern. Das dafür benötigte Geld wird
gebunden, und das steht der Zukunft Europas entgegen.
Diese Politik ist negativ und zerstörerisch, und deswe-
gen habe ich heute gegen diesen Gesetzentwurf ge-
stimmt.


(Beifall bei der LINKEN)






Heike Hänsel


(A) (C)



(D)(B)

Ich möchte, dass wir ein Europa der Menschen entwi-
ckeln und nicht ein Europa der Banken. Dieses Signal
muss von diesem Parlament ausgehen. Die Krise können
wir nur überwinden, wenn das Finanzkasino – anders
kann man es gar nicht mehr nennen – endlich geschlos-
sen wird und die Staaten sich unabhängig von Kapital-
märkten finanzieren können. Deshalb ist die Schaffung
einer Bank für öffentliche Anleihen so wichtig. Ich sage
Ihnen: Früher oder später wird es eine solche Bank ge-
ben. Wir haben letztes Jahr vor so vielen Dingen ge-
warnt, und vieles ist mittlerweile eingetreten. Ich betone:
Diese Entwicklung wird so stattfinden.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Wie bereits angesprochen wurde, werden nicht die
Verursacher und die Profiteure der Krise zur Verantwor-
tung gezogen – auch das ist ein Grund, gegen diesen
Rettungsschirm zu stimmen –, sondern das Ganze wird
auf dem Rücken der Mehrheit der Bevölkerung ausgetra-
gen.

Ich war schockiert, als ich vor einigen Wochen in
Griechenland war und dort mit vielen Menschen gespro-
chen habe. Die Lebenssituation vieler dort ist sehr
schwierig. Viele fühlen sich von dieser Politik, die auch
die Bundesregierung vorantreibt, gedemütigt. Es ist ei-
gentlich beschämend, zu sehen, dass bei der Vergangen-
heit Griechenlands, die Deutschland zu verantworten
hat, heute ausgerechnet die Bundesregierung und Angela
Merkel den Menschen in Griechenland die Politik diktie-
ren wollen. Ich wiederhole: Das ist beschämend. Deswe-
gen habe ich heute gegen den Rettungsschirm gestimmt.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich möchte mich mit den Menschen solidarisieren, die
sich gegen diese Politik wehren. Ich unterstütze die For-
derung der Griechen und Griechinnen, zum Ausdruck
gebracht auf dem Syntagma-Platz in Athen. Diese Men-
schen sagen: Wir brauchen einen umfassenden Schul-
denschnitt für Griechenland; anders wird es keine Zu-
kunft für unser Land geben. – Außerdem solidarisiere
ich mich mit den Menschen, die dahin gehend mobilisie-
ren, dass am 15. Oktober ein großer Marsch der Empör-
ten nach Brüssel stattfindet, weil sie meinen: So kann es
nicht weitergehen. – Es erschüttert die ganze Demokra-
tie in Europa, wenn wir den aktuellen Entwicklungen
nicht endlich eine Politik der Menschen entgegenstellen.
Diese Menschen machen sich auf den Weg, und das un-
terstütze ich.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1713006800

Letzte Rednerin derer, die eine mündliche Erklärung

abgeben, ist nun Kollegin Sabine Leidig.


(Beifall bei der LINKEN)



Sabine Leidig (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1713006900

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Ich habe

aus verschiedenen Gründen mit Nein gestimmt:

Erstens. Es macht mich zutiefst misstrauisch, dass die
Investmentbank Goldman Sachs derzeit empfiehlt, ge-
gen den Euro und gegen Europa zu wetten, und dass die-
selbe Investmentbank zum Beraterstab der europäischen
Regierungen gehört.


(Zuruf von der Linken: Unglaublich!)


Es macht mich zutiefst misstrauisch, dass der Chef die-
ser Bank, Alexander Dibelius, die Bundesregierung be-
rät – ein Mann, der explizit erklärt, dass er bei den Ban-
ken keinerlei Verantwortung für das Allgemeinwohl
sieht.

Ich habe mit Nein gestimmt, weil mit dieser Art der
Euro-Rettung die Allgemeinheit in Haft genommen
wird, um die Kapitalanleger zu bedienen. Die Macht der
Investmentbanken hingegen wird nicht angetastet. Es ist
nicht vorgesehen, dass große Geldvermögen abgeschöpft
werden. Keines der grundlegenden Probleme der Euro-
päischen Union und auch keines der Krisenprobleme der
Weltwirtschaft wird auf diese Art und Weise auch nur
angepackt.


(Beifall bei der LINKEN)


Im Gegenteil: Die verordneten Sparmaßnahmen werden
vor allem die kleinen Leute treffen. Wir werden in eine
Situation hineinmanövriert, die der großen Schulden-
krise der 80er-Jahre ähnlich ist, von der die lateinameri-
kanischen Länder betroffen waren. Damals hat der IWF
die Spardiktate, die Schuldknechtschaft ausgesprochen.
Dabei war völlig klar, dass damit die Masse der Bevöl-
kerung in unerträgliche Zustände gebracht wurde.

Dieselbe Linie verfolgen Sie mit den Spardiktaten,
die jetzt beschlossen worden sind; und mit dem Sixpack,
das gestern im Europäischen Parlament verabschiedet
worden ist, werden die Zustände noch massiv verschärft.
Maastricht hoch zwei wird die Situation für die Men-
schen in Europa dramatisch verschlimmern, und zwar
auch in der Bundesrepublik.


(Beifall bei der LINKEN)


An dieser Stelle möchte ich etwas sagen, was mich
wirklich sehr bewegt. Ich kann nachvollziehen, dass die
Gewerkschaften in einer bestimmten Situation hoffen
und glauben, dass es, wenn es den deutschen Unterneh-
men besser geht, wenn die Unternehmen besser durch
die Krise kommen, auch den Beschäftigten besser geht.

Ich selbst bin seit 32 Jahren Gewerkschaftsmitglied
und war zehn Jahre lang hauptamtlich tätig. In dieser
Zeit haben wir über den Pakt für Wettbewerb, Ausbil-
dung und Arbeit diskutiert, der zur Folge hatte, dass sich
die Situation der Beschäftigten durch die Stärkung der
Wettbewerbssituation der deutschen Unternehmen ins-
gesamt verschlechtert hat. Die Gewinne der DAX-Kon-
zerne platzen aus allen Nähten; sie haben in der Nachkri-
senzeit um 134 Prozent zugelegt.

Was ist davon bei den Beschäftigten angekommen?
Ich schaue meinen Kollegen an, der weiß, wovon ich
spreche. Ich glaube, dass die Gewerkschaften sich kei-
nen Gefallen tun, wenn sie auf dieselbe Weise versu-
chen, die eigenen Beschäftigten zu stützen, aber nicht er-
kennen, dass Europa nicht nur ein Europa des Friedens,
sondern auch ein Europa der Kultur ist. Das ist ganz





Sabine Leidig


(A) (C)



(D)(B)

wichtig. Europa ist ein großer Schatz. Man darf aber
nicht vergessen, dass es in Europa auch oben und unten
gibt. Die Beschäftigten in Griechenland stehen den Be-
schäftigten hier deutlich näher, wenn es um die Durch-
setzung gemeinsamer Interessen geht.


(Beifall bei der LINKEN)


Schließlich möchte ich sagen, dass nicht nur die
Linke diesen Stabilitätspakt ablehnt. Das europäische
Attac-Netzwerk – es wurde schon angesprochen –, dem
ich angehöre, appelliert an die Parlamentarierinnen und
Parlamentarier: Es ist an der Zeit, Nein zu sagen, Nein
zum Angriff auf soziale und demokratische Rechte in
Europa. Diesem Appell folge ich aus voller Überzeu-
gung.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1713007000

Damit sind wir am Ende der Liste der mündlichen Er-

klärungen von der Fraktion der Linken.

Wir kommen nunmehr zum Tagesordnungspunkt 4:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales

(11. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Anette
Kramme, Gabriele Lösekrug-Möller, Iris
Gleicke, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der SPD

Langfristige Perspektive statt sachgrundlose
Befristung

– zu dem Antrag der Abgeordneten Jutta
Krellmann, Klaus Ernst, Herbert Behrens, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Befristung von Arbeitsverhältnissen ein-
dämmen

– zu dem Antrag der Abgeordneten Brigitte
Pothmer, Beate Müller-Gemmeke, Fritz Kuhn,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Kein Sachgrund, keine Befristung – Befris-
tete Arbeitsverträge begrenzen

– Drucksachen 17/1769, 17/1968, 17/2922,
17/4180 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Gitta Connemann

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich
höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos-
sen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen
Matthias Zimmer für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Matthias Zimmer (CDU):
Rede ID: ID1713007100

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach dem

für mich persönlich manchmal sehr ermüdenden Reigen
persönlicher Erklärungen bin ich froh, dass wir jetzt wie-
der in die eigentliche Debatte einsteigen.


(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Jetzt einmal eine schwungvolle Rede, Kollege Zimmer!)


Wir diskutieren die sachgrundlose Befristung von Ar-
beitsverträgen. Wenn Parlamentarier eine Rede vorberei-
ten, schauen sie in der Regel in der Bibliothek nach, was
es zu den betreffenden Themenstellungen an Literatur
gibt. Dabei bin ich auf folgende interessante Aussage ge-
stoßen, die ich mit Erlaubnis des Präsidenten zitieren
will:

… die Möglichkeit, bis zur Dauer von zwei Jahren
befristete Arbeitsverträge abzuschließen, die nicht
durch einen sachlichen Grund gerechtfertigt sein
müssen … ist vor allem eine beschäftigungspoli-
tisch sinnvolle Alternative zur Überstundenarbeit.
Zugleich bekommen Arbeitsuchende, insbesondere
auch solche, die längere Zeit arbeitslos waren, die
Gelegenheit, wieder im Berufsleben Fuß zu fassen,
ihre Eignung und Leistungsfähigkeit zu beweisen
und damit ihre Chancen auf eine unbefristete Wei-
terbeschäftigung zu verbessern.

Das Zitat stammt aus der Antwort der Bundesregierung
auf eine Kleine Anfrage im Februar 2005, also unter
Rot-Grün.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Zur historischen Einordnung: Im Zuge des Arbeits-
marktreformgesetzes wurde zum 1. Januar 2004 die
Möglichkeit einer sachgrundlosen Befristung in den ers-
ten vier Jahren nach Unternehmensgründung für die
Dauer von bis zu vier Jahren eingeführt. Auch haben Sie
– Rot-Grün – die Altersschwelle für die erleichterte Be-
fristung Älterer drastisch gesenkt,


(Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: So ist es!)


im Jahr 2001 auf 58 Jahre und noch einmal im Jahr 2003
auf 52 Jahre. Das heißt, der Anteil der befristeten Be-
schäftigung ist vor allem durch die Weichenstellung der
Regierung Schröder kontinuierlich gestiegen. SPD und
Grüne beklagen mit ihren Anträgen die Ergebnisse ihrer
eigenen Politik.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das lässt zwei Schlussfolgerungen zu: Entweder Sie
waren sich über die Folgen Ihrer Politik nicht ganz im
Klaren; dann waren Sie zum Regieren nicht fähig. Oder
Sie wussten es, und Sie verabschieden sich jetzt von
dem, was Sie einmal als richtige Politik gepriesen haben.
Sie reden also in der Regierung anders als in der Opposi-
tion. Ich weiß ja, dass nach Karl Marx das gesellschaft-
liche Sein das Bewusstsein bestimmt, aber was sollen Ih-
nen die Menschen denn überhaupt noch glauben?

Nun zu den Anträgen selbst. Sie behaupten, dass die
Möglichkeit sachgrundloser Befristung keine positive





Dr. Matthias Zimmer


(A) (C)



(D)(B)

arbeitsmarktpolitische Wirkung habe. Das IAB hingegen
hat die sachgrundlose Befristung nicht negativ evaluiert.
Es stellt zwar eine Ambivalenz zwischen Brücken- und
Flexibilisierungsfunktion befristeter Beschäftigung fest,
kommt jedoch auch zu dem Ergebnis, dass befristet Be-
schäftigte nicht unbedingt schlechte Chancen auf eine
Entfristung ihres Arbeitsverhältnisses haben.


(Lachen des Abg. Klaus Barthel [SPD])


Wäre ausschließlich die arbeitsmarktpolitische Wirkung
der Maßstab, dürfte die sachgrundlose Befristung nicht
infrage gestellt werden.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So ist das!)


Im Übrigen ist – auch dies entnehme ich der Studie
des IAB – das subjektive Teilhabeempfinden der Men-
schen in befristeter Beschäftigung höher als das bei Ar-
beitslosigkeit und auch höher als bei denjenigen, die in
Zeitarbeit stehen. Das würde ich nicht geringschätzen.

Bestimmte Formen der Arbeit können krankmachen;
längere Arbeitslosigkeit aber macht beinahe sicher
krank, weil sie das Bewusstsein der Ausgrenzung und
der mangelnden Teilhabe forciert.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wer einmal Paul Lazarsfelds Studie über die Arbeitslo-
sen von Marienthal gelesen hat, weiß, welche verheeren-
den individuellen und auch kommunitären Wirkungen
aus der Arbeitslosigkeit erwachsen. Wer vor diesem Hin-
tergrund das Instrument befristeter Beschäftigung leicht-
fertig über Bord werfen will, handelt grob fahrlässig.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die ursprüngliche Intention des Gesetzgebers war es,
einerseits den Arbeitgebern zu ermöglichen, flexibel auf
schwankende Auftragslagen zu reagieren, und anderer-
seits Arbeitnehmern eine Alternative zur Arbeitslosig-
keit zu bieten und eine Brücke zur Dauerbeschäftigung
zu öffnen.

Problematisch wird es dann, wenn es zu Befristungs-
ketten kommt. Noch ist das Normalarbeitsverhältnis die
Regel. Allerdings nimmt die Zahl befristeter Beschäfti-
gungsverhältnisse zu.


(Klaus Barthel [SPD]: Eben!)


Die Folgen sind unter anderem bei der Lebensplanung
der Menschen zu beobachten. Die Befristung begünstigt
das Aufschieben von Lebensentscheidungen. Daher will
ich an dieser Stelle ganz klar sagen: Befristungen dürfen
nur aus gutem Grund eingesetzt werden,


(Klaus Barthel [SPD]: Also nur mit Sachgrund!)


nicht als verlängerte Probezeit, nicht als Instrument, Be-
legschaften einfacher abzubauen. Befristungen müssen
dosiert eingesetzt werden, damit das Normalarbeitsver-
hältnis nach wie vor die Regel bleibt.

Ich hoffe sehr, dass auch in der Wirtschaft ein Um-
denken vonstatten geht. In Zeiten eines Mangels an qua-
lifizierten Arbeitskräften kann man keine Loyalität zu ei-
ner Firma erwarten, die nur befristete Arbeitsverträge
anbietet. Die modernen Arbeitsnomaden mit befristeten
Verträgen werden nicht sesshaft, und sie haben nur eine
begrenzte Bindung zum Arbeitgeber. Sosehr ich den
Wunsch nach Flexibilität verstehen kann, tut sich hier
doch eine Rationalitätenfalle auf: Je mehr Flexibilität ich
in einem Unternehmen anstrebe, desto bindungsloser
sind meine Mitarbeiter. Darunter leidet nicht nur das Ar-
beitsklima, sondern auch die Arbeitseffizienz und die
Bereitschaft, für die und in der Firma Verantwortung zu
übernehmen. Dies wiederum kann betriebswirtschaftlich
massiv zu Buche schlagen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Wir haben das Thema der heutigen Debatte vor knapp
einem Jahr im Ausschuss besprochen. Damals standen
wir noch unter dem Eindruck der gerade beendeten Wirt-
schaftskrise. Heute sprechen wir von einem Mangel an
qualifizierten Arbeitskräften. Innerhalb weniger Monate
hat sich also der Referenzrahmen unserer Debatte voll-
kommen geändert.

Nicht geändert hat sich jedoch meine politische Fan-
tasie in dieser Frage. Ich stelle mir eine Arbeitswelt vor,
in der die Firmen von sich aus Wert darauf legen, quali-
fizierte Mitarbeiter zu halten, weil dies den langfristigen
Firmenzielen entspricht.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das gibt es schon!)


Ich stelle mir eine Arbeitswelt vor, in der Befristungen
nur aus gutem Grund eingesetzt werden, nicht aber, um
Probezeiten zu verlängern oder Belegschaften einfacher
abbauen zu können.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das machen die meisten Unternehmen heute schon!)


Ich stelle mir eine Arbeitswelt vor, in der gerade junge
Menschen eine sichere Arbeitsperspektive haben, die es
ihnen erlaubt, Wurzeln zu schlagen und Familien zu
gründen. Ich stelle mir vor, dass die SPD einmal zu dem
steht, was sie gemacht hat;


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Der letzte Punkt wird schwierig! Bei den anderen sieht es schon gut aus!)


aber zumindest das ist nur sehr schwer vorstellbar.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1713007200

Das Wort hat Klaus Barthel für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Klaus Barthel (SPD):
Rede ID: ID1713007300

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Erst einmal sage ich an die Adresse der Linken: Ich weiß
nicht, ob Sie uns einen Gefallen damit getan haben, hier
eine Stunde lang Erklärungen zur Abstimmung abzuge-
ben; denn damit haben Sie dafür gesorgt, dass das
Thema der Befristung von Arbeitsverhältnissen, das
viele Menschen bei uns quält, aus der Kernzeit herausge-





Klaus Barthel


(A) (C)



(D)(B)

schoben wurde, ohne dass die letzte Stunde mit Ihren Er-
klärungen einen großen Erkenntnisgewinn gebracht
hätte.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Sebastian Blumenthal [FDP] – Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Stimmt doch überhaupt nicht! Es ist doch erst Mittagszeit!)


Eigentlich steht in den Anträgen, die vorliegen, genug
zu den befristeten Arbeitsverhältnissen. Es gibt genü-
gend Gründe, die Befristung gesetzlich zurückzudrängen
und vor allen Dingen die sachgrundlose Befristung abzu-
schaffen. Denn wir haben jetzt ein Vierteljahrhundert Er-
fahrungen mit befristeten Arbeitsverhältnissen gesam-
melt und wissen: Sie schaffen keinen einzigen
zusätzlichen Arbeitsplatz. Sie sind ein Mittel, die Men-
schen unter Druck zu setzen und die Würde und den
Wert der Arbeit zu mindern. Vor allen Dingen sind sie
keine Brücke in den Arbeitsmarkt, in eine feste Beschäf-
tigung. Vielmehr zeigt die Ausweitung der sachgrund-
losen Befristung über alle Krisen und Aufschwünge hin-
weg, dass sie neben der Leiharbeit, den Minijobs, den
Praktika und der Niedriglohnbeschäftigung eine der vie-
len Formen der Flexibilisierung von Arbeit darstellt,


(Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Wer hat das alles denn eingeführt?)


die dazu führen, dass sichere Arbeitsverhältnisse – also
gute Arbeit – in prekäre Arbeitsverhältnisse – also in un-
sichere, schlechter bezahlte Arbeit – umgewandelt wer-
den. Das ist alles, was die sachgrundlose Befristung in
den letzten 25 Jahren bewirkt hat, und daraus müssen
wir alle hier Lehren ziehen.

Eines will ich ganz deutlich sagen – ich kenne die
Debatten der letzten Monate; Herr Zimmer hat diesen
Punkt ebenfalls angesprochen –: Auch wir Sozialdemo-
kraten ziehen solche Lehren. Ich sage das auch, um die
Antwort auf entsprechende Redebeiträge, die noch kom-
men werden, vorwegzunehmen. Zur Geschichte der be-
fristeten Arbeitsverhältnisse seit 1985 ist in unserem
Antrag – man kann das nachlesen – genug gesagt, auch
zu unserer Verantwortung. Die Frage ist heute doch nicht
mehr, wer wann was warum gemacht hat; darüber haben
wir uns längst ausgetauscht und tun das immer wieder.
Heute ist die Frage interessant: Was lernen wir daraus?
Was tun wir?


(Beifall der Abg. Gabriele Hiller-Ohm [SPD])


Keines der Versprechen der Neoliberalen, der Arbeit-
geberverbände und der Gutgläubigen hat sich erfüllt.
Das sieht man zum Beispiel bei den älteren Arbeitneh-
merinnen und Arbeitnehmern, die nach geltendem Recht
besonders einfach in den Genuss sachgrundloser Befris-
tung der Beschäftigung kommen sollen; ausgerechnet
bei den Älteren gibt es die Möglichkeit der erweiterten
Befristung, kombiniert mit Zuschüssen, Subventionen
und Erleichterungen, die sogenannte Einstellungshemm-
nisse beseitigen sollen. Das Ergebnis ist: Selbst während
des Aufschwungs in den Jahren 2010 und 2011, während
des „Beschäftigungswunders“, haben die Unternehmen
davon kaum Gebrauch gemacht. Trotz allen Fachkräfte-
mangels und aller Kampagnen für über 55-Jährige ist
nicht nur der Anteil der Älteren an den Arbeitslosen und
den Langzeitarbeitslosen gestiegen, sondern auch die ab-
solute Zahl der älteren Arbeitslosen. Das muss man sich
einmal auf der Zunge zergehen lassen, wenn man über
befristete Beschäftigung als Brücke in den Arbeitsmarkt
redet. Es gibt also keinerlei positive Sachgründe für die
sachgrundlose Befristung, weder bei den Jungen noch
bei den Älteren.

Es gibt nicht nur arbeitsmarkt- und sozialpolitische
Gründe, nicht nur Gründe, die etwas mit Würde und An-
stand zu tun haben, sondern es gibt auch handfeste wirt-
schaftliche Gründe, die gegen die massenhafte Befris-
tung sprechen. Die haben natürlich etwas mit dem
Thema zu tun, mit dem wir uns eben beschäftigt haben:
der Situation zum Beispiel in der europäischen Wirt-
schaft. Befristete Beschäftigung, Leiharbeit, Nied-
riglöhne, die ganze Verwilderung der Sitten auf dem Ar-
beitsmarkt haben die Krise selbstverständlich mit
verursacht. Wer ständig Angst um seine Weiterbeschäfti-
gung haben muss, wer daran gehindert wird, Betriebsrat
zu werden oder Betriebsräte zu wählen, wer nicht weiß,
wie er in den nächsten Monaten seine Existenz finanzie-
ren soll, der befindet sich nicht nur in einem würdelosen
Zustand, sondern er muss auch alle Zumutungen akzep-
tieren.

Derzeit sind fast die Hälfte aller neu abgeschlossenen
Arbeitsverhältnisse befristet. Das drückt das Selbstbe-
wusstsein, die Löhne und wirkt sich negativ auf die Ar-
beitsbedingungen aus. Das hat – die Zahlen zeigen es –
ökonomische Folgen: Nur noch die Hälfte der Beschäf-
tigten steht unter dem Schutz von Tarifverträgen, in im-
mer mehr Betrieben gibt es keinen Betriebsrat mehr, und
der Niedriglohnsektor weitet sich aus. Befristete Verhält-
nisse spielen dabei eine entscheidende Rolle.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das alles führt dazu, dass die Nettoeinkommen der Ar-
beitnehmer seit 20 Jahren real stagnieren, zeitweise so-
gar zurückgehen. Die Lohnquote sinkt, das Geld fehlt
– weil die Sozialbeiträge ja auch zurückgehen – im So-
zialstaat, was zu Kürzungen von sozialen Leistungen
führt. Alles zusammen bewirkt einen Rückgang der
Massenkaufkraft. Das Geld fließt auf die internationalen
Finanzmärkte, mit der Folge, dass die Reichen immer
reicher werden und die Mitte der Gesellschaft schwin-
det.

Was passiert dann? Dann entsteht der Stoff, aus dem
die Spekulation und die Krisen sind. Deutschland war
bei der Umverteilung leider besonders erfolgreich. Nir-
gendwo in den Industrieländern, außer vielleicht in den
USA, war die Umverteilung so massiv, sind die Löhne
und Lohnstückkosten so sehr zurückgeblieben und die
Millionäre so viel reicher geworden wie in Deutschland.
Die Unternehmen haben im Durchschnitt der letzten
zehn Jahre 130 Milliarden Euro pro Jahr mehr erlöst, als
im Inland verbraucht worden sind. Jeder Cent von diesen
130 Milliarden Euro – in den letzten elf Jahren mehr als
1,5 Billionen Euro – wäre in den Händen der Arbeitneh-
merinnen und Arbeitnehmer und ihrer Familien, der





Klaus Barthel


(A) (C)



(D)(B)

Niedriglöhner, der Rentner und in den öffentlichen
Haushalten besser aufgehoben gewesen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


All das hat erhebliche Auswirkungen auf die Tarifab-
schlüsse und auf die Kampfkraft der Gewerkschaften.
Erst wenn wieder Recht, Ordnung, Anstand und Würde
durchgesetzt sind, erst wenn endlich die sachgrundlose
Befristung abgeschafft, Leiharbeit neu geregelt und der
Mindestlohn gesetzlich durchgesetzt ist, kann es mit den
Löhnen wieder bergauf gehen. Erst wenn es mit den
Löhnen wieder bergauf geht, wird auch die Binnennach-
frage wieder steigen. Dann werden die Ursachen der Fi-
nanz- und Wirtschaftskrise bekämpft, und erst dann kön-
nen wir die Schuldenberge abbauen. So herum wird ein
Schuh draus.


(Beifall bei der SPD – Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Erst produziert ihr was, dann muss es wieder abgeschafft werden!)


Allen, die heute das Lied von Flexibilisierung und
Wettbewerbsfähigkeit singen – auch Sie haben das ja ge-
tan –,


(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Das haben wir von euch gelernt!)


möchte ich Folgendes sagen: Sie verwehren den Men-
schen nicht nur einen sicheren Arbeitsplatz, sondern Sie
erweisen auch der Wirtschaft einen Bärendienst. Die
Zahl der psychischen Erkrankungen nimmt zu, und die
Arbeitswelt wird, so sagt die IG Metall jetzt, immer
mehr zu einer „Gefahrenzone“ für die Beschäftigten.

Herr Zimmer, Sie haben es doch eben selber am
Schluss zugegeben. Das sind genau die Sonntagsreden,
in denen beklagt wird, dass die jungen Leute nicht mehr
verwurzelt sind, keine Familie mehr gründen und nicht
mehr ehrenamtlich tätig sind. Dann müssen Sie aber
auch endlich die Konsequenzen daraus ziehen und auf
dem Arbeitsmarkt wieder Recht und Ordnung schaffen.
Sie würden einen guten Anfang machen, wenn Sie Ihren
Koalitionsvertrag, zumindest in diesem Punkt, in die
Tonne schmeißen und die sachgrundlose Befristung end-
lich wieder abschaffen würden, anstatt zuzuschauen, wie
das Bundesarbeitsgericht die Möglichkeiten dafür immer
mehr erweitert.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1713007400

Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner in un-

serer Debatte ist für die Fraktion der FDP unser Kollege
Dr. Heinrich Kolb. Bitte schön, Kollege Heinrich Kolb.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1713007500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der

Kollege Barthel hat ein tiefschwarzes – man könnte auch
sagen: ein dunkeldunkelrotes – Bild des deutschen Ar-
beitsmarktes gezeichnet.


(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Es gibt keinen Übergang von dunkelrot zu tiefschwarz!)


Gott sei Dank sieht die Realität anders aus.

Die Bundesagentur hat heute die Zahlen für den Mo-
nat September bekannt gegeben. Das ist wirklich eine
einzigartige Erfolgsstory, die auch in diesem Monat fort-
geschrieben worden ist.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Klaus Barthel [SPD]: Und das alles wegen der Befristungen, oder?)


Wir haben jetzt weniger als 2,8 Millionen Arbeitslose. Das
sind 141 000 weniger als im Vormonat und 231 000 weni-
ger als noch vor einem Jahr. Das heißt, 231 000 Menschen
weniger sind arbeitslos. Das sind 231 000 Menschen mehr,
die einen Arbeitsplatz haben, denen die Teilhabe am Er-
werbsleben ermöglicht wird, und zwar dank der Politik
dieser schwarz-gelben Bundesregierung.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU – Klaus Barthel [SPD]: Durch befristete Arbeitsverhältnisse!)


Wir haben 41,3 Millionen Erwerbstätige. Das sind
515 000 mehr als im August des Vorjahres. Wir haben
28,36 Millionen sozialversicherungspflichtige Beschäf-
tigungsverhältnisse. Das sind 672 000 mehr als noch vor
einem Jahr. Das ist ein unglaublicher Anstieg, den wir zu
verzeichnen haben.

Das führt übrigens nicht nur dazu, dass sich die Steu-
erkassen füllen, sondern auch dazu, dass sich die Lage
der Sozialversicherungen stabilisiert, Herr Kollege
Barthel. Das gilt zum Beispiel für die Kasse der Bundes-
agentur für Arbeit in Nürnberg. Deswegen vergießen Sie
sicherlich keine Krokodilstränen, was im Übrigen das
Leitmotiv Ihrer Rede war.


(Klaus Barthel [SPD]: Und dann braucht sie 12 Milliarden Subventionen für Aufstocker!)


Warum sind diese Erfolge möglich? Weil wir nicht
wie Sie unsere Meinung geändert haben. Als Sie regiert
haben, haben Sie das noch anders gesehen. Man muss
das ja hier einmal laut sagen: Das Teilzeit- und Befris-
tungsgesetz ist in der heutigen Fassung von Rot-Grün
verabschiedet worden. Damals haben Sie das Hohelied
der Flexibilität gesungen, und heute wollen Sie mit all-
dem nichts mehr zu tun haben. So geht das nicht. Wir
stehen weiter für Flexibilität.


(Beifall der Abg. Gitta Connemann [CDU/ CSU])


Wir halten das für richtig, und der Erfolg gibt uns recht.
Die Hälfte der entstandenen Stellen sind unbefristete
Vollzeitstellen; die Hälfte der Beschäftigungsverhält-
nisse sind befristet. Ein Viertel, also die Hälfte der
Hälfte, ist sachgrundlos befristet. Die SPD sagt: Wir
wollen auf die sachgrundlose Befristung verzichten. Die
Linken sagen: Wir wollen überhaupt keine Befristung





Dr. Heinrich L. Kolb


(A) (C)



(D)(B)

mehr. Und die Grünen schließen sich, wenn ich das rich-
tig gelesen habe, der Meinung der Linken an.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein! Wir wollen die sachgrundlose Befristung abschaffen!)


Sie wären bereit, auf ein Viertel bzw. die Hälfte der
heute neu entstehenden Arbeitsverhältnisse zu verzich-
ten.


(Klaus Barthel [SPD]: So ein Quatsch!)


Das ist die Wahrheit. Wir wollen, dass auch künftig
Menschen eine Beschäftigungschance haben, mit Befris-
tung, sachgrundlos und auch mit Sachgrund.


(Klaus Barthel [SPD]: Sie hätten so auch einen Arbeitsplatz, weil sie gebraucht werden!)


– Herr Kollege Barthel, Sie machen manchmal Milch-
mädchenrechnungen auf. Ich will Ihnen ein Beispiel aus
unserem Themenfeld nennen, den Mindestlohn. Nach ei-
ner Prognos-Studie wären alle Probleme gelöst, wenn
wir in Deutschland einen Mindestlohn von 8,50 Euro
einführen würden. Dann würden die Einnahmen der So-
zialversicherungen sprudeln. Dann wäre alles toll. Schla-
raffenland! Diese Studie basiert auf einer Annahme:
Man geht davon aus, dass die Beschäftigungseffekte der
Einführung eines Mindestlohns gleich null wären. Das
ist in der Praxis aber nicht zu erwarten.

Sie gehen von Folgendem aus: Auch wenn wir heute
die Befristungsmöglichkeiten streichen, würde in glei-
chem Umfang eingestellt werden. Aber das wird nicht
funktionieren. Ich habe Ihnen das schon vor einem Jahr
gesagt, als wir uns in der Frühphase des Aufschwungs
befanden. Wenn Unternehmen die Zukunft nicht ab-
schätzen können, stellen sie vernünftigerweise – das
würden Sie, wenn Sie Unternehmer wären, auch nicht
anders handhaben – befristet ein. Auch heute, ein Jahr
später – wir sind über die Spitze des Aufschwungs mög-
licherweise schon hinweg; jedenfalls sind die Zeiten un-
sicherer geworden –, finde ich es noch gut, dass Unter-
nehmen die Möglichkeit haben, befristet einzustellen.
Das ist besser, als wenn sie überhaupt nicht einstellen,
sondern versuchen, die Aufträge mit der bestehenden
Belegschaft und mithilfe von Überstunden abzuarbeiten.

Uns geht es darum, möglichst viele Menschen in Be-
schäftigung zu bringen. Dabei sind wir erfolgreich. Wir
lassen uns auch von Ihnen nicht beirren. Wir werden
weiter versuchen, möglichst viele Menschen in Arbeit zu
bringen. Dabei werden wir die volle Breite, den gesam-
ten Mix an Beschäftigungsformen, die uns zur Verfü-
gung stehen, nutzen: Vollzeit wie Teilzeit, befristet wie
unbefristet, Zeitarbeit, Mini- und Midijobs.

Sie wollen Rosinenpickerei betreiben. Aber damit
sind die Erfolge am Arbeitsmarkt, die wir derzeit erfreu-
licherweise in Deutschland haben, nicht zu erreichen.
Das unterscheidet uns von Ihnen. Im Interesse der Men-
schen, die arbeitslos sind und einen Eintritt in den Ar-
beitsmarkt suchen, werden wir weiter die erfolgreiche
Politik dieser Bundesregierung fortsetzen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1713007600

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Kolb. – Jetzt für die

Fraktion Die Linke unser Kollege Klaus Ernst. Bitte
schön, Kollege Ernst.


(Beifall bei der LINKEN)



Klaus Ernst (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1713007700

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Wir haben gerade wieder eine Rede gehört, Herr
Dr. Kolb, die das Ziel der FDP klar definiert. Sie wollen
eine Deregulierung der Arbeitsmärkte,


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das Wort „Deregulierung“ habe ich nicht in den Mund genommen!)


um die Löhne zu senken; denn Sie wissen, Herr Dr. Kolb
– das unterstelle ich Ihnen jetzt einfach einmal –, dass
bei befristet Beschäftigten die Angst, nach der Befris-
tung nicht übernommen zu werden, dazu führt, dass die
Betroffenen bereit sind, für weniger Lohn zu arbeiten,
auch einmal eine Überstunde ohne Bezahlung zu ma-
chen oder längere Arbeitszeiten zu akzeptieren. Sie sind
bereit, auch Demütigungen am Arbeitsplatz hinzuneh-
men. Wenn Sie hier der Befristung das Wort reden, zeigt
das: Sie sind mit diesen Verhältnissen einverstanden.
Das ist der Grund dafür, dass die FDP bei den Umfragen
so schlecht dasteht, Herr Kolb, und das mit Recht, um
das einmal in aller Klarheit zu sagen.


(Beifall bei der LINKEN – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist die Realität!)


Nahezu jeder Zweite – fast 50 Prozent – derjenigen,
die zurzeit neu eingestellt werden, wird nur noch befris-
tet eingestellt. Ich habe auch einmal etwas Anständiges
gelernt, nämlich Elektromechaniker.


(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Wären Sie es besser geblieben!)


Das ist schon eine Zeit her. Es war damals völlig selbst-
verständlich, dass man nach der Ausbildung in dem Be-
ruf, den man erlernt hat, übernommen wurde. Da ist über
die Frage einer Befristung nicht einmal diskutiert wor-
den. War das damals eigentlich eine schlechtere Situa-
tion für die Menschen, oder war das eine bessere Situa-
tion? Wenn Sie so tun, Herr Kolb, als sei die Situation
jetzt besser, dann verkennen Sie, dass von den 2,7 Mil-
lionen, die gegenwärtig einen befristeten Arbeitsvertrag
haben, nur 2,5 Prozent sagen: Ja, wir sind damit einver-
standen, dass das befristet ist. – Die überwältigende
Mehrheit der Betroffenen möchte eine ganz normale, un-
befristete Beschäftigung.

Diejenigen, die nicht über eine unbefristete Beschäfti-
gung verfügen, finden eine ganz andere Situation in ih-
rem Leben vor. Haben Sie schon einmal versucht, zum
Beispiel mit einem 21-, 22-Jährigen zu reden, der nur ei-
nen befristeten Arbeitsvertrag hat und einen Kredit ha-
ben möchte, weil er möglicherweise eine Familie grün-
den will? Was glauben Sie, was die Bank zu dem sagt?
Oder stellen Sie sich vor, er sucht eine Wohnung. Der
Vermieter fragt: Wo schaffst Du denn? – In der und der
Firma. – Bist du da unbefristet beschäftigt? – Sagt der:





Klaus Ernst


(A) (C)



(D)(B)

Für ein halbes Jahr oder für ein Jahr. – Glauben Sie, dass
der dann die Wohnung kriegt, wenn ein anderer kommt,
der einer unbefristeten Arbeit nachgeht? Was glauben
Sie eigentlich, wie es darum bestellt ist, eine Familie zu
gründen, wenn die Menschen überhaupt keine Perspek-
tive, keine Zukunftssicherheit haben, wenn sie nicht wis-
sen, wie es mit ihnen nach einem Jahr, nach eineinhalb
oder nach zwei Jahren weitergeht, weil sie nur noch be-
fristete Jobs haben? Mit der Position, die Sie hier vertre-
ten, Herr Dr. Kolb, gefährden Sie die Zukunftsperspek-
tive insbesondere der jungen Leute, und das ist ein
Skandal. Ich sage in aller Klarheit: Das ist ein Skandal.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Und dann über den Geburtenrückgang schwadronieren!)


Ich sage Ihnen auch: Insbesondere die Jungen kom-
men in ganz hohem Maße nur noch in befristete Arbeits-
verhältnisse. Die IG Metall hat 2009 festgestellt, dass
40 Prozent der bis 24-Jährigen nur befristete Arbeitsver-
träge haben. Das ist ein ungeheuerlicher Zustand.

Meine Damen und Herren, Herr Dr. Kolb, ich möchte
versuchen, Ihnen das an einem sehr einfachen und ei-
gentlich sehr nachvollziehbaren Punkt deutlich zu ma-
chen. Arbeit hat auch etwas mit Würde zu tun.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist richtig! Arbeitslosigkeit ist aber eine schlechte Alternative!)


Würde ist dann gegeben, wenn man in einigermaßen
abgesicherten Verhältnissen lebt und nicht Freiwild für
den Arbeitgeber ist, der ohne Kündigungsschutz einen
befristet Eingestellten nach Ablauf der Befristung wie-
der aus dem Betrieb entfernen kann. Es hat etwas mit
Würde zu tun, dass man sozial abgesichert ist.


(Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


– Ich glaube, ich lasse es einmal zu.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1713007800

Dann ist die Zwischenfrage schon erlaubt. – Bitte

schön, Herr Kollege Kolb. – Ich stoppe auch die Zeit,
damit nichts angerechnet wird. – Bitte schön.


Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1713007900

Ihre Redezeit drohte zu Ende zu gehen. Deswegen,

glaube ich, kommt Ihnen die Frage ganz recht, Kollege
Ernst.


Klaus Ernst (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1713008000

Ich weiß, dass Sie mich mögen, Herr Dr. Kolb.


Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1713008100

Wir fragen uns ja durchaus gerne einmal zu wechseln-

den Zeitpunkten. Meine Frage ist folgende. Sie sagen,
dass Arbeit etwas mit Würde zu tun hat.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Richtig!)

Würden Sie mir recht geben, dass es würdevoller ist,
wenn ein Mensch in Arbeit ist statt arbeitslos?


(Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Und dann? – Klaus Barthel [SPD]: Ist das die Alternative? – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist eine Frage der Qualität der Arbeit!)


Wissen Sie, dass das IAB – das ist nicht das Zentralor-
gan der FDP, sondern ein anerkanntes Institut – uns ge-
sagt hat, dass jede zweite befristete Stelle in ein unbe-
fristetes Arbeitsverhältnis mündet?


(Klaus Barthel [SPD]: Warum nicht gleich?)


Würden Sie mir vor diesem Hintergrund recht geben,
dass es für die Würde der Betroffenen – da reden wir
wirklich über jeden einzelnen Fall – besser ist, sich aus
der Arbeitslosigkeit zunächst mit einem befristeten Ar-
beitsverhältnis, von denen 50 Prozent in ein unbefriste-
tes Arbeitsverhältnis übergehen, zu befreien? Ich bin der
Meinung: Wenn die Alternative Arbeitslosigkeit ist, ist
das eindeutig der bessere und würdevollere Weg.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist ja nicht die Alternative!)



Klaus Ernst (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1713008200

Diese Alternative, die Sie darstellen, gibt es nur des-

halb, weil der Gesetzgeber bis jetzt nicht geregelt hat,
dass solche Befristungen ohne Grund nicht möglich
sind.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: So ist es!)


Wäre die Befristung ohne Grund nicht möglich, müsste
sich der Arbeitgeber, der jemanden einstellt, überlegen:
Will ich, dass die Tätigkeit verrichtet wird, oder nicht?
Wenn er will, dass sie verrichtet wird, muss er jemanden
einstellen. Wenn die gesetzlichen Regelungen stimmen,
muss er unbefristet einstellen. Deshalb sagen wir: Wir
wollen, dass die sachgrundlose Befristung verboten
wird.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ein Weiteres. Herr Dr. Kolb, es ist geradezu schön,
dass Sie diesen Punkt ansprechen. Wenn Sie sagen, dass
es würdevoller ist, eine Arbeit zu haben, frage ich: Ist es
vielleicht auch würdevoll, eine bestimmte Arbeit unter
bestimmten Bedingungen nicht machen zu müssen?
Wenn Sie die Auffassung vertreten, dass jede Arbeit,
egal welche – das ist der Punkt –, immer würdevoller ist
als nicht zu arbeiten


(Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]: Das hat er nicht gesagt!)


– tut mir leid, das haben Sie gerade gesagt, Herr
Dr. Kolb –,


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Es wird in Deutschland niemand in Handschellen in ein Unternehmen geführt! Die Menschen gehen alle freiwillig zur Arbeit!)






Klaus Ernst


(A) (C)



(D)(B)

dann sage ich Ihnen: Wenn es tatsächlich so ist, dass jede
Arbeit sinnvoller und würdevoller ist als nicht zu arbei-
ten, dann sagen Sie damit, dass die Sklaven im alten
Rom würdevolle Arbeit geleistet haben. Das haben sie
aber nicht.


(Beifall bei der LINKEN)


Sie haben nicht einmal Lohn bekommen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nein! Die Leute gehen freiwillig und erhobenen Hauptes zur Arbeit!)


– Herr Dr. Kolb, jetzt bin ich dran; Sie können mir gerne
noch eine Zwischenfrage stellen. Ich würde sie auch be-
antworten.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das wäre zu viel des Guten!)


Mit Ihrer Position sagen Sie Folgendes: Es ist in Ord-
nung, weil auch die Sklaven im alten Rom gearbeitet ha-
ben. Sie haben zwar überhaupt kein Geld bekommen,
aber es war gut, dass sie Arbeit hatten. Denn das ist bes-
ser, als keine Arbeit zu haben.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nein! Nein!)


– Ich bin noch nicht ganz fertig. – Herr Dr. Kolb, ich
sage Ihnen: Es ist sinnvoll, dass wir Arbeit so organisie-
ren, dass sie würdevoll ist. Sie zeigen dauernd eine Al-
ternative auf, die es in der Realität so nicht gibt.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Sozial ist, was Würde schafft, sozial ist nicht, was Arbeit schafft!)


Herr Dr. Kolb, wir wollen, dass dies nicht weiter so
stattfindet. Ich zitiere jetzt den Vorsitzenden des DGB,
Michael Sommer. Es sagte – es müsste uns allen hier zu
denken geben, dass der Vorsitzende des DGB das sagt –:
Inzwischen haben wir in Deutschland den Zustand, dass
Arbeit so billig ist wie Dreck.

Dazu sage ich Ihnen: Das hat damit zu tun, dass wir
Arbeit nicht vernünftig reguliert haben. Zur Regulierung
der Arbeit gehört, dass wir die Regeln wieder so gestal-
ten, dass die Menschen tatsächlich würdevolle Arbeit er-
halten. Dazu brauchen sie eine unbefristete Beschäfti-
gung. Wenn sie dann tatsächlich nicht beschäftigt
werden können, Herr Dr. Kolb, dann müssen sie eben
das Recht in Anspruch nehmen können, zum Beispiel
eine Kündigungsschutzklage zu führen. Sie wollen den
Menschen, die dann nicht mehr gebraucht werden, das
Recht nehmen, eine Kündigung vom Arbeitsgericht
überprüfen zu lassen. Letztendlich heißt Befristung:
Ausschluss der Möglichkeit, eine Kündigung vom Ar-
beitsgericht überprüfen zu lassen. Das wollen Sie. Diese
liberale Position ist auch ein Grund, warum Sie zurzeit
in den Umfragen nicht besonders gut dastehen.

Zum Schluss möchte ich darstellen, zu was Ihre Poli-
tik führt: Bei VW Salzgitter sind von 7 000 Beschäftig-
ten 1 100 nur noch in befristeten Beschäftigungsver-
hältnissen, bei Siemens in Bad Neustadt sind von
2 500 Beschäftigten 450 nur noch in befristeten Be-
schäftigungsverhältnissen, bei der IB GmbH sind von
2 000 Beschäftigten annähernd die Hälfte nur noch in
befristeten Arbeitsverhältnissen. Sie machen den Aus-
nahmetatbestand, dass man jemanden für einen kurzen
Zeitraum einstellen kann, weil es dafür einen sachlichen
Grund gibt, zur Regel. Wir wollen – da sind wir uns in
der Opposition, glaube ich, alle einig – wieder Regulie-
rung auf dem Arbeitsmarkt und kein Wildwest à la FDP.

Danke für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1713008300

Vielen Dank, Herr Kollege Ernst. – Bitte schön, Frau

Kollegin Ernstberger.


Petra Ernstberger (SPD):
Rede ID: ID1713008400

Herr Präsident, im Namen meiner Fraktion möchte

ich die Herbeizitierung der Ministerin beantragen, da es
sich um ein existenzielles und wichtiges Thema für die
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer handelt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Im Vorfeld des G-20-Treffens halte ich es für angemes-
sen, dass die Ministerin hier im Plenarsaal erscheint.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1713008500

Zur Geschäftsordnung der Herr Kollege Kaster.


Bernhard Kaster (CDU):
Rede ID: ID1713008600

Wir hatten eine angeregte und inhaltsreiche Debatte.

Die Regierungsbank war bzw. ist durch Staatssekretäre
vertreten.


(Lachen bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Ja, „war“! Sie war vertreten!)


Ich denke, wenn es Ihnen mit diesem Thema ernst ist,
dann sollten wir mit der gebotenen Sachlichkeit debattie-
ren. Sie sollten hier aber keine Geschäftsordnungskaspe-
reien machen.


(Petra Ernstberger [SPD]: Na, na!)


Wir werden einen solchen Antrag unsererseits ablehnen.


(Petra Ernstberger [SPD]: Dann stimmen wir ab! – Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Dann müssen wir abstimmen!)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1713008700

Ich will nur noch geklärt haben, ob die Ministerin

überhaupt erreichbar ist


(Widerspruch bei der SPD – Klaus Barthel [SPD]: Das stellen wir nachher fest!)


oder ob sie entschuldigt ist.





Vizepräsident Eduard Oswald


(A) (C)



(D)(B)


(Petra Ernstberger [SPD]: Nein! Sie war doch da! – Weiterer Zuruf von der SPD: Entschuldigt ist sie nicht! – Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Ach, was soll denn das? Der Staatssekretär ist doch da!)


– Sie ist also nicht entschuldigt.

Herr Kollege Kolb zur Geschäftsordnung.


(Petra Ernstberger [SPD]: Wir wollen abstimmen! – Weiterer Zuruf von der SPD: Na, Herr Kolb, habt ihr jetzt rumtelefoniert?)



Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1713008800

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich

finde, dass der bisherige Verlauf der Debatte gezeigt hat,
dass wir unsere Argumente ausgetauscht haben.


(Petra Ernstberger [SPD]: Das ist Zeitschinderei! – Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Also, Herr Kolb, was wollen Sie sagen?)


– Frau Kollegin Pothmer, hören Sie mir doch erst einmal
zu.


(Petra Ernstberger [SPD]: Wir wollen abstimmen!)


Ich stelle fest, dass das Ministerium in der Person
des Parlamentarischen Staatssekretärs Hans-Joachim
Fuchtel, eines ebenso beliebten wie kompetenten Kolle-
gen,


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Oh! Oh! Oh! – Klaus Barthel [SPD]: Wer ist denn das?)


hier vertreten ist. Ich stelle auch fest, dass im bisherigen
Verlauf der Debatte das Bundesministerium für Arbeit
und Soziales und auch die Bundesministerin für Arbeit
und Soziales,


(Zuruf von der SPD: Das ist doch Zeitschinderei!)


Frau Dr. Ursula von der Leyen,


(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Zeitschinderei!)


mit keinem einzigen Wort erwähnt worden sind.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


– Ja, da darf man gerne auch einmal applaudieren.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Insofern nimmt es wunder – das muss ich ganz deutlich
sagen –,


(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Zeitschinderei! – Klaus Barthel [SPD]: Reden Sie zur Geschäftsordnung, nicht nur irgendetwas!)


dass plötzlich von der SPD beantragt wird, dass die
Ministerin höchstpersönlich für die Bundesregierung er-
scheinen soll.

(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Genau! – Zuruf von der SPD: Dürfen wir das verlangen, oder dürfen wir das nicht?)


Ich will deutlich sagen: Wir haben genug Material
und Stoff.


(Ottmar Schreiner [SPD]: Aha!)


Die vorliegenden Anträge der Fraktion der Linken, der
Fraktion der SPD und der Fraktion der Grünen sind
Thema und Gegenstand der heutigen Debatte.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU – Ottmar Schreiner [SPD]: Sag doch auch mal was zum FDP-Antrag!)


Es gibt zahlreiche Kollegen, die in dieser Debatte bereits
das Wort ergriffen haben oder es noch ergreifen werden.


(Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Filibustern!)


Vor diesem Hintergrund, glaube ich, wir sind gut beraten
– das ist auch vollkommen ausreichend –,


(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Ist das zur Geschäftsordnung?)


wenn wir diesen Tagesordnungspunkt unter uns beraten,
wenn wir uns gegenseitig zuhören – das sollte übrigens
ohnehin gute parlamentarische Übung sein – und wenn
wir alle nach dem Ende der Beratungen – das wünsche
ich mir sehr – in uns gehen und überlegen, was wir ge-
meinsam tun können, um bei Abstimmungen Mehrhei-
ten zu erzielen.

Ich glaube, gerade signalisiert die SPD, dass sie ihren
Geschäftsordnungsantrag zurückziehen will. Interpre-
tiere ich das richtig?


(Petra Ernstberger [SPD]: Nein! Wir wollen abstimmen! – Klaus Barthel [SPD]: Nein! Wir wollen die Ministerin!)


– Ach so, Sie wollen, dass wir abstimmen. Dann habe
ich das falsch verstanden. Ich dachte, Sie würden den
Antrag zurückziehen. Das hätte mir die weitere Argu-
mentation an dieser Stelle ersparen können.


(Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Abstimmen! Abstimmen! Abstimmen!)


So wie die Situation jetzt ist, müssen wir über den Ge-
schäftsordnungsantrag abstimmen.


(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Ja! Na endlich! – Klaus Barthel [SPD]: Na also! Es geht doch!)


Dann werden wir sehen, wie die Mehrheitsverhältnisse
sind.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1713008900

Die Geschäftsordnung ist ziemlich eindeutig: Die

Möglichkeit einer Runde der Parlamentarischen Ge-
schäftsführer ist gegeben. Jetzt lasse ich über den Antrag
abstimmen.





Vizepräsident Eduard Oswald


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Jede Fraktion hat sich geäußert; so sieht es die Ge-
schäftsordnung vor. Wer für den Antrag der Fraktion der
SPD ist, den bitte ich um das Handzeichen. –


(Petra Ernstberger [SPD]: Eindeutig!)


Gegenprobe! –


(Bernhard Kaster [CDU/CSU]: Das ist die Mehrheit! – Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war die Minderheit!)


Im Präsidium besteht Uneinigkeit.


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oh nein! – Petra Ernstberger [SPD]: Unglaublich!)


Deshalb kommen wir nun zu dem bewährten Verfahren
des Hammelsprungs. – Ich bitte Sie, den Saal zu verlas-
sen.

Ich unterbreche die Sitzung, bis dieses Verfahren er-
öffnet wird.


(Unterbrechung von 13.25 bis 13.35 Uhr)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1713009000

Es haben alle den Saal verlassen. Ich bitte, die Türen

zu schließen.

Die Abstimmung ist eröffnet.

Ich frage die Schriftführer, ob sich noch jemand in der
Lobby befindet. – Ich höre und sehe, dass das nicht der
Fall ist. Dann können wir die Türen schließen. Ich bitte
die Schriftführer, mir das Ergebnis bekannt zu geben.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie Platz neh-
men wollen, dann haben Sie dazu die Möglichkeit. Sie
können das Ergebnis aber auch stehend zur Kenntnis
nehmen.

Ich gebe das Ergebnis des Hammelsprungs be-
kannt: Mit Ja haben gestimmt 176 Kolleginnen und Kol-
legen. Mit Nein haben gestimmt 260 Kolleginnen und
Kollegen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Volker Kauder [CDU/CSU], an die SPD gewandt: Schämt euch!)


Enthalten hat sich niemand. Damit ist der Antrag der
Fraktion der Sozialdemokraten auf Herbeizitierung der
Frau Bundesministerin abgelehnt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie haben selbstver-
ständlich die Gelegenheit, bei der laufenden Debatte an-
wesend zu sein und sie zu verfolgen.


(Beifall des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE])


Wenn Ruhe eingekehrt ist, gebe ich das Wort der
nächsten Rednerin in unserer Debatte.
Ich erteile nun das Wort unserer Kollegin Frau Beate
Müller-Gemmeke für die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen. Bitte schön, Frau Kollegin, Sie haben das Wort.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-
nen und Kollegen! Die Zahlen sprechen eine klare Spra-
che. Zwischen 1996 und 2010 hat sich die Zahl der
befristeten Beschäftigungsverhältnisse auf über 2,5 Mil-
lionen nahezu verdoppelt. Entscheidend ist aber: Mittler-
weile hat jede zweite neue Stelle ein Verfallsdatum, ist
also befristet. Wir Grüne sehen diese Entwicklung mit
Sorge


(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Das ist der Erfolg eurer Politik!)


und kritisieren die Tendenz hin zu immer mehr atypi-
scher und prekärer Beschäftigung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Auch Rot-Grün trägt hierfür Verantwortung; das wis-
sen wir. Das haben wir schon häufig gesagt. Wir hatten
damals die Hoffnung, dass die sachgrundlose Befristung
eine Brücke in Dauerbeschäftigung insbesondere für Äl-
tere ist und zu mehr Arbeitsplätzen insgesamt führt.

Aber es funktioniert nicht. Herr Kollege Kolb, Politik
muss hin und wieder lernen und sollte nicht krampfhaft
an Positionen festhalten.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Die Zahlen sprechen eine klare Sprache!)


Das schafft übrigens auch Vertrauen. Das kann gerade
die FDP momentan gut gebrauchen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Zu viele Arbeitgeber nutzen nur den vorhandenen ge-
setzlichen Rahmen und stellen ohne Not befristet ein,
statt reguläre, unbefristete Beschäftigungsverhältnisse zu
schaffen. Sie, die Regierungsfraktionen, behaupten im-
mer noch, dass sachgrundlose Befristung arbeitsmarkt-
politisch Sinn macht. Unkritisch setzen Sie auf Flexibili-
tät für die Arbeitgeber und ignorieren, dass der Preis für
die Beschäftigten zu hoch ist. Befristete Jobs werden
deutlich schlechter vergütet. Befristet Beschäftigte haben
ein größeres Armutsrisiko, sie werden schneller arbeits-
los. Eine Familien- und Lebensplanung gestaltet sich
schwierig.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das wussten Sie doch alles, als Sie das Gesetz damals geändert haben!)


Wer befristet angestellt ist, macht sich auch mehr Sorgen
über Arbeitslosigkeit, Krankheit und Armut im Alter.
Die Flexibilität der Arbeitgeber geht voll und ganz zu-
lasten der Beschäftigten. Diese Fehlentwicklung ist für
uns nicht mehr akzeptabel.





Beate Müller-Gemmeke


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Eine Entwicklung beschäftigt mich ganz besonders.
Die Befristungsmöglichkeit, aber auch die Personalpoli-
tik der Arbeitgeber treiben eine ganze Generation – ich
meine die Jungen – in unsichere Jobs. Die Arbeitgeber
begnügen sich nicht mehr mit einer Probezeit von sechs
Monaten. Mit befristeten Arbeitsverträgen werden junge
Menschen zwei Jahre hingehalten. Nur noch 25 Prozent
haben Glück und werden übernommen, die anderen
75 Prozent müssen wieder von vorne beginnen. Wir ha-
ben nicht nur eine Generation Praktikum, sondern wir
haben mittlerweile auch die Generation Probezeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE])


Für junge Menschen wird der Schwebezustand damit
zum Dauerzustand, und das Fehlen von Zukunftsplänen
wird zur Normalität. Lebensplanung ist ein Begriff, über
den viele jüngere Beschäftigte nur noch müde lächeln
können. Befristung bedeutet beim Berufseinstieg aber
auch weniger Lohn. Es dauert sehr lange, bis diese Ver-
dienstlücke zwischen befristet und unbefristet Beschäf-
tigten wieder geschlossen ist. Laut einer Studie brauchen
Männer dafür zwölf Jahre. Bei Frauen geht es schneller.
Sie brauchen nur sechs Jahre, aber sie verdienen auch
weniger als die Männer.

Viel zu viele junge Menschen haben also einen langen
und unsicheren Berufseinstieg. Das ist nicht nur unge-
recht, sondern vor allem auch unverantwortlich.


(Beifall der Abg. Gabriele Hiller-Ohm [SPD])


Es muss also damit Schluss sein, dass Arbeitgeber das
unternehmerische Risiko auf die Beschäftigten übertra-
gen, auf billigere Löhne spekulieren und mithilfe von
Befristungen den Kündigungsschutz umgehen. Deshalb
fordern wir in unserem Antrag auch die Streichung im
Teilzeit- und Befristungsgesetz.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wenn der Blick auf die Beschäftigten und auf die un-
sichere Lebenssituation die Regierungsfraktionen nicht
überzeugen kann, dann hätte ich abschließend noch ein
weiteres Argument für unseren Antrag: Zu viele befris-
tete Jobs schwächen auch die Gewerkschaften; denn be-
fristet Beschäftigte sind weniger organisiert.


(Klaus Barthel [SPD]: Das wollen die da drüben ja!)


Wenn die Fluktuation im Betrieb groß ist, dann haben
die Gewerkschaften und Betriebsräte weniger Möglich-
keiten, neue Mitglieder zu werben. Mit unserem Antrag
wollen wir also auch die Gewerkschaften stärken.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Dieses Argument müsste eigentlich auch die Regie-
rungsfraktionen überzeugen, die stets die Tarifautonomie
hochhalten und damit gesetzgeberische Maßnahmen ab-
lehnen.

Ich komme zum Schluss. Mit unserem Antrag wollen
wir den Arbeitgebern nicht jegliche Flexibilität nehmen.
Sie haben weiterhin die Möglichkeit, befristet einzustel-
len, sofern ein Grund vorliegt. Unser Ziel ist aber, eine
neue, eine gerechte Balance herzustellen, die den Interes-
sen der Arbeitgeber und der Beschäftigten gleichermaßen
gerecht wird. Wir wollen keine Spaltung zwischen regu-
lär und prekär Beschäftigten; denn die Menschen brau-
chen soziale Sicherheit.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1713009100

Vielen Dank, Frau Kollegin Müller-Gemmeke.

Nächster Redner in unserer Debatte ist für die Frak-
tion der CDU/CSU unser Kollege Ulrich Lange. Bitte
schön, Kollege Ulrich Lange.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Ulrich Lange (CSU):
Rede ID: ID1713009200

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Zum wiederholten Male in diesem Haus beschäftigen
wir uns heute mit dem Thema der sachgrundlosen Be-
fristung. Es ist ein wiederholter Versuch, ein bewährtes,
inzwischen fest eingeführtes Instrumentarium im Kanon
des deutschen Arbeitsrechtes – ich sage es so deutlich –
zu schleifen. Dabei waren Sie es zu mutigen rot-grünen
Zeiten – dies ist heute schon mehrfach angesprochen
worden –,


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber deswegen brauchen Sie es nicht noch einmal anzusprechen! – Beate MüllerGemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben dazu schon öfter etwas gesagt! Einfach zuhören!)


die das TzBfG eingeführt haben. Wir hatten vorher keine
echte Regelung für Befristungen. Wir haben uns bis zum
1. Januar 2001 immer wieder durch viel Rechtsprechung
gearbeitet. Trotz aller Kritik am Anfang gilt das TzBfG
aus dem Jahre 2001 in der Fachwelt heute, auch wenn
Sie es nicht hören mögen, durchaus als gelungen.


(Klaus Barthel [SPD]: Bei den Professoren, die alle eine lebenslange Beschäftigung haben!)


Gleiches hat die Anhörung am 4. Oktober letzten Jahres
deutlich zum Ausdruck gebracht. Ich möchte in diesem
Zusammenhang an den Beitrag von Professor Thüsing
erinnern, der ganz klar gesagt hat, dass die Abschaffung
der sachgrundlosen Befristung ein Schritt zur Verkom-
plizierung des deutschen Befristungsrechtes sei. Auch
hat er das Thema der Zuvor-Arbeitsverhältnisse, die in
keinem sachlichen Zusammenhang stehen, angespro-
chen.





Ulrich Lange


(A) (C)



(D)(B)

Gerade in diesem Punkt hat das Bundesarbeitsgericht
im April dieses Jahres ein durchaus bemerkenswertes
Urteil gefällt, indem es auf die Klage einer studentischen
Hilfskraft, die dann als Lehrerin eingestellt wurde, fest-
gestellt hat, dass es sich nach mehr als drei Jahren Unter-
brechung um kein Zuvor-Arbeitsverhältnis handelt. Das
BAG hat also ganz klar den Dauerausschluss, von dem
wir arbeitsrechtlich bisher ausgegangen sind, abgelehnt.


(Klaus Barthel [SPD]: Aufgeweicht!)


Diese Entscheidung entspricht nicht nur den Bedürfnis-
sen der Praxis, sondern sie hat in der Fachwelt durchaus
große Zustimmung erfahren.


(Klaus Barthel [SPD]: Was ist denn das für eine Fachwelt?)


Liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, ins-
besondere der Gewerkschaften – Herr Kollege Barthel,
Sie sind ja bei Verdi –, ich habe mir das Protokoll über
die Anhörung angeschaut und dabei erfreut festgestellt,
dass die Kollegin des DGB festgehalten hat – anders als
in der Rede auf dem Verdi-Bezirkstag –, dass bei der Ab-
schaffung der sachgrundlosen Befristung die Gefahr be-
stehe, dass andere atypische Beschäftigungsverhältnisse
zunähmen. Das heißt im Ergebnis – so ist es im Wortpro-
tokoll festgehalten –, dass dann mit einer Zunahme von
Leiharbeit und sonstigen Dienstverhältnissen gerechnet
werden müsse.


(Klaus Barthel [SPD]: Deswegen müssen wir die auch neu regeln!)


Genau deshalb sollten Sie sich sehr gut überlegen, wo
Sie die Axt anlegen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Klaus Barthel [SPD]: Das geht nachher alles in einem Aufwasch!)


– Nein, die Kollegin des DGB denkt nicht theoretisch
wie Sie, sondern sie steht mit beiden Beinen in der Ar-
beitswelt und weiß, wie es in den Betrieben zugeht. Sie
vertritt damit die Interessen der Menschen, die arbeiten
und arbeiten wollen und die Hoffnung auf den Klebeef-
fekt und auf eine Brücke hin zu unserem deutschen Ar-
beitsmarkt haben.


(Klaus Barthel [SPD]: Das stimmt überhaupt nicht! Der DGB ist gegen die sachgrundlose Befristung!)


– Lesen Sie selbst! Sie waren wahrscheinlich bei der An-
hörung nicht dabei.


(Stefan Rebmann [SPD]: Ich bin Vorsitzender des DGB-Bezirks Nordbaden!)


– Dann lesen Sie nach, was Ihre Sachverständige gesagt
hat. Schicken Sie doch das nächste Mal eine andere
Sachverständige, wenn Ihnen das, was bei einer Anhö-
rung herauskommt, nicht passt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir erwarten von Sachverständigen in einer Anhörung,
dass sie offen und ehrlich antworten. Sonst könnten wir
uns das sparen.
Ich möchte noch einen anderen Punkt ansprechen,
nämlich dass befristete Arbeitsverhältnisse ein Weniger
an Rechten darstellen. Das ist definitiv nicht der Fall.


(Beifall des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP])


Auch für befristet Beschäftigte gelten Tarifverträge und
Urlaubsansprüche. Auch die Wahl in den Betriebsrat ist
selbstverständlich möglich.


(Stefan Rebmann [SPD]: Theoretisch, ja!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube nicht, dass
hier die Befristung mit Sachgrund eine Lösung ist. Ich
will jetzt nicht auf das Thema Probezeit eingehen; denn
– ohne hier jetzt ins Detail zu gehen – die Probezeit in
§ 622 BGB meint eine andere Erprobung als
§ 14 TzBfG.

Eines ist klar geworden: Was heute gesagt worden ist,
nämlich dass die Generation Praktikum keine Anschluss-
chance im gleichen Betrieb hat, wurde durch die neue
Rechtsprechung des BAG im April dieses Jahres korri-
giert. Diejenigen, die in einem Unternehmen studenti-
sche Hilfskräfte waren, können nach dieser im Urteil ge-
nannten Dreijahresfrist in ebendiesem Betrieb Arbeit
finden. Wir sollten uns auf den Weg machen, die De-
tailfragen im Lichte dieser Entscheidung zu klären.

Ich halte fest: Die sachgrundlose Befristung hat eine
Brückenfunktion.


(Zuruf der Abg. Katja Mast [SPD])


Sie bietet Flexibilisierungsmöglichkeiten, die wir benö-
tigen. Ich möchte in aller Deutlichkeit sagen, dass wir
nicht der Theorie folgen, die der Kollege Ernst präsen-
tiert hat. Was er mit Blick auf das alte Rom gesagt hat,
halte ich für unwürdig; denn unsere Arbeitsverhältnisse
sind keine Sklavenarbeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir sind ein moderner Rechtsstaat, in dem Arbeitnehme-
rinnen und Arbeitnehmer sehr wohl Rechte haben.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Sie lassen Stundenlöhne von 3,50 Euro zu!)


Ich glaube auch nicht, dass wir mit einer billigen Neid-
kampagne weiterkommen. Wir sollten froh sein, dass
wir statt 5 Millionen Arbeitslose weniger als 3 Millionen
Arbeitslose haben.

Aufgrund der sachgrundlosen Befristung ist ein Weg
in die Unternehmen möglich. Natürlich wünschen wir
uns unternehmerischen Erfolg sowie gute und fleißige
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Unternehmen.
Dann ist es möglich, Dauerarbeitsverhältnisse zu schaf-
fen. Sie sind die Idealarbeitsverhältnisse. Die Politik
sollte die Menschen aber nicht glauben machen, dass es
eine arbeitsrechtliche Vollkaskogesellschaft geben kann,
indem die befristeten Arbeitsverhältnisse abgeschafft
werden.


(Klaus Barthel [SPD]: Sie sind für Tagelöhnerei!)






Ulrich Lange


(A) (C)



(D)(B)

Denn auch in einem unbefristeten Arbeitsverhältnis ist
die Kündigung unter bestimmten rechtlichen Vorausset-
zungen jederzeit möglich.


(Zuruf des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE])


Lassen Sie uns also den Gedanken des DGB aufneh-
men, die sachgrundlose Befristung beizubehalten, um
nicht mehr atypische Arbeitsverhältnisse zu bekommen.
Arbeiten wir an den genauen Leitplanken, die uns das
Bundesarbeitsgericht vorgegeben hat. Wir sind dann,
was das Befristungsrecht angeht, auf einem guten und
erfolgreichen Weg für die Beschäftigung in unserem
Land.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1713009300

Vielen Dank, Kollege Lange. – Jetzt spricht für die

Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Ottmar
Schreiner. Bitte schön, Kollege Ottmar Schreiner.


(Beifall bei der SPD)



Ottmar Schreiner (SPD):
Rede ID: ID1713009400

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es

ist zurzeit etwas schwierig, die Position der Koalition
herauszuarbeiten, weil hier sehr unterschiedliche Reden
gehalten worden sind. Am einfachsten hat es der Kollege
Kolb von der FDP, der sagt:


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Der weiß, was er will!)


Alles, was ist, ist gut. Sozial ist, was Arbeit schafft.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ja!)


Ich will gar nicht auf die Sklavenarbeit zurückkommen,
die Herr Ernst angesprochen hat. Aber Sie wissen, dass
es 400-Euro-Jobs gibt, in denen überwiegend Frauen auf
der Basis von Vollzeitarbeit 32, 34 und auch 36 Stunden
zu Stundenlöhnen arbeiten, die irgendwo zwischen 2 und 3
Euro liegen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aber das ist nicht die Masse der Menschen!)


Wenn Sie sagen, das sei sozial hinnehmbar, dann kann
ich nur fragen, ob Sie noch alle Tassen im Schrank ha-
ben. Es geht einfach nicht, dass die Menschen mit diesen
Hungerlöhnen nach Hause geschickt werden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Gitta Connemann [CDU/CSU]: Das hat Dr. Kolb nicht gesagt!)


Herr Zimmer, ich habe sehr viel Verständnis für Ihre
Position. Aber nach dieser Logik müssten Sie den vorlie-
genden Anträgen zustimmen. Ich will Sie einmal zitie-
ren. Sie haben soeben gesagt, Sie wünschten sich eine
Arbeitswelt, in der Befristungen nur noch aus guten
Gründen erfolgen. Die Befristung ohne Sachgrund abzu-
schaffen, ist exakt der Sinn der Anträge.

(Heiterkeit bei der SPD)


Sie haben gesagt, Sie wünschten sich eine Arbeitswelt,
in der vor allen Dingen junge Menschen sichere Arbeits-
bedingungen vorfinden. Sie wissen genau, dass mehr als
die Hälfte der jungen Leute unter 30 Jahren in prekären
Beschäftigungsverhältnissen mit überwiegend zeitlicher
Befristung sind. Sie wissen genauso gut wie wir, dass ar-
beitsrechtlich nichts familienfeindlicher ist als die prekä-
ren, instabilen, unsicheren Beschäftigungsverhältnisse.


(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Doch! Arbeitslosigkeit!)


Schließlich trauen sich manche betroffene junge Leute
nicht mehr, Kinder in die Welt zu setzen, weil sie nicht
wissen, ob sie ihre Kinder nach Ablauf der zeitlichen
Befristung noch angemessen ernähren und kleiden kön-
nen.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Gitta Connemann [CDU/CSU]: Herr Schreiner, was haben Sie denn beschlossen?)


Sie haben soeben gesagt, die Befristung begünstige
die Aufschiebung von Lebensentscheidungen. Es kann
doch nicht ernsthaft der Wille des Gesetzgebers sein, Re-
gelungen zu dulden, durch die notwendige Lebensent-
scheidungen von Menschen aufgeschoben werden. Folgt
man der Logik Ihres Vortrages, Herr Zimmer, müssten
Sie eigentlich – herzlichen Glückwunsch! – für zumin-
dest einen der vorliegenden drei Anträge sein. Wenn das
die Position der Unionsfraktion ist, dann sage ich eben-
falls: Herzlichen Glückwunsch! Das Ganze ist so ähnlich
wie beim Mindestlohn. Ich habe gelesen, dass die Frau
Ministerin inzwischen für allgemeine Mindestlöhne ist.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das habe ich noch nicht gelesen! Da haben Sie sie falsch verstanden!)


Sie sind auf einem guten Weg. Jetzt müssen Sie nur noch
sehen, dass Sie mit dem Bremsklotz FDP zurande kom-
men. Das ist das eigentliche Problem in der Koalition.

Der Kollege Lange hat hier zahlreiche Sachverstän-
dige bemüht. Das Argument „Wenn ihr die sachgrund-
lose Befristung streicht, dann gibt es mehr Leiharbeit“
zu bemühen, ist ungefähr so, als wenn man sagt: Wenn
ihr nicht ins Fegefeuer wollt, dann kommt ihr gleich in
die Hölle. Das ist eine Argumentation, die wirklich unter
Ihrem Niveau ist, Herr Kollege Lange. Da bin ich Besse-
res gewohnt. Ich weiß nicht, von wem Sie diese Argu-
mentation – –


(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Das war nicht Herr Lange!)


– Sie sollten jetzt einmal eine Weile schweigen. Das
wäre einmal hilfreich, Frau Kollegin Connemann.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Sie wären wirklich die letzte Kandidatin für ein Kloster
mit Schweigegelübde. Das könnte nicht funktionieren;
denn bereits nach fünf Minuten wären Sie als Nonne ent-
lassen.





Ottmar Schreiner


(A) (C)



(D)(B)


(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Gitta Connemann [CDU/CSU]: Das wünschen Sie sich!)


Das ist eine Vorstellung, die ich jetzt nicht weiter aus-
führen will.

Die SPD-Fraktion hat den Antrag gestellt, die Minis-
terin herbeizuzitieren. Von Herrn Kollege Kolb ist da-
rauf hingewiesen worden, dass wir einen beleibten und
sachkundigen Staatssekretär haben.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ist er auch!)


– Ja, das ist er: „Beleibt und sachkundig“ haben Sie ge-
sagt.


(Zurufe von der CDU/CSU: Beliebt!)


– „Beliebt“ und sachkundig, okay. Sie haben gesagt,
dass Sie einen beliebten und sachkundigen Staatssekre-
tär hätten. Das ist ebenfalls in Ordnung. Er ist hier. Herz-
lichen Glückwunsch!

Ich will jetzt aus einem Agenturbericht von vorges-
tern zitieren. Daraus kann man vielleicht ableiten, wa-
rum es angemessen wäre, wenn die Ministerin an diesen
Debatten teilnähme. Vorgestern ist in einer thüringischen
Zeitung nach einer Meldung der AFP ein Artikel er-
schienen, in dem es heißt:

Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenar-
beit und Entwicklung (OECD) forderte zu Beginn
des zweitägigen Treffens

– der europäischen Arbeits- und Sozialminister –

„bessere Arbeitsplätze“ – es sei Besorgnis erregend,
dass die Einkommensungleichheit ständig zu-
nehme, dass es immer mehr befristete Arbeitsver-
hältnisse gebe und dass die Reallöhne in vielen
Ländern stagnierten oder sogar zurückgingen …

Alle drei Vorhaltungen treffen auf die Bundesrepublik
Deutschland uneingeschränkt zu: massive Zunahme von
zeitlich befristeten Beschäftigungsverhältnissen, eine
seit Jahren rückläufige Reallohnentwicklung, eine sin-
kende Lohnquote, eine steigende Gewinnquote und eine
ständig zunehmende Einkommensungleichheit. Das ist
die Vorhaltung der OECD, gemacht auf dem Treffen
– nochmals – der europäischen Arbeits- und Sozial-
minister.

In diesem Text heißt es weiter:

Die G-20-Minister sollten nicht nur darüber nach-
denken, wie mehr Arbeitsplätze geschaffen werden
könnten, forderte die Organisation, sondern sie soll-
ten auch Maßnahmen ergreifen, „die zu fairen und
hochwertigen Beschäftigungsverhältnissen führen“.

Jetzt bitte ich um die Stellungnahme der Bundesregie-
rung. Das, was ich zitiert habe, ist eine Aussage der
OECD. Sie ist keine Vorfeldorganisation irgendeiner
Oppositionsfraktion hier. Sie ist eine international aner-
kannte Organisation. Wenn sie sagt, sie sei besorgt da-
rüber, dass es in Deutschland immer mehr befristete,
prekäre Beschäftigung, immer geringere Löhne und zu
wenig faire und hochwertige Beschäftigung gebe, dann
müsste doch die Bundesregierung in Gestalt des belieb-
ten Staatssekretärs dazu etwas sagen können, und es
dürfte kein Schweigen im Walde herrschen. Was ist die
Position der Koalition zu ebendiesen Vorhaltungen?

Jetzt sehe ich, dass ich mit meinem Manuskript über-
haupt noch nicht begonnen habe, meine Redezeit aber
fast zu Ende ist.


(Heiterkeit – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Lange geredet, nichts gesagt!)


Das ist ein bedauerlicher Vorgang.

Herr Kollege Lange, Sie haben ständig Sachverstän-
dige zitiert. Ich will Ihnen sagen: Es gibt Sachverständi-
genbefragungen, die eindeutig sind. Es ist nicht gut, nur
Professoren zu befragen. Professoren haben nämlich ei-
nen lebenslang gesicherten Job, in der Regel mit sehr gu-
ten Arbeitsbedingungen und sehr guten Einkommens-
verhältnissen. Ihre Tätigkeit unterliegt keinen zeitlichen
Befristungen usw.

Fragen Sie einmal die einfachen Leute auf der Straße
danach, wie sie sich gute Arbeit vorstellen. Dann be-
kommen Sie fast zu 100 Prozent die gleiche Antwort:
Unter guter Arbeit stelle ich mir ein auf Dauer angeleg-
tes, stabiles Arbeitsverhältnis mit auskömmlichem Lohn,
von dem ich meine Familie und mich ernähren kann, und
mit einer angemessenen sozialen Sicherung vor. – Das
ist die Antwort von nahezu 100 Prozent der befragten
Leute auf der Straße, die die für uns wichtigen Sachver-
ständigen sind. Deshalb können mir die Aussagen eini-
ger von Ihnen erwähnten Professoren ziemlich egal sein.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist das Ziel! Die Frage ist aber, wie kommen wir dahin!)


Das sogenannte normale Arbeitsverhältnis ist in der
Tat modernisierungsbedürftig. Dazu kann ich aufgrund
der mir noch zur Verfügung stehenden Redezeit aber
nichts mehr sagen. Die eigentliche Aufgabe besteht nicht
darin, darüber nachzudenken, wie die prekäre Beschäfti-
gung ausgeweitet werden kann, wie es die Koalition an-
droht. Die eigentliche Frage lautet vielmehr, wie wir das
sogenannte normale Arbeitsverhältnis an modernen Ent-
wicklungen orientieren können wie zum Beispiel an der
gleichberechtigten Arbeit von Mann und Frau.

Das Normalarbeitsverhältnis orientiert sich eher am
althergebrachten Bild des Mannes als Ernährer der Fa-
milie. Diese Zeiten sind aber unwiderruflich vorbei.
Also müsste in das Normalarbeitsverhältnis die Mög-
lichkeit eingebaut werden, Auszeiten und Phasen verrin-
gerter Arbeitszeiten in Anspruch zu nehmen, und zwar
aus Pflegegründen, aus Erziehungsgründen oder aus
Weiterbildungsgründen. Außerdem müssten Regelungen
geschaffen werden, damit diejenigen Männer und
Frauen, die von dieser Option Gebrauch machen, wieder
in reguläre Beschäftigung zurückkehren können.

Das wäre ganz überschlägig gesehen die Modernisie-
rung des normalen Arbeitsverhältnisses. Ich will dazu
noch einen letzten Satz sagen.






(A) (C)



(D)(B)


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1713009500

Ich bitte darum.


Ottmar Schreiner (SPD):
Rede ID: ID1713009600

Der letzte Satz, Herr Präsident. – Das normale Ar-

beitsverhältnis ist deshalb ein historisches Ereignis, weil
zum ersten Mal in der Geschichte von Arbeit auch für
diejenigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die
keine großen Vermögen haben und die nur von ihrer Ar-
beit leben, eine soziale Sicherung geschaffen worden ist,
sodass in Zeiten der Nichtarbeit – Krankheit, Unfall, Ar-
beitslosigkeit, Alter – stabile und sichere Verhältnisse
gegeben sind. Das sollten wir nicht leichtfertig aufs
Spiel setzen.

Deshalb besteht die Hauptaufgabe im Zurückdrängen
von prekärer Beschäftigung und in einem Ausbau des
modernisierten Normalarbeitsverhältnisses. Wenn Sie
sich dazu bereitfinden könnten, wäre schon viel erreicht.
Sie sind ein hoffnungsloser Fall, Herr Kollege Kolb,
aber es gibt Anzeichen dafür, dass man die Kollegen von
der Union dafür gewinnen könnte. Dann wären wir in
diesem Hohen Haus einen Riesenschritt weiter, nicht in
unserem Interesse, sondern im Interesse der abhängig
Beschäftigten.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1713009700

Kollege Schreiner, bei nächster Gelegenheit unterhal-

ten wir beide uns über die Länge eines Satzes.

Nächster Redner in unserer Debatte ist für die Frak-
tion der FDP unser Kollege Johannes Vogel. Bitte schön.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Johannes Vogel (FDP):
Rede ID: ID1713009800

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Kollege Schreiner, ich finde es wirklich gut, dass
Sie auf die Untersuchungen der OECD verweisen. Diese
Untersuchungen beschäftigen sich aber nicht nur mit
Deutschland, sondern mit sämtlichen OECD-Ländern.

Sie haben recht: Es ist natürlich berechtigt, nach der
Qualität von Arbeit zu fragen. Diese Frage sollten wir
uns alle stellen. Mir gefällt aber nicht, dass Sie scheinbar
völlig aus dem Auge verloren haben, dass Quantität vor
Qualität steht. Bevor man sich nach der Qualität eines
Arbeitsverhältnisses fragen kann – Kollege Kolb hat üb-
rigens nicht gesagt, dass sozial ist, was Arbeit schafft –,
muss zunächst einmal ein Arbeitsverhältnis gegeben
sein.

Deshalb ist es wichtig, zunächst einmal auf die Lage
in Deutschland hinzuweisen. Wir haben weniger als
2,8 Millionen Arbeitslose. Liebe Kolleginnen und Kolle-
gen von den Linken, da Sie immer auf die Statistik ver-
weisen, möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, dass
auch die Unterbeschäftigung um eine halbe Million
niedriger ist als noch vor einem Jahr. Das ist eine gute
Nachricht.
Zur Jugendarbeitslosigkeit muss ich nichts sagen. Wir
stehen im europäischen Vergleich exzellent da. Ich kann
nachvollziehen, dass Sie sich immer aufregen, wenn Ih-
nen vorgehalten wird, was Sie damals unter Rot-Grün
gemacht haben.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war ein Fehler, den korrigieren wir!)


Wenn es ein Fehler wäre, wäre es richtig, diesen zu kor-
rigieren. Die Wahrheit ist aber, dass es kein Fehler war.
Vielmehr war es richtig, den Arbeitsmarkt zu flexibili-
sieren, weil dies nicht die einzige, aber eine wesentliche
Ursache für das deutsche Jobwunder ist. Deshalb ist es
richtig, bei der Befristung zu bleiben und Ihren Anträgen
nicht zuzustimmen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Jetzt sagen Sie, das gelte nicht mehr; denn durch die
Befristung sei alles schlimm. Ich habe mir einmal Ihre
Argumente aufgeschrieben. Kollege Barthel hat vorhin
gesagt, die befristete Beschäftigung sei erstens keine
Brücke in unbefristete Beschäftigung. Zweitens würden
immer mehr unbefristete Beschäftigungen umgewandelt,
es gebe immer mehr „schlechte“ Arbeit und immer mehr
Befristungen.

Ein kluger Sozialdemokrat, Kurt Schumacher, hat
einmal gesagt: „Politik beginnt mit der Betrachtung der
Wirklichkeit.“


(Ottmar Schreiner [SPD]: Das war nicht Kurt Schumacher!)


Ich halte das für sehr richtig und wahr. Schauen wir uns
doch einmal die Lage im Bereich der Befristung an.
Richtig ist: Mitte der 90er-Jahre gab es 5 Prozent befris-
tet Beschäftigte, heute sind es 9 Prozent. Zur Betrach-
tung der Wirklichkeit gehört aber auch die Analyse, dass
die Statistik verändert wurde.


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Darum geht es doch gar nicht! Jede zweite Stelle ist befristet!)


Das wissen Sie alles so gut wie wir. Weil die Statistik
verändert wurde, ist der Prozentsatz gestiegen; denn jetzt
werden Saisonarbeiter – Arbeitskräfte im Weihnachtsge-
schäft, Erntehelfer – mit in die Statistik einbezogen.


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jede zweite Beschäftigung ist befristet!)


Es ist eben nicht so, dass der Anteil der befristet Be-
schäftigten weiter explodieren würde. Das ist schlicht
nicht wahr.


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jede zweite Beschäftigung ist befristet!)


– Das ist richtig, Frau Kollegin Müller-Gemmeke. –
Kommen wir zu den Neueinstellungen. Davon sind ins-
besondere junge Leute betroffen, übrigens gerade Hoch-
qualifizierte. Es gibt viele Bereiche, in denen der Anteil





Johannes Vogel (Lüdenscheid)



(A) (C)



(D)(B)

der Befristungen in der Tat hoch ist: in der Wissenschaft,
im öffentlichen Dienst, auch beim DGB, Herr Kollege
Schreiner. Der DGB stellt seit 2004 grundsätzlich nur
noch befristet ein.


(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Unglaublich!)


Wir können mit den jeweiligen Akteuren einmal das Ge-
spräch suchen, wie man das verändern kann.


(Klaus Barthel [SPD]: Wollen Sie das jetzt beklagen?)


– Nein, ich beklage das nicht. Nur, Herr Kollege Barthel:
Es wird behauptet, dass immer mehr umgewandelt wird
und befristete Beschäftigung nicht in unbefristete führt.
Das ist schlicht nicht wahr. Über die Hälfte derjenigen,
die einen befristeten Arbeitsvertrag bekommen, erhalten
anschließend einen unbefristeten Arbeitsvertrag beim
selben Arbeitgeber. Das heißt: Der Einstieg funktioniert.
Man bleibt nicht in der befristeten Beschäftigung hän-
gen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bei jungen Menschen 23 Prozent!)


Überhaupt: Frau Kollegin, nur 15 Prozent derjenigen,


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 23 Prozent!)


die einen befristeten Arbeitsvertrag haben, haben fünf
Jahre später – –


(Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


– Der Kollege Ernst will eine Zwischenfrage stellen.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1713009900

Ja, er will eine Zwischenfrage stellen. Sie gestatten

das auch, Herr Kollege?


Johannes Vogel (FDP):
Rede ID: ID1713010000

Aber gerne, mit Blick auf die Redezeit umso mehr.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1713010100

Bitte schön, Herr Kollege Ernst.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ist doch Verlass auf den Kollegen Ernst!)



Klaus Ernst (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1713010200

Herr Vogel, Sie haben eben angesprochen, dass die

Hälfte derer, die einen befristeten Arbeitsplatz hatten,
danach eine unbefristete Stelle bekommen hätten. Ist das
nicht Beweis dafür, dass es sich offensichtlich um eine
unbefristete Stelle gehandelt hat, die allerdings nur be-
fristet besetzt wurde?


(Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Nein!)


Ist dieser Zustand für den Menschen, der diese Stelle
innehat, nicht ein Zustand der wirklich großen Unsicher-
heit? Er kann sich nämlich nicht darauf verlassen, dass
er hinterher beschäftigt wird, sondern er muss sich so
lange wohl verhalten, bis seine befristete Stelle in eine
unbefristete umgewandelt wird. Bis dahin wird er
schlechtere Bedingungen akzeptieren als andere.

Können Sie sich vorstellen, Herr Vogel, dass die
Menschen, die sich in einer solchen Situation befinden,
sich natürlich botmäßiger verhalten und damit das Lohn-
niveau und die Arbeitsbedingungen eines ganzen Betrie-
bes nach unten drücken?


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das entspricht nicht der Realität!)


Wollen Sie solche Arbeitsbedingungen? Wenn Sie sie
nicht wollen, warum sind Sie dann nicht mit uns der
Auffassung, dass – wenn es schon um unbefristete Jobs
geht, von denen Sie reden – diese Jobs nicht von Anfang
an, mit einer bestimmten Probezeit versehen, unbefristet
besetzt werden müssen?


(Beifall bei der LINKEN)



Johannes Vogel (FDP):
Rede ID: ID1713010300

Herr Ernst, erstens danke ich Ihnen für die Frage drei

Sekunden vor Ende meiner Redezeit. Zweitens zeigt
meiner Meinung nach diese Statistik im Hinblick auf den
deutschen Arbeitsmarkt vor allem – aus vielen Gründen,
unter anderem wegen unseres Kündigungsschutzrechts,
das wir alle so wollen –, dass die Unternehmer sich die
Menschen erst einmal anschauen wollen.


(Klaus Barthel [SPD]: Also doch! – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Probezeit!)


Ich bin der Meinung, dass sie eben nicht von vornherein
ein unbefristetes Arbeitsverhältnis schaffen wollen. Drit-
tens, Herr Ernst, zeigt die Statistik, dass das Ganze funk-
tioniert, weil es eben nicht so ist, dass die Menschen in
der Unsicherheit verbleiben,


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Das war doch nicht meine Frage!)


weil die Hälfte der Beschäftigten in den jeweiligen Be-
trieb übernommen wird. Überhaupt, Herr Ernst – das
will ich noch sagen: – Nur 15 Prozent derjenigen, die mit
einem befristeten Vertrag beginnen, sind fünf Jahre spä-
ter noch befristet angestellt. Die übergroße Mehrheit ist
dann unbefristet beschäftigt. Der Einstieg über die Flexi-
bilität funktioniert. Sie wollen das kaputtmachen.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Weniger als die Hälfte! – Gegenruf des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Die Dynamik müssen Sie sehen! Sie denken zu statisch! – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Meine Frage war eine ganz andere! – Gegenruf des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Er kann doch antworten, was er will!)


Herr Ernst, ich habe es Ihnen gerade erklärt. Wenn Sie
es nicht verstehen wollen, kann ich Ihnen nicht helfen.
Ich kann mich in die Lage der Betroffenen sehr gut hi-
neinversetzen, weil ich im engsten Freundes- und Fami-
lienkreis Menschen kenne, die über eine befristete Stelle
die unbefristete Stelle beim selben Arbeitgeber bekom-
men haben, die die Chance, sich mit ihrer guten Arbeit





Johannes Vogel (Lüdenscheid)



(A) (C)



(D)(B)

zu beweisen und sich beim Arbeitgeber bekannt zu ma-
chen, genutzt haben.


(Beifall bei der FDP)


Herr Ernst: Es kann doch – gerade mit Blick auf den in-
ternationalen Vergleich – nicht gut sein, die Chancen, die
uns die Flexibilität am Arbeitsmarkt bringt, kaputtzuma-
chen. Diese Menschen haben überhaupt erst eine Per-
spektive, weil sie einen Arbeitsplatz haben.

Wir sollten uns gemeinsam fragen: Wie sorgen wir für
die notwendige Qualität der Arbeit? Was können wir in
der Politik gemeinsam tun, damit es bei mehr Menschen
weitergeht, also Einstieg auch Aufstieg bedeutet, und sie
sich im Unternehmen weiterentwickeln können? Das
Beste, was wir politisch dafür tun können – das wissen
wir alle, die wir Statistiken des IAB lesen –, ist, in die
Qualifizierung der Mitarbeiter zu investieren.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Klaus Barthel [SPD]: Warum sollte man jemanden qualifizieren, den man befristet einstellt?)


Dazu nenne ich nur ein Beispiel: Die Koalition hat
hier am letzten Freitag ein Gesetz verabschiedet, das da-
für sorgt, dass die Weiterbildung von Mitarbeitern in al-
len kleinen und mittleren Unternehmen – von Beschäf-
tigten, Herr Ernst, die den Einstieg geschafft haben –
durch die Bundesagentur für Arbeit kofinanziert werden
kann. Das ist ein echter Baustein des Arbeitsmarkts der
Zukunft, der für eine bessere Perspektive der Menschen
sorgt.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP sowie des Abg. Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU])


Sie haben dagegen gestimmt. Dies passt leider ins Bild.
Wir haben den Eindruck, dass Sie die guten Errungen-
schaften einer gesteigerten Flexibilität, die Sie selber zu
Recht eingeführt haben, kaputtmachen wollen und sich
nicht wirklich mit uns Gedanken machen wollen, wie
wir die Perspektive aller Betroffenen verbessern können.
Ich finde das schade. Ihre Anträge werden wir ablehnen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1713010400

Vielen Dank, Kollege Vogel. – Jetzt spricht für die

Fraktion Die Linke unsere Kollegin Frau Jutta
Krellmann. Bitte schön, Frau Kollegin Krellmann.


(Beifall bei der LINKEN)



Jutta Krellmann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1713010500

Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Vorletzte Woche wurde in der Zeitung
Die Welt ein Artikel mit dem Titel „Die befristete Gene-
ration“ veröffentlicht. Über der Überschrift stand nicht
die Kategorie „befristete Arbeitsverhältnisse“, sondern
das Wort „Zeitarbeit“, nicht „Leiharbeit“. Befristete Ar-
beit ist demnach Zeitarbeit. In dem Artikel sind junge
Menschen zu Wort gekommen und hatten die Möglich-
keit, ihre prekäre Situation zu schildern. Das waren aber
keine unqualifizierten Menschen, sondern hochqualifi-
zierte junge Menschen, unter anderem eine Physiothera-
peutin, die es, obwohl die Vorgesetzten ihr während der
ganzen Zeit Hoffnungen gemacht haben, in drei Jahren
nicht hinbekommen hat, einen festen Arbeitsplatz zu fin-
den.

Das andere Beispiel betraf eine junge Frau, die tech-
nische Übersetzerin in einem Unternehmen in Deutsch-
land geworden ist, nachdem sie in Schweden einen un-
befristeten Arbeitsvertrag hatte. In Schweden gab es das
nicht; da hatte sie einen unbefristeten Arbeitsvertrag.
Wenn sie dort keinen unbefristeten Arbeitsplatz gehabt
hätte – jetzt in Deutschland ist das Arbeitsverhältnis be-
fristet –, hätte sie kein Kind in die Welt gesetzt; das sagt
sie ganz offen. Das sind Beispiele für das, was von un-
terschiedlichen Personen schon angesprochen wurde: die
Auswirkungen von Befristungen und prekärer Beschäfti-
gung.

Diese und die vorherige Bundesregierung zeichnen
sich dadurch aus, dass sie in den letzten Jahren nichts ge-
macht haben, was im Interesse der Beschäftigten gewe-
sen wäre. Die Überschrift heißt – das hat mein Kollege
Klaus Ernst schon gesagt – „Deregulierung“, und das
jetzt schon über Jahre hinweg. Es gibt keine Verbote.
Lohndumping auf breiter Front ist überall erlaubt, über
die Möglichkeiten der Befristung, der Leiharbeit, der
Werkverträge, der Flexibilisierung, bis zum Erbrechen.
Junge Fachkräfte bekommen keine Chance auf eine gesi-
cherte Perspektive.

Am Samstag, dem 1. Oktober, also in zwei Tagen,
protestieren die Jugendlichen der IG Metall in Köln ge-
gen genau diese Lebensperspektive der prekären Be-
schäftigung,


(Beifall bei der LINKEN)


unter dem Motto:

„Laut und stark“ – Zukunft und Perspektive für die
junge Generation

15 000 Jugendliche werden erwartet, davon allein 1 500
aus Niedersachsen.

Arbeitgeber, besonders im Metallbereich, klagen über
Fachkräftemangel;


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Genau!)


aber gleichzeitig müssen betroffene junge Beschäftigte
für die Übernahme nach der Ausbildung kämpfen. Nach
Aussage der IG Metall hangeln sich viele Jugendliche
von Praktika zu einem befristeten Arbeitsverhältnis oder
werden in die Leiharbeit gedrängt. Über 15 Prozent der
jungen Menschen zwischen 15 und 25 sind erwerbslos.
Allein das ist schon ein unglaublicher Skandal.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


25 Prozent der zwischen 20- und 25-Jährigen arbeiten in
befristeten Beschäftigungsverhältnissen. Ergebnis einer
Umfrage der IG Metall, bei der circa 5 000 Betriebsräte
befragt wurden, war, dass 42 Prozent der Neueinstellun-
gen einen befristeten Arbeitsvertrag erhalten und 43 Pro-





Jutta Krellmann


(A) (C)



(D)(B)

zent in der Leiharbeit landen. In der Summe sind das
85 Prozent. Das bedeutet: Nur 15 Prozent haben die
Chance, in ein gesichertes Arbeitsverhältnis zu kommen.

Herr Lange, ein Wort zu dem, was Sie über die Ge-
werkschaft Verdi erzählt haben. Ich als Metaller sage: Ich
fürchte, Verdi hat recht. Das Beispiel belegt das doch.
Was ist denn die Konsequenz? Die Konsequenz kann
doch nicht sein, dass man nichts gegen befristete Be-
schäftigungsverhältnisse unternimmt! Die Konsequenz
muss sein, dass wir auch die Leiharbeit neu regeln. Wir
müssen dafür sorgen, dass der Grundsatz „Gleiches Geld
für gleiche Arbeit“ gilt.


(Beifall bei der LINKEN und der SPD)


Wenn es nach uns ginge, käme noch ein Zuschlag in
Höhe von 10 Prozent dazu. Dann hätten wir das Thema
Leiharbeit gleich mit geregelt.


(Klaus Barthel [SPD]: Das haben wir alles schon beantragt! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Den Antrag bringt ihr in der nächsten Woche ein!)


Stichwort „Fachkräftemangel“. Ich persönlich halte
es für unerträglich, wenn in solchen Diskussionen
gleichzeitig permanent über den Fachkräftemangel ge-
sprochen wird. Wir reden über Fachkräftemangel in al-
len wirtschaftlichen Bereichen: in Dienstleistungsberei-
chen, in Industriebereichen und in der Pflegebranche.
Überall gibt es Befristungen. Sie nehmen nirgendwo ab,
sondern immer nur zu.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Richtig!)


Im Grunde lässt die Bundesregierung, und damit wir
alle, die junge Generation ohne Schutzschirm im Regen
stehen.


(Beifall bei der LINKEN)


Meine Aufforderung an alle ist, jetzt endlich im Inte-
resse der jungen Menschen und der jungen Gewerk-
schafter, die am Wochenende in Köln auf die Straße ge-
hen werden, zu handeln. Wir sind in der Lage, innerhalb
kürzester Zeit – das haben wir heute erlebt – Milliarden
auszugeben, aber für die Lösung von sozialen Proble-
men, die es an den unterschiedlichsten Stellen gibt, brau-
chen wir Jahre bzw. kommen überhaupt nicht voran.

Wir als Linke sagen: Als ersten Schritt brauchen wir
die Abschaffung der sachgrundlosen Befristungen. Es
geht nicht um die Abschaffung der Befristung an sich.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Haben Sie den Antrag gelesen? Da stand etwas anderes!)


Wegen Schwangerschaft und Krankheit wird es weiter-
hin Befristungen geben.

Wir bitten darum, unserem Antrag zuzustimmen. Wir
werden den Anträgen von SPD und Grünen zustimmen.
Es geht uns um die Sache. An dieser Stelle muss endlich
etwas passieren.


(Beifall bei der LINKEN)


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1713010600

Vielen Dank, Frau Kollegin Krellmann. – Jetzt spricht

für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unsere Kollegin
Frau Brigitte Pothmer. Bitte schön, Frau Kollegin
Pothmer.


Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1713010700

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben

es in Deutschland inzwischen mit einem doppelt gespal-
tenen Arbeitsmarkt zu tun. Wir haben nicht nur eine
Spaltung zwischen den Arbeitslosen und den Beschäftig-
ten, sondern wir haben auch eine Spaltung zwischen der
Randbelegschaft und der Stammbelegschaft. Wir müs-
sen feststellen, dass sich die letztgenannte Spaltung auf
dem Vormarsch befindet. Wir haben eben keine durch-
lässigen Übergänge zwischen den Teilarbeitsmärkten.


(Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Doch!)


Die Teilarbeitsmärkte sind weitgehend starr voneinander
abgeschottet.

Lieber Herr Kolb,


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Jetzt kommt es!)


Ihr Jobwunder, das Sie immer gebetsmühlenartig vortra-
gen, hat viele Verlierer. Ich nenne die Leiharbeiter, die
Minijobber, den Niedriglohnsektor insgesamt und auch
die befristet Beschäftigten.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das hat doch alles Rot-Grün auf den Weg gebracht!)


Vor allen Dingen für Berufsanfänger ist eine befristete
Beschäftigung – das wurde bereits ausgeführt – nicht
mehr die Ausnahme, sondern die Regel.

Ich will nicht so tun, als sei befristete Beschäftigung
schlechter als Arbeitslosigkeit.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aha!)


Das Gegenteil ist der Fall.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Immerhin!)


Aber als Brücke in ein normales Arbeitsverhältnis eignet
sich das befristete Beschäftigungsverhältnis in nur sehr
geringem Maße.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das IAB sagt da etwas anderes!)


Insbesondere für gering Qualifizierte ist die befristete
Beschäftigung kein Sprungbrett in eine gute berufliche
Zukunft,


(Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Zu 50 Prozent, Frau Kollegin!)


sondern sie ist eine Sackgasse.


(Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Für die Hälfte: ja!)


Sie führt in einen Teufelskreis aus Arbeitslosigkeit,
Leiharbeit und Befristungsketten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Deswegen gibt es dringenden Handlungsbedarf.





Brigitte Pothmer


(A) (C)



(D)(B)

Wir wollen nicht so tun, als würde dieser Handlungs-
bedarf nur von der Opposition gesehen. Er wird doch
längst auch in der Union gesehen. Wer Herrn Zimmer
aufmerksam zugehört hat, der hat das zwischen den Zei-
len herauslesen können. Herr Zimmer, Ihre Rede war ge-
spalten. Da hat eine gespaltene Persönlichkeit geredet.


(Lachen bei der CDU/CSU)


Sie haben hier geredet als jemand, der die CDU reprä-
sentiert, aber gleichzeitig als jemand, der CDA-Vorsit-
zender in Hessen ist.


(Klaus Barthel [SPD]: So gespalten wie der Arbeitsmarkt!)


Was steht denn in dem CDA-Antrag, der auf dem
Bundesparteitag der CDU eingebracht werden soll? Da
wird nicht nur für einen Mindestlohn gekämpft. Da wird
nicht nur eingetreten für gleichen Lohn für gleiche Ar-
beit am gleichen Ort. Nein – jetzt hören Sie einmal zu –,
da wird auch für die Einschränkung befristeter Beschäf-
tigung geworben. In diesem Antrag werden die Auswir-
kungen der befristeten Beschäftigung für die Betroffe-
nen hinlänglich formuliert. Ich will aus dem Antrag
zitieren:


(Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Sehr gut!)


Die Folgen sind unter anderem bei der Lebenspla-
nung zu beobachten. Befristung verunsichert und
begünstigt das Aufschieben von Lebensentschei-
dungen. Empirisch erwiesen ist, dass befristete Be-
schäftigung die Bereitschaft zur Familiengründung
hemmt.


(Beifall der Abg. Dr. Wolfgang StrengmannKuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] und Anton Schaaf [SPD] – Klaus Barthel [SPD]: Da sagt der Herr Kolb nichts mehr!)


Ich empfehle dieser Regierung, dass sie ihre unter-
schiedlichen politischen Ziele miteinander in Einklang
bringt. Auf der einen Seite wird das Elterngeld einge-
führt, um junge Familien anzuregen, die Familiengrün-
dung voranzutreiben. Auf der anderen Seite wird in der
Arbeitsmarktpolitik einer Flexibilität das Wort geredet,
die genau dies konterkariert.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das war RotGrün, um das mal wieder in Erinnerung zu rufen!)


So kommen wir nicht weiter.

Wir wollen, wie im CDA-Antrag beschrieben, die
Einschränkung der befristeten Beschäftigung. Wir wol-
len die befristete Beschäftigung nicht abschaffen, aber
wir wollen sehr wohl die Flexibilitätsanforderungen in
den Betrieben mit den Sicherheitsbedürfnissen der Be-
schäftigten in Einklang bringen. Wenn wir die Möglich-
keit der sachgrundlosen Befristung streichen, gibt es im-
mer noch acht Tatbestände, aus denen heraus Verträge
befristet werden können. Das ist eine Menge Flexibilität,
die wir den Betrieben weiterhin zugestehen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Und den öffentlichen Verwaltungen!)

Was wir nicht wollen, ist, dass die Probezeit auf zwei
Jahre ausgedehnt wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Warum habt ihr das denn damals gemacht?)


Das betrifft inzwischen die Hälfte aller befristeten Ver-
träge. Die CDA hat erkannt, dass es Verwerfungen auf
dem Arbeitsmarkt gibt – das wird in ihrem Antrag deut-
lich –, und sie will diesen Verwerfungen entgegentreten.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das hat RotGrün gemacht! Das ist so! Das kann man nicht bestreiten!)


– Jetzt wende ich mich einmal an Sie. Sie sollten besser
zuhören, wenn Ihr Parteivorsitzender und Minister Inter-
views gibt.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Können wir einmal den Namen des Vorsitzenden nennen?)


Er hat in einem Interview im Deutschlandfunk darauf
hingewiesen, wie schwierig es für junge Menschen ist,
unbefristete Arbeitsverträge zu bekommen. Das hat er
beklagt. Die CDA sieht das so, Ihr Parteivorsitzender
sieht die Probleme,


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nur ich nicht!)


nur Sie haben ein Brett vor dem Kopf, Herr Kolb.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Anton Schaaf [SPD])


Vor diesem Hintergrund können Sie unseren Antrag
nicht einfach ablehnen. Unterbreiten Sie wenigstens sel-
ber einen Vorschlag, wie das korrigiert werden kann.
Ablehnen können Sie den Antrag nicht, jedenfalls nicht,
wenn Sie glaubwürdig bleiben wollen.

Ich danke Ihnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Sebastian Blumenthal [FDP]: Sehr charmant, Frau Kollegin!)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1713010800

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächster Redner in un-

serer Debatte ist für die Fraktion der CDU/CSU unser
Kollege Dr. Johann Wadephul. Bitte schön, Herr
Dr. Wadephul.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Johann Wadephul (CDU):
Rede ID: ID1713010900

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass wir
in einer Zeit über derartige Anträge diskutieren, in der
wir die Arbeitslosenzahl in Deutschland unter die Marke
von 2,8 Millionen gesenkt haben,


(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Genau!)


in der wir eine Beschäftigungsquote haben, von der wir
vor einigen Jahren noch geträumt haben, in der wir of-
fene Stellen haben, in der Arbeitgeber die besten Köpfe





Dr. Johann Wadephul


(A) (C)



(D)(B)

suchen, in einigen Fällen aber überhaupt keine Fach-
kräfte mehr finden.


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und trotzdem befristet! Das ist doch paradox!)


In dieser Situation malen Sie hier, im Deutschen Bundes-
tag, ein Bild, als wären Prekariat, Unsicherheit, Arbeits-
losigkeit und Beschäftigungslosigkeit auf dem deutschen
Arbeitsmarkt der Regelfall. Diese Schwarzmalerei hat
mit der Realität überhaupt nichts zu tun. Sie stellt die Er-
folgsgeschichte der deutschen Wirtschaftspolitik schlicht
und ergreifend in Abrede.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Niemand in diesem Hause bestreitet, dass ein befriste-
tes Arbeitsverhältnis weniger gut ist als ein unbefristetes
Arbeitsverhältnis. Ich kenne niemanden, der ein befriste-
tes Arbeitsverhältnis für wünschenswert hält. Wenn Sie
jetzt in Ihren Anträgen darauf hinweisen, welche Folgen
das für die Familiengründung hat – da haben wir Sie
endlich an unserer Seite – oder dass man deswegen
krank zur Arbeit geht oder sich nicht als Betriebsrat zur
Verfügung stellt, dann muss ich Ihnen sagen: Wenn das
denn alles so schlimm ist, dann war es erst recht
schlimm und bedrückend für die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer im Jahre 2001, als Sie von Rot-Grün diese
Regelungen hier in Kraft gesetzt haben. Insofern fällt
diese Argumentation auf Sie selbst zurück.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


An dieser Stelle können Sie nicht sagen, dass Sie das
in dieser Debatte schon fünf- oder sechsmal eingeräumt
und „mea culpa“ in den Raum gerufen haben. 2001
wurde nicht erstmalig Befristungsrecht in Deutschland
kodifiziert, sondern – das steht in den Anträgen und
wurde heute, glaube ich, auch schon gesagt – wir haben
seit 1985, und zwar durch das Beschäftigungsförde-
rungsgesetz von Norbert Blüm, eine derartige Gesetzge-
bung in Deutschland. Deswegen war das nach 15 Jahren
nichts Neues. Sie haben – wenn es denn so schlimm war –
den Menschen zu Beginn der Jahrtausendwende mit Ih-
rer Agenda 2010 noch viel mehr zugemutet, als man ih-
nen heute zumuten würde. Wenn es denn verantwor-
tungslos war, dann war es 2001 erst recht
verantwortungslos, so etwas zu machen. Das fällt voll
auf Sie zurück.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Klaus Barthel [SPD]: Was folgt denn jetzt daraus? – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Waren Sie jetzt dafür oder dagegen? Was ist denn Ihre Position?)


– Ich komme gleich dazu. Ich habe noch ein bisschen
Redezeit, und Sie können auch gleich eine Frage dazu
stellen, Herr Kollege Ernst.

Jetzt müssen wir uns im Einzelnen mit der Beurtei-
lung der befristeten Arbeitsverhältnisse auseinanderset-
zen.

(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Sehr lobenswert!)


Ich möchte erstens festhalten, dass es in der Tat wün-
schenswert ist, ein unbefristetes Arbeitsverhältnis zu ha-
ben. Zweitens möchte ich sagen, dass aber die Gleichstel-
lung, die hier der eine oder andere Redner vorgenommen
hat – auch Sie, Frau Kollegin Müller-Gemmeke –, näm-
lich von vornherein zu sagen, ein befristetes Arbeitsver-
hältnis sei automatisch ein prekäres Arbeitsverhältnis,
falsch ist. Das entspricht nicht der Wirklichkeit. Das müs-
sen wir ganz eindeutig festhalten. Die Alternative zu ei-
nem befristeten Arbeitsverhältnis ist in aller Regel die Ar-
beitslosigkeit.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: So ist es!)


Deshalb bleiben wir im Grundsatz bei unserer Aussage:
Sozial ist, was Arbeit schafft.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Jeder Arbeitsplatz, auch wenn es nur ein befristeter ist,
ist ein guter Arbeitsplatz.

Herr Kollege Ernst, Sie sind etwas verfangen in den
Marx’schen Ideen und sehen deshalb den Sklavenstaat
als eine Vorstufe der Arbeitswelt im 19. Jahrhundert.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Das hat etwas mit Logik zu tun, nicht mit Marx!)


Wir sind im 21. Jahrhundert, lieber Herr Kollege Ernst.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Eben! Und Sie machen das Mittelalter daraus! Das ist das Problem!)


Das haben Sie und Ihre Partei noch nicht bemerkt. Wir
haben halt ein paar andere Probleme als zu Zeiten von
Karl Marx.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Vielleicht holen Sie noch auf. Sie haben noch einen wei-
ten Weg vor sich.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Karl Marx hatte keinen Porsche!)


Ich halte fest: Ein befristetes Arbeitsverhältnis ist zu-
nächst ein sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhält-
nis, das ein Haushaltseinkommen von etwa 91 Prozent
des Einkommens von unbefristet Beschäftigten ermög-
licht. Das ist an dieser Stelle immerhin ein guter und er-
folgreicher Zwischenschritt, den wir für richtig halten.


(Klaus Barthel [SPD]: Vorhin haben wir doch gehört, die kriegen den vollen Lohn!)


Nun sagen Sie – das ist vollkommen richtig, das un-
terstützen wir; das hat auch Kollege Zimmer gesagt und
ist von unserer Seite nie bestritten worden –, dass das be-
fristete Arbeitsverhältnis natürlich nicht das Regelar-
beitsverhältnis in Deutschland, insbesondere für Berufs-
einsteiger, werden soll.


(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Aber so läuft es! – Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Ist es schon!)






Dr. Johann Wadephul


(A) (C)



(D)(B)

Das stellen wir uns nicht vor. So ist es in aller Regel
auch nicht.


(Zurufe von der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Doch!)


Man muss sich ganz genau anschauen, warum Ar-
beitsverhältnisse befristet werden und in welcher Art
und Weise Ihre Vorschläge geeignet sind, um die Pro-
bleme zu minimieren. Ich sage Ihnen: In kleinen, mittle-
ren und größeren Betrieben hätte die Umsetzung Ihrer
Vorschläge ganz unterschiedliche Wirkungen.

Ein großes Unternehmen mit vielen Hundert Beschäf-
tigten wird, wenn Sie die Möglichkeit der sachgrundlo-
sen Befristung streichen, gar kein Problem haben, einen
Befristungsgrund zu finden.


(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Das ist genau der Punkt! Die Rechtsabteilungen machen das schon!)


In letzter Zeit wurden in den Medien einige solcher Fälle
öffentlich erörtert. Beim Internetversandhandel bei-
spielsweise soll es der Regelfall sein, dass befristet be-
schäftigt wird. Ich halte das für skandalös, um das ganz
klar zu sagen. Ich bin der Meinung: Wir müssen überle-
gen, was wir hier tun können.


(Klaus Barthel [SPD]: Und was machen wir da? – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Was denn? Wo ist Ihr Vorschlag?)


Nur, diese Unternehmen werden in aller Regel einen Be-
fristungsgrund finden.


(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Ja, immer! Die haben eine Rechtsabteilung usw.!)


Nicht finden wird ihn ein Handwerksmeister mit 15 Be-
schäftigten, der – zu Recht – den Regelungen des Kündi-
gungsschutzgesetzes unterworfen ist.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber die stellen auch nicht befristet ein!)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich finde es
etwas traurig, dass in dieser Debatte zwar richtigerweise
von den Problemen der Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmer die Rede ist, dass aber noch kein Redner darauf
hingewiesen hat, dass auch die Arbeitgeber eine Rolle
spielen.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was? Ich habe das gesagt!)


In Deutschland gibt es glücklicherweise zum Beispiel
Handwerksmeister, die kleine Betriebe führen und
15 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beschäftigen.
Diesen Arbeitgebern nehmen Sie an dieser Stelle jede
Möglichkeit, auf die aktuelle Auftragslage zu reagieren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das Beschäftigungswunder, das es in Deutschland gab,
hat nur zu einem gewissen Teil in den großen Unterneh-
men stattgefunden.

(Abg. Jutta Krellmann [DIE LINKE] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


Zur Stärke Deutschlands –


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1713011000

Herr Kollege.


Dr. Johann Wadephul (CDU):
Rede ID: ID1713011100

– wenn ich diesen Satz vollenden darf – tragen insbe-

sondere die kleinen und mittelständischen Betriebe und
das Handwerk bei.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Klaus Barthel [SPD]: Und warum befristen die einen mehr als die anderen?)


Dem Handwerk verunmöglichen Sie aber, auf die aktu-
elle Auftragslage flexibel zu reagieren. – Herr Präsident,
Sie wollten mich unterbrechen?


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1713011200

Ich will das nicht. Aber die Frau Kollegin Krellmann

hat eine Zwischenfrage, die Sie, wenn ich es richtig ver-
folgt habe, auch herbeigesehnt haben.


(Heiterkeit des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE])



Dr. Johann Wadephul (CDU):
Rede ID: ID1713011300

Nein. So weit gehen meine Sehnsüchte noch nicht.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1713011400

Dann korrigiere ich mich. – Bitte schön, eine Zwi-

schenfrage der Frau Kollegin Krellmann.


Jutta Krellmann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1713011500

Herr Wadephul, ist Ihnen bekannt, dass ausgerechnet

kleine Betriebe, zum Beispiel Handwerksbetriebe, am
seltensten befristete Arbeitsverträge abschließen?


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau! So ist das!)


Diese Betriebe machen von dieser Möglichkeit am we-
nigsten Gebrauch. Das, was Sie gesagt haben, stimmt
nicht. Ist Ihnen das bekannt?


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Johann Wadephul (CDU):
Rede ID: ID1713011600

Frau Kollegin Krellmann, vor Ihnen steht jemand, der

seit 15 Jahren mitten in Schleswig-Holstein in der ar-
beitsrechtlichen Praxis als selbstständiger Anwalt tätig
ist, wenn auch in letzter Zeit aufgrund der parlamentari-
schen Tätigkeit etwas eingeschränkt. Die Masse der
Mandanten, die zu mir kommen – das gilt sowohl für die
Arbeitnehmer- als auch für die Arbeitgeberseite –,
kommt aus dem mittelständischen Bereich. Das sind in





Dr. Johann Wadephul


(A) (C)



(D)(B)

der Tat Handwerksbetriebe und mittelständische Be-
triebe; wir haben in Schleswig-Holstein nämlich fast
keine Großbetriebe.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Dann ist ja klar, warum keiner kommt, wenn sie keine haben!)


– Ich will Ihnen das ganz nüchtern sagen. – Denen darf
man keinen bösen Willen unterstellen.

Sie dürfen aber nicht jedem Arbeitgeber und Be-
triebsinhaber – da sind Sie in Ihrer Gedankenwelt etwas
verfangen, um es vornehm zu formulieren –,


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Wenn es keine Großbetriebe gibt, kann keiner zu Ihnen kommen!)


der einen größeren Auftrag bekommt, absieht, dass er in
den nächsten ein, zwei Jahren etwas mehr zu tun haben
wird, sich fragt: „Wie kann ich mich für die Zeit danach
absichern? Ich möchte ja nicht den Betrieb insgesamt
und andere Arbeitsplätze in Gefahr bringen“, und sich
entscheidet, zur Absicherung des Betriebes insgesamt
zur Befristung zu greifen, unterstellen, dass er Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmer ausnutzen möchte und
etwas Böses im Schilde führt. Das ist schlichtweg die
Voraussetzung dafür, dass unser Mittelstand funktioniert.
Wir müssen einem Arbeitgeber im Falle eines größeren
Auftragsschubes die Möglichkeit zum Atmen und in der
Zeit danach die Möglichkeit zur Schrumpfung geben.


(Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


Sonst wird man nicht dauerhaft Arbeitsplätze in
Deutschland schaffen. Das ist schlicht und ergreifend die
Realität, mit der Sie sich insgesamt auseinandersetzen
sollten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das führt mich insgesamt dazu – –


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben die Frage nicht beantwortet!)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1713011700

Es gibt den Wunsch nach einer weiteren Zwischen-

frage, diesmal vom Kollegen Ernst. Gestatten Sie sie?


Dr. Johann Wadephul (CDU):
Rede ID: ID1713011800

Ja. Unter Geschlechtergesichtspunkten


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Was?)


muss ich bei der Linksfraktion eine Gleichbehandlung
ermöglichen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ach so, okay! – Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP)



Klaus Ernst (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1713011900

Das ist ja ein ganz neuer Aspekt. – Ich habe den Ein-

druck, Sie haben gerade unterstellt, dass ein Arbeitgeber,
der Arbeit zu vergeben hat, niemanden einstellt, der
diese Arbeit erledigen soll, wenn es nicht die Möglich-
keit der Befristung gibt. Würde das nach dieser Logik
nicht bedeuten, dass die Arbeit dann einfach nicht ge-
macht wird, dass also der Arbeitgeber, obwohl er einen
Auftrag hat, die Arbeit nicht erledigen lässt, weil er nie-
manden unbefristet einstellen will?


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Überstunden!)


Das ist doch vollkommen an den Haaren herbeigezogen!
Können Sie sich vorstellen, dass inzwischen gerade in
größeren Betrieben Arbeitgeber mit Betriebsräten über
eine bestimmte Quote bei Befristungen verhandeln wol-
len – bei Siemens zum Beispiel ist sie mit 5 oder 10 Pro-
zent relativ hoch –, weil sie das Risiko der Beschäfti-
gung ganz bewusst auf die einzelnen Mitarbeiter
verlagern und es nicht mehr selbst als Arbeitgeber tragen
wollen? Können Sie sich vorstellen, dass das ein Motiv
der Arbeitgeber sein könnte und dass es sinnvoll wäre,
dem als Gesetzgeber einen Riegel vorzuschieben?


(Beifall bei der LINKEN – Anton Schaaf [SPD]: So sieht das der Laumann auch!)



Dr. Johann Wadephul (CDU):
Rede ID: ID1713012000

Herr Ernst, ich will den Versuch machen, Ihnen noch

einmal das Beispiel – da haben Sie eingehakt – zu erklä-
ren, das für viele gilt. Ich habe insbesondere auf kleine
und mittelständische Unternehmen abgehoben. Diese
bewerben sich auf eine Ausschreibung hin um einen be-
stimmten Auftrag, den sie bekommen können. Diese Be-
werbungen müssen in einer Wettbewerbssituation natur-
gemäß knapp kalkuliert sein. Die Unternehmen sagen
sich: Bewerbe ich mich um diesen Auftrag, gehe ich in
diese Auseinandersetzung hinein, dann brauche ich,
wenn ich den Zuschlag erhalte, mehr Beschäftigte. Ich
kann nicht sicher sagen, dass ich dem Beschäftigten hin-
terher Lohn und Brot geben kann, dass das also eine dau-
erhafte Anstellung sein wird. – Sie fragen sich, mich
oder auch andere, die sie beraten: Wie kann ich so eine
Situation handhaben? Ich möchte den Auftrag anneh-
men, wodurch der Wirtschaft insgesamt geholfen wird,
weil eine Wertschöpfung stattfindet, gleichzeitig soll
aber gewährleistet sein, dass ich mich hinterher von den
Arbeitnehmern trennen kann – leider. Das macht keinem
einzigen Arbeitgeber Freude, sondern sie haben lieber
mehr Beschäftigte, weil sie dann mehr Aufträge und
Umsätze haben und größer werden. Nur wenige wollen
kleiner werden. Aber sie brauchen auch die Möglichkeit,
sich hinterher von diesen Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmern wieder zu trennen.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Gibt es doch: die Kündigung! Gab es früher doch auch! Betriebsbedingte Kündigung ist nichts Neues!)


– Herr Ernst, dass es den deutschen Kündigungsschutz
gibt, ist richtig und vollkommen in Ordnung, aber das ist
nicht ganz einfach. Die Erfahrung eines Arbeitgebers in
so einer Situation ist nämlich regelmäßig die, dass eine
betriebsbedingte Kündigung nicht ganz einfach, sondern
schwierig ist


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Es soll ja nicht einfach sein! Das ist gut!)






Dr. Johann Wadephul


(A) (C)



(D)(B)

und dass Abfindungszahlungen geleistet werden müs-
sen.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Ja, zum Beispiel!)


– Ja, das alles finden Sie gut. Nur, all das, was Sie stän-
dig ausgeben wollen, muss von irgendjemandem – und
das wollen Sie nicht wahrhaben – erwirtschaftet werden.
Das verkennen Sie die ganze Zeit. Das muss der Mittel-
stand erst einmal verdienen, bevor es ausgegeben wer-
den kann.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Deswegen sage ich Ihnen: Es ist ein Zerrbild, davon
auszugehen, dass die befristete Beschäftigung sozusagen
der Regelfall auf dem deutschen Arbeitsmarkt ist. Das
ist sie nicht. In einigen Unternehmen bestimmter Bran-
chen – das ist von unserer Seite auch eingeräumt
worden – gibt es offensichtlich die Unsitte, dass das re-
gelhaft gemacht wird. Darum muss man sich kümmern.
Ihre Vorschläge dazu sind bisher aber unzureichend.


(Klaus Barthel [SPD]: Was passiert denn jetzt?)


Daher glaube ich, dass wir in der Tat eine weitere an-
geregte Fachdiskussion im Ausschuss brauchen. Sie
können sich sicher sein, dass die Koalition fachgerechte
Vorschläge dazu machen wird.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Anton Schaaf [SPD]: Fragen Sie mal den Laumann! Der hat gute Vorschläge!)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1713012100

Vielen Dank, Herr Kollege. – Jetzt für die Fraktion

der Sozialdemokraten unser Kollege Stefan Rebmann.
Bitte schön, Kollege Stefan Rebmann.


(Beifall bei der SPD)



Stefan Rebmann (SPD):
Rede ID: ID1713012200

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Erst einmal herzlichen Glückwunsch zum ge-
wonnenen Hammelsprung vorhin. Ein wenig Bewegung
tut uns allen gut.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ja, genau!)


Meinen herzlichen Glückwunsch auch zum Ergebnis der
namentlichen Abstimmung heute Morgen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ja, sehr gut!)


Das ist gut für Europa. Eigentlich ist es auch für die Re-
gierungsbank noch einmal gut gegangen,


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sehr gut sogar!)


weil die Falken in Ihren Reihen nicht die Oberhand ge-
wonnen haben und Sie weiterwurschteln dürfen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wenn alle so abgestimmt hätten wie wir, dann wäre es gut gewesen!)

Gut für Deutschland und für die Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer ist Ihr Weiterregieren aber leider
nicht.


(Sebastian Blumenthal [FDP]: Das sehen wir an den Arbeitslosenzahlen!)


Das sehen wir an dem jetzigen Tagesordnungspunkt.


(Ulrich Petzold [CDU/CSU]: Und an den Arbeitslosenzahlen!)


Sie behaupten zum Beispiel, die in der Anhörung zu un-
serem Antrag anwesenden Experten hätten sich – ich zi-
tiere wörtlich – „unisono“ ablehnend geäußert. Das
stimmt so aber nicht, und das wissen Sie ganz genau. Sie
ignorieren Herrn Dr. Holst von der Uni Jena, der gesagt
hat, die jetzige Praxis führe dazu, dass Unternehmen ihre
Risiken auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
abwälzen


(Anton Schaaf [SPD]: So ist das!)


und dass vor allem junge, gering qualifizierte Arbeits-
kräfte mit Migrationshintergrund mit befristeten Arbeits-
verträgen abgespeist werden. Daneben warnt er auch vor
der Prekarisierung der Arbeitsgesellschaft durch genau
diese Praxis. Sie ignorieren bzw. verstehen die Experten
des IAB, des Deutschen Gewerkschaftsbundes und des
Hugo-Sinzheimer-Instituts nicht, die sich klar positio-
niert haben, für die die Zunahme der Zahl befristeter Ar-
beitsverhältnisse gesellschaftlich problematisch ist und
die eindeutig für eine Begrenzung in diesem Bereich ein-
treten.


(Beifall bei der SPD)


Ich frage Sie: Warum ignorieren Sie eigentlich diese
Expertinnen und Experten so konsequent? Sagen sie ir-
gendetwas, was nicht in Ihr Weltbild passt? Können Sie
ihnen nicht folgen? Oder reden sie Ihnen nicht nach dem
Mund? Was sind denn eigentlich Ihre Argumente für
oder gegen unseren Antrag? Sie sagen im Grunde: Be-
fristungen flexibilisieren den Arbeitsmarkt. Sie reden
von der großen Brücke hin zu Dauerbeschäftigungen.
Sie sagen: Befristungen verhindern Arbeitslosigkeit und
geben den Arbeitgebern Spielräume. Deshalb darf sich
nichts ändern.

Sie tun gerade so, als wollten wir die Arbeitgeber
dazu zwingen, nur noch unbefristet einzustellen. Das
stimmt so nicht. Wir wollen, dass ein Arbeitgeber einen
überprüfbaren Grund angibt, warum er einen Arbeitneh-
mer befristet einstellen will.


(Beifall bei der SPD)


Das Teilzeit- und Befristungsgesetz – Kollegin Pothmer
hat das vorhin schon gesagt – sieht dafür acht verschie-
dene Gründe vor. Ich finde, es ist nicht zu viel verlangt,
dass man sich erklären muss, wenn man Arbeitnehmer
befristet beschäftigen will.


(Klaus Barthel [SPD]: So ist es!)


Aber vielleicht wollen Sie das gar nicht.

Laut einer Umfrage des WSI aus 2006 geben zwei
Drittel der befragten Unternehmen an, die Möglichkeit





Stefan Rebmann


(A) (C)



(D)(B)

der Befristung ohne Sachgrund zu nutzen, um auf Auf-
tragsschwankungen reagieren zu können. Eine Studie
des IAB aus 2010 kommt genau zu dem gleichen Ergeb-
nis.

Die Arbeitskraft, das Wissen und die Fähigkeit der
befristet Beschäftigten werden gerne angenommen und
gewinnbringend genutzt, am liebsten sogar als billige
Arbeitskraft. Wenn die Menschen wegen ihrer befriste-
ten Arbeitsverträge dazu noch gefügig sind und auf
Rechte verzichten, zum Beispiel auf die Bezahlung von
Überstunden, dann ist das für manche umso besser. Fak-
tisch heißt dies: Das viel zitierte Unternehmerrisiko wird
komplett auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
verlagert und wird zum Arbeitnehmerrisiko. Eine solche
Praxis darf der Gesetzgeber meines Erachtens nicht zu-
lassen.


(Beifall bei der SPD)


Wenn ein Arbeitgeber auf Konjunkturschwankungen
reagieren will, dann sagen wir: nicht über den Weg der
sachgrundlosen Befristung. Dann soll er eben Kurzarbeit
beantragen oder den Weg einer ordentlichen Kündigung
gehen – mit allen Konsequenzen. Dann kann sich der
Arbeitnehmer entsprechend wehren. Wir wollen keinen
Freifahrtschein für kurzfristige Einsparungen auf Kosten
der Arbeitnehmer, und wir wollen schon gar keine Hire-
and-fire-Kultur.


(Zurufe von der CDU/CSU: Oje!)


Jetzt werden Sie sagen – das haben Sie schon getan –:
Es ist doch besser, jemanden ohne Begründung befristet
einzustellen als überhaupt nicht. Damit sind Sie bei
Norbert Blüm bzw. in den 80er-Jahren stehen geblieben.
Sie haben sich nicht weiterentwickelt. Ich sage Ihnen:
Sie haben ein Problem. Bei Gelegenheit müssten Sie ein-
mal nachweisen, dass befristete Beschäftigungen über-
haupt Arbeitslosigkeit verhindern. Das können Sie nicht.
Sie verweisen auf steigende Beschäftigungszahlen aus
Zeiten der Hochkonjunktur. Mit dieser Methode kann
man natürlich alles erklären. Deshalb ist es auch kein
Wunder, dass diejenigen, die sich damit wissenschaftlich
beschäftigt haben, zu einem anderen Schluss als Sie
kommen.

Das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschafts-
forschung und das Institut für Sozialforschung und Ge-
sellschaftspolitik haben 2006 eindeutig festgestellt: Es
gab keine positiven Beschäftigungseffekte durch befris-
tete Arbeitsverträge. 96 Prozent der befragten Unterneh-
men gaben an, dass diese Regelung bei ihnen zu keiner-
lei Veränderungen geführt hat. Das wurde durch ihre
Einstellungspraxis belegt.


(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: 2006! Das ist doch fünf Jahr her! Neue Zahlen!)


Es gibt also keine belegbaren positiven Auswirkungen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: IAB! Aktuell!)

Ich sage Ihnen eines: Im Gegensatz zu Ihren Kreiß-
saal-Hörsaal-und-Plenarsaal-Politikern weiß ich, wovon
ich rede.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ich auch!)


Ich war einmal arbeitslos, und ich habe in drei Schichten
gearbeitet. Ich war auch einmal befristet beschäftigt. Ich
habe nur deshalb einen unbefristeten Arbeitsplatz be-
kommen, weil wir einen guten Betriebsrat hatten, der ge-
gen diese Dauerbefristungen angegangen ist. So sieht es
aus.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Befristet beschäftigt zu sein, heißt: oft deutlich
schlechter bezahlt als Unbefristete, meist ausgeschlossen
von Weiterbildungsmaßnahmen, kaum Planungssicher-
heit, nicht kreditwürdig. Ich sage Ihnen: Als junger
Mensch unter diesen Rahmenbedingungen Zukunfts-
pläne zu schmieden, zu heiraten, Kinder in die Welt zu
setzen, ein Auto zu kaufen, sich vielleicht um Eigentum
zu kümmern, ist schlichtweg nicht möglich.

Die Menschen in Unsicherheit lassen, prekär beschäf-
tigen und schlecht bezahlen, gleichzeitig aber erwarten,
dass sich diese Menschen in Staat und Gesellschaft voll
einbringen, das funktioniert nicht. Ich sage Ihnen: Sie
können nicht die eine Hälfte des Huhns kochen und von
der anderen Hälfte das Eierlegen erwarten. Das funktio-
niert nicht.


(Beifall bei der SPD)


Wir wissen sehr wohl, dass gute Arbeitsmarktpolitik
auch Gesellschaftspolitik ist. Mehr Flexibilität für die
Arbeitgeber gibt es nur mit mehr Sicherheit für die Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer.

Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, der
Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung ändern
kann.


(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Wenn man denken kann! Das ist die Voraussetzung!)


Sie haben in den vergangenen Wochen und Monaten
mehrfach bewiesen, dass Sie dazu in der Lage sind und
auch für gute Argumente zugänglich sind. Geben Sie Ih-
ren Gedanken die Freiheit, die Richtung zu ändern!

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1713012300

Vielen Dank, Herr Kollege. – Nun für die Fraktion

der FDP unser Kollege Sebastian Blumenthal. Bitte
schön, Kollege Blumenthal.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Sebastian Blumenthal (FDP):
Rede ID: ID1713012400

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber

Herr Kollege Rebmann, Sie haben uns gerade in einer
Art angesprochen, auf die ich eine Replik nicht schuldig
bleiben möchte. Bei Ihnen hörte es sich so an, als ver-





Sebastian Blumenthal


(A) (C)



(D)(B)

laufe der Karriereweg der Politiker der Koalition folgen-
dermaßen: Kreißsaal, Hörsaal, Plenarsaal.


(Stefan Rebmann [SPD]: Der eine oder andere!)


Da kann ich Ihnen Folgendes empfehlen: Schauen Sie
sich im Abgeordnetenhandbuch einmal die Berufswege
von uns Kollegen an. Sie werden feststellen: Der Anteil
derjenigen, die mit Berufserfahrung in den Bundestag
eingezogen sind, ist bei uns prozentual höher als in Ihrer
eigenen Fraktion. Bitte seien Sie mit solchen Vorwürfen
vorsichtig. Sie können davon ausgehen: Auch ich habe
schon ein Arbeitsamt von innen gesehen. Ich habe eine
Berufsausbildung gemacht, studiert und acht Jahre in der
Wirtschaft gearbeitet. Es ist nicht so, dass sich hier nur
Leute ans Pult stellen, die nicht wissen, worüber sie re-
den, auch wenn Sie uns diesen Vorwurf immer machen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Zurück zum Thema. Wir haben heute eine ganze
Reihe von Zahlen und viel Zahlenmaterial zu Gehör be-
kommen. Dabei ging es meistens um das IAB und des-
sen Zahlen, wonach jede zweite Neueinstellung befristet
erfolgt. Um das Zahlenmaterial in der Ganzheit zu be-
werten, kann ich empfehlen, eine Langzeitbetrachtung
vorzunehmen. Zum Beispiel lag nach einer Erhebung
der IG Metall der Anteil der Neueinstellungen mit Be-
fristung im Jahre 1986 bei knapp 50 Prozent; im Jahre
2000 waren es nach Angaben der IG Metall zwei Drittel
der Neueinstellungen, während wir aktuell wieder eine
Quote von 50 Prozent erreichen. Dies ist also deutlich
niedriger als im Jahr 2000.


(Klaus Barthel [SPD]: Immer noch zu viel!)


Jetzt hieraus kurzfristig eine schlechte Tendenz abzulei-
ten, kann mit Sicherheit nicht zielführend sein.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Ebenso wie das IAB hat sich zum Beispiel auch die
gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung in einer
Reihe von Studien mit dem Thema befristete Beschäfti-
gungsverhältnisse befasst. Diese Stiftung gehört nicht zu
denen, die uns etwas ins Programm schreiben, sondern
ist in den Reihen von Rot-Rot-Grün bekannter. In einer
Studie kommt man zu folgenden Erkenntnissen: Es
wurde festgestellt, dass die Ausweitung der befristeten
Beschäftigung, vor allem in den neuen Bundesländern,
durch den hohen Anteil öffentlich geförderter Beschäfti-
gung geprägt ist. Damit kommen die Experten der Böck-
ler-Stiftung zu der Schlussfolgerung – ich zitiere –:

Zusammenfassend lässt sich keine dramatische
Ausbreitung der befristeten Arbeitsverträge zur
Substitution von unbefristeten Verträgen erkennen,
wenn man den Einfluss arbeitsmarktpolitischer
Maßnahmen berücksichtigt.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Hört! Hört!)


Das ist der O-Ton Ihrer eigenen Experten.

Die Ausweitung der befristeten Beschäftigung geht
also zu einem großen Anteil auf das Lieblingsinstrument
der Linken zurück, und zwar auf die öffentlich geför-
derte Beschäftigung. An dieser Stelle schließt sich dann
der Kreis. Die Linke scheint hier die Auffassung zu ver-
treten, dass eine befristete Beschäftigung immer noch
besser ist als Arbeitslosigkeit; das haben die eigenen Ex-
perten hier vorgestellt. Früher und eben galt das in der
Debatte noch als neoliberal. Jetzt ist das linke Arbeits-
marktpolitik. So schnell ändern sich die Zeiten.

Daneben gibt es noch weitere Gründe, warum wir die
hier vorliegenden Anträge ablehnen. In zahlreichen Bei-
spielen können wir erleben, dass die Tarifparteien sehr
umsichtig und verantwortungsbewusst mit dem Instru-
ment der sachgrundlosen Befristung umgehen. Während
der Finanz- und anschließenden Wirtschaftskrise zum
Beispiel haben viele Gewerkschaften zusammen mit Ar-
beitgebern solche Regelungen getroffen. Neben dem In-
strument der Kurzarbeit war auch das Instrument der be-
fristeten Beschäftigung eine Möglichkeit, die Menschen
in Arbeit zu halten und Arbeitsplätze zu sichern. Das
sollten Sie nicht außer Acht lassen.


(Beifall bei der FDP)


Ein weiteres Beispiel aus meinem Bundesland
Schleswig-Holstein will ich exemplarisch erwähnen.
Der Kollege Wadephul wird zustimmen: Schleswig-Hol-
stein ist für vieles exemplarisch.


(Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Ja!)


In diesem konkreten Fall hat Verdi Nord im Februar
2011 bei den Tarifverhandlungen mit einem Logistik-
dienstleister im Lübecker Hafen vereinbart, sachgrund-
lose Befristungen per Tarifvertrag auf zwölf Monate zu
begrenzen.

Bitte vertrauen Sie ein bisschen mehr auf die Tarifau-
tonomie und das kluge Handeln der Tarifpartner. Das
sage ich bewusst in Richtung Rot-Rot-Grün. Sie unter-
stellen uns auf Koalitionsseite immer, wir wollten diese
aushöhlen. Das Gegenteil ist der Fall, wie ich gerade
ausgeführt habe. Insofern werden wir auch die vorlie-
genden Anträge ablehnen.

Ich danke für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1713012500

Vielen Dank, Herr Kollege Blumenthal. – Jetzt

spricht für die Fraktion der CDU/CSU unsere Kollegin
Frau Gitta Connemann. Bitte schön, Frau Kollegin
Connemann.


Gitta Connemann (CDU):
Rede ID: ID1713012600

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin

tatsächlich ein glücklicher Mensch.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sehr gut! Endlich mal jemand, der es zugibt!)


Daran können weder einige der Reden am heutigen Tage
noch die Kaspereien während der Debatte etwas ändern,
die Ihnen vermeintlich wichtig war, aber nicht wichtig





Gitta Connemann


(A) (C)



(D)(B)

genug, um sie nicht durch einen Hammelsprung unter-
brechen zu lassen.

Ich bin ein glücklicher Mensch. Das beweist übrigens
auch der Glücksatlas der Deutschen Post. Darin wird
festgestellt, dass die Menschen aus dem Norden Nieder-
sachsens in Sachen Glück auf dem zweiten Platz liegen.
Wir sind wesentlich zufriedener als der Bundesdurch-
schnitt. Unsere Glücksbringer sind Gesundheit, Partner-
schaft und Freunde, aber übrigens nicht – das ist eine
ganz interessante Feststellung – die Höhe des Gehalts.
Die Untersuchung zeigt aber auch, was unglücklich
macht, nämlich Arbeitslosigkeit. Die Lebenszufrieden-
heit von Arbeitslosen liegt weit unter der von Erwerbstä-
tigen; denn Arbeit hat für die Menschen einen unglaub-
lich hohen Stellenwert.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Klaus Barthel [SPD]: Vor allem befristet!)


Arbeit ist – diese Erkenntnis hat sich auf der einen
Seite des Plenums noch nicht durchgesetzt –


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Leider wahr!)


mehr als eine Erwerbsquelle. Sie gibt Sinn, Würde und
Anerkennung. Das wissen diejenigen, die außerhalb des
Arbeitsmarktes stehen, aus bitterer Erfahrung. Deshalb
müssten wir als Politiker und Gesetzgeber eigentlich al-
les dafür tun, die Arbeitslosigkeit abzubauen. Die An-
träge der Opposition hätten aber den gegenteiligen Ef-
fekt, nämlich den Anstieg der Arbeitslosigkeit; denn Sie
wollen die Abschaffung der sachgrundlosen Befristung.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Zuruf von der SPD: Das sieht die CDA aber anders!)


Um nicht missverstanden zu werden: Sicherlich
wünscht sich jeder von uns ein unbefristetes Arbeitsver-
hältnis.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Als Abgeordneter wäre das geradezu traumhaft!)


Das gilt übrigens auch für die Mitarbeiter von Abgeord-
neten, Herr Rebmann. Sämtliche Mitarbeiter von Abge-
ordneten haben auf eine Legislaturperiode befristete Ar-
beitsverträge. Sie heiraten Gott sei Dank trotzdem,
kaufen Autos und beziehen Wohnungen.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Sachgrundlos, Frau Kollegin! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Und zeugen Kinder!)


Das ist auch gut so.

Jeder wünscht sich ein unbefristetes Arbeitsverhält-
nis, obzwar auch dieses durch Kündigungen beendet
werden kann; aber es gibt das Gefühl größerer Sicher-
heit. Arbeitgeber sind allerdings zögerlich, sich von
vornherein unbefristet zu binden. Gerade die letzte Fi-
nanzkrise hat gezeigt, wie schnell es notwendig werden
kann, auf Schwankungen zu reagieren. Dafür brauchen
die Betriebe flexible Instrumente wie die Befristung.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Unsere Aufgabe als Gesetzgeber ist es übrigens in ei-
nem solchen Fall, zwischen dem berechtigten Wunsch
nach Sicherheit auf der einen Seite und dem Bedürfnis
nach Flexibilität auf der anderen Seite abzuwägen. Der
Gesetzgeber hat beiden Interessen Rechnung getragen;
das war übrigens der rot-grüne Gesetzgeber. Wir erken-
nen an, meine Damen und Herren von der SPD und den
Grünen, dass Sie die Regelung in der jetzigen Form ge-
schaffen haben. Ihr erklärtes Ziel war damals, Beschäfti-
gung zu fördern und Arbeitslosigkeit abzubauen. Dass
Sie dieses Ziel erreicht haben, konstatieren wir Ihnen
heute auch.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ja! Jetzt wollen sie das nicht mehr!)


Gerade die Erleichterungen bei der Befristung waren
und sind ein Beschäftigungsmotor am deutschen Ar-
beitsmarkt.

Meine Damen und Herren von der Opposition, leider
wollen Sie heute nichts mehr davon wissen. Weil die
Zahl der befristeten Arbeitsverträge angeblich drastisch
steigt, möchten Sie diese künftig nur noch erlauben,
wenn es einen speziellen Grund für eine Befristung gibt.
Das Dumme daran ist, dass diese Begründung nicht
stimmt. Der Anteil der befristet Beschäftigten hat in den
letzten Jahren allenfalls geringfügig zugenommen; der
Kollege Blumenthal hat die Zahlen eben eindrucksvoll
dargestellt.

Es wäre schön, wenn Sie die Zahlen zur Kenntnis
nehmen und Ihr Heil nicht in grundlosen Behauptungen
suchen würden. Dann würden Sie nämlich erkennen,
dass das sogenannte Normalarbeitsverhältnis keines-
wegs einer aussterbenden Gattung angehört und dass es
keinen Beleg dafür gibt, dass die befristete Beschäfti-
gung das normale Arbeitsverhältnis abgelöst hat.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Laut Statistischem Bundesamt hat sich die Zahl der
unbefristeten Vollzeitjobs seit mehr als zehn Jahren bei
rund 20 Millionen eingependelt. In demselben Zeitraum
ist aber die Zahl der Erwerbstätigen um 2,7 Millionen
angestiegen. Das heißt, es wurde nicht von normalen zu
atypischen Jobs umgeschichtet, sondern es wurden zu-
sätzliche Arbeitsplätze geschaffen, auch dank befristeter
Stellen.

Befristete Stellen sind kein allgemeines Phänomen.
Sie sind die Ausnahme, nicht die Regel. Neun von zehn
Arbeitnehmern in Deutschland sind ohne Wenn und
Aber beschäftigt. Wenn befristet wird, dann insbeson-
dere in zwei Gruppen. Das eine sind die Berufseinstei-
ger. Vor allem junge Leute, die noch keine Berufserfah-
rung haben, bekommen häufig einen befristeten Vertrag.
Hier steht natürlich die Bewährung im Mittelpunkt, ge-
nauso wie das Erwerben von Vertrauen. Aber diese
Chance wird von den meisten genutzt. Nach einer ak-
tuellen Erhebung des IW Köln werden 52 Prozent aller
befristeten Arbeitsverträge in unbefristete umgewan-
delt, also jedes zweite Arbeitsverhältnis. Gerade jünge-
ren Arbeitnehmern hilft das enorm. Das belegt der euro-
päische Vergleich. Deutschland hat die drittniedrigste





Gitta Connemann


(A) (C)



(D)(B)

Quote bei der Jugendarbeitslosigkeit in der EU. Das bitte
ich zur Kenntnis zu nehmen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Angesichts der heute veröffentlichten Arbeitsmarktdaten
bitte ich Sie, auch Folgendes zur Kenntnis zu nehmen:
Wir haben einen unglaublichen Erfolg auf dem Arbeits-
markt erzielt und die 2,8-Millionen-Grenze geknackt.
Aktuell sind 2,76 Millionen Menschen ohne Arbeit. Das
sind sicherlich 2,76 Millionen Menschen zu viel. Aber
seit Amtsantritt dieser Regierung unter Bundeskanzlerin
Merkel, als die Zahl der Arbeitslosen bei rund 5 Millio-
nen lag, haben rund 2,3 Millionen Menschen Arbeit und
damit eine Perspektive gefunden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Der Zorn der Opposition richtet sich im Wesentlichen
gegen die sogenannte sachgrundlose Befristung. Dabei
war das Ergebnis der Anhörung, die wir zu dieser Frage
im letzten Jahr durchgeführt haben: Gerade Beschäftigte
mit Verträgen, die ohne Sachgrund befristet sind, werden
nach Abschluss häufiger übernommen als Mitarbeiter,
die wegen eines Sachgrundes auf Zeit eingestellt wer-
den. Das hat übrigens, lieber Herr Kollege Rebmann,
Christian Hohendanner vom Institut für Arbeitsmarkt-
und Berufsforschung bestätigt. Aber die wenigsten von
Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposition,
waren bei dieser Anhörung, einer Anhörung, die übri-
gens auf Ihren Antrag hin stattfand, genauso wie viele
andere Anhörungen. Wir hatten Ihrem Wunsch entspro-
chen; denn jede Anhörung dient der Erkenntnis. Aber
was bringt diese Erkenntnismöglichkeit, wenn man sie
nicht nutzt?


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Von der SPD fanden genau drei Kollegen in den Anhö-
rungssaal,


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Was? Unglaublich!)


von den Linken zwei, von den Grünen sogar nur eine
Kollegin. Ich frage Sie sehr deutlich: Wozu beantragen
Sie Anhörungen, wenn Sie dann nicht hingehen?


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dann wäre es jedenfalls schön, wenn Sie das Protokoll
lesen würden. Der Kollege Rebmann hat es getan. Das
goutiere ich, obwohl er Herrn Hohendanner nicht richtig
zitiert hat. Aber alle anderen haben das Protokoll offen-
sichtlich nicht gelesen. Die Anhörung spielte jedenfalls
bei den Reden der Opposition überhaupt keine Rolle.
Hätte sie eine Rolle gespielt, dann hätten Sie konsequen-
terweise Ihre Anträge zurückziehen müssen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Denn fast alle Experten sprachen sich in der Anhörung
für die Beibehaltung der sachgrundlosen Befristung aus.
Sie wiesen auf die Chancen, die sich aus unbefristeten
Verträgen ergeben, und die hohe Übernahmerate hin.
Fast alle Experten warnten vor Einschränkungen; denn
diese würden am Ende Stellen kosten. Die Alternative
zum befristeten Arbeitsvertrag sei nämlich nicht der un-
befristete, sondern Mehrarbeit des Stammpersonals, also
Überstunden, oder Zeitarbeit.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1713012700

Frau Kollegin, möchten Sie eine Zwischenfrage von

Frau Pothmer zulassen?


Gitta Connemann (CDU):
Rede ID: ID1713012800

Aber immer gerne.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1713012900

Bitte.


Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1713013000

Frau Connemann, ist Ihnen bekannt, dass im Antrag

der CDA für Ihren Bundesparteitag die Abschaffung der
sachgrundlosen Befristung gefordert wird? Halten Sie
die Kolleginnen und Kollegen, die das fordern, für Dep-
pen oder für unkundige Thebaner? Wie stehen Sie ei-
gentlich zu diesen Kolleginnen und Kollegen?


Gitta Connemann (CDU):
Rede ID: ID1713013100

Nein, das ist mir nicht bekannt; denn die CDA fordert

in ihrem Antrag gerade nicht die Abschaffung der sach-
grundlosen Befristung. Sie fordert die Einschränkung.
Das zeigt Ihr Dilemma.


(Abg. Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] nimmt wieder Platz)


– Frau Pothmer, ich bin noch nicht fertig.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Antwort reicht mir!)


– Nein, nein, diese Chance müssen Sie mir schon geben.
Das zeigt mir aber leider: Das, was Sie nicht hören wol-
len, wollen Sie nicht hören.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich höre Ihnen zu!)


Ich würde Ihnen empfehlen: Wenn Sie Anträge lesen
oder daraus zitieren, dann lesen Sie sie genau durch.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich habe ihn gelesen!)


– Im Fall der CDA haben Sie es nicht getan; das gilt
auch für das Anhörungsprotokoll. Auch bei der Anhö-
rung waren Sie nicht dabei.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich war dabei! Natürlich war ich dabei!)


– Laut Protokoll war die Kollegin Müller-Gemmeke für
die Grünen dabei. – Sehen Sie sich das Protokoll an. Es
ist ein Dilemma, dass Sie über Dinge reden, bei deren
Diskussion Sie nicht waren und über die Sie sich hinter-
her noch nicht einmal informieren. Das finde ich bedau-
erlich.





Gitta Connemann


(A) (C)



(D)(B)

Auch die Vertreterin des DGB hat bestätigt – der Kol-
lege Lange hat darauf hingewiesen –, dass Unternehmen
vermutlich in andere flexible Beschäftigungsmöglich-
keiten ausweichen würden, wenn die sachgrundlose Be-
fristung abgeschafft werden würde. Das bleibt Fakt. Die
Mehrzahl der Experten hat die Aussage in der Koali-
tionsvereinbarung unterstützt, das Ersteinstellungsgebot
abzuschaffen. Hierzu gibt es eine Entscheidung des Bun-
desarbeitsgerichtes, die wir auswerten müssen.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1713013200

Frau Connemann!


Gitta Connemann (CDU):
Rede ID: ID1713013300

Es gibt sicherlich auch Handlungsbedarf bei § 14

Abs. 3 Teilzeit- und Befristungsgesetz. Wir müssen über
das Kriterium des Alters sprechen, aber nicht in Ihrem
Sinne, meine Damen und Herren von der Opposition.
Die Anhörung hat ergeben: Die befristete Beschäftigung
wird von Ihnen vollkommen zu Unrecht verteufelt. Des-
halb werden wir Ihre Anträge ablehnen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1713013400

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales auf
Drucksache 17/4180. Unter Buchstabe a empfiehlt die-
ser Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion
der SPD auf Drucksache 17/1769 mit dem Titel „Lang-
fristige Perspektive statt sachgrundlose Befristung“. Wer
stimmt für die Beschlussempfehlung? – Wer stimmt da-
gegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung
ist angenommen bei Zustimmung der CDU/CSU und
FDP. Dagegen haben SPD und Linke gestimmt, Bünd-
nis 90/Die Grünen haben sich enthalten.

Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck-
sache 17/1968 mit dem Titel „Befristung von Arbeits-
verhältnissen eindämmen“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent-
haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen
bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen. Die
Linke hat dagegen gestimmt, SPD und Bündnis 90/Die
Grünen haben sich enthalten.

Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache
17/2922 mit dem Titel „Kein Sachgrund, keine Befris-
tung – Befristete Arbeitsverträge begrenzen“. Wer
stimmt für die Beschlussempfehlung? – Wer stimmt da-
gegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist
angenommen bei Zustimmung durch die Koalitionsfrak-
tionen. Dagegen haben gestimmt Bündnis 90/Die Grü-
nen und die Linke, die SPD hat sich enthalten.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 34 a bis e sowie Zu-
satzpunkt 2 a und b auf:

34 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Vor-
schlag für eine Verordnung über die elektroni-
sche Fassung des Amtsblatts der Europäischen
Union

– Drucksache 17/7144 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss

b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-
kommen vom 25. November 2010 zwischen
der Bundesrepublik Deutschland und dem
Fürstentum Andorra über den Informations-
austausch in Steuersachen

– Drucksache 17/7145 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Rechtsausschuss

c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-
kommen vom 19. Oktober 2010 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und Antigua und
Barbuda über den Informationsaustausch in
Steuersachen

– Drucksache 17/7146 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Rechtsausschuss

d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Tankred
Schipanski, Albert Rupprecht (Weiden), Michael
Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Dr. Martin Neumann (Lausitz), Dr. Peter
Röhlinger, Patrick Meinhardt, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion der FDP

Potenziale der Einrichtungen des Bundes mit
Ressortforschungsaufgaben stärken

– Drucksache 17/7183 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Sportausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)

e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Agnes
Malczak, Ute Koczy, Kerstin Müller (Köln), wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Zivilpersonal in Konflikten besser betreuen

– Drucksache 17/7191 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Innenausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung

ZP 2a)Beratung des Antrags der Abgeordneten Omid

(Quedlinburg)

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Naturlandschaft Senne schützen – Militärische
Nutzung des Truppenübungsplatzes nach Ab-
zug der Briten beenden

– Drucksache 17/4555 –
Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss (f)

Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Harald Terpe, Birgitt Bender, Maria Klein-
Schmeink, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Wirksame Strukturreformen für eine patien-
tenorientierte Gesundheitsversorgung auf den
Weg bringen

– Drucksache 17/7190 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Hierbei geht es um Überweisungen im vereinfach-
ten Verfahren ohne Debatte.

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die Ausschüsse zu überweisen, die Sie in der Tagesord-
nung finden. Damit sind Sie einverstanden? – Dann ist
so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 35 a bis n auf. Hier
geht es um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen
keine Aussprache vorgesehen ist.

Tagesordnungspunkt 35 a:

Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom
21. Oktober 2010 zwischen der Bundesrepu-
blik Deutschland und dem Großherzogtum
Luxemburg über die Erneuerung und die Er-
haltung der Grenzbrücke über die Mosel zwi-
schen Wellen und Grevenmacher

– Drucksache 17/6615 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

(15. Ausschuss)

– Drucksache 17/7092 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Thomas Lutze

Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwick-
lung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/7092, den Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung auf Drucksache 17/6615 anzunehmen. Wer
stimmt dem Gesetzentwurf zu? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzentwurf einstimmig
angenommen.

Tagesordnungspunkt 35 b:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten
Gesetzes zur Änderung des Agrarstatistikge-
setzes
– Drucksache 17/6642 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-
cherschutz (10. Ausschuss)

– Drucksache 17/7192 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Josef Rief
Dr. Wilhelm Priesmeier
Dr. Christel Happach-Kasan
Dr. Kirsten Tackmann
Friedrich Ostendorff

Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/7192, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 17/6642 in der Aus-
schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf so zustimmen möchten, um das
Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Da-
mit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung einstim-
mig angenommen.

Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zu-
stimmt, der möge sich erheben. – Gegenstimmen? – Ent-
haltungen? – Der Gesetzentwurf ist in der dritten Bera-
tung ebenfalls einstimmig angenommen.

Tagesordnungspunkt 35 c:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten
Gesetzes zur Änderung des Seesicherheits-Un-
tersuchungs-Gesetzes
– Drucksache 17/6334 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

(15. Ausschuss)

– Drucksache 17/7193 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Valerie Wilms





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)

Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwick-
lung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/7193, den Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung auf Drucksache 17/6334 in der Ausschussfas-
sung anzunehmen. Wer möchte dem Gesetzentwurf so
zustimmen? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung ein-
stimmig angenommen.

Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zu-
stimmen möchte, den bitte ich, sich zu erheben. – Ge-
genstimmen? – Enthaltungen? – Auch dieser Gesetzent-
wurf ist in dritter Beratung einstimmig angenommen.

Tagesordnungspunkt 35 d:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss)

zu dem Streitverfahren vor dem Bundesver-
fassungsgericht 2 BvL 4/10
– Drucksache 17/7035 –

Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung, im Verfahren der konkreten Normenkon-
trolle eine Stellungnahme abzugeben und den Präsiden-
ten zu bitten, einen Prozessbevollmächtigten zu
bestellen. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Das ist einstimmig so beschlossen.

Tagesordnungspunkt 35 e:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu der
Verordnung der Bundesregierung
Erste Verordnung zur Änderung der Deponie-
verordnung
– Drucksachen 17/6641, 17/7066 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Brand
Gerd Bollmann
Horst Meierhofer
Ralph Lenkert
Dorothea Steiner

Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/7066, der Verordnung auf
Drucksache 17/6641 zuzustimmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent-
haltungen? – Damit ist die Beschlussempfehlung ange-
nommen. Zugestimmt haben die Koalitionsfraktionen
und die SPD; Linke und Bündnis 90/Die Grünen waren
dagegen.

Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Pe-
titionsausschusses, zu den Tagesordnungspunkten 35 f
bis n.

Tagesordnungspunkt 35 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 309 zu Petitionen

– Drucksache 17/7036 –
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist einstimmig ange-
nommen.

Tagesordnungspunkt 35 g:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 310 zu Petitionen

– Drucksache 17/7037 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist angenommen bei Zu-
stimmung der Koalitionsfraktionen und der SPD. Dage-
gen hat die Linke gestimmt, Bündnis 90/Die Grünen
haben sich enthalten.

Tagesordnungspunkt 35 h:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 311 zu Petitionen

– Drucksache 17/7038 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Damit ist die Sammelübersicht einstimmig an-
genommen.

Tagesordnungspunkt 35 i:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 312 zu Petitionen

– Drucksache 17/7039 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist angenommen. Bünd-
nis 90/Die Grünen haben dagegen gestimmt, alle ande-
ren dafür.

Tagesordnungspunkt 35 j:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 313 zu Petitionen

– Drucksache 17/7040 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist angenommen. Ge-
genstimmen kamen von der Fraktion Die Linke, alle an-
deren Fraktionen haben dafür gestimmt.

Tagesordnungspunkt 35 k:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 314 zu Petitionen

– Drucksache 17/7041 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Damit ist die Sammelübersicht angenommen.
Linke und Bündnis 90/Die Grünen haben dagegen ge-
stimmt, alle übrigen dafür.





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)

Tagesordnungspunkt 35 l:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 315 zu Petitionen

– Drucksache 17/7042 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist angenommen. Dage-
gen haben gestimmt Bündnis 90/Die Grünen und die
SPD, alle übrigen waren dafür.

Tagesordnungspunkt 35 m:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 316 zu Petitionen

– Drucksache 17/7043 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – SPD und Linke haben dagegen gestimmt, alle
anderen waren dafür. Somit ist die Sammelübersicht an-
genommen.

Tagesordnungspunkt 35 n:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 317 zu Petitionen

– Drucksache 17/7044 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist angenommen durch
Zustimmung der Koalitionsfraktionen. Die Oppositions-
fraktionen haben dagegen gestimmt.

Ich rufe den Zusatzpunkt 3 auf:

Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der SPD

Steuerabkommen mit der Schweiz und damit
zusammenhängende Fragen der Steuergerech-
tigkeit

Das Wort hat Joachim Poß für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Joachim Poß (SPD):
Rede ID: ID1713013500

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Lieber Herr Finanzminister! Das Steuerabkommen mit
der Schweiz ist ein sehr fragwürdiger und auch ein sehr
bedenklicher Vorgang, und zwar aus mehreren Gründen.

Der erste Grund ist – da können Sie, Herr Schäuble,
und auch andere noch so viel reden –: Steuerkriminelle,
die über Jahre und Jahrzehnte bis heute mithilfe Schwei-
zer Banken deutsche Steuern hinterzogen haben, bleiben
straffrei und anonym und werden so von Ihnen gezielt
privilegiert. Das ist der Tatbestand.


(Beifall bei der SPD – Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sie schicken die Kavallerie!)


Gerade diejenigen, die im großen Ausmaß Steuern hin-
terziehen, profitieren von der vereinbarten pauschalier-
ten Einmalzahlung. Die großen Steuerhinterzieher kom-
men mit einem Billigtarif davon.


(Beifall bei der SPD – Iris Gleicke [SPD]: Skandal!)


Wir wissen ja – man konnte das auch in den Schwei-
zer Medien verfolgen –: Schon zum Zeitpunkt der Para-
phierung haben offenkundig viele die Champagnerkor-
ken knallen lassen. Gewinner sind nämlich die
Schweizer Banken und die Steuerhinterzieher, aber nicht
die ehrlichen Steuerzahler in Deutschland und auch nicht
der deutsche Staat. Das ist das Ergebnis Ihres Abkom-
mens, Herr Schäuble.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Barbara Höll [DIE LINKE])


Mit Steuergerechtigkeit hat das nichts zu tun. Kriminelle
Energie, die sich nach wie vor auslebt, darf nicht be-
lohnt, sondern muss bestraft werden. Aller Voraussicht
nach – die Gespräche und Verhandlungen mit den USA
sind ja noch nicht abgeschlossen; wir wissen, dass es
auch Diskussionen darüber in der Schweiz gibt – werden
deutsche Steuerkriminelle günstiger gestellt als amerika-
nische. Das gilt auch für einige andere Gruppen, weil die
Amerikaner nicht nur über das Problem der Steuerflücht-
linge, sondern auch über andere Dinge verhandeln.

Darüber hinaus – das ist der zweite Grund – stabilisie-
ren Sie, Herr Schäuble, das fragwürdige Geschäftsmo-
dell und Geschäftsgebaren der Schweizer Finanzwelt,
was mit Sicherheit nicht die Aufgabe der deutschen Re-
gierung und des Bundesfinanzministers ist. Ganz im Ge-
genteil: Hier wurde eine große Chance verspielt, dieses
Gebaren zu zivilisieren. Die Schweiz bleibt – leider – ein
Zufluchtsort der internationalen Steuerhinterziehung, ab-
geschottet gegenüber Steuer- und Ermittlungsbehörden.

Wenn Sie jetzt behaupten, das Abkommen sei anders
gar nicht möglich gewesen, dann sage ich Ihnen: Sie ha-
ben in diesem Punkt von vornherein keinen Ehrgeiz ent-
wickelt.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Barbara Höll [DIE LINKE] – Lachen bei der FDP)


Wie man annehmen kann, geschah dies aus vielerlei Mo-
tiven. Ein Motiv war, Herr Schäuble, dass Sie auf jeden
Fall zum Abschluss kommen wollten, um zu zeigen, wie
man es machen kann. Sie wollten sich so auch von Ihrem
Vorgänger ein wenig abgrenzen.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das war nicht schwer!)


Wer argumentiert, anders sei es nicht gegangen, der
spielt im Endeffekt das Spiel der Steuerhinterzieher und
ihrer Helfer. Natürlich wäre es möglich gewesen, auf die
Schweiz mehr Druck auszuüben. Natürlich hat die
Schweiz Interessen, was ihre Banken, die in Deutschland
freier als bisher Geschäfte machen wollen, angeht. Das
ist ein gewichtiger Trumpf, der nicht ausgespielt wurde.
Dieses Abkommen, Herr Schäuble, ist kein Ruhmes-
blatt,





Joachim Poß


(A) (C)



(D)(B)


(Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Haben Sie es gelesen?)


und Ihre Verhandlungskünste waren es offenkundig auch
nicht.

Im Übrigen unterläuft das Abkommen die EU-Politik
zur Bekämpfung der grenzüberschreitenden Steuerhin-
terziehung, den angestrebten automatischen Informa-
tionsaustausch, den wir und insbesondere die nationalen
Finanzbehörden brauchen, um grenzüberschreitende
Steuerhinterziehung wirksam eindämmen zu können,
wovon letztlich alle Staaten profitieren.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Wer hat Ihnen so einen Unsinn aufgeschrieben?)


Als Krönung des Ganzen sagen Sie auch noch – dass Sie
dafür sind, Herr Michelbach, daran habe ich gar keinen
Zweifel –, Sie wollten in Zukunft auf den Ankauf von
Steuersünder-CDs verzichten. Was treibt Sie eigentlich
zu diesem Zugeständnis?

Das alles können wir beim besten Willen nicht mittra-
gen. Deswegen werden wir uns entsprechend verhalten
und deutlich machen, dass Sie ein Abkommen ausgehan-
delt haben, das man sowohl vonseiten des Bundestages
als auch vonseiten des Bundesrates ablehnen sollte.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Barbara Höll [DIE LINKE])



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1713013600

Das Wort hat der Bundesminister der Finanzen,

Dr. Wolfgang Schäuble.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finan-
zen:

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Kollege Poß, ich will der Versuchung wi-
derstehen, jetzt in der Tonart zu antworten, in der Sie ge-
redet haben. Wir sprechen über einen Nachbarn, die
Schweizer Eidgenossenschaft. Das ist ein zivilisiertes
Land. Dort gelten gesetzliche Regeln zum Bankgeheim-
nis.


(Joachim Poß [SPD]: Ich habe über das Geschäftsgebaren der Banken gesprochen!)


– Lassen Sie mich doch ein paar Sätze sagen, Herrschaf-
ten noch mal! Schon nach dem ersten Satz unterbrechen
Sie mich. Eine so schamlos demagogische Rede zu hal-
ten – gegen jede Vernunft – und dann den Redner nach
dem ersten Satz zu unterbrechen, das ist doch ein Skan-
dal.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich will Ihnen in aller Klarheit sagen: Mit diesem Ab-
kommen schaffen wir einen Meilenstein in der Zusam-
menarbeit mit der Schweiz. Das war ein schwieriges
Thema über viele Jahrzehnte, weil das Bankgeheimnis in
der Schweiz einen ganz hohen Stellenwert hat. Für die
Zukunft werden mit dem Inkrafttreten dieses Abkom-
mens Einkünfte aus Kapitalvermögen, wenn sie bei
Schweizer Bankinstituten angelegt sind, genauso lü-
ckenlos der Besteuerung unterworfen, wie wenn sie bei
deutschen Instituten angelegt wären. Das ist der ent-
scheidende Punkt. Das ist ein Meilenstein in der Zusam-
menarbeit mit der Schweiz.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das ist ein großer Erfolg!)


Wir werden sogar einen Informationsaustausch haben,
der über den OECD-Standard hinausgeht.

Ich will jetzt die Verhandlungen zwischen der
Schweiz und den USA gar nicht weiter belasten. Die
Schweizer Kollegin hat bei der Unterzeichnung des Ab-
kommens vor einer Woche hier in Berlin gesagt, dass die
Schweiz den USA keinesfalls weiter gehende Rechte ge-
währen könne. Deswegen nehmen Sie hier doch keine
mit der Wirklichkeit derartig in Widerspruch stehende
Verzerrung und Verleumdung vor.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Popanz!)


Wir haben für die Zukunft die absolut richtige Lösung
gefunden. Wir haben in einer früheren Legislaturperiode
dafür gesorgt, dass die Einkünfte aus Kapitalvermögen
einer Abgeltungsteuer unterliegen – damit ist die Besteu-
erung definitiv – und dass die Finanzbehörden nur bei
bestimmten Anhaltspunkten Nachfragen stellen dürfen;
das gilt in Zukunft auch für Kapitalanlagen in der
Schweiz. Zukünftig gilt die identische steuerliche Erfas-
sung, egal ob ein Kapitalvermögen deutscher Steuer-
pflichtiger in der Schweiz oder in Deutschland angelegt
ist. Das ist ein wirklicher Durchbruch, ein großer Fort-
schritt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Sie sollten die Schweiz nicht aus der Gemeinschaft zivi-
lisierter Länder ausschließen. So können wir in Europa
nicht auftreten.

Jetzt komme ich auf die in der Vergangenheit geltende
Regelung zu sprechen, und zwar ganz freundlich; denn
ich werbe um Ihre Zustimmung. Der Kollege Walter-
Borjans hat mir liebenswürdigerweise gesagt, dass er
hier sprechen wird. Er hat in der FAZ von heute ein Inter-
view gegeben. Herr Kollege Walter-Borjans, was die
Vergangenheit angeht, muss man zunächst einmal davon
ausgehen: Das Bankgeheimnis ist in der Schweiz recht-
lich geschützt. Auch wir hätten von unserem Rechts-
staatsverständnis her große Probleme, wenn wir Gesetze,
die Bürger schützen, rückwirkend aufheben würden. Wir
müssen davon ausgehen, dass die Schweiz ihre Gesetze
nicht rückwirkend außer Kraft setzen wird; schließlich
ist sie ein Rechtsstaat. Wir stimmen in der Frage des
Bankgeheimnisses nicht überein; aber wir müssen die
Haltung der Schweiz respektieren. Deswegen hat eine
frühere Regierung im Jahr 2003 ein Amnestiegesetz er-
lassen mit Sätzen, die niedriger waren als – –


(Nicolette Kressl [SPD]: Aber nicht anonym!)






Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble


(A) (C)



(D)(B)

– Ich bitte Sie! Wir haben hier gar kein Amnestiegesetz.
Wir haben doch jetzt eine Anonymisierung der Ein-
künfte aus Kapitalvermögen, weil wir die definitive Ab-
geltungsteuer haben, die Sie eingeführt haben. Werfen
Sie doch nicht die Dinge durcheinander! Es ist doch
wirklich nicht angemessen, derart verleumderische Be-
hauptungen gegenüber unserem Nachbarn aufzustellen.

Für die Vergangenheit werden die Schweizer Banken
ihren Kunden drei Optionen anbieten. Die erste Option
ist, ihre Einkünfte einer regulären Besteuerung durch die
zuständigen deutschen Steuerbehörden zuzuführen und
dies gegenüber der Schweizer Bank zu bescheinigen.
Die zweite Option besteht darin, dass sie einen Pauschal-
satz anwenden, der innerhalb der Verjährungsfristen je
nachdem, wie lange die Bestände bestehen, zwischen 19
und 34 Prozent schwankt. Dieser ist höher als die Sätze,
die bei der Amnestiegesetzgebung im Jahr 2003 angebo-
ten worden sind. Damals waren es im ersten Jahr 25 Pro-
zent und im zweiten Jahr 35 Prozent. Zudem war damals
ein pauschaler Abschlag vom Kapital von 40 Prozent
vorgesehen, während wir keinen Abschlag vorsehen. Zu-
dem bezieht sich dieser Prozentsatz nicht auf die Ein-
künfte, sondern auf das Kapitalvermögen insgesamt.
Deswegen gibt es viele Steuerberater, die sagen – die
dritte Option –: Im Einzelfall wird es für Steuerpflichtige
besser sein, eine tatsächliche Besteuerung durchzufüh-
ren, anstatt von der pauschalierenden Regelung Ge-
brauch zu machen. Es mag Fälle geben, bei denen das
anders ist. Das ist aber bei jeder pauschalierenden Rege-
lung so.

Wenn man aber respektiert, dass in der Schweiz das
Bankgeheimnis gilt, ist das doch die einzig denkbare Re-
gelung, wie wir überhaupt deutsche Steueransprüche ge-
genüber Steuerpflichtigen durchsetzen können, die aus
welchen Gründen auch immer ihr Vermögen in die
Schweiz gebracht haben.

In meiner Amtszeit als Bundesfinanzminister sind üb-
rigens mehr Datensammlungen angekauft worden als in
jeder früheren Legislaturperiode. Sie werden aber doch
wohl nicht im Ernst sagen wollen, dass wir auf Dauer – –


(Joachim Poß [SPD]: Weil mehr angeboten wurde!)


– Das ist doch gar kein Problem. Jedenfalls habe ich ge-
gen viel Kritik diese Entscheidungen zusammen mit den
obersten Finanzbehörden der Länder getroffen.

Unser Rechtsstaat kann sich aber nicht auf Dauer da-
rauf beschränken, zu sagen: Wahrscheinlich werden wir
die Steueransprüche nie durchsetzen können; es sei
denn, wir finden Menschen, die gegen Gesetze verstoßen
und im Zweifel viel Geld dafür kassieren, uns Informa-
tionen zu geben.

Im Übrigen verfügt die Schweiz natürlich über Mittel,
um gegen den Bruch ihrer Gesetze durch den Diebstahl
von Datensammlungen vorzugehen. Das verstößt übri-
gens auch in Deutschland gegen entsprechende Daten-
schutzgesetze. Wir sollten also einmal klar aussprechen,
wovon wir reden. Wir können doch nicht die Durchset-
zung unserer Steueransprüche bis in die Ewigkeit aus-
schließlich darauf stützen. Deswegen ist dieses Argu-
ment wiederum falsch.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Herr Kollege Walter-Borjans, Sie haben offenbar in
Ihrem Interview etwas verwechselt. Wir hebeln die Zins-
besteuerungsrichtlinie der EU nicht aus, ganz im Gegen-
teil. Bei der seit 2003 geltenden Zinsbesteuerungsrichtli-
nie, die übrigens nur Zinsen und keine anderen
Einkünfte aus Kapitalvermögen erfasst, haben wir ers-
tens für Österreich und Luxemburg eine Ausnahme ge-
macht, weil diese Länder das im Hinblick auf eine an-
dere Regelung mit der Schweiz nicht akzeptiert haben.
Deshalb wird dabei nichts unterlaufen. Zweitens gehört
die Schweiz, soweit ich weiß, nicht zur Europäischen
Union, sondern sie ist der Europäischen Union assozi-
iert. Sie gehört der Europäischen Union aber nicht an.
Drittens ist es so, dass die Finanzämter der Länder – ich
werfe ihnen das gar nicht vor, aber man könnte das ein-
mal öffentlich diskutieren – mit der Fülle der Informatio-
nen – das konnte man immer in den Zeitungen lesen –,
die sie im Rahmen des automatischen Informationsaus-
tauschs nach der Zinssteuerrichtlinie bekommen, derzeit
überhaupt nicht umgehen können, weil sie sie gar nicht
verwerten können.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie das Ab-
kommen vorurteilsfrei prüfen und wenn Sie respektie-
ren, dass die Schweiz eigene Gesetze hat, dass die
Schweiz ein so hoch entwickelter Rechtsstaat ist wie
Deutschland, dann werden Sie feststellen, dass wir auf
der Basis der Gleichberechtigung auch bei unterschiedli-
chen Auffassungen miteinander umgehen sollten. Sie
werden bei bestem Willen nicht zu dem Ergebnis kom-
men, dass eine bessere Regelung für die Vergangenheit
erreichbar war.

Für die Zukunft haben wir eine völlige Gleichbehand-
lung der Steuerpflichtigen geschaffen, und zwar unab-
hängig davon, ob sie ihr Vermögen in der Schweiz oder
in Deutschland angelegt haben. Deswegen können wir
ein schwieriges Kapitel aus der Vergangenheit auf eine
gute Art und Weise schließen.

Deswegen mein Appell an alle Verantwortlichen in
Bundestag und Bundesrat: Lassen Sie uns das Abkom-
men unvoreingenommen prüfen! Hören Sie endlich auf
mit einer Polemik, die allenfalls unsere Beziehungen zur
Schweiz und damit weit darüber hinaus unser Ansehen
in Europa beschädigen kann!


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1713013700

Barbara Höll hat jetzt das Wort für die Fraktion Die

Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1713013800

Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Lassen Sie mich zu Beginn zunächst feststel-
len, dass wir als Abgeordnete wieder einmal vor vollen-
dete Tatsachen gestellt wurden. Erst am Tag der Unter-





Dr. Barbara Höll


(A) (C)



(D)(B)

zeichnung wurde uns der Vertrag als Unterlage
zugestellt. Es war nicht möglich, Fragen zu stellen, Kri-
tik zu äußern oder eine Diskussion darüber zu führen.


(Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister: Jetzt!)


Ich kann nur feststellen: Genau das scheuen Sie wie der
Teufel das Weihwasser. Aus Ihrer Position ist das viel-
leicht verständlich; aber aus unserer Sicht und nach mei-
nem Verständnis von Steuergerechtigkeit ist das einfach
ein Skandal. Das belegen die Inhalte des Abkommens.


(Beifall bei der LINKEN)


Steinmeiers Kavallerie hat sich mit Ihrer Hilfe in ei-
nen roten Teppich für Steuersünder verwandelt.


(Lachen des Abg. Olav Gutting [CDU/CSU])


Sie scheuen die Auseinandersetzung zu diesem Thema,
weil sich offenkundig das, was im Koalitionsvertrag
steht, Kampf gegen Steuerhinterziehung, in Luft aufge-
löst hat.

Mit dem Vertrag wollen Sie zwei Dinge regeln: ers-
tens die pauschale Nachversteuerung von bisher unver-
steuertem Altvermögen in der Schweiz – Schätzungen
gehen von bis zu 300 Milliarden Euro aus – und zwei-
tens die künftige Besteuerung von Kapitalerträgen deut-
scher Bürgerinnen und Bürger in der Schweiz.

Mit der pauschalen Nachversteuerung, die zwischen
19 und 34 Prozent liegen soll, profitieren Steuerflücht-
linge gleich doppelt. Zum einen ist diese pauschale Be-
steuerung für die meisten Betroffenen deutlich niedriger
als ihr persönlicher Einkommensteuersatz, zu dem sie
ihr Geld eigentlich hätten versteuern müssen. Zum ande-
ren – das ist wirklich skandalös – beinhaltet der Vertrag,
dass diese Menschen – es handelt sich immerhin um
Steuerflüchtlinge und Steuerbetrüger – straffrei bleiben
sollen und anonym bleiben können.

Da frage ich Sie: Was ist das für ein Rechtsverständ-
nis? Es geht um hinterzogene Gelder, um Steuerminder-
einnahmen in Milliardenhöhe, die der Allgemeinheit
entzogen werden. Wenn jemand beispielsweise in der
Kaufhalle eine Gurke klaut oder in der Straßenbahn ei-
nen Fahrschein nicht löst, dann wird das strafrechtlich
verfolgt. Wenn es aber darum geht, dass bis zu 300 Mil-
liarden Euro unversteuert bleiben, dann soll das mit ei-
ner Amnestie belohnt werden. Das ist mit uns nicht zu
machen!


(Beifall bei der LINKEN)


Für zukünftige Fälle ist vorgesehen, auf kassierte Zin-
sen und Dividenden eine Quellensteuer von 26,375 Pro-
zent – inklusive Soli – zu erheben. Ob das allerdings so
funktionieren wird, bleibt eine zweite Frage, da für die
Durchführung dieses Plans nur die Schweizer Banken
verantwortlich sind.

Die Ablehnung in der Bevölkerung ist groß. Bereits
55 000 Menschen haben den Appell des Kampagnen-
bündnisses „Kein Freibrief für Steuerbetrüger“ unter-
zeichnet. Ihr Abkommen stößt auf breiten Widerstand.
Das Netzwerk Steuergerechtigkeit – Tax Justice Net-
work – sagt dazu – ich zitiere mit Ihrer Erlaubnis, Frau
Präsidentin –:

Das Einzige, was an diesem Abkommen wirklich
funktionieren wird, sind die Amnestie und die Ein-
stellung der laufenden Strafverfahren.


(Dr. Volker Wissing [FDP]: Das ist keine Amnestie! – Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Das ist eine Nachjustierung!)


Daher verstehe ich nicht, warum Sie noch so stolz
sind. Das Abkommen wird und kann überhaupt nicht
umfassend greifen, denn es sind Umgehungsmöglichkei-
ten darin enthalten. Eine Zahlungsverpflichtung kann
nicht durchgesetzt werden, wenn das Geld nicht direkt
bei einer Schweizer Bank liegt, sondern ausgelagert auf
den Konten der ausländischen Niederlassung einer
Schweizer Bank. Sie haben keine Zugriffsmöglichkeiten
auf Liechtensteiner Ermessenstiftungen und auf Trusts;
denn das sind keine natürlichen Personen. Das Ganze
können wir jetzt nicht detailliert erläutern. Sie haben in
diesen Bereichen jedenfalls keine Möglichkeit, die Zah-
lungsverpflichtung durchzusetzen.

Interessanterweise ist nicht alles, was irgendwo bei
Schweizer Banken liegt, zu versteuerndes Kapital. Sie
haben ausdrücklich gesagt: Zu den Vermögenswerten im
Sinne des Abkommens zählen nicht die Inhalte von
Schrankfächern. Die Nachfrage nach Schrankfächern in
der Schweiz ist in den letzten Wochen massiv angestie-
gen. Da fragt man sich ja wohl, warum.

Insgesamt bedeutet das Abkommen keine konse-
quente Bekämpfung von Steuerbetrug. Zudem schaffen
Sie einen Konflikt mit der EU. Herr Bundesminister
Schäuble, was Sie vorhin auf Herrn Poß erwidert haben,
stimmt nicht. Es geht darum, den automatischen Infor-
mationsaustausch durchzusetzen. Dieses bilaterale Ab-
kommen behindert das. Wir haben bereits am Mittwoch
im Ausschuss mit der Diskussion darüber begonnen.
Verschließen Sie doch nicht die Augen vor den Realitä-
ten!

Man muss sich auch einmal fragen, warum Sie die
Anzahl der Ersuche nach Auskünften einfach so be-
grenzen. In den ersten zwei Jahren soll die Gesamtan-
zahl der zugelassenen Anfragen maximal 999 betragen.
Nur zum Vergleich: Es gab 26 000 Selbstanzeigen; wir
haben rund 600 Finanzämter. Jedes Finanzamt darf also
in den ersten zwei Jahren durchschnittlich rund 1,5 An-
fragen stellen. Das ist doch kein konsequenter Kampf
gegen Steuerbetrug.

Ich muss auch sagen: Wenn Sie ein solch schwaches
Verhandlungsergebnis zulassen, was sollen dann Staaten
wie Griechenland machen, die weiß Gott eine wesentlich
schlechtere Verhandlungsposition gegenüber Schweizer
Banken haben und jetzt damit zu kämpfen haben, dass
die griechischen Millionäre und Milliardäre massiv in
die Steueroase Schweiz flüchten, weil es dort genug
Schlupflöcher gibt!


(Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Wie viel Geld haben Sie denn in der Schweiz?)






Dr. Barbara Höll


(A) (C)



(D)(B)

Für diese Steuerflucht sind Sie letztendlich mitverant-
wortlich.

Es geht darum, Steuergerechtigkeit herzustellen.


(Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Deswegen wollen Sie kein Steuerabkommen!)


Das machen Sie mit diesem Abkommen nicht. Nein, Sie
behindern es, auch in den internationalen Auseinander-
setzungen.

Danke.


(Beifall bei der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1713013900

Das Wort hat der Kollege Dr. Volker Wissing für die

FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Volker Wissing (FDP):
Rede ID: ID1713014000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Zunächst zu Ihnen, Frau Kollegin Höll: Dieses Abkom-
men enthält keine Amnestie. Insofern ging Ihre Rede
völlig an der Sache vorbei und war kein Beitrag, der in
diese Aktuelle Stunde gepasst hätte.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Zur SPD. Lieber Herr Kollege Poß, ich habe mich ge-
fragt, warum ausgerechnet Sie, die Sozialdemokraten,
diese Aktuelle Stunde beantragt haben; aber als ich be-
merkt habe, dass Sie sie zur Märchenstunde machen
wollen, wurde mir einiges klar. Sie haben jedenfalls über
nichts geredet, das in diesem Abkommen vereinbart ist,
und zeichnen hier ein Bild, das nicht mit der Realität in
Einklang zu bringen ist.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Dann lesen wir es jetzt mal durch!)


Warum haben die Sozialdemokraten das beantragt? Man
muss sich diese Frage stellen, weil Sie, als Sie die Ver-
antwortung für das Finanzressort hatten, nichts außer öf-
fentlichen Pöbeleien Ihres Finanzministers zustande ge-
bracht haben. Ein Verhandlungsergebnis haben Sie
jedenfalls nicht zustande gebracht.


(Beifall bei der FDP und CDU/CSU)


Am Ende seiner Amtszeit stand Peer Steinbrück in
der Frage der Besteuerung der Vermögen in der Schweiz
völlig erfolglos und ergebnislos da. Ausgerechnet er
stellt sich jetzt in der Öffentlichkeit hin und sagt, man
hätte die Pferde satteln müssen. Das passt zu dem, was
Frau Kollegin Kressl vorhin dazwischengerufen hat:
Man hätte eben mehr Druck machen müssen. Wenn Sie
sagen, man hätte mehr Druck machen müssen – Sie stel-
len es öffentlich immer so dar –, dann muss man sich
doch die Frage stellen: Warum haben Sie denn mit dem
Druck, den Sie ausgeübt haben, und mit Ihren Pöbeleien
gegenüber der Schweiz in all diesen Fragen null Komma
nichts erreicht? Diese Frage sollten Sie sich einmal stel-
len.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Ich will zu Peer Steinbrück, der da hinten jetzt zuhört,
sagen: Ich finde es bitter, dass es in Deutschland immer
noch Politiker gibt, die meinen, mit außenpolitischer Ag-
gression spielen zu müssen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, halten dann man-
che auch noch für besonders geistreich. Sie, die Sozial-
demokraten, sagen uns auch noch allen Ernstes, wir hät-
ten uns ähnlich wie Peer Steinbrück verhalten sollen, der
Deutschland im Ausland, gegenüber unseren Schweizer
Freunden, der Peinlichkeit preisgegeben hat.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Widerspruch bei Abgeordneten der SPD – Nicolette Kressl [SPD]: Sagen Sie doch mal was zum Abkommen! Wie wäre es mit ein paar Fakten?)


Wenn der gleiche Peer Steinbrück dann auch noch im
Spiegel die Geschichte des Westens von Heinrich August
Winkler über die Zeit von 1914 bis 1945 kommentiert,
dann kommt man auf den Gedanken, dass sich dieser
Mann vielleicht auch im Zusammenhang mit seinen Äu-
ßerungen gegenüber der Schweiz an die deutsche Ge-
schichte erinnern sollte. Wie kann eigentlich jemand an-
gesichts der deutschen Geschichte unbekümmert mit
einem Nachbarland so umgehen und herumschwadronie-
ren, von der Kavallerie sprechen und auch noch sagen,
man hätte die Pferde satteln müssen? Meine Damen und
Herren, das ist eine Form der verbalen Kanonenbootpo-
litik, die sich eigentlich jedem Mitglied dieses Hohen
Hauses verbieten sollte.


(Nicolette Kressl [SPD]: Sagen Sie doch einmal was zu diesem Abkommen!)


Jetzt zum Abkommen. Ich bin dem Bundesfinanz-
minister für dieses Verhandlungsergebnis sehr dankbar.


(Nicolette Kressl [SPD]: Das kann ich mir denken!)


Jeder, der die Verhandlungen verfolgt hat, weiß, dass
sich Wolfgang Schäuble mit großem Engagement und
großem persönlichem Interesse daran, diese seit Jahren
unerledigte Frage endgültig zu beantworten, in die Ver-
handlungen begeben hat. Am Anfang schien manches
unmöglich. Wir sind mit dem Finanzausschuss in die
Schweiz gereist und haben Gespräche geführt. Wir hat-
ten den Eindruck, dass es kaum möglich sein wird, einen
Durchbruch in dem Sinne zu erreichen, dass die Kapitel-
erträge in der Schweiz exakt so besteuert werden wie in
Deutschland. Das war bei Gesprächen, die wir dort ge-
führt haben, nicht einmal in Sichtweite. Dass es am Ende
gelungen ist, all die Vorhaben durchzusetzen, ein Be-
steuerungsabkommen hinzubekommen, das für die Zu-
kunft in der Schweiz wie in Deutschland eins zu eins die
gleiche Besteuerung sicherstellt, und zwar ausnahmslos,
das reden Sie mit Ihren Märchen klein. Das ist nichts als
peinlich.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Nein, das stimmt nicht!)






Dr. Volker Wissing


(A) (C)



(D)(B)

Lassen Sie uns über die Bilanz reden, die die Sozial-
demokraten vorzuweisen haben, und über die Bilanz, die
die christlich-liberale Bundesregierung vorzuweisen hat.
SPD-Bilanz: nichts erreicht, jährlich Steuern in Milliar-
denhöhe verjährt, Straftaten verjährt. In den Verhandlun-
gen mit der Schweiz haben Sie für den Bundeshaushalt
keinen Cent herausgeholt, null Komma nichts. Nun glau-
ben Sie auch noch, Sie könnten in dieser Aktuellen
Stunde selbstbewusst Ihr Versagen verteidigen. Liebe
Kolleginnen und Kollegen, Sie haben in dieser Frage
nichts, aber auch gar nichts erreicht.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Nicht nur in dieser Frage! – Nicolette Kressl [SPD]: Ich denke, Sie wollten noch etwas zum Abkommen sagen!)


Vergleichen wir Ihre Bilanz mit dem Abkommen, das
der Bundesfinanzminister ausgehandelt hat: volle Kapi-
talertragsteuer wie in Deutschland, kein Cent bleibt un-
versteuert, volle Versteuerung der Altfälle, kein Altfall
bleibt unversteuert, Milliarden können in den Bundes-
haushalt fließen. Ich finde, es ist ein wichtiger Beitrag
zur Steuergerechtigkeit, dass nicht nur die Ehrlichen in
Deutschland ihre Steuern bezahlen, sondern dass jetzt
auch die Altfälle abgearbeitet werden und künftig sicher-
gestellt ist, dass niemand mehr in der Schweiz Kapitaler-
träge unversteuert behalten kann.


(Nicolette Kressl [SPD]: Abgearbeitet? – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Wer garantiert Ihnen das? Wer organisiert das? Wer ist dafür verantwortlich?)


Das wollen Sie kleinreden. Ich finde, Sie machen sich
mit dieser Aktuellen Stunde selbst klein.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1713014100

Herr Kollege, Sie kommen bitte zum Ende.


Dr. Volker Wissing (FDP):
Rede ID: ID1713014200

Ich komme zum Ende, Frau Präsidentin.


(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Ab 2013 wird es frühestens gelten!)


Die SPD steht da wie eine Heulsusentruppe.


(Lachen bei der SPD)


Die Wahrheit ist: In den Jahren Ihrer Verantwortung für
das Finanzressort haben Sie überhaupt nichts erreicht.
Die einzige Frage, die man Ihnen noch stellen kann:
Liebe SPD, geht es noch?


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Genau: Geht es noch? – Dr. Volker Wissing [FDP]: Wenn man nichts erreicht hat, kann man nur daherpöbeln! – Nicolette Kressl [SPD]: Das war eine sehr fachliche Bewertung! – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Das war ein sehr fachlicher Vortrag zu den Fakten!)


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1713014300

Der Kollege Dr. Thomas Gambke hat das Wort für die

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Vielen Dank, Frau Präsidentin! – Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wenn wir
heute über das Steuerabkommen mit der Schweiz und
über damit zusammenhängende Fragen der Steuerge-
rechtigkeit sprechen, dann sollten wir zwei Begriffe in
den Mittelpunkt stellen, nämlich Transparenz und fairen
Wettbewerb. Transparenz und fairer Wettbewerb beherr-
schen unsere Debatte über die wirtschaftliche Zusam-
menarbeit in Europa. Warum? Weil Transparenz zu Ehr-
lichkeit führt und weil fairer Wettbewerb notwendig ist,
weil sich die Wirtschaft nur im fairen Wettbewerb wirk-
lich entwickeln kann. Wer heute diese Verhandlungen
führt, muss nicht nur diese Ziele im Blick haben, son-
dern er muss diese Ziele auch erreichen. Das vermisse
ich beim Doppelbesteuerungsabkommen mit der
Schweiz.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


In Europa ist mehr als zehn Jahre über die Zinsbesteu-
erungsrichtlinie verhandelt worden. Das Ergebnis ist:
35 Prozent Quellensteuer auf Zinserträge


(Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister: Nein, auf Kapital!)


– ich rede von der Zinsrichtlinie – und ein automatischer
Informationsaustausch.


(Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister: Nein, das ist Quatsch! Er hat es nicht verstanden!)


Sie müssen die Signalwirkung der Unterschiede beden-
ken. Die Unterschiede sind die, dass wir in Deutschland
35 Prozent Quellensteuer haben, in der Schweiz sind es
25 Prozent plus Soli.


(Joachim Poß [SPD]: So ist es!)


Außerdem soll in den ersten zwei Jahren die Zahl der
Auskunftsfälle auf 999 begrenzt werden. Bei dieser Ge-
genüberstellung wird doch klar, dass wir weder Transpa-
renz noch fairen Wettbewerb haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Sie haben die Latte gerissen und nichts erreicht.

Zum Thema Ablass auf Schwarzgeld. Einmalig soll
auf Schwarzgeld ein Steuersatz in Höhe von 19 bis
34 Prozent erhoben werden. Eine Garantiesumme in
Höhe von 2 Milliarden Euro soll uns locken. Aber der
wahre Preis ist doch die totale Intransparenz. Die deut-
schen Steuerbehörden geben ihre Verantwortung an der
Schweizer Kasse ab. Es gibt keine Strafverfolgung.
Meine Damen und Herren von der Koalition, glauben
Sie wirklich, dass Sie mit solch einem Ergebnis vor die
steuerehrlichen Bürgerinnen und Bürger treten können,





Dr. Thomas Gambke


(A) (C)



(D)(B)

die mit ihren Steuern zur Finanzierung unseres Staats-
haushalts beitragen?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Daniel Volk [FDP]: Genau dasselbe System wie bei der Abgeltungsteuer in Deutschland!)


In verschiedenen Reden wurde von der Kavallerie ge-
sprochen. Ich stimme Ihnen zu; diese militärischen Aus-
drücke würde auch ich nicht verwenden. Ich bin aber ein
Freund einer klaren Zielsetzung und einer harten Ver-
handlungsführung, und das vermisse ich in diesem Fall.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Bundesminister, Sie fordern Respekt vor der
Rechtsordnung der Schweiz. Den habe ich. Respekt
heißt aber nicht Unterwerfung. Angesichts der Tatsache,
dass das Bankgeheimnis in der Schweiz so gehandhabt
wird, wie es der Fall ist, sage ich: Nein, wir brauchen
Transparenz. Das gilt gerade in der heutigen Zeit, in der
Transparenz und Steuerehrlichkeit unsere Probleme
sind. Wer hätte denn gedacht, dass die Schweiz einmal
Tausende Kundendaten von US-Bürgern weitergibt?


(Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Wer hat denn jetzt die große Auskunftsklausel verhandelt? Wer hat das denn gemacht?)


Wer hat denn das erreicht? Die USA haben das erreicht,
weil sie ein klares Verhandlungsziel hatten und sich ent-
sprechend eingesetzt haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Das haben Sie nicht getan. Das können wir trotz einer
Garantiesumme von 2 Milliarden Euro nicht einfach so
unter den Tisch kehren.

In Süddeutschland, wo ich zu Hause bin, höre ich von
den Banken ein Argument besonders häufig. Was sagen
die mir? Die Menschen in Süddeutschland, aber nicht
nur dort, erwarten, dass die Schweizer Banken in Süd-
deutschland eine Filiale eröffnen. Das haben die Schwei-
zer Banken schon angekündigt. Herr Wissing, es stimmt
nicht, dass die Besteuerung exakt dieselbe ist. Der Un-
terschied ist die Kirchensteuer. Das mag zwar wenig
sein, trotzdem werden die Menschen, die keine großen,
sondern kleine Erträge erwirtschaften, Lieschen Müller
zum Beispiel, ihr Geld in die Schweiz bringen, und zwar
mit dem psychologischen Argument, dass das Geld in
der Schweiz sicher sei, und dem realen Argument, dass
es mit Sicherheit vor weiteren Nachforschungen sicher
ist; denn das haben wir vereinbart.


(Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister: Falsch! Wieder falsch!)


Das befürchten die lokalen Banken.


(Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister: Das ist falsch! Lesen Sie es doch erst einmal!)


Das wird eine weitere Kapitalflucht aus Deutschland in
die Schweiz bewirken. Das ist nicht hinnehmbar.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Daniel Volk [FDP]: So ein Unsinn!)


– Nein, das ist kein Unsinn. Das ist genau das, was pas-
siert, Herr Volk.


(Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Das haben Sie falsch verstanden!)


– Nein, das habe ich nicht falsch verstanden. Das ist ge-
nau das, was mir entgegengebracht wird.


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Sie haben das falsch verstanden, weil Sie es nicht gelesen haben!)


– Nein, ich habe das sehr intensiv gelesen.


(Dr. Volker Wissing [FDP]: Den Eindruck hat man leider nicht!)


Sie sehen nur die kurzfristige Haushaltswirkung. Das ist
Ihr Problem. Damit akzeptieren Sie ein Ergebnis, das
keineswegs passabel ist. Dieses Ergebnis ist miserabel.
Deshalb lehnen wir es ab.


(Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Was passiert denn, wenn Sie blockieren? Sagen Sie das doch einmal!)


Das ist im Interesse von Deutschland und im Interesse
von Europa. Ich hoffe, dass die Länder im Bundesrat
entsprechend agieren.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Daniel Volk [FDP]: Überhaupt keine Regelung! Das ist eine tolle Alternative!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1713014400

Der Kollege Olav Gutting hat das Wort für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Olav Gutting (CDU):
Rede ID: ID1713014500

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Zunächst meinen Glückwunsch, Respekt und Dank
an das Verhandlungsteam um Wolfgang Schäuble! Nach
Monaten zäher Verhandlungen hat diese Regierung et-
was geschafft, was ein SPD-geführtes Finanzministe-
rium in zehn Jahren nicht zustande gebracht hat.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Nicht derjenige, der die Backen aufgeblasen hat und ra-
baukenhaft die Kavallerie ausrücken lassen wollte, ist
zum Ziel gekommen. Nein, für deutsche Steuerflücht-
linge wird es jetzt in der Schweiz teuer, weil Wolfgang
Schäuble besonnen und mit dem notwendigen Respekt
vor einem benachbarten Rechtsstaat, aber hart in der Sa-
che dieses vorliegende Abkommen ausgehandelt hat.


(Beifall bei der CDU/CSU – Nicolette Kressl [SPD]: Wer hat Ihnen das aufgeschrieben?)


Dieses Abkommen sieht neben einer Abgeltung-
steuer auf künftige Erträge auch eine Pauschalbesteue-





Olav Gutting


(A) (C)



(D)(B)

rung für bislang nicht versteuerte Kapitalanlagen vor.
Mit diesem Abkommen erhält der deutsche Fiskus erst-
mals einen Zugriff auf Vermögen und erzielte Erträge
von Deutschen in der Schweiz. Wir haben nach jahr-
zehntelangem Hickhack in dieser Frage und nach leider
manchen verbalen Entgleisungen ein Ergebnis erzielt,
das bedeutet – das steht bereits jetzt fest –, dass 2013
mindestens 2 Milliarden Schweizer Franken zusätzlich
an Bund, Länder und Kommunen fließen werden.


(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Hört! Hört!)


Sie haben vorhin die Anzahl der Anfragen moniert. Mit
diesem Abkommen ist es erstmals gelungen, das
Schweizer Bankgeheimnis zumindest einen Spaltbreit zu
öffnen und das für Steuerhinterzieher bestehende Risiko
der Entdeckung zu vervielfachen.

Umso erstaunlicher ist es, dass nun gerade Sie in der
SPD – eigentlich die ganze Opposition – dieses Ergebnis
zwanghaft schlechtreden wollen.


(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Die haben nichts hingekriegt!)


Erst zehn Jahre nichts zustande bringen und jetzt besser-
wisserisch daherschwätzen, wer soll Ihnen eigentlich
diese Empörung heute noch abnehmen?


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Ich will hier noch einmal darauf hinweisen, dass Sie
2003, als Sie noch in der Regierung waren, im Zusam-
menhang mit Ihrem Steueramnestiegesetz einen Straf-
zinssatz beschlossen haben. Dieser Strafzinssatz lag bei
25 Prozent, aber – wir haben es vorhin schon richtiger-
weise gehört – bei der Bemessungsgrundlage haben Sie
40 Prozent abgezogen. Im Ergebnis waren es daher
15 Prozent Strafzinssatz. Ich will zitieren, wie Sie da-
mals in Ihrer Gesetzesbegründung den Abwägungspro-
zess beschrieben haben: entweder völliger Verzicht auf
die Besteuerung über viele Jahre nicht versteuerten um-
fangreichen Kapitals oder aber Steuermehreinnahmen
über die Besteuerung mit einem Steuersatz von 25 Pro-
zent.


(Nicolette Kressl [SPD]: Nicht anonym und nicht nur für eine Gruppe!)


Real waren es sogar nur 15 Prozent. Wir haben jetzt bis
zu 34 Prozent; das ist mehr als doppelt so viel. Aus al-
lem, was wir wissen, ist dies das Maximale, das in die-
sen Verhandlungen zu erzielen war.

Zudem haben wir jetzt erstmals die Möglichkeit,
Kontoverbindungen einzelner Steuerpflichtiger in der
Schweiz abzufragen. Mit diesem Abkommen ist die
Steuerflucht in die Schweiz faktisch beendet. Sie in der
SPD können sich – dafür habe ich sogar Verständnis –
durchaus ärgern, dass Ihr größter Finanzminister aller
Zeiten das alles nicht zustande bekommen hat.


(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Seine Backen aufbläst!)

Aber wenn Sie dieses Abkommen mit der Schweiz hier
im Bundestag und auch im Bundesrat tatsächlich blo-
ckieren wollen, dann sind Sie in der Opposition dafür
verantwortlich, dass dem Bund, den Ländern und den
Kommunen Milliarden Steuereinnahmen durch die Lap-
pen gehen


(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 2 Milliarden!)


und dass die Steuerflucht in die Schweiz nicht beendet
wird. Deshalb überlegen Sie es sich gut, ob Sie wirklich
auf Blockade setzen wollen. Ich glaube, zum Wohle un-
seres Landes,


(Nicolette Kressl [SPD]: Ach nee!)


zum Wohle der ehrlichen Steuerzahler ist es angezeigt,
ehrlich zu sein und zu sagen: Wir können diesem Ab-
kommen zustimmen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1713014600

Für den Bundesrat hat der Landesminister Norbert

Walter-Borjans jetzt das Wort.


(Beifall bei der SPD)



(NordrheinWestfalen)


Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Ab-
sicht mag gut gewesen sein; dies bestreite ich nicht. Wir
brauchen ein Abkommen zwischen guten Nachbarn, das
sicherstellt, dass sich keiner dieser Nachbarn zur Flucht-
burg für die Zechpreller beim anderen macht. Aber das
Verfahren, lieber Herr Schäuble, sehr geehrter Herr Bun-
desfinanzminister, wie dieses Abkommen zustande ge-
kommen ist, und die Ergebnisse, die wir nach Monaten
der Geheimniskrämerei seit einer Woche auf dem Tisch
haben, sind kein Ruhmesblatt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich war ein bisschen überrascht, als ich eben von
Herrn Wissing hörte, wie er beschrieb, dass sich jeder,
der die Verhandlungen geführt und begleitet hat, gewun-
dert hat. Nach dem, was Sie anschließend gesagt haben,
war mir jedenfalls klar, dass auch Sie sie nicht begleitet
haben; denn es ist uns genauso ergangen. Wir haben
schlicht und ergreifend keinen Einblick haben können.
Das finde ich deshalb so wichtig, weil Länder und Ge-
meinden nicht nur zur Hälfte die Leidtragenden der
Steuerflucht sind. Denken wir bitte auch einmal daran,
wie viele Guthaben seit vielen Jahren auf diesen Konten
liegen, bei denen auch Erbschaftsteuer angefallen wäre.
Das betrifft definitiv die Länder und die Gemeinden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Dr. Volker Wissing [FDP]: Der Finanzausschuss des Bundestages hat sich damit beschäftigt! Ich dachte, der Bundesrat hätte sich auch dafür interessiert!)






Minister Dr. Norbert Walter-Borjans (Nordrhein-Westfalen)



(A) (C)



(D)(B)

Der Argwohn, den die Abschottung der Verhandlun-
gen bei uns geweckt hat, ist durch das Ergebnis mehr als
bestätigt worden.


(Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Sagt er auch mal etwas zur Sache?)


Dazu muss man sich nicht erst – aber das ist vielleicht
auch ganz hilfreich – die erhellenden Ratschläge, die im
Moment auf den Internetseiten der Schweizerischen
Bankiervereinigung gegeben werden, vor Augen führen.
Für die Anleger klingen sie ganz beruhigend. Dort heißt
es, die Anleger müssten sich keine Sorgen machen, sie
könnten ihr Geld ja noch in Sicherheit bringen,


(Nicolette Kressl [SPD]: Ja!)


die steuerliche Belastung werde nicht zu hoch etc.


(Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Ach! Das ist doch Unfug!)


Man muss also zu dem Ergebnis kommen: Hier ist nicht
nur der Bund über den Tisch gezogen worden, sondern
auch die Länder und Gemeinden und vor allem die ehrli-
chen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Wie viel nehmen denn die Länder und Gemeinden bisher ein?)


– Zu dem Spatz in der Hand komme ich noch.

Es geht nicht um einen Konflikt – das möchte ich an
dieser Stelle sehr deutlich machen – zwischen Deutschen
und Schweizern;


(Nicolette Kressl [SPD]: Ja!)


diese Beschreibung wird gerne bemüht, um dem Ganzen
eine gewisse Dramatik zu verleihen.


(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Richtig!)


Es geht um deutsche Steuerbetrüger und Schweizer Hel-
fershelfer auf der einen Seite, und es geht um ehrliche
Menschen in der Schweiz und in Deutschland auf der an-
deren Seite, die für Infrastruktur, Bildung und Sicherheit
Steuern zahlen. Durch ein solches Abkommen müssen
sich diese Menschen verhohnepiepelt fühlen.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Ehrlichen in diesem ganzen Spiel werden ja dop-
pelt getroffen: Sie müssen zum einen die eigene Zeche
zahlen, und sie müssen zum anderen mit für die Kredite
aufkommen, die wir aufnehmen müssen, weil wir nicht
genug Steuern einnehmen, um auf Kredite verzichten zu
können. Dadurch entgeht uns übrigens auch ein Beitrag
zur Haushaltskonsolidierung.


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Aber wir nehmen doch jetzt Steuern ein! – Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Was haben Sie denn bisher eingenommen?)


– Wir erzielen nicht die Steuereinnahmen, die wir erzie-
len müssten. Ich komme noch darauf zu sprechen, was
das in Heller und Cent ausmacht.

(Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Wie ist denn die Entwicklung von vorher zu jetzt?)


– Augenblick!


(Zuruf von der LINKEN: Man muss nicht immer den kleinsten Spatz nehmen!)


Wir stellen momentan fest, dass zunehmend mehr
Menschen, und zwar Angehörige aller Einkommensklas-
sen, Bereitschaft erkennen lassen, eine entsprechende
Steuerlast zu tragen,


(Nicolette Kressl [SPD]: Ja!)


weil sie wissen, dass Leistungen, auch Leistungen des
Staates, ihren Preis haben. Für diese Menschen ist das
Abkommen ein Schlag ins Gesicht.

Das Wichtigste zum Steuerabkommen ist schnell ge-
sagt: Die Kontrolle von morgen obliegt den Tätern und
Mittätern von gestern;


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


das ist der erste Punkt. Jedenfalls – das soll kein Miss-
trauen in die Schweiz zum Ausdruck bringen – ist mein
Vertrauen in einige Schweizer Banken und einige Ver-
antwortliche bei der Schweizer Bankenaufsicht,


(Joachim Poß [SPD]: So ist es!)


die jetzt die Kontrolle übernehmen und sie sicherstellen
– ich formuliere es einmal so – begrenzt. Hier wird ein
Stück weit der Bock zum Gärtner gemacht.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Joachim Poß [SPD]: So ist es! Nichts anderes haben wir gesagt! – Zuruf von der FDP: Mein Gott!)


Sie haben eben gesagt, dass alles nachgeprüft werden
kann. Die Zahl möglicher Nachprüfungen ist auf 999 in-
nerhalb von zwei Jahren begrenzt, nachdem eine paritä-
tisch besetzte deutsch-schweizerische Kommission die
Zulässigkeit der Nachprüfungen überprüft hat.


(Joachim Poß [SPD]: Ein tolles Ergebnis! Mein lieber Mann!)


Ich sage Ihnen: Allein durch den von uns getätigten An-
kauf von CDs kam es zu über 6 000 Selbstanzeigen.


(Nicolette Kressl [SPD]: Ja!)


Ich frage mich, wie durch höchstens 999 Nachprüfungen
in zwei Jahren, die man erst noch durchboxen muss, ge-
währleistet werden soll, dass man einem Verdacht, ob al-
les seine Richtigkeit hat, nachgehen kann.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf des Abg. Lothar Binding [Heidelberg] [SPD])


Hinzu kommt: Wer beim Hinterziehen geholfen hat,
bleibt künftig genauso straffrei wie der, der hinterzogen
hat. Die Schweizer Bankangestellten aber, die beim Auf-
decken der Steuerhinterziehung geholfen haben, werden
weiter verfolgt.


(Nicolette Kressl [SPD]: Ja! – Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Nein! Eben nicht!)






Minister Dr. Norbert Walter-Borjans (Nordrhein-Westfalen)



(A) (C)



(D)(B)

Gegen jedes Gerechtigkeitsempfinden verstößt aus mei-
ner Sicht, dass man, was die Wiedergutmachung in kras-
sesten Fällen betrifft, weit hinter dem zurückbleibt, was
ein ehrlicher Steuerzahler hätte zahlen müssen.


(Nicolette Kressl [SPD]: Genau!)


Sie haben eben darauf hingewiesen: Es gibt mehrere
Optionen, sich zu verhalten. Wenn ich mit einer Selbst-
anzeige besser wegkomme, dann zeige ich mich selbst
an. Wenn ich mich aber der Hinterziehung der Erbschaft-
steuer in erheblichem Umfang schuldig gemacht habe,
indem ich beispielsweise Zinsen nicht versteuert habe,
ist die Situation eine andere. Das heißt, je mehr man
nicht angemeldet hat bzw. je weniger man versteuert hat,
desto besser kommt man anschließend mit der pauscha-
len Bestrafung davon.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Wie kommt man denn ohne das Abkommen davon?)


Es ist so: Je „schwärzer“ das angelegte Geld, desto loh-
nender ist der Betrug.

Der nächste Punkt: Zwischen dem Wirksamwerden
des Abkommens und dem Zugriff gibt es die Gelegen-
heit zur Kapitalflucht. Der Grund dafür ist die Kapital-
verkehrsfreiheit. Die Gefahr des Entdecktwerdens, etwa
infolge eines Ankaufs von CDs, soll eingeschränkt oder
unterbunden werden.


(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Eine Einladung zur Steuerflucht!)


Darüber hinaus finde ich die Behauptung, die anonyme
Mitteilung der Schweizer Banken komme dem von der
EU geforderten automatischen Informationsaustausch
nahe, ziemlich grotesk. Das ist nicht der Fall. Noch ein-
mal dazu, dass jeder Cent versteuert wird: Ja, wenn die
anonyme Meldung tatsächlich umfassend erfolgt, dann
werden die Zinsen demnächst so versteuert wie bei uns.
Wenn es sich aber um ein Guthaben handelt, für das vor-
her keine Erbschaft- oder andere Steuer gezahlt wurde
und das in die Schweiz gebracht worden ist, dann wird
davon überhaupt nichts mehr bekannt.


(Nicolette Kressl [SPD]: Lesen lohnt!)


Nur die Zinsen darauf müssen so versteuert werden wie
bei uns.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Deswegen sagen wir Nein zu dem bisher praktizierten
Verfahren und zu dem Ergebnis.

Wir – zumindest für die sozialdemokratisch regierten
Länder im Bundesrat gilt das sicher – sagen aber eindeu-
tig Ja dazu, dass die Durchsetzung von Recht und Gesetz
durch ein Abkommen auf eine geordnete Grundlage ge-
stellt werden muss. Das ist richtig. Ich finde es auch gut,
dass die Schweiz zumindest anfängt, sich in diesem
Punkt zu bewegen. Es wurde ja darüber gesprochen, wer
hier Druck auf wen ausübt. Aus all den rechtfertigenden
Äußerungen geht allerdings deutlich hervor, dass es hier
auch einen erheblichen Druck der Schweiz auf die deut-
schen Verhandlungspartner gegeben hat, indem deutlich
gemacht wurde, bei welchem Punkt das Ende der Fah-
nenstange erreicht ist und man den Raum verlässt.

Wir sagen auch Ja dazu, dass man ein praktikables
Verfahren finden muss. Das bedeutet auch, dass man an
irgendeiner Stelle einen Schlussstrich ziehen muss. Al-
lerdings darf er nicht so gezogen werden, dass sich der
Betrug gelohnt hat. Es sollte immer noch gelten, dass
man, wenn man etwas hinterzogen hat, am Ende ein
Stück mehr bezahlen muss als derjenige, der sich von
vornherein gesetzeskonform verhalten hat.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Barbara Höll [DIE LINKE])


Die Kontrolle darf nicht vereitelt werden – auch nicht
durch eine Zahl oder eine Kommission. Die USA haben
da in der Tat, zumindest bis zum gegenwärtigen Zeit-
punkt, einen anderen Standard angelegt. Dass die
Schweiz sagt, darauf werde sie nicht eingehen, das
würde ich dem anderen Verhandlungspartner gegenüber
auch sagen. Wollen wir aber einmal sehen, wie es aus-
geht.

Wir sind schließlich hiermit auch dabei, Präzedenz-
fälle für Österreich, Luxemburg und Liechtenstein zu
schaffen.


(Joachim Poß [SPD]: So ist es! – Nicolette Kressl [SPD]: Kann man nachlesen!)


Somit ist mit einem solchen Abkommen auch die Ver-
antwortung verbunden, nicht die Preise für etwas zu ver-
derben, was anschließend erreicht werden muss.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ein echtes Interesse der Schweizer Banken an der
Verhinderung eines Transfers unversteuerter Gelder in
Drittstaaten kann man im Zweifel nur dann erzeugen,
wenn die Vorableistungen, die die Banken erbringen
müssen, deutlich höher ausfallen. Ich höre – ich weiß
nicht, ob es zutreffend ist –, dass in den Verhandlungen
auch einmal von 10 Milliarden Euro und nicht nur von
2 Milliarden Euro die Rede war. Es wird dann sicherlich
auch einmal die Situation geben, dass man sagen kann,
der Spatz in der Hand sei besser als die Taube auf dem
Dach. Dass wir das nicht unpragmatisch sehen, ist doch
völlig klar.

Das, was jetzt da ist, ist aber kein Spatz, sondern man
hat eine Feder in der Hand. Aus diesem Grunde haben
wir die dringende Bitte, Gespräche miteinander zu füh-
ren, anschließend aber natürlich auch von der Möglich-
keit Gebrauch zu machen, mit der Schweiz nachzuver-
handeln, weil wir glauben, dass ein Nachverhandeln
nötig ist.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1713014700

Herr Minister.






(A) (C)



(D)(B)


(NordrheinWestfalen)


Nachverhandeln ist auch möglich. Herr Kollege
Schäuble, ich glaube, deswegen ist es wichtig, dass Sie
der eidgenössischen Regierung signalisieren, dass dieses
Abkommen ohne eine deutliche Nachbesserung in
Deutschland keine Mehrheit hat und dass ein Weiter-so,
das die Schweiz dann vielleicht als Alternative androhen
würde, mit uns nicht zu machen ist.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1713014800

Die Kollegin Dr. Birgit Reinemund hat das Wort für

die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Birgit Reinemund (FDP):
Rede ID: ID1713014900

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber

Herr Borjans, als Vorsitzende des Finanzausschusses
darf ich Ihnen bestätigen, dass der Finanzausschuss die
Verhandlungen kontinuierlich begleitet hat


(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Nicolette Kressl [SPD]: Was? – Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wovon reden Sie? – Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was? Frau Vorsitzende!)


und dass er mit einer Delegation in der Schweiz vor Ort
war. Wenn es so sein sollte, dass sich der Bundesrat nicht
eingebracht hat, finde ich das sehr peinlich. Es war
schon überraschend, das hier so deutlich zu hören.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


In dieser Aktuellen Stunde deutet sich ganz leicht an,
dass die SPD-geführten Bundesländer das Abkommen
mit der Schweiz im Bundesrat tatsächlich blockieren
wollen. Ich bin schon gespannt, wie Sie das den Men-
schen erklären wollen. Überzeugend war das bis jetzt
nicht; denn ich habe noch immer nicht verstanden, ob
kein Abkommen besser oder schlechter als dieses Ab-
kommen ist, über das wir heute sprechen.


(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Geht ja auch gar nicht; denn wir diskutieren heute das erste Mal darüber!)


2003 hat Ihr Finanzminister Hans Eichel, meine Da-
men und Herren von der SPD, verzweifelt versucht, mit
einer wie ein Ablasshandel ausgestalteten Steueramnes-
tie Geld deutscher Steuerflüchtlinge zurückzuholen. Er
hatte vollmundig von 5 Milliarden Euro gesprochen. Am
Schluss sind schlappe 1,2 Milliarden Euro herausgekom-
men. Noch weniger Erfolg hatte die plumpe Drohung
seines Nachfolgers Steinbrück mit der Kavallerie. Außer
Irritationen beim Nachbarn ist dabei Nullkommanichts
herausgekommen. Es sollte immer – das galt auch für
die Vergangenheit – weitgehend Rechtsfrieden erreicht
werden. Genau das ist auch unser Ziel mit dem aktuellen
Abkommen.

Dieser Bundesregierung und diesem Finanzminister
ist gelungen, was die SPD-Finanzminister während der
letzten zehn Jahre nicht zustande gebracht haben.


(Beifall bei der FDP und Abgeordneten der CDU/CSU – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Das alles hören wir gerade zum ersten Mal! Sauber!)


– Ihren Frust, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
SPD, kann ich gut verstehen. Ist das der Grund, dass Sie
heute auf Blockade umsteigen wollen? Zum Beispiel
sagte der nordrhein-westfälische Finanzminister Borjans
in der Presse voller Empörung, dass schwerreiche Straf-
täter viel zu billig davonkommen.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: So ist es! – Nicolette Kressl [SPD]: Zu Recht!)


– Na ja, ist denn zu billig deutlich mehr als null? Oder ist
es das, was Sie bisher erreicht haben? Ohne das Abkom-
men bleibt alles kostenfrei.

Richtig ist: Steuersünder können künftig nachversteu-
ern


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Machen sie aber nicht!)


oder sich über eine Selbstanzeige steuerehrlich machen.
Geld aus Straftaten – das geht über das Steuerrecht hi-
naus – wie zum Beispiel Drogengeld, Geld aus Geldwä-
sche usw. ist vom Schutz der Anonymität explizit ausge-
nommen. Kollegin Kressl und Herr Poß, beide SPD,
fordern, das Abkommen zurückzuziehen. Ja, wunderbar,
dann passiert in den nächsten Jahren in dieser Angele-
genheit überhaupt nichts mehr.


(Nicolette Kressl [SPD]: Das ist doch nicht wahr!)


Dann bleiben wir beim Status quo; denn dies ist eine di-
gitale Entscheidung: Ja oder Nein, Zustimmung oder
Ablehnung. Nachverhandeln geht einfach nicht. Mit in-
ternationalen Verträgen kann auch der Vermittlungsaus-
schuss nicht befasst werden.


(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch Ihr Problem!)


Das wissen Sie ganz genau. Trotzdem gaukeln Sie den
Menschen vor, dass es hier noch Verhandlungsmasse
gebe, um den Preis hochzutreiben oder die Wahrung des
Bankgeheimnisses, das in der Schweiz sehr wichtig ist,
auszuhebeln. Ich nenne das: Die Leute hinters Licht füh-
ren.


(Beifall bei der FDP und Abgeordneten der CDU/CSU)


Das jetzt unterschriebene Abkommen ist das Ergebnis
langer bilateraler Verhandlungen, ein Kompromiss zwi-
schen den Interessen zweier souveräner Staaten. Mehr
geht an diesem Punkt nicht. Auch die Schweiz ist nicht
nur glücklich damit.





Dr. Birgit Reinemund


(A) (C)



(D)(B)


(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Woher wissen Sie das? Waren Sie dabei?)


Ohne dieses Abkommen wird über Jahre hinweg gar
nichts mehr passieren. Das heißt, dass die bestehenden
Steuerforderungen kontinuierlich verjähren würden. Wie
passt das mit dem von Ihnen viel beschworenen Gerech-
tigkeitsempfinden zusammen?

Mit diesem Abkommen haben wir enorm viel er-
reicht. Steuerflucht in die Schweiz wird deutlich er-
schwert. Durch einen Informationsaustausch wird es
nicht mehr nötig sein, zur Bekämpfung von Steuerhin-
terziehung und Steuerbetrug illegal beschaffte Daten auf
CDs zu kaufen. Diese rechtliche Grauzone entfällt. Für
Inhaber von anonymen Konten in der Schweiz gibt es
nur noch drei Möglichkeiten: anonym nachversteuern,
Selbstanzeige machen oder das Konto schließen. Wenn
nach Unterzeichnung des Abkommens Geld aus der
Schweiz abgezogen wird, meldet die Schweiz, wohin.


(Nicolette Kressl [SPD]: Pauschal für alle abgezogenen Gelder!)


– Sie sind gleich dran, Frau Kressl.


(Nicolette Kressl [SPD]: Falsche Sachen kann man doch nicht erzählen!)


Deutschland erhält Steuernachzahlungen auf Altver-
mögen. Künftige Kapitalerträge werden unmittelbar mit
einer Abgeltungsteuer in Höhe von 26,3 Prozent belegt.
Das entspricht dem in Deutschland geltenden Abgel-
tungsteuersatz inklusive Solidaritätszuschlag. Das ist
also eine Eins-zu-eins-Besteuerung. Wir rechnen einma-
lig mit einem Betrag in Höhe von circa 10 Milliarden
Euro und in der Folge mit rund 1,6 Milliarden Euro jähr-
lich. Davon profitieren Bund, Länder und Kommunen
gleichermaßen. Wie wollen Sie den klammen Kommu-
nen erklären, dass Sie über Jahre hinweg großzügig da-
rauf verzichten wollen?

Steuerhinterziehung und Steuerbetrug wird mit die-
sem Abkommen ein weiterer Riegel vorgeschoben. Herr
Steinbrück hat heute Morgen in diesem Haus gesagt: Be-
kämpfung von Steuerhinterziehung und Steuerbetrug ist
ein Beitrag zur Stabilität des Haushalts und ein Beitrag
zur Stabilität Europas. Mehr braucht man dazu eigent-
lich nicht zu sagen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1713015000

Jetzt hat der Kollege Martin Gerster für die SPD-

Fraktion das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Martin Gerster (SPD):
Rede ID: ID1713015100

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Ich bin, ehrlich gesagt, noch immer fassungslos
über die Redebeiträge vonseiten der FDP-Fraktion. Frau
Dr. Reinemund, dass wir im Finanzausschuss die Chance
gehabt haben sollen, die Verhandlungen mit der Schweiz
kontinuierlich und intensiv zu begleiten,

(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD)


dazu muss ich sagen: Das ist überhaupt nicht wahr! Wir
hatten doch überhaupt keine Chance, diese Verhandlun-
gen zu begleiten. Sie haben das im stillen Kämmerlein
mit sich selbst ausgemacht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Widerspruch bei der FDP)


Ich kann noch sagen, Frau Dr. Reinemund: Bei Ihnen
drücke ich ein Auge zu;


(Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Das ist lieb!)


denn Sie sind schließlich neu im Bundestag, das ist Ihre
erste Wahlperiode. Aber, Herr Wissing, das hier ist Ihre
dritte Wahlperiode. Darüber, dass Sie sich mit Ihrer Er-
fahrung hier hinstellen und erklären, dass unter den
SPD-Finanzministern in diesem Punkt überhaupt nichts
passiert ist,


(Dr. Volker Wissing [FDP]: Das ist richtig!)


bin ich fassungslos. Wo waren Sie denn all die Jahre hier
im Finanzausschuss des Deutschen Bundestages?

Es waren SPD-Finanzminister, die sich dieses The-
mas angenommen haben: Hans Eichel hat das Thema
Zinsrichtlinie engagiert vorangebracht.


(Beifall bei der SPD)


Es war der Finanzminister Peer Steinbrück, der auf die
OECD-Standards hingewiesen hat und zusammen mit
den Franzosen das Londoner Kommuniqué durchge-
drückt hat.


(Beifall bei der SPD – Widerspruch bei der FDP)


Auch hat er erreicht, dass die Schweiz auf die Schwarze
Liste kam. Das war doch der Ausgangspunkt des Gan-
zen.


(Beifall bei der SPD – Zuruf von der FDP: Heiße Luft!)


Was Sie hier letztendlich bringen, ist gar nichts. Man
muss Ihnen zugutehalten: Ihre Position beim Thema
Steuerhinterziehung ist konsequent. Die Frage ist nur:
Auf welcher Seite stehen Sie eigentlich? Das ist ja der
Punkt.


(Beifall bei der SPD)


Herr Wissing, kein einziges Mal haben Sie das Wort
„Steuerhinterziehung“ überhaupt in den Mund genom-
men. Um dieses Thema geht es hier aber.


(Beifall bei der SPD – Joachim Poß [SPD]: Herr Wissing kennt keine Steuerflüchtlinge!)


Schauen wir einmal, was Sie gemacht haben und wo-
für Sie die Verantwortung tragen. Welche Landesregie-
rung hat sich denn geweigert, eine CD mit Daten von
Steuerhinterziehern zu kaufen? Das war die schwarz-
gelbe Landesregierung von Baden-Württemberg. Abge-
wählt worden sind Sie dafür.


(Beifall bei der SPD)






Martin Gerster


(A) (C)



(D)(B)

Wer hat denn dafür gesorgt, dass die strafbefreiende
Selbstanzeige weiterhin gilt? Das waren Sie! Wir woll-
ten sie abschaffen. Aber Sie waren dagegen.

Ich muss sagen: Dieses Steuerabkommen mit der
Schweiz ist wirklich der Gipfel. Die Schweiz ist zwar
ein Alpenland, das ist klar. Aber das, was jetzt auf dem
Tisch liegt, ist wirklich der Gipfel. Man muss ganz klar
sagen, dass sich die Schweizer darüber freuen. Ein Blick
in die Schweizer Medien bestätigt diese Vermutung. Die
Neue Zürcher Zeitung schrieb schon am 16. August die-
ses Jahres – ich darf zitieren –:

Das ist wohl das grösste Plus: Der Schweizer Seite
ist es gelungen, die Interessen der Kunden in uner-
wartet hohem Mass zu schützen.

Darüber freuen sich die Schweizer. Aber die Frage ist
doch: Was sind denn die Interessen der Kunden? Wer
sind denn diese Kunden überhaupt? Das sind Steuerhin-
terzieher. Das sind Steuerbetrüger. Das sind Steuerkrimi-
nelle.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Deswegen muss man sich fragen: Was ist denn das für
ein Lob, welches die Neue Zürcher Zeitung der Schwei-
zer Regierung ausstellt? Das ist ein Armutszeugnis für
Ihr Verhandlungsergebnis in Bezug auf dieses Abkom-
men.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Letztendlich muss man sagen: In Zukunft wird sich
ein Steuerbetrüger entscheiden können: Eine Möglich-
keit ist die strafbefreiende Selbstanzeige. Wir wollten sie
abschaffen – ich habe es erwähnt –; Sie waren dagegen.
Jetzt gibt es eine neue Variante: Es besteht die Möglich-
keit, die Abgeltungsregelung zu wählen und weiterhin
anonym zu bleiben. Es ist aus meiner Sicht ein Skandal,
dass wir diesen kriminellen Menschen, die uns Gelder
vorenthalten, die uns gehören und die für Investitionen
in Bildung und Verkehr wichtig wären, zusichern, gegen
Zahlung anonym zu bleiben.


(Dr. Volker Wissing [FDP]: Was schlagen Sie denn vor?)


Das ist schwarz-gelbe Steuerpolitik. Das ist Ablasshan-
del pur, was hier gemacht wird.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Im Übrigen muss ich sagen: Was mich an dieser gan-
zen Debatte stört, ist, dass man von einer „Steuersünde“
spricht.


(Zuruf von der CDU/CSU: Aber selber von Ablasshandel reden!)


Hier wird doch keine Sünde begangen, sondern hier han-
delt es sich um ein ganz gezieltes Kalkül, am deutschen
Finanzamt und damit auch an uns allen vorbei Geld in
die Schweiz zu transferieren. Das ist ein Betrug an unse-
rer Gesellschaft insgesamt.
Der von Ihnen vorgelegte Entwurf für ein Steuerab-
kommen mit der Schweiz ist und bleibt ein Schlag ins
Gesicht aller ehrlichen Steuerzahler.


(Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Was passiert, wenn Sie es ablehnen?)


In der FAZ vom 27. September war zu lesen, zu welchem
Ergebnis Experten gekommen sind, die die Folgen Ihres
Abkommens noch einmal genau durchgerechnet haben.
Das Ergebnis war: Je dreister und konsequenter die Steu-
erhinterziehung in Richtung Schweiz, desto mehr profi-
tieren die Betrüger von Ihrem Abkommen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Deswegen lehnen wir dieses Abkommen ab. Wir wer-
den im Bundestag und zusammen mit den SPD-geführ-
ten Bundesländern dafür sorgen, dass es nicht in der vor-
gesehenen Form durchkommt.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1713015200

Peter Aumer hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Peter Aumer (CSU):
Rede ID: ID1713015300

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren der
SPD, ein konstruktiver Beitrag waren Ihre Debattenbei-
träge in dieser Aktuellen Stunde sicherlich nicht.


(Joachim Poß [SPD]: Wir haben Ihnen wehgetan! – Nicolette Kressl [SPD]: Vielleicht haben Sie ja angefangen, nachzudenken! – Weitere Zurufe von der SPD)


Sie haben gefragt, auf welcher Seite wir stehen, Herr
Gerster. Wir stehen auf der Seite der Steuergerechtigkeit.
Das war das Ziel des Bundesfinanzministers in den Ver-
handlungen.


(Joachim Poß [SPD]: Sie haben doch vorhin bei einigen Beiträgen auch so nachdenklich ausgeschaut!)


Verhandlungen heißt: Es gibt zwei Seiten, zum einen die
Schweiz und zum anderen die Bundesrepublik Deutsch-
land, und man muss eine Einigung finden, um das zu
richten, was in den letzten Jahrzehnten nicht gelungen
ist. Das ist weder Ihrem noch unserem Finanzminister
bisher gelungen.


(Nicolette Kressl [SPD]: Blödsinn!)


Man sollte in dieser Debatte zur Kenntnis nehmen,
dass wir einen Vorschlag vorgelegt haben, zu dem die
Schweiz ihr Einverständnis gibt, und zu dem der Bun-
destag und hoffentlich auch die Bundesländer ihr Ein-
verständnis geben, damit man endlich für Steuergerech-
tigkeit sorgen kann.





Peter Aumer


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Ich glaube, es ist das Ziel all derjenigen in diesem Haus,
dass wir die grundsätzlichen Besteuerungsmerkmale ein-
halten. Die Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit ist
das Ziel, das, glaube ich, uns alle in diesem Hohen
Hause verbindet.

Der Streit mit der Schweiz hat, wie gesagt, jahrzehn-
telang angehalten. Wir haben jetzt ein Ergebnis erzielt,
das so nicht absehbar war. Aber jetzt tönen Sie, meine
Damen und Herren der SPD bzw. Ihr ehemaliger Bun-
desfinanzminister, laut in den Medien: Lieber kein neues
Doppelbesteuerungsabkommen mit der Schweiz als die-
sen Entwurf.


(Nicolette Kressl [SPD]: Das ist gar kein Doppelbesteuerungsabkommen! – Joachim Poß [SPD]: Es ist ein Abkommen, aber kein Doppelbesteuerungsabkommen!)


– Das war ein Zitat, Herr Poß. Dann hat das Ihr ehemali-
ger Bundesfinanzminister in der Zeit falsch dargestellt. –
Das kann nicht sein. Das Abkommen ist ein guter Bei-
trag zu mehr Steuergerechtigkeit. Was Gegenwart und
Zukunft angeht, ist die Besteuerung in unserem Land
gleichgestellt. Für die Vergangenheit haben wir aus mei-
ner Sicht einen tragfähigen Kompromiss gefunden.

Ich habe in der letzten Woche im Handelsblatt ein
schönes Zitat von Torsten Riecke zur Bewertung des
vereinbarten Abkommens gelesen: „Ein Kassenwart, der
da nicht zugreift, wäre ein Dummkopf.“ Ich gebe ihm
recht. Man muss Verhandlungsergebnisse akzeptieren.
Herr Borjans, ich verstehe nicht, dass sich die Länder
dieses Ergebnis nicht zu eigen machen. Ich glaube, es ist
ein guter Weg in die Zukunft, dass wir diese möglichen
Steuereinnahmen auch realisieren.


(Nicolette Kressl [SPD]: Darum geht‘s! Es geht um Rauskaufen!)


– Es geht nicht um „Rauskaufen“. Wir diskutieren um ei-
nen Punkt, nämlich Steuergerechtigkeit.

Die große Frage ist ja: Was würde passieren, wenn
dieses Steuerabkommen nicht zustande kommt? Können
Sie uns garantieren, dass wir ein besseres Abkommen
bekommen als das bisherige, Frau Kressl? Dann könnte
man sicherlich noch einmal in die Verhandlungen ein-
steigen. Ich glaube aber, dass kein besserer Kompromiss
als der, den wir jetzt gefunden haben, möglich ist. Da-
rum bitte ich Sie und auch die Bundesländer, diesem
Kompromiss zuzustimmen, mit dem man nach Jahren
und Jahrzehnten ungelöster steuerlicher Streitigkeiten
endlich einen Kompromiss zur Sicherstellung einer ef-
fektiven Besteuerung für die Zukunft gefunden hat.

Ich glaube, der Bundesfinanzminister hat die Einzel-
heiten des Abkommens ausführlich dargelegt. Deswegen
möchte ich nicht mehr darauf eingehen.


(Zuruf von der SPD: Wir machen es!)


– Meine sehr geehrten Damen und Herren der SPD,
Sie machen das nicht wirklich. Man sollte die Tatsachen
immer klar und korrekt darstellen. Wenn man die ganzen
Debatten auf Ihrer Seite verfolgt, dann zeigt sich ein ge-
wisses Verdrehen der Tatsachen und Wirklichkeiten. Ich
bitte Sie, das zur Kenntnis zu nehmen. Auch die Linken
haben das Abkommen nicht ganz verstanden.


(Lachen bei der LINKEN)


Die Brücke zur Ehrlichkeit ist auch ein Beitrag zu der
tragfähigen Lösung für die Besteuerung, die wir für die
Zukunft gefunden haben, und zu mehr Steuergerechtig-
keit. Das ist ja Ihr Ziel, meine sehr geehrten Damen und
Herren der SPD. Deswegen haben Sie die heutige Aktu-
elle Stunde ja beantragt. Unser Ziel als christlich-liberale
Koalition ist, dass jeder seinen Beitrag leistet, unser
Staatswesen zu finanzieren. Deswegen bitte ich Sie und
auch die von Ihnen geführten Bundesländer, dieses Ab-
kommen mit zu unterstützen und diesen Weg gemeinsam
mit uns zu gehen. Damit ist ein tragfähiger Kompromiss
gefunden worden, der in eine gute Zukunft führt.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1713015400

Lothar Binding hat das Wort für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Lothar Binding (SPD):
Rede ID: ID1713015500

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Sehr verehrte Damen und Herren! Gerade war von Ver-
drehung der Tatsachen die Rede. Frau Reinemund hat
gesagt, der Finanzausschuss habe diesen Prozess konti-
nuierlich begleitet. Wenn das wahr ist, dann handelt es
sich auch um ein gutes Abkommen. Unter dieser Bedin-
gung müsste man das tatsächlich so beurteilen. In Wahr-
heit haben die Beamten gut verhandelt. Aber die, die es
politisch zu verantworten haben, haben eine riesige
Chance vertan; denn mithilfe des Parlaments wäre die
Verhandlungsmacht um Potenzen stärker gewesen. Man
hätte durch eine parlamentarische Begleitung viel mehr
erreichen können. Aber auf eine solche Begleitung hat
man aus lauter Geheimniskrämerei verzichtet. Das war
ein ganz schwerwiegender Fehler.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich will ein Wort zur Vergangenheit sagen. Es wurde
oft auf die letzten zehn Jahre verwiesen. Vor drei, vier
Jahren hatten wir eine Krise. Es musste gehandelt wer-
den. Was passierte? Konjunkturprogramm I und Kon-
junkturprogramm II wurden aufgelegt, es gab eine groß-
zügige Regelung zur Kurzarbeit. Und in den letzten zwei
Jahren hatten wir einen ganz guten Aufschwung zu ver-
zeichnen. Das Wachstum war recht ordentlich. Die Ar-
beitslosigkeit sank. Was passiert nun? Ganz langsam be-
ginnt die Politik der schwarz-gelben Regierung in den
letzten zwei Jahren zu wirken. Die Wachstumserwartun-
gen trüben sich ein.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf Lothar Binding von der FDP: Arbeitslosenzahlen sinken! Ganz genau!)





(A) (C)


(D)(B)


Die Dynamik der Wirtschaft lässt nach.

Genau hier besteht der Konnex zur Vergangenheit:
Ein anderes Verhandlungsergebnis wäre auf einer ande-
ren Grundlage möglich gewesen. Ich erinnere Sie nur an
das Engagement von Frankreich, den USA, der OECD
und Deutschlands zur Zeit der Großen Koalition. Der da-
malige Finanzminister Peer Steinbrück hat, aufbauend
auf der Zinsrichtlinie sowie einer schwarzen und einer
grauen Liste, überhaupt erst die Basis für Überlegungen
gelegt, die Sie jetzt für sich reklamieren.


(Beifall bei der SPD)


Aber mit dieser Basis sind Sie so schlecht umgegangen,
dass einem angst und bange werden muss. Es war näm-
lich die FDP, die die betreffenden Länder permanent
durch Leisetreterei hofiert hat und allergrößtes Verständ-
nis für das Bankgeheimnis


(Nicolette Kressl [SPD]: Genau!)


und alles andere, das Steuerhinterziehern das Leben in-
ternational erleichtert, aufgebracht hat.


(Beifall bei der SPD – Joachim Poß [SPD]: Genau, Spezialisten!)


Wir erkennen, dass sich die Führungsschwäche in den
Verhandlungen auf europäischer Ebene – das zeichnet
sich an ganz vielen Fronten ab – in dem nun vorliegen-
den Abkommen widerspiegelt. Das zwischenstaatliche
Abkommen zu bisher unversteuerten Kapitalerträgen
zeitigt nicht das Ergebnis, das Sie hier vortragen. Frau
Reinemund hat gesagt, die Schweiz zeige doch an, was
passiert. Ich frage Sie: Zeigt die Schweiz uns an, wer
welchen Betrag anlegt?


(Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Und die Schuhgröße!)


– Sie sagen „die Schuhgröße“. Daran sehe ich genau,
dass Sie überhaupt nicht kapieren, warum wir nicht er-
fahren, was dort passiert. – Das Problem ist, dass an-
onym bleibt, wer was zu welcher Zeit in welcher Höhe
nachzuversteuern hat. Das wäre genauso, als wenn ein
Arbeitnehmer morgens zum Finanzamt geht und sagt:
Ich versichere Ihnen, dass ich diesen Monat nur 97 Euro
zu versteuern habe. Jetzt glauben Sie es mir doch end-
lich! – Nein, wir machen den Bock zum Gärtner. Das ist
ein riesengroßes Problem.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


In der Schweiz gibt es Geschäftsmodelle, die aus-
weislich der entsprechenden Prospekte auf Vertrauen,
Vertraulichkeit, Seriosität und Schutz der Privatsphäre
beruhen. Genau das bleibt erhalten. Der Kollege, der
vorhin aus der NZZ zitiert hat, hat es auf den Punkt ge-
bracht: Die Schweizer jubilieren, weil Vertraulichkeit
gegenüber allen weiterhin erhalten werden kann. Nie-
mand fühlt sich erwischt. Steuerhinterziehung bleibt
weiterhin möglich und ist nur eine Ordnungswidrigkeit.
Hier gibt es einen großen Unterschied in der Rechtsauf-
fassung zwischen der Schweiz und Deutschland. Es soll
durch eine anonyme Abgeltungsteuer auf Erträge aus
Vermögen jede weitere Zahlungspflicht abgegolten wer-
den.


(Dr. Volker Wissing [FDP]: Was bitte? Wo?)


Damit wird Steuerhinterziehung verschleiert und als De-
likt endgültig beendet. Das ist das eigentliche Problem.


(Zuruf des Abg. Dr. Volker Wissing [FDP])


Das politische Desaster besteht aber in etwas ganz an-
derem. Die Österreicher sagen jetzt zu Recht: Das ist ein
wunderbarer Präzedenzfall; so etwas wollen wir auch
haben. Die Luxemburger sagen: Toll, so ein schönes Ab-
kommen wie das mit der Schweiz schließen wir auch ab. –
Sie merken, was nun passiert: Wir haben eine moralische
Abwärtsspirale in Europa, und Sie haben den ersten
Schritt zur Errichtung dieser Spirale getan. Wenn wir
diesen Vertrag nicht stoppen, wird das zu einem ganz
großen Problem führen; denn die öffentlichen Aufgaben
müssen steuerfinanziert sein.


(Dr. Volker Wissing [FDP]: Wenn Sie ihn stoppen, kriegen Sie gar nichts!)


Die fairen Steuerzahler – deshalb ist die Aktuelle
Stunde so wichtig – bekommen das Signal, dass es sich
auch künftig lohnt, fair und korrekt Steuern zu bezahlen.
Wir zumindest reden der Steuerhinterziehung nicht das
Wort, auch nicht in internationalen Verträgen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Dr. Volker Wissing [FDP]: Das ist alles falsch, Herr Binding!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1713015600

Bettina Kudla hat das Wort für die CDU/CSU-Frak-

tion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Bettina Kudla (CDU):
Rede ID: ID1713015700

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen

und Herren! Zunächst möchte ich ein Wort an die
Adresse des Finanzministers von Nordrhein-Westfalen
richten, der uns gründlich belehrt hat.


(Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Zu Recht! Das war nötig!)


Herr Minister, wer Milliarden von Steuereinnahmen als
„Feder“ bezeichnet, der braucht sich nicht zu wundern,
wenn er einen nicht verfassungskonformen Landeshaus-
halt hat.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Lachen bei Abgeordneten der SPD – Nicolette Kressl [SPD]: So billig!)


Das Abkommen mit der Schweiz ist sehr gut, und es
ist im Interesse der Bürger.


(Nicolette Kressl [SPD]: Das ist ja unglaublich!)






Bettina Kudla


(A) (C)



(D)(B)

Warum? Es sichert Einnahmen für den Staat, und das auf
Jahre hin und kontinuierlich. Es schafft mehr Steuerge-
rechtigkeit. Warum sollen die Bürger, die ihr Geld in der
Schweiz anlegen, keine Steuern zahlen? Das ist ein Pro-
blem seit Jahrzehnten. Bei diesem Problem schafft das
Abkommen nun Abhilfe.


(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Na, na! Wenn es denn so wäre!)


Es ist nicht nachvollziehbar, warum die Opposition die-
ses Gesetz blockieren will. Ich darf Sie bitten, sehr kri-
tisch zu hinterfragen, ob man überhaupt verantworten
kann, dass diese Einnahmen dem Staat entgehen.

Ich verspreche mir aber noch einiges andere von die-
sem Abkommen. Ich verspreche mir auch etwas mehr
Analyse, warum die Bürger Steuern hinterziehen und
warum sie ihr Geld nicht in Deutschland anlegen, son-
dern es ins Ausland schaffen.


(Manfred Zöllmer [SPD]: Sagen Sie doch mal!)


Ich denke, unser Ziel muss es sein, gute Rahmenbe-
dingungen für unsere Bürger zu schaffen, damit sie ihr
Geld im Inland anlegen.


(Manfred Zöllmer [SPD]: Die Steuerhinterzieher?)


Das gilt sowohl für Deutschland als auch für alle ande-
ren europäischen Staaten. Ursache der Staatsschulden-
krise ist auch der hohe Kapitalexport.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Was?)


Gerade für Deutschland ist es ein Problem, dass die An-
leger nicht in Deutschland investieren, sondern ihr Geld
aus Renditegründen im Ausland anlegen. Ich denke, es
sollte Ziel der Politik sein, dafür zu werben, dass die
Bürger ihren eigenen jeweiligen Nationalstaat unterstüt-
zen, zu Einnahmen ihres eigenen Staates beitragen, der
ihnen die demokratischen Freiheitsrechte sichert und ih-
nen eine attraktive Infrastruktur bietet.


(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Wollen Sie die Steuerflucht jetzt rechtfertigen, oder wie?)


– Nein, ich möchte sie nicht rechtfertigen, sondern


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Verständnis dafür erwecken!)


ich möchte von einem plumpen Schwarz-Weiß-Denken,
wie es die Opposition pflegt, wegkommen.

Die Einnahmen sind im Hinblick auf die schwierigen
öffentlichen Finanzen in Deutschland von ganz besonde-
rer Bedeutung. Oberstes Ziel muss sein, die öffentlichen
Haushalte weiter zu konsolidieren. Die SPD hatte zum
Beispiel überhaupt keine Probleme damit, ständig neue
Vorschläge vorzulegen, die den Bürger mehr belasten,
obwohl sie genau weiß, dass mit einer Einnahmeerhö-
hung allein keine Konsolidierung der öffentlichen Finan-
zen möglich ist.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Es ist aber wichtig, die bestehenden Gesetze umzuset-
zen. Dazu gehören mehr Steuergerechtigkeit und eine
adäquate Besteuerung der Kapitaleinkünfte.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Manfred Zöllmer [SPD]: Ja, warum machen Sie das dann nicht?)


Ich denke, ein Grund dafür, dass Sie diese Aktuelle
Stunde heute ziemlich aufgeregt beantragt haben,


(Joachim Poß [SPD]: Das machen wir jetzt jede Woche mit Ihnen! Bis Sie was gelernt haben! – Gegenruf des Abg. Peter Aumer [CDU/ CSU]: Herr Poß, von Ihnen kann man doch nichts lernen!)


lag auch darin, dass Sie von dem guten Ergebnis, das Fi-
nanzminister Schäuble erzielt hat, ein bisschen über-
rascht waren.


(Joachim Poß [SPD]: Die Frage ist nur, was davon stimmt!)


Ich meine, das Ergebnis ist vor dem Hintergrund der
schwierigen Finanzprobleme, die momentan in Europa
zu lösen sind, umso anerkennenswerter. Wir haben heute
Vormittag den Rettungsschirm EFSF beschlossen. Ich
finde es gut, dass die Bundesregierung sich nicht allein
auf Euro-Themen konzentriert, sondern auch andere
wichtige Finanzthemen in Deutschland angeht.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1713015800

Nicolette Kressl hat das Wort für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Nicolette Kressl (SPD):
Rede ID: ID1713015900

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich glaube, es besteht Anlass, zuerst noch etwas zu der
„kontinuierlichen Begleitung“ im Finanzausschuss zu
sagen, Frau Reinemund.


(Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Sie waren doch bei jeder Sitzung dabei! – Dr. Volker Wissing [FDP]: Alles, was vorlag, haben Sie bekommen!)


Erster Punkt: Wir haben unter TOP 0 kontinuierlich
beantragt, Informationen zu diesem Thema zu bekom-
men. Aber es gab immer nur den gleichen Satz: Wir ha-
ben Geheimhaltung vereinbart. Wir können Ihnen dazu
nichts sagen, nicht einmal zum Zeitplan.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Genau so war das unter der Leitung des Ausschussvorsitzenden Wissing!)


So sieht eine kontinuierliche parlamentarische Beglei-
tung eigentlich nicht aus. Das kann man im Übrigen
nachlesen.





Nicolette Kressl


(A) (C)



(D)(B)

Zweiter Punkt: Der Herr Minister hat gerade gesagt,
wir sollten einmal unvoreingenommen prüfen. Lassen
wir doch einmal die Kanzlei Flick Gocke Schaumburg
zu Wort kommen, die das unvoreingenommen geprüft
hat, weil sie es im Grunde genommen nicht so schlecht
findet. Ich zitiere:

Einen echten steuerlichen Vorteil wird dagegen der-
jenige erzielen, der in den letzten zehn Jahren nicht
nur versteuerte Einnahmen in Form von Kapitalein-
künften erzielt hat, sondern darüber hinaus in er-
heblichem Maße sein Konto mit weiteren Schwarz-
einkünften wie nicht deklarierten Erbschaften oder
Schenkungen, verschwiegenen Einkünften aus Ge-
werbebetrieb, Provisionen und Tantiemen gespeist
hat. Er liegt dann maximal bei einer Belastung von
unter 34 Prozent, während er bei einer Normalbe-
steuerung weit über 50 Prozent liegen würde. Wenn
man so will,

– so die Kanzlei –

liegt hier eine Übervorteilung von Fällen schwerer
Steuerhinterziehung vor, die nicht sachgerecht ist.
Dies wirft gravierende verfassungsrechtliche Be-
denken auf und wird die politische Durchsetzbar-
keit erschweren.

Wohl wahr, sagen wir!


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich möchte noch einmal etwas zu der „kontinuierli-
chen Begleitung“ sagen: Die herablassende Art, die
schon vor einem Jahr vom Bundesfinanzminister in In-
terviews nachlesbar war nach dem Motto „Die Länder
werden schon zustimmen. Sie werden überhaupt keine
Probleme damit haben. Deswegen mache ich mir wegen
der Durchsetzbarkeit keine Sorgen“, trägt wahrhaftig
nicht zu einem fairen Umgang miteinander bei.


(Beifall bei der SPD)


Bei einer Entscheidung wie dieser, die weitreichende
Konsequenzen hat, hätte ich erwartet, dass man kon-
struktiv miteinander redet, statt in Interviews verlauten
zu lassen, dass die Bundesregierung die Länder schon ir-
gendwie kriegen werde. Das entspricht nicht dem, wie
man hier miteinander umgehen sollte.


(Beifall bei der SPD)


Nächster Punkt: Herr Minister Schäuble, Sie haben in
Ihrer heutigen Rede kein einziges Wort zu den Vorwür-
fen und Analysen in den letzten Tagen gesagt, was die
Frage angeht, inwieweit dieses Abkommen umgangen
werden kann. Ich möchte Ihnen einmal den Text ein
Stück weit zitieren:

Schweizerische Zahlstellen werden künstliche
Strukturen, bei denen sie wissen,

– nicht vermuten –

dass einziger oder hauptsächlicher Zweck
– nicht ein nebengeordneter Zweck, sondern der einzige
oder hauptsächliche Zweck –

die Umgehung der Besteuerung … ist, weder selber
verwalten noch deren Verwendung unterstützen.

Ich brauche das nur durchzulesen und könnte fünf
Umgehungsmöglichkeiten daraus ableiten. Das Bündnis
gegen Steuerhinterziehung hat Ihnen deutlich gemacht,
welche Umgehungsmöglichkeiten darin stecken.

Wenn Sie schon von uns einfordern, dass wir uns sach-
lich damit auseinandersetzen – was wir hiermit tun –,
dann hätte ich erwartet, dass irgendeiner der Redner der
Regierungsfraktionen bzw. die Regierung heute ein Wort
zu diesen fachlich schwerwiegenden Bedenken sagt.
Nichts haben Sie gesagt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie setzen sich nicht mit der fachlichen Seite auseinan-
der. Das Einzige, was Sie in Ihrer Verzweiflung tun, ist,
ein bisschen auf uns herumzuklopfen.


(Zurufe von der CDU/CSU: Oh! – Dr. Volker Wissing [FDP]: Das war eine heftige Kritik an Herrn Poß!)


Das ist absolut lächerlich.

Mit Blick auf Europa halte ich folgenden Punkt für
problematisch: Es ist nachzulesen, dass sich inzwischen
Österreich und Luxemburg den Verhandlungen über eine
Vertiefung der europäischen Zinsrichtlinie verweigern.
Im Bericht des Bundesfinanzministeriums an den Fi-
nanzausschuss wird dieses Verhalten begründet: Diese
beiden Länder wollen so behandelt werden wie die
Schweiz, also Abgeltung und kein Informationsaus-
tausch. Da sie aber ein entsprechendes Gefälle erwarten,
verhandeln sie nicht über eine Erweiterung beim auto-
matischen Informationsaustausch.

Zu den national begründeten Einwänden kommt
hinzu, dass Sie auf europäischer Ebene in diesem Be-
reich zum Bremser werden. Deutschland war unter Fi-
nanzminister Hans Eichel immer ein Initiator für Weiter-
entwicklungen auf diesem Feld. Er hat lange um die
Zinsrichtlinie gekämpft.


(Holger Krestel [FDP]: Er hat uns auch Griechenland geschenkt! Danke noch einmal!)


Schließlich war er erfolgreich. Jetzt gehen wir aber mit
diesem Abkommen einen großen Schritt zurück. Das
sind Punkte, die Sie nicht klären können.

Aufgrund unserer fachlichen Bedenken können wir
dem Abkommen nicht zustimmen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Was haben wir dann?)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1713016000

Der Kollege Ralph Brinkhaus hat jetzt das Wort für

die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)







(A) (C)



(D)(B)


Ralph Brinkhaus (CDU):
Rede ID: ID1713016100

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am

Ende der Debatte macht es wahrscheinlich Sinn, noch
einmal zu sagen, um was es überhaupt geht.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben Sie es denn verstanden, Herr Brinkhaus?)


Seit Jahrzehnten ist es so, dass Menschen aus Deutsch-
land legal oder illegal erworbenes Geld in die Schweiz
bringen und dieses Geld dort teilweise – auf diese Fest-
stellung lege ich Wert; vorhin wurden viele ehrliche Bür-
ger von Rednern der SPD diskreditiert – nicht der Steuer
unterwerfen. Wir haben es, egal ob wir einen schwarzen
oder einen roten Finanzminister hatten, nicht geschafft,
dagegen etwas zu unternehmen.

Was wäre das Beste gewesen? Das Beste wäre gewe-
sen, wenn die Schweizer uns einfach alle Daten offenge-
legt hätten. Dann hätten wir ein ordentliches Besteue-
rungsverfahren einleiten können – nun denn. Die
Schweizer haben gesagt, dass sie das nicht machen.

Jetzt könnte man darauf in der Weise reagieren, dass
man sich beleidigt zurückzieht und gar nichts macht.
Man kann aber auch verhandeln. Genau das hat die Bun-
desregierung gemacht. Sie hat verhandelt, und sie hat ein
Ergebnis erzielt. Über dieses Ergebnis kann man strei-
ten.


(Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, genau!)


Um dieses Ergebnis zu bewerten und darüber zu streiten,
sind wir im Übrigen hier.

Ich möchte in diesem Zusammenhang noch darauf
hinweisen, dass das Vereinigte Königreich ein ähnliches
Ergebnis erzielt hat. So schlecht, wie Sie behauptet ha-
ben, kann die Verhandlungsführung also nicht gewesen
sein. Denn die Briten sind nicht unbedingt für ihre Groß-
zügigkeit im Umgang mit Steuersündern bekannt.

Am Ende dieser Debatte möchte ich noch drei Gedan-
ken zu diesem Prozess ausführen.

Erstens. Herr Poß, ich schätze Sie sonst eigentlich
sehr. Aber was Sie heute gesagt haben – das gilt auch für
andere Beiträge der Opposition –, war nicht sonderlich
nett; denn in Ihrer Rede haben Sie den politischen Geg-
ner diskreditiert. Es ist in Ordnung, dass man in einer
Debatte das Ergebnis kritisiert. Aber es ist absolut nicht
in Ordnung, zu behaupten, dem Verhandlungsprozess
hätten unlautere Motive zugrunde gelegen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wenn wir anfangen, so zu handeln, wie Sie, Herr Poß,
und wie Herr Gerster und Frau Kressl es gemacht haben,
dann fällt das auf uns alle zurück. Im Interesse der politi-
schen Kultur in diesem Hause sollte man, auch wenn
man das Ergebnis nicht teilt, anerkennen, dass das Ver-
handlungsteam vom Bundesfinanzministerium nach bes-
tem Wissen und Gewissen versucht hat, ein gutes Ergeb-
nis für die Bundesrepublik Deutschland zu erzielen. Das
lasse ich mir nicht kaputtmachen.

(Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Da bleibt allen das Klatschen im Halse stecken!)


Zweitens. Wie gehen wir mit anderen Ländern um?
Die Schweiz hat nicht unbedingt dazu beigetragen, die
Steuerehrlichkeit in Deutschland zu erhöhen. Das muss
man negativ bewerten; das ist überhaupt keine Frage.
Aber man muss auch Folgendes bewerten: a) dass die
Schweiz ein souveränes Land ist, b) dass die Schweiz in
allen Fragen, die Deutschland betroffen haben, an unse-
rer Seite gestanden hat und – um den historischen Bogen
zu spannen – c) dass uns die Schweiz in Zeiten, in denen
wir es eigentlich nicht verdient hatten, als Erste wieder
die Hand gereicht hat. Dementsprechend halte ich es für
unerträglich, wie man mit diesem Land umgeht und wie
man es diskreditiert.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


In der Politik in Deutschland hat eine bestimmte Ein-
stellung Einzug gehalten: Wir, die wir momentan in ei-
ner Position der Stärke sind, meinen, dass wir es uns
leisten können, anderen Ländern gute Ratschläge zu er-
teilen. Ich bin da sehr vorsichtig.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Es wird momentan sehr genau beobachtet, wie Deutsch-
land mit seiner wirtschaftlichen Stärke und seiner Situa-
tion umgeht und wie Deutschland international auftritt.


(Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!)


Die Debatte hier hat nicht dazu beigetragen, das Ver-
trauen anderer Länder in die deutsche Politik zu stärken.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dritter Punkt: die Frage nach der Gerechtigkeit. We-
gen dieser Frage meinten Sie heute eine Aktuelle Stunde
verlangen zu müssen, was mich, ehrlich gesagt, verwun-
dert hat, und zwar deswegen, weil wir natürlich ein ganz
normales Gesetzgebungsverfahren zu diesem Doppelbe-
steuerungsabkommen wie zu allen anderen Doppelbe-
steuerungsabkommen auch durchführen. Aber es schien
im Sinne der Sozialdemokraten zu sein, eine gewisse
Skandalisierung herbeizuführen.


(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Das ist ja ein Skandal!)


Ich habe am Anfang meiner Rede ausgeführt, warum das
nicht gut ist.

Zur Frage der Gerechtigkeit: Ja, das Ganze ist eine
Frage der Gerechtigkeit, ob diejenigen Menschen, die
gegen Gesetze verstoßen haben, bestraft werden. Es ist
aber auch eine Frage der Gerechtigkeit, ob wir die Steu-
ergelder einnehmen, die uns zustehen. Es ist im Übrigen
eine Frage der Gerechtigkeit, ob es staatliches Handeln
ist, Rechtsdurchsetzung mithilfe krimineller Elemente,
Stichwort „Steuer-CD“, zur Regel zu machen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


In der Abwägung der verschiedenen Gerechtigkeiten
hat die Bundesregierung eine Entscheidung getroffen





Ralph Brinkhaus


(A) (C)



(D)(B)

und einen Vorschlag gemacht. Dieser Vorschlag lautete
ganz einfach: Uns ist es an dieser Stelle lieber, dass wir
das Geld bekommen. Darüber kann man streiten. Aber
wir sollten uns bitte nicht gegenseitig vorwerfen, wer
von uns der Gerechtere unter der Sonne ist. Ich glaube
nämlich nachhaltig, dass wir nach bestem Wissen und
Gewissen gehandelt haben und dass wir ein gutes Ergeb-
nis erzielt haben. Häme ist hier fehl am Platz. Ange-
bracht ist im Grunde genommen Anerkennung für das,
was wir geleistet haben. Ich freue mich auf eine sachli-
che Beratung dieses Gesetzesvorhabens im Finanzaus-
schuss.

Danke.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1713016200

Die Aktuelle Stunde ist beendet.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:

– Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-
nen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Ent-
wurfs eines Neunzehnten Gesetzes zur Ände-
rung des Bundeswahlgesetzes

– Drucksache 17/6290 –

– Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion
der SPD eingebrachten Entwurfs eines Neun-
zehnten Gesetzes zur Änderung des Bundes-
wahlgesetzes

– Drucksache 17/5895 –

– Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
neten Halina Wawzyniak, Sevim Dağdelen,
Dr. Dagmar Enkelmann, weiteren Abgeordneten
und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grund-
gesetzes und zur Reformierung des Wahl-
rechts

– Drucksache 17/5896 –

– Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
neten Volker Beck (Köln), Ingrid Hönlinger,
Memet Kilic, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge-
brachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Ände-
rung des Bundeswahlgesetzes

– Drucksache 17/4694 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-
schusses (4. Ausschuss)


– Drucksache 17/7069 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Günter Krings
Gabriele Fograscher
Dr. Stefan Ruppert
Halina Wawzyniak
Wolfgang Wieland
– Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)

gemäß § 96 der Geschäftsordnung

– Drucksache 17/7070 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Jürgen Herrmann
Carsten Schneider (Erfurt)

Florian Toncar
Roland Claus
Priska Hinz (Herborn)


Es ist verabredet, hierzu eineinviertel Stunden zu de-
battieren. – Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch.
Das ist dann so beschlossen.

Wir stimmen am Ende der Debatte namentlich ab.

Als Erstem gebe ich das Wort dem Kollegen
Dr. Günter Krings für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Günter Krings (CDU):
Rede ID: ID1713016300

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! In zweiter und dritter Lesung beraten und be-
schließen wir heute die Entwürfe eines Gesetzes zur Än-
derung des Bundeswahlgesetzes. Das ist eine von einer
ganzen Reihe von Debatten, in denen wir uns intensiv
mit verschiedenen Lösungsansätzen auseinandergesetzt
haben. Ich glaube, dabei ist für alle, die die Debatten
verfolgt haben, deutlich geworden: Die Aufgabe, die uns
das Bundesverfassungsgericht gestellt hat, nämlich die
Beseitigung des negativen Stimmgewichts, ist kompli-
ziert und anspruchsvoll gewesen.

Durch den Gesetzentwurf der Koalition wird diese
Aufgabe, das negative Stimmgewicht in realistischen, le-
bensnahen Wahlszenarien zu beseitigen, gelöst. Exakt
das ist die Aufgabe gewesen, die uns das Bundesverfas-
sungsgericht in seiner Entscheidung gestellt hat. Wir
stellen damit sicher, dass es künftig nicht mehr vorkom-
men kann, dass eine Stimme, die man einer Partei gibt,
sie im Ergebnis ein Mandat kostet. Es sollte in der Poli-
tik ohnehin die Regel sein, dass man erst einmal auf das
Problem schaut und dann die Lösung möglichst pro-
blemadäquat ansetzt. Daher frage ich: Wie entsteht ne-
gatives Stimmgewicht? Es entsteht durch die Verbin-
dung – das ist die erste Hauptursache – von Landeslisten
über ein Wahlsystem bei gleichzeitiger – das ist die
zweite Hauptursache – Existenz von Überhangmanda-
ten. Eine dieser beiden Ursachen – keineswegs beide –
muss nach der Aufgabenstellung des Verfassungsge-
richts beseitigt werden.

Unserer Auffassung nach sollten wir möglichst behut-
sam eingreifen. Wir sollten unser bewährtes Wahlsystem
nicht sozusagen komplett wegkippen, sondern möglichst
minimalinvasiv vorgehen.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Tun Sie aber nicht!)


Das Bundesverfassungsgericht hat – das haben viele
offenbar übersehen – ganz konkrete Vorschläge ge-
macht, wie man dieses Problem lösen kann. Einer dieser





Dr. Günter Krings


(A) (C)



(D)(B)

konkreten Vorschläge war beispielsweise, ein Graben-
wahlrecht einzuführen. Danach gäbe es keine Anrech-
nungen mehr zwischen den Direktmandaten, den Erst-
stimmen, und den Zweitstimmen, den Listenmandaten.
Dadurch würde man das Phänomen der Überhangman-
date komplett beseitigen, wie es wohl einige in diesem
Hause unbedingt wollen. Dann gäbe es auch keine nega-
tiven Stimmgewichte mehr.

Natürlich ist klar, dass gerade die Union bei ihrem
guten Abschneiden in Wahlkreisen wegen ihrer bürger-
nahen Politik


(Lachen des Abg. Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


davon massiv profitieren würde. – Man muss sich nur
einmal eine Landkarte anschauen, aus der hervorgeht,
wer in welchen Wahlkreisen gewonnen hat. Das muss ja
irgendeinen Grund haben. – Trotzdem haben wir als
Union gerade das diesem Haus nicht vorgeschlagen,
weil wir diese Regelung nicht für fair im Sinne aller Par-
teien halten,


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Ihr Vorschlag ist auch nicht fair!)


weil wir eine Reform wollen, mit der alle Parteien – kleine
und große Parteien, Parteien, die wenige Direktwahl-
kreise gewinnen, und solche, die viele Direktwahlkreise
gewinnen – gut leben können und weil wir eine Rege-
lung schaffen wollen, mit der wir uns nicht dem Ver-
dacht aussetzen, manipulativ wirken zu wollen.

Wir haben deswegen einen anderen, ebenfalls aus-
drücklichen Vorschlag des Bundesverfassungsgerichts
aufgegriffen, nämlich den Vorschlag des Zweiten Senats,
aus der Listenverbindung eine Listentrennung zu ma-
chen. Das ist ein minimalinvasiver, kleiner Eingriff ins
Wahlrecht, der im Kern darin besteht, einen einzigen
Satz aus dem Bundeswahlgesetz zu streichen.

Es ist in Ordnung, dass die Opposition in dieser De-
batte immer wieder das Thema der Überhangmandate
anspricht. Es ist aber nicht in Ordnung, ein politisch ver-
folgtes Ziel, nämlich die Bekämpfung der Überhang-
mandate, zu einer verfassungsrechtlichen Pflicht hoch-
zustilisieren. Das entspricht nicht der Entscheidung des
Verfassungsgerichts.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Abwarten!)


Das ist ein Missbrauch dieser Entscheidung. Man geht
an dieser Stelle nicht fair mit dem Bundesverfassungsge-
richt um. Zumindest am Tag nach dem 60. Geburtstag
des Bundesverfassungsgerichts sollten Sie mehr Respekt
vor diesem Gericht haben.


(Lachen bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Uns haben Sie diesen Respekt wegen einer Fristüber-
schreitung abgesprochen. Wir haben diese Kritik ange-
nommen. Sie sollten von uns die Kritik annehmen, dass
Sie ein politisches Ziel verfolgen und es mit einer angeb-
lich verfassungsgerichtlichen Aussage verbrämen. Das
ist nicht in Ordnung, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie wollen sich Mehrheiten verschaffen, die Sie beim Wähler nicht haben!)


Das Verfassungsgericht hat zugleich gesagt, dass mit
dem Lösungsansatz einer Listentrennung ein Folgepro-
blem verbunden ist. Das Gericht hat das Folgeproblem
ausdrücklich benannt, nämlich die unberücksichtigt blei-
benden Reststimmen. Das können Sie nachlesen auf
Seite 315 im 121. Band der amtlichen Entscheidungs-
sammlung. Vielleicht schauen Sie sich das zumindest
nach der Debatte endlich einmal an.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Krings! Frist nicht eingehalten, aber arrogant kommen!)


Das Gericht hat auf dieses Problem hingewiesen. Wir
haben das Problem der Reststimmen gelöst, indem wir
gesagt haben: Die unberücksichtigt bleibenden Reststim-
men in den einzelnen Bundesländern werden bundesweit
eingesammelt und können zu Zusatzmandaten addiert
werden.

Ich gebe zu, dass unser sehr einfaches Modell der
Trennung dadurch an dieser Stelle ein Stück weit kom-
plizierter wird, wenn auch nicht so kompliziert wie bei
Ihren Vorschlägen. Dadurch wird die Regelung aber auf
jeden Fall fairer und gerechter.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Es kann natürlich sein, dass eine Partei in 16 Bundes-
ländern knapp vor dem nächsten Mandat stehen bleibt.
Das wären dann wirklich proportionale Verschiebungen.
Wir haben dabei insbesondere die Sicht des Wählers in
kleinen Bundesländern eingenommen. Wenn dieser bei-
spielsweise eine kleine Partei wählen will, könnte er sich
dem Vorwurf ausgesetzt sehen: Deine Stimme ist doch
ohnehin verschenkt. Faktisch gibt es eine Sperrwirkung
von 10 bis 15 Prozent wegen der geringen Zahl der Man-
date.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Das lösen Sie doch nicht auf!)


Aus diesem Grunde solltest du deine Stimme nicht ver-
schenken und eine andere Partei wählen.

Um auch dem Wähler in einem kleinen Bundesland
alle Optionen offenzuhalten, war die Reststimmenver-
wertung notwendig und sinnvoll. Sie mögen deswegen
polemisieren. Wir wissen jedoch, dass wir hierdurch
exakt einen Hinweis des Verfassungsgerichts aufgreifen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Durch die Reststimmenverwertung stellen wir sicher,
dass es zu keinem neuen negativen Stimmgewicht
kommt, indem wir ausschließen, dass Zusatzmandate bei
einer Partei mit Überhangmandaten zusammentreffen
können. Gibt es Zusatzmandate für eine Partei, die Über-





Dr. Günter Krings


(A) (C)



(D)(B)

hangmandate hat, so werden diese Überhangmandate
mit Reststimmen unterlegt. Das heißt, im Ergebnis
kommt es bei unserem Vorschlag zu einer maßvollen Re-
duktion von Überhangmandaten.

Machen wir die Probe aufs Exempel: Nehmen wir
einmal unser Wahlrecht und wenden es auf die letzte
Bundestagswahl an. Dann lösen sich die Vorwürfe der
Unfairness sofort in nichts auf.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Jetzt bin ich gespannt!)


Unser Wahlrecht angenommen, hätte die Koalition im
Ergebnis in der Tat zwei Sitze mehr gehabt, die Opposi-
tion allerdings hätte vier Sitze mehr gehabt. Da soll noch
einer sagen, wir hätten ein Wahlrecht gemacht, das der
Koalition nutzt und der Opposition schadet! Das ist eine
abenteuerliche Behauptung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf von der FDP: Kanzlermehrheit hätte es trotzdem gegeben!)


Wir haben – und das unterscheidet uns von den drei
Oppositionsfraktionen – seit drei Jahren intensiv über
Lösungsansätze und Alternativen nachgedacht.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Wir haben auch darüber nachgedacht!)


Wir sind nicht mit Tunnelblick auf eine einzige Lösung
zugesteuert, sondern haben uns verschiedene Optionen
angesehen.


(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir auch!)


Wir haben uns auch sehr intensiv die Vorschläge der
Opposition angeschaut. Ich komme zunächst kurz zu den
Grünen und den Linken. Sie schlagen ein Kompensa-
tionsmodell vor. Danach würden Überhangmandate in
einem Bundesland durch Listenmandatsabzug in ande-
ren Bundesländern ausgeglichen.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Falsch verstanden!)


Das führt zu erheblichen verfassungsrechtlichen und
verfassungspolitischen Kollateralschäden. Es führt zu ei-
ner erheblichen föderalen Ungleichheit, und es führt zu
einer doppelten Benachteiligung von Bundesländern.
Das gilt auch für mein eigenes Bundesland, Nordrhein-
Westfalen, das in der Geschichte der Republik nie Über-
hangmandate gehabt hat – weil es dort relativ ausgewo-
gen verschiedene Hochburgen und verschiedene Schwer-
punkte in der politischen Zusammensetzung gibt –, das
hier aber doppelt bestraft würde, weil es zusätzlich als
Steinbruch für andere Bundesländer herhalten würde.
Ich rede hier nicht nur als Vertreter der Union, sondern
auch als Abgeordneter meines Bundeslandes Nordrhein-
Westfalen; und aus dieser Sicht kann ich das nicht hin-
nehmen, was hier vorgeschlagen wird.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Dann lesen Sie den linken Entwurf noch mal! Das war falsch!)

Diese Kannibalisierung von Landeslisten – und da-
rum handelt es sich – würde zu einer wirklichen Ein-
schränkung der Erfolgswertgleichheit zwischen den ein-
zelnen Landeslisten führen. Das kann man anhand der
letzten Bundestagswahl ganz praktisch nachrechnen.
Nehmen wir das Wahlrecht, so wie Linke und Grüne es
hier vorschlagen,


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Da gibt es einen Unterschied!)


und wenden es im Kern auf die Wahl 2009 an: Das hätte
geheißen, dass 327 000 CDU-Wähler in Brandenburg
von einem einzigen Abgeordneten in diesem Hause ver-
treten worden wären. Es hätte geheißen, dass 81 000
CDU-Wähler von keinem einzigen CDU-Abgeordneten
aus Bremen im Deutschen Bundestag repräsentiert wür-
den.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gibt es in Bremen CDU-Wähler?)


Es hätte aber auch geheißen – man höre und staune –:
77 000 Grünen-Wähler in Brandenburg hätten ausge-
reicht, um ein Mandat zu bekommen. Dass Sie von den
Grünen das gut finden, kann ich mir gut vorstellen. Das
Wahlrecht ist aber kein Selbstbedienungsladen, auch
nicht für die grüne Partei.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sagen wir Ihnen! – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und das sagen Sie!)


Die Latte der Absurdität kann gar nicht hoch genug
liegen. Die Grünen legen noch einen drauf. Sie sagen:
Wenn diese Listenmandate zum Abzug nicht ausreichen
– das wäre auch bei der letzten Bundestagswahl der Fall
gewesen –, dann müssen auch gewählte Wahlkreisbe-
werber, die mit Mehrheit in einem Wahlkreis gewählt
worden sind, auf ihr Mandat verzichten und können ihr
Mandat nicht antreten. Ich kann nur sagen: Das ist aben-
teuerlich!


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Das heißt: Es bleiben ganze Wahlkreise ohne Vertre-
tung in diesem Hause. Das hat es in der Geschichte der
Republik noch nicht gegeben. Andererseits könnte es
dazu führen, dass der Sieger zwar nicht in den Bundes-
tag einzieht, aber einer der Verlierer aufgrund eines Lis-
tenplatzes in den Bundestag kommt. Der Verlierer ist im
Bundestag, der Sieger bleibt draußen. Das ist eine Per-
version von Demokratie, was Sie hier vorschlagen!


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Bemerkenswert ist auch, dass die SPD – obwohl sie
selbst einen ganz anderen Vorschlag hat – dem zur Dis-
kussion stehenden Vorschlag im Innenausschuss auch
noch zustimmt und somit zwei vollkommen gegenteilige
Voten in ein und derselben Ausschusssitzung abgibt. Ich
bin gespannt, ob das heute wiederum der Fall sein wird.

Der Vorschlag des Kompensationsmodells – das ist
richtig – mag vielleicht im Hinblick auf die Operation





Dr. Günter Krings


(A) (C)



(D)(B)

„Beseitigung negatives Stimmgewicht“ geglückt sein;
aber der Patient Demokratie verstirbt dabei;


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unsinn!)


denn die Akzeptanz von Wahlen ist angesichts der ge-
schilderten Forderungen nicht mehr gegeben. Das wäre
in der Tat der vielbemühte Sargnagel für unsere Demo-
kratie.

Zu den Linken speziell brauche ich nicht mehr viel zu
sagen.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Das ist der beste Entwurf!)


Angesichts sinkender Umfragewerte und schlechter
Landtagswahlergebnisse haben Sie nach fast 60 Jahren
schließlich doch noch einen Ratschlag Bertolt Brechts
beherzigt: Sie wollen sich – weil Sie mit dem bestehen-
den Wahlvolk offenbar nicht mehr zurechtkommen – ein
neues Wahlvolk schaffen.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Was?)


Sie wollen ein umfassendes Ausländerwahlrecht, ob-
wohl das gegen Art. 20 und Art. 38 des Grundgesetzes
verstößt. Sie wollen das Wahlalter senken. Die meiste
Tinte in Ihrem Entwurf haben Sie darauf verwandt, si-
cherzustellen, dass möglichst alle Schwerverbrecher
künftig Wahlrecht haben.


(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut! – Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Folgeänderung! Schon mal was von Folgeänderung gehört?)


Jede Partei sucht ihre Zielgruppe selber. Sie haben Ihre
Zielgruppe klar benannt; das nehmen wir zur Kenntnis.

Die SPD hat auch noch einige kurze Bemerkungen
verdient. Ich habe bereits ihr widersprüchliches Abstim-
mungsverhalten dargestellt: Einerseits hat man einen ei-
genen Vorschlag, andererseits stimmt man dem komplett
gegenteiligen Vorschlag zu. Der Gesetzentwurf der SPD
ist übrigens der einzige, der keinen Hinweis aus Karls-
ruhe aufnimmt, der keine der dort aufgezeigten Optionen
in Anspruch nimmt, sondern sich ein ganz eigenes Mo-
dell zurechtzimmert, dabei aber nicht wirklich vertieft
nachdenkt. Ihre gesamte Gesetzesbegründung für dieses
ganz neue Modell umfasst exakt anderthalb Seiten und
erschöpft sich im Wesentlichen darin, auf das Gutachten
eines Wissenschaftlers zu verweisen. Eigene Gedanken
wären nicht schlecht gewesen; selber denken ist bei dem
Thema allemal gut.

Sie greifen in der Tat keines der Modelle auf, die in
der Entscheidung aus Karlsruhe genannt wurden. Ihr
Modell löst nämlich das Problem des negativen Stimm-
gewichtes nicht; es kommt zu keiner merklichen Reduk-
tion des negativen Stimmgewichts. Nach Ihrem Modell
bleibt es dabei: Eine Stimme weniger für eine Partei
kann ein Mandat mehr für diese Partei bedeuten. Genau
das wollte Karlsruhe unterbinden. Die Aufgabe, die uns
und auch Ihnen gestellt wurde, ist nicht, das negative
Stimmgewicht auszugleichen, sondern es abzuschaffen,
es zu beseitigen; diese Aufgabe gehen Sie gar nicht an.
Zusätzlich würde Ihr Vorschlag zu einem Aufblähen des
Bundestages führen. Wir würden nach Ihrem Vorschlag
im zweiten Schritt die Zahl der Wahlkreise reduzieren;
weniger Bürgernähe wäre die Folge.

Meine Damen und Herren, letzter Gedanke: Ich hätte
in der Tat gern eine konsensorientierte Lösung gehabt.
Die Opposition hat sich den Konsensangeboten verwei-
gert.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unsinn!)


Wir haben Angebote gemacht, beispielsweise hinsicht-
lich einer maßvollen Reduktion der Zahl der Überhang-
mandate. Die entsprechenden Gespräche wurden nicht
ergebnisorientiert geführt. Ich habe gerade bei den Kol-
legen von der SPD den Eindruck, dass das massive Ein-
treten gegen Überhangmandate etwas Resignatives hat.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1713016400

Herr Kollege.


Dr. Günter Krings (CDU):
Rede ID: ID1713016500

Sie haben davon profitiert: Es gab einen Kanzler

Schröder, der 2001 nach einer Vertrauensfrage nur des-
halb weiterregieren konnte, weil es Überhangmandate
gab.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1713016600

Herr Kollege.


Dr. Günter Krings (CDU):
Rede ID: ID1713016700

Offenbar haben Sie sich daran nicht mehr erinnert.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 2002 hatte Edmund Stoiber gewonnen! Wir erinnern uns noch! – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zehn Minuten lang!)


Ich komme gerne zum Schluss.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1713016800

Sie sind schon am Schluss gewesen.


Dr. Günter Krings (CDU):
Rede ID: ID1713016900

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir legen

Ihnen einen verfassungskonformen Gesetzentwurf vor,
der das negative Stimmgewicht beseitigt. Ich bitte um
Zustimmung, damit wir ein klares und verfassungskon-
formes Wahlrecht für Deutschland erhalten.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1713017000

Thomas Oppermann hat das Wort für die SPD-Frak-

tion.


(Beifall bei der SPD)







(A) (C)



(D)(B)


Thomas Oppermann (SPD):
Rede ID: ID1713017100

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Seit drei Jahren wissen wir, dass unser Wahl-
recht verfassungswidrig ist. Mehr als drei Monate nach
Ablauf der vom Bundesverfassungsgericht großzügig
bemessenen Frist legen Sie uns jetzt einen Gesetzent-
wurf vor, über den wir heute abstimmen sollen. Sie ha-
ben sich viel Zeit genommen. Sie haben es sogar so weit
getrieben, dass sich der Präsident des Bundesverfas-
sungsgerichtes öffentlich zu Wort gemeldet und kundge-
tan hat: Wenn es die Koalition in Berlin nicht schaffe,
ein verfassungskonformes Wahlrecht zu verabschieden,
dann werde das Bundesverfassungsgericht dies notfalls
selber machen. – Das ist die Antwort auf eine beispiel-
lose Respektlosigkeit gegenüber dem Bundesverfas-
sungsgericht, die Sie sich haben zuschulden kommen
lassen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wenn Sie jetzt wenigstens einen Entwurf vorgelegt
hätten, der die Probleme löst, dann hätten wir sagen kön-
nen: „Okay, das war eine Respektlosigkeit“; wir hätten
uns auf eine Rüge und auf den Hinweis beschränken
können, dass Sie mit der Frist sehr leichtfertig umgegan-
gen sind.


(Dr. Stefan Ruppert [FDP]: Die Chance ist noch da!)


Sie haben aber nichts gelöst. Sie haben einen Entwurf
vorgelegt, der nicht nur zu spät kommt, sondern auch
handwerklich schlecht ist, das negative Stimmgewicht
nicht beseitigt und die gleichheitswidrigen Überhang-
mandate nicht neutralisiert.


(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Reden Sie jetzt von Ihrem eigenen Entwurf?)


Das ist ein Entwurf, der kein einziges Problem löst und
mit dem wir uns ganz sicher in Karlsruhe wiedersehen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Dr. Hans-Peter Uhl [CDU/CSU]: Dann sehen wir uns in Karlsruhe!)


Sie füllen den rechtsfreien Raum, den Sie durch ein mo-
natelang nicht anwendbares Wahlrecht haben entstehen
lassen, jetzt mit neuen verfassungswidrigen Regeln aus.
Das werden wir im Einzelnen aufzeigen.


(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Er spricht über seinen eigenen Vorschlag!)


Zum negativen Stimmgewicht. Das negative Stimm-
gewicht ist hinreichend beschrieben worden. Es muss
abgeschafft werden, damit die Wähler bei Abgabe einer
Stimme für ihre Partei damit rechnen können, dass die
Stimmabgabe ihrer Partei nützt und nicht schadet.


(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Das erreichen wir mit der Neuregelung!)


Jetzt, Herr Krings, will ich Ihnen an zwei Beispielen auf-
zeigen, wie sich das Wahlrecht, das Sie uns heute zur
Abstimmung vorlegen, bei der letzten Bundestagswahl
ausgewirkt hätte.

Wir nehmen einmal das Beispiel Hamburg. Sie wol-
len jetzt die Zahl der Mandate anhand der landesweiten
Wahlbeteiligung berechnen. Wenn bei der letzten Bun-
destagswahl 10 000 zusätzliche Wählerinnen und Wäh-
ler in Hamburg die CDU gewählt hätten, dann hätte
Hamburg insgesamt ein Mandat mehr bekommen. Die-
ses Mandat wäre in Nordrhein-Westfalen verloren ge-
gangen, weil die Wahlbeteiligung in Hamburg entspre-
chend höher gewesen wäre. In Nordrhein-Westfalen
hätte die CDU das Mandat verloren, und in Hamburg
hätte es die SPD zulasten der CDU gewonnen.


(Dr. Stefan Ruppert [FDP]: Das ist nichts Neues!)


Die 10 000 zusätzlichen Wählerinnen und Wähler der
CDU sorgen also dafür, dass die SPD ein Mandat ge-
winnt und die CDU ein Mandat verliert.


(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Sie haben es immer noch nicht verstanden! Das negative Stimmgewicht ist was ganz anderes!)


Sie führen das negative Stimmgewicht in einem Umfang
ein, wie wir das bisher nicht kannten.

Ein zweites Beispiel. Die Piratenpartei in Berlin be-
kam bei der letzten Bundestagswahl 58 000 Stimmen.
Diese 58 000 Stimmen hätten nach Ihrem Wahlrecht
dazu beigetragen, dass Berlin ein Mandat mehr bekom-
men hätte. Dieses Mandat wäre natürlich nicht den Pira-
ten zugutegekommen – sie sind an der 5-Prozent-Klausel
gescheitert; man muss sagen: damals noch –, sondern
den Grünen.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr gut!)


Was würden Sie den Wählerinnen und Wählern der Pira-
tenpartei sagen, wenn Sie ihnen erklären müssten, dass
ihre Stimmabgabe für diese Partei ein Mandat für die
Grünen zur Folge hätte? Das kann kein Mensch erklären,
Herr Krings.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


In Ihrem Entwurf übersehen Sie den entscheidenden
Punkt, auf den es beim Wahlrecht ankommt: Die Bürge-
rinnen und Bürger müssen sich bei ihrer Stimmenabgabe
darauf verlassen können, dass sie der Partei nützt, der sie
ihre Stimme geben. Genau das ist in Ihrem Entwurf nicht
der Fall.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: In Ihrem ist das nicht der Fall!)


Wahlrecht ist nicht irgendein Recht. Wahlrecht ist De-
mokratierecht. In unserer Verfassung geht die Staatsge-
walt vom Volke aus. Das Wahlrecht ist das Verfahren
und das Recht der Bürgerinnen und Bürger, mit dem sie
ihre Staatsgewalt auf das repräsentative Parlament über-
tragen. Deshalb muss dieses Verfahren fehlerfrei sein,





Thomas Oppermann


(A) (C)



(D)(B)

und es darf nicht manipulierbar sein. Deshalb sagen wir:
Ihr Wahlrecht ist nicht geeignet, zuverlässig die Mehr-
heiten im Parlament so abzubilden, dass es der Entschei-
dung der Wähler entspricht.

Ein weiterer wichtiger Punkt sind die Überhangman-
date. Es wird immer wieder behauptet, das Bundesver-
fassungsgericht habe die Überhangmandate verfassungs-
rechtlich nicht infrage gestellt.


(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Genau! Jetzt hat er es! Endlich hat er es kapiert!)


Das ist nicht richtig. Bei der Vier-zu-vier-Entscheidung
waren vier Richter der Meinung, dass Überhangmandate
verfassungswidrig sind. Die anderen vier Richter waren
anderer Meinung. Wir sind der Meinung, dass die Frage
der Überhangmandate jetzt ein für allemal geklärt wer-
den muss.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!)


Überhangmandate sind nach meiner Auffassung ver-
fassungsrechtlich nicht mehr haltbar.


(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Ihnen geht es nicht um negatives Stimmgewicht, Ihnen geht es um Überhangmandate! – Gegenruf des Abg. Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hängt zusammen!)


Das weiß auch die CDU; jedenfalls hat sie das einmal
gewusst.


(Dr. Hans-Peter Uhl [CDU/CSU]: Dann gehen Sie doch nach Karlsruhe!)


In einem Schriftsatz an das Bundesverfassungsgericht
hat Ihr jetziger Fraktionsvorsitzender – damals war er,
glaube ich, Parlamentarischer Geschäftsführer – Volker
Kauder ausgeführt: Überhangmandate sind rechtlich be-
denklich und aus demokratischer Sicht nicht wünschens-
wert.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! Hört! Hört!)


Lieber Herr Kauder – er ist gerade nicht da –, was da-
mals richtig war, ist heute nicht falsch. Im Gegenteil: Es
ist noch richtiger geworden; denn wir müssen damit
rechnen, dass es noch sehr viel mehr Überhangmandate
geben wird. In einem Parteiensystem mit fünf bis sieben
Parteien müssen wir mit noch mehr Überhangmandaten
rechnen. Bei der letzten Bundestagswahl hatten wir
24 Überhangmandate; das ist ein Rekord. Das sind schon
4 Prozent der gesetzlichen Mitglieder des Deutschen
Bundestages. Das führt dazu, dass die verfassungsrecht-
lichen Probleme unseres Wahlrechtes noch größer wer-
den. Also: Das, was Herr Kauder 2005 gesagt hat, ist
heute aktueller denn je.

Damals waren Sie gegen Überhangmandate, heute
sind Sie dafür. Warum dieser Meinungswandel? Das
liegt auf der Hand: Die Umfrageergebnisse sind kata-
strophal. Sie wollen sich mithilfe von Überhangmanda-
ten an die Macht klammern. Angesichts der schrumpfen-
den Umfrageergebnisse hoffen Sie auf Überhangman-
date als letzten Strohhalm, mit dem Sie sich über Wasser
halten. Das ist doch der einzige Punkt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Günter Krings [CDU/ CSU]: Sie haben doch jetzt mehr Überhangmandate als wir! – Dr. Stefan Ruppert [FDP]: Das ist so billig!)


Sie missbrauchen das Wahlrecht als Machtrecht. Es
ist klar, welches Motiv die CDU hat. Unklar ist mir nach
wie vor, warum die FDP da mitmacht.


(Christine Lambrecht [SPD]: 1,8-Prozent-Partei!)


Die FDP hat noch nie ein Überhangmandat bekommen;
denn kleine Parteien haben keine Chance auf Überhang-
mandate. Also haben Sie sich über die sogenannte Rest-
stimmenverwertung einkaufen lassen. Ich muss sagen:
Wer sich mit so etwas abspeisen lässt, hat im Grunde ge-
nommen schon kapituliert.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bei 1,8 Prozent!)


Die Reststimmenverwertung ist die schrägste Innova-
tion, von der ich jemals im Rahmen eines Gesetzge-
bungsprozesses gehört habe.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Der Kollege Volker Beck hat beim letzten Mal aus dem
Gesetzentwurf vorgelesen. Ich will das nicht wiederho-
len,


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber es ist ein so schöner Text!)


aber doch Folgendes sagen: Wer den Text liest, muss
sich die Frage stellen, ob derjenige, der das verfasst hat,
noch ganz bei Verstand ist. Dadurch würde Bürokratie
vom Feinsten entstehen. Ziel dabei war, durch die Re-
form des Wahlrechts auch der FDP einen kleinen Vorteil
zu verschaffen. Sie haben an dem Wahlrecht so lange he-
rumgefummelt, bis ein Interessenausgleich zwischen
den beiden Koalitionsfraktionen zustande gekommen ist.
Das ist für die Verfassung leider zu wenig.

Ich will noch einmal ganz kurz darlegen, warum wir
Überhangmandate für verfassungswidrig halten, wenn
ich das darf, Frau Präsidentin. Ich nehme zusätzliche Re-
dezeit in Anspruch.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1713017200

Das kommt darauf an, wie lange das dauert.


Thomas Oppermann (SPD):
Rede ID: ID1713017300

Ich habe mich mit meiner Kollegin verständigt.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1713017400

Alles klar. Das klären Sie in Ihrer Fraktion.






(A) (C)



(B)


Thomas Oppermann (SPD):
Rede ID: ID1713017500

Überhangmandate sind verfassungswidrig, weil sie

den Wählern ein doppeltes Stimmgewicht geben, die
durch Stimmensplitting dafür sorgen, dass nicht nur der
direkt gewählte, sondern auch ein weiterer Kandidat in
den Bundestag kommt. Das ist mit dem großen Verspre-
chen der Demokratie aber nicht vereinbar. Dieses große
Versprechen der Demokratie ist: gleiches Wahlrecht für
alle und gleiches Stimmgewicht. Damit ist ein doppeltes
Stimmgewicht nicht vereinbar.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Der zweite Punkt ist: Überhangmandate führen zu ei-
ner regionalen Ungleichverteilung der Mandate. Die
CDU hat in Baden-Württemberg bei der letzten Bundes-
tagswahl zehn Überhangmandate gewonnen.


(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Sie stimmen den Grünen zu?)


Allein durch die Überhangmandate hat Baden-Württem-
berg ein zusätzliches politisches Gewicht im Deutschen
Bundestag erhalten, das dem ganzen politischen Ge-
wicht der Hansestadt Hamburg entspricht, die über
13 Mandate verfügt.


(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Das ist genau das, was verstärkt wird durch den Grünen-Vorschlag, dem Sie zugestimmt haben! Das ist doch eine abenteuerliche Argumentation!)


Drittens. Überhangmandate verletzen die Chancen-
gleichheit der politischen Parteien. Die SPD braucht für
ein Mandat 68 500 Stimmen, die CSU 62 000 Stimmen
und die CDU 61 000 Stimmen. Ein Wahlrecht, das so
unterschiedliche Voraussetzungen für die Gewinnung ei-
nes Mandates vorsieht, ist kein faires Wahlrecht.

Viertens und letztens. Überhangmandate können die
Mehrheit im Deutschen Bundestag umdrehen. Maßge-
bend für die Zusammensetzung des Parlaments sind die
Zweitstimmen; das hat auch das Bundesverfassungsge-
richt mehrfach betont. Bei einer großen Zahl von Über-
hangmandaten kann es jetzt dazu kommen, dass die Par-
teien, die eine Mehrheit der Stimmen erhalten haben,
nicht die Mehrheit der Mandate haben. Das wäre uner-
träglich. Das würde uns in eine Verfassungs- und Staats-
krise führen. Deshalb sage ich: Sie ignorieren das Bun-
desverfassungsgericht. Sie benutzen das Wahlrecht zum
eigenen Machterhalt.


(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Das ist ein Selbstgespräch! Sie meinen sich selber!)


Die Stimme eines jeden Bürgers und einer jeden Bürge-
rin muss gleich viel wert sein. Damit das durchgesetzt
wird, werden wir vor dem Bundesverfassungsgericht
klagen. Wir hoffen darauf, dass das Bundesverfassungs-
gericht ein gleiches Wahlrecht durchsetzt.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1713017600

Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Dr. Stefan Rup-

pert das Wort.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Manuel Höferlin [FDP]: Substanz kehrt zurück!)



Dr. Stefan Ruppert (FDP):
Rede ID: ID1713017700

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Vielleicht geht es auch ein wenig sachlicher und
ein wenig stärker orientiert an den Aufgaben, die uns das
Bundesverfassungsgericht gegeben hat.


(Christine Lambrecht [SPD]: Unerhört!)


Lassen Sie mich eine allgemeine Vorbemerkung ma-
chen: Das Wahlrecht der Bundesrepublik Deutschland
hat sich bewährt. Es hat in diesem Land für politische
Stabilität gesorgt. Es hat die Extreme durch Verfahren
zur Mitte hin integriert. Es hat dafür gesorgt, dass perso-
nale Elemente genauso eine Rolle spielen wie der Aus-
gleich, der in Koalitionen notwendig ist. Diese politische
Stabilität, die über 60 Jahre gewährt hat, ist ein hohes
Gut. Auch bei einer Wahlrechtsreform sollte sie bewahrt
werden. Auch das war und ist das Ziel unseres Gesetz-
entwurfs.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das darf man nicht so leichtfertig über Bord werfen.
Insofern will ich mich am Bundesverfassungsgericht
orientieren. Es war schon bemerkenswert, dass Kollege
Oppermann zu seinem eigenen Gesetzesvorschlag kein
einziges Wort gesagt hat.


(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Daraus spricht das schlechte Gewissen!)


Das hat auch einen Grund. Sowohl die Mathematiker,
die Sie beauftragt haben, als auch der Wissenschaftliche
Dienst des Bundestages als auch das Bundesinnenminis-
terium kommen zu dem Ergebnis, dass heute leider nur
die Grünen, die Linken, CDU/CSU und FDP überhaupt
einen Vorschlag gemacht haben, der politisch satisfak-
tionsfähig und verfassungsrechtlich in Bezug auf das ne-
gative Stimmgewicht in Ordnung ist.


(Thomas Oppermann [SPD]: Warum wollten Sie dann ausgerechnet mit uns den Kompromiss machen?)


Wer, bevor er selbst eine politische Idee, einen Geset-
zesentwurf in den Raum stellt, schon sagt, dass er nach
Karlsruhe gehen wird, hat meiner Meinung nach von sei-
nem eigenen politischen Selbstverständnis viel an das
Bundesverfassungsgericht delegiert.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er geht nicht gegen den eigenen Entwurf nach Karlsruhe, sondern er geht gegen Ihren Entwurf! Sie haben da etwas falsch verstanden!)


(D)






Dr. Stefan Ruppert


(A) (C)



(D)(B)

Leider ist damit eine Fraktion aus der politischen De-
batte vollkommen ausgeschieden.

Jetzt kommen wir zu Linken und Grünen. Sie haben
in der Tat jeweils einen Vorschlag gemacht, der dieses
Problem vollständig löst. Sie haben das negative Stimm-
gewicht beseitigt,


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)


Sie sorgen aber in der Folge Ihrer Lösung dafür, dass der
Erfolgswert der Stimmen massiv ungleich wird. Kollege
Krings hat das schon ausgeführt; ich möchte das nicht
wiederholen. Sie brauchen in Zukunft in Brandenburg
sechsmal so viele Stimmen für ein Mandat wie in Baden-
Württemberg. Sie verwüsten ganze Landesverbände.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt kommt das wieder!)


Das ist ein Kollateralschaden Ihres Modells, der nicht zu
rechtfertigen ist.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dass Sie nicht rot werden, wenn Sie in einer Zeit, in der
wir sowieso die Schwierigkeit haben, Politik zu vermit-
teln, direkt gewählten Abgeordneten einfach ihr Mandat
aberkennen wollen, das wundert mich.


(Beifall bei der FDP – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie bekommen es erst gar nicht! Sie verstehen es einfach nicht!)


Jetzt komme ich zu unserem Gesetzentwurf, damit ich
nicht in die Falle des Kollegen Oppermann tappe und
nur über die Kollegen rede, anstatt die eigenen Vor-
schläge zu würdigen.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie viele von der FDP sind denn davon betroffen? Wie viele FDPler sind direkt gewählt?)


Das Bundesverfassungsgericht hat uns im Kern drei
Möglichkeiten gelassen, das Problem zu lösen. Es hat
gesagt – ich zitiere Randnummer 142 des Urteils –, dass

eine Neuregelung sowohl beim Entstehen der Über-
hangmandate

– das war Ihre Vorstellung; allerdings haben Sie es nicht
verfassungskonform gemacht –

oder bei der Verrechnung von Direktmandaten …

– das sind die Modelle der Linken und der Grünen –

oder auch bei der Möglichkeit von Listenverbin-
dungen ansetzt.

Genau diesen Weg sind wir gegangen. Wir haben – ich
will nicht sagen sklavisch – in Eins-zu-eins-Subsumtion
aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts einen der
vorgeschlagenen Wege gewählt. Das Problem besteht
bei verbundenen Listen, also trennen wir sie. So sind wir
vorgegangen und lösen damit das Problem des negativen
Stimmgewichts.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum haben Sie dafür drei Jahre gebraucht, wenn es doch nur eine Eins-zu-einsUmsetzung war?)


Unsere Nähe zum Verfassungsgericht geht sogar noch
einen Schritt weiter. Denn das, was Herr Oppermann den
größten Murks in der Geschichte der Gesetzgebung ge-
nannt hat,


(Beifall des Abg. Thomas Oppermann [SPD])


ist ein Vorschlag des Bundesverfassungsgerichts. Ich
finde, Sie sind da etwas argwöhnisch gegenüber unse-
rem höchsten Gericht.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich zitiere:

Ein Verzicht auf Listenverbindungen nach § 7
BWG würde … dazu führen, dass Parteien, die in
mehreren Ländern antreten,

– also alle bis auf die CSU –

die in den Ländern anfallenden Reststimmen nicht
nutzen könnten.

Hier wird folgendes Problem aufgeworfen: Bei 16 ge-
trennten Wahlgebieten ergeben sich 16-mal Reststim-
men für alle Parteien, groß oder klein, und durch Run-
dungen entsteht ein Verlust von abgegebenen Stimmen,
sodass es möglich ist, dass eine Partei, die deutlich über
10 Prozent der Stimmen in einem Bundesland bekom-
men hat, trotzdem gesagt bekommen kann: Die Wahl
dieser Partei, Linke, Grüne, FDP – wir werden hoffent-
lich bei über 10 Prozent liegen –,


(Lachen bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Christine Lambrecht [SPD]: Die Hoffnung stirbt zuletzt!)


war zwecklos, weil sie zwar über 5 Prozent, sogar über
10 Prozent der Stimmen erhalten hat, diese aber schlicht
verfallen. Also: Auch auf der zweiten Stufe sind wir den
Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts strikt gefolgt.
Wir haben gesagt: Wir müssen auch noch das hier aufge-
worfene Problem des Reststimmenverlusts lösen.


(Thomas Oppermann [SPD]: Das haben Sie aber doch selber erzeugt! Das gab es vorher gar nicht!)


Das, was Sie als größten Murks bezeichnen, war eine
Vorgabe des Urteils des Bundesverfassungsgerichts.
Dieser Vorgabe haben wir entsprochen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben gerade erzählt, dass wir 60 Jahre ein Wahlrecht hatten, das sich bewährt hat! Aber das war ohne Reststimmenverwertung!)


Am Ende bleibt festzuhalten, dass viele im Raum ste-
hende Modelle abgewogen worden sind. Ein Modell ist
offensichtlich ausgeschieden. Schließlich blieben drei





Dr. Stefan Ruppert


(A) (C)



(D)(B)

Modelle – eines von den Linken, den Grünen und der
Koalition – übrig. Wir sehen die Vorteile Ihrer Modelle.
Aber wir beurteilen die Nachteile als wesentlich gravie-
render als den Erfolg, der mit Ihren Modellen erzielt
wird.

Insofern: Wir haben eine sorgfältige Abwägung aller
Pro- und Kontraargumente vorgenommen. Mit Blick auf
das Bundesverfassungsgericht sage ich: Ich freue mich,
wenn Sie klagen. Wir können uns dort nämlich mit unse-
rer politischen Entscheidung, die auf unserer Abwägung
von Pro und Kontra basiert, sehr gut sehen lassen. Am
Ende wird das Wahlgesetz schließlich in diesem Raum
beschlossen und nicht in Karlsruhe.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na, na! Abwarten!)


Dafür sollten wir nach unserem Selbstverständnis auch
sorgen.

Sollten Sie weitere Fragen haben,


(Lachen des Abg. Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


wenden Sie sich an das Geburtstagskind des heutigen
Tages, an Herrn van Essen, dem ich von dieser Stelle aus
herzlich gratuliere. Er wird Sie in weiteren vier Minuten
Redezeit Ihrer Restzweifel berauben.


(Thomas Oppermann [SPD]: Na ja! Das bezweifle ich! – Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Das wäre ja das erste Mal!)


Dann können Sie alle zustimmen. Ich freue mich darauf.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1713017800

Die Kollegin Wawzyniak hat für die Fraktion Die

Linke das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Halina Wawzyniak (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1713017900

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Wir versuchen heute, einen verfassungswidrigen
Zustand zu beenden. Ich prophezeie Ihnen: Wenn der
Gesetzentwurf der Koalition angenommen wird, wird
dieser Versuch misslingen.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Alle Parteien haben versucht, das Problem des negativen
Stimmgewichts zu lösen, und haben dazu Vorschläge un-
terbreitet. Es gibt aber nur eine Partei, die eine grundle-
gende Reform vorgeschlagen hat. Das ist die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir haben hier den Vorwurf der Überfrachtung ge-
hört. Ich sage Ihnen sehr deutlich: Wenn wir schon über
das Wahlrecht reden,

(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Dann auch für Schwerverbrecher!)


dann sollten wir auch weitere Aspekte, die beim Wahl-
recht zur Reformierung anstehen, aufgreifen.


(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Ja! Dann auch für Kriminelle!)


In der Anhörung im Innenausschuss ist uns gesagt
worden, unser Vorschlag sei ein Systemänderungsent-
wurf. Ja, wir sind stolz darauf. Wenn mehr Demokratie
Systemveränderung ist, dann schlagen wir Systemverän-
derung vor.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Weg mit dem System, genau! – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! Nach dem Motto: Meine Partei hat immer recht! Das war schon immer so!)


Eines ärgert mich allerdings sehr. Alle Parteien haben
zur Kenntnis genommen, dass es folgendes Problem
gibt: Eine Partei, die für den Bundestag kandidieren will,
vom Bundeswahlausschuss aber nicht zugelassen wird,
hat keine Klagemöglichkeit. Wir haben vorgeschlagen,
in § 28 des Bundeswahlgesetzes – wir nennen ihn den
Sonneborn-Paragrafen – eine entsprechende Regelung
zu treffen. Martin Sonneborn ist Vorsitzender der Partei
Die Partei. Diese Partei ist zur letzten Bundestagswahl
nicht zugelassen worden und hatte keine Chance, die Zu-
lassung einzuklagen.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber jetzt hat er die FDP geschlagen! In Kreuzberg!)


Ich finde, das ist ein Skandal. Dieses Problem müssen
wir lösen.


(Beifall bei der LINKEN)


Sie alle haben gesagt, dass dies ein Problem ist, das es zu
lösen gilt. Warum greifen Sie dann nicht unseren Sonneborn-
Paragrafen auf? Das verstehe ich, ehrlich gesagt, nicht.

Ich will an dieser Stelle sehr deutlich sagen – im Innen-
ausschuss haben wir ja eine Anhörung durchgeführt –:
Ein Problem im Zusammenhang mit dem Wahlrecht
greift keine Partei und keine Fraktion auf – das finde ich
persönlich außerordentlich bedauerlich –, nämlich das
sogenannte Zweistimmenwahlrecht. Das Zweistimmen-
wahlrecht führt zu Überhangmandaten, zu doppelten Er-
folgswerten und doppelten Stimmgewichten. Ich würde
mir wünschen, dass wir über das Zweistimmenwahlrecht
noch einmal in Ruhe reden.

Was beschließen wir heute? Die Koalition möchte die
Verbindung der Landeslisten der Parteien auflösen.


(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Richtig!)


Die Sitzkontingente der einzelnen Bundesländer richten
sich dann nach der Anzahl der Wähler, die Verteilung
der Sitze innerhalb des Bundeslandes richtet sich nach
den Zweitstimmen, und die errungenen Direktmandate
werden mit Listenmandaten allein auf der Landesebene
verrechnet.





Halina Wawzyniak


(A) (C)



(D)(B)

In unserer Anhörung hat Herr Professor Strohmeier
zu Recht darauf hingewiesen, dass wir 16 abgetrennte
Wahlgebiete bzw. 16 Mehrpersonenwahlkreise schaffen.
Was ist die Folge? Eine separate Sitzzuteilung für die
einzelnen Bundesländer, keine Verrechnung mit Manda-
ten aus anderen Bundesländern und damit Aufhebung
des unitaristischen Charakters der Wahl. Das ist der zen-
trale Vorwurf.


(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Ach! So ein Unsinn! Das war das Wahlrecht bei der ersten Bundestagswahl!)


Ich möchte an dieser Stelle noch einmal auf die An-
hörung eingehen. Herr Professor Meyer hat das Problem
aufgeworfen, dass die Ungültig-Wähler, also diejenigen,
die nur die Erststimme abgeben, und diejenigen, deren
Partei unter 5 Prozent bleibt – auf www.wahlrecht.de
heißt es im Übrigen, diese Gruppe mache einen Anteil
von 23 Prozent aus –, bei der Berechnung der Mandate,
die einem Land zufallen, berücksichtigt werden. Diese
Mandate fallen aber Parteien zu, die diese Wähler nie im
Leben wählen wollten. Ich finde, ehrlich gesagt, dass das
ein Skandal ist.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich komme jetzt zu einem weiteren Vorwurf aus der
Anhörung. Frau Professor Sacksofsky hat gesagt, dem
Gesetzentwurf fehle es an Folgerichtigkeit. Sie hat recht.
Sie teilen in 16 Wahlgebiete ein und stellen dann auf ein-
mal fest: Es gibt ein Problem. – Bei der Berechnung der
Fünfprozenthürde, die wir übrigens abschaffen wollen,


(Thomas Oppermann [SPD]: Sie nähern sich den 5 Prozent ja auch wieder in bedrohlicher Weise an!)


und bei der Reststimmenverwertung betrachten Sie näm-
lich auf einmal wieder ein Bundeswahlgebiet. Das ist
doch in sich unlogisch und versteht keiner.

Im Übrigen schaffen Sie mit diesem Gesetzentwurf
– Herr Ruppert hat schon darauf hingewiesen – unglei-
che Wahlkreise, weil die Wahlkreise unterschiedlich
groß sind, und die faktische Sperrklausel von 5 Prozent
wird deutlich erhöht. Ich mache Ihnen das an einem Bei-
spiel klar: Nach dem Vorschlag der Koalition benötigt
man nach dem letzten Bundestagswahlergebnis in Bre-
men für einen Sitz 14 Prozent. Ähnlich trifft dies auch
auf das Saarland zu. Bislang hat man, warum auch im-
mer, FDP gewählt, auch wenn es in Bremen nicht für die
FDP gereicht hat,


(Dr. Stefan Ruppert [FDP]: Doch, doch, netter Kollege! – Gisela Piltz [FDP]: Bitte einmal ordentlich recherchieren!)


aber die Zweitstimmen waren ja für die Bundesebene
wichtig.

Die Frage, ob man die FDP wählen soll, stellt sich eh,
aber warum soll man jetzt in Bremen die FDP wählen?
Man muss nämlich feststellen, dass das Stimmergebnis
der FDP in Bremen verdoppelt werden müsste, um ein
zweites Mandat zu erhalten. Das trifft analog auch auf
Parteien wie die Grünen und die Linke zu. Ich sage Ih-
nen ganz deutlich: Wenn es nur Abgeordnete von CDU
und SPD aus Bremen und dem Saarland gibt, hilft das
weder Bremen noch dem Saarland noch der Demokratie.


(Beifall bei der LINKEN)


Die FDP hat gesagt: Wir haben eine Lösung dafür. –
Wenn ich die Sitzung des Innenausschusses richtig in
Erinnerung und es richtig verstanden habe, dann ist die
Änderung auf einen Vorschlag des Kollegen Ruppert
zurückzuführen. Es ist ein Vorschlag zum Reststimmen-
ausgleich. Der ist aber auch in sich unlogisch. Ich mache
Ihnen das wieder an einem Beispiel deutlich: Angenom-
men, in Berlin benötigt man für einen Sitz 20 000 Stim-
men. Die Linke erreicht 89 000 Stimmen. Das ergibt vier
Mandate, und sie hat darüber hinaus 9 000 Stimmen über
den Durst. Diese positive Abweichung gibt es auch noch
in anderen Bundesländern. Die Zahlen werden addiert.
Man kommt zum Beispiel auf 45 000 Stimmen. Dies
wird dann durch die Zahl dividiert, die man auf Bundes-
ebene braucht, um einen Sitz zu bekommen – sagen wir
mal: 21 000 Stimmen. Das ergibt eine Quote von 2,14,
also zwei Sitze mehr.

Falls ich das falsch verstanden habe, dann kann Herr
van Essen mich ja aufklären. Ich habe Ihren Entwurf so
verstanden, dass diese zwei Sitze gerade nicht auf die
Länder aufgeteilt werden, die den höchsten Differenz-
wert haben, sondern zunächst auf die Länder, in denen es
Überhangmandate gibt. Das ist aus meiner Sicht absurd.


(Jörg van Essen [FDP]: Sie haben es leider falsch verstanden!)


Am Ende muss man in Richtung Koalition feststellen:
Sie beseitigen das negative Stimmgewicht nicht voll-
ständig.

Herr Krings, Sie haben im Innenausschuss eine Be-
rechnung des Bundesministeriums des Innern vorgelegt.
Ich muss Ihnen sagen: Das war ein bisschen unseriös,
weil eine Stellungnahme zu unserem Gesetzentwurf,
zum Gesetzentwurf der Linken, fehlte. Wir haben das
nachgeholt, indem wir angerufen und die Antwort be-
kommen haben: Was soll man da berechnen, bei Ihnen
gibt es doch gar kein negatives Stimmgewicht. – Das
hätten Sie schon hinzufügen können. Was erwarte ich
aber auch von jemandem, der den Begriff „Folgeände-
rung“ in Bezug auf Gesetze wohl noch nie gehört hat!

Im Übrigen verweise ich an dieser Stelle auch noch
einmal auf die Seite wahlrecht.de. Dort wurde das unter
Berücksichtigung von Nichtwählerinnen und Nichtwäh-
lern und von Personen, die ungültig gewählt haben,
nachgerechnet, und man kommt bei Ihrem Gesetzent-
wurf auf ein negatives Stimmgewicht von 8,3.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, die rechnen richtig!)


Was bleibt am Ende? Der Koalitionsentwurf hat we-
gen der Reststimmenverwertung, wegen der Festlegung
der Sitzkontingente der Länder nach der Wahlbeteili-
gung und wegen des Heraufsetzens der faktischen Sperre
für die Erreichung eines Mandates in einzelnen Ländern
erhebliche verfassungsrechtliche Probleme. Ich kann nur
sagen: Karlsruhe bekommt Arbeit.





Halina Wawzyniak


(A) (C)



(D)(B)

Im Ergebnis ist festzustellen: Im Hinblick auf ein
transparentes Wahlgesetz ist Ihr Gesetzentwurf ein
Schuss in den Ofen. Mathematikerinnen und Mathemati-
ker wissen vielleicht noch, was mit ihrer Stimme pas-
siert, die Wählerinnen und Wähler nicht mehr. Damit tun
Sie der Demokratie keinen Gefallen.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich will zum Schluss noch kurz auf den Gesetzent-
wurf der Linken eingehen.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach nein!)


Man muss zunächst zur Kenntnis nehmen, dass alle
Sachverständigen den Vorschlag der Linken für diskus-
sionswürdig hielten.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weil sie höflich waren!)


Nun kann ich verstehen, dass die Koalition mit unseren
weiter gehenden Vorschlägen Probleme hat. Davon rede
ich jetzt gar nicht. Aber dass Grüne und SPD den Ge-
setzentwurf der Linken wegen Überfrachtung ablehnen,
ist mir unverständlich.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weil er nicht auf der Tagesordnung steht!)


– Herr Wieland, da können Sie sagen, was Sie wollen.
Ich halte einfach fest: Sie haben ein Problem mit der
Senkung des Wahlalters auf 16 Jahre, und Sie haben ein
Problem mit der Übertragung des Wahlrechts auf Men-
schen, die hier länger leben. Das ist für mich unverständ-
lich.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben nur mit Ihnen ein Problem, glauben Sie es mir! Ausschließlich mit Ihnen!)


Ich sage Ihnen: Es gibt keinen Grund, dem Gesetzent-
wurf der Linken nicht zuzustimmen, es sei denn, man hat
ideologische Probleme mit der Demokratie.


(Beifall bei der LINKEN – Widerspruch bei der FDP)


In der Anhörung haben die Experten die Beteiligten
gebeten, aus vier Gesetzentwürfen einen zu machen. Ich
finde es ausgesprochen schade, dass dieser Aufforderung
der Sachverständigen nicht nachgekommen wurde. Mir
bleibt am Ende festzustellen: Hier zeigt sich die Arro-
ganz der Macht der Koalition. Und das führt unweiger-
lich nach Karlsruhe.


(Beifall bei der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1713018000

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kol-

lege Volker Beck das Wort.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1713018100

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das

Wahlrecht soll den Willen der Wähler grundsätzlich eins
zu eins in Mehrheitsverhältnissen im Parlament abbilden –
und nichts anderes. Es darf ihn nicht durch Tricks verfäl-
schen und in sein Gegenteil verkehren. Diesem An-
spruch wird der Koalitionsgesetzentwurf ausdrücklich
nicht gerecht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie waren zu keinem Zeitpunkt ernsthaft zu Gesprä-
chen über die Fraktionsgrenzen hinweg bereit, um zu ei-
ner verfassungsgemäßen Beantwortung der vom Bun-
desverfassungsgericht gestellten Fragen zu kommen.
Das hat einen Grund. Sie wollen sich mit diesem Gesetz
die Chance eröffnen, sich ohne Mehrheit beim Volk eine
Mehrheit im Parlament zu ergaunern. Um nichts anderes
geht es bei Ihrem Gesetzesvorschlag.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das ist ein Anschlag auf die parlamentarische Demokra-
tie.


(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Jetzt hören Sie doch auf!)


Das werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen. Dagegen
wird unsere Partei eine Organklage vor dem Bundesver-
fassungsgericht erheben. Gemeinsam mit den Abgeord-
neten der SPD werden wir eine Normenkontrollklage in
Karlsruhe einreichen.


(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Haben Sie eigentlich noch einen Überblick über die vielen Klagen, die Sie eingereicht haben?)


Dann wird sich zeigen, dass Sie die vier Aufgaben, die
uns das Bundesverfassungsgericht gestellt hat, nicht er-
füllt haben. Ihr Gesetzentwurf kommt zu spät. Er ist ver-
fassungswidrig. Und er ist ein politisches Bubenstück.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das Bundesverfassungsgericht hat uns aufgegeben,
dass bis zum 13. Juni 2011 ein Gesetzentwurf im Bun-
desgesetzblatt stehen soll. Das haben Sie nicht geschafft.
Sie sind vor der Sommerpause mit etwas völlig Ungeeig-
netem angedackelt gekommen. Das Bundesverfassungs-
gericht hat uns aufgegeben, das negative Stimmgewicht
zu beseitigen, soweit hierdurch ermöglicht wird, „dass
ein Zuwachs an Zweitstimmen zu einem Verlust an Sit-
zen der Landeslisten oder ein Verlust an Zweitstimmen
zu einem Zuwachs an Sitzen der Landeslisten führen
kann.“

Wenn man so rechnet wie Sie, dass sich im Wahlver-
halten überhaupt nur eines ändern kann – dass man statt
der Partei A die Partei B wählt –, dann sieht Ihr Gesetz-
entwurf in Bezug auf das negative Stimmgewicht zwar
nicht perfekt, aber nicht so schlecht aus. Es bleibt etwas
übrig. Wenn man es aber – anders als nach den manipu-
lativen Berechnungen des Bundesinnenministeriums –
für möglich hält,


(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Unerhört!)


dass ein Wähler die Partei A oder stattdessen gar nicht
oder ungültig wählt,





Volker Beck (Köln)



(A) (C)



(D)(B)


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!)


dann sieht Ihr Gesetzentwurf in Bezug auf das negative
Stimmgewicht schlechter aus als der der Sozialdemokra-
ten, die im Verlauf ein Problem mit dem negativen
Stimmgewicht haben. Das gilt allerdings nur bei der Ver-
teilung der Sitze zwischen den Landeslisten, aber nicht
beim Endergebnis. Dieser Gesetzentwurf erfüllt wie der
unsrige die Forderung, dass nachher nur der Wählerwille
im Parlament repräsentiert wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Unser Gesetzentwurf aber hat den Vorteil, dass es null
Komma null negatives Stimmgewicht gibt. Diesen Vor-
teil hat Ihr Entwurf auf jeden Fall nicht. Sie können das
bei wahlrecht.de nachlesen: Wir haben mit allen Metho-
den und Möglichkeiten gerechnet – und nicht nur mit
dem, was ins Bild passt, wie es im Rahmen der Auf-
tragsarbeit des Bundesinnenministeriums der Fall ist.


(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Das juristische Wissen von Herrn Beck kommt aus dem Internet!)


Das Bundesverfassungsgericht hat dem Gesetzgeber
für die Umsetzung Zeit gegeben, weil es gewollt hat,
dass „das für den Wähler kaum noch nachvollziehbare
Regelungsgeflecht der Berechnung der Sitzzuteilung im
Deutschen Bundestag auf eine neue, normenklare und
verständliche Grundlage gestellt wird“. An dieser Auf-
gabe sind Sie gründlich gescheitert. Ich will den Text
nicht vorlesen, weil mir die Zeit fehlt, obwohl es dabei
immer ein großes Hallo gibt.

Gut zusammengefasst hat das Professor Meyer in sei-
ner Stellungnahme für die Anhörung des Innenausschus-
ses:

Der Entwurf wird dem Auftrag, ein dem Wähler
verständliches Wahlrecht zu formulieren, nicht nur
nicht gerecht, sondern er hat geradezu den Ehrgeiz,
dieses vom Verfassungsgericht gesetzte Ziel … zu
vermeiden.

Wie wahr! Wie wahr!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. Günter Krings [CDU/ CSU]: Das war eine bestellte Äußerung!)


Ich komme zum Schluss. Hinsichtlich der Überhang-
mandatsproblematik behaupten Sie immer, das sei kein
Auftrag des Gerichts.


(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Genau!)


Am 25. Februar 2009 hatte das Gericht erklärt, dass es
davon ausgeht, „dass sich die vom Beschwerdeführer
aufgeworfene Frage der Verfassungswidrigkeit von
Überhangmandaten nach einer Neuregelung nicht mehr
in der gleichen Weise stellen wird“.


(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Lesen Sie doch den Satz zu Ende!)

Wir haben den Auftrag, daran etwas zu ändern.
Schauen Sie sich einmal die Vorgeschichte zu der letzten
Entscheidung zu Überhangmandaten an, die nur mit vier
zu vier Stimmen getroffen wurde und deshalb keine Ent-
scheidung in der Sache war.


(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Auch vier zu vier ist eine Entscheidung in der Sache! Keine Ahnung!)


In den ersten zwölf Wahlperioden dieser Republik zu-
sammen gab es nicht so viele Überhangmandate wie in
dieser Wahlperiode. Das zeigt, dass eine qualitative Ver-
änderung stattgefunden hat. Das Bundesverfassungsge-
richt hat in der Vergangenheit immer gesagt: Solange die
Überhangmandate keine Rolle spielen und nur eine
Randerscheinung sind, mag das angehen.


(Beifall der Abg. Brigitte Zypries [SPD])



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1713018200

Kollege Beck, Sie zerstören mit dem Nichteinhalten

Ihrer Ankündigung, dass Sie zum Schluss kommen,
meine Hoffnung, dass Sie mich hier ernst nehmen. Bitte
nehmen Sie jetzt nicht dem Kollegen Wieland die Zeit
weg.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1713018300

Ich dachte, weil ich im Dissens zur Koalition bin, gilt

für mich die Lammert-Regelung, die wir heute Morgen
eingeführt haben.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1713018400

Im Moment sitzt hier Vizepräsidentin Pau und ent-

scheidet. Also, bitte nehmen Sie dem Kollegen Wieland
keine Redezeit weg.


(Beifall bei der LINKEN)



Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1713018500

Die Überhangmandatsregelung muss deshalb weg,

weil die Gefahr besteht, dass sie das Wahlergebnis ins
Gegenteil verkehrt. Das ist ein Anschlag auf die Demo-
kratie. Den haben Sie vor. Wir werden ihn durch den
Gang nach Karlsruhe vereiteln.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1713018600

Für die Unionsfraktionen spricht nun der Kollege

Altmaier.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Peter Altmaier (CDU):
Rede ID: ID1713018700

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Der Kollege Oppermann und der Kollege Beck
haben uns hier eine Hitparade der Scheinheiligkeiten
vorgeführt.





Peter Altmaier


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Oh!)


Das ist unter einem parteipolitischen Standpunkt ver-
ständlich. Nach draußen ergibt das aber kein gutes Bild.

Der erste Punkt der Scheinheiligkeit ist, dass Sie auf
dem ach so eindrucksvollen Argument der Zeitüber-
schreitung herumreiten.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wieso ist das scheinheilig?)


Ja, es ist wahr und es stimmt, dass wir die Frist, die uns
das Bundesverfassungsgericht gesetzt hat, um einige
Monate überschritten haben.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist peinlich!)


Das ist bedauerlich. Ich sage: Es wäre besser und elegan-
ter gewesen, wir hätten dieses Gesetz drei Monate früher
verabschiedet.

Aber warum haben wir denn diese Frist überschrit-
ten?


(Thomas Oppermann [SPD]: Weil Sie sich nicht einigen konnten!)


Wir haben sie auch deshalb überschritten, weil wir uns
monatelang, vor und nach der Sommerpause, bemüht ha-
ben, eine parteiübergreifende Regelung zustande zu
bringen, die mit Ihnen nicht zu machen war,


(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: So ist es!)


weil Sie nur einen einzigen Punkt im Auge hatten, der
aber mit dem negativen Stimmgewicht nichts zu tun
hatte.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben mit uns überhaupt nicht geredet! Sie waren doch vor allem mit der FDP beschäftigt!)


– Lieber Kollege Beck, hören Sie doch einfach einmal
zu.

Der zweite Punkt der Scheinheiligkeit betrifft das Ar-
gument, hier würde ein Gesetz von der Mehrheit verab-
schiedet und das Wahlrecht, um das es gehe, sei doch
einer überparteilichen Konsensbildung besonders zu-
gänglich. Aus diesem Grund haben wir uns um die über-
parteiliche Mehrheit bemüht. Aber es ist Ihnen leider
Gottes entfallen, dass es im Jahre 2002 und im Jahre
2004 in der Amtszeit der rot-grünen Koalition schon ein-
mal Änderungen am Wahlrecht gegeben hat. Auch da-
mals sind diese Änderungen nicht im Konsens beschlos-
sen worden, sondern allein von der rot-grünen Mehrheit.
Sie haben das damals im Bundestag mit dem Hinweis
darauf beschlossen, dass das Wahlrecht ein einfaches
Gesetz ist und mit einfachen Mehrheiten geändert wer-
den kann. Was damals richtig war, kann heute nicht
falsch sein.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Ich will Ihnen sagen, warum wir glauben, dass wir
das Gesetz auch mit der Mehrheit der Koalition verab-
schieden können und warum das geboten und gerechtfer-
tigt ist: zum einen, weil wir in der Tat nicht mehr Zeit
verlieren dürfen, und zum anderen, weil wir uns auf eine
Lösung geeinigt haben, die das geltende Wahlrecht so
wenig wie möglich tangiert.

Kollege Ruppert hat bereits darauf hingewiesen, dass
wir in den letzten 60 Jahren gute Erfahrungen mit dem
geltenden Wahlrecht gemacht haben, das im Übrigen
deshalb so komplex ist, weil wir ein föderales Land sind.
Wenn wir kein föderales Land wären und nicht versu-
chen würden, das Wahlrecht den Menschen durch Lan-
deslisten statt Bundeslisten und mit Rücksichtnahme auf
die Gegebenheiten in den einzelnen Bundesländern nä-
herzubringen, dann hätten wir es zugegebenermaßen
auch mit dem negativen Stimmgewicht viel leichter. Wir
hätten zum Beispiel eine Bundesliste machen können.
Solange wir aber das System mit den Wahlkreisen und
Listen beibehalten, würde das dazu führen, dass ganze
Landstriche in Deutschland nicht mehr mit Mandaten im
Deutschen Bundestag vertreten wären.

An dieser Stelle sagen wir: Wir haben mit dem Wahl-
recht versucht, die bisherige gute Tradition von 60 Jah-
ren fortzuschreiben, nicht mehr und nicht weniger.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Versuchen allein genügt nicht!)


Deshalb ist es gerechtfertigt, dass wir dieses Gesetz mit
der Koalitionsmehrheit verabschieden.

Der dritte Punkt der Scheinheiligkeit betrifft die
Frage, was geändert werden muss und geändert werden
soll. Wir haben gesagt: Wir müssen das negative Stimm-
gewicht beseitigen oder zumindest so weit reduzieren,
dass die Wahrscheinlichkeit seines Eintretens erheblich
gemindert wird. Das ist angesichts der Komplexität des
Wahlrechts nicht einfach.

Die Kollegen der Grünen haben einen Vorschlag vor-
gelegt, der diesem Ziel zugegebenermaßen sehr nahe
kommt, aber um den Preis einer regionalen Verzerrung
in Deutschland, weil dann die Gebiete der Diaspora, in
der eine Partei weniger Stimmen hat, mit dem Verlust
von Mandaten dafür bezahlen, dass in anderen Gegen-
den, wo Überhangmandate möglich sind, solche errun-
gen werden. Wir halten das mit dem Grundsatz unseres
Wahlrechts einer gleichmäßigen Repräsentation für nicht
vereinbar. Deshalb ist eine solche Lösung mit uns nicht
zu machen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Der Vorschlag der SPD hat sich gar nicht an der Frage
des Abbaus der negativen Stimmgewichte orientiert.


(Zuruf von der FDP: Das ist peinlich!)


Sie hatten, Herr Kollege Oppermann, von der ersten Mi-
nute an nur das Thema Überhangmandate im Blick und
wollten leichte Beute machen. Sie haben deutlich ge-
macht: Sie sind für viele Lösungen zu haben, aber immer





Peter Altmaier


(A) (C)



(D)(B)

nur dann, wenn die Überhangmandate abgeschafft wer-
den.

Ich will auf einen weiteren Punkt eingehen. Sie haben
den Kollegen Paula zitiert. Warum haben Sie nicht den
Kollegen Struck und andere Kollegen aus Ihrer Fraktion
zitiert? Es gab nämlich eine Zeit, und zwar in den Jahren
1998 und 2002, in der Sie selber Überhangmandate hat-
ten. Sie haben damals davon profitiert. Der Kollege
Kauder hatte bestimmte Zweifel,


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die hat er für die Fraktion vorgetragen!)


und die Redner Ihrer Fraktion haben mit sehr beredten
Argumenten nachgewiesen, dass nichts gegen Über-
hangmandate einzuwenden sei und dass man sie gera-
dezu erfinden müsste, wenn es sie noch nicht gäbe.


(Thomas Oppermann [SPD]: Aber jetzt sind wir bei Ihnen!)


Der Kollege Krings hat einen schönen Spruch gesagt:
„Die größten Kritiker der Elche waren früher selber wel-
che.“ Sie können zwar diese Position vertreten, aber bitte
seien Sie nicht so scheinheilig und tun Sie nicht so, als
wären Sie selber schon immer gegen die Überhangman-
date gewesen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Es gibt einen weiteren Punkt, Herr Kollege
Oppermann. Sie haben gesagt: Das Bundesverfassungs-
gericht hat die Entscheidung, in der es die Überhang-
mandate nicht als verfassungswidrig erklärt hat, mit vier
zu vier Stimmen getroffen.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das zeigt, wie knapp es ist!)


Dazu sage ich: Vorsicht! Das Bundesverfassungsgericht
trifft häufiger Entscheidungen mit vier zu vier Stimmen.
Das liegt in der Natur der Sache. Ich habe noch nie er-
lebt, dass Sie eine Entscheidung, die mit vier zu vier ge-
troffen worden ist, als nicht legitimiert angesehen hätten,


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sagt doch niemand!)


wenn sie zu Ihren Gunsten ausgegangen ist. Deshalb
bitte ich, mit diesem Argument vorsichtig zu sein.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Letzter Punkt, Frau Präsidentin. Meine sehr verehrten
Damen und Herren, wir haben die Verantwortung, das
Wahlrecht jetzt zügig und mit einer klaren und einfachen
Lösung zu ändern und das Gesetz zu verabschieden. Der
Kollege Beck hat angekündigt, dass die Fraktion der
Grünen die Rechtmäßigkeit des Gesetzes vom Bundes-
verfassungsgericht prüfen lassen wird. Ich kann Ihnen
dazu nur sagen: Ich freue mich auf die Debatte und die
Auseinandersetzung über die strittigen Fragen. Wir sind
überzeugt, dass wir von allen Lösungen, die zur Verfü-
gung standen, diejenige gewählt haben, die unserem be-
währten Wahlrecht am ehesten entspricht, dass wir die
Gefahr des Auftretens des negativen Stimmgewichts
deutlich reduziert haben


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber mehr auch nicht!)


und dass dieses Ergebnis jeder juristischen Prüfung
standhalten wird. Wir werden uns dann in Karlsruhe
wiedersehen.

Vielen herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1713018800

Das Wort hat die Kollegin Fograscher für die SPD-

Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Gabriele Fograscher (SPD):
Rede ID: ID1713018900

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!

Das Bundesverfassungsgericht hat zu seinem 60-jähri-
gen Jubiläum zu Recht viel Lob erhalten. Es hat politi-
sche Entscheidungen bestätigt und auch den Gesetzgeber
zu Korrekturen verpflichtet, aber selten mit einer Frist
von drei Jahren. Die Regierungskoalition hatte drei Jahre
Zeit, das Wahlrecht verfassungskonform zu machen.
Doch Sie legen erst zwei Tage vor Ablauf der Frist einen
Gesetzentwurf vor. Der Präsident des Bundesverfas-
sungsgerichts, Herr Voßkuhle, hat am Montag gesagt:
Dass diese Frist von der Politik nicht genutzt worden ist,
enttäuscht uns. – Recht hat er. Die Oppositionsfraktionen
kann er damit nicht gemeint haben; denn alle drei Frak-
tionen haben Gesetzentwürfe vorgelegt, die innerhalb
der Frist hätten verabschiedet werden können.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir sogar 2009!)


Sie haben abgewartet, welche Lösungen die Opposi-
tionsfraktionen vorschlagen, um dann zu entscheiden,
dass Sie das so nicht wollen. Sie wollen ein Überhang-
mandatssicherungsgesetz.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!)


Wir als SPD-Bundestagsfraktion hatten Ihnen mehr-
fach Gespräche angeboten. Sie waren zu keinen kon-
struktiven Gesprächen bereit. Aber damit nicht genug:
Sie brüskieren nicht nur das Bundesverfassungsgericht,
sondern auch die Sachverständigen in der Anhörung.
Fünf Minuten vor Beginn der Anhörung legen Sie Be-
rechnungen des BMI bzw. des BSI vor, die keiner wäh-
rend der Anhörung ernsthaft prüfen und bewerten kann.
Herr Pukelsheim erklärte dazu: „Ich finde es auch sehr
spontan, nach drei Jahren Vorbereitungszeit das jetzt hier
als Tischvorlage zu bringen.“ Inzwischen liegt uns eine
Stellungnahme von Professor Pukelsheim zu dieser
Tischvorlage vor. Darin heißt es:

Zudem lehrt das Beispiel, dass der Koalitionsent-
wurf negative Stimmgewichte nun auch bei Nicht-
Überhangsparteien ermöglicht, was die Problematik
um eine neue Dimension erweitert. … Diese Fälle





Gabriele Fograscher


(A) (C)



(D)(B)

negativer Stimmgewichte werden nicht dadurch
zum Verschwinden gebracht, dass das BMI sie an-
gesichts der im Amt präferierten Definition zu den
Akten legt.

So viel zu Ihrer Behauptung, Sie würden das negative
Stimmgewicht abschaffen.

Sie versuchen aber nicht nur, die Sachverständigen zu
überrumpeln. Nein, Sie legen spontan in der abschlie-
ßenden Ausschussberatung einen Änderungsantrag zu
Ihrem eigenen Gesetzentwurf vor.


(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Sie hätten aus der Anhörung lernen können!)


Sie wollen nun die Überhangmandate mit diesen rätsel-
haften Reststimmenmandaten hinterlegen. Damit wider-
legen Sie Ihre eigene Aussage, dass Überhangmandate
kein Problem darstellen. Vielleicht haben Sie inzwischen
doch Zweifel daran. Tatsächlich sind Überhangmandate
ein Problem. Sie verzerren den Wählerwillen. Sie wer-
den nicht nachbesetzt und können bei engen Mehrheits-
verhältnissen zu wechselnden Mehrheiten innerhalb ei-
ner Legislaturperiode führen.

Für besonders problematisch und unsystematisch hal-
ten wir neben dem Festhalten an den Überhangmandaten
die Reststimmenverwertung. Die Reststimmenproblema-
tik entsteht wegen Ihres Vorschlags, die Länderlisten zu
trennen. Die Sachverständige Frau Sacksofsky erklärte
in der Anhörung dazu:

Man erfindet fiktive Quoten, die gar keine Rolle für
die Zuteilung gespielt haben, und will die dann ver-
wenden. Das ist nach meinem Verständnis grob un-
sachlich und damit an der Willkürgrenze.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Liebe Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfrak-
tionen, das Wahlrecht ist die Legitimation jedes einzel-
nen Abgeordneten hier im Haus. Die Bürgerinnen und
Bürger bestimmen mithilfe des Wahlrechts ihre Volks-
vertretung. Die Bürgerinnen und Bürger wollen ein
nachvollziehbares, ein transparentes Wahlrecht. Sie wol-
len, dass ihre Stimme der Partei zugutekommt, die sie
unterstützen wollen. Sie wollen, dass die Mehrheit der
Stimmen auch die Mehrheit der Mandate bedeutet, und
nicht, dass eine Regierung gebildet wird, die ihre Mehr-
heit auf Überhangmandate stützt, aber nicht auf eine
Mehrheit an Zweitstimmen.


(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Gerade das stellen wir sicher!)


Die Trennung der Landeslisten, die Verteilung der
Sitze nach Wahlbeteiligung fördert geradezu das takti-
sche Wählen und das Stimmensplitting. Das heißt, Erst-
stimme für Partei A und Zweitstimme für Partei B führt
zu einem doppelten Erfolgswert und widerspricht damit
dem Gleichheitsgrundsatz.

Derzeit sind fast 4 Prozent der Abgeordneten in die-
sem Haus aufgrund eines Überhangmandats im Parla-
ment. Wenn Ihr Gesetzentwurf Gesetzeskraft erlangt,
werden bald mehr als 5 Prozent der Abgeordneten ein
Überhangmandat haben.

(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Das Gegenteil ist der Fall!)


Das ist Fraktionsstärke, und das kann wirklich keiner
wollen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Damit wird der Wählerwille verzerrt. Ich bin mir sicher,
dass das Bundesverfassungsgericht dieser Praxis einen
Riegel vorschieben wird.

Wir wären bereit, auf die Überhangmandate zu ver-
zichten. Es stimmt, dass Überhangmandate einmal Ihnen
und einmal uns zugutekommen. Wir sind deshalb für
diesen Ausgleich. Ich verstehe wirklich nicht, warum Sie
von der FDP sich so gegen unseren Vorschlag stellen.


(Zuruf von der FDP: Weil er das Problem nicht löst!)


Es ist mehr als unwahrscheinlich, dass Sie jemals Über-
hangmandate bekommen. Sie werden von der Änderung,
die Sie heute beschließen, nicht profitieren, Ihr Koali-
tionspartner aber schon. Auch diese merkwürdig kon-
struierte Reststimmenverwertung wird Ihnen nicht zum
Vorteil gereichen. Ausgleichsmandate sind im Übrigen
keine Erfindung der SPD. Es gibt sie in fast allen Lan-
deswahlgesetzen.


(Thomas Oppermann [SPD]: So ist es!)


Die Grünen haben einen anderen Lösungsweg vorge-
schlagen, der nicht dem SPD-Vorschlag entspricht, der
aber immer noch besser ist als der Koalitionsentwurf.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das nehmen wir als Kompliment!)


Deshalb werden wir dem Vorschlag zustimmen. Der
Entwurf der Linken ist ein Sammelsurium von Vorschlä-
gen.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Guten Vorschlägen!)


Ihr Versuch, mithilfe getrennter Abstimmungen die
Spreu vom Weizen zu trennen, ist gut gemeint, findet
aber nicht unsere Zustimmung.

Sie werden heute mit Ihrer Mehrheit Ihren Entwurf
durchsetzen. Wir als SPD-Bundestagsfraktion werden
beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe dagegen
Klage einreichen.


(Beifall bei der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1713019000

Ich möchte es nicht versäumen, dem Kollegen van

Essen von dieser Stelle zum Geburtstag zu gratulieren.


(Beifall)


Sie haben das Wort für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Jörg van Essen (FDP):
Rede ID: ID1713019100

Vielen Dank, Frau Präsidentin! Ich muss gestehen,

dass eine Rede im Bundestag nicht auf der Wunschliste





Jörg van Essen


(A) (C)



(D)(B)

für meinen Geburtstag stand. Aber es ergibt sich nun
einmal so.


(Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Oh! – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hat man Sie genötigt?)


Ich rede deshalb ganz gern, weil ich finde, dass das
Wahlrecht eines der wichtigsten Themen in einem Parla-
ment ist.


(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Sehr wahr!)


Das ist eine sehr sensible Materie, und deshalb sind alle,
die sich damit beschäftigen, aufgerufen, damit sensibel
umzugehen. Das gilt für uns als Gesetzgeber, aber – ich
erlaube mir die Bemerkung – diese Sensibilität erwarte
ich auch vom Bundesverfassungsgericht.

Das Problem, das zu lösen uns aufgetragen wurde,
nämlich das negative Stimmgewicht, ist ein Thema, das
die Öffentlichkeit intensiv beschäftigt hat, und zwar auf-
grund eines Vorgangs in Dresden, das aber ansonsten ein
Nebenproblem ist. Wir haben bei der Diskussion fest-
stellen müssen, dass wir an vielen Schrauben drehen
konnten. Wir haben aber gemerkt: An welcher Schraube
auch immer wir gedreht haben, es hatte auf die Chancen
der Parteien – je nach ihrer Größe – erhebliche Auswir-
kungen. Das ist im Übrigen einer der Gründe, warum es
so lange gedauert hat; denn alles, was man sich überlegt
hat, musste nachgerechnet werden. Man musste schauen,
welche Auswirkungen die Veränderungen haben.

Herr Kollege Oppermann, Sie haben Krokodilstränen
vergossen und gesagt, das hätte seit vier Jahren geregelt
werden können.


(Thomas Oppermann [SPD]: Seit drei!)


– Fast vier Jahre. – Dabei zeigen doch einige Finger auf
Sie selbst. Sie waren doch die Hälfte der Zeit selber in
der Regierung.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU – Thomas Oppermann [SPD]: Ein Dreivierteljahr!)


Sie hätten in der Zeit Vorschläge machen können. Nie-
mand hätte Sie daran gehindert. Sie hätten versuchen
können, das Problem zu lösen. Daher nehme ich Ihren
Vorwurf nicht ernst. Ich bitte aber um Verständnis, weil
das der Grund dafür ist, warum es diese leichte Verspä-
tung gibt, die auch wir selbstverständlich nicht gut fin-
den.

Ich finde den Ansatz, den wir gewählt haben, näm-
lich, wie man in der Medizin sagt, minimalinvasiv einzu-
greifen, richtig; denn es hat sich gezeigt, dass es nach
dem bisherigen Wahlrecht faire Chancen für große Par-
teien, aber auch für kleinere Parteien gibt. Aufgrund des
Wahlrechts gibt es sogar für neue Parteien die Chance, in
die Parlamente zu kommen, wie wir es gerade in Berlin
erlebt haben. Das sorgt für eine lebendige Demokratie in
unserem Land.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Wir haben die Verpflichtung, für ein Wahlrecht zu sor-
gen, das genau diese Lebendigkeit auch in Zukunft si-
cherstellt.

Frau Kollegin, Sie haben in Bezug auf Hamburg für
Die Linke ein Beispiel gebildet und gesagt, dass Sie
nicht verstanden hätten, dass das für Sie von Vorteil
wäre. Es wäre für Sie von Vorteil. Sie würden ein sol-
ches Zusatzmandat für Reststimmen bekommen. Ihr
Vortrag hat mir gezeigt, dass Sie das neue Wahlrecht
ganz offensichtlich nicht verstanden haben. Deshalb
sehe ich Ihrer Ankündigung, dass Sie deswegen nach
Karlsruhe gehen werden, mit großer Gelassenheit entge-
gen.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1713019200

Kollege van Essen, gestatten Sie eine Frage?


Jörg van Essen (FDP):
Rede ID: ID1713019300

Nein, danke. Frau Kollegin, ich habe eine so kurze

Redezeit, dass ich das gerne im Zusammenhang vortra-
gen würde.

Ein Gesichtspunkt ist leider nicht angesprochen wor-
den, der auch mir persönlich wichtig ist. Ich habe gesagt,
Wahlrecht müsse auch Chancengleichheit sicherstellen.
Dazu gehört, einen entsprechenden Rechtsschutz gegen
die Nichtzulassung zur Wahl zu haben.


(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


Ich bedauere ganz außerordentlich, dass das bisher keine
Rolle gespielt hat. Auch das verbessern wir.

Das Thema Zweitstimmen bzw. Überhangmandate
hat eine Rolle gespielt. Ich will nicht verhehlen: Wir ha-
ben bisher keine Überhangmandate gehabt. Die SPD hat
dieses Thema erst entdeckt, als sie keine mehr bekam.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weiterträumen!)


Sie wären sehr viel glaubwürdiger, wenn Sie sich schon
früher mit diesem Thema befasst hätten.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Für uns ist die Lage klar und eindeutig. Das Verfas-
sungsgericht hat eine Aussage getroffen, die wir unter-
streichen: Überhangmandate sind nicht erwünscht. Des-
halb gehört zu dem Vorschlag, dass, wenn es Rest-
stimmenmandate gibt, diese mit Überhangmandaten ver-
rechnet werden. Das ist ein ganz wichtiger Schritt, um
Überhangmandate zu reduzieren.

Es gibt jedoch die klare Aussage des Bundesverfas-
sungsgerichts, dass Überhangmandate in einem be-
stimmten Umfang respektiert werden können. Wir res-
pektieren die Entscheidung des Bundesverfassungsge-
richts und sehen damit der Entscheidung in Karlsruhe
sehr gelassen entgegen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)







(A) (C)



(D)(B)


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1713019400

Das Wort hat der Kollege Wolfgang Wieland für die

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1713019500

Frau Präsidentin, zunächst vielen Dank, dass Sie sich

so beherzt für meine vier Minuten eingesetzt haben.
Meine Damen und Herren! Herr Kollege Altmaier, Sie
haben uns gleich fünfmal Scheinheiligkeit vorgeworfen.


(Beifall des Abg. Dr. Michael Meister [CDU/ CSU])


Deshalb erinnere ich daran, dass Seine Heiligkeit vor ei-
ner Woche fast genau zu dieser Stunde hier eine rechts-
theoretische Vorlesung gehalten hat.


(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Geschmackloser Vergleich!)


Er hat dabei gesagt – dies nur zur Erinnerung –, dass in
bestimmten Grundfragen des Rechtes das Mehrheitsprin-
zip nicht ausreiche.


(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Aha!)


Gleichzeitig hat er ausgeführt – das halte ich Ihnen zu-
gute, Herr Kollege Krings –, dass das wahrhaft Rechte
nicht immer einfach zutage trete. Ich füge hinzu: Das
wahrhaft Unrechte erkennt man oft sehr schnell. Das ist
nämlich der Entwurf, den Sie jetzt endlich vorgelegt ha-
ben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Sie haben nicht auf das Römische Recht, sondern auf rö-
mische Machtsicherungstechniken – divide et impera! –
in moderner Fassung zurückgegriffen:


(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Das ist unter Ihrem Niveau, Herr Wieland!)


Wir zerteilen das Wahlgebiet in 16 Stücke und sacken
überall die Überhangmandate ein. Dann gibt es auf Inter-
vention des Fraktionsvorstands der FDP – der Kollege
Ruppert ist ja schuldlos; er ist gar nicht darauf gekom-
men – noch die Stimmen von Rudis Resterampe oder,
wenn man es genauer sagen will, von Guidos Reste-
rampe.


(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Lieber Herr van Essen, da Sie heute Geburtstag ha-
ben: Was würden Sie denn sagen, wenn die CDU mit ei-
ner Geburtstagstorte kommt und sagt „Wir teilen die
Torte in 16 Stücke. Dann stimmen wir bei jedem Stück
ab, wer es essen darf. Das sind aber immer wir, und Sie
bekommen nur die Restkrümel“?


(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Happy Birthday, lieber Herr van Essen! Ich hätte Ihnen
heute etwas anderes gewünscht.

Der Kollege Altmaier war ehrlich. Er hat gesagt: Die
Reststimmenproblematik haben wir zurückgedrängt
bzw. etwas reduziert. – Meine Güte! Was hat denn das
Bundesverfassungsgericht zu dem negativen Stimmge-
wicht gesagt? Es hat gesagt: Es

führt zu willkürlichen Ergebnissen und lässt den de-
mokratischen Wettbewerb um Zustimmung bei den
Wahlberechtigten widersinnig erscheinen.

Aber Sie stellen sich hierhin und sagen: Wir sind nur
noch ein bisschen schwanger, wir sind nur noch ein biss-
chen willkürlich und ein bisschen widersinnig. – Sie
denken, dass das überzeugt. Es überzeugt aber nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Als nächster Redner spricht der Kollege Uhl. Ich weiß
schon, was er sagen wird.


(Dr. Hans-Peter Uhl [CDU/CSU]: Die Wahrheit!)


– Ja, Sie sind absolut berechenbar. Das ist positiv.


(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. Hans-Peter Uhl [CDU/CSU]: Das liebt der Wähler!)


– Ja. – In der letzten Legislaturperiode haben wir einen
Entwurf vorgelegt, von dem es hieß, dass wir damit das
Problem der CSU nicht gelöst hätten. Daraufhin habe ich
gesagt: Was die CDU in 60 Jahren nicht geschafft hat,
haben wir in sechs Monaten nicht geschafft.


(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Wie wäre es mit Inhalten statt mit Klamauk? Das Thema ist zu wichtig!)


Nun sind wir weiter. Jetzt haben wir das Problem der
CSU gelöst. Nun sagen Sie aber: Wie unschön, wie un-
fein.

Wir haben immer zugegeben, dass unser Entwurf an
dieser Stelle nicht filigran ist.


(Dr. Hans-Peter Uhl [CDU/CSU]: Das stimmt!)


Er ist der CSU angepasst, also krachledern, radikal, aber
das Problem ohne Wenn und Aber lösend.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Trotzdem sagen Sie – gestern bei Stoibers Geburtstag
noch in der Lederhose, heute im Plenarsaal als Mimose –:
Wie kann man so böse sein? – Das reimt sich zwar,
macht es aber nicht besser und ändert nichts an Ihrer be-
leidigten Haltung.


(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Unser Vorschlag ist verfassungsfest. Weil die Bräuche
so sind, hat der Bayerische Verfassungsgerichtshof
schon einmal genauso entschieden. Deswegen, lieber
Herr Kollege Uhl: Akzeptieren Sie es!

Abschließend will ich sagen. Wir haben heute Mor-
gen viel über unser Königsrecht als Parlamentarier gere-
det. Hier geht es um das Königsrecht der Bürgerinnen





Wolfgang Wieland


(A) (C)



(D)(B)

und Bürger, nämlich um das Wahlrecht. Da können wir
nicht akzeptieren, dass sich drei Parteien nach ihrem
Gusto den Kuchen zurechtschneiden. Deshalb sage ich:
Nicht bei Philippi, aber in Karlsruhe sehen wir uns wie-
der. Wir freuen uns darauf.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1713019600

Der Kollege Dr. Hans-Peter Uhl hat das Wort für die

Unionsfraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hans-Peter Uhl (CSU):
Rede ID: ID1713019700

Meine Damen und Herren! Auch wir freuen uns da-

rauf, uns in Karlsruhe wiederzusehen. Lassen Sie mich
trotz Ihrer polternden Polemik, Herr Wieland, wie Herr
van Essen etwas sensibler mit dem Thema umgehen.


(Thomas Oppermann [SPD]: Das ist so Ihre Art!)


Wir hätten es natürlich gerne gesehen, dass nicht nur
unser Gesetz in Karlsruhe, sondern auch Ihr Gesetzent-
wurf, Herr Wieland,


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann müssen Sie zustimmen!)


und auch der Gesetzentwurf der SPD oder gar der Lin-
ken geprüft würden. Leider ist das nicht möglich.

Der Gesetzentwurf der SPD ist typisch SPD. Sie sa-
gen: Da wir, was die Überhangmandate angeht, in jüngs-
ter Zeit vom Wähler schlecht bedient wurden, muss et-
was geschehen. Aber Überhangmandate abzuschaffen,
wie es die Grünen vorschlagen, wollen Sie nicht. Aber
Ihnen würde es gefallen, wenn die Überhangmandate
ausgeglichen würden, indem Sie die gleiche Anzahl wie
die Union erhalten.

Sagen Sie doch einmal, worauf es Ihnen wirklich an-
kommt, Herr Oppermann. Ihre Partei hat in 50 Jahren bis
2005 alles in allem 38 Überhangmandate kassiert.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt sind sie reuige Sünder! Freuen Sie sich doch darüber!)


Sie haben sie dankend entgegengenommen und sich nie
beim Wähler beschwert. Mit diesen 38 Überhangmanda-
ten konnten Sie gut regieren. Die Union dagegen hat im
gleichen Zeitraum nur 34 Überhangmandate bekommen.
Auch wir haben uns darüber nicht beschwert und haben
das Votum des Wählers hingenommen.

Seit der letzten Wahl, als Sie gemerkt haben, dass Sie
durch die Abspaltung Ihrer linken Freunde von Ihrer
Partei strukturell kaum mehr Chancen haben, Überhang-
mandate zu bekommen, ist für Sie das Instrument der
Überhangmandate Teufelszeug. Für Sie muss es nicht,
wie die Grünen es fordern, abgeschafft, sondern ausge-
glichen werden. Ausgleich bedeutet aber, dass im Ple-
narsaal 100 weitere Sitze aufgestellt werden müssen.

(Thomas Oppermann [SPD]: Ah!)


Wer von Ihnen will denn so etwas? Der Wähler und
Steuerzahler will so etwas nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Thomas Oppermann [SPD]: Sie wollen es! Sie haben 24 Stühle aufgestellt!)


Ich will auf den Vorschlag der Grünen nicht zu spre-
chen kommen. Ihm ist die Verfassungswidrigkeit auf die
Stirn geschrieben, Herr Wieland. Unter uns Juristen: Das
nennt man Evidenztheorie. Es ist schade, dass die Ver-
fassungsrichter dazu nicht urteilen können.

Über den Gesetzentwurf der Linken ist schon gespro-
chen worden. Er ist in vielen Teilen so abwegig, dass es
sich nicht lohnt, darauf vertieft einzugehen.

Wir haben uns wirklich Gedanken gemacht: Was ist
der Auftrag des Verfassungsgerichtes? Dieser Auftrag
lautet, das negative Stimmgewicht zu beseitigen. Die
Kausalität, die dahin führt, liegt nicht im Überhangman-
dat; sie liegt vor allem in der Listenverbindung. Deswe-
gen haben wir die Listenverbindung gekappt, und damit
ist das Problem strukturell gelöst. Das ist der Punkt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Mit der in unserem Gesetzentwurf verankerten Lö-
sung – das Innenministerium hat es entsprechend errech-
net; diese Berechnungen werden wir in Karlsruhe vorle-
gen – liegt die Chance, dass es wieder zu einem
negativen Stimmgewicht kommt, bei 0,02 Fällen von
1 000 Fällen.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach was! Das steht da gar nicht drin!)


Das heißt, wir haben unsere Aufgabe erfüllt. Damit kön-
nen wir uns in Karlsruhe sehen lassen.

Zum Überhangmandat ist genug gesagt worden. Das
Verfassungsgericht hat niemals gesagt, dass ein Über-
hangmandat verfassungswidrig ist. Zur Verfassungswid-
rigkeit könnte es nur bei Überhangmandaten in einer be-
stimmten Größenordnung kommen.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben schon 24! Früher waren es 0 bis 3!)


Ich als frei gewählter Abgeordneter aus München bin
von der Bevölkerung viermal gewählt worden. Darauf
bin ich, mit Verlaub, stolz. Sehr viele von Ihnen sind in
ihrem Wahlkreis direkt gewählt worden und sind darauf
ebenfalls stolz – mit Recht.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber Sie waren doch wohl der Erststimmenkönig!)


Wenn wir nun nach 50 Jahren erfolgreicher Wahlen ein
Bekenntnis zu dem personalisierten Verhältniswahlrecht
– Verhältniswahl einerseits, personalisierte Wahl ande-
rerseits; eine Stimme für die Person, eine Stimme für die
Partei – ablegen wollen, dann sollten wir Respekt vor
dem Wahlergebnis – sie haben ihre Erststimme für eine





Dr. Hans-Peter Uhl


(A) (C)



(D)(B)

Person abgegeben – der Wähler haben. Zu sagen: „Wer
die Mehrheit hat, kommt ins Parlament nicht hinein“,
Herr Wieland, bedeutet, dass man den Wählerwillen mit
Füßen tritt. Nicht mit uns!


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Jetzt komme ich noch auf einen für mich ganz wichti-
gen Punkt zu sprechen: Redlichkeit, Ehrlichkeit im Um-
gang mit dem Wahlrecht. Es wäre mit uns nie möglich
gewesen, ein Wahlrecht zu schaffen, durch das wir rech-
nerisch, also was das Wahlergebnis bzw. die Verteilung
der Mandate angeht, einen Vorteil haben. So etwas ist in
hohem Maße undemokratisch und hätte in Karlsruhe nie-
mals Bestand. Deswegen haben wir ausgerechnet: Wenn
man den Gesetzentwurf, den wir jetzt nach zweiter und
dritter Lesung verabschieden, auf die letzte Wahl anwen-
det, dann – jetzt passen Sie auf, Herr Oppermann – hätte
die SPD ein Mandat mehr bekommen.


(Thomas Oppermann [SPD]: Geschenkt!)


Der Anteil der Grünen an der Torte an Wählerstimmen
– Sie haben ihn nicht verdient, nicht nur, weil Sie, anders
als Herr van Essen, keinen Geburtstag haben, sondern
weil Sie Grüner sind – wäre danach um zwei Tortenstü-
cke größer. Nach unserem Gesetzentwurf hätten die Grü-
nen zwei Sitze mehr in diesem Bundestag. Dennoch er-
wecken sie an diesem Rednerpult den Eindruck, als
wollten wir uns bedienen.


(Thomas Oppermann [SPD]: Es geht doch gar nicht um Tortenstücke!)


Nach unserem Gesetzentwurf hätten wir, Herr Wieland,
Herr Oppermann, keinen einzigen Sitz mehr, aber auch
keinen weniger. Für uns wäre es dasselbe Ergebnis. So
viel zu der Behauptung, dass wir uns hier bereichern.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Herr Beck, Sie sind ja ein Mensch, mit dem man re-
den kann. Sie haben an diesem Rednerpult vor wenigen
Minuten gesagt, mit der Verabschiedung unseres Ent-
wurfs eines Gesetzes zur Reformierung des Wahlrechts
hätten wir einen Anschlag auf die Demokratie vor; hätte
dieses Wahlrecht schon bei der letzten Bundestagswahl
gegolten, hätte sich die Union eine größere Mehrheit er-
gaunert. In Wahrheit hätte sie keinen Sitz mehr, und Sie
behaupten an diesem Rednerpult etwas anderes.


(Zuruf von der FDP: Pfui!)


Obwohl die Grünen danach zwei Sitze mehr bekommen
hätten, sind sie sich nicht zu schade, an diesem Redner-
pult solche Unwahrheiten, solch eine Polemik zu äußern.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Es ist unanständig, so mit dem Gesetzentwurf umzuge-
hen.

Ich komme zum Schluss. Wir sehen uns in Karlsruhe
wieder, und das ist gut so.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Thomas Oppermann [SPD]: Da backen Sie kleinere Brötchen!)


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1713019800

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP eingebrachten
Gesetzentwurf zur Änderung des Bundeswahlgesetzes.
Der Innenausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7069, den Ge-
setzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP
auf Drucksache 17/6290 in der Ausschussfassung anzu-
nehmen.

Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzei-
chen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Ich kann nur
vermuten, dass die Koalition dem zustimmen wollte.
Wenn das nicht auf Bedenken trifft, dann erkläre ich
jetzt, dass der Gesetzentwurf in zweiter Beratung ange-
nommen ist. Andernfalls müssten Sie alle Platz nehmen,
und dann wiederholen wir den Vorgang.


(Zuruf von der CDU/CSU: Das haben wir konkludent gemacht!)


– Keine Bedenken.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Wir stimmen über den Gesetz-
entwurf auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU
und der FDP namentlich ab.

Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
Plätze an den Urnen einzunehmen. – Sind die Plätze be-
setzt? – Das ist offenkundig der Fall. Dann eröffne ich
die Abstimmung.

Haben alle Kolleginnen und Kollegen ihre Stimm-
karte eingeworfen? – Das ist der Fall, dann schließe ich
die Abstimmung und bitte, mit der Auszählung zu begin-
nen. Das Ergebnis wird Ihnen später bekannt gegeben.1)

Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, wieder Platz
zu nehmen, weil noch weitere Abstimmungen anstehen.
Hierfür benötige ich einen gewissen Überblick.

Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent-
wurf der Fraktion der SPD zur Änderung des Bundes-
wahlgesetzes. Der Innenausschuss empfiehlt unter
Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 17/7069, den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD
auf Drucksache 17/5895 abzulehnen. Ich bitte diejeni-
gen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der
Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die
Linke bei Zustimmung der SPD und der Grünen.

Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die
weitere Beratung.

Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent-
wurf der Fraktion Die Linke zur Änderung des Grundge-
setzes und zur Reformierung des Wahlrechts. Hier wird
eine persönliche Erklärung der Fraktion Bündnis 90/Die

1) Ergebnis Seite 15320 A





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)

Grünen nach § 31 der Geschäftsordnung des Deutschen
Bundestages zu Protokoll genommen.

Der Innenausschuss empfiehlt unter Buchstabe c sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7069, den
Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke auf Drucksache
17/5896 abzulehnen. Die Fraktion Die Linke hat ge-
trennte Abstimmung verlangt.

Ich rufe zunächst auf Art. 2 Nr. 1, Art. 2 Nrn. 3 bis 7,
Art. 2 Nr. 13, Art. 2 Nrn. 16 bis 18 sowie Art. 10. Wir
kommen zur Abstimmung. Ich bitte diejenigen, die zu-
stimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegenstim-
men? – Enthaltungen? – Diese Artikel sind abgelehnt
mit den Stimmen aller Fraktionen bei Zustimmung der
Fraktion Die Linke und bei Enthaltung der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.

Ich rufe sodann auf Art. 2 Nr. 2 sowie Art. 2 Nr. 8. Ich
bitte diejenigen, die zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Diese beiden
Artikel sind mit gleichem Stimmverhältnis abgelehnt.

Ich rufe auf Art. 2 Nrn. 10 bis 12 sowie Art. 3. Ich
bitte diejenigen, die zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Art. 2
Nrn. 10 bis 12 sowie Art. 3 sind abgelehnt mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der
Fraktion Die Linke und Enthaltung von SPD und Grü-
nen.

Schließlich rufe ich auf Art. 1, Art. 2 Nr. 9, Art. 2
Nrn. 14 und 15 sowie Art. 4 bis 9. Ich bitte diejenigen,
die zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegen-
stimmen? – Enthaltungen? – Was ist mit den Grünen? –
Gegenstimmen. – Diese Artikel sind mit den Stimmen
aller Fraktionen abgelehnt bei Zustimmung der Fraktion
Die Linke. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Bera-
tung insgesamt abgelehnt.

Nach unserer Geschäftsordnung entfällt die weitere
Beratung.

Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent-
wurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Änderung
des Bundeswahlgesetzes. Der Innenausschuss empfiehlt
unter Buchstabe d seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/7069, den Gesetzentwurf der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/4694 abzu-
lehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu-
stimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegenstim-
men? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung abgelehnt mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei Gegen-
stimmen der SPD und der Grünen.

Damit entfällt auch hier die weitere Beratung.

Interfraktionell ist vereinbart, jetzt den Tagesord-
nungspunkt 9 – dabei geht es um den Einsatz der Bun-
deswehr in Südsudan – zu beraten; der Tagesordnungs-
punkt 6 wird nach Tagesordnungspunkt 9 aufgerufen.
Sind Sie damit einverstanden? – Dann ist das so verein-
bart.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:

– Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(3. Ausschuss)


Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut-
scher Streitkräfte an der von den Vereinten
Nationen geführten Friedensmission in Südsu-
dan (UNMISS) auf Grundlage der Resolution
1996 (2011) des Sicherheitsrates der Vereinten
Nationen vom 8. Juli 2011

– Drucksachen 17/6987, 17/7213 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Philipp Mißfelder
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Marina Schuster
Jan van Aken
Kerstin Müller (Köln)


– Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)

gemäß § 96 der Geschäftsordnung

– Drucksache 17/7216 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Herbert Frankenhauser
Klaus Brandner
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Michael Leutert
Sven-Christian Kindler

Über die Beschlussempfehlung werden wir später na-
mentlich abstimmen.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Sind Sie da-
mit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so be-
schlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner dem Kollegen Joachim Spatz von der FDP-Fraktion
das Wort.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Joachim Spatz (FDP):
Rede ID: ID1713019900

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir debat-

tieren über die Mission UNMISS, die als Fortführung
der alten Mission UNMIS gilt, aber nach der Unabhän-
gigkeitserklärung des Südsudan am 9. Juli dieses Jahres,
am Ende eines langen Separationsprozesses, einen ande-
ren Charakter hat. Das drückt sich unter anderem darin
aus, dass wir die Militärbeobachtungsmission, an der wir
uns im Rahmen des letzten Mandats noch beteiligt haben
und die vor allem dem Grenzregime galt, nicht fortfüh-
ren. Deshalb wird die Obergrenze auf 50 Soldaten redu-
ziert.

Es ist dringend notwendig, dass die Mission im neu
entstandenen Staat Südsudan, so wie es die Weltgemein-
schaft vorsieht, einen zivilen Charakter hat. Wer einmal
dort gewesen ist, weiß, wie groß die Handlungserforder-
nisse bei den Themen des Infrastrukturausbaus, des Auf-
baus von Regierungs- und Verwaltungsstrukturen und





Joachim Spatz


(A) (C)



(D)(B)

der Einführung von so etwas wie Rule of Law sind, alles
von einer überaus rudimentären Basis ausgehend.

Es ist offensichtlich, dass es dabei Probleme geben
wird – seien wir nicht naiv! –; denn auch wenn der Um-
bau der SPLA zu einer Parteiorganisation erfolgt ist, so
ist sie im Moment doch die allein regierende Partei, mit
all den Risiken, die einem solchen System innewohnen.
Deshalb ist klar, dass wir bei der weiteren Umsetzung
der Mission ein besonderes Augenmerk auf die Dinge
richten müssen, deren Beachtung wir in der westlichen
Wertegemeinschaft erwarten, nämlich auf den Minder-
heitenschutz und die Garantie der Menschenrechte.

Es ist nicht so leicht, aus den vielen Kämpfern, die
während der Zeit des Bürgerkrieges im Süden gekämpft
haben, Bauern zu machen. Das heißt, die Demilitarisie-
rung, die Entwaffnung weiter Teile der Kämpfer wird ein
erhebliches Maß an Anstrengungen – auch, aber nicht
nur finanzieller Art – erfordern. Der internationalen Ge-
meinschaft ist also dringend zu raten, hier mit erhebli-
chen Mitteln einzusteigen.

Einige Teile des Comprehensive Peace Agreement,
das die Grundlage für die Unabhängigkeit des Südens
bildete, sind natürlich noch nicht umgesetzt. Da geht es
um die Aufteilung der Ressourcen, vor allem des Öls,
die endgültige Grenzziehung und viele andere Themen.
Auch diese Punkte werden auf der Tagesordnung blei-
ben; auch hier tut die internationale Gemeinschaft gut
daran, das Augenmerk weiterhin darauf zu richten.

Im Übrigen sollte klar sein, dass wir beide Seiten des
Konflikts in Sudan wahrnehmen müssen, wenngleich der
verbleibende Teil des Sudan ein religiös sehr einseitig ge-
prägtes Land sein wird, das mit Recht als Teil der Ent-
wicklung im arabischen Raum gesehen werden muss.

Natürlich steht die Beantwortung einiger Fragen auf
dem Plan, vor allem, was den Norden des Sudan betrifft.
Es stellt sich zum Beispiel die Frage: Wie wollen wir uns
dem Thema Entwicklungszusammenarbeit nähern? Ich
will deutlich sagen: Die Vorstellungen, die wir haben,
gehen so weit, wie man informell – also unterhalb der
Regierungsebene, unterhalb einer offiziellen Ebene – ge-
hen kann, aber eben auch nicht weiter; denn nach wie
vor hat der Sudan einen Präsidenten, der international
gesucht wird. Nach wie vor ist aufgrund der Haltung der
regierenden National Congress Party, was das Thema
Teilhabe an Wohlstand und an politischer Macht – ge-
rade der Peripherie, ich nenne die Stichworte Darfur,
Kurdufan, Blue Nile – betrifft, noch nicht absehbar, ob
irgendeine Art von Bewegung in Richtung Ausgleich er-
folgt. Wie gesagt: Alles, was man unterhalb dieser
Ebene tun kann, muss getan werden. Das sind wir den
Menschen, auch im Norden des Sudan, schuldig.

Die Schwelle des regierungsamtlich Offiziellen sollte
nicht überschritten werden. Im Gegenteil: Wir müssen
prüfen, ob in den nächsten Jahren bei den Themen
Schuldenerlass und wirtschaftliche Entwicklung nicht
doch Verhandlungsmöglichkeiten gegeben sind, um
auch im Norden des Sudan auf eine ausgleichende Lö-
sung hinzuwirken. Im Übrigen gilt auch hier – um noch
einmal auf den Süden einzugehen –: Die wirtschaftliche
Entwicklung des Landes muss im Vordergrund stehen.
Es geht vor allem um die Stärkung der landwirtschaft-
lichen Ressourcen, die das Land hat. Ich bin davon über-
zeugt, dass das neue UN-Mandat an dieser Stelle einen
wesentlichen Beitrag leisten kann.

Die Kritik, dass die militärische Komponente vor al-
lem von afrikanischen Staaten gestellt wird, kann ich
nicht teilen. Die internationale Gemeinschaft hat sich
eine Regel der Afrikanischen Union zu eigen gemacht
hat, die besagt: „African Solutions for African People“.
Dadurch kommt – jedenfalls aus afrikanischer Sicht –
zum Ausdruck, dass die militärische Komponente
schwerpunktmäßig durch afrikanische Truppen abge-
deckt wird und dass wir uns auf das Thema Aufbau
ziviler Strukturen im administrativen und im wirtschaft-
lichen Bereich konzentrieren. Für die militärische Kom-
ponente, an der sich Deutschland beteiligt – die Entsen-
dung von 50 Soldaten –, werben wir um Zustimmung.
Wir werben insgesamt um die Zustimmung zu dieser
Mission.

Danke schön.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1713020000

Für die SPD hat jetzt das Wort der Kollege Christoph

Strässer.


(Beifall bei der SPD)



Christoph Strässer (SPD):
Rede ID: ID1713020100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich

finde es bemerkenswert, dass das Thema Sudan inner-
halb von drei Monaten viermal auf der Tagesordnung
des Deutschen Bundestages steht. Das Land hat es ver-
dient, dass wir uns mit ihm beschäftigen, aber ich
glaube, es wäre uns allen lieber, wenn die Situation eine
andere wäre. Aber die Situation ist, wie sie ist.

Die Tatsache, dass wir heute über das neue UNMISS-
Mandat abstimmen werden – ich füge hinzu: die SPD-
Fraktion wird zustimmen –, ist ein Beleg dafür, dass wir
die Entwicklung in diesem Land und in dieser Region
ernst nehmen. Wir wollen nicht, dass sich der Sudan und
sein ohnehin fragiles Umfeld in einer Weise entwickeln,
dass die Menschen von der Entwicklung genauso wenig
profitieren wie die Menschen in den Regionen am Horn
von Afrika, in Somalia, Äthiopien und Eritrea.

Ich sage das deshalb – vielleicht ist Ihnen das nicht
bekannt –, weil das World Food Programme heute eine
sogenannte Warnung herausgegeben hat. Es hat davor
gewarnt, dass in mindestens zehn Regionen des Südsu-
dan im Jahr 2012 eine Hungersnot ausbrechen könnte,
und das in einem Land, das fruchtbar ist, das seine Be-
völkerung selbst ernähren könnte und in dem viele Vo-
raussetzungen, von denen andere afrikanische Länder
nur träumen können, gegeben sind.

Was bedeutet das für unsere heutige Diskussion? Wir
stimmen hier im Deutschen Bundestag über den Einsatz
der Bundeswehr ab. Dieser Einsatz der Bundeswehr ist
– das sollten wir wahrnehmen; diese Chance sollten wir





Christoph Strässer


(A) (C)



(D)(B)

ergreifen – Teil des Engagements nicht nur Europas,
sondern auch der gesamten internationalen Staatenge-
meinschaft zur Sicherung der Staatlichkeit, der Men-
schenrechte und der Zukunft der Menschen in Sudan ins-
gesamt. Deshalb finde ich, dass man diesem Mandat
heute zustimmen muss, um die Sache voranzubringen.
Ich tue das mit Überzeugung und nicht mit Bauch-
schmerzen wie an anderen Stellen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Lassen Sie mich aus einem Papier der Friedrich-
Ebert-Stiftung vom Juli 2011 zitieren. Lassen Sie mich
Folgendes zur Erläuterung sagen: Ich beziehe mich in
diesem Zusammenhang gerne auf die Friedrich-Ebert-
Stiftung, weil sie seit vielen Jahren in beiden Teilen des
Sudan aktiv ist. Die Kollegin Anja Dargatz, die dieses
Papier verfasst hat, arbeitet seit 2008 mit einem Büro
und vielen Ortskräften in Khartoum und einem Büro in
Juba zusammen. Sie versuchen, die Menschen, die ver-
feindet sind, die gegeneinander gekämpft haben, zusam-
menzuführen. Ich finde, das ist ein ganz wichtiger und
richtiger Ansatz, den es außerhalb dieser Institution nur
ganz selten gibt.

In diesem Papier wird Folgendes ausgeführt – ich zi-
tiere jetzt –:

Die Internationale Gemeinschaft wird auch in ab-
sehbarer Zeit nicht aus dem Südsudan wegzuden-
ken sein, sei es als privatwirtschaftlicher Investi-
tionsgeber, als humanitärer Helfer und bei der
Entwicklungszusammenarbeit, als Weltbankkredit-
geber oder als UNMIS-Truppensteller. Vergleicht
man die humanitäre Situation im Südsudan mit an-
deren Ländern in der Region, die trotz Entwick-
lungsvorsprungs ebenfalls noch beträchtliche Un-
terstützung erfahren, so ist die Unterstützung mehr
als gerechtfertigt.

Ich glaube, besser kann man die Situation und das,
was zu tun ist, nicht auf den Punkt bringen.

Deshalb möchte ich auf die Frage eingehen, was
UNMISS angesichts der desolaten ökonomischen und
sozialen Situation in Südsudan tun kann. Ich habe mir
die Reden angeschaut, die im Rahmen der ersten Lesung
hier gehalten worden sind, insbesondere von denjenigen,
die gegen eine Fortsetzung des Mandats plädiert haben.
Ich möchte zwei Dinge herausgreifen.

Der für mich wichtigste Aspekt sind die Sicherheits-
strukturen. Es geht um die Möglichkeiten der Entwaff-
nung. Dazu ist gesagt worden, dass eines der wesentli-
chen Probleme ist, dass Gruppen, Milizen, auch Milizen,
die der SPLA nahestehen und mit ihr zusammenarbeiten,
bewaffnet sind, dass diese Waffen nicht abgegeben wor-
den sind. Es ist gesagt worden, dass dies die größte Ge-
fahr für die Zivilbevölkerung ist. Ich füge hinzu: Die
Kollegin von den Grünen hat das Problem der Kleinwaf-
fen angesprochen. Ich möchte eine Zahl nennen, um die
Dimension dessen, worüber wir reden, deutlich zu ma-
chen. Nach Schätzungen einer international anerkannten
Organisation, die sich mit Rüstungsexport bzw. Klein-
waffenexport befasst, gibt es in Sudan 720 000 Klein-
waffen in zivilen Händen. Das bedeutet im Klartext, um-
gerechnet auf die Bevölkerung: Von 100 Menschen in
Sudan haben 8 eine Kleinwaffe. Zum Verhältnis: Die
Zahl der offiziellen Polizeiwaffen liegt bei 200 000. Man
muss sich vor Augen halten, was das bedeutet.

Deshalb stellt sich für mich die Frage: Wenn man es
mit diesem Programm der Entmilitarisierung, der Demo-
bilisierung, der Entwaffnung und der Reintegration ernst
meint, was ich für richtig halte, dann muss man dafür
auch Instrumente bereithalten. Wenn wir beklagen, dass
dort bewaffnete Milizen aktiv sind, dann frage ich mich:
Welche Institution, welcher Akteur sammelt diese Waf-
fen ein und führt sie ihrem letzten Zweck zu, nämlich sie
auf den Müllhaufen zu werfen? Ich sage: Das macht
keine lokale Polizei. Das macht keine lokale Nichtregie-
rungsorganisation. Dafür braucht man eine entspre-
chende Ausbildung. Dafür braucht man geschulte Leute.
Daher ist das UNMISS-Mandat in der jetzigen Phase für
mich wirklich unverzichtbar.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Wenn man sich diese Frage wirklich ernsthaft stellt,
dann muss man sich auch einmal überlegen, wie die in-
ternationale Staatengemeinschaft aufgestellt ist. Das
CPA, das umfassende Friedensabkommen, ist erwähnt
worden. Es ist nicht in allen Punkten umgesetzt worden,
in ganz wesentlichen nicht. Der Ehrlichkeit und der
Wahrheit halber muss man aber auch feststellen – viele
von uns haben den Entstehungsprozess bis zum Jahr
2005 begleitet; wir waren mit dem Menschenrechtsaus-
schuss in Arusha, als es nicht geklappt hat –: Dieses um-
fassende Friedensabkommen, das CPA, wäre nicht zu-
stande gekommen und auch die darauffolgende Ent-
wicklung – die nicht gut verläuft – wäre überhaupt nicht
in Gang gekommen, wenn das UNMIS-Mandat damals
nicht im CPA verankert worden wäre. UNMIS ist nicht
deshalb verankert worden, weil die Vereinten Nationen
das wollten, sondern weil beide Parteien, der Norden wie
der Süden, gesagt haben: Jawohl, wir wollen eine solche
Komponente, wir brauchen die internationale Staatenge-
meinschaft in diesem Umfang. Deshalb war das, glaube
ich, damals eine richtige Entscheidung. Jetzt müssen wir
uns angesichts der neuen Aufgaben für UNMISS im Sü-
den überlegen, was zu tun ist.

Ich sage noch einmal: Die erste wichtige Aufgabe ist
die Entwaffnung, dieses DDRR-Programm. DDRR
heißt: Demobilisierung, Entwaffnung und Reintegration.
Das hat also nichts mit deutschen historischen Reminis-
zenzen zu tun. Dafür brauchen wir die UNMISS-Solda-
ten.

Wir brauchen sie zweitens, aber auch – da möchte ich
ein Beispiel nennen, das mir selber passiert ist – für die
Sicherung von Transportkapazitäten. Die Mitarbeiter des
World Food Programme sagen: Die Transportmöglich-
keiten in den Südsudan sind deshalb so schwierig und
kompliziert, weil beispielsweise private Organisationen,
die in diesem Bereich aktiv sind, ihre Autos nicht mehr
zur Verfügung stellen, weil sie abgefangen werden, weil





Christoph Strässer


(A) (C)



(D)(B)

sie Milizen anheimfallen. Daher sind sie nicht mehr in
der Lage, die Lebensmittel in das Land zu transportieren.

Dafür braucht man Schutz. Ich frage auch an dieser
Stelle: Wer gewährleistet diesen Schutz? Das ist für
mich der wesentliche Grund, zu sagen: Wenn es an die-
ser Stelle vorangehen soll, dann brauchen wir noch für
eine sehr lange Zeit die Absicherung durch eine Institu-
tion wie UNMISS.

Ich sage deshalb zum Schluss: Wir können bis zu
50 Soldatinnen und Soldaten sowie Polizistinnen und
Polizisten entsenden. Tatsächlich sind 12 vor Ort. Weil
sich diese 12 vielleicht ein wenig einsam vorkommen,
haben sie es, finde ich, wirklich verdient, dass wir die
Arbeit, die sie dort unter schwierigsten Umständen leis-
ten – sie sind keine Kampftruppe –, respektieren und
dass wir ihnen wie auch allen anderen zivilen Helferin-
nen und Helfern, die beim Aufbau des Sudan aktiv sind,
alles Gute wünschen. Dafür werbe ich, und deshalb
werbe ich auch für die Unterstützung dieses Mandats.

Danke schön.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1713020200

Für die CDU/CSU hat jetzt das Wort der Kollege

Philipp Mißfelder.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Philipp Mißfelder (CDU):
Rede ID: ID1713020300

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Herzlichen Dank für Ihren
Beitrag, Herr Strässer. Ich glaube, er knüpft gut an das
an, was wir am 25. März 2010 hier verabschiedet haben.
Mit unserem interfraktionellen Antrag haben wir ausge-
drückt, dass uns nicht gleichgültig ist, was sich in Sudan
tut, und dass wir diesem Thema hier im Deutschen Bun-
destag eine große Bedeutung zumessen.

Die Arbeit der Bundeswehr für UNMISS ist wichtig,
damit die Menschen in Sudan ein Minimum an Stabilität
erhalten. Unser Beitrag, den wir mit zwölf Soldaten leis-
ten, ist zwar klein, aber wichtig. Die große Geschlossen-
heit, mit der wir diesen Einsatz auf den Weg bringen, ist
ein wichtiges Zeichen.

Der Sudan steht – ich möchte zum politischen Teil
kommen – vor großen Herausforderungen. Selbst in der
Friedenspolitik in Afrika ist es eine der größten Heraus-
forderungen überhaupt. Gerade der neue Staat Südsudan
steht vor immensen Gefahren. Deshalb müssen wir ver-
suchen, ihn außenpolitisch wie auch innenpolitisch zu
stabilisieren und zu unterstützen.

Erstens: zu den außenpolitischen Herausforderungen.
Das Comprehensive Peace Agreement zwischen Nord-
und Südsudan ist noch nicht vollständig umgesetzt. Mit
dem Nordsudan besteht Uneinigkeit über Teile des
Grenzverlaufs sowie über die Zugehörigkeit der Region
Abyei. Die wichtige Frage der Aufteilung der Erlöse vor
allem aus der Erdölförderung zwischen dem Nordsudan
und dem Südsudan ist nach wie vor unbeantwortet und
bietet daher sehr viel Konfliktstoff.

Es gibt drei große Konfliktherde. In den vergangenen
Wochen kam es innerhalb des Sudan, in Abyei wie auch
in den Bundesstaaten Süd-Kurdufan, also in den Nuba-
Bergen, über die wir hier schon einmal diskutiert haben,
und Blauer Nil zu bewaffneten Auseinandersetzungen
erheblichen Umfangs zwischen den Sudan Armed
Forces, der SAF, und lokalen Milizen, über deren Aus-
richtung uns Herr Strässer das eine oder andere mitge-
teilt hat.

In Abyei konnte die Friedenstruppe die Lage beruhi-
gen. Die überwiegend äthiopischen Soldaten zeigen dort,
was innerafrikanische Verantwortung und Solidarität be-
deuten. Das ist ein wichtiger Beitrag.

Wir sind mit nur 12 Soldaten im Einsatz; wir können
diese Zahl im Fall des Falles auf 50 anheben. Insgesamt
ist es so, dass vor allem afrikanische Verbündete in der
Region tätig sind. Das bleibt ein wichtiger Beitrag zur
Friedenssicherung insgesamt und damit zur Stabilisie-
rung des Kontinents.

In den ressourcenreichen Konfliktregionen, in Süd-
Kurdufan und Blauer Nil, geht der Konflikt, der im Juni
ausgebrochen ist, weiter. Wir sehen, dass in den umstrit-
tenen Gebieten mit Gewalt Fakten geschaffen werden
oder zumindest versucht wird, Fakten zu schaffen. Seit
Juli sind nach Expertenangaben 200 000 Menschen aus
Süd-Kurdufan vertrieben worden.

Diese Faktoren werden zwar von der Weltöffentlich-
keit wenig beachtet, aber es wird deutlich: Wir stehen
vor einem ganz großen Konflikt, in dem wir unserer Ver-
antwortung gerecht werden müssen.

In der Verantwortung der internationalen Gemein-
schaft liegt es deshalb, den Druck zu erhöhen, auch den
politischen Druck. Wir dürfen in unseren Anstrengun-
gen, den Prozess zu begleiten, nicht nachlassen. Wir
können nicht zulassen, dass irgendwann im Hinblick auf
den Sudan von einem vergessenen Konflikt und dann,
wenn wir uns wieder daran erinnern, von einem erneuten
Völkermord oder „failed state“ die Rede sein wird, son-
dern wir müssen jetzt, da wir etwas tun können, handeln.
Deutschland steht als Mitglied des Sicherheitsrates der
Vereinten Nationen in einer besonderen Verantwortung.
Dieser Verantwortung wird unser Außenminister durch
sein Engagement und durch die wichtige Reise, die er
unternommen hat, gerecht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Zweitens: zu den innenpolitischen Herausforderun-
gen. Die Bildung eines Staates aus 60 verschiedenen
Ethnien ist relativ schwierig, wie sich jeder vorstellen
kann. Die Entwaffnung und Reintegration ehemaliger
oder immer noch aktiver Guerillakämpfer ist eine große
Herausforderung. Auch der Versuch, für sie eine Er-
werbsbasis zu schaffen – als Handwerker, Angestellte
oder Arbeiter –, ist sicherlich eine Herausforderung, der
wir noch mehr Aufmerksamkeit schenken müssen.





Philipp Mißfelder


(A) (C)



(D)(B)

Der Aufbau der Infrastruktur für Bildung und Wirt-
schaft ist wahrscheinlich wesentlich ausschlaggebender
als der militärische Beitrag, den wir leisten können. Des-
halb gilt unsere Aufmerksamkeit vor allem der politi-
schen Verhandlungslösung und den Möglichkeiten der
Entwicklungszusammenarbeit. Als Rahmen dafür brau-
chen wir Stabilität und Sicherheit, einerseits politisch,
andererseits militärisch. Ich finde es richtig und gut, dass
dieser Einsatz, anders als andere Einsätze, in diesem
Haus über eine ganz breite Basis verfügt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dafür möchte ich mich ganz herzlich bei Ihnen allen be-
danken. Es ist an dieser Stelle auch bemerkenswert, dass
sogar Herr Ströbele seinem Herzen einen Ruck gegeben
hat und diesem Einsatz zustimmen wird. Ihnen danke ich
ganz besonders.

Ich möchte auf Folgendes hinweisen: Vor diesem
Hintergrund, dass selbst Sie zustimmen können, finde
ich es beschämend, dass die Linksfraktion diesem Ein-
satz nicht zustimmt. Noch beschämender finde ich, dass
wir im Plenum des Deutschen Bundestages regelmäßig
mit irgendwelchen Verschwörungstheorien konfrontiert
worden sind. Ihnen, Kollegen von der Linksfraktion, ist
das Schicksal der Menschen in Südsudan offensichtlich
vollkommen egal.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Widerspruch bei der LINKEN)


Ich bitte Sie im Namen meiner Fraktion um Zustimmung
zu diesem Mandat.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1713020400

Für die Fraktion Die Linke hat jetzt das Wort der Kol-

lege Jan van Aken.


(Beifall bei der LINKEN)



Jan van Aken (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1713020500

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit Aus-

nahme der letzten Sätze von Herrn Mißfelder kann ich
vieles von dem, was Sie bis jetzt gesagt haben, voll und
ganz unterstützen.


(Karl-Georg Wellmann [CDU/CSU]: Na also! Es geht doch!)


– Ja.

Der junge Staat Südsudan braucht unsere Unterstüt-
zung, um die unglaublichen Probleme, vor denen er jetzt
steht, zu lösen. Es fehlt an fast allem: Es fehlt an wirt-
schaftlicher Entwicklung, an Schulen, an Krankenhäu-
sern, an Straßen und vor allem natürlich an einem funk-
tionierenden demokratischen Staatsapparat. Das Einzige,
das im Moment im Überfluss vorhanden ist, sind Waffen
und Gewalt. Das Problem ist nur: Wir stimmen heute gar
nicht darüber ab, wie diese Probleme gelöst werden kön-
nen. Einzig und allein zur Abstimmung steht heute die
Frage, ob deutsche Soldaten in den Südsudan geschickt
werden sollen. Dies lehne ich allerdings ab.


(Beifall bei der LINKEN)


Herr Mißfelder, in der heutigen Abstimmung geht es
auch nicht um all die Konflikte, die Sie geschildert ha-
ben, ob in Abyei, Süd-Kurdufan oder Blue Nile. Sie soll-
ten sich noch einmal genau anschauen, was heute das
Thema ist.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Ach, das weiß er doch!)


Die entscheidende Frage ist doch: Was braucht der
Südsudan im Moment wirklich? Wie kann er von deut-
scher Seite unterstützt werden? Wir haben im Juli eine
lange Liste von Vorschlägen gemacht; Sie können sie
nachlesen. Ich will nur drei dieser Vorschläge vortragen.

Erstens. Die zivile Konfliktbearbeitung muss ausge-
baut werden. Wir waren im November letzten Jahres vor
Ort. Wir haben dort viele hervorragende Projekte im Be-
reich der zivilen Konfliktbearbeitung besucht. Das funk-
tioniert.


(Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Nein! Das ist totaler Quatsch!)


Die zivilen Konfliktbearbeiter können den Ausbruch von
Gewalt wirklich verhindern, indem sie die Konflikte
schon vorher lösen.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Ja, ja! Das können sie aber nur, weil sie militärisch unterstützt werden!)


Solche Projekte haben Sie, Herr Westerwelle, eingestellt,
anstatt sie auszubauen und zu unterstützen. Sie können
doch in Südsudan die Fachkräfte, die es dort jetzt gibt,
unterstützen, und Sie können neue Fachkräfte ausbilden.
Anstatt nur 5 zivile Konfliktbearbeiter aus Deutschland
dorthin zu schicken, wie im letzten Jahr, können Sie
50 oder 500 zivile Konfliktbearbeiter dorthin schicken –
und keine Soldaten.


(Beifall bei der LINKEN)


Zweitens. Natürlich ist die Entmilitarisierung des
Südsudan eine der wichtigsten Aufgaben. 300 000 Män-
ner und Frauen des Sicherheitsapparats sind dort unter
Waffen, und auch fast alle Menschen in der Zivilbevöl-
kerung verfügen über eine Waffe. Auch hier können wir
einen Beitrag zu einer Lösung leisten, indem wir zum
Beispiel den Dialog und die Versöhnung in der Gesell-
schaft unterstützen, und wir können mehr dafür tun, dass
die ehemaligen Soldaten und Kämpfer eine echte zivile
Alternative bekommen. Das ist Demilitarisierung und
Reintegration.


(Beifall bei der LINKEN)


Dafür brauchen wir drittens im ganzen Land eine
wirtschaftliche Entwicklung. Das Land ist unglaublich
fruchtbar; Herr Strässer hat das gesagt. Trotzdem kann
es bis heute seine Bevölkerung nicht selbst ernähren.
Diese Entwicklung, der Aufbau der Landwirtschaft in





Jan van Aken


(A) (C)



(D)(B)

der Fläche und der Aufbau von anderen Verdienstmög-
lichkeiten in der Fläche, ist das Gebot der Stunde.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir haben noch sehr viele weitere Vorschläge. Das al-
les können Sie in unserem Antrag nachlesen. Für jede
gute Idee zur zivilen Unterstützung des Südsudans kön-
nen Sie immer mit unserer Zustimmung rechnen, für ei-
nen Militäreinsatz in Südsudan aber nicht.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich möchte Ihnen auch sagen, warum nicht: Die UNO-
Truppen in Südsudan – das ist Ihr Mandat – sollen die
Zivilbevölkerung schützen, und das an der Seite der
südsudanesischen Armee. Genau da liegt das Problem.
Sie alle, die Sie sich damit befasst haben, wissen ganz
genau, dass die südsudanesische Armee ein großer Teil
des Problems und eben nicht ein Teil der Lösung ist. Die
Soldaten der südsudanesischen Armee verletzen die Ge-
setze willkürlich, sie rauben, sie plündern, sie morden,
und sie haben in den letzten Wochen sehr viele zivile
Tote zu verantworten. An die Seite einer solchen Armee
wollen Sie deutsche Soldaten schicken? Das kann doch
nicht wirklich Ihr Ernst sein!


(Beifall bei der LINKEN – Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Das ist unglaublich!)


Das ist doch so, als ob Sie einem deutschen Polizisten je-
manden an die Seite stellen und sagen: Pass auf, der ist
gewalttätig, der raubt und der mordet, aber jetzt geh mal
mit ihm auf Streife und sorge für Sicherheit in der Stadt. –
Das ist doch völlig absurd.


(Beifall bei der LINKEN – Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Das ist unglaublich, was Sie da sagen!)


Aber nicht nur die südsudanesische Armee ist ein Teil
des Problems. Sie wissen genauso – das haben Sie eben
auch gesagt –, dass auch die südsudanesische Regierung
ein Teil des Problems ist. Sie wird immer undemokrati-
scher und korrupter.


(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Wegen solcher Ansichten sterben Menschen!)


An die Seite einer solchen Regierung wollen Sie deut-
sche Soldaten schicken?


(Abg. Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


Ich bin der Meinung, hier machen Sie einen ganz großen
Fehler.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1713020600

Kommen Sie bitte zum Schluss.


Jan van Aken (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1713020700

Herr Ströbele hat sich gemeldet.

Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1713020800

Ja, aber die Redezeit ist abgelaufen.


(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Ja, die Redezeit ist vorbei!)



Jan van Aken (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1713020900

Gut. – Im Übrigen bin ich der Meinung, dass

Deutschland keine Waffen mehr exportieren sollte, nir-
gendwohin, und ich finde, wir sollten bei dieser Gele-
genheit einmal überlegen, wie wir all die vielen Millio-
nen Waffen in Sudan und überall sonst auf der Welt
wieder einsammeln können. Das wäre doch einmal ein
echter Beitrag zu einer friedlichen Entwicklung – und
das nicht nur in Südsudan.


(Beifall bei der LINKEN – Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Sie nehmen mit dieser Politik Tote in Kauf und lachen sich dabei noch tot!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1713021000

Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Omid

Nouripour.


(Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


– Ich habe den nächsten Redner aufgerufen. Bitte.


(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Herr Ströbele hatte sich zu einer Zwischenfrage gemeldet!)


– Der Herr Ströbele hatte sich gemeldet, als die Redezeit
schon abgelaufen war.


(Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da haben Sie zum ersten Mal geguckt!)


Jetzt hat der Kollege Nouripour das Wort.


Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1713021100

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das ist ein

bisschen bedauerlich, weil ich glaube, es wäre berei-
chernd gewesen, zu hören, was der Kollege Ströbele an
dieser Stelle gesagt hätte. Vielleicht finden wir ja im
Laufe der Debatte noch die eine oder andere Möglichkeit
dazu.

Herr van Aken, ich frage mich, was ich Ihnen eigent-
lich getan habe, dass ich hier nach Ihrer Rede zu Wort
komme und darauf reagieren muss. Sie sagen, wir müs-
sen schauen, was der Südsudan braucht. Dann fragen Sie
die Betroffenen doch einmal, verdammt noch mal! Sie
selber fordern diese Mission. Der Südsudan genauso wie
der Norden, beide zusammen haben doch dazu aufgefor-
dert und darum gebeten, dass es diese Mission gibt. Sie
stellen sich hier hin, als würden Sie besser wissen, was
die Sudanesen brauchen. Hören Sie doch hin, was sie
selbst wollen, verdammt noch mal!





Omid Nouripour


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Meine Damen und Herren, es geht um eine Mission
der Vereinten Nationen. Diese UNO-Mission leitet die
ehemalige Vizedirektorin von UNICEF. Jetzt stellen Sie
sich hier hin und sagen, dass dabei mehr Waffen ins
Land kommen. Es tut mir leid: Das ist schlicht infam.
Sie verkennen, dass es hier um Demobilisierung, Ent-
waffnung und Ausbildung geht, damit im Süden Sudans
tatsächlich die Sicherheitskräfte sind, die auch den An-
sprüchen der Menschen dort genügen. Es tut mir sehr
leid, ich werde hier den festen Eindruck nicht los: Erst
kommt bei Ihnen die Position, und dann werden irgend-
wie die Argumente nachgeschoben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Zuruf von der FDP: Genau so ist es!)


Ich möchte aber noch etwas zur Bundesregierung sa-
gen. Vor drei Monaten haben wir als Deutscher Bundes-
tag in einem sehr schnellen Verfahren diesem Mandat
zugestimmt. Wir haben als Deutscher Bundestag ge-
zeigt, dass wir Verantwortung übernehmen und für die
Verlässlichkeit der deutschen Außenpolitik stehen. Der
Deutsche Bundestag kann das. Deshalb möchte ich die
Vertreter der Bundesregierung bitten, dass sie aufhören,
permanent mit dem Argument der Schnelligkeit, zum
Beispiel bei der Vertiefung der Sicherheitszusammenar-
beit in der Europäischen Union, am Parlamentsvorbehalt
des Bundestags zu rütteln. Unser Parlamentsvorbehalt
besteht im Kern darin, dass wir eine Parlamentsarmee
haben. Jeder Versuch dieser Bundesregierung, daran zu
rütteln, wird auf unseren festen und harten Widerstand
stoßen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der SPD)


Wir werden aber auch, beispielsweise bei dieser Mis-
sion, mehr Durchblick brauchen. Von der Region Kurdu-
fan haben wir jetzt mehrfach gehört. Die Bundesregie-
rung hat auf die grausamen Ereignisse und das
Bombardement, das es auch vonseiten der Luftwaffe des
Nordens gab, mit nur einem Satz reagiert: Sie hat die
SPLM aufgefordert, das Wahlergebnis in dieser Region
anzuerkennen. Herr Westerwelle, das ist zu wenig, wenn
man weiß, welche Unregelmäßigkeiten es gegeben hat.
Es ist zu wenig, wenn man weiß, welche Gewalt es dort
auch seitens des Staates gegeben hat. Da reicht es nicht,
einfach nur zu sagen, dass die Wahl akzeptiert werden
muss. Es muss auch ein Gewaltverzicht her. Dafür muss
man ebenfalls plädieren.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


Verantwortung bedeutet aber auch, dass man, wenn
man ein Mandat über 75 Soldatinnen und Soldaten be-
schließt und nur 12 hinschickt, auch einmal darüber
nachdenkt, wie man dieses Mandat tatsächlich erfüllen
kann. Das gilt gerade im Hinblick auf die Größe der
Aufgabe und weil wir wissen, wie schwer sie für die
12 Soldatinnen und Soldaten, die derzeit vor Ort sind, zu
bewältigen ist. Sie tun dies nicht, sondern Sie reduzieren
auf 50 Soldatinnen und Soldaten. Herr Kollege Spatz,
Sie haben gesagt, das liege in erster Linie daran, dass die
Militärbeobachter an der Grenze eingesetzt werden. Es
geht aber nicht nur um das Grenzregime. Die Militärbe-
obachter brauchen wir im ganzen Land genau aus dem
Grunde, den der Kollege Strässer genannt hat. In diesem
Land gibt es unglaublich viele Handwaffen. Es gibt so
viele Milizen, dass man dort Militärbeobachter nicht nur
an den Grenzen braucht. Dazu muss ich feststellen, dass
sich die Bundesregierung im Gegensatz zum Deutschen
Bundestag ein Stück weit aus der Verantwortung stiehlt.

Die Mission bleibt wichtig. Auch wenn es zu wenig
ist, ist es dennoch richtig, dort einzugreifen. Deshalb
werden wir diesem Mandat natürlich zustimmen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1713021200

Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem

Kollegen Ströbele.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich bedanke mich, Herr Präsident, dass ich doch noch
zu Wort kommen kann. – Kollege van Aken, ich habe Ih-
nen aufmerksam zugehört. Sie haben zutreffend darauf
hingewiesen, dass in Südsudan schreckliche Zustände
herrschen, weil viel zu viele Waffen unterwegs sind,
weil die südsudanesische Armee wenig diszipliniert ist
und weil sie sich von Plünderungen, Angriffen gegen die
Bevölkerung usw. ernährt.

Nun gibt es dort – mit UNO-Mandat – eine internatio-
nale Truppe, die im Wesentlichen aus Angehörigen afri-
kanischer Staaten besteht. Die haben nicht die Aufgabe,
die südsudanesische Armee beim Plündern, beim Rau-
ben und bei irgendwelchen anderen schrecklichen Taten
zu unterstützen, sondern sie haben die Aufgabe, zu-
nächst zu beobachten, festzustellen und einzugreifen. Es
handelt sich dabei unter anderem um äthiopische Solda-
ten. Man kann ein großes Fragezeichen dahintersetzen,
ob die dafür besonders gut geeignet sind; aber es sind
afrikanische Soldaten. Sie sollen Plünderungen verhin-
dern.

Wie können Sie dann dagegen sein, dass sich Deut-
sche beteiligen – nicht in besonderem Umfang, sondern
mit zwölf Personen –, die beim Meldeaufkommen und
bei Ähnlichem unterstützend tätig sind und dabei helfen,
solche schlimmen Taten, die auch Sie beklagen, abzu-
wenden? Wer sollte denn Ihrer Meinung nach die Bevöl-
kerung vor den Überfällen der südsudanesischen Armee,
also der Armee aus dem eigenen Land, schützen, wenn
nicht eine von der UNO mandatierte, anerkannte, inter-
nationale Truppe der afrikanischen Länder, unterstützt
durch deutsche und andere europäische Soldaten?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)







(A) (C)



(D)(B)


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1713021300

Zur Erwiderung. Bitte.


Jan van Aken (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1713021400

Das Problem ist, dass es so leider genau nicht ist. –

Ich war im Mai in New York und habe in der UNO mit
den Sudan-Expertinnen und -Experten geredet. Ihnen
war zu diesem Zeitpunkt noch unklar, wie das Mandat
aussieht, weil sie vor genau diesem Problem standen. Sie
haben gesagt: Wir wissen, dass die südsudanesische Re-
gierung ein Problem ist. Wir wissen, dass die südsudane-
sische Armee ein viel größeres Problem ist. Aber wir be-
kommen ohne eine Einladung der südsudanesischen
Regierung kein Mandat. Ich habe gesagt: Wenn ihr auf
Einladung der Regierung im Land seid, dann könnt ihr
nicht gegen die südsudanesische Armee agieren, weil ihr
an deren Seite kämpfen müsst. Die Antwort war: Genau
das ist unser Problem.

Deswegen wurde monatelang um eine Lösung gerun-
gen. Herr Ströbele, schauen Sie sich das UN-Mandat und
das deutsche Mandat einmal an. Darin ist festgelegt, dass
die Soldaten an der Seite der südsudanesischen Armee
kämpfen und eben nicht gegen sie. Sie können also keine
Zivilisten vor der südsudanesischen Armee schützen.
Das gibt dieses Mandat nicht her.

Darin liegt das große Problem. Sie können doch nicht
mit Menschenrechtsverletzern auf Patrouille gehen und
hinterher sagen: Wir konnten nichts tun, weil diejenigen,
an deren Seite wir gestanden haben, selbst gemordet ha-
ben. Deswegen ist dieses ganze Konstrukt von vorne bis
hinten falsch. Das funktioniert so nicht.


(Beifall bei der LINKEN)


Schauen Sie sich das noch einmal an und geben Sie
Ihrem Herzen einen zweiten Ruck. Ich glaube, an diesem
Punkt können Sie wirklich guten Gewissens dagegen
stimmen, Herr Ströbele.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und wer soll die Plünderungen verhindern?)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1713021500

Jetzt ist dieser Austausch beendet. – Als letzter Red-

ner zu diesem Tagesordnungspunkt hat das Wort der
Kollege Dr. Reinhard Brandl von der CDU/CSU-Frak-
tion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. Reinhard Brandl (CSU):
Rede ID: ID1713021600

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Lieber Herr Ströbele, Ihr Versuch, die Linken mit Sach-
argumenten von der Sinnhaftigkeit dieses Einsatzes zu
überzeugen, ist aller Ehren wert. Aber das Problem ist:
Sie sind den Sachargumenten gar nicht zugänglich, weil
sie nicht dafür stimmen wollen. Sie sind grundsätzlich
gegen Einsätze der Bundeswehr.


(Beifall bei der LINKEN)

Daher suchen sie immer wieder neue Argumente, die sie
vorschieben, um diesem Einsatz, über den in diesem
Haus ein wirklich breiter Konsens besteht, nicht zustim-
men zu müssen.

Meine lieben Kollegen von den Linken, sehr geehrter
Herr van Aken, es wäre aus meiner Sicht ehrlicher, zu
sagen: Sie stimmen aus ideologischen oder aus welchen
Gründen auch immer grundsätzlich nicht zu, anstatt im-
mer neue Argumente zu suchen und diese vorzuschie-
ben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Jan van Aken [DIE LINKE]: Würden Sie bitte auf die Argumente eingehen?)


Als wir das letzte Mal über UNMISS abgestimmt ha-
ben, am 8. Juli dieses Jahres, blickte die ganze Welt auf
den Südsudan. Wir verfolgten gespannt die Unabhängig-
keitserklärung und die Feierlichkeiten, die Gott sei Dank
friedlich abgelaufen sind. Heute, knapp drei Monate spä-
ter, ist die Feier vorbei, und es stehen wieder die Pro-
bleme dieses geschundenen Landes im Vordergrund.

Die Welt hat große, vielleicht zu große Erwartungen
an die Regierung in Südsudan. Sie soll die vielen offe-
nen Konflikte mit dem Norden lösen. Sie soll Verwal-
tungsstrukturen aufbauen. Sie soll das Land mit Infra-
struktur erschließen. Sie soll das Land erschließen. Sie
soll die soziale und wirtschaftliche Situation der Men-
schen dort verbessern.

Voraussetzung dafür ist aber, dass es ihr erst einmal
gelingt, die Situation in ihrem eigenen Land, in Südsu-
dan selbst, zu stabilisieren und zu befrieden. Das macht
sie, indem sie versucht, möglichst viele der ethnischen
Gruppen und Stammesgruppierungen einzubinden. Aber
genau das, die Bedienung der Interessen der unterschied-
lichen ethnischen Gruppierungen und dieser Klientel,
verhindert auf der anderen Seite den Aufbau effizienter
staatlicher Strukturen.

Das ist ein nur schwer aufzulösendes Dilemma.
Deutschland engagiert sich seit Jahren im Rahmen der
Europäischen Union und im Rahmen der Vereinten Na-
tionen für den Frieden und den Staatsaufbau in der Re-
gion.

Über einen Teil dieses Engagements, die Entsendung
von deutschen Soldaten im Rahmen von UNMISS, stim-
men wir heute ab. Es geht um maximal 50 Soldaten, von
denen sich zwölf im Einsatz befinden. Es gibt zweifels-
frei größere Einsätze der Bundeswehr. Aber dass wir im
Parlament jeden Einsatz gleichwertig behandeln, ist
auch das Signal an die Soldaten und an die Öffentlich-
keit, dass wir jeden Einsatz des Militärs gleich ernst neh-
men. Die zwölf Soldaten, die sich im Einsatz befinden,
leisten ihren Dienst unter sehr fordernden Bedingungen
und auf Basis einer Infrastruktur, die deutlich weniger
ausgebaut ist als in vielen anderen Einsatzgebieten.
Trotzdem sind sie hochmotiviert und erbringen höchste
Leistungen. Dafür möchten wir ihnen von dieser Stelle
aus ganz herzlich danken.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)






Dr. Reinhard Brandl


(A) (C)



(D)(B)

Die deutschen Soldaten sind aber nur ein Teil des
deutschen Engagements dort. Ebenfalls im Rahmen von
UNMISS sind derzeit sechs Mitarbeiter des Technischen
Hilfswerks und sieben Polizisten in Südsudan. Auch ih-
nen danken wir für ihren Einsatz. Hinzu kommen Mittel
der Entwicklungshilfe aus dem BMZ und dem Europäi-
schen Entwicklungsfonds sowie vielfältige Unterstüt-
zung von Nichtregierungsorganisationen und kirchlichen
Trägern.

Das internationale Engagement zeigt durchaus Er-
folge. Ich denke vor allem an das weitgehend friedliche
Referendum im Januar und an die Staatengründung im
Juli. Die Bundesregierung hat dies auch in ihrem Bericht
über das alte UNMIS-Mandat aufgezeigt.

Die Erfolge sind aber relativ. Seit Januar sind im Nor-
den und im Süden des Sudan an den verschiedenen Kon-
fliktherden über 2 000 Menschen getötet worden. Die
Probleme des Landes können nicht von außen gelöst
werden. Die Geberländer müssen ihre Hilfen so einset-
zen, dass sie nicht zu mehr Klientelwirtschaft führen,
sondern die Regierung dabei unterstützen, konkrete Pro-
jekte zu verwirklichen, die der breiten Bevölkerung eine
Perspektive auf ein besseres Leben in Frieden geben.
Wir dürfen dabei die Erwartungen nicht zu hoch anset-
zen. Der Staatsaufbau in Südsudan wird, wenn er erfolg-
reich verläuft, Jahre und Jahrzehnte dauern. Aber auch
wenn die Erfolge in Südsudan aus unserer Sicht relativ
klein sind: Aus Sicht der Menschen dort sind auch kleine
Erfolge relativ große Fortschritte. Die kleinen Erfolge
aus unserer Sicht bedeuten große Erfolge und Verbesse-
rungen ihrer Lebenssituation.

Wir sollten deswegen unsere Unterstützung fortset-
zen. Ich bitte Sie daher um Zustimmung zu diesem Man-
dat.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1713021700

Zu einer Kurzintervention erteile ich der Kollegin

Kerstin Müller das Wort.


(Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP)


Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):

Ich weiß, dass Sie jetzt unbedingt abstimmen wollen.
Es tut mir leid; aber ich glaube, es ist auch im Interesse
der Koalition, nämlich all derer, die zustimmen wollen,
richtigzustellen, was Herr van Aken hier fälschlicher-
weise behauptet hat.

Er hat behauptet, dass UNMISS nicht autorisiert
wäre, die Zivilisten vor Übergriffen der südsudanesi-
schen Armee zu schützen. Das ist falsch. Herr van Aken,
wir haben uns schon in der letzten Debatte darüber aus-
einandergesetzt. Ich zitiere zunächst einmal aus dem
Mandat. Darin steht eindeutig:

Nach Kapitel VII der Charta der Vereinten Natio-
nen ist UNMISS autorisiert, zum Eigenschutz, zur
Gewährleistung der Sicherheit … sowie … zum
Schutze von Zivilisten, im Rahmen der eigenen Fä-
higkeiten die notwendigen Maßnahmen zu ergrei-
fen.

Ich verweise diesbezüglich noch einmal auf meine Kurz-
intervention in der letzten Debatte. Im Beschluss des
UN-Sicherheitsrates gibt es zwei Paragrafen, in denen
sehr deutlich dargestellt wird, dass UNMISS autorisiert
wird, auch bei Übergriffen der südsudanesischen Armee
Zivilisten zu schützen. Ob UNMISS hinsichtlich ihrer
Kapazität dazu in der Lage ist, ist eine andere Frage.
Aber sie ist ganz klar dazu befugt. Das ist für uns ein
wichtiger Punkt, um der Fortsetzung des Mandats zuzu-
stimmen.

Ich fordere Sie auf, nicht zum wiederholten Male fal-
sche Behauptungen zu äußern, die die Glaubwürdigkeit
des Mandats untergraben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1713021800

Zur Erwiderung Herr van Aken.


Jan van Aken (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1713021900

Frau Müller, es tut mir leid, aber auch dadurch, dass

Sie es jetzt zum zweiten Mal sagen, wird das, was Sie
behaupten, nicht richtig. Ich stelle fest, dass Sie von den
Grünen als Einzige sogar eine Aufstockung des Mandats
– noch mehr Soldaten für den Südsudan – gefordert ha-
ben.

Ich stelle fest: Sie haben recht. In § 13 des Mandats
wird ausdrücklich gesagt – genau das ist für mich ein
Signal, wie gefährlich die Situation ist –, dass es Pro-
bleme bei der SPLA, der südsudanesischen Armee,
gibt. Aber in § 13 werden die UNMISS-Soldaten nicht
autorisiert – da liegen Sie falsch –, gegen die SPLA
vorzugehen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist falsch, was Sie sagen!)


Dort wird nur gesagt, dass sie ein Auge darauf haben
müssen, ob die südsudanesische Regierung oder Armee
Menschenrechtsverletzungen begehen. Aber die Solda-
ten haben keine entsprechende operative Aufgabe. Ich
war mehrere Tage in New York und habe das dort durch-
diskutiert. Wir haben dort gemeinsam festgestellt, dass
das nicht sein kann. Lesen Sie es genauer! Lassen Sie
sich von den Leuten bei der UNO beraten! Dann wissen
Sie, dass Sie hier falsche Behauptungen aufstellen und
dass Sie als Grüne aus falschen Gründen immer mehr
Soldaten in den Sudan schicken wollen.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1713022000

Ich schließe die Aussprache.

Bevor wir zur Abstimmung über die Beschlussemp-
fehlung kommen, gebe ich Ihnen das von den Schriftfüh-
rerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der na-





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)


Hans-Joachim Fuchtel
Ingo Gädechens

Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues

Karl Schiewerling
Norbert Schindler Claudia Bögel
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Michael Glos

Dr. Karl A. Lamers

(Heidelberg)


Andreas G. Lämmel
Dr. Norbert Lammert
Christian Schmidt (Fürth)

Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön (St. Wendel)


Klaus Breil
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Dr. Thomas Gebhart Günter Lach Tankred Schipanski Nicole Bracht-Bendt
mentlichen Abstimmung
Neunzehnten Gesetzes zur Ä
gesetzes bekannt, Drucksach

Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 535;
davon

ja: 294
nein: 241

Ja

CDU/CSU

Ilse Aigner
Peter Altmaier
Peter Aumer
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck


(Reutlingen)

Manfred Behrens (Börde)

Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen


(Bönstrup)

Wolfgang Bosbach
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer (Göttingen)

Dirk Fischer (Hamburg)

Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Dr. Hans-Peter Friedrich


(Hof)

Michael Frieser
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
über den Entwurf eines
nderung des Bundeswahl-
en 17/6290 und 17/7069:

Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Olav Gutting
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Ursula Heinen-Esser
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung (Konstanz)

Dr. Egon Jüttner
Hans-Werner Kammer
Bernhard Kaster

(Villingen Schwenningen)

Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
abgegebene Stimmen 535. M
mit Nein haben gestimmt 241
genommen.

Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Paul Lehrieder
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Stephan Mayer (Altötting)

Dr. Michael Meister
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller (Erlangen)

Dr. Philipp Murmann
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Katherina Reiche (Potsdam)

Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht (Weiden)

Anita Schäfer (Saalstadt)

Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
it Ja haben gestimmt 294,
. Der Gesetzentwurf ist an-

Dr. Ole Schröder
Uwe Schummer

(Weil am Rhein)

Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl (Heilbronn)

Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel (Kleinsaara)

Andrea Astrid Voßhoff
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg (Hamburg)

Peter Weiß (Emmendingen)

Sabine Weiss (Wesel I)

Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Elisabeth Winkelmeier-

Becker
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew

FDP

Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Christine Aschenberg-

Dugnus
Daniel Bahr (Münster)

Florian Bernschneider
Sebastian Blumenthal





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)

Sylvia Canel
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Dr. Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Paul K. Friedhoff
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Miriam Gruß
Joachim Günther (Plauen)

Dr. Christel Happach-Kasan
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Heiner Kamp
Michael Kauch
Dr. Lutz Knopek
Pascal Kober
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth (Kyffhäuser)

Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Sabine Leutheusser-

Schnarrenberger
Lars Lindemann
Christian Lindner
Dr. Martin Lindner (Berlin)

Michael Link (Heilbronn)

Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Patrick Meinhardt
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Petra Müller (Aachen)

Burkhardt Müller-Sönksen
Dr. Martin Neumann


(Lausitz)

Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto


(Frankfurt)

Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Dr. Christiane Ratjen-

Damerau
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Dr. Stefan Ruppert
Björn Sänger
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Marina Schuster
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Judith Skudelny
Dr. Hermann Otto Solms
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Torsten Staffeldt
Dr. Rainer Stinner
Serkan Tören
Johannes Vogel


(Lüdenscheid)

Dr. Daniel Volk
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)


Nein

SPD

Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Bärbel Bas
Dirk Becker
Lothar Binding (Heidelberg)

Gerd Bollmann
Willi Brase
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Martin Burkert
Petra Crone
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Sebastian Edathy
Ingo Egloff
Siegmund Ehrmann
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Angelika Graf (Rosenheim)

Kerstin Griese
Michael Groschek
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Michael Hartmann


(Wackernheim)

Hubertus Heil (Peine)

Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz (Essen)

Frank Hofmann (Volkach)

Dr. Eva Högl
Christel Humme
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe (Leipzig)

Fritz Rudolf Körper
Anette Kramme
Nicolette Kressl
Angelika Krüger-Leißner
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange (Backnang)

Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Dietmar Nietan
Manfred Nink
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Aydan Özoğuz
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth (Esslingen)

Michael Roth (Heringen)

Marlene Rupprecht


(Tuchenbach)

Anton Schaaf
Axel Schäfer (Bochum)

Bernd Scheelen
Marianne Schieder


(Schwandorf)

Werner Schieder (Weiden)

Ulla Schmidt (Aachen)

Silvia Schmidt (Eisleben)

Ottmar Schreiner
Swen Schulz (Spandau)

Frank Schwabe
Dr. Martin Schwanholz
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Dr. Marlies Volkmer
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Uta Zapf
Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries

DIE LINKE

Jan van Aken
Agnes Alpers
Herbert Behrens
Karin Binder
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Sevim Dağdelen
Dr. Diether Dehm
Heidrun Dittrich
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Klaus Ernst
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Diana Golze
Annette Groth
Dr. Gregor Gysi
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Inge Höger
Dr. Barbara Höll
Andrej Hunko
Katja Kipping
Harald Koch
Jutta Krellmann
Katrin Kunert
Caren Lay
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Stefan Liebich
Ulla Lötzer
Thomas Lutze
Ulrich Maurer
Cornelia Möhring
Kornelia Möller
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Petra Pau
Jens Petermann
Richard Pitterle
Yvonne Ploetz
Ingrid Remmers
Paul Schäfer (Köln)

Michael Schlecht
Dr. Ilja Seifert
Raju Sharma
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Dr. Kirsten Tackmann
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler
Johanna Voß
Sahra Wagenknecht
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)


Bernschneider, Dr. Stefan Ruppert, weiterer 17/2482, 17/5435 –

Abgeordneter und d

Programme zur
schem Extremism
stärken

– zu dem Antrag der

(Leip Abgeordneter und d Demokratieoffensi lichkeit – Zivilgese Rechtsextremismu 1)

er Fraktion der FDP

Bekämpfung von politi-
us weiterentwickeln und

Abgeordneten Sönke Rix,
zig), Petra Crone, weiterer

er Fraktion der SPD

ve gegen Menschenfeind-
llschaftliche Arbeit gegen
s nachhaltig unterstützen
Berichterstattung:
Abgeordnete Eckhard
Sönke Rix
Florian Bernschneider
Diana Golze
Monika Lazar

Nach einer interfraktionel
Aussprache eine Dreiviertels
Widerspruch? – Das ist nich
beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache
ner dem Parlamentarischen S
Kues das Wort.
Pols

len Vereinbarung ist für die
tunde vorgesehen. Gibt es
t der Fall. Dann ist das so

und erteile als erstem Red-
taatssekretär Dr. Hermann
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Kerstin Andreae
Marieluise Beck (Bremen)

Volker Beck (Köln)

Cornelia Behm
Birgitt Bender
Viola von Cramon-Taubadel
Ekin Deligöz
Harald Ebner
Hans-Josef Fell
Dr. Thomas Gambke
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann

Bettina Herlitzius
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Ingrid Hönlinger
Thilo Hoppe
Katja Keul
Memet Kilic
Maria Klein-Schmeink
Ute Koczy
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Fritz Kuhn
Stephan Kühn
Renate Künast
Markus Kurth

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem An-
trag der Bundesregierung auf Fortsetzung der Beteili-
gung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der von den
Vereinten Nationen geführten Friedensmission in Südsu-
dan, UNMISS. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 17/7213, den Antrag
der Bundesregierung auf Drucksache 17/6987 anzuneh-
men. Wir stimmen nun über die Beschlussempfehlung
namentlich ab.

Sind alle Plätze an den Urnen besetzt? – Das ist der
Fall. Ich eröffne die Abstimmung und bitte, die Stimm-
karten einzuwerfen.

Haben alle Kolleginnen und Kollegen ihre Stimmkar-
ten eingeworfen? – Das ist der Fall. Ich beende die Ab-
stimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schrift-
führer, die Stimmen auszuzählen.1)

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend (13. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Dorothee
Bär, Markus Grübel, Eckhard Pols, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Miriam Gruß, Florian
Undine Kurth (Quedlinburg)

Monika Lazar
Nicole Maisch
Agnes Malczak
Jerzy Montag
Kerstin Müller (Köln)

Beate Müller-Gemmeke
Ingrid Nestle
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth (Augsburg)

Krista Sager

Manuel Sarrazin
Dr. Gerhard Schick
Till Seiler
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang Strengmann-

Kuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Daniela Wagner
Wolfgang Wieland
Dr. Valerie Wilms
Josef Philip Winkler

– zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke,
Jan Korte, Matthias W. Birkwald, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion DIE LINKE

Auseinandersetzung mit Rechtsextremis-
mus verstärken – Bundesprogramme gegen
Rechtsextremismus ausbauen und versteti-
gen

– zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke,
Jan Korte, Diana Golze, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE

Arbeit für Demokratie und Menschenrechte
braucht Vertrauen – Keine Verdachtskultur
in die Projekte gegen Rechtsextremismus
tragen

– zu dem Antrag der Abgeordneten Monika
Lazar, Sven-Christian Kindler, Tom Koenigs,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Daueraufgabe Demokratiestärkung – Die
Auseinandersetzung mit rassistischen, anti-
semitischen und menschenfeindlichen Hal-
tungen gesamtgesellschaftlich angehen und
die Förderprogramme des Bundes danach
ausrichten

– Drucksachen 17/4432, 17/3867, 17/3045, 17/4664,





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


D
Dr. Hermann Kues (CDU):
Rede ID: ID1713022100


Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren nicht
zum ersten Mal über die Extremismusprogramme. Ich
will eingangs festhalten, dass jegliche Art von Extremis-
mus, ganz gleich, ob von links oder von rechts oder isla-
mistisch motiviert,


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oder aus der Mitte!)


im eklatanten Widerspruch zu unserer freiheitlich-demo-
kratischen Grundordnung steht.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Deswegen hat es sich diese Bundesregierung zur Auf-
gabe gemacht, von Anfang an sämtliche demokratie-
feindlichen Strömungen gleichermaßen entschieden und
nachhaltig zu bekämpfen. Sie tut das mit Erfolg.

Die Projekte, die in den Bundesprogrammen im Be-
reich Extremismusprävention zur Stärkung von Toleranz
und Demokratie verankert sind, leisten Hervorragendes.
Sie kennen die Präventionsprogramme gegen Rechts-
extremismus „Vielfalt tut gut“ und „kompetent. Für De-
mokratie“ sowie das 2011 gestartete Folgeprogramm
„Toleranz fördern – Kompetenz stärken“. Unsere Bemü-
hungen im Bereich der Prävention von Linksextremis-
mus und von islamistischem Extremismus im Bundes-
programm „Initiative Demokratie stärken“ sind
erfolgreich. Ich freue mich darüber. Ich glaube, dass das
ein sehr positives Signal ist. Wir schulden Dank und An-
erkennung all denjenigen, die sich in diesen Initiativen
gegen Rechts- und Linksextremismus engagieren. Diese
Menschen haben unsere Unterstützung verdient.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wir werden die bisherigen Ansätze im Bereich
Rechtsextremismus fortsetzen. Wir sind ein gutes Stück
vorangekommen und gehen weiter voran; denn niemand
bezweifelt, dass Rechtsextremismus existiert und er ein
ernsthaftes Problem ist.

Es gibt aber auch – das muss man ebenfalls feststellen –
Linksextremismus in Deutschland. Die Notwendigkeit,
sich damit zu beschäftigen, wird von dem einen oder an-
deren immer wieder in Abrede gestellt. Das halten wir
für falsch und einseitig, zumal linksextremistische Straf-
taten in Deutschland nachweislich zugenommen haben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Die linksextremistisch motivierten Gewalttaten sind von
701 Fällen im Jahr 2008 auf 944 im Jahr 2010 gestiegen.
Das sind über 34 Prozent. Dass wir dieser Entwicklung
aktiv gegensteuern wollen, ist absolut sinnvoll. Dazu
sollten auch Sie sich bekennen.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Das Bundesprogramm gegen Linksextremismus und
islamistischen Extremismus setzt wie die Programme
gegen Rechtsextremismus im pädagogischen, im inte-
grativen und im bildungsorientierten Bereich an. Die
teilweise lautstark geäußerte Kritik an diesem Programm
kann ich überhaupt nicht nachvollziehen, und zwar ers-
tens, weil die Bekämpfung des Rechtsextremismus mit
gleicher Konsequenz fortgesetzt wird und die Haushalts-
mittel aufgestockt wurden, und zweitens, weil es in dem
Programm gegen Linksextremismus nicht darum geht,
gegen legitime linke Gesellschaftskritik vorzugehen.
Wir wollen – das ist der Kern –, dass Kinder und Jugend-
liche für eine pluralistische, demokratische Gesellschaft
begeistert und für die Gefahren des Extremismus sensi-
bilisiert werden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wir halten Extremismus, egal ob von links oder von
rechts, für gefährlich und machen hier keine Unter-
schiede. Ich sage aber auch, dass bedauerlicherweise
nicht alle diese Auffassung teilen. Der Kampf gegen die
Programme gegen Linksextremismus zeigt teilweise tra-
gische Ausmaße. So sah sich zum Beispiel ein Institut in
Hamburg vehementer Kritik ausgesetzt, nur weil es ein
von uns gefördertes Forschungsvorhaben zum Thema
„Autonome Jugendliche“ durchgeführt hat. Das Institut
wurde zeitweilig von etwa 70 Studierenden der Hoch-
schule besetzt, und es kam auch zu Sachbeschädigungen.
Auch andere Träger sind massiv angegangen worden,
nur weil sie Modellprojekte zur Prävention von Links-
extremismus durchgeführt haben. Ich sage ausdrücklich:
Es gibt Kräfte, die auf einem Auge blind sind. Aber das
möchten wir nicht akzeptieren.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wir wollen beide Programmhälften fortführen und uns
mit beiden Seiten auseinandersetzen. Deswegen glaube
ich, dass der Antrag, der von den Koalitionsfraktionen
eingebracht worden ist, unsere Unterstützung verdient.

Zu den Anträgen der SPD, der Grünen und auch der
Linken sage ich: Sie sehen Extremismusprävention nur
im engen Korsett der Prävention gegen Rechtsextremis-
mus.


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie verstehen es noch immer nicht!)


Sie treffen in Ihren Anträgen keinerlei inhaltliche Aus-
sage zur Demokratieförderung. Ihnen geht es ausschließ-
lich um die finanzielle Förderung, ohne Struktur und Vi-
sion.

Weil es Ihnen an Inhalten fehlt, machen Sie Stim-
mung gegen die Demokratieerklärung.


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist eine Unverschämtheit!)


Ich weiß nicht, wo das eigentliche Problem liegt. Es geht
doch lediglich darum, dass jeder, der Geld vom Staat be-





Parl. Staatssekretär Dr. Hermann Kues


(A) (C)



(D)(B)

kommt, unterschreiben muss, dass er es für Zwecke der
Demokratieförderung einsetzt.


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann sollen es doch bitte alle unterschreiben!)


Es geht nicht um einen Generalverdacht gegenüber den
Trägern. Es ist bemerkenswert, dass der Großteil der
Träger überhaupt keine Probleme mit dieser Demokra-
tieerklärung hat.


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum wohl? Weil sie kein Geld mehr bekommen!)


Ich glaube, dass wir gute Gründe haben, genau hinzu-
schauen, wer von diesen Maßnahmen profitiert. Ich habe
schon beim letzten Mal auf einige sehr praktische Bei-
spiele hingewiesen. Es kann nicht sein, dass Extreme
von den Programmen gegen Extreme profitieren. Das ist
mit unserem Verständnis nicht vereinbar.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1713022200

Herr Kollege Kues, ich muss Ihren Redefluss unter-

brechen; denn der Kollege Kindler würde Ihnen gerne
eine Zwischenfrage stellen.

D
Dr. Hermann Kues (CDU):
Rede ID: ID1713022300


Das hat er doch schon beim letzten Mal gemacht. Ist
er überhaupt hier?


(Heiterkeit – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Es ist schon spät am Abend! Wir wissen das!)


Bitte sehr.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1713022400

Bitte schön, Herr Kindler.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sehr geehrter Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt,
dass der Wissenschaftliche Dienst dieses Hohen Hauses
ein Gutachten zur sogenannten Demokratieklausel – wir
sagen: Extremismusklausel – verfasst hat und in diesem
Gutachten zu dem Ergebnis kommt, dass die Demokra-
tieklausel verfassungsrechtlich höchst bedenklich bzw.
sogar verfassungswidrig ist, weil sie einen Bekenntnis-
zwang der Träger verlangt, was in keinem Verhältnis zu
dem steht, was an staatlichen Geldern gegeben wird?
Teilen Sie weiterhin meine Einschätzung, dass eine Zi-
vilgesellschaft Vertrauen sowie Unterstützung und nicht
Misstrauen braucht und dass dies das große Problem ist,
weswegen so viele Träger und zivilgesellschaftliche Ini-
tiativen dagegen vorgehen und protestieren?

D
Dr. Hermann Kues (CDU):
Rede ID: ID1713022500


Das Letzte, was Sie gesagt haben, dass viele zivilge-
sellschaftliche Träger und Initiativen dagegen vorgehen,
stimmt schlichtweg nicht.

(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt sehr wohl!)


Sogar zahlreiche Kommunen haben unterschrieben, ob-
wohl sie überhaupt nicht dazu verpflichtet sind. Erinnern
Sie sich einmal an die Diskussion im Bundesrat. Dort
gab es eine Initiative vom Land Berlin gegen die Demo-
kratieerklärung. – Ich sage gleich noch etwas zu der Ex-
pertise des Wissenschaftlichen Dienstes. – Am letzten
Freitag ist dem Antrag des Landes Berlin auf Änderung
der Demokratieerklärung vom Bundesrat mit seiner mo-
mentanen Mehrheit eine klare Absage erteilt worden,
weil man offenkundig die rechtliche Basis dafür nicht als
tragfähig angesehen hat.

Zu der Expertise des Wissenschaftlichen Dienstes des
Bundestages gibt es ganz klare Gutachten von Wissen-
schaftlern und Fachleuten. Wir haben auch Stellungnah-
men der Verfassungsressorts, in denen steht, dass das
eine ausgesprochen dünne Expertise gewesen ist. Wir
verlassen uns auf die Stellungnahme der Verfassungsres-
sorts. Wieso werden Klagen zurückgezogen, wenn es an-
geblich rechtswidrig ist? Weil man auf dieser Basis nicht
erfolgreich sein wird. Sie können es vor Gericht gerne
noch einmal versuchen.

Langer Rede kurzer Sinn: Wir werden daran festhal-
ten, den Extremismus von beiden Seiten zu bekämpfen.
Ich wäre sehr dankbar, wenn diejenigen, die uns immer
vorwerfen, wir seien auf dem einen Auge blind, bei Ak-
tivitäten gegen Linksextremismus und Islamismus an der
Seite der Regierung stünden.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir sind nicht an der Regierung! Wie kämen wir dazu?)


Entscheidend ist, dass Demokraten in dieser Sache zu-
sammenhalten. Deswegen sollten Sie da mitmachen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1713022600

Für die SPD hat jetzt der Kollege Sönke Rix das

Wort.


(Beifall bei der SPD)



Sönke Rix (SPD):
Rede ID: ID1713022700

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und

Herren! Ich möchte zunächst auf den Koalitionsantrag
eingehen. Wenn man ihn liest, dann stößt man auf die
Schlagwörter, die sehr häufig darin zu finden sind: wei-
terentwickeln, prüfen. Sie wollen eine verbesserte Ko-
ordination und Zusammenarbeit der Ministerien. Es ist
richtig und gut, Programme für Demokratie und Tole-
ranz weiterzuentwickeln. Aber was wollen Sie konkret
für die Initiativen vor Ort tun, die an diesen Programmen
beteiligt sind? Die Antwort auf diese Frage fehlt in Ih-
rem Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen von Union
und FDP. Das Ziel muss sein, eine Gesamtstrategie zu
entwickeln. Auch das haben Sie richtig formuliert. Doch
mit welchen Mitteln und mit welchen konkreten Schrit-





Sönke Rix


(A) (C)



(D)(B)


ten Sie dieses Ziel erreichen wollen, steht nicht in Ihrem
Antrag.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Wenn Sie mit den Initiativen vor Ort sprechen – Sie
tun das sicherlich genauso häufig wie wir –, dann wer-
den Sie auf die Probleme stoßen, die man mit diesen
Programmen hat. Mir geht es um die konkrete Ausfüh-

Das ist – in der Tat – absolut seltsam. Für die Projekte ist
es schwer, eine Kofinanzierung von 50 Prozent sicherzu-
stellen. Da brauchen wir eine Änderung.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich will ein ganz konkretes Beispiel nennen: Die
Amadeu-Antonio-Stiftung führt ein sehr sinnvolles Pro-
rung der Programme. Daher will ich jetzt keine Debatte
über den Extremismus von links und rechts führen, son-
dern einen genauen Blick auf diese Programme werfen.

Wenn man die Strategien für Demokratie und Vielfalt
ernst nimmt, dann braucht man Mittel, die langfristig
und nicht nur kurzfristig zur Verfügung stehen.


(Beifall bei der SPD)


Diese Mittel brauchen wir für die Schaffung von Struk-
turen. Geld ist auch bitter nötig für Opferberatung, für
Beraterteams und für die zahlreichen Initiativen vor Ort.

Die Strategien für Demokratie und Vielfalt brauchen
nicht nur jede Menge finanzielle Mittel, sondern auch
Flexibilität, was die Abrufung dieser Mittel angeht. Ich
nenne ein kleines Beispiel. Sie alle kennen den Verein
„Gesicht Zeigen!“. Gerhard Schröder ist der Schirmherr
und Uwe-Karsten Heye ist der Vorsitzende. Auch Kolle-
ginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen sind Mit-
glied in diesem Verein. Dieser Verein hat elf Projekte
kofinanziert, die aktiv vor Ort im Rahmen unserer Pro-
gramme tätig waren. Bei dieser Kofinanzierung ergibt
sich allerdings das Problem, dass sie nicht dauerhaft ge-
leistet werden kann. Weil unsere Programme nicht flexi-
bel gestaltet sind, mussten diese elf Projekte wieder ein-
gestellt werden. Deshalb muss die Struktur der
Programme flexibler werden. Ich hätte mir gewünscht,
wenn Sie diese Programme einmal daraufhin evaluiert
hätten und zu mehr Flexibilität gekommen wären. Das
ist aber leider nicht passiert.


(Beifall bei der SPD)


Ein weiteres Thema – ich habe es schon angespro-
chen – ist die Kofinanzierung insgesamt. Wir haben uns
in der Großen Koalition bereit erklärt – ich habe selber
dazugelernt; Kollegin Griese hat zusammen mit mir die
entsprechenden Verhandlungen geführt –, einer Kofinan-
zierung in Höhe von 50 Prozent zuzustimmen. Sie haben
uns vorhin aufgefordert, etwas zum Programm gegen is-
lamistischen Extremismus zu sagen. In diesem Bereich
ist beispielsweise nur eine Kofinanzierung von 15 Pro-
zent nötig, während es bei den Programmen gegen
Rechtsextremismus 50 Prozent sind.


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr seltsam!)

jekt durch: no-nazi.net. Wir alle wissen: Junge Men-
schen und leider auch die Rattenfänger der Rechtsextre-
misten sind viel im Netz unterwegs. Dieses Projekt
kostet 150 000 Euro. 75 000 Euro kommen vom Bund.
Weitere Mittel für dieses Projekt stammen aus privaten
Spenden, aus Spenden von Firmen. Aber es fehlen im-
mer noch 20 000 Euro für die Kofinanzierung. Hier stellt
sich wieder die Frage: Warum sind 50 Prozent Kofinan-
zierung festgeschrieben? Warum gibt es hier nicht mehr
Flexibilität? Solche Projekte sind wichtig. Ich glaube,
dass keiner in diesem Hohen Hause etwas gegen diese
Projekte hat.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und der Abg. Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Ich habe mit Absicht nicht davon gesprochen, wie
schlimm es ist, im Bereich des Extremismus links und
rechts voneinander zu trennen. Ich bitte darum, dass wir
uns die Projekte anschauen und die aktive Zivilgesell-
schaft vor Ort dazu einladen, gemeinsam mit uns diese
Programme zu durchforsten, um herauszufinden: Wo
sind sie zu bürokratisch? Wo sind sie zu starr? Wir müs-
sen die Demokratiearbeiter vor Ort – so nenne ich sie
einmal – unterstützen und dürfen ihnen nicht noch mehr
Bürokratie aufbürden. Wir müssen versuchen, zu ge-
währleisten, dass ihre Arbeit dauerhaft finanziert wird.
Daran sollten wir alle in diesem Hause gemeinsam arbei-
ten.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1713022800

Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile, gebe

ich Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftfüh-
rern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstim-
mung über den Antrag zur Fortsetzung der Beteiligung
bewaffneter deutscher Streitkräfte an der von den Ver-
einten Nationen geführten Friedensmission in Südsudan
bekannt: abgegebene Stimmen 521. Mit Ja haben ge-
stimmt 462, mit Nein haben gestimmt 58, eine Enthal-
tung. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)

Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 521;
davon

ja: 462
nein: 58
enthalten: 1

Ja

CDU/CSU

Ilse Aigner
Peter Aumer
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck


(Reutlingen)

Manfred Behrens (Börde)

Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Wolfgang Börnsen


(Bönstrup)

Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer (Göttingen)

Dirk Fischer (Hamburg)

Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Dr. Hans-Peter Friedrich


(Hof)

Michael Frieser
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Olav Gutting
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung (Konstanz)

Dr. Egon Jüttner
Hans-Werner Kammer
Bernhard Kaster

(Villingen Schwenningen)

Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers


(Heidelberg)

Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Paul Lehrieder
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Stephan Mayer (Altötting)

Dr. Michael Meister
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller (Erlangen)

Dr. Philipp Murmann
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht (Weiden)

Anita Schäfer (Saalstadt)

Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Christian Schmidt (Fürth)

Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön (St. Wendel)

Dr. Ole Schröder
Uwe Schummer

(Weil am Rhein)

Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl (Heilbronn)

Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel (Kleinsaara)

Andrea Astrid Voßhoff
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg (Hamburg)

Peter Weiß (Emmendingen)

Sabine Weiss (Wesel I)

Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Elisabeth Winkelmeier-

Becker
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew

SPD

Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Bärbel Bas
Dirk Becker
Lothar Binding (Heidelberg)

Gerd Bollmann
Willi Brase
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Martin Burkert
Petra Crone
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Sebastian Edathy
Ingo Egloff
Siegmund Ehrmann
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Angelika Graf (Rosenheim)

Kerstin Griese
Michael Groschek
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Michael Hartmann


(Wackernheim)

Hubertus Heil (Peine)

Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Frank Hofmann (Volkach)

Christel Humme
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Dr. h. c. Susanne Kastner





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)

Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe (Leipzig)

Fritz Rudolf Körper
Anette Kramme
Nicolette Kressl
Angelika Krüger-Leißner
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange (Backnang)

Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Dietmar Nietan
Manfred Nink
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Aydan Özoğuz
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth (Esslingen)

Michael Roth (Heringen)

Marlene Rupprecht


(Tuchenbach)

Anton Schaaf
Axel Schäfer (Bochum)

Bernd Scheelen
Marianne Schieder


(Schwandorf)

Werner Schieder (Weiden)

Ulla Schmidt (Aachen)

Silvia Schmidt (Eisleben)

Ottmar Schreiner
Swen Schulz (Spandau)

Frank Schwabe
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Dr. Marlies Volkmer
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Uta Zapf
Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries

FDP

Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Christine Aschenberg-

Dugnus
Daniel Bahr (Münster)

Florian Bernschneider
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Klaus Breil
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Sylvia Canel
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Dr. Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Paul K. Friedhoff
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Miriam Gruß
Joachim Günther (Plauen)

Dr. Christel Happach-Kasan
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Heiner Kamp
Michael Kauch
Dr. Lutz Knopek
Pascal Kober
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth (Kyffhäuser)

Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Sabine Leutheusser-

Schnarrenberger
Lars Lindemann
Christian Lindner
Dr. Martin Lindner (Berlin)

Michael Link (Heilbronn)

Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Patrick Meinhardt
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Petra Müller (Aachen)

Burkhardt Müller-Sönksen
Dr. Martin Neumann

(Lausitz)


Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto


(Frankfurt)

Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Dr. Christiane Ratjen-

Damerau
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Dr. Stefan Ruppert
Björn Sänger
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Marina Schuster
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Judith Skudelny
Dr. Hermann Otto Solms
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Torsten Staffeldt
Serkan Tören
Johannes Vogel


(Lüdenscheid)

Dr. Daniel Volk
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)


BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Marieluise Beck (Bremen)

Volker Beck (Köln)

Cornelia Behm
Birgitt Bender
Viola von Cramon-Taubadel
Harald Ebner
Hans-Josef Fell
Dr. Thomas Gambke
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Dr. Anton Hofreiter
Ingrid Hönlinger
Thilo Hoppe
Katja Keul
Memet Kilic
Maria Klein-Schmeink
Ute Koczy
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Fritz Kuhn
Stephan Kühn
Renate Künast
Markus Kurth
Undine Kurth (Quedlinburg)

Monika Lazar
Nicole Maisch
Agnes Malczak
Jerzy Montag
Kerstin Müller (Köln)

Beate Müller-Gemmeke
Ingrid Nestle
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth (Augsburg)

Krista Sager
Manuel Sarrazin
Dr. Gerhard Schick
Till Seiler
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang Strengmann-

Kuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Daniela Wagner
Wolfgang Wieland
Dr. Valerie Wilms
Josef Philip Winkler

Nein

DIE LINKE

Jan van Aken
Herbert Behrens
Karin Binder
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Sevim Dağdelen
Dr. Diether Dehm
Heidrun Dittrich
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Klaus Ernst
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Diana Golze
Annette Groth
Dr. Gregor Gysi
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Inge Höger
Dr. Barbara Höll
Andrej Hunko
Katja Kipping
Harald Koch
Jutta Krellmann
Katrin Kunert
Caren Lay
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Stefan Liebich
Ulla Lötzer
Thomas Lutze
Ulrich Maurer
Cornelia Möhring
Kornelia Möller
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Petra Pau
Jens Petermann
Richard Pitterle
Yvonne Ploetz





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)


richt des Brandenburger Verfassungsschutzes –: Hassprediger wie Pierre Vogel demonstrieren, fordern Sie
Wir haben Hass auf die P
Hass auf eure Fressen,
ihr tragt/Hass auf die Art
Du würdest niemals gl
noch hab … Wir ham
Hass, Hass, Hass.
olizei / Hass auf den Staat /
Hass / Auf die Waffen, die
, wie ihr Massen verarscht /

auben / Wie viel Hass ich
euch etwas mitgebracht /
in Ihrem Antrag – ich zitiere
Förderprogramme spezifisch
Rechtsextremismus auszuric
der verfügbaren Mittel auf a
vorzunehmen“.


(Sönke Rix [SPD]: Z Ihre Forderung 7 –, „diese auf den Kampf gegen hten und keine Verteilung ndere Extremismusformen usätzliche Mittel!)

Ingrid Remmers
Paul Schäfer (Köln)

Michael Schlecht
Dr. Ilja Seifert
Raju Sharma
Dr. Petra Sitte

Kersten Steinke
Sabine Stüber
Dr. Kirsten Tackmann
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler

Jetzt hat der Kollege Florian Bernschneider für die
FDP das Wort.


(Beifall bei der FDP)



Florian Bernschneider (FDP):
Rede ID: ID1713022900

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Herr Kollege Rix, vielen Dank für die sachliche
Rede. Ich hätte mir gewünscht, der SPD-Antrag und die
bisherigen Debatten hätten ebenso sachlich ausgesehen.


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Den müssen Sie noch mal lesen!)


Das konnte ich aber leider nicht feststellen.

Lassen Sie mich in dieser Diskussion eingangs eines
sagen: An unserem Antrag kann man feststellen, dass
diese christlich-liberale Koalition die Gefahren, die vom
Rechtsextremismus auf unsere Demokratie und unsere
Gesellschaft ausgehen, ernst nimmt. Deswegen bitte ich
Sie – ich habe die Pressemitteilungen der Kollegen gele-
sen –: Hören Sie mit Ihrem ständigen Kürzungsmärchen
auf! Es wird nicht richtiger, wenn man Falsches wieder-
holt.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es ist mir, ehrlich gesagt, wurscht, ob Sie es verste-
hen, dass man an Verwaltungskosten sparen kann, ohne
dass Projekte darunter leiden. Fakt ist: Diese schwarz-
gelbe Koalition investiert mehr in die Arbeit gegen
Rechtsextremismus und für Demokratie und Vielfalt als
jede andere Koalition zuvor. Wir geben mehr als doppelt
so viel für diesen Bereich aus wie Rot-Grün und auch
mehr als Schwarz-Rot. Aber klar ist auch: Wenn es um
die Verteilung der Präventionsmittel geht, dann darf man
sie in einer wehrhaften Demokratie nicht allein an der
Zahl der Straftaten ausrichten. Denn wenn es zu einer
Straftat kommt, dann ist es für Prävention zu spät. Wir
müssen uns ein sensibles Frühwarnsystem zulegen, um
rechtzeitig auf die Gefahren für unsere Demokratie prä-
ventiv zu reagieren.

Im Sinne eines solchen Frühwarnsystems möchte ich
Ihnen einmal den Text eines Liedes vortragen, das Sie
sich auf YouTube anhören können. Im Song „Hass“ von
Holger Burner heißt es – ich zitiere direkt aus einem Be-
Johanna Voß
Sahra Wagenknecht
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg

Enthalten

SPD

Petra Hinz (Essen)


Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich weiß
nicht, wie Sie sich fühlen, wenn Sie so etwas hören.
Mein persönliches Frühwarnsystem für unsere Demo-
kratie schlägt da Alarm. Ich weiß als jugendpolitischer
Sprecher meiner Fraktion sehr wohl, dass man Raptexte
nicht immer auf die Goldwaage legen sollte. Aber eines
muss man von demokratischen Kräften schon erwarten
können, nämlich dass sie sich von solchen Texten deut-
lich distanzieren.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion dis-
tanzieren sich aber nicht von diesem Text. Ganz im Ge-
genteil: Sie stellen den Verfasser dieses Textes sogar als
Kandidaten zur Bürgerschaftswahl in Hamburg auf. Ich
erspare es Ihnen und uns an dieser Stelle, die hochpein-
lichen Erklärungsversuche der Genossen aus Hamburg
wiederzugeben. Sie disqualifizieren sich damit in sol-
chen Diskussionen automatisch. Deswegen kann man
Sie an dieser Stelle nicht ernst nehmen.


(Beifall bei der FDP)


Dass Sie dabei hier im Plenum immer wieder Unterstüt-
zung von Rot-Grün bekommen, ist schockierend. Erklä-
ren Sie doch einmal den Leuten auf der Straße – eine
einfache Frage –, warum wir so viel Engagement zeigen
sollen, rechtsextreme Schulhof-CDs zu verhindern, aber
vor genau solchen Texten, die im Internet kursieren, die
Augen verschließen. Das versteht niemand.


(Beifall bei der FDP – Sönke Rix [SPD]: Wer will denn da die Augen verschließen?)


Deswegen ist es richtig, dass wir mit unserem Antrag
zum Beispiel die Prävention im Internet vorantreiben
wollen.

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von den Grü-
nen, Sie haben sich mit Ihrem Antrag verrannt, verrannt
in eine Ideologie, bei der es nur um Mittel gegen Rechts-
extremismus geht. Damit verschließen Sie aber die Au-
gen leider nicht nur vor dem Linksextremismus, sondern
auch vor anderen Gefahren. Sie kommen damit automa-
tisch in eine absurde Situation; denn während Ihre eige-
nen Kollegen im Hessischen Landtag hartnäckig ein
Präventionskonzept gegen islamistischen Extremismus
einfordern, während Grüne in Frankfurt zu Recht gegen





Florian Bernschneider


(A) (C)



(D)(B)

Meine Damen und Herren, das ist einfach absurd. Das
versteht niemand. Der Wahlkampf – das will ich an die-
ser Stelle einmal sagen, auch weil dieser vielleicht die
Debatten in letzter Zeit aufgeheizt hat – ist vorbei. Des-
wegen ist es jetzt an der Zeit, dass Sie sich einem breiten
Präventionskonzept öffnen, bei dem wir einen deutlichen
Fokus auf die Arbeit gegen Rechtsextremismus legen,
aber eben die Augen nicht vor anderen Gefahren ver-
schließen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Warum haben Sie nicht dazu geredet?)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1713023000

Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin Petra

Pau das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1713023100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wenige Zahlen vorweg: Im statistischen Schnitt werden
bundesweit stündlich zweieinhalb Straftaten registriert,
die rechtsextremistisch motiviert sind. Tag für Tag wer-
den nach derselben Statistik zweieinhalb rechtsextreme
Gewalttaten erfasst. Wir wissen, diese Zahlen stapeln
tief. Nach langjährigen Erfahrungen liegen die realen
Zahlen rechtsextremer Ausfälle um circa 50 Prozent hö-
her. Entsprechend groß ist die Zahl der Opfer.

Unabhängige Beobachter weisen aus und auch nach,
dass im vereinten Deutschland seit 1990 137 Menschen
durch rechtsextreme Gewalt zu Tode kamen. Das heißt,
Rechtsextremismus ist hierzulande wieder eine Gefahr
für Leib und Leben. Das ist ein anhaltender Befund.
Folglich war es naheliegend, zivilgesellschaftliche Ini-
tiativen zu unterstützen, die dem vorbeugen und sich zur
Wehr setzen. Das geschieht seit über zehn Jahren, aller-
dings oftmals halbherzig und zunehmend widerwillig.

Seitdem die Union und die FDP die Bundesregierung
bilden, erleben wir eine regelrechte Diffamierung von zi-
vilgesellschaftlichem Engagement gegen grassierenden
Rechtsextremismus. Herr Staatssekretär, mit der soge-
nannten Extremismusklausel sollen natürlich diese Ini-
tiativen für Demokratie und Toleranz Verfassungstreue
schwören. Sie haben gerade gefragt: Was ist dabei? Man
könnte ja sagen: Was ist dabei? Sie werden aber zudem
verpflichtet, ihre gesellschaftlichen Partner zu observie-
ren. Ich finde, das ist eine Unkultur des Misstrauens, und
das lehnen wir ab.


(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Auch andere Entwicklungen in diesem Bereich legen
den Schluss nahe, der zivilgesellschaftliche Kampf ge-
gen Rechtsextremismus soll verstaatlicht, entpolitisiert
und ausgetrocknet werden. Das sich abzeichnende Pro-
gramm des leider zuständigen Bundesfamilienministe-
riums zeigt das. An die Stelle engagierter Bürgerinnen
und Bürger tritt dann der Inlandsgeheimdienst – wir ha-
ben Anfragen zu diesem Thema gestellt –, wenn der Ver-
fassungsschutz jetzt in den Schulen diese Arbeit über-
nimmt. Anstelle politischer Aufklärung werden im
Freistaat Sachsen beispielsweise Schwimmevents veran-
staltet, bei denen auch die NPD gegen Extremismus mit-
spielen darf.

Anstatt sie moralisch und finanziell zu unterstützen,
sollen die Fördermittel des Bundes für zivilgesellschaft-
liche Initiativen nun gekürzt werden. Die Bundesregie-
rung stellt sich damit meiner Meinung nach tatsächlich
selbst ein Armutszeugnis aus, übrigens ein für die Ge-
sellschaft gefährliches.


(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Zum Schluss ein vierter Gedanke. Rechtsextremismus
ist mehr als die NPD. Er ist ein gesellschaftliches Phäno-
men und kann folglich auch nur durch die Gesellschaft
gebannt werden. Ein weitsichtiger Staat unterstützt das;
die aktuelle Bundesregierung tut das Gegenteil. Als Be-
leg möchte ich Ihnen die aktuellen Wahlergebnisse der
NPD ins Gedächtnis rufen: Sie konnte bei mehreren
Landtagswahlen zweistellige Ergebnisse verbuchen, und
zwar bei jungen Menschen, bei Arbeitslosen, bei prekär
Beschäftigten, bei Männern und in ländlichen Milieus.
Da offenbaren sich rechtsextreme Einstellungen, die im
Übrigen durch ein Verbot der NPD nicht verschwinden
werden.

Es wäre also gesellschaftliche und politische Weisheit
gefragt. Deshalb bedauert die Linke, dass die CDU/CSU
und die FDP derzeit dazu weder willens noch fähig sind.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1713023200

Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt die Kollegin

Monika Lazar das Wort.


Monika Lazar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1713023300

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor

wenigen Wochen zog in Mecklenburg-Vorpommern die
NPD zum zweiten Mal infolge in einen Landtag ein.
Gleiches gelang der NPD 2009 in Sachsen, wo sie auch
in allen Kreistagen vertreten ist. Bundesweit gibt es auf
kommunaler Ebene zahlreiche Mandate für Rechts-
extreme.

Als demokratische Politikerinnen und Politiker soll-
ten wir uns alle fragen: Wie kommt es, dass eine rassisti-
sche und menschenfeindliche Partei wie die NPD in un-
serem Land so viel Zuspruch erhält? Was vermissen die
Menschen, und wo müssen wir bessere demokratische
Angebote machen? An welcher Stelle gibt die demokra-
tische Politik ein schlechtes Vorbild ab? Wo lassen wir
Lücken, die die Menschenfeinde für sich nutzen?

Bei diesen Überlegungen helfen uns die zivilgesell-
schaftlichen Initiativen, die sich gegen Rechtsextremis-
mus, Rechtspopulismus und Rassismus engagieren. Sie
tragen zu einer Kultur der Toleranz und Menschen-
rechtsorientierung bei, die wir ausbauen müssen. Das
Familienministerium allerdings glaubt, Demokratie ließe





Monika Lazar


(A) (C)



(D)(B)

sich per Verwaltungsakt regeln. Zu diesem Zweck wurde
die sogenannte Extremismusklausel eingeführt.

In den letzten Monaten haben wir bereits zahlreiche
Debatten geführt: in den Ausschüssen, im Plenum und
auch anderswo. Nicht nur betroffene Initiativen, sondern
auch zahlreiche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaft-
ler, Gewerkschaften, Kirchen, der Zentralrat der Mus-
lime, der Zentralrat der Juden und viele andere Stellen
beteiligten sich daran. Die Amadeu-Antonio-Stiftung hat
sogar eine Chronik erstellt und darin die unterschiedli-
chen Proteste dokumentiert. Kritik äußerten auch einige
Bundesländer. Das Land Berlin brachte einen Antrag in
den Bundesrat ein. Der federführende Ausschuss für
Frauen und Jugend votierte für Zustimmung. Es kam al-
lerdings keine Beschlussfassung zustande, weil der Aus-
schuss für Innere Angelegenheiten nicht zustimmte.

Zwei juristische Gutachten kamen zu dem Ergebnis,
dass die Extremismusklausel nicht verfassungskonform
ist. Alle Oppositionsfraktionen dieses Hauses stellten
sich mit parlamentarischen Anträgen gegen diese Klau-
sel. Ich finde es demokratiepolitisch wirklich fragwür-
dig, dass die Bundesregierung all diese Appelle und Re-
aktionen schlicht ignoriert, sich auf ihre Machtposition
zurückzieht und das Problem aussitzt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Es gebe ja kein Problem, die überwiegende Anzahl der
Initiativen würde ja unterzeichnen, was Herr Kues vor-
hin wieder bestätigt hat. Natürlich tun das die meisten,
da sonst ihre Projekte gestoppt würden oder sogar ihre
Existenz auf dem Spiel stünde. Es gibt allerdings Träger,
die wegen der Klausel gar keine Anträge mehr stellen
und somit in der Statistik natürlich nicht auftauchen.
Dazu gehören in meiner Heimatstadt Leipzig die beiden
soziokulturellen Zentren „VILLA“ und „Conne Island“.
Das Netzwerk für Demokratie und Courage etwa beklagt
einen Verlust von circa 10 Prozent der Ehrenamtlichen,
die als Teamerinnen und Teamer in Schulen Projekttage
angeboten haben. Dieser Rückzug geschieht nicht etwa
deswegen, weil sie nicht hinter den demokratischen Wer-
ten dieser Gesellschaft stehen, sondern weil sie sich,
durch diese Klausel verunsichert, enttäuscht zurückge-
zogen haben. Wer sich gegen Rechtsextremismus enga-
giert, stärkt unsere Demokratie; wir brauchen mehr und
nicht weniger davon.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Petra Pau [DIE LINKE])


Vor einer Woche führte selbst der Papst in seiner Rede
im Bundestag aus, dass die offizielle Staatsmeinung, die
sich gegen bestimmte Gruppen richtet, falsch sein kann.
Als Beispiel nannte er die Widerstandskämpfer, die ge-
gen das Naziregime handelten „und so dem Recht und
der Menschheit als Ganzem einen Dienst erwiesen“ ha-
ben. Mit einem Zitat von Origines propagierte der Papst
eine Haltung, die in Bezug auf zivilgesellschaftliche
Bündnisse noch immer Aktualität besitzt: Es sei mitunter
sehr vernünftig, „auch entgegen der … bestehenden
Ordnung Vereinigungen“ zu bilden. Nun frage ich die
Kolleginnen und Kollegen der Koalition: Steht der Papst
damit noch auf dem Boden des Grundgesetzes, oder
müsste er als Partner der Zivilgesellschaft ausfallen?

Die Anträge der Oppositionsfraktionen fordern eine
Umsteuerung bei der Bundesförderung von Projekten
gegen Rechtsextremismus. Die Bundesregierung muss
endlich anerkennen, dass eine starke Zivilgesellschaft
eine verlässliche Förderung braucht. Die Kürzung von
2 Millionen Euro sind Fakt. Wir haben nichts dagegen,
wenn in der Verwaltung etwas eingespart wird; aber
dann kann man die 2 Millionen Euro an die Projekte ge-
ben,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN – Patrick Döring [FDP]: Was ist denn mit der Schuldenbremse?)


zum Beispiel an die Opferberatung, die immer noch sehr
stark unterfinanziert ist.

Es geht aber auch um eine klare inhaltliche Ausrich-
tung; ich habe das mehrfach wiederholt. Der „Extremis-
mus-Einheitsbrei“ taugt nicht für eine zielgerichtete För-
derpraxis. Wir fordern daher ein Programm, das sich
gegen Rechtsextremismus und andere Formen gruppen-
bezogener Menschenfeindlichkeit wie Rassismus, Anti-
semitismus, aber auch Sexismus und Homophobie rich-
tet.


(Dr. Stefan Ruppert [FDP]: Und Linksextremismus!)


Dabei gehört auch die sogenannte Mitte der Gesellschaft
in den Fokus.

Auch wenn Sie unsere Anträge heute wieder ablehnen
werden: Wir werden an dieser Thematik dranbleiben.
Vielleicht setzt bei Ihnen endlich einmal ein Erkenntnis-
gewinn ein.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie der Abg. Petra Pau [DIE LINKE])



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1713023400

Für die CDU/CSU hat jetzt die Kollegin Dorothee

Bär das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dorothee Mantel (CSU):
Rede ID: ID1713023500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Kollegin
Lazar, ich stelle fest, dass sich der Besuch von Papst
Benedikt schon deshalb gelohnt hat, weil sich die Grü-
nen jetzt in ihren Reden dauernd auf den Papst beziehen.
Es ist sehr gut, dass auch in die anderen Fraktionen et-
was Weisheit übergeschwappt ist.


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich hoffe, zu Ihnen auch! – Sönke Rix [SPD]: Auf die Regierung kann man sich ja bei diesen Reden nicht beziehen!)






Dorothee Bär


(A) (C)



(D)(B)

Ich möchte gleich mit einem der Vorwürfe anfangen,
mit denen Sie uns gerade konfrontiert haben. Ihr Vor-
wurf betraf die Kürzung um 2 Millionen Euro. Ich bin
dankbar, dass Sie einsehen, dass sich die Kürzung allein
auf Verwaltungskosten bezieht. Wir alle haben doch die
Schuldenbremse gewollt, zumindest der Teil des Hauses,
der sagt, dass wir nicht auf Kosten zukünftiger Genera-
tionen leben wollen. Da müssen wir, auch wenn es bitter
ist, in jedem Bereich Einsparungen erbringen. Das geht
hier nicht zulasten der Projekte; es handelt sich nur um
Einsparungen bei den Verwaltungskosten. Jeder von uns
sollte froh sein, wenn wir die Entbürokratisierung auch
an dieser Stelle vorantreiben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP] – SvenChristian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann können wir bei der Bundeswehr Milliarden einsparen!)


– Heute geht es aber um die Bekämpfung von Extremis-
mus jeglicher Art.

Eigentlich muss man annehmen, dass Toleranz gegen-
über Andersdenkenden, ein respektvolles und gewalt-
freies Miteinander in der Demokratie selbstverständlich
sind. Wenn wir uns aber die aktuellen Zahlen und den
bundesweiten Verfassungsschutzbericht anschauen, müs-
sen wir erkennen, dass das leider Gottes nicht überall so
ist. Das fängt schon mit Kleinigkeiten an: mit der Baga-
tellisierung rassistischer Sprüche, diffusen Ressenti-
ments gegenüber Fremden, Neid und Missgunst gegen-
über anderen. Das geht weiter mit Gewalt, nicht nur
gegen Sachen, sondern insbesondere auch gegen Men-
schen. Deswegen brauchen wir – das ist völlig richtig –
bei der Bekämpfung dieser Phänomene ein ganz ent-
schiedenes Auftreten. Aber das macht die christlich-libe-
rale Koalition: Wir haben im Koalitionsvertrag bekräf-
tigt, dass wir Kinder und Jugendliche und alle anderen
Akteure vor Ort mit einem umfassenden Programm bei
ihrem Engagement, das in unserem Land sehr vielfältig
ist, für Vielfalt, Toleranz und Demokratie und gegen jeg-
liche Form des Extremismus unterstützen.

Es unterscheidet uns leider von den anderen, dass nur
wir sagen: Wir wollen jede Form des Extremismus be-
kämpfen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Stefan Ruppert [FDP])


Die ganzen Reden von der linken Seite des Hauses sind
mir einfach ein bisschen zu einseitig. Wir haben unsere
Programme darauf ausgerichtet; denn es ist wichtig, zu
sagen, dass man nicht zwischen gutem und schlechtem
Extremismus unterscheiden kann. Es ist nicht so, dass
Rechtsextremismus ganz furchtbar und Linksextremis-
mus ein Kavaliersdelikt ist.


(Sönke Rix [SPD]: Da gibt es einen Unterschied!)


Das ist er nicht. Linksextremismus muss ebenso be-
kämpft werden. Kinder und Jugendliche müssen frühzei-
tig erfahren, dass demokratische Grundwerte unverzicht-
bar sind.

(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist mit dem Extremismus in der Mitte unserer Gesellschaft?)


Wir wollen mit unserem Programm vorbeugen. Wir
wollen, dass sich extremistische Einstellungen bei jun-
gen Menschen gar nicht erst auswirken können.


(Sönke Rix [SPD]: Wir haben hier über Rassismus gesprochen!)


Deswegen wollen wir, dass Jugendliche, Eltern, Erzieher
und Erzieherinnen dafür sensibilisiert werden. Wir wol-
len, dass die Gefahren frühzeitig erkannt werden. Des-
wegen ist neben dem Schutz und der Prävention bei Kin-
dern ein gesamtgesellschaftliches Engagement unersetz-
lich.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Wir wollen die demokratische Grundordnung, die von
beiden Seiten, von links und von rechts, bekämpft wird,
ändern. Das sind die typischen Beißreflexe von Ihnen.


(Sönke Rix [SPD]: Was wollen Sie konkret verbessern?)


Die Neuausrichtung ist, anders als von der Opposition
behauptet, keine Relativierung des Rechtsextremismus
und auch keine undifferenzierte Gleichsetzung von
Links- und von Rechtsextremismus.


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihre Initiativen sagen das aber ganz klar!)


Heute war in der Zeitung zu lesen, was die TU Dres-
den plant. Der Studentenrat bietet Seminare an, in denen
man lernt, wie man Polizisten bei Demonstrationen ge-
zielt angreifen kann, und das alles unter dem Deckman-
tel: Wir wollen damit die Nazis bekämpfen.


(Sönke Rix [SPD]: Dagegen helfen jetzt Ihre Programme?)


Es wird toleriert und für in Ordnung befunden, wenn
sich Studenten zusammenschließen.


(Sönke Rix [SPD]: Also, wir finden das nicht in Ordnung! Sie etwa?)


Man muss überlegen: Wie geht man damit um, wenn in
unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung Stu-
denten beigebracht bekommen, so mit Polizisten umzu-
gehen?

Man muss Zivilcourage aufbringen, und zwar nicht
nur bei Tendenzen zu rechtsextremistischen Straftaten.
Allein für Juli 2011 stellt das Bundeskriminalamt bun-
desweit fast doppelt so viele Gewalttaten von linksextre-
mistischer wie von rechtsextremistischer Seite fest. Die
Zahl der durch Linksextremisten verletzten Opfer ist so-
gar um das Dreifache höher. Deswegen wollen wir diese
andere Form des Extremismus bekämpfen.

Ich verstehe nicht – ich muss auf die Aussagen des
Staatssekretärs zurückkommen, der meines Erachtens in
hervorragender Weise versucht hat, es denjenigen zu er-
klären, die es immer noch nicht begreifen wollen –, wa-





Dorothee Bär


(A) (C)



(D)(B)

rum Sie nicht wollen, dass sich Kooperationspartner, de-
ren Maßnahmen finanziell unterstützt werden, zum
Grundgesetz unserer Bundesrepublik bekennen müssen.
Ich verstehe die Problematik nicht.


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es geht um das Misstrauen und das Ausspitzeln!)


– Es ist eine ganz perfide Art und Weise, zu behaupten,
da wird jemand ausgespitzelt, wir brauchen mehr Ver-
trauen.


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir brauchen Vertrauen und kein Misstrauen!)


Dass jemand Fördergelder der Bundesrepublik Deutsch-
land bekommt – das sind Ihre Steuergelder –, obwohl er
nicht auf unserer demokratischen Grundordnung steht,
ist mit uns nicht zu machen. Deswegen: Unterstützen Sie
es!


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Sönke Rix [SPD]: Was ist mit dem Bund der Vertriebenen? Muss der Bund der Vertriebenen das unterschreiben? Hauptsache, wir können schwarz-weiß denken!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1713023600

Das Wort hat die Kollegin Daniela Kolbe für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Daniela Kolbe (SPD):
Rede ID: ID1713023700

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Liebe Menschen auf den Tribünen! Auch der
Bund der Vertriebenen bekommt Steuergelder von Ih-
nen, muss allerdings eine solche Erklärung nicht unter-
zeichnen.

Ich will mich in meinem Redebeitrag auf etwas ande-
res konzentrieren, und zwar auf den Beitrag, den die
politische Bildung für den Erhalt und die Stärkung unse-
rer Demokratie leisten kann. Das ist ein Konsensthema;
denn alle Fraktionen im Deutschen Bundestag finden
politische Bildung wichtig, auch die FDP.

Der Kreisvorsitzende der Frankfurter FPD, Dirk Pfeil
heißt der Mann, hat eine etwas krude Ansicht zum
Thema politische Bildung. Er hat nach der Berlinwahl
Folgendes zu Protokoll gegeben:

Es ist schlimm, dass die Mehrheit der Bevölkerung
keine politische Bildung genossen hat. Die Masse
ist meinungslos, sprachlos.

Es fährt fort mit:

Ich verzweifle am mangelnden Willen der Wähler,
sich ein bisschen schlauer zu machen.

Ehrlich gesagt, glaube ich nicht, dass die beklagenswer-
ten Ergebnisse der FDP auf einen Mangel an politischer
Bildung zurückzuführen sind,

(Caren Marks [SPD]: Sie sind schlauer geworden! 1,8 Prozent für die FDP!)


eher im Gegenteil.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1713023800

Frau Kollegin Kolbe, erlauben Sie eine Zwischen-

frage des Kollegen Kurth?


Daniela Kolbe (SPD):
Rede ID: ID1713023900

Unbedingt.


Patrick Kurth (FDP):
Rede ID: ID1713024000

Frau Kollegin, herzlichen Dank. – Sie haben ein Zei-

tungsinterview erwähnt. Sind Sie bereit, sich über das
historisch politische Wissen in diesem Haus auszutau-
schen? Denn Ihre Fraktion hat sich heute erlaubt, eine
mit Steuergeldern finanzierte Anzeigenkampagne zu
schalten,


(Caren Marks [SPD]: Mit Steuergeldern?)


in der das Walter-Ulbricht-Zitat – das schändliche Mau-
erzitat: „Niemand hat die Absicht …“ – mit der Kanzle-
rin Frau Merkel in Zusammenhang gebracht wird. Sind
Sie mit mir der Auffassung, dass das eine schändliche
Anzeige der SPD-Fraktion ist,


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das ist eine super Anzeige! Die sagen die Wahrheit!)


die auf Kosten der Steuerzahler erstellt wurde und in der
ein Zusammenhang zwischen dem Ulbricht-Zitat,
Mauer, Toten und Stacheldraht und der Bundeskanzlerin,
die eine ostdeutsche Biografie hat, hergestellt wird?


(Dorothee Bär [CDU/CSU]: Das ist skandalös! Die SPD hat keinen Anstand! – Sönke Rix [SPD]: Die hat ja offensichtlich schon Wirkung gezeigt!)


– Die Bemerkungen der Kollegen von der SPD-Fraktion
zeigen, dass das Thema Aufarbeitung hier im Deutschen
Bundestag noch eine ganz große Rolle spielen muss.


(Dorothee Bär [CDU/CSU]: Unter der Gürtellinie!)



Daniela Kolbe (SPD):
Rede ID: ID1713024100

Herr Kollege, man kann sich über das Layout und den

Inhalt durchaus streiten. Ich glaube aber, dass die SPD-
Fraktion damit einen Beitrag zur politischen Bildung der
Bevölkerung geleistet hat.


(Beifall bei der SPD – Lachen bei der CDU/ CSU – Patrick Döring [FDP]: Das ist unfassbar!)


Durch diese Anzeige wurde in Erinnerung gerufen, wie
die Menschen in diesem Land gerade regiert werden.


(Sönke Rix [SPD]: Ins Schwarze getroffen! – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Ins Gelbe offensichtlich auch!)


Ich finde, mit den Stichworten, die dort genannt werden,
wird die Regierungswirklichkeit gut beschrieben.






(A) (C)



(D)(B)


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1713024200

Frau Kolbe, gestatten Sie auch eine Zwischenfrage

der Frau Bär?


Daniela Kolbe (SPD):
Rede ID: ID1713024300

Ja.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1713024400

Bitte schön, Frau Bär.


Dorothee Mantel (CSU):
Rede ID: ID1713024500

Habe ich Sie jetzt richtig verstanden? Haben Sie ge-

sagt, dass die SPD einen Beitrag zur politischen Bildung
leistet, indem sie die Bundeskanzlerin in einen Kontext
mit Stacheldraht und Erschießungen setzt?


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das machen Sie doch gerade!)


– Weil Sie keine Ahnung von der Geschichte haben. Le-
sen Sie sich das doch einmal durch! Geschichtsverges-
sen!


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Sie sind doch diejenige, die die Leute auf die falsche Fährte bringt!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1713024600

Entschuldigung, Herr Lange, Frau Kolbe hat das

Recht, zu antworten, nicht Sie.


Daniela Kolbe (SPD):
Rede ID: ID1713024700

Sicherlich wollte die SPD-Bundestagsfraktion die

Bundeskanzlerin nicht in den Zusammenhang stellen,
den Sie hier gerade angedeutet haben. Wir wollten noch
einmal darauf hinweisen, mit welcher „Gradlinigkeit“
– ich sage das in Anführungsstrichen – wir derzeit von
Schwarz-Gelb regiert werden. Ich glaube, das ist ganz
gut und eindrücklich gelungen.


(Beifall bei der SPD – Dorothee Bär [CDU/ CSU]: Dann hoffe ich, Sie schämen sich wenigstens! – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Setzen! Durchgefallen!)


Ich fahre fort. Auch wenn Dirk Pfeil nicht jedermanns
Ton trifft – meinen jedenfalls nicht –, freue ich mich da-
rüber, dass eigentlich das ganze Haus den Wert der poli-
tischen Bildung anerkennt; denn die politische Bildung
ist in der Tat – jetzt kommen wir zu einem ernsteren
Thema – so etwas wie ein Schutzfilm für die durchaus
dünne Lackschicht unserer Demokratie. Wie dünn diese
ist, können wir nicht nur in Mecklenburg-Vorpommern
sehen, wo die NPD ein zweites Mal in den Landtag ein-
gezogen ist. Das können wir nicht nur bei rechtsextre-
mistischen Straftaten sehen – in Leipzig ist im Herbst
des vergangenen Jahres ein junger irakischer Mann ei-
nem rassistisch motivierten Mord zum Opfer gefallen –,
sondern auch an einem ganz anderen Punkt, der mir per-
sönlich ebenso wie vielen anderen große Sorgen bereitet:
Es geht darum, wie weit Elemente eines extrem rechten
Denkens schon in die Mitte der Gesellschaft vorgedrun-
gen sind. Ich führe ein paar Zahlen aus den „Mitte“-Stu-
dien der Friedrich-Ebert-Stiftung an, die ich sehr emp-
fehlen kann.


(Patrick Döring [FDP]: Neutrales Institut!)


– Das ist sicher ein neutrales Institut, und die Umfragen
genügen sicherlich jederzeit wissenschaftlichen Ansprü-
chen. – Laut diesen Studien stimmt jeder elfte Befragte
antisemitistischen Äußerungen zu, jeder fünfte Befragte
national-chauvinistischen Äußerungen und sogar jeder
vierte Befragte ausländerfeindlichen Aussagen. Laut
diesen Studien sind wir damit konfrontiert, dass mehr als
10 Prozent der Bevölkerung in den neuen Ländern ein
geschlossen rechtsextremes Weltbild haben. Das ist eine
Sache, mit der wir uns auseinandersetzen sollten.

Ehrlich gesagt, im Grunde sind wir uns einig, was zu
tun ist: Wir brauchen mehr politische Bildung. Wir müs-
sen die Schülerinnen und Schüler ansprechen, die Lehre-
rinnen und Lehrer, und wir müssen an die Vereine heran-
treten. Diese rhetorische Einigkeit finde ich sehr gut.
Lassen Sie uns aber einmal schauen, wie es mit dem
Handeln aussieht. Was braucht man für gute, nachhaltige
politische Bildung, die einen wirklichen Beitrag zur
Stärkung unserer Demokratie leistet? Ich komme beruf-
lich aus dem Bereich der politischen Bildung. Ich weiß,
dass es mindestens drei Dinge braucht. Man braucht eine
langfristige Finanzierung, Vertrauen, und man braucht
Qualitätssicherung und einen strukturellen Überbau.
Wenn ich mir vor diesem Hintergrund Ihre Bilanz an-
schaue, muss ich sagen: Das sieht eher mau aus.

Zum Punkt Langfristigkeit: Sie weigern sich, das Pro-
blem der kurzfristigen Finanzierung in Ihren Program-
men anzugehen. Es herrscht eine Krankheit beim Kampf
für mehr Demokratie, die ich als Projektionitis beschrei-
ben würde. Die Träger müssen sich von Antrag zu An-
trag hangeln und haben eigentlich nie wirklich Zeit und
langfristige Sicherheit, um sich mit ihrem Thema zu be-
fassen. Es gäbe kreative und grundgesetzkonforme Lö-
sungen, aber diese lehnen Sie ab.

Punkt Vertrauen. Wer Lust auf Demokratie wecken
soll, zum Beispiel in Schulen bei Lehrern, muss das Ge-
fühl haben, dass die Arbeit gewollt ist, dass sie aner-
kannt wird und dass der Geldgeber Vertrauen in die je-
weilige Institution hat. Was machen Sie? Sie machen
eine Extremismusklausel speziell für Demokratieinitiati-
ven und setzen sie damit – das spüren diese Initiativen –
einem allgemeinen Verdacht aus. Sie richten hier massiv
Schaden an; Frau Lazar hat einige konkrete Beispiele ge-
nannt.

Stichwort „Qualitätssicherung und organisatorischer
Überbau“. Es gibt in Deutschland eine Institution, die ei-
nen Blick von außen, einen Überblick ganz wunderbar
hinbekommt und wirklich Qualitätssicherung betreibt.
Das ist die Bundeszentrale für politische Bildung. Das
wissen Sie selber. Das machen Sie auch in Ihrem Han-
deln deutlich; denn Sie haben das große Programm „Zu-
sammenhalt durch Teilhabe“ der Bundeszentrale überge-
ben.


(Patrick Döring [FDP]: Mir kommen die fünf Minuten Redezeit sehr lang vor!)






Daniela Kolbe (Leipzig)



(A) (C)



(D)(B)

Gleichzeitig finden unglaubliche Kürzungen der Mittel
für die Bundeszentrale statt: dieses Jahr mehr als 1 Mil-
lion Euro und nächstes Jahr 3,5 Millionen Euro. Das ist
der Stand von vor der Wiedervereinigung.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1713024800

Kommen Sie bitte zum Schluss, Frau Kolbe.


Daniela Kolbe (SPD):
Rede ID: ID1713024900

Diese Kürzungen sind peinlich, und damit schädigen

Sie die Demokratiearbeit in Deutschland nachhaltig.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abgeordneten Petra Pau [DIE LINKE])



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1713025000

Für die FDP-Fraktion spricht jetzt der Kollege

Dr. Stefan Ruppert.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Stefan Ruppert (FDP):
Rede ID: ID1713025100

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Ich muss zunächst zu der vorangegangenen Diskus-
sion sagen, dass es mich persönlich sehr gefreut hat, wie
viele Kollegen der Sozialdemokratie, aber auch von
Grünen und Linken heute Ihre Anzeige in der Welt als
geschmacklos empfunden haben und in persönlichen
Gesprächen dokumentiert haben, dass das nicht der Stil
ist, wie wir uns hier auseinandersetzen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Wir waren sehr zufrieden mit der Anzeige!)


– Sie gehören anscheinend zu den Befürwortern, aber
ich kann Ihnen versichern: Viele Ihrer Kollegen fanden
das geschmacklos und in dieser Form nicht akzeptabel.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Getroffene Hunde bellen!)


– Sie können mir gerne Fragen stellen.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Nein, ich habe keine Frage dazu! Ich stelle fest!)


Ich komme zum zweiten Punkt, den ich Ihnen sagen
möchte. Wir haben in diesen Debatten nach wie vor eine
Unschärfe beim Extremismusbegriff. Natürlich ist es ab-
surd, zu glauben, dass politischer Extremismus in seinen
unterschiedlichen Erscheinungsformen gleich behandelt
werden kann. Genauso – da würde ich Ihnen recht geben –
geht es darum, spezifische Extremismusbegriffe für
Linksextremismus, für religiös motivierten Extremis-
mus, aber auch für Rechtsextremismus zu entwickeln.
Natürlich geht es auch darum, spezifische Programme
für diese jeweils unterschiedlichen Phänomene – sie sind
alle vorhanden – zu entwickeln.

(Sönke Rix [SPD]: Das hört sich immer besser an!)


Wir sollten nicht in den Vergleich zwischen links und
rechts verfallen. Es gibt Linksextremismus, es gibt reli-
giös motivierten Extremismus, es gibt Rechtsextremis-
mus. Es kann nicht darum gehen, das eine gegen das an-
dere aufzurechnen. Vielmehr sollten wir genau hin-
schauen, welches Phänomen wie beseitigt bzw. wie ihm
begegnet werden kann.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Deswegen sollten Sie mit Ihrer Aufrechnerei aufhören
und sich an ernsthaft und wissenschaftlich geführten De-
batten


(Lachen der Abg. Monika Lazar [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


über den spezifischen Extremismusbegriff beteiligen.


(Sönke Rix [SPD]: Wenn Sie damit aufhören, alles miteinander zu vermischen!)


– Wir vermischen die Dinge nicht miteinander.


(Sönke Rix [SPD]: Aber Ihre Vorredner!)


Wir trennen sehr wohl zwischen den unterschiedlichen
Formen.

Schließlich – es ist mir besonders wichtig, dies zu sa-
gen –: Alle Programme sind gut und schön. Wenn wir es
aber nicht schaffen, in dieser Legislaturperiode und in
den Jahren, die kommen, der Mitte unserer Gesellschaft
in einer Zeit, in der viele Menschen Angst haben, in der
viele Menschen Zukunftsängste und Ungewissheiten
verspüren, eine Perspektive zu geben, die weit über die
spezifischen Angebote, die solche Präventionspro-
gramme bieten, hinausgeht, und einen umfassenden An-
satz zu entwickeln, dann werden wir in Zukunft leider
ein Erstarken der politischen Ränder erleben.

Ein letzter Satz. Natürlich ist es eine Selbstverständ-
lichkeit, dass man sich zur freiheitlich-demokratischen
Grundordnung und zum Grundgesetz bekennt. Ich
glaube, wer das in Zweifel zieht, sollte noch einmal ge-
nau darüber nachdenken, was er sagt.


(Sönke Rix [SPD]: Aber das bitte für alle!)


Richtig ist – das gestehe ich Ihnen zu –, die Frage zu
stellen: Wie weit erstreckt sich die Garantieerklärung,
die man dort abgeben soll, auf Ehrenamtliche und Mitar-
beiter? Auch ich finde, hier sollte man darauf achten,
dass man nicht unpraktikable, in der Sache nicht ge-
rechtfertigte und zu weitgehende Regelungen trifft.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Sönke Rix [SPD]: Hört! Hört!)


– Ja. Das ist etwas, worüber man durchaus auch einmal
reden kann.


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das müssen gerade Sie sagen!)


Dass man aber prinzipiell dazu in der Lage sein sollte, zu
sagen: „Wir stehen auf dem Boden der freiheitlich-





Dr. Stefan Ruppert


(A) (C)



(D)(B)

demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes“, ist
eine Selbstverständlichkeit,


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn das so selbstverständlich ist, muss man es doch auch nicht extra erwähnen!)


die es kaum wert ist, hier so ausführlich debattiert zu
werden.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Sönke Rix [SPD]: Das war eine sehr beachtenswerte Rede! Das muss man schon sagen!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1713025200

Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt

erteile ich das Wort dem Kollegen Eckhard Pols von der
CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Eckhard Pols (CDU):
Rede ID: ID1713025300

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-

ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!


(Sönke Rix [SPD]: Hoffentlich bleibt das Niveau jetzt!)


– Ja, passen Sie auf! Es geht gleich los. Es steigt heute
Abend noch.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Ich bin der letzte Redner. Da steigt das Niveau immer.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das war aber nicht nett gegenüber dem Kollegen Ruppert!)


„Linken-Propaganda schon im Kindergarten“,
„Rechtsextreme NPD zieht erneut in den Schweriner
Landtag ein“ und „Polizei verhindert einen islamisti-
schen Anschlag in Berlin“, das alles sind Schlagzeilen,
die uns vor Augen führen, dass der Extremismus in un-
serer toleranten, pluralistischen und demokratischen Ge-
sellschaft kein Randphänomen ist. Das sind Schlagzei-
len, die belegen, dass Extremismus eine ernst zu
nehmende Bedrohung für unsere freiheitlich-demokrati-
sche Grundordnung ist.

Als christlich-liberale Koalition lehnen wir jeden
politischen Extremismus ab, egal ob von links, von
rechts oder religiös motiviert; denn jede Form von Extre-
mismus stellt eine Gefahr für unsere Demokratie dar.
Unsere Aufgabe ist es, junge Menschen vor extremisti-
schem Gedankengut zu schützen und gegen totalitäre
Ideologien aus allen Richtungen immun zu machen. Der
beste Impfstoff dafür ist, dass Kinder und Jugendliche
frühzeitig für Demokratie begeistert werden, und das mit
Erfolg.

Unsere Bundesfamilienministerin hat mit der Aus-
weitung der Extremismusprogramme auf die Bereiche
Linksextremismus und Islamismus den richtigen Weg
eingeschlagen. Liebe Opposition, Herr Rix, Sie müssen
endlich erkennen, dass es in Deutschland mehr als nur
Rechtsextremismus gibt. Wir verfolgen hier einen ganz-
heitlichen Ansatz zur Prävention und Behandlung.

Für das laufende Jahr, für 2011, haben wir den Haus-
haltsansatz zur Bekämpfung des Extremismus und zur
Stärkung der Demokratie um 5 Millionen Euro auf ins-
gesamt 29 Millionen Euro erhöht.


(Caren Marks [SPD]: Das ist ja wieder so ein langweiliger Ministeriumssprechzettel! – Gegenruf des Abg. Markus Grübel [CDU/CSU]: Nein! Ein handwerklich solider!)


Sie werden mir zustimmen, dass dies der höchste Ansatz
ist, den wir seit zehn Jahren in diesem Bereich hatten.

Die Opposition hat zu Jahresbeginn kritisiert, wir
würden durch die Bündelung der Programme die freien
Initiativen vor Ort beschneiden, weil wir den Kommu-
nen das Antragsrecht eingeräumt haben. Sie haben die
Bedingung, dass die Initiativen eine Erklärung zur Ver-
fassungstreue abgeben müssen, massiv kritisiert. Was
haben Sie hier nicht alles prophezeit, wie die Arbeit der
Initiativen vor Ort durch die Neustrukturierung der Pro-
gramme zunichtegemacht wird! Doch die Zahlen spre-
chen eine andere Sprache:


(Caren Marks [SPD]: Na, na! Sie sollten aber auch mal prüfen, was das Ministerium Ihnen so aufschreibt!)


84 Kommunen, die schon aus dem vorherigen Pro-
gramm „Vielfalt tut gut“ Fördermittel erhalten haben,
werden mit dem neuen Bundesprogramm „Toleranz för-
dern – Kompetenz stärken“ weiter gefördert; die übrigen
sechs haben keine Anträge eingereicht.

Zusätzlich zu den bisherigen 90 Lokalen Aktionsplä-
nen sollen 90 weitere gefördert werden. Auch hier gibt
es eine positive Resonanz: Von den ausgewählten 90 Lo-
kalen Aktionsplänen im Bundesprogramm „Toleranz
fördern – Kompetenz stärken“ haben im Mai 2011 alle
bis auf drei Lokale Aktionspläne ihre Arbeit aufgenom-
men. Von den ausgewählten 52 Modellprojekten haben
bislang 30 Modellprojekte einen Zuwendungsbescheid
erhalten. Hier scheint die Angst vor der Abgabe einer
Demokratieerklärung also nicht so groß zu sein wie bei
einigen Kolleginnen und Kollegen hier im Hause.

Im Übrigen ist es verantwortungslos von der Opposi-
tion, mit dem obligatorischen Bekenntnis zur Verfas-
sungstreue eine derartige Panik bei den Trägern zu schü-
ren.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Zurufe vom BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Verantwortungsvolle Politik, meine Damen und Herren
von der Opposition, sieht anders aus.


(Sönke Rix [SPD]: Wann haben Sie denn das letzte Mal mit einer solchen Initiative gesprochen?)






Eckhard Pols


(A) (C)



(D)(B)

Völlig deplatziert ist auch die Diskussion im Zuge der
Beratungen des Haushalts für 2012. Die Oppositions-
fraktionen interpretieren die Kürzung des Haushaltsan-
satzes um 2 Millionen Euro auf 27 Millionen Euro und
die Umbenennung des Titels in „Maßnahmen zur Extre-
mismusprävention“ im Haushaltsentwurf als Richtungs-
wechsel unserer Familienministerin. Sie suggerieren der
Öffentlichkeit nicht nur eine Kürzung bei den Program-
men, sondern auch eine mangelnde Wertschätzung durch
die christlich-liberale Koalition.

Ich sage Ihnen: Die Einsparungen führen nicht zu fi-
nanziellen Einschnitten, weder bei den Lokalen Aktions-
plänen noch bei den Beratungsnetzwerken noch bei den
Modellprojekten.


(Sönke Rix [SPD]: Aber auch nicht zu einer Aufwertung! Eine Stärkung wäre auch mal angebracht! – Caren Marks [SPD]: Oh nein! Natürlich nicht! – Weitere Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Nein!)


Künftig wird das Bundesamt für Familie und zivilge-
sellschaftliche Aufgaben als Regiestelle mit der adminis-
trativ-technischen Abwicklung des Programms „Tole-
ranz fördern – Kompetenz stärken“ beauftragt. Das
heißt, wir sparen bei der Verwaltung der Programme
durch Bürokratieabbau und effektive Öffentlichkeitsar-
beit, jedoch nicht – das betone ich besonders – bei der
Umsetzung vor Ort. Dies ist ganz bestimmt im Sinne der
Steuerzahler, die hier auch zahlreich auf der Tribüne sit-
zen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1713025400

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend auf Drucksache 17/5435.

Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seine Be-
schlussempfehlung die Annahme des Antrags der Frak-
tionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/4432
mit dem Titel „Programme zur Bekämpfung von politi-
schem Extremismus weiterentwickeln und stärken“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh-
lung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der
FDP-Fraktion gegen die Stimmen der SPD-Fraktion, der
Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen angenommen.

Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp-
fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/3867 mit dem Titel
„Demokratieoffensive gegen Menschenfeindlichkeit –
Zivilgesellschaftliche Arbeit gegen Rechtsextremismus
nachhaltig unterstützen“. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die
Stimmen der SPD-Fraktion, der Fraktion Die Linke und
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.

Unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung emp-
fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/3045 mit dem Ti-
tel „Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus verstär-
ken – Bundesprogramme gegen Rechtsextremismus aus-
bauen und verstetigen“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion ge-
gen die Stimmen der SPD-Fraktion, der Fraktion Die
Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ange-
nommen.

Unter Buchstabe d seiner Beschlussempfehlung emp-
fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/4664 mit dem Ti-
tel „Arbeit für Demokratie und Menschenrechte braucht
Vertrauen – Keine Verdachtskultur in die Projekte gegen
Rechtsextremismus tragen“. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der
Oppositionsfraktionen angenommen.

Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe e
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des An-
trags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 17/2482 mit dem Titel „Daueraufgabe Demokra-
tiestärkung – Die Auseinandersetzung mit rassistischen,
antisemitischen und menschenfeindlichen Haltungen ge-
samtgesellschaftlich angehen und die Förderprogramme
des Bundes danach ausrichten“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion ge-
gen die Stimmen der SPD-Fraktion, der Fraktion Die
Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ange-
nommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:

Erste Beratung des von den Abgeordneten Memet
Kilic, Josef Philip Winkler, Markus Kurth, weite-
ren Abgeordneten und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Verbesserung der sozialen
Situation von Menschen, die ohne Aufenthalts-
status in Deutschland leben

– Drucksache 17/6167 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist dies so beschlossen.





Vizepräsidentin Petra Pau


(A) (C)



(D)(B)

Nachdem die erforderlichen Umgruppierungen im
Saale nun vorgenommen worden sind, eröffne ich hier-
mit die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Memet
Kilic für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1713025500

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten

Damen und Herren! Viele von Ihnen werden die Situa-
tion kennen: Sie sind ein Vater oder eine Mutter, und Ihr
Kind ist krank. Sie wissen nicht, was es hat, aber es
scheint ihm sehr schlecht zu gehen. Ein furchtbares Ge-
fühl! Der erste und richtige Impuls ist natürlich, das
Kind sofort in die nächste Arztpraxis oder ins Kranken-
haus zu bringen.

Menschen ohne Aufenthaltsstatus in Deutschland se-
hen von Arzt- und Krankenhausbesuchen ab, bis es nicht
mehr anders geht. Verschleppung von Krankheiten und
schwerwiegende Schäden können die Folge sein. Und
die Bundesregierung macht bis heute keinerlei Anstal-
ten, an diesen empörenden Zuständen etwas zu ändern.

Menschen ohne Aufenthaltsstatus müssen in Deutsch-
land in ständiger Angst leben. Bei jedem Kontakt mit öf-
fentlichen Stellen gehen sie ein hohes Risiko ein, als so-
genannte Illegale identifiziert zu werden. Diese
Menschen sind in der Hoffnung auf ein besseres Leben
in unser Land gekommen. Werden sie entdeckt, schiebt
man sie ab. Es ist aber nicht hinnehmbar, dass ihnen
auch noch der Zugang zu grundlegenden Menschenrech-
ten erschwert oder unmöglich gemacht wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Besonders Kinder und Jugendliche ohne Aufenthalts-
status können nichts für ihre Situation und sind beson-
ders schutzbedürftig. Ihnen dürfen grundlegende Men-
schenrechte nicht verwehrt werden.


(Stefanie Vogelsang [CDU/CSU]: Aber Herr Kilic, das wissen Sie doch besser! Sie helfen doch den Leuten überhaupt nicht mit solchen Reden!)


Die Aufhebung der Übermittlungspflichten für die Trä-
ger von Schulen und Tageseinrichtungen war ein Schritt
in die richtige Richtung, liebe Kollegin Vogelsang. Da
für den Kindergartenbesuch aber Leistungen nach dem
Kinder- und Jugendhilfegesetz erforderlich sind, muss
die Bundesregierung statuslosen Kindern endlich auch
Zugang zu den Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe
verschaffen. Sonst bleibt dies Augenwischerei.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da hat er recht, das habt ihr vergessen!)


Auch die Umsetzung der EU-Sanktionsrichtlinie liegt
haarscharf daneben. Würden diese Menschen vor Ge-
richt gegen ausbeuterische Arbeitsbedingungen klagen
oder ausstehenden Lohn einfordern, wenn Abschiebung
die sichere Folge ist?

(Michael Frieser [CDU/CSU]: Falsch! Sie wissen, dass das falsch ist!)


Auch Arbeitsgerichte sind in Deutschland immer noch
verpflichtet, ihre Daten an die Ausländerbehörde zu
übermitteln, Herr Kollege.


(Stefanie Vogelsang [CDU/CSU]: Das soll auch so bleiben!)


Die Umsetzung der Richtlinie ist hier zur Farce geraten.
Es ist doch geradezu töricht, nicht zu erkennen, dass die
Streichung der Übermittlungspflicht auch eine sehr
wirksame, nämlich eine wirtschaftliche Waffe gegen
Schwarzarbeit wäre.

Eines Rechtsstaats unwürdig und schlichtweg ein
Skandal ist auch die Tatsache, dass humanitär motivierte
Hilfe für diese Menschen hierzulande immer noch
strafbar ist. Vor genau einer Woche stand Papst
Benedikt XVI. hier an dieser Stelle. Auch in Erinnerung
an dieses wichtige Ereignis möchte ich die Bundesregie-
rung ermahnen, sich das Gebot der christlichen Nächs-
tenliebe ins Bewusstsein zu rufen.


(Michael Frieser [CDU/CSU]: Aber Herr Kollege, jetzt geht es zu weit!)


Es kann nicht sein, dass sich Menschen in Deutschland
strafbar machen, wenn sie dieses Gebot ernst nehmen
und ihren Nächsten aus humanitären Gründen im Rah-
men ihres Berufs oder aus privatem Engagement heraus
mit Rat und Tat zur Seite stehen, auch wenn ihre Nächs-
ten keinen Aufenthaltsstatus haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


An allen diesen Punkten setzt unser Gesetzentwurf
an. Er ist geeignet, Menschen ohne Aufenthaltsstatus in
Deutschland die Angst vor der Wahrnehmung ihrer
Grundrechte zu nehmen, indem er die Übermittlungs-
pflichten für die öffentlichen Stellen, die der Gefahren-
abwehr oder der Strafpflege dienen, so belässt, im Übri-
gen aber abschafft. Der Entwurf steht nicht im
Widerspruch zu der Pflicht des Staates, illegale Einwan-
derung und illegalen Aufenthalt zu bekämpfen. Durch
ihn wird auch der Rechtsstaat nicht gefährdet. Ganz im
Gegenteil: Er verschafft Menschen ohne Aufenthaltssta-
tus Zugang zu ihren Grund- und Menschenrechten.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, kein Mensch ist il-
legal, und kein Mensch darf sich in Deutschland nach
dem Gesetz in einer Lage befinden, in der er Angst da-
vor haben muss, zum Arzt zu gehen, seine Kinder in die
Schule zu schicken oder vor Gericht gegen ausbeuteri-
sche Arbeitsbedingungen zu klagen. Stimmen Sie bitte
für unseren Gesetzentwurf, und tun Sie etwas Gutes.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)







(A) (C)



(D)(B)


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1713025600

Der Kollege Michael Frieser hat für die Unionsfrak-

tion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Michael Frieser (CSU):
Rede ID: ID1713025700

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Lieber Herr Kollege Kilic, Sie wissen es eigent-
lich besser. Ich befürchte fast, dass das Redemanuskript
vor der entscheidenden Beschlussfassung fertig war oder
Sie diesen Antrag irgendwo in der Schublade gefunden
haben. Anscheinend ist die Beschlussfassung zu diesem
Thema und die Umsetzung der Beschlüsse wirklich an
Ihnen vorbeigegangen.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Richtig ist, dass wir uns damit schon lange befassen!)


Ich will es noch einmal deutlich machen: Wir haben
wirklich das in unserer Macht Stehende getan, all das
aufzunehmen und umzusetzen, was wir rechtsstaatlich
gerade noch für verantwortbar halten. Um es noch ein-
mal ins Gedächtnis zu rufen: Es geht im Normalfall um
sich hier illegal aufhaltende Menschen. Sie erwecken
den Eindruck, dass genau das nicht das eigentliche
Thema wäre. Ich meine, dass sich der Rechtsstaat, auf
den diese Menschen so erpicht sind, in diesen Fragen
und an dieser Stelle mit einem Instrumentarium versor-
gen muss, mit dem er in die Lage versetzt wird, darauf
ordnungsgemäß zu reagieren.


(Beifall bei der CDU/CSU – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sind doch Sprechblasen!)


Heute geht es um die Frage der Umsetzung; und die
Grünen versuchen, mit etwas angereicherter Ideologie
noch einmal nachzufassen. Wir kommen leider Gottes zu
dem Ergebnis, dass sich hinter Ihren Forderungen eine
Open-Door-Politik versteckt, die lediglich die Botschaft
vermittelt: Kommt alle her, egal aus welchen Gründen.
Wir werden dann schon sehen, wie es weitergeht.


(Rüdiger Veit [SPD]: Völliger Unsinn! – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was soll denn dieser Unsinn?)


Rechtsstaatlich gesehen liegt genau in dieser Form der
Gleichmacherei eigentlich eine Ungerechtigkeit denen
gegenüber, die mit Recht hier sind und mit Recht einen
Aufenthaltsstatus genießen. Darauf sollte man zumin-
dest Rücksicht nehmen.

Lassen Sie mich angesichts der Änderungen an der
Vorlage der Regierungskoalition, die wir in der Sommer-
pause bereits durchgebracht haben, auf die von Ihnen an-
gesprochenen Einzelpunkte, soweit ich das tun kann,
eingehen. Ihre Forderungen sind nämlich entweder wirk-
lich überflüssig, weil die jetzige Gesetzeslage bereits
eine Regelung enthält, oder rechtsstaatlich tatsächlich
nicht durchzusetzen.

Erstens. Was soll bitte an der länderübergreifenden
Verteilung von Menschen, die sich hier illegal aufhalten,
unzumutbar sein, und zwar abgesehen von der Tatsache,
dass in § 15 a Abs. 5 Aufenthaltsgesetz für die Verwal-
tung bereits die Möglichkeit einer Ausnahme bei der
Verteilung vorgesehen ist? Über diese Möglichkeit hi-
nauszugehen, halten wir wirklich für überzogen.

Zweitens. Sie glauben weiterhin, einen Zeugenschutz
einführen zu müssen. Bezüglich Ihrer Forderung, aussa-
gebereiten Zeugen eine Aufenthaltserlaubnis zu geben,
weise ich darauf hin, dass wir in Übereinstimmung mit
der Opferschutzrichtlinie schon entsprechende Regelun-
gen eingeführt haben. Ich glaube, dass die von Ihnen
vorgeschlagene Regelung entbehrlich ist, weil wir ihrer
an dieser Stelle wirklich nicht bedürfen.

Drittens geht es um die Bedenkzeit, also darum, dass
man im Rahmen des Rechtsschutzes auch die Opferbe-
denkzeit verlängern sollte. Ich kann nur versuchen, hier
gegliedert vorzugehen. Ich glaube, dass wir mit einer na-
hezu gleichlautenden Regelung in unserem Richtlinien-
umsetzungsgesetz bereits die notwendigen Vorausset-
zungen geschaffen haben. Das müssten Sie in Ihrer Vor-
lage zumindest einmal aktualisieren.

Viertens geht es um die Frage des Vergütungsan-
spruchs. Hierzu findet sich in dem neuen § 25 Abs. 4 b
Aufenthaltsgesetz bereits eine fast inhaltsgleiche Formu-
lierung. Ich weiß nicht, warum dieses Thema, das wir in
zig Debatten, sowohl im Ausschuss als auch hier im
Bundestag, bereits behandelt haben, noch einmal im An-
trag thematisiert werden musste. Auch da sollte Ihre
Vorlage aktualisiert werden.

Fünftens. Hier kommen wir zu einem SPD-Lieb-
lingsthema, dem der Prozessstandschaft, das ins Arbeits-
gerichtsgesetz eingeführt werden soll. In der Art und
Weise kennt das unser Rechtssystem nicht. Dass man in
der Prozessstandschaft für andere deren Rechte durch-
setzt, ist uns grundsätzlich fremd. Letztendlich gibt es
keinen nachvollziehbaren Grund, warum wir das an die-
ser Stelle einräumen sollten oder einräumen müssten.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weil Sie mit den Betroffenen nie sprechen!)


Sechstens. Es geht um die Frage der Beihilfe. Herr
Kollege, wenn Sie der Auffassung sind, dass die Frage,
wer aus humanitären Gründen Illegalen Beihilfe gibt, ein
abgrenzungsfähiger Tatbestand wäre, dann muss ich Ih-
nen sagen: Das lässt sich in keiner Weise abgrenzen, we-
der rechtlich noch staatsrechtlich noch in irgendeiner an-
deren Weise, und schon gar nicht bei der Frage der
Ermittlung.


(Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Selbstverständlich!)


So etwas einzuführen, halte ich für schwierig.

Wir kommen im Grunde am Ende zu der Bewertung,
dass es um ein Paradoxon geht. Es handelt sich um Men-
schen, die in dieses Land kommen, weil sie sich von die-
sem Rechtsstaat Hilfe erbitten.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die kommen aber aus anderen Michael Frieser Gründen in dieses Land! Was ist das für ein Quatsch? Es geht zum Beispiel auch um die Kinder! Die Kinder sind hier geboren!)





(A) (C)


(D)(B)


Aber wenn die Frage des Status berührt ist, über den wir
zur Normierung und Entscheidung berufen sind, sollen
wir diesen Rechtsstaat wieder aushebeln. Diesen Wider-
spruch können wir auf keinen Fall zulassen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich nehme an, dass wir noch etwas über Änderungen
des Status von Kindern hören werden. Es geht natürlich
um den Status von Kindern. Das zu Herzen gehende Bei-
spiel sei Ihnen unbenommen, Herr Kollege Kilic.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist Realität!)


Aber man muss trotzdem sagen dürfen, dass wir den
Kindergarten- und Schulbesuch von Kindern gerade des-
halb geregelt haben, damit es keine Angst mehr vor
Übermittlungsbotschaften und den normalerweise zu
übermittelnden Daten geben muss.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Kostenübernahme ist nicht geregelt!)


Deshalb geht auch dieser Appell meiner Ansicht nach
ins Leere.

Der Staat hat ein Interesse daran, die Frage zu klären,
wie er mit Vergütungsansprüchen umgehen soll. Wir
können nicht ungehindert eine Zahl von Migranten zu-
lassen. Denn der Anreiz der Beschäftigung ist immer
noch der wichtigste Anreiz; die meisten kommen aus
wirtschaftlichen Gründen nach Deutschland.

Lassen Sie mich das Beispiel Spanien anführen. Die
Spanier dachten, sie könnten mit einer Reihe von Am-
nestien Illegalen den Aufenthalt gewähren und ihnen ei-
nen rechtlich unbegrenzten Status zubilligen. Das hatte
für Spanien zur Folge, dass 700 000 Menschen legali-
siert wurden und weitere ins Land kamen. Es wurden
also vor allem Erwartungen nach oben geschraubt, und
das brachte es mit sich, dass auch diese Menschen letzt-
endlich ihren Status anerkannt haben wollten.

Damit komme ich zum Ende. Es ist meines Erachtens
menschenunwürdig, Menschen eine Perspektive vorzu-
gaukeln, die sie nicht haben. Unsere Intention muss sein,
den Menschen schneller zu vermitteln, wer in diesem
Land bleiben kann, und diesen Menschen unsere Zuwen-
dung zukommen zu lassen. Aber derjenige, der ohne
Aufenthaltsstatus illegal in diesem Land lebt, muss
schneller die Botschaft bekommen: Hier kannst du nicht
bleiben. – Das ist aus unserer Sicht menschenwürdiges
Verhalten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das entspricht aber nicht Art. 1 Grundgesetz!)


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1713025800

Das Wort hat der Kollege Rüdiger Veit für die SPD-

Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Rüdiger Veit (SPD):
Rede ID: ID1713025900

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wenn nicht Frau Staatsministerin Böhmer selbst mir
Herrn Frieser als neuen integrationspolitischen Sprecher
der CDU/CSU-Fraktion vorgestellt hätte, dann würde
ich ernsthaft daran zweifeln, dass er diese Funktion be-
kleidet. Vielleicht hat sich das auch geändert; ich weiß es
nicht.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Der Gesetzentwurf, um den es heute geht und der
vom Kollegen Kilic begründet worden ist, ist schon des-
wegen sehr gut, weil er in weiten Teilen wortwörtlich
das aufgenommen bzw. abgeschrieben hat, was wir in
unserem Gesetzentwurf vom November 2009 niederge-
legt haben.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na, na! – Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Abgeschrieben haben wir nicht!)


Das beklage ich aber nicht, indem ich sage: „Das ist ein
unzulässiges Plagiat“, sondern ich betrachte das als
Kompliment.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das bestreiten wir jetzt erst einmal beides!)


Ich gebe jetzt ein Kompliment zurück. Denn der Ge-
setzentwurf vom Bündnis 90/Die Grünen ist insofern ak-
tueller, weil er auch die Frage der Umsetzung der Sank-
tionsrichtlinie umfassend mit aufgenommen hat. Ich
denke, es wäre richtig, wenn wir im Laufe der weiteren
Beratungen daraus einen gemeinsamen Gesetzentwurf
formulieren würden. Dann kann man bei der Gelegen-
heit noch das eine oder andere herausnehmen, was aus
meiner Sicht nicht ganz so glücklich ist.

Die Verteilung von Illegalen ist – damit haben Sie
nicht ganz unrecht, Herr Kollege Frieser – in dem Gesetz-
entwurf fehl am Platze. Denn Illegale existieren nicht für
die Behörden. Sie können nicht verteilt werden. Weil sie
den Ausländerbehörden nicht bekannt sind – das ist
schließlich das Wesen des illegalen Aufenthalts –, kann
man ihnen schlecht vorschreiben, wohin sie ziehen sol-
len. Das schließt sich in sich ein bisschen aus.


(Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär: Nicht nur ein bisschen!)


Um was geht es? Wir – das sage ich unter Einschluss
meiner Person – arbeiten im Forum „Leben in der Illega-
lität“ seit mindestens 13 Jahren an dieser Frage. Die
CDU/CSU, die diesem kirchlich initiierten





Rüdiger Veit


(A) (C)



(D)(B)


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Katholischen!)


und geleiteten Arbeitskreis nahestehen sollte, hat zum
Teil auch konstruktiv mitgearbeitet. Wir waren im Jahr
2005 in den Koalitionsvereinbarungen schon einmal so
weit, dass wir eine Änderung der Übermittlungspflichten
als dringend notwendig ansahen. Dass es so etwas gibt,
ist ohnehin ein Alleinstellungsmerkmal der deutschen
Gesetzgebung. Alle anderen Länder haben begriffen,
dass es bei der Frage, wie wir mit Menschen umgehen,
um eine menschenrechtliche Verpflichtung geht, die
nicht bei der Nationalität und dem Aufenthaltstitel halt-
macht.

Wenn man mit staatlicher Hilfe durch die Übermitt-
lungspflichten einen Grund dafür schafft, dass Menschen
keine ärztliche Versorgung in Anspruch nehmen, weil
sie Angst haben müssen, wenn sie Leistungen beim So-
zialamt bzw. je nach Verwaltungsorganisation auch beim
Ausländeramt beantragen – nur die Notfallrettung ist
ausgenommen worden; das haben wir in den Verwal-
tungsvorschriften erreicht –, dann ist das, glaube ich,
nicht human.

Wenn man außerdem dafür sorgt, dass Kinder und Ju-
gendliche, die – Herr Kollege Kilic hat damit doch recht
– noch viel weniger etwas dafür können, was ihre Eltern
im Hinblick auf das Ausländerrecht hier in Deutschland
gemacht oder nicht gemacht haben, nicht in den Kinder-
garten oder zur Schule gehen, weil sie Angst davor ha-
ben müssen, dass der illegale Status ihrer Eltern bzw. der
ganzen Familie aufgedeckt wird,


(Michael Frieser [CDU/CSU]: Genau das haben wir doch geregelt, Herr Kollege Veit!)


dann stellt das in der Tat ein großes Problem dar. Das
kann nicht im Sinne der Integration sein.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Obwohl Sie sich der Lösung dieses Problems ein wenig
genähert haben – das will ich gar nicht verhehlen –, ist es
mit der Entwicklung des Bewusstseins für dieses Pro-
blem bei den Kollegen von FDP und CDU/CSU nicht so
weit her. Sie müssten ansonsten nämlich konsequent
weitergehen und sagen: Jeder, der in Deutschland ohne
Aufenthaltsstatus lebt – das hat mit dem Pull-Effekt gar
nichts zu tun; es geht um Menschen, die schon da sind,
die also entweder nach Ablauf ihres Visums nicht ausge-
reist sind oder nach Ablehnung ihres Asylantrags ohne
Aufenthaltserlaubnis hier geblieben sind –, muss ohne
Angst vor Entdeckung zumindest ärztliche Versorgung
beanspruchen können, seine Kinder in die Schule schi-
cken können und seinen Arbeitslohn einklagen können.

Wollen Sie allen Ernstes diejenigen Arbeitgeber, die
den illegalen Status ausnutzen und Menschen ausbeuten,
begünstigen, indem Sie dafür sorgen, dass die betreffen-
den Menschen noch nicht einmal die Arbeitsgerichte an-
rufen können? Das kann ich mir offen gestanden nicht
vorstellen. Das ist jedenfalls mit einer humanen Gesin-
nung – entschuldigen Sie bitte meine Bewertung – nicht
vereinbar.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist auch unchristlich!)


– Das ist zutiefst unchristlich, wie ich finde. Da ich aber
keiner Kirche angehöre, bin ich mit Vorwürfen an die
andere Seite ein bisschen zurückhaltender.

Noch in einem anderen Punkt ist der Gesetzentwurf
richtig und stimmt mit unseren Vorstellungen überein.
Wir haben zu Zeiten der Großen Koalition, die gelegent-
lich ihr Gutes hatte und Gutes gemacht hat, den Fall der
qualifizierten Strafbarkeit der Beihilfe zum illegalen
Aufenthalt ausdrücklich aufgehoben, weil wir das für
nicht richtig hielten. Wir haben aber schlicht übersehen,
dass der einfache Fall der Beihilfe nach den allgemeinen
Vorschriften des Strafrechtes noch immer strafbar ist.
Das muss im Gesetz deswegen ausdrücklich klargestellt
werden.

Meine Damen und Herren, es geht nicht darum, Per-
spektiven vorzugaukeln. Es geht darum, den betroffenen
Menschen ein Mindestmaß an sozialen Rechten einzu-
räumen und dafür zu sorgen, dass der Staat keine unbot-
mäßigen Hürden aufbaut bzw., wie dargestellt, dazu Bei-
hilfe leistet. Ich hoffe, dass Sie sich endlich überwinden
können, nicht nur punktuell etwas zu ändern, sondern,
wie auch sonst in Europa üblich, Übermittlungspflichten
nur für diejenigen Stellen einzuführen, die für die Straf-
verfolgung oder die Einhaltung der öffentlichen Sicher-
heit zuständig sind. Geistliche und Sozialarbeiter sollten
von diesen Pflichten aber auf jeden Fall ausgenommen
werden. Das Gesetz gehört diesbezüglich umfassend be-
reinigt. Dazu fordere ich Sie erneut auf.

Nehmen Sie sich ein Beispiel an den Kirchen und sol-
chen Leuten wie Pater Alt und Schwester Bührle, die
sich hier erheblich eingesetzt haben. Es wäre schön,
wenn Sie Ihrem Herzen endlich einen Stoß geben könn-
ten und sich christlich verhalten würden.

Danke schön.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zurufe von der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1713026000

Der Kollege Hartfrid Wolff hat für die FDP-Fraktion

das Wort.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Ge-

setzentwurf ist etwas bizarr. Wir haben hier im Hause
erst am 7. Juli dieses Jahres einen Gesetzentwurf dazu
verabschiedet. Die Richtlinienumsetzung ist eigentlich
bereits erfolgt. Warum die Grünen nicht schon damals
den jetzigen Gesetzentwurf vorgelegt haben, ist mir et-
was rätselhaft.


(Rüdiger Veit [SPD]: Warum habt ihr unseren Änderungsantrag abgelehnt?)






Hartfrid Wolff (Rems-Murr)



(A) (C)



(D)(B)

Bereits im April dieses Jahres haben wir über Vorschläge
zur Umsetzung der Rückführungs- und der Sanktions-
richtlinie diskutiert, Kollege Veit. Die Grünen haben
schlicht den Termin verschlafen und wollen sich jetzt
mit einem verspäteten Aufguss alter Ideen als wach im
Bereich sozialer Rechte für Illegale präsentieren.


(Rüdiger Veit [SPD]: Nein, ihr habt den Änderungsantrag abgelehnt!)


Das ist wenig überzeugend.

Wir haben bei den abschließenden Beratungen des
Richtlinienumsetzungsgesetzes zu Recht festgestellt: Es
ist ein humanitärer Fortschritt, wenn wir die aufenthalts-
rechtlichen Übermittlungspflichten öffentlicher Stellen
ändern, um den Schul- und Kindergartenbesuch von
Kindern zu gewährleisten. Bildung ist die Basis für die
gesellschaftliche Integration und den persönlichen Er-
folg. Rot-Grün war dagegen.


(Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unsinn!)


Die Koalitionsfraktionen haben sich auch entschieden,
die Stabilisierungszeit für Menschenhandelsopfer auf
drei Monate auszudehnen. Wir folgen damit dem drin-
genden Petitum von Opferverbänden, aber auch der Poli-
zei. Rot-Grün war dagegen. Wir haben dafür gesorgt,
dass Abschiebehäftlinge auf ihren Wunsch hin von
Nichtregierungsorganisationen besucht werden dürfen.
Grün war dagegen.


(Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weil der Gesetzentwurf mangelhaft war!)


Ausgerechnet diejenigen, die sich immer als Hüter
des Flüchtlingsrechts gerieren, haben diesen wichtigen,
wegweisenden Verbesserungen nicht zugestimmt.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr originell! Das war doch ein Riesenpaket! Das konnte man nur gemeinsam abstimmen!)


Interessant daran ist, dass die SPD bei der Verabschie-
dung der Richtlinien noch mitgewirkt hat. Das hatte sie
aber offensichtlich bis dahin vergessen. Da kann ich nur
sagen: Man sieht, dass nur aus taktischen Erwägungen
gehandelt wird. Wenn es darum geht, wirkliche Verbes-
serungen für die Betroffenen zu schaffen, dann duckt
sich Rot-Grün weg.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Memet Kilic [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das Thema ist zu ernst für diese Polemik!)


Rot-grüne Politik heißt, lieber gegen die Koalition zu
stimmen, als Verbesserungen zu schaffen. Das ist wirk-
lich nicht an der Sache orientiert. Der sehr verspätet vor-
liegende Gesetzentwurf der Grünen ist Aktionismus und
täuscht Handeln nur vor. Die Koalition handelt und hat
gehandelt.


(Rüdiger Veit [SPD]: Das ist manchmal das Schlimme! – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nicht 2006!)

Wir haben in der Koalition die für die Thematik wich-
tigen Weichenstellungen längst vorgenommen.


(Daniela Kolbe [Leipzig] [SPD]: Wo denn? – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eine Weichenstellung, die in die Sackgasse führt!)


Diese Koalition kann stolz darauf sein, dass sie substan-
zielle Verbesserungen gerade im humanitären Auslän-
derrecht erreicht hat. Ich nenne als Stichworte nur „Op-
ferschutz“ und „Rückkehrrecht“.

Deutschland verändert sich. Die Bundesregierung ge-
staltet diese Veränderungen, und zwar ohne ideologi-
schen Ballast


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Den vermutet bei Ihnen auch keiner!)


und vorurteilsfrei.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1713026100

Für die Fraktion Die Linke spricht nun die Kollegin

Sevim Dağdelen.


(Beifall bei der LINKEN)



Sevim Dağdelen (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1713026200

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Wie mein Kollege Kilic bereits gesagt hat: Die
Humanität einer Gesellschaft zeigt sich besonders an ih-
rem Umgang mit den Schwächsten in der Gesellschaft.
Dazu gehören viele Migrantinnen und Migranten und
auch Flüchtlinge. Erst letzte Woche hat das Statistische
Bundesamt Ergebnisse des Mikrozensus 2010 vorgelegt,
die die dauerhafte soziale Ausgrenzung von Menschen
mit Migrationshintergrund in Deutschland belegen. Zu
den Schwächsten dieser Gesellschaft gehören vor allen
Dingen die Menschen, die ohne einen offiziellen Aufent-
haltsstatus hier leben. Sie werden absurderweise oft
– auch in den Debatten im Deutschen Bundestag – als Il-
legale bezeichnet. Ich muss für meine Fraktion hier klar-
stellen: Es gibt keine Menschen, die illegal sind. Es gibt
nur Menschen, die illegalisiert und damit kriminalisiert
werden. Für uns gilt immer noch: Kein Mensch ist ille-
gal.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Die Fraktion Die Linke begrüßt und teilt das Anliegen
des Gesetzentwurfs der Grünen, auch wenn er erhebliche
Mängel aufweist, lieber Kollege Kilic.


(Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Seien Sie gnädig mit mir!)


Diese Mängel waren auch schon im Gesetzentwurf des
Jahres 2006 vorhanden.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau! Zu Recht!)






Sevim Daðdelen


(A) (C)



(D)(B)


Sevim Dağdelen
Ich finde, dass Menschen nicht nur nicht illegal sind,
sondern auch kein ordnungspolitisches Freiwild. In der
Begründung Ihres Gesetzentwurfs ist die Rede von – das
wird von der FDP, die sich Liberale nennen, und auch
von den Konservativen immer wieder betont – „der
Pflicht des Staates, illegale Einwanderung und illegalen
Aufenthalt zu bekämpfen“.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben Sie gehört, Herr Wolff?)


Ich frage mich: Wo soll denn diese Pflicht eigentlich
normiert sein? Eine solche Pflicht findet sich zum Bei-
spiel im Grundgesetz in keiner Weise. Allerdings enthält
das Grundgesetz die Verpflichtung aller staatlichen Ge-
walt, die Menschenwürde zu achten, sie zu schützen und
sich zu den unveräußerlichen Menschenrechten als
Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft zu beken-
nen


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Michael Frieser [CDU/CSU]: Das tun wir!)


– das sollten Sie einmal nachlesen – sowie die sozialen
Menschenrechte in Verbindung mit dem Sozialstaats-
prinzip durchsetzbar zu machen.

Für die Linke ist es daher längst überfällig, dass auch
Menschen ohne Aufenthaltsstatus die ihnen zustehenden
sozialen Menschenrechte in Deutschland in Anspruch
nehmen können.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Illegalisierte müssen das Recht auf Schulbildung, das
Recht auf Privatleben, das Recht auf medizinische Ver-
sorgung, das Recht auf eine gerechte Entlohnung für ihre
Arbeit sowie das Recht auf körperliche Unversehrtheit
haben. Sie dürfen keine Angst vor einer Abschiebung
haben, wenn sie das eigentlich Normalste der Welt tun,
nämlich ihre Menschenrechte in Deutschland wahrneh-
men. Insofern teilen wir die Kritik der Grünen in ihrem
Gesetzentwurf am Umgang mit den Illegalisierten.

Richtig und dringend erforderlich ist, die Beihilfe
zum humanitären Aufenthalt zu entkriminalisieren.
Menschen strafrechtlich zu verfolgen, weil sie sich mit
der Verletzung der Menschenwürde und der Menschen-
rechte nicht abfinden, ist einfach skandalös. Auch teilt
die Linke die Forderung nach einer Abschaffung der eu-
ropaweit einmaligen Denunziationspflicht; das fordern
wir schon seit langem.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Forderung, dass die Grünen den Opfern von Men-
schenhandel einen Aufenthalt nur dann gewähren wollen
– und auch nur vorübergehend –, wenn deren Zeugen-
aussage für ein Strafverfahren benötigt wird, ist nicht zu-
stimmungsfähig.


(Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, das wollen wir nicht!)


– Das steht in Ihrem Gesetzentwurf, und das haben Sie
auch 2006 schon gefordert. – Das ist kein Opferschutz,
sondern eher eine Instrumentalisierung der Opfer; denn
man macht das Schicksal der Menschen einfach von ei-
ner Beweislage abhängig.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist besser als die jetzige Lage!)


Das ist für uns nicht akzeptabel, lieber Kollege.

Deshalb sage ich: Sie sollten lieber die Anträge der
Linken für eine humanitäre Flüchtlingspolitik unterstüt-
zen. Damit hätten wir auch die Mängel beseitigt, die Ihr
Gesetzentwurf enthält.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1713026300

Das Wort hat der Kollege Peter Tauber von der CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Peter Tauber (CDU):
Rede ID: ID1713026400

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine

Herren! Worum geht es? Wir sprechen über Menschen,
die sich illegal in Deutschland aufhalten. Die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen hat es etwas euphemistisch for-
muliert und das Gesetz folgendermaßen genannt: „Ge-
setz zur Verbesserung der sozialen Situation von Men-
schen, die ohne Aufenthaltsstatus in Deutschland leben“.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo ist da der Euphemismus?)


Bevor wir über gefühlte Wahrheiten und die Betrach-
tung der Wirklichkeit sprechen, möchte ich eines klar-
stellen: Natürlich ist der Satz „Kein Mensch ist illegal“
absolut richtig; denn wir haben die Grundrechte im
Grundgesetz, wir haben das Asylrecht, wir sind ein So-
zial- und ein Rechtsstaat. Trotzdem ist auch der Satz,
dass sich ein Mensch illegal in einem Land aufhalten
kann, richtig.

Mich erfüllt etwas mit Sorge, dass Sie in Ihrem Ge-
setzentwurf unser Land auf eine Art und Weise beschrei-
ben, die aus meiner Sicht weit an der Wirklichkeit vor-
beigeht.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Sie schreiben unter anderem – dies klingt wie ein Hor-
rorszenario –:

In Deutschland besteht ein menschenrechtliches
Problem im staatlichen Umgang mit Menschen, die
in unserem Land ohne ein Aufenthaltsrecht leben.

Das haben Sie schon 2006 formuliert. Ganz ehrlich:
Durch Wiederholungen wird es nicht besser.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ein Zitat von der katholischen Kirche!)






Dr. Peter Tauber


(A) (C)



(D)(B)

Man darf Sie in diesem Zusammenhang fragen, wa-
rum Sie das, wenn das alles so ist, in sieben Regierungs-
jahren nicht geändert haben; denn Sie hatten mehrfach
Gelegenheit dazu.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Denken Sie mal an den Bundesrat! – Rüdiger Veit [SPD]: Ist Ihnen die Zusammensetzung des Bundesrates bekannt?)


Aber geschehen ist an dieser Stelle nichts.

Ich kann für unsere Fraktion sehr deutlich sagen: Wir
sind der Auffassung, dass es die Aufgabe der Gesell-
schaft und des Rechtsstaats ist, den ungesteuerten Zuzug
und den Aufenthalt von Ausländern, die keinen Aufent-
haltstitel und keine Duldung besitzen und weder im Aus-
länderzentralregister noch sonst wie behördlich regis-
triert sind, nicht zu akzeptieren.

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in
Nürnberg hat sich in seinem Arbeitspapier „Illegalität
von Migranten in Deutschland“ mit den zentralen Pro-
blemen und Herausforderungen befasst, denen sich Mi-
granten ausgesetzt sehen. Auf einen Punkt möchte ich
ein bisschen näher eingehen, weil er in der Debatte eine
Rolle gespielt hat und weil Sie auch hier ein verzerrtes
Bild der Wirklichkeit zeichnen. Es geht um diejenigen,
die für ihre Situation selbst wahrlich nichts können,
nämlich um die Kinder und Jugendlichen, die sich illegal
in diesem Land aufhalten.

Ein ganz wichtiger Punkt, wenn wir über die Verbes-
serung der Lebenssituation dieser Kinder reden, ist na-
türlich der Zugang zu Bildung. Deswegen haben wir
dafür gesorgt, dass Schulen sowie Bildungs- und Erzie-
hungseinrichtungen von den bisher uneingeschränkt be-
stehenden aufenthaltsrechtlichen Übermittlungspflichten
gegenüber den Ausländerbehörden ausgenommen wor-
den sind. Das heißt, die Kinder können zur Schule gehen
und die Betreuungseinrichtungen in Anspruch nehmen.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn sie es bezahlen können!)


Das entspricht der UN-Kinderrechtskonvention. Das ha-
ben wir klar geregelt. Aber Sie verneinen es, was nicht in
Ordnung ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


In der Tat ist es richtig: Die Kinder können nichts für
den Aufenthaltsrechtsverstoß ihrer Eltern. Auch da müs-
sen Sie sich fragen lassen, warum Sie keine entspre-
chende Änderung in Ihrer Regierungszeit durchgeführt
haben.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weil der Bundesrat dagegen war!)


Es bedurfte erst der schwarz-gelben Koalition und der
von ihr getragenen Bundesregierung, um diesen Sach-
verhalt geradezurücken.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1713026500

Herr Kollege Tauber, lassen Sie eine Zwischenfrage

des Kollegen Veit zu?

Dr. Peter Tauber (CDU):
Rede ID: ID1713026600

Nein, ich möchte keine Zwischenfrage zulassen.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Haben Sie Angst?)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1713026700

Sie wollen es nicht; gut.


Dr. Peter Tauber (CDU):
Rede ID: ID1713026800

Nein, ich habe keine Angst. Ich will mich trotzdem an

den Kollegen wenden, weil er vorhin mit tiefer Inbrunst
an christliche Werte appelliert hat. Ich muss schon sa-
gen: Was Sie da machen, ist ganz schön scheinheilig.
Die CDU/CSU braucht von Menschen, die Kirchen nur
in ihrer Funktion als Kulturdenkmäler besuchen, die
aber ansonsten, wenn es um Christenverfolgung geht,
nicht hörbar sind, keine Exegese der christlichen Lehre.
Das sage ich Ihnen ganz deutlich an dieser Stelle.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Aydan Özoğuz [SPD]: Aber die Leute für 2 Euro arbeiten lassen! Das ist wohl christlich!)


– Von denjenigen, die das Christentum noch nicht ein-
mal aus dem Lehrbuch kennen, geschweige denn es le-
ben, brauchen wir keine Exegese der christlichen Lehre.
Sie können gerne an Humanität und andere Dinge appel-
lieren; darüber können wir trefflich streiten.


(René Röspel [SPD]: Lesen Sie mal Matthäus 7 Vers 12!)


Aber diesen billigen Reflex lassen wir Ihnen nicht
durchgehen. Da haben Sie noch eine Menge zu lernen,
liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Lesen Sie mal, was die Bischofskonferenz zu dem Thema sagt!)


Kommen wir zum Problem zurück. Worum geht es im
Kern des von Ihnen vorgelegten Gesetzentwurfes? Der
Vorschlag der Grünen ist letztendlich ein weiterer Ver-
such, im Sozial- und Arbeitsrecht einen unerlaubten
Aufenthalt materiell abzusichern und damit zu verfesti-
gen.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Quatsch!)


An dieser Stelle besteht ein großes Problem. Wenn Sie
die Forschung bemühen – wir reden da nicht über eine
kleinere Gruppe, sondern über bis zu 1 Million Men-
schen, die sich illegal in Deutschland aufhalten –, dann
können Sie erkennen, dass es für diese illegale Zuwan-
derung verschiedene Gründe gibt. Vor allem gibt es
– das kann man menschlich vielleicht nachvollziehen –
eine ökonomische Motivation, also den Wunsch, am
Wohlstand teilzuhaben, und den Wunsch, frei zu leben.


(Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auch humanitär!)






Dr. Peter Tauber


(A) (C)



(D)(B)

Ob illegale Migration tatsächlich stattfindet, hängt
laut Forschung von zwei Faktoren ab. Der erste Faktor
ist der Zugang zu einem Land, und der zweite Faktor
– er ist noch wichtiger – ist die sogenannte Anschluss-
möglichkeit. Darunter versteht man das Bestreben, in
dem Land, in das man illegal eingewandert ist, sozial-
staatliche Leistungen in Anspruch zu nehmen und zu
partizipieren, obwohl man keinen rechtmäßigen Aufent-
haltstitel hat.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Von Sozialstaat redet aber keiner bei Illegalen!)


Da sind wir an einem ganz entscheidenden Punkt. Die
Sozialleistungen, die Sie gerne gewähren möchten, müs-
sen erarbeitet werden.


(Aydan Özoğuz [SPD]: Von den Kindern?)


– Von den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Illegalen arbeiten ja! Aber die können ihr Gehalt nicht einklagen!)


Es gibt 41 Millionen sozialversicherungspflichtige Be-
schäftigungsverhältnisse. Die Zahl war unter Rot-Grün
deutlich geringer. Damals gab es noch 5 Millionen Ar-
beitslose; deshalb hatten sie es sehr viel schwerer. Diese
Leistungen müssen, wie gesagt, erarbeitet werden. Sie
wollen Menschen, die sich illegal in Deutschland aufhal-
ten, an den Segnungen des Sozialstaates teilhaben las-
sen.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Welche Segnungen?)


Dann muss man auch sagen, dass dazu eben Pflichten
gehören. Eine Pflicht ist, sich ordnungsgemäß zu melden
und sich zu beteiligen.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch völlig irrational! Sie wollen sie doch ausweisen!)


Wer die Segnungen des Sozialstaates in Anspruch nimmt,


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Welche Segnungen?)


der muss sich auch den Anforderungen des Rechtsstaates
stellen. So einfach ist das.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1713026900

Herr Tauber, kommen Sie bitte zum Schluss.


Dr. Peter Tauber (CDU):
Rede ID: ID1713027000

So wie Sie sich das vorstellen, geht es leider nicht.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1713027100

Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem

Kollegen Rüdiger Veit.


Rüdiger Veit (SPD):
Rede ID: ID1713027200

Herr Kollege Tauber, obwohl ich kein Lehrer bin, ha-

ben Sie meinen pädagogischen Ehrgeiz geweckt. Ich
wollte Ihnen nämlich sagen, dass – Föderalismusreform
hin oder her – in Deutschland Gesetze bekanntermaßen
eben nicht nur im Bundestag verabschiedet werden. Ge-
rade Gesetze aus dem Rechtsgebiet, über das wir hier
sprechen, bedürfen der Zustimmung des Bundesrates.
Wenn man dort eine Mehrheit erreichen will, ist das be-
kanntlich nicht immer einfach. Es war zum Beispiel für
die rot-grüne Bundesregierung besonders schwierig,
weil sie zu der Zeit keine rot-grüne Mehrheit im Bundes-
rat hatte. Umgekehrt ist dies bei Ihnen im Augenblick
der Fall, was für Sie ein Problem darstellt.


(Michaela Noll [CDU/CSU]: Richtig!)


Ich will noch einmal sagen: Wir waren 2005 schon
weiter, auch mit Ihren Parteifreunden von der CDU und
der CSU; das müssen Sie wissen. Es gab aber Probleme
– das muss man objektiverweise noch einmal sagen,
auch zur Entlastung Ihrer Parteifreunde – bei den zustän-
digen Länderinnenministern der B-Länder, mit der Kon-
sequenz, dass es keinen Sinn gemacht hätte, noch mehr
auf dem Weg des Gesetzgebungsverfahrens zu versu-
chen; denn das wäre im Bundesrat gescheitert.

Im Übrigen: Obwohl ich in Religionsfragen nicht allzu
sachverständig bin, bin ich über Ihr christliches Weltbild
schon ein bisschen erschüttert, weil Sie hinsichtlich der
Wahrnehmung elementarer Grundrechte – Bildung für
Kinder, Vorsorgeuntersuchungen für Schwangere und
Behandlung von Krankheiten – durch Menschen, die
ohne Aufenthaltsstatus in Deutschland leben, der Mei-
nung sind, dass ihnen die entsprechenden Sozialleistun-
gen nicht zustehen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: „Segnungen, die ihnen nicht zustehen“, hat er gesagt!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1713027300

Zur Erwiderung Kollege Tauber.


Dr. Peter Tauber (CDU):
Rede ID: ID1713027400

Herr Kollege, Sie müssen schon ein bisschen zuhö-

ren. Ich hatte leider nicht sechs Minuten Zeit, um über
das christliche Menschenbild in der CDU/CSU zu spre-
chen.


(Rüdiger Veit [SPD]: Uns hat es auch so gereicht!)


Es wäre vielleicht ganz hilfreich für Sie, wenn Sie sich
damit ein bisschen intensiver beschäftigten.


(Rüdiger Veit [SPD]: Wenn das dabei herauskommt, können wir darauf verzichten!)






Dr. Peter Tauber


(A) (C)



(D)(B)

Zu den von Ihnen gemachten Anmerkungen möchte
ich ausführen:

Die Regierungen der Bundesländer vertreten natür-
lich ihre Länderinteressen und nicht parteipolitische In-
teressen.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Klingt realistisch!)


Es ist der christlich-liberalen Regierung offensichtlich
gelungen, die Vorbehaltsregelung zurückzunehmen.
Vielleicht lag das daran, dass die Argumente, die wir da-
mals gegenüber den Landesregierungen vorgetragen ha-
ben, ein bisschen besser waren als die, die Sie damals,
zur rot-grünen Regierungszeit in Berlin, hatten.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben Sie jetzt oft genug gesagt!)


Vielleicht steigen wir in die Debatte darüber, was
christliche Werte sind, an dieser Stelle ein. Ein ganz ent-
scheidender christlicher Wert ist der Wert der Demut.
Demut bedeutet, zu erkennen, dass man durchaus einmal
Fehler machen und falsch liegen kann. Ich nehme für
mich in Anspruch, dass ich Dinge falsch mache, dass ich
Dinge manchmal nicht weiß.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Den Eindruck hatten wir allerdings auch!)


Deswegen nehme ich den einen oder anderen erklären-
den Hinweis durchaus dankbar an.

Aber den Eindruck, das ebenfalls zu tun, vermitteln
Sie – das ist das Entscheidende – hier eben permanent
nicht. Sie haben immer recht,


(Aydan Özoğuz [SPD]: Wenn Sie doch einmal was Konkretes sagen würden!)


Sie wissen immer alles besser, und Sie hätten es auch ei-
gentlich richtig gemacht, wenn Sie gekonnt hätten. Das
ist, glaube ich, nicht glaubwürdig. Ich empfehle Ihnen
eine Lektion in Demut. Wenn Sie diese Lektion hatten,
dann treffen wir uns wieder, und dann diskutieren wir
den nächsten christlichen Wert.

Danke.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1713027500

Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt

erteile ich das Wort dem Kollegen Serkan Tören von der
FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Serkan Tören (FDP):
Rede ID: ID1713027600

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist inte-

ressant, zu sehen, wie die Grünen in der Opposition ihr
Tarnmäntelchen wieder ablegen.

(Aydan Özoğuz [SPD]: Welches Tarnmäntelchen?)


Jetzt rufen sie schillernd und lautstark nach Reformen in
der Asyl- und Flüchtlingspolitik. Vielleicht hätten Sie
einmal während Ihrer Regierungszeit aus der Deckung
kommen sollen.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben wir ja gemacht! Zuwanderungsgesetz zum Beispiel!)


Sie hatten ganze sieben Jahre lang Zeit, all die Maßnah-
men, die in Ihrem Gesetzentwurf enthalten sind, umzu-
setzen. Das haben Sie nicht getan. Korrigieren Sie mich,
wenn ich falsch liege: Das Problem der irregulären Mi-
gration existiert nicht erst, seit die christlich-liberale Ko-
alition regiert.

Das Gleiche gilt für andere Fragen: Kettenduldungen,
Asylbewerberleistungsgesetz, Residenzpflicht. Auf all
diesen Problemfeldern haben Sie, als Sie Verantwortung
hatten, nichts getan.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nichts kann ja nicht sein! Der Bundesrat hat das verhindert!)


Sie haben an dieser Stelle eine ganz miese Bilanz Ihrer
Regierungszeit vorzuweisen, liebe Kolleginnen und Kol-
legen der Grünen. Deshalb verschonen Sie uns bitte mit
Ihrer Selbstgerechtigkeit. Sie steht Ihnen genauso wenig
wie das Tarnmäntelchen von damals.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Ich will bei einem so wichtigen Thema nicht weiter
nach hinten schauen, sondern nach vorn. Der Kollege
Wolff hatte bereits angesprochen, was die christlich-libe-
rale Koalition hier schon erreicht hat. Ich möchte noch
einen Schritt weiter gehen. Für uns Liberale ist klar:
Deutschland darf sich seiner humanitären Verantwortung
nicht entziehen. Diese Verantwortung gilt für die Sicher-
stellung der körperlichen Unversehrtheit aller in
Deutschland lebenden Menschen.


(Aydan Özoğuz [SPD]: Das ist ja schon mal was! – Rüdiger Veit [SPD]: Sie sind auf dem richtigen Weg der Erkenntnis!)


Im Rahmen unserer rechtsstaatlichen Ordnung müssen
wir weiter nach verantwortungsvollen und pragmati-
schen Lösungen für den Umgang mit Menschen ohne
Papiere suchen.

Nachdem wir den angstfreien Schulbesuch ermög-
licht haben, steht nun die Gesundheitsversorgung im
Vordergrund. Die bewusste Auslagerung des Problems
in den ehrenamtlichen Sektor kann keine dauerhafte Lö-
sung sein. Das gilt auch für die zunehmende Einbindung
von Gesundheitsämtern. Diese Einbindung fordern die
Grünen ja in ihrem Gesetzentwurf. So sinnvoll diese
flankierenden Maßnahmen auch sein mögen: Letztend-
lich sind das Doppelstrukturen, die zusätzliche Kosten
für Kommunen bedeuten. Das kann nicht unser Ziel sein,
insbesondere mit Blick auf einen vernünftigen Ausgleich
der Interessen und der Akzeptanz der Bevölkerung.





Serkan Tören


(A) (C)



(D)(B)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie ins Gesetz
schauen, werden Sie sehen: Im Grunde genommen sind
die Voraussetzungen für eine erweiterte Gesundheitsver-
sorgung für Menschen ohne Papiere bereits normiert.
Wir reden hier nicht nur über die Notfallversorgung,
sondern auch über Vorsorgeuntersuchungen und Impfun-
gen. Das halte ich auch für richtig und wichtig, insbeson-
dere mit Blick auf Schwangere und Kinder.

Wenn wir es aber schon im Gesetz stehen haben, müs-
sen wir auch eines effektiv sicherstellen, nämlich die
Möglichkeit für die Betroffenen, die entsprechenden An-
gebote auch wahrzunehmen, und zwar ohne Angst vor
Aufdeckung. Diese Intention ist 2009 mit der Verwal-
tungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz im Bereich der
Notfallversorgung bereits umgesetzt worden. Jetzt gilt
es, hieran anzuknüpfen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1713027700

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/6167 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.

Zu den Tagesordnungspunkten, die jetzt folgen, sollen
alle Reden zu Protokoll genommen werden. Ich werde
darauf verzichten, die Namen der potenziellen Redner zu
verlesen.


(Beifall)


Trotzdem müssen wir die Formalitäten abwickeln. Ich
bitte, so viel Geduld zu haben und mich dabei zu beglei-
ten; denn ich brauche jeweils Ihr Votum.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 a und b auf:1)

a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Verbesserung der Feststellung und Aner-
kennung im Ausland erworbener Berufsquali-
fikationen

– Drucksache 17/6260 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-
schätzung (18. Ausschuss)


– Drucksache 17/7218 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Marcus Weinberg (Hamburg)

Swen Schulz (Spandau)

Heiner Kamp
Agnes Alpers
Krista Sager

1) Anlage 7
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Marcus
Weinberg (Hamburg), Albert Rupprecht (Wei-
den), Michael Kretschmer, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der
Abgeordneten Heiner Kamp, Patrick
Meinhardt, Dr. Martin Neumann (Lausitz),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
FDP

Ausländische Bildungsleistungen anerken-
nen – Fachkräftepotentiale ausschöpfen

– zu dem Antrag der Abgeordneten Swen Schulz

(Spandau), Katja Mast, Olaf Scholz, weiterer

Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Durch Vorrang für Anerkennung Integra-
tion stärken – Anerkennungsgesetz für aus-
ländische Abschlüsse vorlegen

– zu dem Antrag der Abgeordneten Sevim
Dağdelen, Nicole Gohlke, Agnes Alpers, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Für eine zügige und umfassende Anerken-
nung von im Ausland erworbenen Qualifi-
kationen

– zu dem Antrag der Abgeordneten Krista Sager,
Priska Hinz (Herborn), Kai Gehring, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Brain Waste stoppen – Anerkennung aus-
ländischer akademischer und beruflicher
Qualifikationen umfassend optimieren

– zu dem Antrag der Abgeordneten Agnes
Alpers, Sevim Dağdelen, Dr. Petra Sitte, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Anerkennung ausländischer Bildungs- und
Berufsabschlüsse wirksam regeln

– zu dem Antrag der Abgeordneten Krista Sager,
Memet Kilic, Ekin Deligöz, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN

Anerkennung ausländischer Abschlüsse tat-
sächlich voranbringen

– Drucksachen 17/3048, 17/108, 17/117, 17/123,
17/6271, 17/6919, 17/7218 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Marcus Weinberg (Hamburg)

Swen Schulz (Spandau)

Heiner Kamp
Agnes Alpers
Krista Sager

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Verbesse-





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)

rung der Feststellung und Anerkennung im Ausland er-
worbener Berufsqualifikationen.

Der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technik-
folgenabschätzung empfiehlt unter Nr. 1 seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 17/7218, den Gesetz-
entwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/6260 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim-
men wollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? –
Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung angenommen mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen bei Gegenstimmen der Grünen und Enthal-
tung von SPD und den Linken.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist in dritter Lesung mit dem gleichen Stimmenverhältnis
angenommen.

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 17/7218.
Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschluss-
empfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen
der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/3048 mit dem
Titel „Ausländische Bildungsleistungen anerkennen –
Fachkräftepotentiale ausschöpfen“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stim-
men der Linken und der Grünen und bei Enthaltung der
SPD.

Unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion
der SPD auf Drucksache 17/108 mit dem Titel „Durch
Vorrang für Anerkennung Integration stärken – Aner-
kennungsgesetz für ausländische Abschlüsse vorlegen“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen-
stimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung
ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktio-
nen und der Linken bei Gegenstimmen der SPD und der
Grünen.

Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 4 seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/117 mit dem Titel
„Für eine zügige und umfassende Anerkennung von im
Ausland erworbenen Qualifikationen“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist ange-
nommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen ge-
gen die Stimmen der Linken bei Enthaltung von SPD
und Grünen.

Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 5 seiner Be-
schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/123 mit
dem Titel „Brain Waste stoppen – Anerkennung auslän-
discher akademischer und beruflicher Qualifikationen
umfassend optimieren“. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die
Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Grünen
bei Enthaltung von SPD und Linken.

Unter Nr. 6 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion
Die Linke auf Drucksache 17/6271 mit dem Titel „Aner-
kennung ausländischer Bildungs- und Berufsabschlüsse
wirksam regeln“. Wer stimmt für diese Beschlussemp-
fehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Be-
schlussempfehlung ist angenommen gegen die Stimmen
der Linken mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen.

Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 7 sei-
ner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache
17/6919 mit dem Titel „Anerkennung ausländischer Ab-
schlüsse tatsächlich voranbringen“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stim-
men von SPD und Grünen bei Enthaltung der Linken.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:1)

Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerold
Reichenbach, Anette Kramme, Martin Dörmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Weitere Datenschutzskandale vermeiden – Ge-
setzentwurf zum effektiven Schutz von Be-
schäftigtendaten vorlegen

– Drucksache 17/7176 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Kultur und Medien

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/7176 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 sowie Zusatz-
punkt 4 auf:2)

11 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu der Un-
terrichtung durch den Parlamentarischen Beirat
für nachhaltige Entwicklung

Bericht des Parlamentarischen Beirats für
nachhaltige Entwicklung zum Indikatorenbe-
richt 2010 des Statistischen Bundesamtes

und

Erwartungen an den Fortschrittsbericht 2012
zur nationalen Nachhaltigkeitsstrategie der
Bundesregierung

– Drucksachen 17/3788, 17/6029 –

1) Anlage 8
2) Anlage 9





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Thomas Gebhart
Dr. Matthias Miersch
Michael Kauch
Ralph Lenkert
Dorothea Steiner

ZP 4 Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

VN-Konferenz Rio+20: Nachhaltigkeit global
umsetzen

– Drucksache 17/7182 –

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit zu dem Bericht des Parlamentari-
schen Beirats für nachhaltige Entwicklung zum Indika-
torenbericht 2010 des Statistischen Bundesamtes und zu
den Erwartungen an den Fortschrittsbericht 2012 zur na-
tionalen Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung.

Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/6029, in Kenntnis der Unterrich-
tung auf Drucksache 17/3788 eine Entschließung anzu-
nehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist angenommen bei Enthaltung der Fraktion Die
Linke mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen.

Zusatzpunkt 4: Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP, Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/7182 mit dem Titel „VN-
Konferenz Rio+20: Nachhaltigkeit global umsetzen“.
Wer stimmt für diesen Antrag? – Gegenstimmen? – Ent-
haltungen? – Der Antrag ist angenommen bei Enthaltung
der Fraktion Die Linke mit den Stimmen aller übrigen
Fraktionen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:1)

Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael
Groß, Uwe Beckmeyer, Sören Bartol, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD

EU-Weißbuch Verkehr – Neuausrichtung der
integrierten Verkehrspolitik in Deutschland
und in der Europäischen Union nutzen

– Drucksache 17/7177 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/7177 an die in der Tagesordnung aufge-

1) Anlage 10
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:2)

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über den Rechtsschutz bei überlangen Ge-
richtsverfahren und strafrechtlichen Ermitt-
lungsverfahren

– Drucksache 17/3802 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses (6. Ausschuss)


– Drucksache 17/7217 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Elisabeth Winkelmeier-Becker
Dr. Edgar Franke
Christian Ahrendt
Jens Petermann
Ingrid Hönlinger

Wir kommen zur Abstimmung. Der Rechtsausschuss
empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/7217, den Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung auf Drucksache 17/3802 in der Ausschussfas-
sung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz-
entwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
ihr Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –
Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung angenommen
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-
Fraktion bei Gegenstimmen der Linken und Enthaltung
der Grünen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist mit gleichem Stimmenverhältnis angenommen.

Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 17/7217 empfiehlt der Ausschuss, eine Entschlie-
ßung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussemp-
fehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die
Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Ent-
haltung der Linken und der Grünen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:3)

Beratung des Antrags der Abgeordneten Alexander
Ulrich, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Eine Europäische Gemeinschaft für die Förde-
rung erneuerbarer Energien gründen –
EURATOM auflösen

– Drucksache 17/6151 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

2) Anlage 11
3) Anlage 12





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/6151 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstan-
den? – Dann ist das so beschlossen.

Tagesordnungspunkt 15 a bis c:1)

a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stär-
kung der Finanzkraft der Kommunen

– Drucksachen 17/7141, 17/7171 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin
Kunert, Dr. Dietmar Bartsch, Diana Golze, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Wer bestellt, bezahlt – Konnexität zugunsten
der Kommunen im Grundgesetz verankern

– Drucksache 17/6491 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Britta
Haßelmann, Katja Dörner, Hans-Josef Fell, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Gemeindefinanzkommission gescheitert – Jetzt
finanzschwache Kommunen – ohne Sozialab-
bau – nachhaltig aus der Schuldenspirale be-
freien

– Drucksache 17/7189 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Haushaltsausschuss

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/7141, 17/7171, 17/6491 und
17/7189 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-
schüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstanden? – Das
ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.

Tagesordnungspunkt 16:2)

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe (17. Ausschuss) zu dem Antrag
der Abgeordneten Tom Koenigs, Volker Beck

(Köln), Marieluise Beck (Bremen), weiterer Ab-

geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN

1) Anlage 13
2) Anlage 14
Seenotrettung im Mittelmeer konsequent
durchsetzen und verbessern

– Drucksachen 17/6467, 17/7174 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Erika Steinbach
Wolfgang Gunkel
Serkan Tören
Annette Groth
Tom Koenigs


(Beifall des Abg. Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Menschenrechte und Humanitäre Hilfe empfiehlt in sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7174, den
Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 17/6467 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen?
– Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der SPD und
der Grünen bei Enthaltung der Linken angenommen.

Tagesordnungspunkt 17:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu der Un-
terrichtung

Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen
Parlaments und des Rates zur Beherrschung
der Gefahren bei schweren Unfällen mit ge-

(inkl. 18257/10 ADD 1 und 18257/10 ADD 2)


KOM(2010) 781 endg.; Ratsdok. 18257/10

– Drucksachen 17/4598 Nr. A.20, 17/5891 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Michael Paul
Ute Vogt
Dr. Lutz Knopek
Ralph Lenkert
Dorothea Steiner


Dr. Michael Paul (CDU):
Rede ID: ID1713027800

Am 21. Dezember 2010 hat die EU-Kommission den

Vorschlag für die Seveso-III-Richtlinie vorgelegt, durch
die die bestehende Seveso-II-Richtlinie ersetzt werden
soll. Ziel der alten wie der neuen Richtlinie ist es,
schwere Unfälle mit gefährlichen Stoffen zu verhüten
und Unfallfolgen für die menschliche Gesundheit und
die Umwelt zu begrenzen. Die verheerenden Chemieun-
fälle in der Vergangenheit – ich erinnere an die Unfälle
von Seveso, Bhopal, Schweizerhalle – Sandoz –, En-
schede, Toulouse und Buncefield, bei denen viele Men-
schen ihr Leben verloren, die Umwelt geschädigt wurde
und Kosten in Milliardenhöhe verursacht wurden – ha-
ben gezeigt, dass ein besonderes Augenmerk auf die Si-
cherheit solcher Anlagen gerichtet werden muss, in de-
nen mit giftigen und hochgiftigen Stoffen umgegangen
wird. Die sogenannten Seveso-Richtlinien sind die Ant-
wort der EU auf diese Gefahren.

Dr. Michael Paul


(A) (C)



(D)(B)

Von der bestehenden Richtlinie 96/82/EG zur Beherr-
schung der Gefahren bei schweren Unfällen mit gefähr-
lichen Stoffen, der sogenannten Seveso-II-Richtlinie,
werden in der Europäischen Union rund 10 000 Be-
triebe erfasst, davon circa 2 000 in Deutschland. Die
Wahrscheinlichkeit von schweren Industrieunfällen und
deren Folgen konnte maßgeblich verringert werden.

Anlass für den Änderungsbedarf bei der bestehenden
Seveso-II-Richtlinie ist die Anpassung des Anwendungs-
bereichs an die veränderten EU-Regelungen zur Einstu-
fung und Kennzeichnung von Stoffen und Gemischen
– CLP-Verordnung. Dieses neue europäische Einstu-
fungs- und Kennzeichnungssystem ist nicht deckungs-
gleich mit dem bisherigen System.

Zurzeit werden die von der Europäischen Kommis-
sion vorgeschlagenen Änderungen im Rat diskutiert. Mit
dem Entschließungsantrag der Koalition unterstützen
wir die Bundesregierung in ihren Verhandlungen auf
EU-Ebene mit dem Ziel, eine alternative Anpassungsva-
riante für den Anwendungsbereich einzubringen. Diese
soll die Abweichungen vom bisherigen Anwendungsbe-
reich so gering wie möglich halten.

Um es klar zu sagen: Es geht nicht darum, mögliche
Ausweitungen der Richtlinie auf eine größere Anzahl
von Betrieben zu verhindern. Es geht vielmehr darum,
der auch an einigen Stellen vorgesehenen Absenkung
des Schutzniveaus entgegenzutreten. Ausnahmeregelun-
gen zum Anwendungsbereich würden dadurch entbehr-
lich und damit die Möglichkeit für die Mitgliedstaaten,
einzelne Betriebe von bestimmten Pflichten zu befreien.
Es soll weiterhin ein einheitliches Schutzniveau in der
EU gelten, und es soll nicht zu nationalen Alleingängen
und damit zu Wettbewerbsverzerrungen zwischen den
Mitgliedstaaten kommen. Wir wollen gleiche Bedingun-
gen für alle Unternehmen in der EU.

Weiterhin fordern wir die Bundesregierung auf, sich
dafür einzusetzen, dass der Vollzug für Betreiber und
Behörden im Vergleich zu den bisherigen Verfahrenswei-
sen nicht verkompliziert wird.

Ein weiterer Punkt unseres Entschließungsantrags
betrifft die sogenannten delegierten Rechtsakte. Es han-
delt sich dabei um die Befugnis der Kommission, ohne
Beteiligung der europäischen Legislative den im An-
hang I festgelegten Anwendungsbereich der Richtlinie
zu ändern, damit also materielle Regelungen der Richt-
linie zu ändern. Wie der Bundesrat so hält auch die Ko-
alition nichts davon, dass die EU-Kommission den den
Anwendungsbereich bestimmenden Anhang I mittels de-
legierter Rechtsakte ändern kann. Eine solche Stärkung
der Rechte der Exekutive steht nicht im Einklang mit
dem Grundsatz der Gewaltenteilung. Die Mitgliedstaa-
ten müssen aber ausreichend beteiligt werden.

Des Weiteren haben wir in unserem Entschließungs-
antrag Punkte aufgenommen wie die Inspizierungsfris-
ten, die Informationspflichten und den Informationsaus-
tausch.

Die vorgesehene Neuformulierung des Artikels über
Inspektionen würde zu einer deutlichen Mehrbelastung
der Betriebe und der Behörden führen. Da sich das be-
Zu Protokoll
stehende System in Deutschland bewährt hat, soll sich
die Bundesregierung für eine Beibehaltung der Flexibi-
lität hinsichtlich der festgelegten Inspektionsfristen ein-
setzen und so eine Mehrbelastung von Behörden und Be-
trieben vermeiden.

Die Einbeziehung bestimmter sicherheitsrelevanter
Informationen in die Unterrichtung der Öffentlichkeit
sehen wir kritisch. Es gibt bereits ausreichende Informa-
tionspflichten aufgrund der bestehenden Rechtslage.
Die Veröffentlichung darüber hinausgehender sensibler
Informationen ist aus Sicherheitsgesichtspunkten abzu-
lehnen.

Die im Richtlinienvorschlag getroffenen Regelungen
zur Information und Beteiligung der Öffentlichkeit wer-
den bereits durch die Richtlinie über den Zugang der Öf-
fentlichkeit zu Umweltinformationen gefordert und in
Deutschland umgesetzt. Doppelregelungen brauchen
wir nicht.

Die von der Fraktion der SPD im Umweltausschuss
in ihrem Entschließungsantrag vorgelegten Punkte sind
für die Verhandlungen auf EU-Ebene nicht von zentraler
Bedeutung. Die Änderung des Titels des Art. 12 in
„Raumordnung und Flächennutzung“ ist unnötig. Da
der englische Ausdruck der Richtlinie, nämlich „Land
Use Planning“, unverändert ist, ist die deutsche Fas-
sung der Überschrift ausreichend.

Bei Punkt 2 des SPD-Entschließungsantrags geht es
nur scheinbar um eine redaktionelle Änderung, indem
eine Klammer mit Inhalt verschoben wird. Damit ist
aber auch inhaltlich eine Änderung verbunden, weil sich
die Formulierung nunmehr auf die Hauptverkehrswege
beschränken soll. Diese Regelung ist mit Blick auf das
deutsche Recht überflüssig. In § 50 des Bundes-Immis-
sionsschutzgesetzes ist geregelt, dass sämtliche schutz-
würdigen Nutzungen der Gebiete bei raumbedeutsamen
Planungen und Maßnahmen so aufeinander abgestimmt
sein müssen, dass diese Eingriffe so weit wie möglich
vermieden werden. Im deutschen Recht existiert daher
eine Regelung, die über das hinausgeht, was die SPD
fordert.

Im Interesse eines anspruchsvollen Umweltschutzes,
aber auch im Interesse eines für alle Beteiligten unkom-
plizierten Vollzugs bitte ich Sie um Zustimmung zum
Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen.


Ute Vogt (SPD):
Rede ID: ID1713027900

Die Richtlinie zur Beherrschung der Gefahren bei

schweren Unfällen mit gefährlichen Stoffen, auch „Se-
veso-Richtlinie“ genannt, gibt es aus einem guten
Grund. Seveso ist uns eine ständige Mahnung. Im italie-
nischen Seveso kam es zu einem folgenschweren Dioxin-
unfall, zu einem der folgenschwersten Chemieunfälle
überhaupt, eine dramatische Katastrophe für die dort le-
benden Menschen. Um schwere Unfälle mit gefährlichen
Stoffen zu verhüten und die Unfallfolgen für Mensch und
Umwelt zu begrenzen, wurde 1982 die erste Seveso-
Richtlinie erlassen mit dem Ziel, in der ganzen EU ein
hohes Schutzniveau zu gewährleisten.



gegebene Reden

Ute Vogt


(A) (C)



(D)(B)

Mit der Seveso-II-Richtlinie von 1996 wurde die
Richtlinie überarbeitet und wurden wichtige Änderun-
gen und neue Konzepte eingeführt. Der Umweltschutz
bekam stärkeres Gewicht, und der Anwendungsbereich
wurde auf Stoffe ausgedehnt, die als gefährlich für die
Umwelt und insbesondere das Wasser gelten. Aufgenom-
men wurden neue Anforderungen in Bezug auf Sicher-
heitsmanagementsysteme, Notfallpläne und Raumpla-
nung. Verschärft wurden die Bestimmungen für
Inspektionen, und die Unterrichtung der Öffentlichkeit
wurde aufgenommen.

Wir begrüßen den Richtlinienvorschlag für die Se-
veso-III-Richtlinie. Es ist notwendig, die Seveso-II-
Richtlinie an das geänderte Chemikalienrecht anzupas-
sen. Das Schutzniveau für Gesundheit und Umwelt muss
für uns dabei mindestens gleich bleiben oder sich, bes-
ser noch, steigern. Ziel der Überarbeitung ist die Anpas-
sung an das neue Einstufungs- und Kennzeichnungssys-
tem der EU für gefährliche Stoffe in der sogenannten
CLP-Verordnung. Wegen der Unterschiede im bisheri-
gen und neuen Einstufungssystem ist eine Änderung des
bestehenden Anwendungsbereichs erforderlich. Mit der
Überarbeitung sollen strengere Inspektionsnormen ein-
geführt und der Umfang an Informationen, die der Öf-
fentlichkeit bei einem Unfall zur Verfügung stehen, ver-
größert werden. So weit, so gut.

Die Unterrichtung zum Richtlinienvorschlag lässt bei
uns aber große Unzufriedenheit zurück:

Es beginnt leider bereits bei der handwerklichen Um-
setzung, denn schon die Übersetzung ist stellenweise
mangelhaft und führt damit zu inhaltlichen Fehlern. So
heißt es in der englischen Version „Land Use Plan-
ning“, was in der deutschen Übersetzung dann nicht al-
lein „Flächennutzung“ heißen darf, sondern zumindest
„Raumordnung und Flächennutzung“ heißen muss.
Dies ist inhaltlich ein wesentlich anderer Wirkungsbe-
reich bzw. Planungsbereich mit anderen Zuständigkei-
ten.

Falsch wäre es aus unserer Sicht auch, das Sicher-
heitsabstandsgebot zwischen Betrieben und zum Bei-
spiel Wohn- oder auch Erholungsgebieten allein ins pla-
nerische Ermessen zu stellen. Ein angemessener
Abstand muss verbindlich gewahrt werden. Eine Aufwei-
chung, wie sie in Art. 12 Abs. 2 formuliert ist, nämlich
dass der Abstand nur „so weit möglich“ angemessen
sein muss, ist für uns allenfalls in Bezug auf Hauptver-
kehrswege denkbar.

Leider ist aus der vorliegenden Unterrichtung auch
nicht ersichtlich, welche Betriebe zukünftig erfasst wür-
den. Ich fordere daher die Bundesregierung auf, uns
diesbezüglich konkrete Informationen zugänglich zu ma-
chen. Denn nur wenn klar ist, welche Betriebe zukünftig
unter die überarbeitete Richtlinie fallen bzw. welche ge-
gebenenfalls aus ihr herausfallen würden, kann ein
sachgerechtes Votum erfolgen.

Ausgesprochen positiv bewerten wir allerdings das
Ziel, die Öffentlichkeit besser zu informieren. Es ist mir
unverständlich, meine Kolleginnen und Kollegen von
Zu Protokoll
CDU, CSU und FDP, warum Sie eine Ausweitung der
bestehenden Informationspflichten ablehnen.

Ebenso zu begrüßen ist es natürlich auch, wenn eine
engere Koordination der beteiligten Behörden erreicht
werden kann. Aber für einen effektiven Schutz der Bür-
gerinnen und Bürger ist es dann auch nötig, dass alle
beteiligten Behörden ebenfalls das Ziel haben, die Öf-
fentlichkeit gut und umfassend zu informieren. Was als
Grundsatz auf dem Papier vorhanden ist, wird – das
zeigt die Erfahrung – von den ausführenden Behörden
nicht immer geschätzt und in die Praxis umgesetzt.

Es sind also nach dieser Unterrichtung noch viele
Fragen offen. Darüber aber, dass die Überarbeitung der
Seveso-II-Richtlinie inzwischen überfällig ist und auch
zeitnah erfolgen muss, herrscht hier im Haus sicher Ei-
nigkeit.


Dr. Lutz Knopek (FDP):
Rede ID: ID1713028000

Die Namen Bhopal, Seveso, Schweizerhalle, En-

schede, Toulouse und Buncefield haben eines gemein-
sam: Sie stehen für industrielle Unfälle, die viele Men-
schen das Leben gekostet haben und die die Umwelt
geschädigt sowie Kosten in Milliardenhöhe verursacht
haben. Als Reaktion auf den schweren Unfall in Seveso
wurde daher 1982 die erste Richtlinie über die Gefahren
schwerer Unfälle bei bestimmten Industrietätigkeiten,
umgangssprachlich auch „Seveso-Richtlinie“ genannt,
erlassen. Rund 10 000 Betriebe in Europa, davon etwa
2 000 in Deutschland, werden derzeit von der 1996
überarbeiteten Richtlinie erfasst. Dadurch wurden die
Wahrscheinlichkeit schwerer Industrieunfälle und vor
allem deren mögliche Folgen maßgeblich verringert. In-
nerhalb Europas besteht daher große Einigkeit, dass die
Seveso-II-Richtlinie ihren Zweck gut erfüllt.

Dem Bundestag liegt nunmehr der Entwurf zur zwei-
ten Revision dieser Richtlinie vor. Sie ist notwendig ge-
worden, weil die EU-Regelungen zur Einstufung und
Kennzeichnung von gefährlichen Stoffen aufgrund von
Anpassungen an das weltweite GHS-System nicht mehr
mit den Regelungen in der Seveso-Richtlinie korrespon-
dieren. Wegen der Unterschiede im bisherigen und im
neuen Einstufungssystem ist eine Eins-zu-eins-Anpas-
sung des Anwendungsbereichs jedoch nicht möglich.
Daher wird eine Anpassung zwangsläufig zur Folge ha-
ben, dass einige Stoffe aus dem Anwendungsbereich der
Richtlinie herausfallen, während andere neu hinzukom-
men.

Da sich die Regelungen bewährt haben, liegt das In-
teresse der FDP-Fraktion darin, eine Anpassung vorzu-
nehmen, die die Abweichungen vom bestehenden System
möglichst minimiert. Der vorliegende Entwurf wird die-
sem Anspruch leider nicht gerecht. Nach Schätzungen
der chemischen Industrie entstehen dadurch jedoch
Mehrkosten von circa 40 bis 50 Millionen Euro pro Jahr,
ohne das Schutzniveau zu verbessern. Wir haben daher
gemeinsam mit unserem Koalitionspartner einen Ent-
schließungsantrag verabschiedet, der die Bundesregie-
rung auffordert, sich für einen alternativen Anpassungs-
vorschlag einzusetzen. Die Technical Working Group
auf europäischer Ebene, die den Richtlinienvorschlag



gegebene Reden

Dr. Lutz Knopek


(A) (C)



(D)(B)

vorbereitet hat, hat in ihrem Bericht aufgezeigt, dass es
möglich ist, eine Anpassung vorzunehmen, die das be-
stehende Schutzniveau weitestgehend unverändert lässt.
Es geht uns also nicht darum, einseitig Verschärfungen
zu verhindern, sondern auch der in einigen Teilen vorge-
sehenen Absenkung des Schutzniveaus entgegenzutre-
ten.

Der zweite wesentliche Punkt, den wir in unserem
Entschließungsantrag aufgegriffen haben, ist der Zu-
gang der Öffentlichkeit zu sicherheitsrelevanten Infor-
mationen. Wir sind der Auffassung, dass die bestehen-
den Informationspflichten ausreichend sind. Der
Bundesrat hat zudem zu bedenken gegeben, dass eine
Ausweitung des öffentliche Zugangs zu sicherheitsrele-
vanten Informationen die Gefahr berge, dass diese für
gezielte Anschläge auf Chemieanlagen genutzt werden
könnten. Da sich die bestehenden Regelungen über viele
Jahre bewährt haben, sehen wir keine Notwendigkeit,
dieses Risiko einzugehen. Wir haben daher die Anregun-
gen des Bundesrates aufgegriffen und sprechen uns ge-
gen eine solche Ausweitung der Informationspflichten
aus.

Insgesamt lässt sich feststellen, dass die bestehende
Seveso-II-Richtlinie ihren Zweck außerordentlich gut er-
füllt hat und dass die jetzt erforderlich gewordene An-
passung sich daher auf das wirklich zwingend Notwen-
dige beschränken sollte. Die schwarz-gelbe Koalition ist
sich in diesem Punkt mit der Bundesregierung vollkom-
men einig, und wir sind zuversichtlich, dass die derzeit
andauernden Verhandlungen auf europäischer Ebene zu
einem guten Ergebnis kommen werden.


Ralph Lenkert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1713028100

Die Seveso-II-Richtlinie hat sich bewährt. Wie der

Name Seveso es ausdrückt, soll die Richtlinie vor schwe-
ren Unfällen mit Chemikalien schützen. Niemand weiß,
wie viele Tote und Verletzte durch Unfälle mit gefährli-
chen Stoffen konkret mit dieser Richtlinie vermieden
werden konnten. Jedoch steht fest, dass Zusammen-
hänge von Schulungen und Sorgfalt im Umgang mit ge-
fährlichen Stoffen mit der Anzahl der Unfälle bestehen.
Der beste Unfallschutz ist Vorsicht und vor allem eine
Kenntnis der Gefahren.

Deshalb wäre eine weltweite Vereinheitlichung der
Gefahrenkennzeichnung von Stoffen eigentlich zu begrü-
ßen. Doch die jetzigen Piktogramme nach der CLP-
Richtlinie über die Kennzeichnungen gefährlicher Stoffe
erschließen sich oft nur den Eingeweihten. Diese Richt-
line opfert eine klar erkenn- und bewertbare Kennzeich-
nung gefährlicher Chemikalien einer teils verharmlo-
senden Vereinheitlichung.

So werden beispielsweise Gefahren für die Gesund-
heit durch das Brustbild einer Person mit angedeuteter
Lunge dargestellt und mit den Worten „Gefahr“ und
„Achtung“ ergänzt. Ob die Substanz im Verdacht steht,
Krebs zu erzeugen, wie Zigaretten, oder sehr giftig ist,
wie Quecksilber, lässt sich nicht unterscheiden. Das Er-
kennen der Warnung vor der Ätzwirkung von Flüssigkei-
ten erfordert vom unbedarften Betrachter viel Fantasie,
und ob eine Flüssigkeit leichtentzündlich oder nur
Zu Protokoll
brennbar ist, erfährt der Betrachter ebenfalls nicht. So
ist fehlerhaftes oder leichtsinniges Verhalten vorpro-
grammiert.

Positiv für die Linke sind die in der EU-Vorlage aus-
geweiteten Informationsrechte für EU-Bürger. Das
Recht der Umweltverbände und unabhängigen Fach-
leute, die im Rahmen der Richtlinie erhobenen Daten
und an die EU übermittelten Informationen einzusehen,
bringt mehr Transparenz und erhöht die Sicherheit für
uns alle. Aber gerade diese Transparenz wollen CDU
und FDP mit ihrer Art der Umsetzung der EU-Richtlinie
aushebeln, genauso wie die Koalition optimalen Ver-
braucherschutz durch höhere nationale Schutzniveaus
mit der Begründung „das benachteiligt unseren Stand-
ort“ verhindert. Die Koalition will den Schutz der Ver-
braucher und Beschäftigten über Anpassung nach unten
auf ein möglichst niedriges, kostenneutrales Level sen-
ken. Die Gewinne aus dieser Absenkung werden die
Chemiekonzerne einfahren. Das Leid bleibt bei den un-
nötig Verletzten und die Kosten für die Behandlung un-
nötiger Opfer trägt die Gesellschaft. Leider spielen
Union und FDP auch in diesem Bereich das Spiel: Ge-
winne privat, Verluste dem Staat.

Die Linke teilt die Befürchtung von Fachleuten, dass
die Liste der überwachungspflichtigen Stoffe zu kurz ist
und dass die dort festgelegten Mengenschwellen zur
Überwachung zu großzügig angesetzt sind. Dass sogar
gesundheitsgefährdende Stoffe aus der Überwachung
herausfallen, passt ins Bild der die Menschen ignorie-
renden, aber die Industrie streichelnden Koalitionspoli-
tik.

Wir haben Seveso und die anderen Orte schwerer
Chemieunfälle nicht vergessen, die Toten, die Kranken
und die Menschen, die Hab und Gut verloren. All dies
geschah durch die Gier nach mehr Profiten und die
Ignoranz oder Aufhebung von strengen Regeln für die
Industrie unter dem Deckmantel von Standortsicherung,
Wettbewerbsfähigkeit und Entbürokratisierung.

Im Interesse der Menschen muss die Linke diesen
Vorschlag ablehnen.


Dorothea Steiner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1713028200

Derzeit wird die sogenannte Seveso-II-Richtlinie aus

dem Jahr 1996 überarbeitet. Ziel der Richtlinie ist es,
schwere Unfälle mit gefährlichen Stoffen zu verhindern
und Unfallfolgen für Mensch und Umwelt zu begrenzen.
Industrieanlagen, die der Seveso-Richtlinie unterliegen,
also mit gefährlichen Stoffen in erheblichen Mengen
umgehen, müssen zusätzliche Sicherheitsauflagen ein-
halten. Außerdem bestehen verschärfte Informations-
pflichten, vor allem bei Unfällen mit gefährlichen Che-
mikalien.

Ziel der Überarbeitung der EU-Richtlinie ist es, die
Informationsflüsse über die gefährlichen Chemikalien
zu verbessern. Außerdem war dringend eine Anpassung
der Liste der gefährlichen Stoffe an das UN-System zur
Einstufung gefährlicher Stoffe notwendig, um zu welt-
weit einheitlichen Listen zu kommen.



gegebene Reden





Dorothea Steiner


(A) (C)



(D)(B)

Die Europäische Kommission hat einen Vorschlag
zur neuen Seveso-III-Richtlinie vorgelegt, der viele gute
Ansatzpunkte enthält. So werden zum Beispiel Verbesse-
rungen bei der Bürgerinformation und Bürgerbeteili-
gung beim Umgang mit gefährlichen Stoffen im neuen
Richtlinienentwurf vorgenommen. Die Ausweitung der
Informations- und Berichtspflichten ist zu begrüßen, um
die Menschen im Umfeld solcher Anlagen, die gefährli-
che Stoffe verwenden, besser zu informieren – vor allem,
wenn Unfälle auftreten.

Sorge bereitet uns, dass im jetzigen Entwurf die Ent-
scheidung, welche Stoffe in welchen Mengen auf die Lis-
ten gefährlicher Stoffe gesetzt werden, zukünftig ohne
Gesetzgebungsverfahren abgeändert werden könnte.
Wenn dieses dazu führt, dass beliebig Stoffe von der
Liste gestrichen werden, wäre dies sehr bedenklich. Eine
Ausweitung der Liste gefährlicher Stoffe wäre für uns je-
doch denkbar, zum Beispiel hinsichtlich kanzerogener
Stoffe, die gentoxisch wirken, oder großer Mengen Koh-
lendioxid, wie es zukünftig in CCS-Anlagen vorkommen
könnte.

Der Antrag der Regierungsfraktionen zielt darauf ab,
die Verbesserungen hinsichtlich der Informationspflich-
ten beim Umgang mit gefährlichen Stoffen gegenüber
der Öffentlichkeit zu verhindern. Die öffentlichen Infor-
mationen sollen den Anwohnerinnen und Anwohnern
dazu dienen, Art und Ausmaß von Störfällen zu erken-
nen. Wir sprechen hier schließlich von schlimmen und
schlimmsten Unfällen, die im Umgang mit gefährlichen
Chemikalien immer wieder passieren, und zwar welt-
weit.

Mit ihrem Antrag fordern die Koalitionsfraktionen
von der Bundesregierung, die Interessen der Industrie
höher zu werten als die berechtigten Informationsinte-
ressen der betroffenen und besorgten Menschen vor Ort.
Dies ist ganz klare Klientelpolitik.

Im Umweltausschuss zeigte sich, dass insbesondere
den Abgeordneten der FDP die Interessen der Chemie-
industrie wichtiger sind als die berechtigten Sorgen der
Menschen im Umfeld von Anlagen, die gefährliche
Stoffe produzieren oder verarbeiten. Die Redebeiträge
übernahmen wortwörtlich die Forderungen der Chemie-
industrie, wie wir sie auch der Presse entnehmen kön-
nen.

Die Grünen unterstützen die von der Kommission
vorgeschlagenen Verbesserungen bei der Bürgerinfor-
mation und Bürgerbeteiligung beim Umgang mit gefähr-
lichen Stoffen im neuen Richtlinienentwurf ausdrück-
lich. Wir sehen eher die Notwendigkeit, die Liste der
gefährlichen Stoffe zu erweitern und über ihren Einsatz
größtmögliche Transparenz herzustellen. Wir wollen,
dass Deutschland und die Europäische Union auf die-
sem Weg weitergehen.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1713028300

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für

Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5891, in
Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzuneh-
men. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ge-
genstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh-
lung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen
die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Unter-
stützung der Fachkräftegewinnung im Bund
und zur Änderung weiterer dienstrechtlicher
Vorschriften

– Drucksache 17/7142 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO


Armin Schuster (CDU):
Rede ID: ID1713028400

Mit dem von der Bundesregierung eingebrachten Ge-

setz zur Unterstützung der Fachkräftegewinnung im
Bund und zur Änderung weiterer dienstrechtlicher Vor-
schriften halten wir unser Versprechen aus der Koali-
tionsvereinbarung und steigern die Wettbewerbsfähig-
keit des Bundes gegenüber anderen Dienstherren und
der Wirtschaft. Bundesverwaltung und Bundeswehr be-
nötigen für die Erfüllung ihrer vielfältigen und an-
spruchsvollen Aufgaben gut ausgebildetes und zum Teil
hochspezialisiertes Personal. Wir haben im Wettbewerb
mit der Privatwirtschaft damit sicher noch nicht ganz
Augenhöhe erreicht. Aber auf dieser langen Leiter sind
wir bereits durch flexiblere Arbeitszeiten für ältere Be-
schäftigte im Bundesbesoldungs- und -versorgungsan-
passungsgesetz im vergangenen Jahr einige Sprossen
vorangekommen. Und mit dem vorliegenden Gesetzent-
wurf gelingen uns wieder wesentliche Fortschritte, um
die Attraktivität einiger Berufsbilder im öffentlichen
Dienst zu steigern. Die Kernregelungen sind unter ande-
rem der Personalgewinnungszuschlag, die Gewährung
einer Ausgleichszahlung bei Versetzung in den Bundes-
dienst, die Verbesserung der Vergütung von IT-Fach-
kräften oder des ärztlichen Bereitschaftsdienstes der
Bundeswehr sowie die Anerkennung von Kinderbetreu-
ungs- und Pflegezeiten.

Bis 2025 wird die Zahl der erwerbsfähigen Mitbürge-
rinnen und Mitbürger um etwa 6,7 Millionen abnehmen.
Diese Entwicklung werden auch die Ministerien und Be-
hörden zu spüren bekommen. Schon heute ist ein Groß-
teil der Beschäftigten dort Mitte 50 oder älter. Deshalb
agiert die Regierungskoalition und setzt den kontinuier-
lichen Prozess einer verbesserten Fachkräftegewinnung
konsequent fort.

Wie sehr der Schuh von allen Seiten drückt, zeigt sich
alleine an den vielfältigen Initiativen der Wirtschaft,
zum Beispiel der Aktion „MINT- Zukunft schaffen“ von
BDI und BDA oder dem Netzwerkprojekt „Fachkräfte-
gewinnung“ der einzelnen Industrie- und Handelskam-
mern. Im Mai 2011 waren auf dem freien Markt mehr als
150 000 Stellen für Hochqualifizierte in den Bereichen
Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Tech-
nik, kurz „MINT“, unbesetzt. 43 Prozent der Unterneh-

Armin Schuster (Weil am Rhein)



(A) (C)



(D)(B)

men erwarten Probleme bei der künftigen Fachkräfte-
suche. BDI-Präsident Professor Dr.-Ing. Hans-Peter
Keitel sagte schon im Dezember letzten Jahres, dass
durch bloßes Aufmachen der deutschen Grenzen die
Fachleute im MINT-Sektor keineswegs Schlange stün-
den. Auch Staatssekretär Gerd Hoofe vom Bundesminis-
terium für Arbeit und Soziales teilt die Sorge, da sich
nicht die Frage stellt, ob wir die Fachkräfte wollen, son-
dern ob die Fachkräfte zu uns kommen wollen. Kurz ge-
sagt: Die Arbeitgeber bewerben sich künftig bei den
Fachkräften und nicht mehr umgekehrt. Genau hier setzt
unser Gesetzentwurf zur Unterstützung der Fachkräfte-
gewinnung an.

Lassen Sie mich auf die eingangs schon erwähnten
nächsten Sprossen näher eingehen:

Mit dem Instrument des Personalgewinnungszu-
schlags soll es Bundesbehörden künftig ermöglicht wer-
den, mit finanziellen Anreizen auf Personalengpässe
systematisch zu reagieren. Gezielt sollen dazu Fach-
kräfte, zum Beispiel Ärztinnen und Ärzte bei der Bundes-
wehr oder IT-Fachkräfte bei der Polizei, gewonnen wer-
den. Ob und wie dieser Zuschlag seinen Einsatz findet,
liegt im Ermessen der Personalstellen. Er ersetzt und er-
weitert die bisherigen Sonderzuschläge und kann bis zu
20 Prozent des Grundgehaltes betragen; für A 13 sind
das zum Beispiel 690 Euro pro Monat. Der Personal-
gewinnungszuschlag kann für höchstens 48 Monate ent-
weder als Monatsbetrag oder als Einmalzahlung ge-
währt werden. Eine einmalige Verlängerung wird
möglich sein. Den Bundesbehörden wird hier eine fle-
xible und bedarfsgerechte Ausgestaltung des Zuschlags
ermöglicht. Die Besoldungsausgaben eines Ressorts für
diesen Zweck sollen von 0,1 Prozent auf 0,3 Prozent er-
höht werden. Dies entspricht insgesamt 22 Millionen
Euro.

Ebenso werden wir Besoldungsverluste beim Wechsel
in den Bundesdienst ausgleichen. Landes- und Kommu-
nalbeamte erleiden bei ihrem Wechsel oft Einkommens-
einbußen, zum Beispiel ein Rechtspfleger aus Baden-
Württemberg, der zum Bundesamt für Justiz nach Bonn
wechselt.

Die Einstiegsbedingungen für IT-Fachkräfte im geho-
benen Dienst verbessern wir. Künftig können IT-Fach-
kräfte auch im Eingangsamt A 10 eingestellt werden.

Daneben werden wir die Vergütung der Sanitätsoffi-
ziere in den Bundeswehrkrankenhäusern verbessern und
der im zivilen Gesundheitssystem angleichen. Beispiels-
weise werden die ärztlichen Bereitschaftsdienste deut-
licher berücksichtigt.

Auch die Polizeizulage in der Bundesfinanzverwal-
tung wird durch dieses Gesetz neu geordnet. Die Ab-
grenzungsschwierigkeiten beim Zoll im Bereich der voll-
zugspolizeilichen Aufgaben werden beseitigt, und das
Bundesministerium für Finanzen entscheidet über die
zulagenberechtigten Bereiche künftig selbst.

Zugleich werden wir eine Verpflichtungsprämie für
die polizeiliche Auslandsverwendung einführen. Mit die-
ser Prämie sollen Vergütungsunterschiede bei 6-Mo-
nats-Diensten im Rahmen von bilateralen Projekten und
Zu Protokoll
EU-Projekten beseitigt werden. Lassen Sie mich an die-
ser Stelle einfügen, dass bei Besuchen verantwortlicher
Politiker zum Beispiel bei den in Afghanistan eingesetz-
ten Polizisten diese ungerechtfertigte Situation noch-
mals eindringlich verdeutlicht wurde und wir hierauf
jetzt konsequent reagieren und das Problem beseitigen.

Ebenso werden wir den alten §147 Abs. 2 des Bundes-
beamtengesetzes in das neue Dienstrecht überleiten:
Damit können nun auch Beamtinnen und Beamte, die
vor dem 12. Februar 2009 in ein Beamtenverhältnis auf
Probe berufen wurden, bereits nach drei Dienstjahren
auf Lebenszeit verbeamtet werden.

Und schließlich verbessern wir die Regelungen zu
Kinderbetreuungs- und Pflegezeiten. Das am schnells-
ten zu mobilisierende Arbeitskraftpotenzial in unserer
Gesellschaft liegt bei den Frauen, insbesondere bei
Frauen mit Kindern. Der vorliegende Gesetzentwurf
wird diesem Umstand in besonderem Maße Rechnung
tragen: Zukünftig werden Kinderbetreuungs- und Pfle-
gezeiten bis zu drei Jahren wie berufliche Erfahrungs-
zeiten voll anerkannt. Die Bundesverwaltung ist bei der
Thematik der Gleichstellung der Frauen und familien-
freundlicher Arbeitgeber sicher schon heute wettbe-
werbsfähig. Mit diesem Angebot wollen wir unsere Stär-
ken stärken.

Die Steigerung der Attraktivität des Bundes als he-
rausragender Arbeitgeber wird mit diesem Gesetzes-
schritt wieder ein gutes Stück vorangebracht. Das Ende
der Leiter ist aber noch lange nicht erreicht. Nach Aus-
bildung und Studium ist eine Entscheidung für einen
staatlichen Arbeitgeber, im Gegensatz zur Wirtschaft,
meist eine Lebensentscheidung. In einem arbeitnehmer-
freundlichen Markt mit steigendem Mangel an Fach-
kräften in allen Branchen und Sektoren wird das Argu-
ment der Arbeitsplatzsicherheit im öffentlichen Dienst
aber zunehmend schwächer. Hier muss der Bund sich
nicht nur mit internationalen Konzernen und ausländi-
schen Universitäten sowie Forschungseinrichtungen,
sondern auch mit Ländern und Kommunen messen las-
sen. Insofern gilt es für uns, weiter am Ball zu bleiben
und den Menschen interessante Modelle zum Einstieg in
die öffentliche Verwaltung zu bieten. Unser Berufsbilder
sind bereits anspruchsvoll und attraktiv; an verbesser-
ten gesetzlichen Rahmenbedingungen werden wir
gleichwohl konsequent weiterarbeiten. Ich gehe nicht zu
weit, wenn ich Ihnen schon heute ankündige, dass wir
bereits die nächsten Sprossen unserer Leiter konstruie-
ren.

Für heute freuen wir uns zunächst einmal über diesen
Gesetzentwurf der Regierung und stimmen deshalb mit
Überzeugung zu.


Michael Hartmann (SPD):
Rede ID: ID1713028500

Es geschieht nicht allzu oft, dass die Vorschläge die-

ser Regierung und dieses Innenministeriums nicht mit
scharfer Kritik zu belegen sind. Das gilt leider ganz be-
sonders, wenn es um den Umgang mit den Bundesbeam-
tinnen und Bundesbeamten geht. Doch heute ist dies
ausnahmsweise einmal anders. Denn offensichtlich wird
mit dem nun vorliegenden Gesetzentwurf zur Fachkräf-



gegebene Reden

Michael Hartmann (Wackernheim)



(A) (C)



(D)(B)

tegewinnung und zur Änderung weiterer dienstrechtli-
cher Vorschriften ein überfälliger Schritt vollzogen. Wir
wollen uns daher nicht verweigern, wenn einmal mehr
als nur Lippenbekenntnisse zum Berufsbeamtentum von
der Koalition zu vernehmen sind.

Die Regelungen verweisen auf ein drängendes Pro-
blem: In Zeiten des demografischen Umbruchs beginnt
die Jagd nach Fachkräften auf dem Arbeitsmarkt. Oft-
mals kann der öffentliche Dienst dabei nicht mithalten.
Denn die Bezahlstrukturen hier lassen es für junge Men-
schen oftmals nicht attraktiv erscheinen, Bundesbeamter
oder Bundesbeamtin zu werden. Sie denken dabei zu
kurz, lassen sich vom schnellen Geld verführen, ohne an
die nach wie vor vorhandene Sicherheit im öffentlichen
Dienst und die auch ansonsten langfristig bestehenden
Vorteile einer Tätigkeit dort zu denken. Allerdings ist es
zum Beispiel dem jungen Absolventen eines Informatik-
studiengangs nicht zu verdenken, dass er sich sofort
nach seinem Examen für die private Wirtschaft entschei-
det, wenn ihm dort von Anfang an Traumgehälter win-
ken. Die Nachteile werden für ihn vielleicht erst später
erkennbar.

Wie dem auch sei: Unser Land benötigt mehr denn je
gut ausgebildete Menschen, die ihre Zukunft im öffentli-
chen Dienst sehen, beispielsweise um unsere Polizei auf
der Höhe der Zeit zu halten, wichtige Entwicklungen in
der Datensicherheit voranzutreiben oder bei der Bun-
deswehr dauerhaft zu dienen. Deshalb ist es auch aus
unserer Sicht gut und richtig, nunmehr einen ersten
Schritt zu gehen, um Anreize zu schaffen, beispielsweise
durch Zuschläge bei der Personalgewinnung oder ein
verbessertes Eingangsamt für IT-Fachkräfte. Denn so
wird das enge Korsett der Bezahlstrukturen des öffentli-
chen Dienstes wenigstens ein bisschen geweitet.

Allerdings nutzt dies alles nichts, wenn wir unseren
Berufsbeamtinnen und -beamten nicht mehr echte Wert-
schätzung entgegenbringen. Allzu oft neigen auch viele
Mitglieder dieses Hohen Hauses leider dazu, lieber
Stammtischparolen zu bedienen. Es deutet sich ja nun-
mehr an, dass die Koalition auf unseren Druck hin den
Vertrauensbruch beim Weihnachtsgeld endlich rückgän-
gig macht. Ein halbherziger Akt, mit dem die damalige
Schandtat nicht getilgt wird. Sie haben darin Ihr wahres
beamten- und leistungsfeindliches Gesicht gezeigt. Nur
der Protest, nicht die Einsicht lässt sie jetzt umschwen-
ken. Dieses Hü und Hott ist für sich genommen schon
unerträglich und wird Ihnen nicht bekommen!

Wer A sagt, der muss auch B sagen. Denn jede Attrak-
tivitätssteigerung bleibt auf halber Strecke stehen, wenn
die Mitnahmefähigkeit der Versorgungsbezüge nicht in
zeitgemäßer Weise erfolgt. Am 12. November 2008 hat-
ten Sie schon gemeinsam mit uns die Bundesregierung
aufgefordert, eine gesetzliche Regelung der Mitnahme-
fähigkeit noch in der 16. Wahlperiode zu ermöglichen.
Danach hat Sie der Mut wieder verlassen – oder hatten
Sie es nicht ernst gemeint? Wir werden Ihnen Gelegen-
heit geben, sich wieder eines Besseren zu besinnen.

Es ist keineswegs so, dass es nicht genügend junge
Menschen gäbe, die dem deutschen Staat als Beamtin-
nen und Beamte dienen wollen. Sie erkennen sehr ge-
Zu Protokoll
nau, wie großartig ein solcher Dienst sein kann. Doch
Borniertheit und Ignoranz schlagen ihnen entgegen und
verschrecken sie. Es ist an uns, die Türen für jene Inte-
ressierten und Engagierten weit aufzumachen. Seien sie
dabei!


Dr. Stefan Ruppert (FDP):
Rede ID: ID1713028600

Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf legt die Koali-

tion ein nachhaltiges Lösungskonzept für das Problem
der Rekrutierung gut ausgebildeten Fachpersonals im
öffentlichen Dienst vor. Wie Arbeitgeber aus der Wirt-
schaft und anderen Bereichen müssen Bundesverwal-
tung und Bundeswehr konkurrenzfähig bleiben, um qua-
lifizierte Nachwuchskräfte für sich gewinnen zu können.
Der Gesetzentwurf setzt sich zum Ziel, mit Instrumenten
wie dem vorgesehenen Personalgewinnungszuschlag die
Wettbewerbsfähigkeit des Bundes in dieser Hinsicht zu
verbessern. Damit setzen wir einen weiteren Punkt aus
dem Koalitionsvertrag um, den die FDP federführend
mitgestaltet hat.

Der Entwurf konzentriert sich im Wesentlichen auf
zwei Schwerpunkte. Zum einen werden bei den Ergän-
zungen im Bundesbesoldungsgesetz Elemente, die sich
auf alle Bereiche beziehen, mit solchen kombiniert, die
einzelne Berufsgruppen besserstellen. Zum anderen
werden Änderungen vorgenommen, die in der Beamten-
versorgung aufgrund der Rechtsprechung und aus Pra-
xiserwägungen schon lange notwendig sind.

Zu den wichtigsten, für alle Berufsgruppen relevan-
ten Punkten gehört der bereits oben genannte Personal-
gewinnungszuschlag (§ 43 BBesG). Der Zuschlag gibt
den Bundesbehörden ein konkretes Mittel in die Hand,
auf Personalengpässe flexibel reagieren zu können.
Falls für eine Stelle innerhalb eines angemessenen Zeit-
raums kein geeigneter Bewerber gefunden werden kann,
ermöglicht der Zuschlag der jeweiligen Bundesbehörde,
das Anfangsgehalt einer Nachwuchskraft um maximal
20 Prozent pro Monat zu erhöhen. Befristet wird diese
Subventionierung auf vier Jahre mit der Möglichkeit ei-
ner einmaligen Verlängerung um denselben Zeitraum
auf höchstens acht Jahre. Der Zuschlag kann entweder
als Einmalzahlung oder als monatlicher Betrag geleistet
werden. Das Instrument kann in geringerem Umfang
auch als Anreiz für schon vorhandene Fachkräfte ge-
nutzt werden, zwischen oder innerhalb von Bundesbe-
hörden die Stelle zu wechseln. Da jedes Ressort maximal
0,3 Prozent seiner Personalausgaben für den Zuschlag
ausgeben darf, wird dafür gesorgt, dass der Aufwand
den Nutzen nicht übersteigt.

Darüber hinaus existiert schon lange das Problem,
dass der Wechsel von Landesbehörden in die Bundesver-
waltung sich finanziell negativ für Beschäftige auswir-
ken kann. Deshalb ist die Bereitschaft zu einer Verset-
zung aus den Ländern in die Bundesverwaltung oft nicht
sehr groß. Um an dieser Stelle einen Anreiz zu schaffen,
wird eine Zulage eingeführt, die das Absinken des Besol-
dungsniveaus ausgleicht, das bei einer Versetzung even-
tuell anfallen kann (§ 19 b BBesG). Diese Zulage sichert
das Gehaltsniveau zum Zeitpunkt des Übertritts zum



gegebene Reden

Dr. Stefan Ruppert


(A) (C)



(D)(B)

Bund und wird bei Gehaltserhöhungen dann schritt-
weise abgebaut.

Außerdem werden Kinderbetreuungs- und Pflegezei-
ten nach dem Gesetzentwurf in Zukunft als Erfahrungs-
zeiten angerechnet (§ 28 Abs. 2 BBesG). Jungen Eltern
soll dadurch der Eintritt in den Bundesdienst erleichtert
werden. Diese Maßnahme ist Ausdruck einer familien-
freundlichen Politik, der wir als FDP uns besonders ver-
pflichtet fühlen.

In Bezug auf Änderungen, die auf die Besserstellung
einzelner Berufsgruppen zielen, sind besonders die Sa-
nitätsoffiziere und IT-Fachleute herauszugreifen. So
wird die Vergütung von Rufbereitschaft und Bereit-
schaftsdienst der im zivilen Gesundheitssystem angenä-
hert (§ 50 b BBesG), und das Besoldungsniveau von IT-
Fachkräften im gehobenen Dienst wird von A 9 auf A 10
angehoben (§ 23 BBesG).

Sonstige Änderungen, deren Notwendigkeit sich so-
wohl aus der Rechtsprechung als auch aus der Praxis
ergeben, sollen nach dem Gesetzesentwurf unter ande-
rem zu polizeilichen Auslandsverwendungen in besonde-
ren Einzelfällen sowie im Bundesbeamtengesetz vorge-
nommen werden.

So wird mit der Einführung einer Prämie für Solda-
ten, die sich für sechs Monate verpflichten, versucht,
wieder mehr Soldaten zu einer Langzeitverpflichtung zu
bewegen, die für wichtige Einsätze dringend nötig ist

(§ 57 BBesG).


Eine Änderung im Bundesbeamtengesetz wird ermög-
lichen, ein Beamtenverhältnis auf Probe schon vor Voll-
endung des 27. Lebensjahres in ein Beamtenverhältnis
auf Lebenszeit umzuwandeln (§ 147 Abs. 2 BBG). Dies
wird der Fall sein, soweit seit der Berufung mindestens
drei Jahre vergangen sind. Bisher galt für Beamte, die
vor dem 12. Februar 2009 als Beamte auf Probe berufen
wurden, ein Mindestalter von 27 Jahren für die Um-
wandlung in ein Beamtenverhältnis auf Lebenszeit.

Das Fachkräftegewinnungsgesetz setzt bei vielen
Brennpunkten in der Beamtenbesoldung an. Es bietet
dringend nötige Anreize, um den öffentlichen Dienst at-
traktiver zu gestalten. Es wird jedoch auch deutlich,
dass der Gesetzentwurf hauptsächlich punktuelle Lösun-
gen bei der Fachkräftegewinnung und im Dienstrecht
bietet, indem er eine Vielzahl an Themengebieten auf-
greift. Es lässt sich beispielsweise die Frage stellen, wa-
rum neben IT-Fachkräften und Sanitätsoffizieren nicht
auch wichtige Berufsgruppen wie die dringend benötig-
ten Ingenieure bessergestellt werden.

Mit diesen Maßnahmen allein wird es nicht gelingen,
die Verknappung von Fachpersonal in den Griff zu be-
kommen. Ein Lösungsansatz, der weiterhin Aufmerk-
samkeit verdient, ist das Aufbrechen des öffentlichen
Dienstes als vom übrigen Arbeitsmarkt abgetrennter Be-
reich. Eine größere Flexibilität zu erreichen, ist hier
mehr als wünschenswert. Solange für Bundesbeamte die
Mitnahme von Versorgungsanwartschaften nicht mög-
lich ist, wird es eine größere Flexibilität an dieser Stelle
nicht geben. Hier gilt es anzusetzen und unter Umstän-
Zu Protokoll
den den öffentlichen Dienst auch deshalb als Arbeitge-
ber interessanter zu machen.


Frank Tempel (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1713028700

Die Politik dieser Bundesregierung, aber auch ihrer

Vorgänger hat zu massiven Problemen beim Fachkräfte-
besatz in der Bundesverwaltung geführt. Personalab-
bau, Überalterung und unzureichende Ausbildungszah-
len bzw. Neueinstellungen kennzeichnen die Situation.
Daraus resultiert eine immer geringere Personaldecke.
Die einzelnen Beschäftigten sind deshalb einem immer
höheren Aufgabenzuwachs ausgesetzt. Übergroße Auf-
gabenverdichtung führt über kurz oder lang zu Frustra-
tion, innerer Kündigung und – wie jeder den Statistiken
entnehmen kann – zu erhöhter Zahl von Krankschrei-
bungen. Womit wird dieser Missklang musikalisch be-
gleitet? Mit längeren Arbeitszeiten und Einkommenskür-
zungen für die Beamtinnen und Beamten! So gilt die
Weihnachtsgeldkürzung von 2005 – entgegen allen Ab-
sprachen mit den Gewerkschaften – bis 2015! Ich sage
an die Adresse der Bundesregierung: Die Attraktivität
des Arbeitgebers Bundesverwaltung hat stark gelitten.
Aber auch Ihnen ist nicht entgangen, dass qualifiziertes
Personal selbst in abgespeckten Verwaltungen vonnöten
ist. Und auch Ihnen ist klar, dass sich der Bund ange-
sichts der gesunkenen Arbeitslosigkeit mit Länderver-
waltungen und der Wirtschaft in einer verschärften Kon-
kurrenz um qualifizierte Fachkräfte befindet.

In Ihrem Gesetzentwurf sind verschiedene Maßnah-
men vorgesehen, um die Attraktivität des Dienstes in der
Bundesverwaltung zu steigern. Diese Maßnahmen sind
sinnvoll, gehen aber nicht weit genug.

Ihrem Vorhaben, Ausgleichszahlungen für Beamtin-
nen und Beamte zu ermöglichen, die in die Bundesver-
waltung wechseln, stimmen wir zu. Bei der von der Lin-
ken geforderten Wiedereinführung eines einheitlichen
Besoldungsrechts wären solche Zahlungen allerdings
hinfällig.

Die Einführung eines Personalgewinnungszuschla-
ges stellt einen besonderen Anreiz für den Dienst in der
Bundesverwaltung dar. Der Personalgewinnungszu-
schlag ist allerdings nicht ruhegehaltfähig. Warum?

Mit der Anerkennung von Kinderbetreuungs- und
Pflegezeiten soll der Dienst in der Bundesverwaltung
insbesondere für Eltern attraktiver gemacht werden.
Das ist ein wichtiges Zeichen zur Vereinbarkeit von Be-
ruf und Familie.

Auch die Erleichterung der Anerkennung außerhalb
hauptberuflicher Zeiten erworbener Zusatzqualifikatio-
nen ist ein Schritt in die richtige Richtung. Fraglich ist
aber, wieso Sie diese Regelung nicht generalisieren,
sondern auf Einzelfälle beschränken. Warum Sie will-
kürlich nur drei Jahre an Zusatzqualifikationen aner-
kennen wollen, Regelstudienzeiten und durchschnittli-
che Promotionszeiten aber nicht, ist ebenso unklar.

In der Praxis der Gesetzesanwendung muss ein
großes Augenmerk auf die Transparenz bei der Gewäh-
rung der Zuschläge gelegt werden. Die Erfahrungen bei
den Leistungszuschlägen zeigen, dass unklare und in-



gegebene Reden

Frank Tempel


(A) (C)



(D)(B)

transparente Verfahren zu Günstlingswirtschaft führen
können. Nur mit einer starken Einbindung der Mitarbei-
terschaft und der Personalvertretungen werden Trans-
parenz und Akzeptanz hergestellt werden können.

Wir stimmen Ihrem Gesetzentwurf zu, wohl wissend,
dass die Schritte in die richtige Richtung nicht die not-
wendigen Verbesserungen bei der Gehaltsstruktur erset-
zen, beispielweise die Rücknahme der Weihnachtsgeld-
kürzung. Weder die aktuellen Personalprobleme noch
die viel gravierenderen demografischen Probleme in der
Bundesverwaltung werden Sie mit solchen Detailmaß-
nahmen in den Griff bekommen. Der dbb beamtenbund
und tarifunion weist darauf hin, dass in den nächsten
zehn Jahren der öffentliche Dienst aufgrund des demo-
grafischen Wandels fast 20 Prozent der Beschäftigten
verliert. Ohne grundsätzliche Änderungen in der Ein-
stellungspolitik wird das nicht lösbar sein. Die Linke
fordert deshalb eine umfassende Ausbildungs- und Ein-
stellungsoffensive.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Meine Fraktion und ich nehmen grundsätzlich posi-
tiv zur Kenntnis, dass sich die Bundesregierung Gedan-
ken über die Attraktivität und Zukunftsfähigkeit des
öffentlichen Dienstes des Bundes macht. Die mit dem
vorliegenden Gesetzentwurf eingebrachten Maßnah-
men – insbesondere die verbesserte Berücksichtigung
von Kinderbetreuungs- und Pflegezeiten, ein flexibleres
Personalgewinnungsinstrument oder auch die Förde-
rung der Durchlässigkeit zwischen Landes- und Bundes-
dienst durch Vermeidung von Besoldungsdiskrepanzen –
sind alle begrüßenswert. Bei Licht besehen aber muss es
der Einstieg in eine weitaus umfassendere Reform des
Dienstrechts mit dem Ziel sein, die Attraktivität des öf-
fentlichen Dienstes insgesamt zu steigern.

Studien belegen, dass bei Weitem nicht nur monetäre
Faktoren die Attraktivität und die Entscheidung für ei-
nen Arbeitsplatz ausmachen. Insofern ist der Stellung-
nahme des Deutschen Gewerkschaftsbundes zu dem
heute vorliegenden Gesetzentwurf ausdrücklich zuzu-
stimmen, wenn er das Fehlen nichtmonetärer Anreize
bemängelt.

Nach unserer Vorstellung geht es um weit mehr. Es
geht um Fragen des Betriebsklimas im öffentlichen
Dienst, das Zulassen flacherer Hierarchien, breiterer
Entscheidungskompetenzen auch im gehobenen Dienst,
teamorientierte Ansätze und Mitspracherechte, um nur
einige Ansatzpunkte zu nennen, mit denen der öffent-
liche Dienst im Wettbewerb um kluge Köpfe punkten
muss. Diese sind maßgebliche Motivationsfaktoren und
sollten bei dem Bemühen um einen attraktiveren öffent-
lichen Dienst eine weitaus bedeutendere Rolle spielen,
als dies heute der Fall ist. Dies muss zwingend auch vor
dem Hintergrund gesehen werden, dass der Bund einem
immer schmaler zulaufenden finanziellen Korridor ent-
gegensieht und in zunehmenden Maße dem schon längst
globalen Fachkräftemarkt der Konkurrenz aus der Wirt-
schaft ausgesetzt ist.
Zu Protokoll
Positiv zu werten sind die Bemühungen um eine ver-
besserte Personalgewinnung durch den Bund. Der Bund
muss auch langfristig konkurrenzfähig bleiben, der Ein-
satz für öffentliche Belange auf Bundesebene muss at-
traktiv bleiben bzw. attraktiver werden. Dies gilt für den
Bund besonders, da man als Beamtin oder Beamter im
Bundesdienst in bestimmten Verwendungsbereichen eine
erhöhte persönliche bzw. familiäre Flexibilität aufwei-
sen muss. Inwiefern die neue Vorschrift des § 43 BBesG
hier ein Erfolg sein wird, bleibt abzuwarten und ist den
Ergebnissen einer hoffentlich aussagekräftigen Evaluie-
rung durch das Bundesinnenministerium vorbehalten.
Wie man es bei der Evaluierung von Gesetzen jedenfalls
nicht machen sollte, hat das Ministerium – wenn auch in
anderem Zusammenhang – bei den sogenannten Anti-
Terror-Gesetzen ja eindrücklich und wiederholt gezeigt.

Der Schwerpunkt bei der Schaffung von Anreizen für
die Gewinnung von IT-Personal ist richtig, wird aber
vermutlich angesichts der immensen Herausforderung
durch die umfassende Digitalisierung auch bei den Poli-
zeien und Sicherheitsbehörden und den Herausforderun-
gen, die in diesem Bereich vor uns liegen, schon in aller-
nächster Zukunft durch weitere Maßnahmen verstärkt
werden müssen. Der jüngste Vorfall um den Hack von
Rechnern der Bundespolizei sowie des Zolls gibt inso-
weit Anlass zur Sorge; denn nach allem, was wir heute
hierüber wissen, hat auch eine mangelnde Kompetenz
der Verantwortlichen zu den massiven Sicherheitslücken
beigetragen.

Flexibilität ist das Stichwort für den Bereich der Aus-
landsverwendung von Polizistinnen und Polizisten. Die
Neuregelung des § 57 BBesG ist grundsätzlich willkom-
men, es muss in diesem Bereich allerdings noch einiges
mehr passieren, damit die Attraktivität einer – auch
mehrfachen – Auslandsverwendung steigt. Im Kern
muss es darum gehen, Polizeibeamtinnen und -beamte
grundsätzlich zu motivieren, ihren beruflichen und per-
sönlichen Erfahrungsschatz durch eine Auslandsver-
wendung zu erweitern. Es reicht nicht aus, lediglich Un-
terschiede zwischen der Vergütung für Einsätze in
bilateralen und solchen im Rahmen von EU- oder VN-
Missionen zu beseitigen. Der internationale Einsatz für
Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Sicherheit darf
für die Vita/Karriere von Polizistinnen und Polizisten
insgesamt keinen Nachteil bedeuten.

Die nachbessernde Regelung des § 19 b BBesG ist im
Lichte einer verbesserten Durchlässigkeit vom Landes-
in den Bundesdienst zu begrüßen. Sie wäre allerdings
vermeidbar gewesen, wenn man sich nicht vor einigen
Jahren in einer anderen Regierungskoalition auf die
Übertragung der Besoldungshoheit für Landes- und
Kommunalbeamtinnen und -beamte auf die Länder und
damit auf die Schaffung eines besoldungsrechtlichen
Flickenteppichs verständigt hätte.

Meine Fraktion erkennt die Bemühungen der Bundes-
regierung an, die Attraktivität und Zukunftsfähigkeit des
öffentlichen Dienstes des Bundes zu verbessern. Das ist
ein richtiger Schritt. Zweifellos gehen einzelne Maßnah-
men des uns heute vorliegenden Gesetzentwurfs in die
richtige Richtung und werden von mir und meiner Frak-



gegebene Reden





Dr. Konstantin von Notz


(A) (C)



(D)(B)

tion daher ausdrücklich begrüßt. Dennoch reichen die
von Ihnen angestoßene Reformschritte bei Weitem nicht
aus.

Meine Fraktion und ich werden uns im Zuge der an-
stehenden Verhandlungen in den Fachausschüssen für
eine Reform des Dienstrechts einsetzen, die sowohl im
Sinne der Bediensteten als auch im Sinne der Steigerung
der Attraktivität der Beschäftigung im öffentlichen
Dienst insgesamt ist. Der vorliegende Gesetzentwurf
bietet hierfür eine erste Diskussionsgrundlage.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1713028800

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-

wurfs auf Drucksache 17/7142 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie
damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so
beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 19 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe (17. Ausschuss) zu dem Antrag
der Abgeordneten Katrin Werner, Jan van Aken,
Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion DIE LINKE

Menschenrechte und Friedensprozess in Sri
Lanka fördern

– Drucksachen 17/2417, 17/4699 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Jürgen Klimke
Christoph Strässer
Serkan Tören
Katrin Werner
Volker Beck (Köln)



Jürgen Klimke (CDU):
Rede ID: ID1713028900

Die Situation in Sri Lanka beschäftigt uns im Deut-

schen Bundestag bereits zum wiederholten Mal und dies
aus gutem Grund:

War es zunächst der anhaltende Bürgerkrieg, der seit
1983 zwischen den tamilischen Liberation Tigers of Ta-
mil Eelam (LTTE) und der singhalesischen Regierung
tobte und der im Jahr 2009 mit einem Sieg der Regie-
rung endete, so ging es danach vor allem um die Lage
der tamilischen Bevölkerung und ganz besonders um die
Binnenvertriebenen, die anfangs in einer Zahl von meh-
reren hunderttausend Menschen in Lagern interniert
waren und deren humanitäre Situation prekär war und
für die dort verbliebenen Menschen wohl auch immer
noch ist. Diese Unterbringung in Lagern ist eine völker-
rechtswidrige Maßnahme, weshalb seit 2010 zunehmend
der Druck der internationalen Gesellschaft auf die Frei-
lassung der Menschen gestiegen ist.

Ich selbst beschäftige mich intensiv mit der Situation
vor Ort und bin mehrfach selbst in Sri Lanka gewesen,
zuletzt im März dieses Jahres. Mein Eindruck ist dabei
insgesamt zweischneidig:
Einerseits ist nicht zu leugnen, dass es auch weiterhin
massive Menschenrechtsverletzungen gibt, andererseits
ist schon seit längerer Zeit eine positive Entwicklung
festzustellen, einen Willen der Regierung, die unerträg-
lichsten Verletzungen der Menschenrechte in Sri Lanka
abzustellen. Letztes augenfälliges Indiz dafür ist die Auf-
hebung der Notstandsgesetze durch die Regierung Ende
August dieses Jahres, nachdem diese für fast 30 Jahre in
Kraft waren. Dadurch wurde der Polizei zumindest das
Recht entzogen, umfassende Maßnahmen gegen die Ta-
milen in Form von Wohnungsdurchsuchungen und will-
kürlichen Verhaftungen zu vollziehen. Allerdings besteht
bei fast allen Beobachtern Einigkeit, dass die Anstren-
gungen noch erhöht werden müssen und eine wirkliche
politische Integration der tamilischen Bevölkerungsmin-
derheit nicht die allerhöchste Priorität genießt.

Positive Entwicklungen sind – neben dem Ende der
Notstandsgesetze – in verschiedenen Bereichen sichtbar.
Besondere Anerkennung verdienen Infrastrukturpro-
jekte im Norden des Landes sowie die bereits weit voran-
geschrittene Auflösung der Flüchtlingslager. Von den
Binnenvertriebenen sind von den ursprünglich 300 000
Lagerinsassen nur noch maximal 20 000 übrig, in den
Sonderlagern, in denen die mutmaßlichen LTTE-Kämp-
fer gefangen waren, sind inzwischen 6 500 Menschen
freigelassen worden, die restlichen 5 500 Personen sol-
len bis auf 800 Gefangene ebenfalls alle befreit werden.
Den Übrigen soll der Prozess vor Gericht gemacht wer-
den.

Die Auflösung der Lager kann jedoch nur ein erster
Schritt zur Verbesserung der Gesamtsituation sein.
Langfristig muss die politische Integration der tamili-
schen Bevölkerung weiter vorangetrieben werden. Hier
muss insbesondere die Regierung grundlegende Ände-
rungen verinnerlichen und vor allem auch durchsetzen.
Dabei geht es in erster Linie darum, den Friedenspro-
zess mit der tamilischen Bevölkerungsminderheit voran-
zubringen. Denn die Beendigung des Bürgerkriegs
durch die sri-lankischen Regierungstruppen hatte leider
bisher noch nicht die Versöhnung mit den tamilischen
Rebellen zur Folge. Vielmehr besteht die Gefahr einer
langfristigen Benachteiligung der Tamilen insgesamt.
Deshalb muss es nun zur obersten Priorität des Regie-
rungshandelns werden, die beiden Lager wieder mitei-
nander in Einklang zu bringen. Nur so wird es für Sri
Lanka möglich sein, endgültig mit der langen Zeit des
Bürgerkriegs abzuschließen und einen neuen demokrati-
schen und friedlichen Staat zu errichten.

Von großer Hilfe bei der Versöhnung zwischen Tami-
len und Singhalesen ist die Kirche, welche im Norden
und Süden des Landes vertreten ist. Allerdings muss
auch die Regierung aktiv an der Integration der Minder-
heit arbeiten. Ein erster Schritt wäre die stärkere Aner-
kennung der tamilischen Sprache und die Verfassung
der gemeinsamen Hymne der Tamilen und Singhalesen
in eben dieser Sprache zur Förderung der Gleichberech-
tigung der ethnischen Gruppen. Wir fordern im Rahmen
dieser Anregungen auch das Zugeständnis von ausführ-
lichen Minderheitenrechten für die bisher diskriminier-
ten Tamilen.

Jürgen Klimke


(A) (C)



(D)(B)

Die sri-lankische Regierung muss sich neben der In-
tegration der tamilischen Bevölkerung auch noch stär-
ker für den tatsächlichen Erhalt grundsätzlicher Men-
schenrechte einsetzen, um international wieder mehr
Anerkennung zu finden. Zurzeit werden in Sri Lanka
Menschenrechte noch immer massiv missachtet. Es wird
ein organisiertes „Verschwindenlassen“ von Menschen
betrieben und die Todesstrafe bleibt weiterhin legal.

Ausgesprochen problematisch ist auch die Lage der
Witwen der ehemaligen LTTE-Kämpfer im Norden und
Osten des Landes. Diese leiden nicht nur unter grundle-
genden Problemen wie dem Mangel an einer Unterkunft,
sondern auch unter gesellschaftlicher Ausgrenzung. Da-
rüber hinaus ist es ihnen aufgrund ihrer katastrophalen
Situation unmöglich, ihr Leben in die eigenen Hände zu
nehmen. In ihrer Verzweiflung sehen viele nur einen
Ausweg in der Prostitution; die Selbstmordrate unter ih-
nen ist offenbar ebenfalls besorgniserregend hoch. Um
die Lage dieser Witwen nachhaltig zu verbessern ist da-
her offensichtlich auch die Unterstützung durch psycho-
logische Hilfe gefragt. Dies wird von der Regierung al-
lerdings bislang nicht akzeptiert. Bisher hat die
Regierung auch keinerlei Vorkehrungen bezüglich der
finanziellen Unterstützung der Witwen getroffen. Ledig-
lich Nichtregierungsorganisationen und Kirchen helfen.

Ein weiteres Thema ist die unzureichende Gesund-
heitssituation in den tamilischen Gebieten. Das ist sie
nicht nur, weil die Versorgung vor Ort insgesamt noch
verbesserungswürdig wäre, sondern vor allem auch,
weil die zuständigen Ärzte oft nicht die Sprache der Be-
völkerung sprechen können. Sie werden von der Regie-
rung in die tamilischen Gebiete geschickt, ohne vorher
deren Sprache zu erlernen.

Neben diesen Fragen der wirtschaftlichen und sozia-
len Rechte gibt es aber auch noch erhebliche Defizite bei
Freiheits- und Bürgerrechten:

Menschenrechtsverteidiger und Journalisten, welche
die Situation kritisch beobachten und bewerten, werden
zunehmend bedroht und unter Druck gesetzt. Die Ver-
brechen der Kriegsparteien bleiben straflos und die Re-
gierung lehnt unabhängige Untersuchungen dieser Ver-
brechen durch UN-Experten ab. Wir wissen, dass zum
Beispiel die Bedingungen in den „Sonderlagern“, in de-
nen die mutmaßlichen LTTE-Kämpfer inhaftiert sind,
katastrophal und unmenschlich sind und dringend hu-
manitäre Hilfe vonnöten wäre. Es ist uns aber schlicht-
weg unmöglich, diese Hilfe zu leisten, da die sri-lanki-
sche Regierung internationalen Hilfsorganisationen wie
zum Beispiel dem Roten Kreuz den Zutritt noch immer
verweigert.

Vonseiten der UN und Deutschlands werden diese
Menschenrechtsverletzungen scharf verurteilt. Ich for-
dere deshalb ausdrücklich, dass Menschenrechtsbeob-
achter und Journalisten endlich Zugang zu den tamili-
schen Gebieten und den Lagern bekommen, damit die
internationale Gemeinschaft sich ein genaues Bild der
Lage machen und den Betroffenen in einem zweiten
Schritt dann auch endlich humanitäre Hilfe zukommen
lassen kann. Wir appellieren daher an die sri-lankische
Regierung, in Zukunft eng mit den Vereinten Nationen
Zu Protokoll
zusammenzuarbeiten sowie die Genfer Konvention ein-
zuhalten.

Bis zur konkreten Umsetzung dieser Forderungen
wird Deutschland die Aufstockung seiner Entwicklungs-
hilfe für Sri Lanka weiterhin nicht vornehmen und Sri
Lanka den Status als vollständiges Partnerland nicht zu-
erkennen. Neben dieser direkten Sanktion von deutscher
Seite hat auch die Europäische Union die Handelsvor-
teile für Sri Lanka suspendiert, um die Einhaltung der
Menschenrechte einzufordern. Ich unterstütze diese
Maßnahmen, bilden sie doch einen Hebel, um Verbesse-
rungen herbeizuführen. Vielleicht haben sie sogar Ein-
fluss auf die jetzt erfolgte Aufhebung der Notstandsge-
setze gehabt.

Trotzdem ist es wichtig, die Arbeit mit Sri Lanka auf
anderer Ebene fortzusetzen. In diesem Zusammenhang
möchte ich ausdrücklich die intensive Arbeit der deut-
schen Botschaft in Colombo loben und auf das Engage-
ment der Helmut-Kohl-Stiftung für ein deutsches Kran-
kenhaus verweisen, das wahrscheinlich von der KfW
gefördert wird.

Uns ist bewusst, dass neben diesen unmittelbaren
Maßnahmen zur Verbesserung der humanitären Situa-
tion auch die Verbesserung der wirtschaftlichen Lage
von großer Wichtigkeit ist. Nicht zu unterschätzen ist da-
bei der Einfluss Chinas und Indiens, zweier Länder, die
unter anderem bei der Finanzierung von Behausungen
eine große Rolle spielen. China unterstützt darüber hi-
naus auch die Infrastruktur des Landes.

Äußerst relevant ist dabei neben der schnellstmögli-
chen Schaffung von Erwerbsmöglichkeiten auch die Be-
reitstellung von Wohnraum. Die Errichtung von dauer-
haften Behausungen ist insbesondere angesichts der
anstehenden Monsunzeit von elementarer Bedeutung.
Bislang sind dies neben der schlechten Versorgungslage
der rückgesiedelten Bevölkerung die größten Probleme.
Darüber hinaus bekommen Familien, die keinen Land-
besitz nachweisen können, bislang von der Regierung
nur wenig Unterstützung. Die Frage des Landbesitzes
muss daher umgehend geklärt werden, damit die ver-
bliebenen Menschen aus den Lagern entlassen und sich
nach der langen Zeit des Bürgerkriegs endlich wieder
eine Existenz aufbauen können. Eine mögliche Maß-
nahme wäre auch hier die Einführung von Mikrokredi-
ten, da der Regierung und der Bevölkerung das Geld
fehlt, die Situation der Menschen nachhaltig zu verbes-
sern.

Eine Schlüsselrolle könnte bei der wirtschaftlichen
Entwicklung auch der Tourismus einnehmen. Sri Lanka
ist eine bekannte Tourismusdestination, die unter ande-
rem auch bei deutschen Urlaubern sehr beliebt ist. Der
Tourismus bietet die Möglichkeit, mit relativ geringen
Voraussetzungen und überschaubaren Investitionen
nachhaltig Arbeitsplätze zu schaffen und im Umfeld des
Tourismus Wertschöpfungsketten aufzubauen. Bisher
wächst der Tourismus jedoch vor allem im Osten und so
gut wie gar nicht im von vorwiegend von Tamilen be-
wohnten Norden, obwohl es auch hier gute Vorausset-
zungen für eine touristische Entwicklung gibt. Die
Chancen werden auch von Vertretern der Tamilen selbst



gegebene Reden

Jürgen Klimke


(A) (C)



(D)(B)

durchaus gesehen und die Hoffnung in den Tourismus ist
auch hier nicht gering. Ein solcher Prozess der touristi-
schen Erschließung muss vor allem auch die sri-lanki-
sche Verwaltung unterstützt werden. Das vorhandene
Personal muss unter anderem durch Sprachtrainings
besser geschult werden und zur besseren Bewältigung
der Aufgaben enger mit der Regierung zusammenarbei-
ten. Aber auch deutsche Reiseunternehmen und Exper-
ten könnten Sri Lanka gerade auf dem Gebiet der Ent-
wicklung eines nachhaltigen Tourismus unterstützen.

Dem Antrag der Linken, der die Grundlage der heuti-
gen Debatte bildet, der aber bereits vor mehr als einem
Jahr eingebracht wurde, können wir als CDU/CSU-
Fraktion nicht zustimmen, da er aus unserer Sicht veral-
tet ist. Die Bundesregierung hat bereits zu den Men-
schenrechtsverletzungen in Sri Lanka Stellung genom-
men und fordert ebenfalls die Untersuchung der
menschenrechtlichen und demokratischen Verfehlungen
der Regierung durch eine unabhängige Kommission. Al-
lerdings muss vor allem an einem Konzept über die zu-
künftige Zusammenarbeit mit der Regierung gearbeitet
werden, die im Interesse der Menschen vor Ort ist. Da-
bei ist der richtige Umgang mit der tamilischen Minder-
heit besonders wichtig.

Diese Fragen müssen geklärt werden, damit Sri
Lanka nicht weiter in die Arme totalitärer Staaten wie
Iran oder Myanmar getrieben wird. Letztendlich gilt es,
die Situation in Sri Lanka nachhaltig zu verbessern und
die Regierung im Prozess der Demokratisierung und In-
tegration der tamilischen Minderheit zu unterstützen,
damit in Zukunft die Menschenrechte besser durchsetz-
bar und die humanitäre Lage mit internationalen Be-
stimmungen vereinbar ist. Unser mittelfristiges Ziel ist
es deshalb auch, nachdem die Regierung sich aktiv da-
für eingesetzt hat, die derzeitigen Menschenrechtsverlet-
zungen vor Ort zu beenden, die deutsche Entwicklungs-
hilfe wieder zu intensivieren und Sri Lanka die
Möglichkeit zu geben, als vollwertiges Partnerland er-
neut anerkannt zu werden.

Wie Sie sehen, ist die Situation in Sri Lanka nicht
ganz einfach, sondern es gibt zwei Seiten der Medaille:
Einerseits muss anerkannt werden, dass durch die Been-
digung des lange währenden Bürgerkriegs und die fast
abgeschlossene Auflösung der Flüchtlings- und Gefan-
genenlager deutliche Fortschritte zu verzeichnen sind,
andererseits hat das Land in der Tat noch viele Aufga-
ben zu bewältigen. So müssen vor allem die Menschen-
rechte und die Integration der tamilischen Bevölkerung
einen höheren Rang auf der Prioritätenliste der sri-lan-
kischen Regierung erhalten. Die Aufhebung der Not-
standsgesetze begrüßen wir in diesem Zusammenhang
ausdrücklich. Jetzt gilt es, diese Aufhebung zum Anlass
zu nehmen, an einer tatsächlichen Versöhnung sowie der
Integration der tamilischen Minderheit zu arbeiten. Ein
weiterer Schritt ist dann die wirtschaftliche Entwicklung
und Schaffung von Arbeitsplätzen vor allem in den tami-
lischen Gebieten.

Diesen Prozess wird Deutschland an der Seite der
UNO weiterhin sowohl unterstützend als auch kritisch
begleiten.
Zu Protokoll

Angelika Graf (SPD):
Rede ID: ID1713029000

Es ist gut, dass Jagath Dias, der seit 2009 als stellver-

tretender Botschafter der sri-lankischen Vertretung für
Deutschland, die Schweiz und den Vatikan in Berlin no-
tifiziert war, nun Mitte September abgezogen wurde. Der
Verdienst der deutschen Bundesregierung ist dies aller-
dings nicht: Bereits 2009 bei der Notifizierung des Di-
plomaten wurde von dem European Center for Constitu-
tional and Human Rights e. V., ECCHR, ein Dossier
veröffentlicht, in dem Jagath Dias beschuldigt wurde,
als Generalmajor der sri-lankischen Armee in der
Schlussoffensive gegen die Liberation Tigers of Tamil
Eelam, LTTE/Tamil Tigers, an einem Angriff beteiligt
gewesen zu sein, bei welchem nach Berichten der Ver-
einten Nationen 40 000 Zivilisten umgekommen sind.
Über die Gründe des Abzugs durch die sri-lankische Re-
gierung ist allerdings noch nichts bekannt. Da sich nach
Medienberichten weder die sri-lankische Botschaft in
Berlin noch das Generalkonsulat in Genf dazu äußern
wollen, bleibt abzuwarten, was der genaue Anlass ist.
Ich hoffe, dass eine ordentliche Strafermittlung der
Grund war.

Bisher hat mich die sri-lankische Regierung unter
Staatspräsident Mahinda Rajapaksa – das muss ich ehr-
lich sagen – unter menschenrechtlichen Gesichtspunk-
ten selten positiv überrascht: Nach 25 Jahren Bürger-
krieg, der seit 2009 beendet zu sein scheint, stellen wir
immer wieder einen großen Mangel an Menschenrechts-
bewusstsein und demokratischer Entwicklung fest.

So sind die von Amnesty behandelten Fälle des ver-
schwundenen Pattani Razeek, dem Leiter der sri-lanki-
schen Nichtregierungsorganisation Community Trust
Fund, CTF, oder des regimekritischen Journalisten und
Karikaturisten Prageeth Eknaligoda zu nennen. Das
sind nur die prominenten Gesichter der Opfer, die es in
Sri Lanka zu beklagen gilt. Bewaffnete Gruppen, die mit
der Regierung verbündet sind, sind weiterhin aktiv und
begehen Menschenrechtsverletzungen, zu denen das
Verschwindenlassen, Töten, Entführen und Foltern von
Kritikern gehören. Die Sicherheitsorgane sind ebenso
für willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen, Folter
und extralegale Hinrichtungen verantwortlich. Men-
schenrechtsverteidiger und Journalisten werden verfolgt
und bedroht, ihre Meinungs- und Versammlungsfreiheit
und die aller anderen Bürger sind durch die immer noch
geltenden Notstands- und Antiterrorgesetze stark einge-
schränkt.

Die Tamilen werden auch weiterhin ausgegrenzt: Von
den ursprünglich 300 000 binnenvertriebenen Tamilen
befinden sich immer noch circa 20 000 in sogenannten
Flüchtlingslagern. Das Verlassen des Lagers durch die
Betroffenen oder Besuche von internationalen Hilfsor-
ganisationen sind aber noch immer schwierig und nur
unter Kontrolle des Verteidigungsministeriums möglich.
Die Einrichtungen und die Versorgungsmöglichkeiten
sind nach Berichten dieser Organisationen, zum Bei-
spiel des internationalen Roten Kreuzes, noch verbesse-
rungsfähig, und die Regierung beeilt sich nicht gerade,
die ungeklärten Grundbesitzfragen zu klären oder die
Betroffenen in andere Regionen und vernünftige Unter-
künfte umzusiedeln.



gegebene Reden

Angelika Graf (Rosenheim)



(A) (C)



(D)(B)

Zudem sind von den ehemals 9 000 festgehaltenen
mutmaßlichen LTTE-Kämpfern immer noch 1 300 in den
sogenannten Rehabilitationslagern auf Verdacht inter-
niert, ohne dass sie einem ordentlichen Strafverfahren
zugeführt werden. Da internationale Organisationen
hier keinen Zutritt haben, können wir die schlimmen Zu-
stände nur erahnen.

Große Sorgen bereitet mir daher das bisherige Schei-
tern jeglicher Bemühungen der Vereinten Nationen, der
Europäischen Union und der deutschen Bundesregie-
rung, welche die sri-lankische Regierung zu einer unab-
hängigen und systematischen Aufarbeitung der Verbre-
chen während des Bürgerkrieges bewegen wollen. Dabei
wäre dies so dringend geboten, denn die Abwesenheit ei-
nes Bürgerkrieges macht noch keinen Frieden.

Die Tamil Tigers haben jahrzehntelang Zivilisten an-
gegriffen, Kinder und Jugendliche zwangsweise für den
bewaffneten Kampf rekrutiert, Politiker ermordet und in
der Endphase des Konfliktes Zivilisten als menschliche
Schutzschilde benutzt. Aber auch die sri-lankische Re-
gierungsarmee und verbündete bewaffnete Gruppen ha-
ben extralegale Hinrichtungen durchgeführt, gefoltert
und Menschen verschwinden lassen; am Ende des Kon-
flikts haben sie Wohngebiete von Zivilisten beschossen
und deren allgemeine Versorgung in Kampfgebieten fast
vollständig zum Erliegen gebracht. Allein in den letzten
Monaten der Kämpfe sind Zehntausende Zivilisten von
beiden Seiten mit Kalkül benutzt und ermordet worden.
Bis heute ist dafür niemand zur Verantwortung gezogen
worden – Aufklärung und die Haftbarmachung der Ver-
antwortlichen ist daher dringend geboten.

Die aktuelle Angstorganisation durch die Staatsor-
gane mithilfe extralegaler Gewalt und Repression, kom-
biniert mit dem fehlenden Willen zur Aufarbeitung der
Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Mensch-
lichkeit auf beiden Seiten, führt bisher zwar noch nicht
zu einem erneuten Ausbruch des Bürgerkrieges, doch
mehr als einen faulen Frieden haben wir in Sri Lanka
bisher nicht. Ohne ehrliche Aufarbeitung besteht kaum
eine Chance darauf, dass es ein nachhaltiger Frieden
wird. Das wissen wir aus eigener Erfahrung.

Der vorliegende Antrag der Linken thematisiert dies
auch und geht prinzipiell in die richtige Richtung, aller-
dings geht er teilweise von falschen Zahlen aus und ist
veraltet. Ich unterstreiche deshalb die dem Bundestag
vorliegende Entschließung des Europäischen Parlamen-
tes, P7_TA-PROV(2011)0242. Diese bezieht sich auf
den Bericht der von VN-Generalsekretär Ban Ki-moon
eingesetzten Expertengruppe zur Klärung der Frage der
Verantwortlichkeiten für die Kriegsverbrechen. Mit den
darin gemachten Empfehlungen können in Übereinstim-
mung mit der im Mai 2009 abgegebenen Erklärung des
sri-lankischen Präsidenten Rajapaksa und VN-General-
sekretär Ban Ki-moon die Verantwortlichen zur Rechen-
schaft gezogen werden.

Daher mein dringender Apell an die Bundesregie-
rung: Nehmen Sie ihre Verantwortung in Europa wahr
und sprechen Sie über die Notwendigkeit der Aufarbei-
tung und Demokratisierung mit der sri-lankischen Re-
gierung! Vielleicht tut die sri-lankische Regierung mit
Zu Protokoll
dem anfangs zitierten Fall des stellvertretenden Bot-
schafters einen ersten wichtigen Schritt. Also, bitte nut-
zen Sie auch den Wechsel in der Botschaft – hoffentlich
hin zu jemandem, der nicht in diesen blutigen Konflikt
involviert war – zur Chance auf einen neuen konstrukti-
ven Austausch!


Serkan Tören (FDP):
Rede ID: ID1713029100

Wie aus der Beschlussempfehlung ersichtlich, lehnen

wir als FDP-Bundestagsfraktion den Antrag „Men-
schenrechte und Friedensprozess in Sri Lanka fördern“
der Fraktion Die Linke ab.

In der Tat ist die menschenrechtliche Situation in Sri
Lanka nach wie vor höchst unbefriedigend. Wir haben
während der Kriegshandlungen das inhumane Vorgehen
der Regierung und der Armee Sri Lankas sowie die sys-
tematischen Menschenrechtsverletzungen scharf verur-
teilt. Weiterhin sind Tausende Tamilen unter menschen-
unwürdigen Bedingungen in Lagern eingesperrt.
Internationale Beobachter haben keinen Zugang.

Richtigerweise setzt sich die Bundesregierung weiter-
hin mit der Europäischen Union als Ganzes für eine
Verbesserung der Situation ein. Dies betrifft eine Unter-
stützung der Situation in den Lagern sowie einen umfas-
senden Versöhnungsprozess in Sri Lanka insgesamt.

Aus Sicht der FDP-Bundestagsfraktion muss es von
der Regierung in Sri Lanka eine Verbesserung der men-
schenrechtlichen Situation im Land auf verschiedenen
Ebenen geben. So fordern wir von der Regierung in Sri
Lanka die Stärkung der Presse-, Meinungs- und Infor-
mationsfreiheit.

Internationale und nationale Menschenrechtsorgani-
sationen in Sri Lanka sehen sich nach wie vor staatli-
chem Druck ausgesetzt. Der bisher existierende Ausnah-
mezustand gibt den Sicherheitskräften weit gehende
Rechte.

Zwar gibt es Bemühungen der Regierung in Sri
Lanka, Infrastrukturprojekte im Bürgerkriegsgebiet im
Norden des Landes zu errichten. Auch wird die Entlas-
sung des großen Teils der Binnenvertriebenen aus men-
schenrechtswidrigen Lagern vorangebracht. Sorge be-
reiten uns allerdings die schlechte Versorgungslage und
mangelnde Erwerbsmöglichkeiten der rückgesiedelten
Bevölkerung. Die vielfach ungeklärte Frage des Land-
eigentums wird aus unserer Sicht dadurch verschärft,
dass die Armee noch Gebiete als Hochsicherheitszonen
besetzt hält. Eine überzeugende politische Integration
der tamilischen Bevölkerungsminderheit muss oberste
Priorität der Regierung in Sri Lanka sein.

Als FDP unterstützen wir die Arbeit der von UN-Ge-
neralsekretär Ban Ki-Moon ernannten dreiköpfigen in-
ternationalen Expertengruppe, um die Verantwortlich-
keit für Kriegsverbrechen, die während des bewaffneten
Konflikts in Sri Lanka begangen worden sind, zu unter-
suchen. Wir fordern die Regierung von Sri Lanka auf,
dabei eng mit den Vereinten Nationen zusammenzuar-
beiten. Auch unterstützen wir die Forderung der Bun-
desregierung, die Frage der mangelnden Untersuchung
von Menschenrechtsverletzungen durch die sri-lanki-



gegebene Reden

Serkan Tören


(A) (C)



(D)(B)

sche Regierung gemeinsam mit den Partnern der Euro-
päischen Union auf der Tagesordnung des Menschen-
rechtsrates der Vereinten Nationen zu halten.

Als FDP-Bundestagsfraktion halten wir in der Ana-
lyse den Antrag der Linken in vielen Punkten für richtig.
Jedoch sind die vorgeschlagenen Konsequenzen des
Forderungsteils für die FDP zum Teil nicht tragbar. Da-
rüber hinaus werden die im Antrag geforderte Verbesse-
rung der Menschenrechte und der Friedensprozess in
Sri Lanka durch das Handeln der Bundesregierung be-
reits gefördert.

So postuliert die Linke in Forderung 9 die Einrich-
tung eines dauerhaften und transparenten Monitorings
für in Sri Lanka tätige deutsche Unternehmen und ihre
Zulieferbetriebe. Dies soll gelten für die Einhaltung der
dort geltenden Arbeitsgesetzgebung, die Achtung der
Arbeitnehmerrechte sowie die geltenden ILO-Konven-
tionen. Auch sollen Umwelt-, Arbeits- und Sozialstan-
dards entsprechend dem Pakt über die wirtschaftlichen,
sozialen und kulturellen Rechte, UN-Sozialpakt, durch-
gesetzt werden. All dies soll gemäß den Linken dann in
einen entsprechenden Bericht an den Deutschen Bun-
destag gesandt werden.

Die FDP hält dies für überflüssig, da das geforderte
Monitoring bereits durch die jeweiligen Organisationen
erfolgt. So wird zum Beispiel die Einhaltung der ILO-
Normen durch die ILO überwacht. Die progressive Ver-
wirklichung und Umsetzung der WSK-Rechte des UN-
Sozialpaktes werden durch den UN-Ausschuss für wirt-
schaftliche, soziale und kulturelle Rechte, CESCR, kon-
trolliert. Es ist nicht ersichtlich, warum hier auf nationa-
ler Ebene dauerhaft Doppelstrukturen aufgebaut werden
sollen.

In Forderung 11 wird ein genereller Abschiebestopp
für Flüchtlinge aus Sri Lanka gefordert. Eine solche
Forderung hat die FDP zwar im Jahr 2007 noch mitge-
tragen, zwischenzeitlich hat sich die Lage jedoch geän-
dert. Der Bürgerkrieg ist, wie der Antrag korrekt aus-
führt, offiziell beendet worden. Daher ist ein genereller
Abschiebestopp nicht mehr angebracht. Vielmehr ist
eine Einzelfallprüfung vonnöten, um jeweils zu überprü-
fen, ob Menschenrechtsverletzungen tatsächlich vorlie-
gen oder zu befürchten sind.

Ferner engagiert sich das FDP-geführte BMZ in Sri
Lanka im Rahmen einer angepassten Strategie zur Ent-
wicklungszusammenarbeit. Die Vorhaben im Land wer-
den konfliktsensibel gestaltet und auf ausgewiesene
Armutsregionen konzentriert. Die Menschenrechtsdi-
mension in Post-Konfliktregionen wird damit gestärkt.
So ist einer der Themenschwerpunkte der laufenden
deutschen Kooperation die Stärkung von Friedensinitia-
tiven auf verschiedenen Interventionsebenen. Auch för-
dert das BMZ eine Friedenserziehung, den Wiederauf-
bau sowie Good Governance und die nachhaltige
Wirtschaftsentwicklung in Armutsregionen.

Die Förderung der Menschenrechte und des Frie-
densprozesses wird durch das Regierungshandeln der
Bundesregierung folglich bereits vorangetrieben. Aus
Zu Protokoll
den oben genannten Gründen wird daher der Antrag der
Linken von der FDP-Bundestagfraktion abgelehnt.


Katrin Werner (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1713029200

Ich möchte mit etwas Erfreulichem beginnen: Jagath

Dias, Ex-Generalmajor der sri-lankischen Streitkräfte,
dem Kriegsverbrechen vorgeworfen werden, wurde als
Vizebotschafter für Deutschland, die Schweiz und den
Vatikan abberufen. Der Pressemitteilung des ECCHR
vom 22. September 2011 zufolge hat die schweizerische
Bundesanwaltschaft angekündigt, im Fall seiner Wie-
dereinreise ein förmliches Ermittlungsverfahren einzu-
leiten. In Deutschland soll laut ECCHR ein Vorermitt-
lungsverfahren gegen ihn eröffnet worden sein.

Dies sind gute Nachrichten für alle, die sich dafür
eingesetzt haben, dass ein mutmaßlicher Kriegsverbre-
cher bei uns keinen Unterschlupf findet. Ich möchte da-
her an dieser Stelle im Namen der Linksfraktion dem
ECCHR ausdrücklich Dank sagen, dass er mit seinem
umfassenden Dossier einen maßgeblichen Beitrag für
diesen Erfolg geleistet hat!

Für die Bundesregierung bedeutet die Entwicklung
im Fall Dias allerdings eine schallende Ohrfeige. Kolle-
ginnen und Kollegen aus meiner Fraktion wie auch aus
anderen Fraktionen hatten seinerzeit die Bundesregie-
rung gebeten, ihm bis zur Entkräftung der Vorwürfe
keine Akkreditierung und damit diplomatische Immuni-
tät zu gewähren. Es gab zudem genügend kritische
Nachfragen und eindeutige Hinweise aus der tamili-
schen Diaspora und von Menschenrechtsorganisatio-
nen, dass die von Dias befehligte 57. Division in
schwerste Menschenrechtsverletzungen verwickelt ge-
wesen war. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen
wurden während der Schlussoffensive der sri-lankischen
Armee gegen die Rebellen der „Liberation Tigers of Ta-
mil Eelam“ auch circa 40 000 Zivilistinnen und Zivilis-
ten getötet. Dennoch hat die Bundesregierung all dies
ignoriert und damit zumindest indirekt Beihilfe dazu ge-
leistet, dass ein mutmaßlicher Kriegsverbrecher sich in-
ternationaler Strafverfolgung entziehen konnte. Das ist
ein politischer Skandal ersten Ranges!

Als Konsequenz muss zukünftig bereits im Visaverfah-
ren für diplomatisches Botschaftspersonal etwaigen
Vorwürfen internationaler Kriegsverbrechen nachge-
gangen werden. Sofern der Entsendestaat oder interna-
tionale Strafverfolgungsbehörden noch keine Ermittlun-
gen aufgenommen haben, muss die Bundesanwaltschaft
gegebenenfalls auch eigene Vorermittlungen durchfüh-
ren. Nur so lässt sich ein Wiederholungsfall verhindern.

In Sri Lanka selbst herrscht weiterhin ein allgemeines
Klima der Straflosigkeit für Kriegsverbrechen und Men-
schenrechtsverletzungen vor. Die politische Führung
unter Präsident Rajapaksa hat zwar im Bürgerkrieg
militärisch gesiegt, ein echter Friedens- und Versöh-
nungsprozess zwischen Singhalesen und Tamilen hat
aber bislang nicht stattgefunden. Hierfür müssen die un-
mittelbaren wirtschaftlichen und sozialen Lebensgrund-
lagen für die tamilische Bevölkerung in den früheren
Kampfgebieten wiederhergestellt und die Ursachen des
Konflikts beseitigt werden. Dies betrifft den Wiederauf-



gegebene Reden

Katrin Werner


(A) (C)



(D)(B)

bau von zerstörten Häusern und Schulen, die Versor-
gung mit Trinkwasser und Energie, die humanitäre
Minenräumung und die Wiedernutzbarmachung der
landwirtschaftlichen Anbauflächen für die Reisproduk-
tion. Insbesondere verwitwete und alleinerziehende
Frauen, die während des Krieges Männer und Söhne
verloren haben, müssen vor Ausgrenzung und Armut ge-
schützt werden. Die Linke fordert die Bundesregierung
auf, sich in diesem Bereich mit zusätzlichen Entwick-
lungshilfen, personeller und finanzieller Projektunter-
stützung und technischem Know-how stärker zu enga-
gieren. Darüber hinaus sollte sie die Regierung Sri
Lankas auch bei der politischen und gesellschaftlichen
Konfliktlösung unterstützen.

Ohne eine öffentliche Aufarbeitung des Kriegsge-
schehens und die Bestrafung von begangenen Kriegs-
verbrechen ist ein Friedensprozess kaum denkbar. Dies
gilt für Kriegsverbrechen aller Seiten: der Regierung,
der Paramilitärs und der Rebellen. Aus diesem Grund
hält Die Linke an ihrer Aufforderung an die Bundesre-
gierung fest, dass der Druck auf Sri Lanka erhöht wer-
den muss, damit unabhängige internationale Untersu-
chungen stattfinden und die Regierung in Colombo dies
nicht ihr genehmen „Experten“ überlässt.

Ich will an dieser Stelle in aller Klarheit sagen: Die
Linke kritisiert die jahrzehntelange staatliche Unterdrü-
ckungspolitik gegen die tamilischen Bevölkerung in Sri
Lanka. Gleichzeitig war, ist und bleibt Die Linke die
Partei des Völkerrechts und der friedlichen Konfliktlö-
sung. Wie dies schon am Beispiel des Kosovo zu erken-
nen war, wenden wir uns entschieden gegen einseitige
Sezessionen. Diese sind Teil des Problems und nicht der
Lösung. Für die Beilegung von Nationalitätenkonflikten
bietet das Völkerrecht vielfältige und geeignete Mög-
lichkeiten zum Schutz von Minderheiten, wie beispiels-
weise kulturelle und politische Autonomierechte.

Aus unserer Sicht ist im Fall Sri Lankas daher auch
eine Amnestie für einfache Mitglieder und Sympathisan-
ten der Rebellen geboten, um den innergesellschaftli-
chen Aussöhnungsprozess zu unterstützen. Die früheren
Kriegsteilnehmer und Kindersoldaten brauchen zivile
berufliche Perspektiven und nachholende Berufsqualifi-
zierungsmaßnahmen zur Wiedereingliederung in die sri-
lankische Gesellschaft. Die tamilische Bevölkerung be-
nötigt insgesamt einen gleichberechtigten Zugang zu so-
zialen Grunddiensten, vor allem bei Bildung und Ge-
sundheit, bei Berufs- und Karrierechancen auch in der
staatlichen Verwaltung, und einen wirksamen Schutz vor
Diskriminierung insbesondere beim Gebrauch der eige-
nen Sprache.

Die tamilische Diaspora in Deutschland gehört mit
zu den am besten integrierten Migrantengruppen über-
haupt. Zahlreiche Tamilinnen und Tamilen sind beruf-
lich sehr erfolgreich und verfügen über ein hohes
Bildungsbewusstsein. Gleichzeitig bestehen verständli-
cherweise noch häufig enge familiäre Bindungen an das
Herkunftsland. Ich möchte nicht, dass hier lebende Ta-
milinnen und Tamilen sich aus Enttäuschung und Ver-
zweiflung über die Zustände in Sri Lanka politisch radi-
kalisieren. Die Bundesregierung kann hierzu einen
Zu Protokoll
Beitrag leisten, indem sie auf diplomatischer Ebene den
berechtigten Anliegen der tamilischen Bevölkerung Ge-
hör verschafft und eine friedliche Konfliktlösung unter-
stützt. In diesem Sinne sollten Sie unserem Antrag zu-
stimmen.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1713029300

Die rund 37 Jahre währenden bewaffneten Auseinan-

dersetzungen in Sri Lanka zwischen den Liberation
Tigers of Tamil Eelam, LTTE, und der Regierung sind im
Frühjahr 2009 zu einem Ende gekommen. Durch die
Kämpfe starben etwa 100 000 Menschen, darunter laut
Amnesty International mindestens 10 000 Zivilisten, die
während der letzten Monate des Bürgerkriegs, zumeist
durch Artilleriebeschuss der Armee, getötet wurden.
Auch Krankenhäuser, UN-Einrichtungen und Rot-
Kreuz-Schiffe wurden gezielt beschossen. Normalität
herrscht in Sri Lanka nun auch zweieinhalb Jahre nach
dem Krieg noch nicht. Die Presse-, Meinungs- und In-
formationsfreiheit ist stark eingeschränkt. Journalistin-
nen und Journalisten und NGO-Aktivistinnen und -Akti-
visten verschwinden spurlos. Der Ausnahmezustand
wird monatlich durch das sri-lankische Parlament ver-
längert. 3 000 Menschen sind weiterhin aufgrund von
Anti-Terror-Gesetzen ohne Anklage inhaftiert.

Die Untersuchung von Kriegsverbrechen der sri-lan-
kischen Armee durch eine Regierungskommission ist auf
allen Ebenen lückenhaft. Der bereits erschienene Zwi-
schenbericht der Lessons Learnt and Reconciliation
Commission, LLRC, zeigt, dass die Täter weder identifi-
ziert noch zur Verantwortung gezogen werden. Fünf der
acht LLRC-Mitglieder waren ehemalige Regierungsmit-
glieder, die die Regierung vor Vorwürfen wie Kriegsver-
brechen verteidigten. Eine unabhängige Aufarbeitung
der dramatischen Ereignisse im Norden des Landes lässt
die Regierung von Präsident Mahinda Rajapaksa aber
nicht zu.

Die Vereinten Nationen setzen sich weiter für eine in-
ternationale Untersuchung der Menschenrechtsverlet-
zungen während der Schlussoffensive Sri Lankas gegen
die Tamil Tigers ein. Generalsekretär Ban Ki-moon
überwies vor wenigen Tagen einen im April dieses Jah-
res veröffentlichten Expertenbericht dem Menschen-
rechtsrat sowie dem Hochkommissariat für Menschen-
rechte. Der Bericht macht Colombo für den Tod
Tausender Zivilisten verantwortlich. Demnach griffen
Regierungstruppen vorsätzlich Zivilisten an und verhin-
derten den Transport von Lebensmitteln und Medika-
menten. Den tamilischen Rebellen wirft der Bericht vor,
Zivilisten als Schutzschilde missbraucht und Kinder als
Soldaten rekrutiert zu haben.

Die Aufgabe der Bundesregierung und ihrer Außen-
politik ist es an dieser Stelle, ihren politischen und diplo-
matischen Einfluss zu nutzen. Denn um diesen Bericht
nun tatsächlich in offizielle Debatten der Vereinten Na-
tionen einzuführen, wird einige Überzeugungsarbeit
notwendig sein. Auch in der 18. Sitzung des UN-Men-
schenrechtsrates hatte die Bundesregierung leider nur
vornehme Zurückhaltung geübt, als es notwendig gewe-
sen wäre, die Hochkommissarin Navi Pillay in ihrer Kri-



gegebene Reden





Volker Beck (Köln)



(A) (C)



(D)(B)

tik an der sri-lankischen Regierung zu stützen. Für ihre
kritischen Äußerungen zu der Untersuchung der Kriegs-
verbrechen und der Menschenrechtslage hatte sie von
sri-lankischer Seite hart einstecken müssen. Und leider
hatte es die Bundesregierung versäumt, ihr in diesem
Moment den Rücken zu stärken.

Die gegenwärtige Regierung Sri Lankas scheint nicht
zu realisieren, dass ein militärischer Sieg allein nicht
zum dauerhaften Frieden führen wird. Eine politische
Lösung setzt einen Prozess unter Beteiligung aller Be-
völkerungsgruppen voraus. Dies setzt ebenfalls voraus,
eine Entwicklungsstrategie mit dem Ziel zu erarbeiten,
die großen materiellen Differenzen zwischen dem Süden
des Landes und dem Norden bzw. Osten des Landes zu
überwinden. Ohne eine nachhaltige Verbesserung der
Lebensbedingungen, den angemessenen Zugang zu Bil-
dung und Gesundheit sowie verbesserten Leistungen im
Wasser- und Energiebereich wird keine dauerhaft fried-
liche Entwicklung zu erreichen sein. Für die Bundesre-
gierung sowie die Europäische Union ergibt sich daraus
die Pflicht, die diplomatischen Beziehungen an Leitli-
nien zu knüpfen, die verbindliche und überprüfbare
Menschenrechtskriterien aufweisen.

Die Kernforderung des vorliegenden Antrags der
Linksfraktion, den internationalen Druck auf die Regie-
rung Sri Lankas mit dem Ziel zu verstärken, dass die
Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen, die
von der Regierung, der Armee, den paramilitärischen
Gruppen und Rebellen begangen wurden, von einer un-
abhängigen Kommission untersucht und die Verantwort-
lichen zur Rechenschaft gezogen werden, ist daher abso-
lut richtig und unterstützenswert. Wir teilen die
inhaltliche Analyse des Antrages, die weitgehend mit
unserer eigenen früheren Einschätzung übereinstimmt,
die wir in unserem Antrag, dem Antrag der Fraktion von
Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Menschenrechte
in Sri Lanka stärken“ auf Drucksachennummer 17/124,
zum Ausdruck gebracht haben. Wir werden dem Antrag
der Linken deshalb zustimmen.

Jagath Dias, Generalmajor der sri-lankischen Streit-
kräfte während der schrecklichen Schlussoffensive, war
anschließend bis September 2011 sri-lankischer Vizebot-
schafter für Deutschland, die Schweiz und den Vatikan.
Im Januar 2011 hatte das European Center for Constitu-
tional and Human Rights, ECCHR, dem Auswärtigen
Amt ein umfassendes Dossier vorgelegt, in dem der seit
langem bekannte Vorwurf, Jagath Dias habe eine Viel-
zahl von Kriegsverbrechen zu verantworten, minutiös
dargelegt wurde. Die Fraktion von Bündnis 90/Die Grü-
nen hatte kurz darauf in einer Kleinen Anfrage auf
Drucksachennummer 17/6005 nach der Haltung der
Bundesregierung zu diesen Vorwürfen gefragt. Heraus
kam in der Antwort auf Frage 9 zumindest, dass der
Bundesregierung die Vorwürfe aus dem ECCHR-Dos-
sier bereits zum Zeitpunkt der Akkreditierung Jagath
Dias’ bekannt waren. Wie es dann zu einer Akkreditie-
rung kommen konnte, ist mir schleierhaft. Die Bundesre-
gierung hätte diesen Mann nie als Diplomaten in
Deutschland akkreditieren dürfen, ihm aber zumindest
rasch nach Bekanntwerden solcher Vorwürfe das Diplo-
matenvisum entziehen müssen. Dass sie dies nicht getan
hat, war ein politisch und menschenrechtlich miserables
Signal an die sri-lankische Regierung.

Mittlerweile hat die schweizerische Bundesanwalt-
schaft angekündigt, bei Wiedereinreise von Jagath Dias
ein förmliches Ermittlungsverfahren gegen ihn wegen
der Begehung von Kriegsverbrechen zu eröffnen. In
Deutschland wurde bereits ein Vorermittlungsverfahren
zu möglichen Völkerstraftaten während der Endphase
des sri-lankischen Bürgerkrieges eröffnet.

Bis zu seiner Abberufung als Vizebotschafter genoss
Jagath Dias diplomatische Immunität vor einer Straf-
verfolgung, die er durch Ausstellung eines Diplomaten-
visums in Deutschland erhalten hatte. Ich fordere daher
von der Bundesregierung, Vorwürfen von internationa-
len Verbrechen zukünftig bereits im Verfahren der Visa-
erteilung für diplomatisches Botschaftspersonal ernst-
haft nachzugehen und dabei notfalls auch eigene
Ermittlungen anzustellen. Der Fall Dias, in dem durch
die Ausstellung eines diplomatischen Visums eine Straf-
verfolgung verhindert wurde, darf sich nicht wiederho-
len.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1713029400

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für

Menschenrechte und Humanitäre Hilfe empfiehlt in sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4699, den
Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/2417
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Be-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen gegen die Stimmen der Linken und der
Grünen bei Enthaltung der SPD angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Neunten
Gesetzes zur Änderung des Bundesvertriebe-
nengesetzes

– Drucksache 17/5515 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-
schusses (4. Ausschuss)


– Drucksache 17/7178 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Stephan Mayer (Altötting)

Daniela Kolbe (Leipzig)

Serkan Tören
Ulla Jelpke
Memet Kilic


Stephan Mayer (CSU):
Rede ID: ID1713029500

Mit dem Entwurf eines Neunten Gesetzes zur Ände-

rung des Bundesvertriebenengesetzes wird heute eine
Änderung des Bundesvertriebenenrechts vollzogen, die
in ihrer rein quantitativen Wirkung begrenzt ist. Für die
Betroffenen ist sie jedoch von außerordentlicher und
wichtiger Bedeutung. Schließlich geht es für die Betrof-
fenen um die Möglichkeit, einen neuen Lebensmittel-
punkt zu wählen.

Stephan Mayer (Altötting)



(A) (C)



(D)(B)

Die Fälle, in denen schwer kranke Eltern darauf hof-
fen, dass die damals im Aussiedlungsgebiet verbliebe-
nen Kinder zur Pflege nach Deutschland kommen, sind
uns allen bekannt. Uns haben in den vergangenen Mo-
naten zahlreiche Petitionen erreicht, die die besonderen
Situationen der Betroffenen eindrucksvoll schildern. Die
Petitionen belegen die Dringlichkeit und den Bedarf für
die beabsichtigte rechtliche Anpassung. Es freut mich,
dass diese Einschätzung auch weitestgehend von den
anderen Fraktionen dieses Hauses geteilt wird.

Mit der Einführung einer neuen Härtefallregelung
gibt die christlich-liberale Koalition Ehepartnern und
Abkömmlingen von Spätaussiedlern die Möglichkeit,
nachträglich bei Vorliegen eines Härtefalls in den Auf-
nahmebescheid eines anerkannten Spätaussiedlers auf-
genommen zu werden.

Die Gründe, warum man damals zunächst im Aus-
siedlungsgebiet geblieben ist, sind sehr verschieden.
Dass nun die nachträgliche Einbeziehung rechtlich er-
möglicht wird, ist ein äußerst wichtiger Schritt.

Auf die im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens vorge-
tragenen Änderungsvorschläge möchte ich nachfolgend
noch einmal detailliert eingehen:

Die im Änderungsantrag des Bundesrates geforderte
Befristung des Aufnahmebescheids auf drei Jahre stellt
keine Verbesserung des vorliegenden Gesetzentwurfs
dar. Eine untergesetzliche Regelung bezüglich der Be-
fristung des Aufnahmebescheids kann deutlich angemes-
sener, flexibler und praxistauglicher die spezifische Si-
tuation abbilden.

Eine starre Frist im Gesetz ist dafür ungeeignet. Die
Gültigkeit des Bescheids muss grundsätzlich an das Be-
stehen der Härte gebunden sein. Dies sollte entspre-
chend im Falle einer andauernden Nichtinanspruch-
nahme des Aufnahmebescheids geprüft werden. In
Abhängigkeit dieser Prüfung bleibt dann die Gültigkeit
des Aufnahmebescheids bestehen oder sie erlischt.

Ebenfalls vonseiten des Bundesrates wurde der Vor-
schlag unterbreitet, die neue Regelung auf „besondere
Härten“ zu beschränken. Dies würde jedoch zu einer er-
heblichen Einschränkung des Personenkreises führen,
und damit für viele Betroffene keine Verbesserung ihrer
Lebenssituation darstellen. Sinn und Zweck der Ände-
rung des Bundesvertriebenengesetzes ist gerade eine
breite Lösung, die möglichst viele der unterschiedlichen
Lebensschicksale erfasst. Die vorgeschlagene Ein-
schränkung ist daher abzulehnen.

Auch der Vorschlag der Bundestagsfraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen, auch die eingetragenen Lebenspart-
nerschaften in den Kreis der Begünstigten mit aufzuneh-
men, ist im Ergebnis nicht zielführend. Schließlich ist die
in Deutschland vorhandene Rechtsform der eingetrage-
nen Lebenspartnerschaft in den Aussiedlungsgebieten,
insbesondere in Russland und Kasachstan, nicht vor-
handen. Die vorgeschlagene Änderung würde somit
vollständig ins Leere laufen.

Ebenso verfehlt ist die Forderung, auf die Vorausset-
zung der Grundkenntnisse deutscher Sprache für die an-
Zu Protokoll
erkannten Härtefälle zu verzichten. Bereits die Tatsache,
dass diese Voraussetzung zu Zeiten der rot-grünen Bun-
desregierung in das Gesetz mit aufgenommen wurde,
lässt mich an der Ernsthaftigkeit dieses Vorschlags zwei-
feln. Es sollte doch politischer Konsens sein, dass
Grundkenntnisse der deutschen Sprache von enormer
integrationspolitischer Bedeutung sind. Dieser Ände-
rungsvorschlag ist somit schlicht integrationsschädlich
und daher abzulehnen.

Insgesamt muss eine Lösung für die bekannt gewor-
denen Probleme im Bundesvertriebenengesetz auf der
Basis der bisherigen Grundlagen erfolgen. Es müssen
weiterhin die bestehenden Strukturen des geltenden
Rechts beibehalten und fortgeführt werden. Die neue
Härtefallregelung ist ein kleiner, aber kunstvoller Ein-
griff und kein Systemwechsel im Vertriebenenrecht, so
wie es beispielsweise Bündnis 90/Die Grünen in ihrem
Änderungsantrag vorgeschlagen haben.

Die Bundesregierung hat einen sehr guten und unter-
stützenswerten Gesetzentwurf vorgelegt, der für aufge-
tretene Schwierigkeiten im geltenden Recht gute und
vertretbare Lösungen anbietet. Die geltende Rechtslage
wird durch ihn in angemessener und folgerichtiger Art
und Weise fortgeschrieben.

Die christlich-liberale Koalition nimmt sich hiermit
einem der drängendsten Anliegen der Spätaussiedler an,
das meiner festen Überzeugung nach die breite Unter-
stützung aller politischen Parteien in Deutschland ver-
dient und verlangt. Ich kann daher die Kolleginnen und
Kollegen der Oppositionsfraktionen nur dringend auf-
fordern, diesem Gesetzentwurf in der vorliegenden
Form ebenfalls zuzustimmen. Sie würden damit unter
Beweis stellen, dass auch Sie an einer schnellen Verbes-
serung der bewegenden menschliche Schicksale interes-
siert und sich der gemeinsamen Verantwortung für die
Vertriebenen und deren Lebenssituation bewusst sind.


Daniela Kolbe (SPD):
Rede ID: ID1713029600

Heute erfolgt die Abschlussberatung über den Ent-

wurf eines Neunten Gesetzes zur Änderung des Bundes-
vertriebenengesetzes. Wir beschließen eine sinnvolle
Regelung für Spätaussiedler. Bisher fehlte im Bundes-
vertriebenenrecht eine konkrete Regelung, die es bei-
spielsweise dem Ehegatten oder Abkömmling eines
Spätaussiedlers ermöglicht, auch nachträglich ins Bun-
desgebiet auszusiedeln, wenn ein Härtefall vorliegt.

Heute schaffen wir endlich diese Härtefallregelung,
um eben in Zukunft unvertretbare Familientrennungen
bei Spätaussiedlern zu vermeiden. Wir schaffen ab heute
die Möglichkeit, auch wenn die Anzahl Betroffener ver-
gleichsweise gering ist. Wir schaffen die Möglichkeit,
einzelne Härtefälle bei der Aufnahme von Spätaussied-
lern zu lösen, die zum Teil dramatische Familientren-
nungen zur Folge hatten.

Die Regierung spricht davon, dass dies nur ein paar
wenige Fälle betreffe. Nun, in Deutschland leben mitt-
lerweile rund 2,4 Millionen Spätaussiedler. Und ja, viel-
leicht betrifft diese Änderung nur eine Handvoll. Viel-
leicht. Diese Gesetzesänderung, denke ich, wird jedoch



gegebene Reden

Daniela Kolbe (Leipzig)



(A) (C)



(D)(B)

für den Einzelnen, den es betrifft, wie beispielsweise den
einen oder anderen Deutschen in der ehemaligen
Sowjetunion, eine sehr persönliche und sehr wesentliche
Bedeutung haben. Für den einzelnen Betroffenen ist
diese Änderung mehr als nur überfällig und kann hof-
fentlich jahrelange Trennungen und Leid heilen.

Meine Kollegen aus dem Petitionsausschuss haben
mir in etlichen intensiven Gesprächen berichtet, wie
viele Petitionen allein hierzu beim Deutschen Bundestag
anhängig sind, welche Schicksale einzelner Familien
dahinterstehen. Daher verbinde ich mit dem heute zu
verabschiedenden Gesetzentwurf auch die Hoffnung,
dass einige von diesen Schicksalen positiv abgeschlos-
sen werden können.

Daher begrüßen wir auch als SPD die Bemühung der
Bundesregierung, für die Betroffenen Abhilfe zu schaf-
fen.

Dennoch, zwei kritische Anmerkungen muss ich ma-
chen; denn dies ist wieder so typisch für diese Bundesre-
gierung. Zum Beispiel der Punkt Lebenspartnerschaf-
ten. Was ich nicht verstehe, meine Damen und Herren
von CDU/CSU und FDP, ist die Tatsache, dass Sie wie-
der nur halbe Sachen machen. Warum werden Lebens-
partner, so wie es ein Antrag der Grünen vorsieht, und
zwar zu Recht vorsieht, nicht mit einbezogen? Warum
müssen Sie immer an der heutigen Lebensrealität und an
der der Menschen vorbeiregieren?

Wir haben seit dem 1. August 2001 ein Lebenspart-
nerschaftsgesetz in Deutschland, das mehrfach von Ent-
scheidungen des Bundesverfassungsgerichts gestützt
wurde, gerade auch in der jüngsten Vergangenheit, in
denen vielfach die Lebenspartnerschaft mit der Ehe
gleichgesetzt wird. Darum frage ich mich: Warum leh-
nen Sie eine derartige Regelungen ab? Das ist realitäts-
fremd. Ich kann Sie nur auffordern, hier aufzuwachen
und noch einmal nachzubessern.

Ein anderer Punkt, der mir aufgestoßen ist, ist die
Frage nach den Spracherfordernissen im Härtefall.
Auch hier kann ich Sie nur auffordern, noch einmal
nachzudenken; denn auch hier verkennen Sie die Reali-
tät der Betroffenen. Ich kann die Grünen nur unterstüt-
zen. Gerade ältere Menschen oder Menschen aus bil-
dungsfernen Schichten ist der Spracherwerb im Ausland
oftmals nicht möglich oder kostet sie Unsummen, was
nicht heißt, sie sollen nicht Deutsch lernen. Im Gegen-
teil. Aber sie sollen es vernünftig können und qualifi-
ziert. Hierfür ist aber ein Deutschkurs in Deutschland
sinnvoller und effektiver als einer im Ausland.

Einen letzten Punkt, den ich noch für weiterhin dis-
kussionswürdig erachte, ist der Punkt Integration; denn
man kann nicht auf der einen Seite fordern, die Men-
schen müssen und haben sich zu integrieren, wenn man
nicht auf der anderen Seite dafür Sorge trägt, dass die
Menschen das auch können. Allein wenn ich an das
heute verabschiedete Gesetz zur Anerkennung ausländi-
scher Bildungsabschlüsse denke, fehlt mir der Glaube.
Das gut gemeinte Gesetz allein zeigt: Von Ihnen sind nur
Babysteps, Babyschritte, zu erwarten. Mit diesem Gesetz
schaffen Sie es weder Hunderttausenden von Betroffe-
Zu Protokoll
nen zu helfen und den Fachkräftemangel in Deutschland
wirksam zu beseitigen noch ein schlüssiges Gesamtkon-
zept vorzulegen. Ein mutiges und gutes Gesetz wäre aber
dringend nötig. Bereits heute können wegen des beste-
henden Anerkennungschaos bis zu 500 000 Menschen
mit im Ausland erworbenen Qualifikationen nicht in ih-
ren Berufen arbeiten.

Das Gleiche gilt für die Diskussion um die Kosten von
Integrationskursen. Auch hier fehlt Ihnen jegliches Kon-
zept. Ihr Konzept lautet: Geld sparen bei denen, die sich
nicht wehren. Dass aber auch die Lehrkräfte darunter
leiden, weil sie zu Dumpinglöhnen arbeiten müssen,
scheint für Sie nur ein leidiger Kollateralschaden zu
sein. Ich kann Sie nur vehement auffordern und an Sie
appellieren, hier endlich nachzubessern. Bessern Sie
hier bei den Honoraren nach, damit auch die Lehrkräfte
entsprechend entlohnt werden.

Auch die unter diese Novellierung fallenden Spätaus-
siedler nehmen Integrationskurse in Anspruch. Das be-
deutet, im Punkt Haushaltsmittel für Integrationskurse
muss schleunigst nachgebessert werden, sehr geehrte
Bundesregierung. Ich kann nur schlicht sagen: Ich bin
überrascht, dass Sie hier keine weiteren Kosten erwar-
ten.

Ich kann mich nur wiederholen: Sie rechnen mit einer
Mindestzahl von 5 000 Härtefallanträgen. Das wirkt
sich auch auf Integrationskurse aus; die sind schon jetzt
unterfinanziert. Darum fordere ich Sie auf: Nehmen Sie
mehr Geld für Integrationskurse und Sprachkurse in die
Hand. Es lohnt sich für die Zukunft unseres Landes. Al-
les andere wäre blauäugig und fatal. Die Menschen, die
lernen wollen, die sich integrieren wollen, müssen bei
uns auch die Möglichkeit dazu erhalten. Machen Sie
endlich Integrationspolitik mit Weitsicht und an der
Realität orientiert.


Serkan Tören (FDP):
Rede ID: ID1713029700

In zweiter und dritter Lesung beraten wir heute den

Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung des
Bundesvertriebenengesetzes. Ziel ist die Einfügung ei-
ner Härtefallregelung in das Bundesvertriebenengesetz.
Mit dieser Regelung ermöglichen wir die nachträgliche
Aufnahme von im Aussiedlungsgebiet verbliebenen Ehe-
leuten und Abkömmlingen von Spätaussiedlern in den
Aufnahmebescheid. Diese neue Regelung hat ausdrück-
lich einen Ausnahmecharakter.

Erfreulicherweise besteht grundsätzlich Einigkeit
über die Notwendigkeit einer solchen Regelung unter al-
len Fraktionen im Hohen Hause.

Mit der nun zu verabschiedenden Regelung soll auf
die schwierige Lage mancher Spätaussiedlerfamilien
eingegangen und Abhilfe geschaffen werden. Es geht um
Familien, die nach einer bewussten Entscheidung, ge-
trennte Wege zu gehen, nun doch wieder zusammen le-
ben möchten. Eine generelle Möglichkeit, eine einmal
getroffene Entscheidung bezüglich der familiären Situa-
tion zu ändern, ist allerdings ausgeschlossen. Es geht
einzig und allein um eine Lösung für Härtefälle in Spät-
aussiedlerfamilien.



gegebene Reden

Serkan Tören


(A) (C)



(D)(B)

Im Rahmen der Beratungen haben Bündnis 90/Die
Grünen zwei Änderungsanträge eingebracht. Im ersten
Änderungsantrag geht es um die Streichung von notwen-
digen Grundkenntnissen der deutschen Sprache vor der
Übersiedlung in die Bundesrepublik Deutschland. Im
gleichen Antrag wird die Berücksichtigung von Famili-
enangehörigen von Spätaussiedlern gefordert, die nicht
mehr im Aussiedlungsgebiet wohnhaft sind. Die gefor-
derte Streichung der Grundkenntnisse der deutschen
Sprache wird die Integration von Spätaussiedlern sehr
erschweren und ist somit abzulehnen. Genauso ist die
von Bündnis 90/Die Grünen geforderte Ausweitung der
Härtefallregelung auf Familienangehörige abzulehnen,
die nicht mehr im Aussiedlungsgebiet wohnhaft sind.
Eine solche Ausweitung ist aus meiner Sicht mit dem
Charakter einer Härtefallregelung bzw. Ausnahmerege-
lung nicht vereinbar.

Was den zweiten Antrag von Bündnis 90/Die Grünen
im Hinblick auf Lebenspartnerschaften angeht, möchte
ich Folgendes erwidern. Leider ist von Ihrer Seite kein
einziger Fall vorgetragen worden, bei dem sich diesbe-
züglich ein Problem ergeben hat. Dies wäre hilfreich ge-
wesen, um zu sehen, inwieweit hier tatsächlich ein
Handlungsbedarf besteht. Meiner Ansicht nach ist die-
ser zweite Änderungsantrag ein reiner Symbolantrag. Er
bringt uns und die Spätaussiedler keinen einzigen
Schritt weiter. Er ist daher ebenso wie der erste Ände-
rungsantrag abzulehnen.

Lassen Sie uns die wahren Probleme der Spätaussied-
ler anpacken, und stimmen Sie für den Antrag der Bun-
desregierung.


Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1713029800

Die Absicht der Bundesregierung, Härtefallregelun-

gen für die Familien von Spätaussiedlern einzuführen,
ist im Grundsatz richtig – die Regierung selbst will sie
allerdings nur halbherzig umsetzen.

Wer als Spätaussiedler in die Bundesrepublik über-
siedelte, der musste bislang seine engsten Verwandten in
den sogenannten Aussiedlungsgebieten, also in Russ-
land, vor die Wahl stellen: Entweder ihr kommt mit mir,
und zwar jetzt sofort, oder die Familie bleibt für immer
getrennt. – Denn es war nicht möglich, Familienangehö-
rige, die selbst nicht als Deutsche im Sinne des Grund-
gesetzes galten, nachträglich in den Aufnahmebescheid
für die Spätaussiedler aufzunehmen. Das hat, wie man
vorausahnen konnte, eine Reihe von Härtefällen produ-
ziert: Kinder, die nun ihre pflegebedürftigen Eltern oder
Schwiegereltern unterstützen wollen, oder Eltern, die
selbst auf Pflege ihrer Nachkommen angewiesen sind,
genauso wie Geschwister usw., die nun doch zu ihren
Verwandten in die Bundesrepublik ziehen wollen, denen
eine Familienzusammenführung aber nicht mehr mög-
lich ist. Das produziert im Einzelfall – die Bundesregie-
rung erwartet rund 5 000 Härtefallanträge – humanitäre
Probleme.

Dem Lösungsansatz der Bundesregierung werden wir
aber nicht unsere Stimme geben. Ich will kurz erläutern,
warum sich die Linke bei der Abstimmung enthalten
wird:
Zu Protokoll
Uns lagen während der Beratung im Innenausschuss
einige diesbezügliche Petitionen vor. Die Probleme der
meisten Petenten können durch die vorgeschlagenen Ge-
setzesänderungen gelöst werden. Aber insgesamt ist die
Regelung nicht weitgehend genug. Schon in der Geset-
zesbegründung ist davon die Rede, dass wohl nur die
Hälfte aller Härtefälle so gelöst werden kann. Denn
selbst bei der Härtefallregelung hält die Bundesregie-
rung daran fest, dass die potenziellen Nachzügler
Deutschkenntnisse nachweisen müssen. Das steht dem
Gedanken einer Härtefallregelung diametral entgegen:
Ein Härtefall ist ja von der Definition her ein Fall, in
dem die betroffenen Menschen in einer humanitären
oder wirtschaftlichen Notlage sind. Da kann man nicht
einfach Dienst nach Vorschrift machen und an sämtli-
chen Ausschlusstatbeständen des Bundesvertriebenen-
gesetzes festhalten. Richtig wäre es, diesen Menschen
nach ihrer Ankunft umfassende Angebote zum Spracher-
werb zu machen, falsch ist es aber, Deutschkenntnisse
zur Vorbedingung ihrer Einreise zu machen.

Ganz grundsätzlich gelten unsere Bedenken gegen
die fortbestehende aufenthaltsrechtliche Privilegierung
der sogenannten Spätaussiedler weiter. Wir können kei-
nen triftigen Grund dafür erkennen, dass Menschen, de-
ren Vorfahren zum Teil vor Jahrhunderten aus Deutsch-
land nach Russland ausgewandert sind, bessergestellt
sein sollen als die Nachfolger nichtdeutscher Migran-
ten, die in der zweiten oder dritten Generation in
Deutschland leben. Die Linke setzt auf soziale Aspekte,
nicht auf völkische. Wir halten daher an unserer schon
in früheren Debatten erhobenen Forderung fest, endlich
die spezialgesetzlichen Regelungen für die Nachkom-
men der Deutschen in den Ländern Osteuropas aufzuge-
ben und sie in den Geltungsbereich des normalen Auf-
enthalts- und Staatsangehörigkeitsrechts zu überführen.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1713029900

Es ist mir unverständlich, warum sich die Koalitions-

fraktionen dauerhaft verweigern, homosexuellen Paaren
jene Rechte einzuräumen, die sie sonst auf dem Umweg
über Karlsruhe erhalten. Heute geht es bei der Ände-
rung des Bundesvertriebenengesetzes nur um die Ände-
rung von Art. 1, in den die eingetragene Lebenspartner-
schaft aufgenommen werden soll.

Mit dem am 1. August 2001 in Kraft getretenen Le-
benspartnerschaftsgesetz schufen wir für gleichge-
schlechtliche Paare das neue familienrechtliche Institut
der Eingetragenen Lebenspartnerschaft. Allerdings
wurden eingetragene Lebenspartnerinnen beziehungs-
weise Lebenspartner in das Bundesvertriebenengesetz
bislang nicht einbezogen.

Diese Benachteiligung der eingetragenen Lebens-
partnerschaften gegenüber Ehen wurde bisweilen damit
gerechtfertigt, dass es dem Gesetzgeber wegen des ver-
fassungsrechtlichen Schutzes der Ehe aus Art. 6 Abs. 1
GG nicht verwehrt sei, diese gegenüber anderen Le-
bensformen zu begünstigen.

In seinem Beschluss vom 7. September 2009 hat das
Bundesverfassungsgericht hingegen grundlegend ent-
schieden, dass der bloße Verweis auf das Schutzgebot



gegebene Reden

Volker Beck (Köln)



(A) (C)



(D)(B)

der Ehe gemäß Art. 6 Abs. 1 GG eine Benachteiligung
der eingetragenen Lebenspartnerschaft gegenüber der
Ehe nicht rechtfertigen könne. Demnach stellt die Recht-
fertigung der Privilegierung der Ehe auf die auch recht-
lich verbindliche Verantwortung für den Partner ab.
Das Bundesverfassungsgericht stellt damit aber klar,
dass sich in diesem Punkt Ehen nicht von eingetragenen
Lebenspartnerschaften unterscheiden: Beide sind auf
Dauer angelegt und begründen eine gegenseitige Ein-
standspflicht.

Auch in seinem Beschluss vom 21. Juli 2010 zum Erb-
schaftsteuerrecht bestätigte das Bundesverfassungsge-
richt seine Auffassung über die Verfassungswidrigkeit
der Ungleichbehandlung von Lebenspartnern gegen-
über Ehegatten. Es betonte, dass die eingetragene Le-
benspartnerschaft sowie die Ehe auf Dauer angelegt sei
und eine gegenseitige Unterhalts- und Einstandspflicht
begründe.

Eine Ungleichbehandlung von eingetragenen Le-
benspartnerschaften im Bundesvertriebenengesetz ent-
spricht daher nicht mehr den Grundsätzen der Recht-
sprechung des Bundesverfassungsgerichts. Mit dem
vorliegenden Änderungsantrag wird diese ungerechte
und grundrechtswidrige Behandlung beseitigt.

Falls es doch nicht das Ziel der Koalition sein sollte,
hier den Rekord der meisten kassierten Gesetze in Karls-
ruhe aufzustellen, stimmen Sie dem Änderungsantrag zu.
Weder Sie noch irgendein Mensch sonst wird davon ei-
nen Nachteil haben. Es würde aber eine Minderheit in
unserem Land der Mehrheit gleichstellen.

Laut der Begründung des Gesetzentwurfes der Bun-
desregierung ist auch das Ziel der Neuregelung, Härte-
fälle zu vermeiden, die durch dauerhafte Familientren-
nungen entstehen, und dadurch die Integration von
Spätaussiedlern in Deutschland weiter zu fördern. Die-
sem begrüßenswerten Ziel wird die Neuregelung jedoch
nicht uneingeschränkt gerecht.

Außerdem wollen wir unnötige Härten vermeiden.
Unser Änderungsantrag sieht nicht nur die Streichung
des Spracherfordernisses im Härtefall nach dem neuen
Abs. 3 vor, sondern auch bei der Einbeziehung in den
Aufnahmebescheid nach Abs. 1. Damit steht die Ände-
rung im Einklang mit dem Gesetzentwurf zum Ehegat-
tennachzug – Drucksache 17/1626 –, mit dem die Strei-
chung des Spracherfordernisses beim Ehegattennachzug
nach dem Aufenthaltsgesetz verfolgt wird. Insbesondere
älteren Menschen und Personen aus bildungsfernen
Schichten ist der Spracherwerb im Ausland oft nicht
möglich. Es steht außer Frage, dass es für das Zusam-
menleben in Deutschland wichtig ist, dass die Familien-
angehörigen Deutsch sprechen. Dafür ist aber ein
Deutschkurs im Ausland weder notwendig noch geeig-
net. Den nachgezogenen Familienangehörigen steht in
Deutschland ein umfangreiches Angebot an Integra-
tionskursen zur Verfügung. Der Spracherwerb in
Deutschland ist viel leichter, schneller, günstiger und
weniger belastend für die Betroffenen als im Ausland.

Mit dem Änderungsantrag wird der Gesetzentwurf
dahin gehend geändert, dass auch Ehegatten und Ab-
Zu Protokoll
kömmlinge, die nicht im Aussiedlungsgebiet verblieben
sind, zur Bezugsperson in Deutschland nachziehen kön-
nen; denn in einem Härtefall soll es nicht erheblich sein,
an welchem Ort das Familienmitglied sich befindet. Da-
mit werden auch diejenigen Familienmitglieder von der
nachträglichen Einbeziehung erfasst, die ohne einen
Einbeziehungsbescheid das Herkunftsland verlassen ha-
ben oder hier weder vertriebenenrechtlich Aufnahme
gefunden noch ausländerrechtlich einen gesicherten
Aufenthalt erlangt haben.

Die Änderung wird ebenfalls vom Land Hessen im
Antrag zum Entwurf eines Neunten Gesetzes zur Ände-
rung des Bundesvertriebenengesetzes gefordert. Des-
halb bitte ich Sie um die Zustimmung zu unseren beiden
Änderungsanträgen.

D
Dr. Christoph Bergner (CDU):
Rede ID: ID1713030000


Seit 20 Jahren ist es Spätaussiedlern im sogenannten
vertriebenenrechtlichen Aufnahmeverfahren möglich,
unter Wahrung ihrer Familienbindungen gemeinsam mit
ihren nächsten Angehörigen nach Deutschland auszu-
siedeln. Entschlossen sich allerdings Ehegatten und Ab-
kömmlinge von Spätaussiedlern, bei deren Aussiedlung
im Aussiedlungsgebiet zu verbleiben, so kam es in der
Praxis auch zu tragischen Fällen der Trennung von Fa-
milien von Spätaussiedlern. Hierher gehört zum Beispiel
der Fall, dass sich Kinder des Spätaussiedlers zunächst
entschieden haben, im Herkunftsgebiet zu bleiben, um
dort noch einen Angehörigen zu betreuen, dann aber
– selbst nach schweren Schicksalsschlägen – nicht mehr
nachträglich aussiedeln konnten. Weitere Ursachen für
derartige tragische Familientrennungen habe ich im
Rahmen der ersten Beratung des vorliegenden Gesetz-
entwurfs bereits dargestellt. Auch der Petitionsaus-
schuss des Bundestages hat sich mit dieser Problematik
schon mehrfach beschäftigt.

Eine befriedigende Lösung solcher Fälle ermöglicht
das geltende Vertriebenenrecht nicht, selbst in Härtefäl-
len erlaubt das Bundesvertriebenengesetz keine nach-
trägliche Einbeziehung. So ist Abkömmlingen von Spät-
aussiedlern nicht einmal dann der Nachzug zu ihren
Eltern in Deutschland möglich, wenn diese pflegebe-
dürftig werden oder aufgrund ihres fortgeschrittenen Al-
ters gravierend unter der Trennung von ihren engsten
Familienangehörigen leiden. In solchen und ähnlichen
Härtefällen will die Bundesregierung nun durch den
vorliegenden Gesetzentwurf den betroffenen Familien
helfen. Im Härtefall soll Ehegatten und Abkömmlingen
von in Deutschland lebenden Spätaussiedlern der Nach-
zug ermöglicht werden, auch falls sie damals die Auf-
nahmevoraussetzungen noch nicht erfüllten, diese aber
jetzt erfüllen, zum Beispiel weil sie zwischenzeitlich
Grundkenntnisse der deutschen Sprache erworben ha-
ben.

Die geschilderten Beispiele zeigen: Die Ihnen vorlie-
gende Härtefallregelung ist geboten, wenn wir den his-
torisch-moralischen Verpflichtungen des deutschen
Staates gegenüber den Spätaussiedlerfamilien angemes-
sen Rechnung tragen wollen. Umso mehr freue ich mich



gegebene Reden





Parl. Staatssekretär Dr. Christoph Bergner


(A) (C)



(D)(B)

darüber, dass die meisten von Ihnen dies ebenso sehen
und deshalb die Härtefallregelung letzte Woche im In-
nenausschuss unterstützt haben. Diese Unterstützung
verdient sie auch weiterhin. Im Einzelnen habe ich dies
ja bereits anlässlich der ersten Befassung mit dem Ge-
setzentwurf erläutert. Daher beschränke ich mich heute
auf eine knappe Darstellung der wesentlichen Argu-
mente für die neue vertriebenenrechtliche Härtefallre-
gelung.

Erstens. Mit der Härtefallregelung bekundet
Deutschland seine dauerhafte historische Verantwor-
tung gegenüber den Menschen, die als Deutsche in Ost-
europa und Südosteuropa sowie in den Staaten der ehe-
maligen Sowjetunion unter den Folgen des Zweiten
Weltkrieges am längsten gelitten haben. Dies entspricht
auch unserer Verfassung, deren Art. 116 Abs. 1 die Soli-
darität mit Vertriebenen, Flüchtlingen und deren Ehe-
gatten und Abkömmlingen verbürgt.

Zweitens. Die nachträgliche Einbeziehung von bis-
lang zurückgebliebenen Ehegatten oder Abkömmlingen
ermöglicht nicht etwa den Verzicht auf die „üblichen“
Voraussetzungen einer Aufnahme nach dem Bundesver-
triebenengesetz. Nach dem Gesetzentwurf kann eine
nachträgliche Einbeziehung vielmehr nur dann erfol-
gen, wenn alle anderen Voraussetzungen, die im Falle
einer Einbeziehung vor Aussiedlung vorliegen müssen,
erfüllt sind. Damit sind auch weiterhin deutsche Sprach-
kenntnisse notwendig.

Den von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vorge-
legten Änderungsanträgen kann ich nicht folgen:

So besteht bereits kein Bedarf für die beantragte
Schaffung einer gesonderten Norm zur Gleichstellung
von eingetragenen Lebenspartnern mit Ehegatten. Denn
auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion gibt es
keine eingetragenen Lebenspartnerschaften als eigen-
ständige Rechtsform. Es gibt also für diese Norm keiner-
lei Bezugsgröße.

Der beantragte Wegfall der Beschränkung der neuen
Härtefallregelung auf die im Aussiedlungsgebiet ver-
bliebenen Ehegatten und Abkömmlinge wäre vertriebe-
nenrechtlich zweck- und systemwidrig. Sinn und Zweck
der Neuregelung ist es, im Einklang mit der Systematik
des Vertriebenenrechts den vormals im Aussiedlungsge-
biet verbliebenen Ehegatten und Abkömmlingen eine
„zweite Chance“ zur nachholenden Aussiedlung zu er-
öffnen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass als „Aussied-
lergebiet“ alle Nachfolgestaaten der Sowjetunion gel-
ten, sodass etwa ein Umzug von Kasachstan nach
Russland bei Härtefällen der nachträglichen Einbezie-
hung keine grundsätzlichen Hindernisse schafft.

Wenn mit dem Änderungsantrag auch diejenigen im
Nachhinein noch eine vertriebenenrechtliche Aufnahme
finden sollen, die bereits – womöglich auf ausländer-
rechtlicher Basis – in Deutschland leben, entspräche
das nicht dem Sinn der Regelung. Die zu lösenden Fälle
tragischer Familientrennungen – Härtefälle – sind nicht
vorstellbar, wenn sämtliche Familienangehörigen be-
reits in Deutschland leben.
Ich begrüße sehr, dass auch die Länder die Schaffung
einer neuen Härtefallregelung grundsätzlich gutheißen.
Mit der Absicht der Länder, missbräuchliche Handha-
bungen und zeitlich unkalkulierbare Zuzüge von Famili-
enangehörigen zu unterbinden, stimmt die Bundesregie-
rung überein. Aus den von mir bei der ersten Beratung
genannten Gründen wollen wir dem Anliegen der Län-
der allerdings durch untergesetzliche Regelungen Rech-
nung tragen, nicht durch eine gesetzliche Befristung der
nachträglichen Einbeziehung. So ermöglichen wir zu-
künftig eine flexible Handhabung, in deren Rahmen wir
auch zeitnah Erkenntnisse aus der Praxis berücksichti-
gen können.

Lassen Sie mich schließlich darauf hinweisen, dass
die hier vorgestellte Härtefallregelung keine unüber-
schaubare Welle neuer Spätaussiedlung zur Folge haben
wird. Sie ist weder Teil einer Zuwanderungspolitik noch
sollte sie als ein Teil davon verstanden werden. Die vor-
liegende Härtefallregelung ist vielmehr Ausfluss des bis
in unsere Tage fortreichenden Bemühens aller bisheri-
gen Bundesregierungen, sich der Verantwortung
Deutschlands im Blick auf die Folgen des Nationalso-
zialismus und des Zweiten Weltkrieges für die am stärks-
ten betroffenen deutschen Minderheiten zu stellen.

Vor diesem Hintergrund verdient die Härtefallrege-
lung unsere Unterstützung.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1713030100

Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuss

empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 17/7178, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 17/5515 anzunehmen. Hierzu liegen
zwei Änderungsanträge der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen vor, über die wir zuerst abstimmen.

Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache
17/7214? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Än-
derungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfrak-
tionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen ab-
gelehnt.

Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache
17/7215? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Än-
derungsantrag ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis
abgelehnt.

Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu-
stimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegenstim-
men? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zwei-
ter Beratung angenommen mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Enthal-
tung der Linken und der Grünen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der
SPD-Fraktion bei Enthaltung der Linken und der Grünen
angenommen.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Konstantin von Notz, Krista Sager, Volker
Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Förderung von Open Access im Wissen-
schaftsbereich und freier Zugang zu den Re-
sultaten öffentlich geförderter Forschung

– Drucksache 17/7031 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien


Ansgar Heveling (CDU):
Rede ID: ID1713030200

Frei ist nicht umsonst, liebe Kolleginnen und Kolle-

gen von den Grünen. Sie behaupten in Ihrem Antrag,
Open Access fördern zu wollen, aber in Wahrheit geht es
Ihnen darum, Urheber und deren Verleger um ihre
Rechte zu bringen. Sie diskreditieren damit die Idee des
Open Access.

Open Access ist grundsätzlich eine gute Idee, die es
zu fördern gilt. Schon heute stehen den Wissenschaftlern
mit dem grünen und dem goldenen Weg zwei Open-
Access-Publikationswege zur Verfügung. Wissenschaft-
ler wollen aber immer im Verlag mit dem höchsten Re-
nommee veröffentlichen, weswegen viele von Open
Access keinen Gebrauch machen.

Deswegen wollen Sie die Verlage und die Wissen-
schaftler jetzt dazu zwingen. Das halte ich für einen ge-
fährlichen Weg, der weder nachhaltig noch zu Ende ge-
dacht ist.

Mir ist bewusst, dass es einige Wissenschaftsbereiche
gibt – vor allem den Bereich Science, Technics und Me-
dicine, STM –, in denen wissenschaftliche Literatur
überteuert angeboten wird. Manche Verlage nutzen
diese Monopolbildung aus und verlangen daher immer
höhere Preise und erreichen dadurch Margen von bis zu
70 Prozent. So müssen teilweise öffentliche Hochschulen
oder auch öffentliche Bibliotheken öffentlich geförderte
Forschungsarbeit wiederum mit öffentlichen Geldern
einkaufen. Der Staat bezahlt folglich einmal für die Ver-
öffentlichung und anschließend noch einmal für die wei-
tere Nutzung.

Damit wir uns nicht falsch verstehen: Der Zugang zu
Wissen ist auch bei dem beschriebenen Problem nach
wie vor frei – allerdings kann die Lizenz zur Nutzung ge-
wisser Werke durchaus teuer sein. Ich kann aber auch
verstehen, dass nach einer Lösung für dieses Problem
gesucht wird, und bin offen für neue Ideen.

Ihren Vorschlag, den Urhebern im Urhebervertrags-
recht ein verbindliches Zweitverwertungsrecht einzu-
räumen, halte ich jedoch für den falschen Weg. Die Ver-
lage wären damit vor große Kalkulationsprobleme
gestellt, wie die von ihnen verlegten Werke amortisiert
werden können. Sie würden daher die Preise entweder
Zu Protokoll
noch weiter erhöhen oder sogar viele Werke einfach
nicht mehr verlegen. Dies führt letztendlich zu weniger
Veröffentlichungen und weniger Qualität.

Weder die Verlage, die nicht jedes Werk verlegen wol-
len, noch die Urheber, die ja gerade in einschlägigen
Journalen veröffentlichen wollen, werden sich zwingen
lassen. Dies zeigt das große Missverständnis bei Open
Access.

In dieser Diskussion gerät das eigentliche Prinzip des
kontinentalen Urheberrechts oft aus dem Blick: die Ein-
heit der Persönlichkeits- und Verwertungsrechte. Die
Open-Access-Bewegung diskutiert immer nur aus dem
ökonomischen Blickwinkel und betont die Interessen der
Nutzer und der Allgemeinheit.

Letztendlich wollen Sie mit Ihrem Antrag nur eine
Kostenverlagerung vom Nutzer auf den Kreativen errei-
chen. Es geht also nicht um freien Zugang, sondern um
kostenlosen Zugang zu wissenschaftlichen Publikatio-
nen – ähnlich wie auch bei der Einführung der Schranke
zugunsten von Wissenschaft und Forschung. Dabei
bleibt der Urheber auf der Strecke. Ich bin jedoch davon
überzeugt, dass stets der Kreative und sein Schaffen im
Vordergrund stehen muss, denn ohne ihn gibt es keine
Inhalte, die von der Allgemeinheit genutzt werden kön-
nen.

Damit also weiterhin qualitativ wertvolle Inhalte für
jeden zugänglich und auch bezahlbar veröffentlicht wer-
den, müssen die richtigen Anreize gesetzt werden:

Erstens. Bessere finanzielle Ausstattung der Biblio-
theken. Die Digitalisierung hat dazu geführt, dass es
eine Explosion an Veröffentlichungen gab – digital wie
auch analog. Die öffentlichen Etats für den Erwerb wis-
senschaftlicher Veröffentlichungen sind jedoch nicht in
gleichem Maße gewachsen – sie sind sogar zurückge-
gangen. Je mehr Menschen von ihren Veröffentlichun-
gen leben wollen, desto mehr Geld muss auch ins System
fließen, sonst kann das nicht funktionieren.

Zweitens. Auflagen für geförderte Veröffentlichun-
gen. Wenn die öffentliche Hand für staatlich geförderte
Veröffentlichungen nicht zweimal bezahlen will, so kann
sie bei der Förderung Auflagen erteilen. Im Vereinigten
Königreich ist es durchaus üblich, dass Wissenschaftler
im universitätseigenen Verlag veröffentlichen müssen.
Auch in Deutschland wären solche Auflagen in den Pro-
motionsordnungen oder als Voraussetzungen für eine
Förderung möglich.

Beide Vorschläge können problemlos umgesetzt wer-
den und fördern Open Access nachhaltig.

Hier sind aber die Bildungspolitiker gefordert – nicht
die Rechtspolitiker! Warum also gleich nach Verboten
rufen, wenn es andere Wege gibt? Der Staat sollte neue
Geschäftsmodelle wie Open Access mit Anreizen för-
dern, aber keinesfalls durch verbindliche Zweitverwer-
tungsrechte erzwingen. Verbote oder Regulierungen
sind der falsche Weg. Kreative Wissenschaftler brau-
chen Unterstützung, aber sie wollen keine Vorgaben.
Daher halte ich es im Grundsatz nach wie vor für den
richtigen Ansatz, den Wissenschaftlern möglichst viele



gegebene Reden

Ansgar Heveling


(A) (C)



(D)(B)

Rechte einzuräumen und sie selbst entscheiden zu las-
sen, wie sie ihre Werke veröffentlichen.

Ich wünschte mir also, Sie wären mit Ihrem Antrag
kreativer und vor allem nachhaltiger gewesen. So ist Ihr
Antrag nichts anderes als ein billiger Abklatsch des
SPD-Antrags zu einem verbindlichen Zweitverwertungs-
recht: dreist abgekupfert!


Tankred Schipanski (CDU):
Rede ID: ID1713030300

Open Access ist schon heute Realität. In vielen Diszi-

plinen ist das digitale Publizieren zur gängigen Praxis
geworden – moderne, zielorientiere und standortüber-
greifende Forschung ist dort anderweitig nicht mehr
vorstellbar. Digitale Publikationen sind vielerorts zu ei-
ner unabdingbaren Voraussetzung moderner For-
schungsarbeit geworden.

Dennoch werden auch noch heute wissenschaftliche
Texte überwiegend in Print-Form veröffentlicht. Die
Gründe hierfür sind vielfältig. Zum einen ist es das Inte-
resse des wissenschaftlichen Autors, seinen Text in einer
möglichst angesehenen Fachzeitschrift zu veröffentli-
chen. Das ist verständlich, und die Wahl des Publika-
tionskanals ist nicht allein deshalb zu Recht ein grund-
rechtlich geschützter Aspekt der Wissenschaftsfreiheit.
Es mag hier in vielen Bereichen noch an einer notwendi-
gen Akzeptanz von Open-Access-Zeitschriften mangeln.

Tatsächlich lässt sich aber auch nicht verbergen, dass
einer größeren Anzahl von Publikationen im Wege von
Open Access auch die gegenwärtigen Verlags- und Ver-
öffentlichungsstrukturen entgegenstehen. Zwar bietet
das Urheberrecht in seiner jetzigen Form alle notwendi-
gen Schranken, die erforderlich sind, um dem Autor eine
Open-Access-Veröffentlichung zu ermöglichen. Rechts-
technisch steht das Urheberrecht also einer digitalen
Publikation nicht entgegen. Problematisch ist jedoch,
dass der Autor regelmäßig seine Rechte nicht wirklich
frei ausüben kann, da er mit dem Veröffentlichungsver-
trag in aller Regel sämtliche Verwertungsrechte gegen-
über dem Verlag einräumt bzw. einräumen muss.

Zur Förderung von Open Access sehen wir uns folg-
lich mit zwei Aufgaben konfrontiert:

Erstens. Wie schaffen wir neue Anreize, um den wis-
senschaftlichen Autor für digitale Veröffentlichungen zu
interessieren?

Zweitens. Wie können wir auf die gegenwärtigen
Strukturen einwirken, damit der Autor seinen Willen, im
Wege von Open Access zu veröffentlichen, auch tatsäch-
lich verwirklichen kann?

Die erste Frage ist zunächst eine Frage der Akzep-
tanz von Open-Access-Zeitschriften und -Repositorien.
Es mag hier mit einiger Berechtigung angeführt werden,
dass diese Akzeptanz nur dann zu steigern sein wird,
wenn die Zahl der Erst- und Zweitveröffentlichungen in
solchen Zeitschriften zunimmt. Als Anreiz wird daher
schon seit längerem diskutiert, die Vergabe von For-
schungsmitteln daran zu binden, dass die Ergebnisse im
Wege von Open Access publiziert werden. Dies gilt nicht
Zu Protokoll
zuletzt, als ins Feld geführt wird, dass mit Steuermitteln
finanzierte Forschung auch frei zugänglich sein sollte.

Auf die Frage, wie dem Autor auch tatsächlich die
Möglichkeit zur Open-Access-Veröffentlichung gegeben
werden soll, ist zunächst zwischen der Erst- und Folge-
veröffentlichungen zu unterscheiden. Bei einer Erstver-
öffentlichung im Wege von Open Access sieht sich der
Autor regelmäßig mit keinen Hindernissen konfrontiert.
Problematisch wird es für ihn, wenn er einer Veröffentli-
chung im Print-Wege eine digitale, frei zugängliche Pu-
blikation folgen lassen will. Dies ist ihm aufgrund der
umfassenden Rechteeinräumung gegenüber dem Verlag
zumeist verwehrt. Dennoch werden viele Wissenschaft-
ler verständlicherweise nicht auf die Veröffentlichung in
einem angesehenen Verlag verzichten wollen. Vonseiten
der Wissenschaftsorganisationen wird daher ebenfalls
seit längerem ein unabdingbares, formatgleiches Zweit-
verwertungsrecht gefordert.

Die Vorteile beider Vorschläge liegen auf der Hand,
bedürfen aber einer ausführlichen Abwägung der ver-
schiedenen Interessenlagen. Während ein Zweitverwer-
tungsrecht eine gesetzgeberische Tätigkeit im Urheber-
recht erfordert, ist eine Bindung der Forschungsmittel
außerhalb des Urhebergesetzes zu verwirklichen. Eine
endgültig verpflichtende Bestimmung, nach der For-
schungsmittel nur bei folgender Open-Access-Publika-
tion zur Verfügung gestellt werden, kann jedoch Pro-
bleme mit der Wissenschaftsfreiheit aufwerfen, wenn
dadurch die Wahlfreiheit des öffentlich geförderten Au-
tors, welchen Publikationskanal er für den richtigen
hält, genommen würde.

Für den Gesetzgeber muss feststehen, dass es bei der
Frage des Zweitverwertungsrechts vor allem darum ge-
hen muss, die rechtliche Position des wissenschaftlichen
Autors zu stärken. Zweifelsohne wird dies durch ein
Zweitverwertungsrecht zunächst erreicht werden, denn
der Autor kann seiner Print-Veröffentlichung nach Ab-
lauf der Embargo-Frist eine Zweitveröffentlichung auf
einem frei zugänglichen Repositorium folgen lassen. Je-
doch ist von Autorenseite darauf hingewiesen worden,
dass Rechte, die nicht mehr vollumfänglich Dritten ein-
geräumt werden können, an Wert verlieren. Auch diese
Position gilt es zu beachten.

So haben wir auf der einen Seite das Interesse des Au-
tors, das sich zwischen einer Wahrung seiner Rechte und
der tatsächlichen Möglichkeit einer freien Rechteausü-
bung bewegt. Daneben steht das Interesse der Wissen-
schaftsorganisationen, der Förderung von Open Access
nachhaltigen Auftrieb zu geben. Schließlich dürfen aber
auch die Verlage nicht außer Acht gelassen werden, de-
ren Bedeutung für die Förderung und Kommunikation
qualitativer wissenschaftlicher Arbeit gar nicht groß ge-
nug eingeschätzt werden kann. Letztendlich müssen wir
die Gemengelage in unserer Wissenschaftslandschaft
berücksichtigen. Während für den Bereich der Natur-
wissenschaften der freie Zugriff auf digitale Veröffentli-
chungen unentbehrlich ist, hat Open Access für den Be-
reich der Geisteswissenschaften naturgemäß eine
weitaus geringere Bedeutung.



gegebene Reden

Tankred Schipanski


(A) (C)



(D)(B)

Die Einführung eines Zweitverwertungsrechts hätte
zweifelsohne weitreichende Folgen für die Publikations-
kultur und die Verlagslandschaft in unserem Lande. Die
bislang von vielen Verlagen angebotenen kostenpflichti-
gen Datenbanken müssten wohl vom gegenwärtigen
Subskriptionsmodell auf sogenannte Publikationsge-
bühren umstellen. Öffentliche Mittel, durch die derzeit
Abonnements solcher kommerzieller Datenbanken fi-
nanziert werden, müssten derart umverteilt werden, dass
sie dem öffentlich geförderten Autor bei der Finanzie-
rung der Publikationsgebühr zur Verfügung stünden.

Die CDU/CSU-Fraktion hat sich daher in den zu-
rückliegenden Monaten im Rahmen des Dritten Korbes
der Urheberrechtsreform umfassend mit den vielfältigen
Fragen eines Zweitverwertungsrechts auseinanderge-
setzt. Es geht dabei um dessen grundsätzliche Notwen-
digkeit, die Auswirkungen auf die urheberrechtliche
Stellung des Autors und auf die wirtschaftliche Situation
der Verlage und nicht zuletzt um den Umfang eines sol-
chen Rechts, etwa hinsichtlich der Notwendigkeit der
Formatgleichheit. Nicht zuletzt darf ich an dieser Stelle
auch auf die Tätigkeit der Enquete-Kommission „Inter-
net und digitale Gesellschaft“ verweisen.

Die zunehmende Bedeutung von Open Access und die
daraus resultierende Notwendigkeit, diese Entwicklung
nachhaltig zu fördern, steht für die CDU/CSU-Fraktion
außer Frage. Die Forderungen nach einem Zweitver-
wertungsrecht und nach einer Bindung der Forschungs-
mittel werden dabei intensiv diskutiert. Aus Sicht der
Bildungs- und Forschungspolitik ist es für uns ein we-
sentliches Ziel, einen modernen wissenschaftlichen Dis-
kurs zu fördern. Den hier diskutierten Antrag kann ich
daher grundsätzlich nur begrüßen. Zweitverwertungs-
recht und Bindung der Forschungsmittel halte auch ich
für bedeutende Grundentscheidungen, die uns diesem
Ziel näher bringen können. Ob sie sich nach Abwägung
aller Interessen und urheberrechtlichen Aspekte letzt-
endlich als gangbarer und zielführender Weg erweisen,
kann zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht endgültig fest-
gestellt werden.


René Röspel (SPD):
Rede ID: ID1713030400

Ein wesentliches Merkmal von Forschung ist der

freie und stetige Austausch von Wissen und Erkenntnis-
sen innerhalb der forschenden Gemeinschaft. Gemein-
hin erfolgt dies neben der normalen Kommunikation und
der Präsentation auf Kongressen über den Weg der wis-
senschaftlichen Veröffentlichung. Die allein ist zwar
eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für
Austausch und Erkenntnisgewinn innerhalb der Wissen-
schaft. Mindestens ebenso wichtig für den Erfolg von
Wissenschaft ist der (ungehinderte) Zugang zu deren Er-
gebnissen. Insbesondere im Zeitalter der Digitalisierung
ist eine schnelle und ungehinderte Wissenskommunika-
tion eine unabdingbare Voraussetzung für Innovation
und Fortschritt.

Die besondere Bedeutung eines möglichst freien Zu-
gangs zu wissenschaftlicher Information wurde auch
vonseiten der Europäischen Kommission unterstrichen
und mehrfach aufgegriffen: So äußert sich die Kommis-
Zu Protokoll
sion in ihrer Empfehlung zum Umgang mit geistigem Ei-
gentum bei Wissenstransfertätigkeiten und für einen
Praxiskodex für Hochschulen und andere öffentliche
Forschungseinrichtungen vom 10. April 2008 wie folgt:
Die Europäische Kommission empfiehlt den Mitglied-
staaten, „die weite Verbreitung von Wissen, das mit öf-
fentlichen Mitteln geschaffen wurde, zu fördern, indem
Schritte für einen offenen Zugang zu Forschungsergeb-
nissen angeregt werden, wobei gegebenenfalls der
Schutz des betreffenden geistigen Eigentums zu ermögli-
chen ist“.

Leider sieht sich dieser wünschenswerte Austausch in
der Praxis der Wissenschaft konfrontiert mit zahlreichen
Hindernissen: Insbesondere die Beschränkungen durch
das Urheberrecht erschweren eine ungehinderte Wis-
sensdiffusion in die Gesellschaft.

Der unter dem Stichwort „Open Access“ firmierende
Ansatz versucht, mittels eines freien Onlinezugangs zu
wissenschaftlichen Erkenntnissen dieses Problem anzu-
gehen. Dabei gilt es, vonseiten des Gesetzgebers einen
Ausgleich zwischen dem Urheberrecht einerseits und
dem legitimen Interesse von Wissenschaft und Gesell-
schaft an Teilhabe an wissenschaftlichen Erkenntnissen
andererseits zu schaffen. Wenn aber der Zugang zu For-
schungsergebnissen, die das Resultat einer mehrheitlich
durch öffentliche Mittel finanzierten Forschung sind,
aufgrund urheberrechtlicher Beschränkungen von der
Gesellschaft ein weiteres Mal „erkauft“ werden muss,
ist das schlichtweg nicht hinnehmbar.

Dies wird in weiten Teilen der wissenschaftlichen
Community ebenfalls so gesehen. In der sogenannten
Berliner Erklärung über offenen Zugang zu wissen-
schaftlichem Wissen vom Oktober 2003 haben die gro-
ßen Wissenschaftsorganisationen sich klar für Open
Access ausgesprochen.

Die Bundesrepublik Deutschland selbst unterstützt
indirekt über ihren Finanzierungsbeitrag zum Euro-
pean Research Council, ERC, bereits eine Verfahrens-
weise, die auf einen freien Zugang zu Forschungser-
gebnissen setzt. Der ERC hat in seinen Richtlinien zum
Open Access insbesondere festgehalten, dass For-
schungsergebnisse, die mit ERC-Mitteln erzielt wur-
den, innerhalb von spätestens sechs Monaten öffentlich
zugänglich gemacht werden müssen.

Umso verwunderlicher ist es, dass die deutsche Bun-
desregierung auf nationaler Ebene in dieser Frage sehr
zurückhaltend ist und immer noch keine Lösung präsen-
tieren kann.

Vor diesem Hintergrund begrüßen wir den Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zum Thema „Open Ac-
cess“. Allerdings stellen wir auch hier mit Verwunde-
rung fest, dass das Problem zwar aufgegriffen wird, ein
adäquater Lösungsansatz in Form eines konkreten Ge-
setzentwurfs jedoch nicht vorgelegt wurde. Vonseiten
der SPD-Bundestagsfraktion sind wir in diesem Punkt
schon viel weiter: Mit unserem Entwurf eines Gesetzes

(Drucksache 17/5053)

klare gesetzgeberische Handhabe für ein Zweitverwer-



gegebene Reden

René Röspel


(A) (C)



(D)(B)

tungsrecht für Urheber von wissenschaftlichen Beiträ-
gen vorgelegt, die vorwiegend aus öffentlichen Mitteln
finanziert wurden.

Abgesehen von diesem Umstand und einer Reihe von
Übereinstimmungen ergeben sich für uns als SPD-Frak-
tion auch noch einige Kritikpunkte inhaltlicher Art:
Zwar stellt der von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
eingereichte Antrag zu Recht fest, dass eine erfolgreiche
Strategie im Bereich des Open Access sich nicht aus-
schließlich auf das Urheberrecht beschränken sollte,
doch schießt das im Antrag vorgestellte Maßnahmen-
bündel in Teilen über das Ziel hinaus:

Da wäre zunächst die im Antrag von Bündnis 90/Die
Grünen genannte rechtliche Voraussetzung für ein
Zweitverwertungsrecht. Bei grundsätzlicher Zustim-
mung halten wir diesen Punkt an einer Stelle für frag-
würdig. Wir haben in unserem Gesetzentwurf – anders
als im vorliegenden Antrag – festgeschrieben, dass ein
Zweitverwertungsrecht nur für Forschungsergebnisse
gelten solle, die zu mindestens 50 Prozent mit öffentli-
chen Mitteln gefördert bzw. finanziert wurden. Wenn
mehr als die Hälfte der Kosten von öffentlicher Hand be-
reits getragen wurden, halten wir das für gerechtfertigt.
Im Grünen-Antrag fehlt eine solche Grenze. Gilt das
schon bei einem Anteil von 10 Prozent?

Auch die undifferenzierte Publikationspflicht im Rah-
men von Open Access, wie sie der Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vorsieht, würde insbesondere im
Bereich der anwendungsorientierten Auftragsforschung
aus der Industrie ein Anreizhemmnis für Kofinanzierung
darstellen bzw. in vielen Fällen abschreckende Wirkung
entfalten. Dass eine solche undifferenzierte Lösung we-
der im Interesse der Forschung noch der Gesellschaft
als Ganzes ist, liegt auf der Hand. Eine Lösung mit Au-
genmaß muss demnach diesem Umstand Rechnung tra-
gen.

Als noch problematischer sehen wir, dass eine grund-
sätzliche Verpflichtung zur Publikation im Rahmen von
Open Access in unseren Augen leicht mit dem Hinweis
auf die in Art. 5 Abs. 3 der Verfassung geschützte Frei-
heit der Wissenschaft abgelehnt werden kann.

So sieht auch das Bundesverfassungsgericht in seinen
einschlägigen Entscheidungen zur Wissenschaftsfreiheit
in Art. 5 Abs. 3 ein Abwehrrecht, welches nicht nur ge-
gen jegliche staatliche Einwirkung auf den Prozess der
Wissensgewinnung selbst schützt, sondern auch explizit
die Vermittlung von wissenschaftlicher Erkenntnis mit
einbezieht. Der Schutzbereich des Art. 5 Abs. 3 umfasst
somit auch die Rechte der Forschung Betreibenden hin-
sichtlich einer Publikation bzw. einer Unterlassung der-
selben. Folglich stellt nicht nur die Beschränkung der
Möglichkeiten der wissenschaftlichen Publikation
selbst, sondern auch die gesetzlich geregelte Verpflich-
tung zur Publikation nach unserer Auffassung eine Ver-
letzung der verfassungsgemäßen Grundrechte der Wis-
senschaft dar. Man kann im Normalfall keinen Forscher
oder keine Forscherin dazu verpflichten, ein Ergebnis zu
veröffentlichen.
Zu Protokoll
In diesem Kontext gilt es zu bedenken, dass es vonsei-
ten der Wissenschaft gute Gründe geben kann, von einer
Publikation bestimmter Ergebnisse abzusehen. Dies wä-
ren zum Beispiel Forschungsergebnisse, welche in den
Augen der Forschenden nicht bestimmte Qualitätsstan-
dards erfüllen und folglich weder einen Beitrag zum all-
gemeinen Erkenntnisgewinn noch zum eigenen Ansehen
in der Wissenschaft leisten. Einschränkend sei an dieser
Stelle ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Ergebnisse
klinischer Studien hier auszunehmen sind, da auch ein
negatives Ergebnis den Erfolg bzw. Misserfolg einer
Therapie oder Medikaments bestätigen kann.

Mindestens ebenso bedeutsam sind mögliche ethische
Bedenken, die Forschende davon abhalten könnten, ihre
Ergebnisse publiziert zu sehen. Dabei gilt es, unter Wür-
digung des Einzelfalls die etwaigen Vorbehalte der For-
schenden zu berücksichtigen. Nicht nur die Publikation
von Forschungsergebnissen, sondern auch – wie im vor-
liegenden Antrag gefordert – die von Primärdaten be-
dürfen der inhaltlichen und gegebenenfalls ethischen
Gewissensprüfung durch den Wissenschaftler selbst. Ein
staatlicher Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit in Form
einer Publikationspflicht stellt im konkreten Einzelfall
die individuelle Gewissensentscheidung der jeweiligen
Wissenschaftler in Frage und wäre nach unserem Emp-
finden eine nicht nur unrechtmäßige, sondern auch
ethisch nicht vertretbare Einschränkung der Wissen-
schaft.

Zudem ist es vermessen, anzunehmen, dass eine
grundsätzliche Verpflichtung zur Offenlegung aller wis-
senschaftlichen Erkenntnisse grundsätzlich im Interesse
der Gesellschaft ist. Vielmehr kann eine Offenlegung
jeglicher Resultate und Erkenntnisse von Forschung und
Wissenschaft in einigen ausgewählten Fällen unabseh-
bare Gefahren für die Gesellschaft mit sich bringen. Vor
diesem Hintergrund gilt in Anlehnung an Dürrenmatts
Theaterstück „Die Physiker“ der Grundsatz: Was ein-
mal publiziert wurde, kann nicht wieder zurückgenom-
men werden. Nach unserem Ermessen ist eine uneinge-
schränkte Publikationspflicht im Rahmen von Open
Access mindestens nicht immer im Interesse der Wissen-
schaft oder der Gesellschaft als Ganzes.

Eine praktikable Lösung zur Auflösung dieses Verfas-
sungskonfliktes könnte wie folgt aussehen: Die grund-
sätzliche Entscheidung zur Veröffentlichung sollte stets
in der Entscheidung des Forschers oder der Forscherin
liegen. Entscheidet sich dieser oder diese jedoch zur
Veröffentlichung der Ergebnisse, könnte die angespro-
chene Verpflichtung zu Open Access wirksam werden.

Abgesehen von den im Vorangegangen geäußerten
Bedenken hinsichtlich einer uneingeschränkten Open-
Access-Publikationspflicht, haben wir noch zu den im
Antrag unter Punkt 3 „Benachteiligung von Open Access-
Publikationen abbauen“ aufgeführten Punkten einige An-
merkungen zu machen:

Da wäre zunächst die – durchaus wünschenswerte –
Forderung, dass Open-Access-Publikationen nicht zu
Benachteiligungen bei Berufungs- und Besetzungsver-
fahren führen dürfen. Die Antwort auf die Frage, wie



gegebene Reden

René Röspel


(A) (C)



(D)(B)

dies sichergestellt werden kann, bleibt der Antrag je-
doch schuldig.

Gleiches gilt für die an dieser Stelle genannte Forde-
rung, dass bei Antragsverfahren Veröffentlichungen un-
geachtet der Publikationsart entsprechend der Qualität
zu berücksichtigen sind. Hier sei die Frage angemerkt,
wie die geforderte Qualität einer solchen Publikation si-
chergestellt werden kann. Auch hier sollte der Antrag
eine schlüssige Lösung zur Qualitätssicherung von
Open-Access-Ergebnissen im Rahmen einer Antragstel-
lung geben. Denn nur wenn Open Access ein Mindest-
maß an Qualität garantieren kann, wird es sich als er-
folgversprechender Ansatz in der Wissenschaft
durchsetzen.

Abgesehen von den genannten Kritikpunkten begrü-
ßen wir den Vorstoß der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen zum Thema „Open Access“ und freuen uns auf eine
weitere fruchtbare gemeinsame Diskussion, um Open
Access weiter zu fördern.


Manuel Höferlin (FDP):
Rede ID: ID1713030500

Als ich den Antrag der Grünen „Förderung von Open

Access im Wissenschaftsbereich und freier Zugang zu
den Resultaten öffentlich geförderter Forschung“ auf
der Tagesordnung gesehen habe, habe ich mich zunächst
darüber gefreut, denn Open Access ist in der Wissensge-
sellschaft eine neue und immer wichtigere Form für die
Verbreitung von Informationen.

Und: Die FDP-Bundestagsfraktion begrüßt Open-
Access-Modelle in der Wissenschaftslandschaft aus-
drücklich als Ergänzung zu herkömmlichen Verlagspu-
blikationen.

Doch bei genauer Lektüre Ihres Antrags bin ich ein-
mal mehr zu dem Ergebnis gekommen, dass „gut ge-
meint“ und „gut gemacht“ bei den Grünen – wie so oft –
weit auseinander liegen.

Mehr noch: Mittlerweile bezweifle ich ernsthaft, ob
Sie – liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen – es
mit diesem Antrag wirklich gut mit der Wissensgesell-
schaft und den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaft-
lern in Deutschland meinen.

So stellen Sie in Ihrem Antrag zahlreiche Forderun-
gen auf, die aus meiner Sicht weit über das Ziel hinaus-
schießen.

Ihre Regelungen greifen in das Recht auf Freiheit von
Wissenschaft und Forschung ein, indem Sie den Wissen-
schaftlern, deren Forschung aus öffentlichen Mitteln fi-
nanziert wird, vorschreiben wollen, wie sie ihre Ergeb-
nisse veröffentlichen sollen. Ein Wissenschaftler sollte
das selbst entscheiden dürfen!

Darüber hinaus ist Ihr Verhalten an dieser Stelle
schädlich für die Forschung. Bereits jetzt wird eine Viel-
zahl von Forschungsprojekten von der Wirtschaft mitfi-
nanziert. Diese legt oft gesteigerten Wert darauf, dass
Zweitveröffentlichungsrechte vertraglich zunächst zu-
rückgestellt werden. Ihre Politik der zwangsweisen Ver-
öffentlichung von Forschungsergebnissen bei staatli-
cher Beteiligung untergräbt diese bewährte Praxis.
Zu Protokoll
Oder glauben Sie, dass Ihre Politik Universitäten bei
der Drittmittelakquise hilft? Ich habe an dieser Stelle
enorme Bedenken. Auch sind Ihre Vorschläge im Bezug
auf das Urheberrecht wenig brauchbar. Das von Ihnen
geforderte unabdingbare Zweitveröffentlichungsrecht
lehne ich ab. Sie greifen damit zu tief in die Vertragsfrei-
heit von Autoren und Verlagen ein. Diese sollten selbst
entscheiden können, wie sie ihre Zweitveröffentli-
chungsrechte wahrnehmen wollen.

Ein tragfähiges Open-Access-Modell birgt aus unse-
rer Sicht große Potenziale in sich. Und es zeigt sich auch
schon jetzt, dass immer mehr Verlage und Wissenschaft-
ler bereit sind, ihr Wissen auf der Basis von Open Access
zu verbreiten. Sie selbst beschreiben dies ja in Ihrer An-
tragsbegründung! Warum nun an genau dieser Stelle re-
guliert werden soll, ist für mich nicht nachvollziehbar,
liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen. Sie ge-
fährden damit das erfolgreiche Wachstum von Open
Access aus eigener Kraft mit einem untauglichen Ver-
such staatlicher Kontrolle.

Sicherlich ist das Zweitveröffentlichungsrecht für den
Fundus von Open-Access-Publikationen auch hilfreich.
Aber noch einmal: Eine gesetzliche Verpflichtung dazu
ist der falsche Weg. Jeder Wissenschaftszweig wird sich
beim Bereich Open Access unterschiedlich entwickeln.
Und Wissenschaftler sollten selbst festlegen können, ob
sie mehr an der Verbreitung ihrer Werke oder an einer
vertraglichen Bindung mit einem Verlag interessiert
sind. Das Renommee eines Wissenschaftlers kann man
nicht gesetzlich verordnen. Es ist bedingt durch Qualität
und durch Verbreitung. Diese Balance soll der Wissen-
schaftler selbst herstellen können! Ich vertraue fest da-
rauf, dass sich die Vorteile von Open Access ohne Ihre
künstlichen Konstruktionen durchsetzen werden.

Und zuletzt: Mit Ihren in der Antragsbegründung ge-
nannten Vorstellungen einer Veröffentlichungsgebühr
für die Publikationsorgane schädigen Sie, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen der Grünen, die Wissenschaftler,
deren Institute und die Zeitschriften. Mehr noch: Sie
kehren die Publikation von wissenschaftlichen Texten
ins Absurde, indem Sie den Autoren bzw. deren Einrich-
tungen für ihre Mühen auch noch Gebühren abverlan-
gen. Die derzeit in Deutschland hohe Publikationsfreu-
digkeit wissenschaftlicher Autoren werden Sie mit
diesem Vorschlag wohl kaum fördern.

Der Antrag der Grünen ist aus urheberrechtlicher
Sicht und aus Gründen der Freiheit von Wissenschaft
und Forschung keine Hilfe. Sie, liebe Kolleginnen und
Kollegen der Grünen, wären gut beraten, diesen Antrag
zurückzuziehen, denn der Sache Open Access erweisen
Sie damit einen Bärendienst.


Dr. Petra Sitte (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1713030600

Open Access, also das digitale wissenschaftliche Pu-

blizieren ohne finanzielle, rechtliche oder technische
Schranke für die Nutzerschaft, findet berechtigterweise
immer mehr Unterstützung. Gestern veröffentlichte die
Historikerin Wenke Richter im offiziellen Blog der
Frankfurter Buchmesse einen Artikel mit der Über-
schrift „Liebe Fachverlage, passt auf Eure Autoren



gegebene Reden

Dr. Petra Sitte


(A) (C)



(D)(B)

auf!“. Darin schreibt sie über die wachsende Zahl von
studentischen Open-Access-Zeitschriften in Deutsch-
land, die mithilfe einer guten Mischung aus Engage-
ment, moderner Technik und traditionellem Peer Review
eine erstaunliche Reichweite für qualitativ hochwertige
Forschung bei Studierenden erreichen. Diese Zeitschrif-
ten laufen auf gängigen Contentsystemen, vermitteln
meist, durch Open-Source-Software, Metadaten zu den
Publikationen an Bibliothekskataloge und sind so welt-
weit abrufbar. Hier wächst eine wissenschaftliche Gene-
ration heran, die sich offenbar nicht mehr an die hierar-
chischen Publikationswege alter Zeiten hält und dabei
höchst erfolgreich ist.

Bereits 2009 initiierte der Diplom-Chemiker und Wis-
senschaftsjournalist Lars Fischer eine Petition an den
Bundestag, die den kostenfreien Zugang für alle zu öf-
fentlich geförderter Forschung forderte. Diese Petition
wurde von annähernd 24 000 Mitunterzeichnern unter-
stützt, darunter waren unzählige Wissenschaftlerinnen
und Wissenschaftler.

Wer, wie beispielsweise der Heidelberger Germanist
Roland Reuß, behauptet, Open Access sei eine Entmün-
digung der Wissenschaft durch „die Politik“ und die gro-
ßen Forschungsförderungseinrichtungen wie die DFG,
übersieht also offensichtlich, wie stark Open Access aus
den Reihen der Akademikerinnen und Akademiker selbst
gefordert wird!

Auch ein zweites Argument der deutschen Open-
Access-Gegner zeigt sich als nicht tragfähig. Sie fürch-
ten eine massenweise Flucht heller Köpfe aus Deutsch-
land, wenn hierzulande verstärkt auf Open-Access-
Publikationen gesetzt würde. Aber das Land der Elite-
universitäten, die USA, setzt nicht nur bei der Drittmit-
telförderung auf Open Access. Die Unis in Harvard und
seit vergangener Woche auch Princeton verpflichten
ihre Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler per Ar-
beitsvertrag dazu, die eigenen Publikationen auf den
Uni-Servern, ohne Sperrfristen, frei verfügbar zu ma-
chen. Die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wis-
senschaften verfährt ähnlich. Auch wenn in diesen Fäl-
len Ausnahmen von dieser Regelung möglich sind, das
Signal ist klar: Die Zukunft wissenschaftlichen Publizie-
rens liegt bei Open-Access-Modellen.

Neben unzähligen Einzelpersonen, Interessengrup-
pen und den Wissenschaftsorganisationen sieht das be-
kanntermaßen auch der Bundesrat so. Die eben er-
wähnte Petition ist im Juli dieses Jahres offiziell an das
Justizministerium weitergleitet worden, da sie – Zitat
aus dem Ausschussprotokoll – geeignet scheint, in die
Vorarbeit eines entsprechenden Gesetzentwurfs einbezo-
gen zu werden.

Nachdem SPD und Linke bereits dieses Frühjahr Vor-
stöße in den Bundestag eingebracht haben, die darauf
abzielen, die rechtlichen Grundlagen des Zweitverwer-
tungsrechts zum Wohle von Open Access zu erneuern,
kann nun die Fraktion von Bündnis 90/Grüne für sich in
Anspruch nehmen, einen umfassenden Antrag zur För-
derung von Open Access eingebracht zu haben. Einzig
die Bundesregierung kommt bei diesem Thema offenbar
nicht voran.
Zu Protokoll
Die Linke stimmt dem vorliegenden Antrag grund-
sätzlich zu, dass ein Zweitverwertungsrecht für wissen-
schaftliche Beiträge gebraucht wird. Allerdings reicht es
uns – wie in unserem Antrag hierzu vom April zu lesen
ist – nicht aus, dieses Recht auf Beiträge aus Sammel-
werken und Periodika zu beschränken. Das Zweitveröf-
fentlichungsrecht muss auch für Monografien gelten.
Weiter fordern wir, dass eine Sperrfrist für die Zweitver-
öffentlichung maximal sechs Monate betragen darf.
Dies ermöglicht weiter eine exklusive und unfreie Erst-
veröffentlichung, ohne diese unnötig zu privilegieren.

Obwohl der vorliegende Antrag sich auch dafür aus-
spricht, den goldenen Weg bei Open Access zu fördern,
also die freie und nichtexklusive Erstveröffentlichung
von Forschungspublikationen, bleiben die vorgeschla-
genen Maßnahmen hinter diesem Anspruch zurück.

Publikationen, die im Rahmen öffentlich geförderter
Projekte oder in den Ressortforschungseinrichtungen
des Bundes entstanden sind, sollen nach dem vorliegen-
den Antrag „spätestens zwölf Monate nach Erstveröf-
fentlichung“ frei verfügbar sein. Wieder fehlt es hier an
einem Regelungsvorschlag für Monografien. Weiter
bleiben bei den Grünen einige Fragen unzureichend be-
antwortet: Wieso beschränkt sich der Antrag auf öffent-
lich geförderte Drittmittelprojekte? Warum sollen selbst
die Ergebnisse der Ressortforschung des Bundes zu-
nächst unfrei publiziert werden? Wieso wird nicht für
jegliche Art öffentlich geförderter Forschung der freie
Zugang zu den Ergebnissen zur Regel?

Die Antwort ist vordergründig einfach: Weil in
Deutschland Wissenschaftsfreiheit so ausgelegt wird,
dass es den Forscherinnen und Forschern überlassen
bleibt, wie sie ihre mit Steuermitteln finanzierten Er-
kenntnisse verbreiten.

Sicher, eine Umsetzung der vorliegenden Vorschläge
wäre ein Fortschritt gegenüber der aktuellen Lage, aber
wie gesagt: Princeton und Harvard machen vor, dass es
auch andersherum geht – in einem Land, in dem die in-
dividuelle Freiheit besonders hoch eingeschätzt wird.

Die Linke teilt den Ansatz der US-amerikanischen
Universitäten: Wissenschaftliche Publikationen sollen
in der Regel sofort frei publiziert werden, die Exklusivi-
tät bleibt die Ausnahme.

Dabei ist zu beachten: Im Moment sind es vor allem
Fachverlage, die das entsprechende Know-how haben,
Publikationen sofort frei zur Verfügung zu stellen. Neben
dieser kommerziellen Variante will die Linke die Eigen-
publikation durch Forschungseinrichtungen und For-
schungsverbünde stärken.

Die Linke stellt sich den Herausforderungen, Open
Access nicht nur auf dem grünen Weg voranzubringen,
und wird demnächst eine eigene Initiative einbringen,
die einen goldenen Weg zu mehr Open Access aufzeigt.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Keine Herrschaft des Volkes ohne gleichberechtigten
Zugang zum Wissen. Wissen ist die Grundlage für infor-



gegebene Reden





Dr. Konstantin von Notz


(A) (C)



(D)(B)

mierte Entscheidungen freier Bürger, für ein demokrati-
sches Miteinander und für mehr Pluralismus. Geteiltes
Wissen ist ohne Weiteres vielfaches Wissen. Daher for-
dern wir, gemeinsam mit einem inzwischen breiten Bünd-
nis von Wissenschaftlern und Wissenschaftsorganisatio-
nen, die Öffnung der Zugangsmöglichkeiten zu Wissen
und Information, zu Forschungsvorhaben, -daten und
-ergebnissen. Open Access, also der dauerhafte und für
Nutzerinnen und Nutzer kostenfreie Zugang zu öffentlich
geförderter Forschung, ist eigentlich eine Selbstver-
ständlichkeit. Denn wie sollen wir nachkommenden Ge-
nerationen erklären, warum der Staat und seine Institu-
tionen die Forschung mit Steuergeldern fördern, die
Publikationskosten tragen und die Zeitschriften am Ende
dennoch für viel Geld zurückkaufen müssen?

Die Situation ist inzwischen ganz besonders prekär
bei Bibliotheken und anderen öffentlichen Institutionen.
Aufgrund der Monopolstellung großer Fachverlage bei
der Verbreitung von Forschungsergebnissen fehlt ein
Korrektiv bei der Preisentwicklung. In der Konsequenz
lässt sich bis heute ein kontinuierlicher Anstieg der Zeit-
schriftenpreise feststellen. Als Reaktion darauf sehen
sich Bibliotheken und auch Hochschulen gezwungen, ihr
Zeitschriftenangebot einzuschränken, um die Kosten für
die wichtigsten Publikationen zu stemmen. Auf diese
Weise ist Vielfalt in der Wissenschaft oftmals schlicht
nicht mehr leistbar. Der Kostenanstieg bei den Zeit-
schriften bleibt nicht nachvollziehbar, weil Gutachterin-
nen und Gutachter größtenteils ehrenamtlich arbeiten,
Autorinnen und Autoren ihre Beiträge in fast druckfähi-
gem Format einreichen und mancherorts sogar Publika-
tionsgebühren von den Autorinnen und Autoren getra-
gen werden müssen.

Die Privatisierung von Wissen ist kontraproduktiv.
Wissen kann sich nicht entfalten, wenn Art und Umfang
der Weiterverbreitung letztlich allein auf kommerziellen
Mechanismen beruhen und der Zugang lediglich
kleinste Wissenschaftszirkel privilegiert. Daher unter-
stützen wir die Open-Access-Bewegung aus vollem Her-
zen und freuen uns darüber, dass unsere Initiativen so
großen Widerhall erleben.

Umso erstaunlicher ist es, wie lange die Bundesregie-
rung zögert, die entscheidenden Schritte zu gehen. Seit
langem angekündigt, bleibt sie bis heute der deutschen
Wissenschafts-, Forschungs- und Bildungswelt die Re-
form des Urhebergesetzes, den Dritten Korb, der aus-
drücklich als sogenannter Wissenschafts- und Bildungs-
korb angekündigt wurde, schuldig. Dabei sind gerade
urheberrechtliche Privilegien für Bildung und Wissen-
schaft angebracht, fördert doch der Zugang zu Wissen
und Information den wissenschaftlichen Diskurs, die
Entwicklung von Innovationen sowie die gesamtgesell-
schaftliche Wohlfahrt. Es wird Zeit, dass auch die Bun-
desregierung die großen Chancen von Digitalisierung
und Internet erkennt und endlich tätig wird.

Als Oppositionsfraktion gehen wir – einmal mehr –
mit unserem Antrag mit gutem Beispiel voran und zeigen
Ihnen, wie eine Reform aussehen könnte. Ein wichtiger
Schlüssel – da scheinen sich bezeichnenderweise alle
Parteien einig – ist das unabdingbare Recht zur Zweit-
veröffentlichung für wissenschaftliche Autorinnen und
Autoren im Format der Erstveröffentlichung. Es darf
nicht sein, dass Autorinnen und Autoren dahin gehend
erpressbar sind, dass sie sich auf sämtliche Bedingun-
gen des Verlagsvertrages einlassen müssen, wenn sie
ihre Beiträge einem Verlag zur Verfügung stellen.

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die auf
hohe Sichtbarkeit Wert legen und an einem Diskurs zu
ihren Werken bzw. Forschungsergebnissen interessiert
sind, müssen in die Lage versetzt werden, diese Werke
auch an anderer Stelle zu veröffentlichen. Die Zweitver-
öffentlichung auf der eigenen Homepage oder in einem
Open-Access-Journal dient dabei nicht zuletzt auch dem
erstveröffentlichenden Verlag, der ebenfalls von der er-
höhten Sichtbarkeit der Beiträge profitiert.

Um nicht unnötige Abgrenzungsschwierigkeiten bei
der Frage, wo und in welchem Rahmen eine Zweitveröf-
fentlichung erfolgen soll, hervorzurufen, bietet es sich
an, auch eine Veröffentlichung zu kommerziellen Zwe-
cken zu erfassen. Wir haben uns für die kommerzielle
Zweitveröffentlichungsmöglichkeit entschieden, weil wir
der Überzeugung sind, dass nur auf diese Weise auch
neue Geschäftsmodelle gefördert werden können, die es
vermögen, auf innovative Art und Weise Weiterverarbei-
tungen entsprechender Inhalte zu ermöglichen. Damit
einhergehen könnten zusätzliche Verbesserungen bei der
Zugänglichmachung des öffentlich geförderten Wissens.

Der dauerhafte und entgeltfreie Zugang zu For-
schungsergebnissen wird aber – das hat die SPD offen-
bar missverstanden – nicht allein durch ein Zweitver-
wertungsrecht gewährleistet. Open Access braucht
rechtliche Rahmenbedingungen im Urhebergesetz, in
den Vergaberichtlinien, für die Übernahme der Publika-
tionskosten und im Aufbau einer Open-Access-Infra-
struktur.

Ein wesentlicher Schritt zur Förderung von Open
Access ist nämlich auch die rechtliche Unterstützung di-
gitaler Erstveröffentlichungen unter Open-Access-Be-
dingungen. Öffentliche Forschung muss vor Monopoli-
sierungen durch Private geschützt und der dauerhafte
Zugang zu Wissen gesichert werden; die Ergebnisse öf-
fentlicher Forschung müssen wieder- und weiterverwen-
det werden dürfen. Öffentliche Forschungsgelder sollten
daher dann vergeben werden, wenn die Open-Access-
Veröffentlichung garantiert ist. Open Access sollte also
maßgebliche Bedingung für die Vergabe öffentlicher
Gelder sein. So kann sichergestellt sein, dass der Staat
nicht mehrfach, sowohl bei Entstehung wissenschaftli-
cher Beiträge als auch bei deren Nutzung, zahlt.

Open Access hat das Ziel, für Nutzerinnen und Nutzer
gebührenfrei zu sein. Allerdings entstehen auch bei
Open Access Kosten. Daher schlagen wir vor, dass Pu-
blikationsgebühren durch einen Publikationsfonds über-
nommen werden sollen. Anteile dieses Fonds können
private und öffentliche Institutionen, Drittmittelfinan-
ziers oder auch Forschungseinrichtungen halten.

Für die verbesserte globale Sichtbarkeit deutscher
Forschung ist außerdem erforderlich, dass wir den Auf-
bau einer Open-Access-Infrastruktur, wozu Reposito-





Dr. Konstantin von Notz


(A) (C)



(D)(B)

rien, Lehr- und Lernplattformen, Datenbanken, vernetzte
Open-Access-Journals etc. gehören, nachdrücklich un-
terstützen. Hier braucht es einheitliche Formate und
operable Schnittstellen, um Wissen adäquat zu verbreiten
und den Wissenschaftsdiskurs effektiv zu befördern.

Schließlich erwarten wir von der Bundesregierung
eine Evaluation zu den bislang unternommenen Anstren-
gungen zur Förderung von Open Access. Die Fragen,
die im Rahmen einer solchen unabhängigen Evaluation
beleuchtet werden sollten, sind unter anderem folgende:
Wie stehen wir international im Vergleich zu Frankreich
und dessen nationaler Open-Access-Initiative? Wie ste-
hen wir im Vergleich zu den USA und ihren parlamenta-
rischen Open-Access-Initiativen? Wird Deutschland mit
einer Open-Access-Gesamtstrategie der vorgeschlage-
nen Art Vorbild für europäische Bemühungen um ein-
heitliche Open-Access-Standards sein können? Diese
Fragen müssen ehrlich beantwortet werden, da wir uns
auf dem Feld der Digitalisierung und des Internets in ei-
nem Gebiet großer Dynamik bewegen und die Chancen
ergreifen sollten, die sich daraus ergeben. Hier hätte die
Bundesregierung einmal die Gelegenheit, sich fort-
schrittlich zu zeigen. Mit ihrer zögerlichen Art, grundle-
gende Reformen des Urheberrechts zu ergreifen, lässt
sie bewusst diese Chance verstreichen.

Open Access sollte ein Schritt hin zum Aufbau einer
umfassenden Wissensallmende sein, von der noch unsere
Nachkommen zehren können, weil der Staat sich in der
Forschungsförderung nachhaltig engagiert hat. Wissen
ist heute ein ganz entscheidender Faktor zur Förderung
von Demokratie, Pluralismus und gesellschaftlichem
Wohlstand. Das muss auch die Bundesregierung lang-
sam erkennen.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1713030700

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/7031 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so beschlos-
sen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:

Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung von
Kammern für internationale Handelssachen

(KfiHG)


– Drucksache 17/2163 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie


Dr. Jan-Marco Luczak (CDU):
Rede ID: ID1713030800

Das deutsche Recht und die deutsche Justiz genießen

international hohe Achtung. Abstraktionsgrad und sys-
tematische Stringenz des deutschen Rechtssystems sowie
die Effizienz, die Leistungsfähigkeit und die verhältnis-
mäßig niedrigen Gerichtskosten sind weltweit aner-
kannt. Deutsches Recht dient daher als Vorbild für Re-
formen in anderen Staaten, insbesondere in Schwellen-
und Entwicklungsländern. „Made in Germany“ als Gü-
tesiegel steht weltweit nicht nur für beste Qualität aus
Deutschland im Bereich der Automobil- und Maschinen-
bauindustrie. Auch Recht „Made in Germany“ ist ein
Exportschlager.

Dennoch steht das deutsche Recht in einem harten in-
ternationalen Wettbewerb. Gerade bei Verträgen oder
Rechtsstreitigkeiten mit internationalem Bezug wird oft-
mals nicht die Geltung des deutschen Rechts, nicht
Deutschland als Gerichtsstandort vereinbart. Die
Gründe sind vielfältig. Sie wurzeln zum Teil im materiel-
len Recht, zum Teil im Verfahrensrecht. Da Recht aber
durchaus auch ein wirtschaftlicher Standortfaktor ist,
haben sich die Bundesnotarkammer, die Bundesrechts-
anwaltskammer, der Deutsche Anwaltverein, der Deut-
sche Notarverein sowie der Deutsche Richterbund zu
der Initiative „Law – Made in Germany“ zusammenge-
schlossen: Ziel ist es, für den Rechtsstandort Deutsch-
land zu werben und ihn attraktiver auszugestalten.

In diesem Zusammenhang ist die heute zur Beratung
anstehende, von den Ländern Hamburg und Nordrhein-
Westfalen eingebrachte Bundesratsinitiative zum Ent-
wurf eines Gesetzes zur Einführung von Kammern für
internationale Handelssachen zu sehen. Worum geht es?

Nach dem Bundesrat leidet der Gerichtsstandort
Deutschland darunter, dass § 184 Gerichtsverfassungs-
gesetz allein Deutsch als Gerichtssprache zulässt. Dies
soll nach Analyse des Bundesrates ausländische, vor al-
lem englischsprachige Vertragspartner und Prozesspar-
teien davor abschrecken, vor einem deutschen Gericht
zu verhandeln: Ein Prozess mit einer fremden, nur im
Wege der Übersetzung indirekt verständlichen Sprache
sei für ausländische Unternehmen unattraktiv. Im Er-
gebnis würde das deutsche Recht trotz all seiner Vorzüge
kaum gewählt und bedeutende wirtschaftsrechtliche
Streitigkeiten im englischsprachigen Ausland ausgetra-
gen.

Der Gesetzentwurf des Bundesrates sieht nun vor, im
Gerichtsverfassungsgesetz die Möglichkeit zu veran-
kern, bei den Landgerichten Kammern für internatio-
nale Handelssachen einzurichten, vor denen das Verfah-
ren unter bestimmten Voraussetzungen – Handelssache
mit internationalem Bezug und übereinstimmender Wille
der Parteien – in englischer Sprache geführt wird. Im
Rahmen des Verfahrens sollen auch das Protokoll und
die Entscheidungen des Gerichts in englischer Sprache
abgefasst werden.

Wie ist dieser Vorstoß nun zu bewerten? Richtig ist
zunächst, dass eine fremde Sprache tatsächlich eine
Barriere sein kann, die bei der Wahl des Gerichtsstand-
ortes – zumindest psychologisch – eine Rolle spielen
kann. Die Möglichkeit der Verfahrensführung in engli-
scher Sprache könnte daher in der Tat zu einer Stärkung
des Rechtsstandorts Deutschland führen. Bei internatio-
nalen Rechtsstreitigkeiten sind die zugrunde liegenden
Verträge und die Kommunikationen zwischen den Par-
teien zudem in aller Regel ebenfalls in Englisch. Wenn
hier eine Kongruenz zwischen der Vertragssprache und
der Sprache des gerichtlichen Verfahrens hergestellt
wird, kann dies zu einer größeren Rechtssicherheit füh-
ren. Auch Kosten für Übersetzungen oder Dolmetscher

Dr. Jan-Marco Luczak


(A) (C)



(D)(B)

würden verringert werden. Es gibt also durchaus gute
Argumente für diese Bundesratsinitiative.

Wahr ist aber auch, dass mit der Prozessführung in
englischer Sprache eine gewisse Einschränkung der Ge-
richtsöffentlichkeit einhergeht. Nun mag es so sein, dass
zwar die Verfahrensbeteiligten, die Rechtsanwälte und
auch die Richter über gute Englischkenntnisse verfügen.
Auch hier müssen wir allerdings genau hinschauen, ob
die erforderlichen Sprachkompetenzen wirklich in aus-
reichendem Maß vorhanden sind oder ob nicht zusätzli-
che Ausbildung mit den entsprechenden Kosten notwen-
dig ist. Selbst deutsche Juristen mit sehr gutem
englischen Fachvokabular werden auf Anhieb nur mit
Mühe einen „Kostenfestsetzungsbeschluss“, die „Dritt-
widerspruchsklage“, die „Haupt- oder Nebeninterven-
tion“, die „streitgenössische Nebenintervention“ oder
den Begriff „Schriftsatznachlassfrist“ übersetzen kön-
nen. Aber selbst wenn dies dahingestellt sei, so können
wir jedenfalls nicht davon ausgehen, dass jeder Prozess-
zuschauer einem Prozess mit komplizierten juristischen
Fachtermini in Englisch folgen kann. Wenn das aber so
ist, ist dies zwar vielleicht nicht verfassungsrechtlich,
aber doch rechtspolitisch durchaus fragwürdig. Ich ver-
kenne nicht, dass das Bundesverfassungsgericht betont
hat: „Prozesse finden in der, aber nicht für die Öffent-
lichkeit statt.“ Dennoch – die Öffentlichkeit der Ge-
richtsverhandlung wurzelt im Demokratieprinzip und ist
daher tragender Grundsatz unseres Prozessrechts – gilt:
Einschränkungen bedürfen besonderer Rechtfertigung.

Zu bedenken ist auch, dass die Rechtssprache inte-
graler Bestandteil unserer in Deutschland gewachsenen
Rechtskultur ist. Beides hat sich zusammen entwickelt,
ist aufeinander bezogen. Rechtssprache und materielles
Recht sind also auf das Engste miteinander verschränkt.
Das bedeutet umgekehrt, dass es zu Unsicherheiten bei
der Anwendung des materiellen oder auch prozessualen
Rechts kommen kann, wenn in einem Prozess in engli-
scher Sprache deutsches, also in deutscher Sprache ab-
gefasstes Recht angewendet wird.

Schließlich muss auch gefragt werden, ob für eng-
lischsprachige Kammern für internationale Handelssa-
chen ein wirklicher Bedarf besteht. Am OLG Köln gibt
es seit dem 1. Januar 2010 das Modellprojekt „Englisch
als Gerichtssprache“. Die Überlegungen zu diesem Mo-
dellprojekt waren die gleichen, wie sie hier vom Bundes-
rat angeführt werden. Für das Modellprojekt haben die
Landgerichte Köln, Aachen und Bonn je eine Kammer
sowie das Oberlandesgericht Köln einen Senat einge-
richtet, vor denen Zivilprozessparteien unter bestimmten
Voraussetzungen in englischer Sprache verhandeln kön-
nen. Nach gut eineinhalb Jahren gab es in diesem Mo-
dellprojekt sage und schreibe einen einzigen Fall – näm-
lich am Landgericht Bonn –, in dem die Parteien
tatsächlich in Englisch verhandeln wollten. Das Beru-
fungsverfahren am Oberlandesgericht Köln wurde hin-
gegen wieder in deutscher Sprache durchgeführt. Auch
diesen Umstand muss man bewerten.

Als Fazit möchte ich daher nach allem festhalten:
Grundsätzlich sollten wir uns der fakultativen Einrich-
tung von Kammern für internationale Handelssachen
Zu Protokoll
nicht a priori verschließen – es gibt eine Reihe von guten
Argumenten, die hierfür sprechen, die dafür sprechen,
dass Deutschland als Rechtsstandort gestärkt und sich
daraus positive volkswirtschaftliche Effekte ergeben
würden. Allerdings gibt es aus meiner Sicht noch einige
Fragezeichen: Die Öffentlichkeit der Gerichtsverhand-
lung darf nicht eingeschränkt, Rechtsunsicherheiten
durch das Auseinanderfallen von Prozesssprache und
Sprache des materiellen Rechts müssen vermieden und
der tatsächliche Bedarf muss ermittelt werden.

Diese Fragen werden wir im parlamentarischen Ver-
fahren ergebnisoffen beraten, prüfen und abwägen. Für
ein endgültiges Votum ist es an dieser Stelle daher noch
zu früh.


Burkhard Lischka (SPD):
Rede ID: ID1713030900

Das vorgeschlagene Gesetz will erreichen, dass be-

deutende wirtschaftsrechtliche Streitigkeiten künftig an
deutschen Landgerichten ausgetragen werden. Deshalb
sollen dort Kammern für internationale Handelssachen
eingerichtet werden. Dort sollen die Prozesse in engli-
scher Sprache geführt werden. Das bedeutet: Die münd-
liche Verhandlung wird auf Englisch geführt und auch
Schriftsätze, Protokolle und Gerichtsentscheidungen
sollen in englischer Sprache abgefasst sein. Lediglich
der Tenor von Entscheidungen soll auch in die deutsche
Sprache übersetzt werden.

Ich weiß, dass der Deutsche Anwaltverein ein Unter-
stützer dieser Idee ist. Der Ausschuss für internationa-
len Rechtsverkehr erhofft sich einen größeren Anteil an
internationalen Rechtsstreitigkeiten für deutsche
Dienstleister. Ich weiß aber auch, dass die nicht ganz so
großen Anwaltskanzleien nicht begeistert sind. Die
Rechtsanwaltskammer Stuttgart hat mehr für diese Be-
rufsgruppe gesprochen und den Entwurf als verfehlt be-
zeichnet.

Nun machen wir das Recht ja nicht nur für die An-
wälte, auch wenn wir uns freuen, wenn es ihnen gut geht.
Das Recht, auch das Prozessrecht, ist für die Bürger und
für die Unternehmen da.

Und deshalb ist meine erste Frage: Wollen die betrof-
fenen Unternehmen überhaupt ihre internationalen
Handelsstreitigkeiten vor deutschen staatlichen Gerich-
ten austragen? Fakt ist doch, dass „die internationale
Handelsschiedsgerichtsbarkeit die ordentlichen Ge-
richte im Bereich der grenzüberschreitenden Streit-
schlichtung weitgehend verdrängt hat“. So heißt es in
dem im Gesetzentwurf zitierten Beitrag von Professor
Gralf-Peter Calliess und Hermann Hoffmann. Ja, das ist
so. Aber warum freuen wir uns nicht darüber?

In allen anderen Bereichen fördern wir die außerge-
richtliche Streitbeilegung. „Schlichten statt Richten“
heißt das Motto bei kleineren Streitwerten und Nachbar-
schaftsstreitigkeiten. Dort sind wir teilweise sehr weit
gegangen und schreiben dem einfachen Bürger den
Gang zur Schlichtungsstelle vor, bevor er sich an das
staatliche Gericht wenden darf. Wir haben auch die Me-
diation entdeckt und freuen uns, wenn die Menschen ei-



gegebene Reden

Burkhard Lischka


(A) (C)



(D)(B)

nen guten Interessenausgleich selbst vereinbaren kön-
nen.

Wenn aber große Unternehmen ihre Streitigkeiten pri-
vat schlichten, wollen wir den privaten Schiedsgerichten
offenbar Konkurrenz machen. Wozu? Gibt es einen
Schrei der Wirtschaft nach der staatlichen Gerichtsbar-
keit? Gibt es Beschwerden von großen Unternehmen,
weil sie zu privaten Schiedsgerichten gezwungen wer-
den? Mir wäre das nicht bekannt. Ich vermute, dass da-
für kein echter Bedarf besteht.

Denn die internationale Handelsschiedsgerichtsbar-
keit hat einige Vorteile, die die staatlichen Gerichte so
nicht bieten können und auch nicht unbedingt bieten
wollen. Ich will sie nur kurz aufzählen: Die Beteiligten
können sich das anwendbare materielle Recht aussu-
chen und sich auch auf private Regelwerke verständi-
gen. Die Beteiligten können sich ihre Schiedsrichter
aussuchen. Sie können sich darüber verständigen, ob sie
einen oder mehrere Schiedsrichter brauchen. Sie können
den Ort des Schiedsverfahrens bestimmen. Das Schieds-
verfahren geht schnell. Es gibt nur eine Instanz. Die Ver-
fahren sind nicht öffentlich und damit diskret.

Alles das können die staatlichen Gerichte entweder
gar nicht oder nicht vollständig oder nur mit erhebli-
chem Aufwand bieten. Warum sollten wir diesen Auf-
wand betreiben, obwohl die Dienstleistung gar nicht be-
nötigt wird?

Aber unterstellt, es wäre für unsere Unternehmen
ein Vorteil, wenn sich internationale Vertragspartner in
Zukunft vermehrt auf deutsches Recht oder zumindest
auf den Gerichtsstandort Deutschland verständigen
würden – was wäre der Preis dafür, dass uns das über-
haupt gelingen könnte?

Ich sage, das wird teuer. Wer eine echte Konkurrenz
zur privaten Schiedsgerichtsbarkeit aufbauen will, der
muss dies konsequent, exzellent, langfristig und verläss-
lich tun. Das ist harte Arbeit.

Zur Konsequenz würde zum Beispiel gehören, dass
der Instanzenzug durchgängig bis zum Bundesgerichts-
hof in englischer Sprache durchgezogen werden kann.
Der Entwurf möchte für den BGH nur als Kannbestim-
mung die englische Verhandlungsführung ermöglichen.
Das wäre ein merkwürdiger Bruch im Angebot.

Mit ein paar guten internationalen Handelskammern
an einigen Landgerichten und entsprechenden Senaten
bei den Oberlandesgerichten wäre es ebenfalls nicht ge-
tan. Diese Spruchkörper müssten personell so gut aus-
gestattet sein, dass sie wirklich alle Verfahren schnell
erledigen können. Es müssten genügend Richterinnen
und Richter beschäftigt werden, die sich dieser Aufgabe
widmen, und sie müssten nicht nur sprachlich gewandt
sein, sondern auch ständig fachlich qualifiziert werden.
Es stimmt zwar, dass sich international agierende Ver-
tragspartner heute schon auf irgendein anzuwendendes
nationales Recht verständigen können. Das sagt die eu-
ropäische Rom-I-Verordnung. Das vereinbarte Recht
muss dann von den Richtern in den europäischen Mit-
gliedstaaten angewandt werden – eine enorme fachliche
Herausforderung für die nationalen Gerichte. Wie ge-
Zu Protokoll
sagt, das ist heute schon so. Vielleicht ist es vor diesem
Hintergrund aber ganz gut, dass die Fallzahlen vor den
Kammern für Handelssachen seit Jahren sinken, sodass
keine Überforderung stattfindet.

Ich halte es aber für insgesamt sehr kühn, wenn die
Bundesländer diese Verfahren gezielt und in großen
Fallzahlen an unsere Gerichte ziehen wollen. Wäre es
nicht wichtiger, dass wir für den ganz normalen Bürger,
für unseren Mittelstand und unsere Handwerksbetriebe
schnellere Gerichtsverfahren gewährleisten könnten
und hierfür die Richterkapazitäten verstärken würden?
Die Beschwerden über die langen Verfahrensdauern
kennen wir alle.

Fazit: Meine Skepsis ist da. Wir werden aber alle Ar-
gumente wägen und sicher auch berücksichtigen, dass
die Länder ja nur eine Experimentierklausel wollen.
Vielleicht sollten wir sie am Experimentieren nicht hin-
dern. Ich freue mich jedenfalls auf weiterführende und
interessante Beratungen.


Dr. Marco Buschmann (FDP):
Rede ID: ID1713031000

Wir debattieren heute über einen vom Bundesrat ein-

gebrachten Gesetzentwurf zur Einführung von Kam-
mern für internationale Handelssachen. Lassen Sie mich
kurz einführen, warum ich es als wichtig erachte, diesen
Gesetzentwurf hier im Deutschen Bundestag zu diskutie-
ren.

In einer globalisierten Handelswelt begegnen wir
dem Wettbewerb nicht nur auf rein ökonomischer Ebene.
Ebenso muss sich unser Rechtssystem im Vergleich zu
anderen Rechtskreisen behaupten. Insbesondere in der
internationalen Geschäftswelt ist das angelsächsische
Recht auf dem Vormarsch.

Das liegt nicht an der Überlegenheit des Common
Law. Vielmehr herrscht in der juristischen Fachwelt die
Auffassung vor, dass das deutsche Recht im internatio-
nalen Vergleich einen sehr hohen Qualitätsstandard für
sich beanspruchen kann. Dieser hohe Qualitätsstandard
setzt sich in der Rechtspflege fort; deutsche Gerichtsver-
fahren führen in der Regel schnell und mit vergleichs-
weise niedrigen Kosten zu einem für die Rechtsuchenden
befriedigenden Ergebnis. Somit eignen sich nicht nur
unsere Waren als Exportschlager. Auch unser Rechtssys-
tem könnte einer werden.

Jedoch ist das deutsche Recht im Vergleich zum Com-
mon Law einem Wettbewerbsnachteil ausgesetzt. Unser
Rechtskreis könnte durch Abbau dieses Wettbewerbs-
nachteils attraktiver werden.

Der angelsächsische Rechtskreis spielt bislang den
Vorteil der englischen Sprache als internationale Han-
delssprache voll aus. Unternehmen weichen häufig auf
englischsprachige Gerichtsstände aus oder vereinbaren
Schiedsklauseln unter Verwendung der Verfahrensspra-
che Englisch, weil Englisch meist allen Beteiligten
geläufig ist. Die Einführung von Kammern für interna-
tionale Handelssachen, in denen Englisch als Gerichts-
sprache zugelassen werden soll, kann dazu beitragen,
die Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Rechts interna-



gegebene Reden

Marco Buschmann


(A) (C)



(D)(B)

tional erheblich zu verbessern und die Ausweichbewe-
gungen abzumildern.

Dass es bereits jetzt ein Bedürfnis für einen solchen
Ansatz gibt, hat ein Modellprojekt des Oberlandesge-
richtsbezirks Köln gezeigt. Die Landgerichte Köln,
Bonn und Aachen haben in ihren Geschäftsverteilungs-
plänen Kammern eingerichtet, in denen auf Englisch
verhandelt werden kann. Sie berufen sich dabei auf
§ 185 GVG, wonach bei Übereinstimmung des Klägers
und des Beklagten die Verhandlung in englischer Spra-
che geführt wird, wenn beide auf einen Dolmetscher ver-
zichten und der Prozess einen internationalen Bezug
aufweist. Sowohl die Justiz als auch die Anwaltschaft in
Köln sind sich sicher, dass ihre Region, die Sitz von vie-
len internationalen Unternehmen ist, nur so attraktiv
bleiben kann.

Der vorliegende Gesetzentwurf will dabei nicht nur
erreichen, dass nach § 185 GVG ausnahmsweise in eng-
lischer Sprache verhandelt werden kann, sondern dass
auch Schriftsätze und Urteile entsprechend ausgefertigt
werden können. Damit kann die Sprachbarriere des
deutschen Rechts für internationale Unternehmen wei-
ter abgebaut werden.

Um dieses Vorhaben zu prüfen und weiterentwickeln
zu können, wird der Rechtsausschuss zu diesem Gesetz-
entwurf im November eine öffentliche Anhörung durch-
führen.

Zuletzt möchte ich noch auf die Sorgen der Kritiker
eingehen. Es geht nicht um die Ersetzung der deutschen
Sprache als Gerichtssprache. Vielmehr geht es darum,
unser hervorragendes Rechtssystem zu bereichern. Es
geht lediglich um eine eng begrenzte Ausnahme für den
internationalen Handelsverkehr, die das Einverständnis
aller Beteiligten voraussetzt. Dagegen kann, wie ich
meine, niemand etwas haben.


Jens Petermann (Plos):
Rede ID: ID1713031100

Das vorliegende Gesetzesvorhaben soll dem Ansehen

des Gerichtsstandortes Deutschland dienen und bedeu-
tende wirtschaftsrechtliche Verfahren anziehen. Das will
man durch die Einrichtung von Kammern für internatio-
nale Handelssachen bei den Landgerichten erreichen,
die ihre Verhandlung in englischer Sprache führen sol-
len. Die nächsthöhere Instanz darf dann in englischer
oder deutscher Sprache verhandeln und gegebenenfalls
einen Dolmetscher hinzuziehen.

Man argumentiert, dass der Gerichtsstandort
Deutschland unter der ausschließlichen Verwendung
der deutschen Sprache leide – eine Behauptung, die an-
gesichts der schlechten Personallage an deutschen Ge-
richten an der Realität vorbeigeht. Der Gerichtsstandort
Deutschland leidet nämlich nicht unter der Gerichts-
sprache, welche aus gutem Grund Deutsch ist, sondern
unter einer quantitativen und finanziellen Unterausstat-
tung der Gerichte und Justizbehörden – ein Umstand,
der aufgrund der gleichzeitig sehr angespannten Situa-
tion auf dem Arbeitsmarkt für Juristen und Juristinnen
gleich doppelt schmerzlich ist.
Zu Protokoll
Die Behauptung, zahlreiche Richterinnen und Richter
würden die englische juristische Fachsprache bereits
hervorragend beherrschen, halte ich für fraglich. Jeden-
falls trifft es nicht zu, dass mittlerweile eine Vielzahl von
Richtern über Auslandserfahrung im englischsprachi-
gen Ausland und über einen LL.M-Titel verfügen. Das
sind wohl eher die Ausnahmen. Der Gesetzentwurf
selbst räumt die Notwendigkeit ergänzender Fortbildun-
gen der Richterinnen und Richter sowie auch des nicht-
richterlichen Personals ein, die im Falle einer Umset-
zung auch notwendig sein wird. Ein deutlicher Mehrauf-
wand und eine hohe zusätzliche Belastung für das Per-
sonal sind hier vorprogrammiert. Im Gegenzug erwartet
man gesteigerte Gebühreneinnahmen durch die ange-
strebte Attraktivitätssteigerung. Meine Richterkollegen
in Thüringen haben übrigens vornehmlich Handelssa-
chen mit osteuropäischem Bezug zu verhandeln. Mit der
Einführung der englischen Sprache für alle internatio-
nalen Handelssachen müssten sich in solchen Verfahren
alle Beteiligten in einer Fremdsprache verständigen.
Das wäre eine deutliche Verschlechterung gegenüber
dem Status quo, bei dem sich nur eine Partei auf eine
Fremdsprache einstellen muss.

Höchst fraglich ist aber auch, ob das vorliegende Ge-
setz überhaupt mit dem im Gerichtsverfassungsgesetz
normierten Öffentlichkeitsgrundsatz vereinbar wäre.
Um diesem zu genügen, müssen Gerichtsverfahren für
jedermann verständlich sein und dementsprechend auf
Deutsch vollzogen werden. In der Begründung zum Ge-
setzentwurf wird dies mit dem Hinweis auf eine Umfrage
bestritten, in der 67 Prozent der Befragten angaben,
dass sie Englisch „einigermaßen gut“ sprechen und ver-
stehen können. Hier wird zum einen nicht berücksichtigt,
dass die juristische Fachsprache deutliche Besonderhei-
ten aufweist und dementsprechend längst nicht jede des
Englischen mächtige Person einer auf Englisch gehalte-
nen Gerichtsverhandlung folgen könnte. Zum anderen
wäre es verfassungsrechtlich bedenklich, wenn nur ein
sprachlich entsprechend vorgebildeter Teil der Bevölke-
rung die Kontrollfunktion der Öffentlichkeit tatsächlich
ausüben könnte. Es ist ja gerade der Sinn der Kontroll-
funktion des Öffentlichkeitsgrundsatzes, die gesamte Be-
völkerung zu beteiligen und niemanden auszuschließen.
In einer Demokratie muss die Justiz als dritte Gewalt für
jedermann verständlich bleiben.

In dem Gesetzentwurf wird ferner behauptet, dass
ausländische Vertragspartner und Prozessparteien den
Gerichtsstandort Deutschland trotz international hoher
Anerkennung für die deutsche Justiz meiden würden, um
nicht in einer für sie unverständlichen Sprache verhan-
deln zu müssen. Tatsache ist jedoch, dass heutzutage
viele Rechtsanwaltskanzleien, insbesondere die ohnehin
international tätigen, längst über mehrsprachiges Per-
sonal verfügen. Der Zugang zu deutschen Gerichten für
internationale Mandanten ist mithin über die sie vertre-
tenden Kanzleien bereits möglich. Die einzigen, die
zweifelsfrei einen zählbaren Nutzen durch dieses Gesetz
haben dürften, sind eben diese mit englischsprachigen
Mandaten betrauten Anwaltskanzleien, die einen großen
Teil ihrer lästigen Übersetzungsarbeit auf die Gerichte
abwälzen könnten.



gegebene Reden





Jens Petermann


(A) (C)



(D)(B)

Die Initiatoren dieses Gesetzes gehen davon aus, dass
es durch die angeblich steigende Attraktivität des Ge-
richtsstandortes Deutschland zu einer Zunahme an Ver-
fahren mit hohen Streitwerten kommen wird. Dabei wer-
den Gebühreneinnahmen erwartet, die die Kosten der
Umstellung auf die englische Sprache bei weitem über-
steigen. Das freut die Finanzminister der Länder. Auf-
grund ihrer verfassungsmäßigen Verankerung im
Grundgesetz darf die Justiz als dritte Gewalt des Staates
nicht an finanziellen Interessen und Kostendeckung ge-
messen werden.

Auch die Bundesregierung bemerkt in ihrer Stellung-
nahme zum vorliegenden Gesetzentwurf, dass sich im
praktischen Vollzug erst noch erweisen müsse, ob für ge-
richtliche Verfahren dieser Art überhaupt ein tatsächli-
cher Bedarf bestehe. Diese Experimentierfreudigkeit ist
völlig fehl am Platze. Letztlich bleibt festzuhalten, dass
man die ohnehin äußerst begrenzten Mittel, die der Jus-
tiz zur Verfügung stehen, nicht durch solch unnötige und
verfassungsrechtlich bedenkliche Maßnahmen weiter
strapazieren sollte. Viel wichtiger wäre es, endlich die
bestehenden Probleme anzupacken und das den Gerich-
ten zur Verfügung stehende Personal deutlich aufzusto-
cken. Nur so kann eine effektive Arbeit an den Gerichten
weiterhin gewährleistet werden, und nur dann bleibt
auch die in diesem Gesetzentwurf angeführte hohe inter-
nationale Anerkennung der deutschen Justiz erhalten.


Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1713031200

Mit der Zunahme des globalen Wirtschaftsverkehrs

stellen sich auch im Handelsrecht neue Herausforderun-
gen. Viele internationale Handelsverträge werden heute
in englischer Sprache verfasst. Diese Vertragssprache
ist ein Grund dafür, dass für Verträge häufig das anglo-
amerikanische Recht gewählt und der Gerichtsstand im
angloamerikanischen Raum begründet wird. So bewe-
gen sich deutsche Unternehmen oft nicht mehr im deut-
schen Recht bzw. in der deutschen Gerichtsbarkeit,
wenn sie ihre Ansprüche durchsetzen wollen. Dies
schwächt den Gerichtsstandort Deutschland und die
Stellung des deutschen Rechts im Weltmarkt.

Der Bundesrat möchte mit seiner Gesetzesinitiative
für bestimmte Rechtsstreitigkeiten die englische Sprache
als Gerichtssprache in Deutschland einführen. Ermög-
licht werden soll die Einrichtung von Kammern für in-
ternationale Handelssachen, die Handelssachen mit in-
ternationalem Bezug in englischer Sprache verhandeln
können. Hierdurch will der Bundesrat die Attraktivität
des Rechtsstandortes Deutschland und des deutschen
materiellen Rechts steigern.

In der Praxis wird es sich vermutlich um eine über-
schaubare Anzahl von Fällen handeln, die vor den Han-
delskammern für internationale Handelssachen ausge-
tragen werden. Diese Fälle können jedoch von hoher
Bedeutsamkeit sein und so die Bedeutung deutschen
Rechts fördern. Deshalb lohnt es sich, dass wir diese
Gesetzesinitiative sorgfältig prüfen.

Im deutschen Recht berücksichtigen wir bereits die
Besonderheiten von Handelssachen. Die Kammern für
Handelssachen sind nicht nur mit Berufsrichtern, son-
dern mit einem Richter und zwei ehrenamtlichen Rich-
tern aus dem Kaufmannsstand besetzt. Durch die Mi-
schung aus Fach- und Sachkompetenz erreichen wir
eine hohe Qualität in der Entscheidungsfindung.

Es wäre kein Novum, wenn in Deutschland in fremder
Sprache nach deutschem Recht verhandelt würde. Vor
Schiedsgerichten können die Parteien bereits die Spra-
che, in der das Verfahren geführt werden soll, vereinba-
ren. So werden vor Schiedsgerichten Verfahren in engli-
scher Sprache geführt, die nach deutschem Recht
entschieden werden. Die Freiheit der Sprachwahl trägt
sicher zu der „Abwanderung“ von den Handelskam-
mern an die Schiedsgerichte bei.

Auch die deutsche Rechtswissenschaft hat sich schon
lange auf einen internationalen Wettbewerb eingestellt.
Es gibt englischsprachige Vorlesungen, Seminare und
Studiengänge. Zahlreiche Studentinnen und Studenten
verbringen einen Teil ihres Studiums im Ausland. Wir
sollten nun auch unser deutsches Rechtssystem und un-
sere deutsche Rechtsordnung am internationalen Wett-
bewerb teilhaben lassen und als interessante Alternative
zum angloamerikanischen Recht fördern.

Uns Grünen ist neben der internationalen „Wettbe-
werbsfähigkeit“ deutscher Gerichte aber auch wichtig,
dass Deutsch als Gerichtssprache seine Bedeutung bei-
behält. Englisch soll nicht als generelle weitere Ge-
richtssprache eingeführt werden. Es soll auch keine
Vermischung der Sprachen geben. Die Anwendung eng-
lischer Sprache soll auf die Fälle beschränkt werden, die
vor den Kammern für internationale Handelssachen ver-
handelt werden. In den Verfahren muss es sich um eine
Handelssache mit internationalem Bezug handeln, und
die Parteien müssen zugestimmt haben, das Verfahren in
englischer Sprache durchführen zu wollen. Niemandem
soll aufgedrängt werden, in einer Fremdsprache zu ver-
handeln. Sollten alle Parteien des Rechtsstreits aus-
drücklich erklären, dass sie eine Verhandlung in engli-
scher Sprache bevorzugen, so soll ihnen dieser Weg nicht
versperrt sein. In der Praxis wird sich dann noch erwei-
sen müssen, wie sich in diesen Verfahren der Instanzen-
zug bis zum Bundesgerichtshof bewährt.

Zusammenfassend begrüßen wir Grüne, dass der vor-
liegende Gesetzentwurf die Stärkung des deutschen
Rechtssystems im globalen Wettbewerb zum Thema
macht. Das ist auch uns ein wichtiges Anliegen. Der Ge-
setzentwurf geht daher in die richtige Richtung.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1713031300

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-

wurfs auf Drucksache 17/2163 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Findet
das Ihr Einverständnis? – Dann ist das so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias
W. Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina Bunge,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)

Die finanzielle Deckelung von Reha-Leistun-
gen in der gesetzlichen Rentenversicherung
aufheben – Reha am Bedarf ausrichten

– Drucksache 17/6914 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Ausschuss für Gesundheit


Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1713031400

Der Grundsatz „Reha vor Rente“ ist ein zentrales

Prinzip in der gesetzlichen Rentenversicherung. Es ent-
spricht dem Grundsatz der Humanität, alles zu tun,
damit Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durch Be-
rufstätigkeit verursachte gesundheitliche Beeinträchti-
gungen wieder überwinden können.

Auch Arbeitgeber, Rentenversicherung und Sozial-
versicherungsträger, die ganze Gesellschaft, haben an
der Verhinderung des vorzeitigen Ausscheidens aus dem
Erwerbsleben und der dauerhaften Wiedereingliederung
ins Erwerbsleben ein nachvollziehbares Interesse. Stu-
dien zeigen, dass die durchschnittlichen Kosten für eine
Rehabilitationsmaßnahme von 3 600 Euro sich bereits
amortisieren, wenn der Beginn einer Erwerbsminde-
rungsrente um vier Monate hinausgeschoben wird. Das
Prognos-Institut hat ermittelt, dass die Gesellschaft für
einen in medizinische Rehabilitation investierten Euro
5 Euro zurückerhält.

Deutschland gehört zusammen mit vier weiteren
OECD-Ländern zu denjenigen, die die höchsten Ausga-
ben für Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben aufwei-
sen. Die finanziellen Mittel, die der gesetzlichen Renten-
versicherung für Leistungen zur Teilhabe, das sind
insbesondere medizinische Rehabilitation und berufs-
fördernde Maßnahmen, zur Verfügung stehen, werden
gemäß den gesetzlichen Vorgaben jährlich entsprechend
der voraussichtlichen Entwicklung der Bruttolöhne und
-gehälter je Arbeitnehmer aufgestockt. Deshalb ist die
Aussage im Antrag der Linken schlichtweg falsch, dass
ein politisch willkürlicher Ausgabendeckel die Reha-
leistungen begrenzt. Da auch die Einnahmen der gesetz-
lichen Rentenversicherung gemäß den Lohnerhöhungen
zunehmen, war es eine logische gesetzliche Regelung,
die Lohnentwicklung auch als Bezugskriterium für die
Erhöhung der Rehaausgaben zu wählen.

Andererseits stellt sich aber zu Recht die Frage, ob
die bisherige Formel die tatsächliche Entwicklung des
Bedarfs auch für die Zukunft korrekt abbildet. Das hat
insbesondere drei Gründe:

Aufgrund der Altersentwicklung der Bevölkerung
nimmt auch das Durchschnittsalter der Erwerbsbevölke-
rung zu. Da mit zunehmendem Alter die Ausgaben für
Gesundheitsleistungen steigen, wirkt sich dieses auch
auf den Rehabilitationsbedarf aus.

Die Anhebung des Renteneintrittsalters und der
durchschnittlichen Lebensarbeitszeit führen mit auf-
wachsender Tendenz zu zusätzlichem Rehabilitationsbe-
darf.

Medizinischer Fortschritt mit neuen Behandlungs-
möglichkeiten sowie eine veränderte Krankheitsstruktur
mit einem stärkeren Anteil chronischer und psychischer
Erkrankungen schlagen sich auch in der Kostenstruktur
für Rehabilitationsleistungen nieder.

Die bisherige Koppelung an die Lohnentwicklung in
Verbindung mit diesen absehbaren Entwicklungen führt
dazu, dass die bestehende Budgetierung – der soge-
nannte Rehadeckel – faktisch von Jahr zu Jahr ver-
schärft wird. Die Zahl der von den Versicherten bean-
tragten beruflichen Rehabilitationsleistungen ist in den
vergangenen Jahren kontinuierlich angestiegen. Sie lag
im Jahr 2000 bei 1 605 724. Im Jahr 2010 gingen
2 082 108 Anträge ein. Das entspricht einer Steigerung
von 29,7 Prozent. In derselben Zeit stieg das zur Verfü-
gung stehende Finanzvolumen aber lediglich um
22,1 Prozent, von 4 553,1 Millionen Euro im Jahr 2000
auf 5 559,3 Millionen Euro im Jahr 2010.

Um mit dem bereitstehenden Geld auszukommen, hat
die Deutsche Rentenversicherung den Grundsatz „Am-
bulant vor stationär“ gestärkt, die Aufenthaltsdauer in
Rehabilitationsmaßnahmen gekürzt und „Fremdbele-
gungen“ restriktiver gehandhabt. Zugleich erfolgte eine
strengere Antragsprüfung insbesondere bei rentennahen
und arbeitsmarktfernen Versicherten. Dieses wird unter
anderem auch darin deutlich, dass die Zahl der Bewilli-
gungen von circa 70 Prozent im Jahr 2000 auf circa
64 Prozent der Anträge im Jahr 2010 gesunken ist.

Die Deutsche Rentenversicherung stößt bei ihren Be-
mühungen, mit den bereitgestellten Mitteln für Rehabili-
tationsleistungen auszukommen, allmählich an die
Grenze des Machbaren. Eine weitere Öffnung der
Schere zwischen Rehabilitationsbedarf und zur Verfü-
gung stehenden Mitteln halten viele für nicht verkraft-
bar. Wesentliche Spielräume durch Effizienzsteigerun-
gen, die nicht zulasten der Versicherten gehen, sind
kaum mehr vorhanden. Gerade wenn Arbeiten bis 67 für
alle möglich sein soll, ist im Gegenteil sogar mehr be-
rufliche Rehabilitation zum Erhalt und zur Wiederher-
stellung der Arbeitskraft nötig. Dass nun die Linken un-
ter Verweis auf diese Entwicklung die Anhebung des
Rehadeckels fordern, ist wohl ein Indiz dafür, dass trotz
aller gegenteiligen Rhetorik die Linken mittlerweile mit
der schrittweisen Anhebung der Regelaltersgrenze in
der gesetzlichen Rentenversicherung auf 67 Jahre ver-
söhnt sind. Das wäre ja immerhin ein beachtlicher poli-
tischer Fortschritt.

Im Koalitionsvertrag von Union und FDP heißt es
treffend: „Qualifizierte medizinische Rehabilitation ist
eine wichtige Voraussetzung zur Integration von Kran-
ken in Beruf und Gesellschaft und nimmt im Gesund-
heitswesen einen immer höheren Stellenwert ein.“ Bei
der Ausgestaltung der künftigen Ausgabengrenze und
der Anpassungsformel für die Rehabilitation in der Ren-
tenversicherung müssen strukturelle Veränderungen
etwa im Bereich der Demografie und veränderte politi-
sche Rahmenbedingungen wie die Anhebung des Ren-
teneintrittsalters und damit die Ausweitung der Le-
bensarbeitszeit – diese sind politisch gewollt und
notwendig – berücksichtigt werden. Zusätzliche finan-
zelle Spielräume sind schwerpunktmäßig für Maßnah-
men der beruflichen Rehabilitation zu nutzen, die derzeit

Peter Weiß (Emmendingen)



(A) (C)



(D)(B)

rund 12 Prozent der Fallzahlen ausmachen. Die derzeit
günstigen finanziellen Rahmenbedingungen der gesetz-
lichen Rentenversicherung sollten hierzu genutzt wer-
den.

Doch nicht nur den finanziellen Spielraum der beruf-
lichen Rehabilitation gilt es zu überprüfen. Damit das
System Rehabilitation wirksam und zielgerichtet funk-
tionieren kann, müssen Konzepte und Aktivitäten gebün-
delt und Leistungsträger und Leistungsempfänger bes-
ser vernetzt werden. Die Weiterentwicklung der
beruflichen Rehabilitation ist Kern- und Daueraufgabe
des deutschen Sozialstaates.

Schon 2007 wurde deshalb vom Bundesministerium
für Arbeit und Soziales die Initiative „RehaFutur“ ge-
startet, die unter dem Leitmotiv „Entwicklungen ge-
meinsam gestalten!“ Konzepte und Aktivitäten koordi-
nieren soll. 2010 hat das Entwicklungsprojekt
„RehaFutur“ begonnen. Zentrale Themen sind die För-
derung und Verbesserung der Beratung zur Rehabilita-
tion, mehr betriebliche Vernetzung und die Intensivie-
rung von Forschungsaktivitäten.

Die Bundesregierung greift deshalb nicht allein an
der finanziellen Seite der beruflichen Rehabilitation an,
sondern auch an der praktischen Umsetzung, um mit ef-
fizienten Mitteln ein zukunftsfähiges und innovatives
System Rehabilitation zu gestalten.

Die Erfolge, die eine zielgerichtete und effiziente Re-
habilitation und berufliche Integration bereits jetzt
schon haben, zeigen uns, dass dies der richtige Weg ist.
Rehabilitation ermöglicht den Betroffenen einen Weg zu-
rück in Beruf und Arbeitsleben und hilft, die Existenz
von Einzelpersonen und ihren Familien zu sichern. Ge-
rade in Zeiten drohenden Fachkräftemangels sollten wir
alle Möglichkeiten ausschöpfen, um durch Rehabilita-
tion und Reintegration qualifizierte Arbeitskräfte, auch
nach Krankheit oder Unfall, im Beruf zu halten. Letzt-
endlich führt eine konsequente und funktionierende Re-
habilitation mittel- und langfristig sogar zur Entlastung
der Rentenkassen, denn Leistungsempfänger werden
wieder zu Leistungsträgern.


Anton Schaaf (SPD):
Rede ID: ID1713031500

Die Linke verlangt im vorliegenden Antrag, die De-

ckelung der Rehaleistungen in der gesetzlichen Renten-
versicherung umgehend aufzuheben und die Leistungen
zur Teilhabe allein am Bedarf der Betroffenen auszu-
richten und nicht durch einen, wie sie es nennt, „poli-
tisch willkürlichen“ Ausgabendeckel zu begrenzen.

Tatsächlich ist absehbar, dass sich in Zukunft die
Schere zwischen Rehabedarf und -leistungen öffnen
wird. Das zur Verfügung stehende Budget der Renten-
versicherung beträgt rund 5 Milliarden Euro. In den
vergangenen Jahren wurde dieses nahezu ausgeschöpft.
Für dieses Jahr zeichnet sich eine Überschreitung zulas-
ten des Folgejahres ab.

In Zukunft wird das Geld nicht mehr reichen, um den
Rechtsanspruch nach dem SGB IX auf Leistungen zur
Teilhabe der Versicherten zu erfüllen. Dies machen auch
die kontinuierlich steigenden Antragszahlen und Bewil-
Zu Protokoll
ligungen zur medizinischen und beruflichen Rehabilita-
tion sichtbar. Was wir vermeiden wollen, ist die Gewäh-
rung von Leistungen zur Rehabilitation nach Kassen-
lage. Wir müssen daher einen neuen Anpassungsgeme-
chanismus finden, der Bedarf und Leistung besser in
Einklang bringen kann. Eine völlige Aufgabe der Orien-
tierung an den finanziellen Möglichkeiten der Renten-
versicherung darf es allerdings nicht geben.

Die Linke knüpft mit ihrem Antrag an eine Debatte
an, die von den Koalitionsfraktionen, Teilen der Opposi-
tion und den Sozialpartnern in den vergangenen Wochen
öffentlich geführt wurde. Dabei ging es um das Für und
Wider einer möglichen Senkung bzw. einer Beibehaltung
der Höhe der Beiträge zur Rentenversicherung. Was in
der Debatte zu kurz kam, ist die Tatsache, dass der Bei-
tragssatz nicht beliebig steuerbar ist und weder Wün-
schen nach finanziellen Entlastungen noch nach Leis-
tungsausweitungen unterliegt. Er gehorcht einem ge-
setzlich festgelegten Mechanismus der Beitragssatzan-
passung nach § 158 SGB VI. Entscheiden wir uns dafür,
Leistungen in der gesetzlichen Rente zu verbessern,
kann sich dies nur in der Folge auch auf den Beitrags-
satz auswirken.

Seit 1997 wird das Wachstum der medizinischen Reha
streng gedeckelt. Die Größe des Budgets für Leistungen
zur Teilhabe – geregelt in § 220 Abs. 1 SGB VI – richtet
sich nach der voraussichtlichen Entwicklung der Brutto-
löhne und -gehälter je Arbeitnehmer. Eine Orientierung
am tatsächlichen Bedarf erfolgt bisher nicht. Von Exper-
tenseite – hier möchte ich beispielhaft ein Gutachten der
Prognos AG nennen – wird dringender Handlungsbe-
darf gesehen.

Die Ausgabendeckelung wird in Zukunft vor allem
wegen der demografischen Entwicklung – die Babyboo-
mer kommen in die „reha-intensiven“ Jahre –, der Erhö-
hung der Regelaltersgrenze auf 67 Jahre, aber auch an-
gesichts des verlangsamten Anstiegs der Löhne und
Gehälter zum Problem. Obwohl in Anbetracht einer al-
ternden Gesellschaft und eines schmelzenden Potenzials
an Fachkräften die Erkenntnis wächst, dass alle länger
arbeiten müssen, spiegelt sich dies noch nicht hinrei-
chend in der finanziellen Ausstattung der Rentenversi-
cherung wider. Darüber hinaus müssten streng genom-
men auch die Kostensteigerungen im Gesundheitswesen
in die Betrachtung mit einbezogen werden.

Zudem müssen wir berücksichtigen, dass ja nicht nur
die Ausgaben für die Rehabilitation selbst einer Decke-
lung unterliegen, sondern dass das sehr personalinten-
sive Verfahren der Prüfung und Bewilligung der Anträge
auf Leistungen der Rehabilitation der gesetzlich nach
§ 220 Abs. 3 SGB VI vorgeschriebenen Reduzierung der
Verwaltungs- und Verfahrenskosten unterworfen war.
Mit anderen Worten: Weniger Kolleginnen und Kollegen
bei den Trägern müssen steigende Antragszahlen bewäl-
tigen.

Aktuell gehen rund 2 Prozent der Ausgaben der ge-
setzlichen Rentenversicherung in die Leistungen zur
Teilhabe. Gemessen an den Gesamtausgaben der gesetz-
lichen Rentenversicherung, die kontinuierlich angestie-
gen sind, ist ihr Anteil sogar etwas gesunken. Dabei sind



gegebene Reden

Anton Schaaf


(A) (C)



(D)(B)

die unterschiedlichen Rehaträger der Sozialversiche-
rung seit jüngerer Zeit auch für präventive Maßnahmen
verantwortlich.

Führen wir uns vor Augen, in welchem Spannungs-
feld wir uns bewegen: Wer als Arbeitnehmer schwer
krank wird und in der Folge gemäß der Definition des
SGB IX von Behinderung bedroht ist, hat die Möglich-
keit, Rehaleistungen zu beantragen, um die Wiederein-
gliederung in das Arbeitsleben zu erreichen. Nur wenn
die gesundheitliche Einschränkung nicht in absehbarer
Zeit zu beseitigen ist, kommt eine Rente wegen Erwerbs-
minderung infrage. Grundsätzlich müssen aber die ver-
sicherungsrechtlichen und persönlichen Voraussetzun-
gen erfüllt sein, um einen Anspruch auf Leistungen der
gesetzlichen Rentenversicherung überhaupt geltend zu
machen.

Zurzeit werden circa 64 Prozent der Anträge auf Re-
haleistungen bewilligt. In den Jahren zuvor lag die Be-
willigungsquote konstant bei 67 Prozent. Eine Überprü-
fung ist daher, wie im Nationalen Aktionsplan der
Bundesregierung zur Umsetzung des Übereinkommens
der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen
mit Behinderungen vorgesehen, unbedingt geboten.

Zugleich wird rund die Hälfte der Anträge auf Er-
werbsminderungsrente abgelehnt, zumeist weil die per-
sönlichen Voraussetzungen nicht erfüllt werden. Dabei
werden Renten wegen teilweiser Erwerbsminderung
häufiger gewährt als volle Erwerbsminderungsrenten.
Was mit den Menschen geschieht, deren Anträge abge-
lehnt werden, können wir erahnen. Wer krank ist und aus
diesem Grund seinen Arbeitsplatz verliert, wird irgend-
wann bei entsprechender Bedürftigkeit auf Leistungen
des SGB II oder des SGB XII angewiesen sein. Dies kann
aber auch für Personen gelten, die eine Erwerbsminde-
rungsrente beziehen. Damit wird deutlich, dass wir meh-
rere Probleme stemmen müssen:

– Zum einen muss die Wiedereingliederung in den Ar-
beitsmarkt mehr Menschen ermöglicht werden. Dies
darf nicht an einem zu engen Berechnungskorsett
scheitern – zumal der gesamtgesellschaftliche Ge-
winn den Aufwand deutlich übersteigen wird.

– Zum anderen muss es Verbesserungen in der Höhe
der Erwerbsminderungsrenten geben. Zugleich müs-
sen wir Menschen, die gesundheitlich eingeschränkt
sind, neue Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt er-
öffnen. Wer wegen Krankheit nach einem langen Ar-
beitsleben früher in Rente geht, soll keinen mit Ab-
schlägen verbundenen vorzeitigen Rentenbeginn
akzeptieren müssen oder soll nicht vor dem Renten-
eintritt auf Arbeitslosengeld II verwiesen werden.

– Darüber hinaus ist aber der enge Zugang zur Er-
werbsminderungsrente gerade für ältere Arbeitneh-
mer einer Prüfung zu unterziehen. Dabei ist zu be-
denken, dass zum einen diese Renten grundsätzlich
nur befristet geleistet werden und zum anderen auch
eine Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt bei
Inanspruchnahme von Rehaleistungen im Bereich
des Möglichen liegt.
Zu Protokoll
Tendenzen zur Verdichtung der Arbeit, insbesondere
in Berufen mit belastenden Arbeitsbedingungen, bringen
gesundheitliche Risiken mit sich. Längeres gesundes Ar-
beiten setzt daher einen alters- und alternsgerechten
Umbau der Arbeitswelt voraus. Von zentraler Bedeutung
zur Erhaltung der Erwerbsfähigkeit ist dabei das be-
triebliche Gesundheits- und Wiedereingliederungsma-
nagement, mit dem frühzeitig gegen drohende Leistungs-
minderung, Erkrankung, Behinderung und Erwerbs-
minderung vorgegangen werden kann.

Leider geschieht gegenwärtig in den Betrieben und
Unternehmen zu wenig. Nur ein Fünftel der Betriebe
führt spezifische Maßnahmen zur Gesundheitsförderung
durch. Insbesondere kleine, aber auch mittlere Unter-
nehmen müssen aber befähigt werden, ihren gesetzli-
chen Pflichten nachzukommen und externe Unterstüt-
zungsangebote zu nutzen. Sozialversicherungen und
staatliche Aufsichtsämter müssen ihre Verantwortung
stärker wahrnehmen. Dazu ist aber auch dort der Vor-
rang der Prävention nach § 3 SGB IX stärker zu veran-
kern.

Wollen wir mehr Menschen den Weg zurück ins Ar-
beitsleben ebnen, setzt dies einen stärkeren, zielgenaue-
ren und flexibleren Einsatz der Instrumente zur berufli-
chen Rehabilitation durch die Rentenversicherung
voraus. Auch Personen, die eine befristete Erwerbsmin-
derungsrente beziehen, haben einen Anspruch auf Reha-
bilitation und Unterstützung bei der Wiedereingliede-
rung. Dieser Anspruch muss künftig besser umgesetzt
werden, um den Betroffenen neue Perspektiven zu eröff-
nen. Die demografische Entwicklung, die zurzeit gesetz-
lich geregelte Anhebung des gesetzlichen Renteneintritts-
alter, aber auch die Zunahme von psychischen und ande-
ren chronischen Erkrankungen führen zu einem größe-
ren Bedarf an Rehabilitationsmaßnahmen.

Die Kommission Alterssicherung des SPD-Parteivor-
stands greift diese Themen auf und schlägt Lösungen
vor, in Bezug auf Rehabilitationsleistungen die Erhö-
hung des jährlich verfügbaren Budgets für Leistungen
zur Teilhabe. Dazu soll vor allem die demografische
Entwicklung bei der Dynamisierung des Rehabudgets
berücksichtigt werden. Zu diesem Vorschlag und weite-
ren Vorschlägen der Kommission – deren Arbeitsauftrag
ist hauptsächlich darauf gerichtet, Maßnahmen gegen
Altersarmut und für eine ausreichende Alterssicherung
zu erörtern – wird die SPD-Bundestagsfraktion in
nächster Zeit einen Antrag in den Deutschen Bundestag
einbringen.

Darüber hinaus liegt eine Entschließung des Bundes-
rats auf Initiative von Mecklenburg-Vorpommern zum
Thema vor. Hier heißt es:

Der Bundesrat fordert die Bundesregierung auf,
Vorschläge vorzulegen, wie die Regelung des § 220
Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) zur Er-
mittlung der jährlichen maximalen Ausgaben für
Leistungen zur Teilhabe an Hand objektiver Krite-
rien und entsprechend dem tastsächlichen Bedarf
an Teilhabeleistungen geändert werden kann.



gegebene Reden

Anton Schaaf


(A) (C)



(D)(B)

Auch die Bundestagsabgeordneten Peter Weiß und
Karl Schiewerling fordern eine Anhebung des bisheri-
gen Rehabudgets. Dafür will sich die Union ausdrück-
lich im Rentendialog starkmachen. Der Arbeitnehmer-
flügel der CDU fordert ebenfalls, einen demografischen
Faktor bei der Berechnung des Rehabudgets einzufüh-
ren (Süddeutsche Zeitung vom 21. Juli 2011).

Es gibt also ausreichend Vorschläge und guten Wil-
len. Leider hat die Union es in der Vergangenheit ver-
säumt, sich mit diesem wichtigen Thema auseinanderzu-
setzen. Sowohl als die Regelungen zur Rente mit 67 in
der Großen Koalition beschlossen wurden, als auch bei
der Anwendung der Überprüfungsklausel wurde von der
Union jeder Handlungsbedarf verneint. Daher muss ich
nochmals warnen: Gerade wer die schrittweise Erhö-
hung des Rentenalters schon im nächsten Jahr will,
muss zumindest sicherstellen, dass die Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer in Zukunft tatsächlich länger ar-
beiten können. Alles andere wäre fahrlässig.


Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1713031600

Rehabilitation ist ein zentrales Ziel unserer Sozial-

politik. Rehabilitation hilft nicht nur den betroffenen
Menschen, sondern ist neben Vorsorge auch das richtige
Konzept, zukünftige Krankheiten und Behinderungen
– und damit auch Kosten für das Sozialsystem – zu ver-
meiden.

Dennoch ist auch in diesem Bereich die ständige Ab-
wägung notwendig zwischen den Interessen der Betrof-
fenen, der Leistungsanbieter und der Beitragszahler. Es
wäre falsch, diese Abwägung von der Fraktion der Lin-
ken zu erwarten, die auch mit diesem Antrag wieder ein-
mal wohlfeile Forderungen in den Raum stellt, ohne
auch nur ansatzweise die Belastung der Rentenversiche-
rung und ihrer Beitragszahler zu berücksichtigen.

Für die FDP-Bundestagsfraktion ist und bleibt die
Beitragssatzstabilität ein sehr wichtiges Ziel. Im Inte-
resse der Beitragszahler – man kann auch sagen: der ar-
beitenden Bevölkerung – und im Interesse einer nach-
haltigen wirtschaftlichen Entwicklung darf dieser
Aspekt nicht aus dem Blick geraten.

Der demografische Wandel, der gern als Argument
für mehr Ausgaben im sozialen Bereich herangezogen
wird, erfordert, Ausgaben nur dort anzuheben, wo sie
sich tatsächlich als zwingend nötig erweisen. So können
Spielräume erhalten werden, die kommende Generatio-
nen noch dringend benötigen. Gerade die demografi-
sche Entwicklung ist also ein wichtiges Argument dafür,
Ausgabensteigerungen zu vermeiden. Der Reha-Deckel
ist aus gutem Grund als Instrument eingeführt worden.

Es ist die Frage, ob eine Ausgabensteigerung zum jet-
zigen Zeitpunkt notwendig ist.

Blicken wir also auf die vorgetragenen Argumente:
Die Linke verweist auf die steigende Anzahl älterer Be-
schäftigter. Das ist interessant! Die Redner der gleichen
Fraktion malen in diesem Haus ja bei anderen Gelegen-
heiten ein dramatisches Bild über die angeblich so
schlechte Beschäftigungssituation Älterer. Typischer
Fall von „Wie es gerade passt“. Dann folgt der Verweis
Zu Protokoll
auf die „Rente erst ab 67“. Das ist verwunderlich, da es
die Rente mit 67 erst im Jahre 2029 geben wird und
selbst die ersten Schritte dahin noch keinerlei Auswir-
kung auf die aktuelle Ausgabensituation haben.

Weitere Argumente bringt die Linke nicht vor; sie
stellt lediglich ein angebliches „Spardiktat“ in den
Raum. Eine etwas seriösere Argumentation wäre ange-
messen. Und für die Bürger und Beitragszahler wäre es
angenehm, ein einziges Mal auch bei der Linken ein Be-
wusstsein dafür zu erahnen, dass Staat und Sozialkassen
ihr Geld nicht unbegrenzt ausschütten dürfen.

Wenn der Rehadeckel zu tief angesetzt ist, muss er ge-
gebenenfalls angehoben werden. Wir sind bereit, diese
Möglichkeit jederzeit zu prüfen. Es ist nicht unwahr-
scheinlich, dass die Erhöhung in den nächsten Jahren
erforderlich wird. Zum jetzigen Zeitpunkt ist das für uns
fraglich.

Im Übrigen kann ich mich durchaus mit dem Vor-
schlag meines Kollegen Peter Weiß anfreunden, die For-
mel für die Anpassung des Rehabudgets zu überarbeiten.
Das ist ein kreativer Ansatz, der zielführender ist als die
von den Linken geforderte vollständige Aufhebung des
Deckels.

Außer Frage steht die Bedeutung der Leistungen, um
die es hier geht, für medizinische Rehabilitation, Teil-
habe am Arbeitsleben und Sicherung des Unterhaltes.
Die Ausgaben dafür liegen derzeit bei rund 5 Milliarden
Euro jährlich und werden entsprechend der voraussicht-
lichen Entwicklung der Bruttolöhne und -gehälter je Ar-
beitnehmer fortgeschrieben. Das ist sachgerecht, auch
deswegen, weil die Rehabilitationsausgaben zu einem
erheblichen Teil Personalkosten sind. In den vergange-
nen 13 Jahren wurde die Ausgabenobergrenze durch die
Träger der DRV nicht überschritten. Im Jahr 2010 lagen
die Ausgaben bei 98,9 Prozent des Ansatzes.

Ich bestreite nicht, dass das knapp ist. Die Deckelung
hat aber den Zweck, einen überproportionalen Kosten-
anstieg zu verhindern. Erst wenn die Qualität der Reha-
Leistungen unter geänderten demografischen Verhält-
nissen nicht mehr gewährleistet bleibt, müssen wir über
Lösungen nachdenken, allerdings ohne die gesetzlich
festgelegten Beitragssatzziele der GRV – maximal
20 Prozent im Jahr 2020 und 22 Prozent im Jahr 2030 –
infrage zu stellen. Auch die aktuellen Spielräume zur
Senkung des Beitragssatzes in der Rentenversicherung
sollten nicht gefährdet werden. Denn die Ausgaben für
Rehabilitation werden unmittelbar wirksam. Der Reha-
deckel schafft einen dosierten „Druck im Kessel“, um
kreative Lösungen zu entwickeln.

Der vorliegende Antrag ist oberflächlich und greift zu
kurz. Wir lehnen ihn daher ab.


Matthias W. Birkwald (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1713031700

Wir müssen endlich weg von der irrwitzigen, ja an der

Lebenswirklichkeit der allermeisten Menschen weit vor-
beigehenden Vorstellung, dass mit der Rente erst ab 67
die Menschen automatisch länger in guter Arbeit sein
werden. Die meisten schaffen es kaum bis 65. Das würde
sich auch dann nicht ändern, wenn jede und jeder genau



gegebene Reden

Matthias W. Birkwald


(A) (C)



(D)(B)

die Rehaleistungen erhielte, die sie oder er bräuchte, um
wieder fit für das Erwerbsleben zu sein. Reha muss sein!
Aber eine gute Reha ist keine Garantie für einen Job.
Und deshalb will die Linke beides: eine bedarfsgerechte
Reha und den sofortigen Abschied von der Rente erst ab 67!

Immer mehr Menschen beantragen eine Rehamaß-
nahme. In den vergangenen Jahren ist die Zahl der
Rehaanträge um knapp 30 Prozent oder 476 000 auf
über 2 Millionen, 2 082 108, gestiegen. Wir haben es
also ganz deutlich mit einem steigenden Bedarf und
damit auch mit steigenden Kosten zu tun. Das hat dazu
geführt, dass das Rehabudget, also das für Rehamaß-
nahmen zur Verfügung stehende Geld, nahezu vollstän-
dig ausgegeben wird. Denn es ist leider nicht so, dass
mit dem steigenden und wohlgemerkt rechtmäßigen Be-
darf auch mehr Geld zur Verfügung gestellt würde – mit-
nichten. Denn die gesetzliche Rentenversicherung darf
nur einen politisch willkürlich festgesetzten Betrag für
Rehaleistungen ausgeben – § 220 SGB VI. Das ist der
sogenannte Rehadeckel: Das verfügbare Rehabudget
orientiert sich nicht am Bedarf, sondern an der Entwick-
lung der Bruttolöhne und -gehälter je Arbeitnehmer.
Das ist doch absurd! Die Menschen werden doch nicht
gesünder, wenn die Löhne sinken! Da ist doch wohl eher
das Gegenteil der Fall! Dieser politisch motivierte De-
ckel dient allein der Leistungskürzung – und das ist nun
wirklich falsch!

Die Situation spitzt sich nun zunehmend zu: Der fi-
nanzielle Rahmen ist nahezu ausgeschöpft. Die Renten-
versicherungsträger sind daher kaum noch in der Lage,
in ausreichendem Umfang Leistungen zur medizinischen
Rehabilitation, zur Teilhabe am Arbeitsleben und zur Si-
cherung des Unterhaltes zu gewähren. Das Ziel, den
vorzeitigen Ausstieg aus dem Arbeitsleben zu verhindern
oder möglichst dauerhaft eine Wiedereingliederung zu
erreichen, kann nicht mehr im erforderlichen Umfang
erreicht werden. Herbert Rische, der Präsident der
Deutschen Rentenversicherung Bund, fordert deshalb
unmissverständlich, dass das System überdacht werden
müsse, „um sicherzustellen, dass die notwendigen Reha-
bilitationsleistungen auch wirklich erbracht werden
können“. Recht hat er!

Durch diesen Finanzierungsdeckel werden die Leis-
tungen zur Teilhabe also nicht am tatsächlichen Bedarf
der Betroffenen bemessen. Vielmehr unterliegen diese
Maßnahmen einem politisch motivierten Spardiktat.
Auch die schwarz-gelbe Bundesregierung hat das Pro-
blem zur Kenntnis genommen. Im jüngst veröffentlichten
Nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behin-
dertenrechtskonvention kündigt die Bundesregierung
an, sie wolle „die Notwendigkeit einer Anhebung des
Reha-Deckels prüfen“. Doch im selben Atemzug formu-
liert Schwarz-Gelb unmissverständliche Bedingungen:

Dabei hält die Bundesregierung allerdings an ihrer
rentenpolitischen Grundentscheidung fest, dass
Ausgabensteigerungen im System der Rentenversi-
cherung nicht zulasten der Generationengerechtig-
keit gehen oder zu einer Gefährdung der gesetzli-
chen Obergrenzen für den Beitragssatz führen
dürfen.
Zu Protokoll
Das heißt im Klartext doch nichts anderes, als dass
die Prüfergebnisse schon jetzt vollkommen egal sind.
Das ist die gleiche Logik, die auch heute schon dem Re-
hadeckel zugrunde liegt. Statt am Bedarf wollen CDU
und Liberale sich an der Beitragssatzstabilität orientie-
ren. Statt den absurden Rehadeckel abzuschaffen, wol-
len Union und FDP ihn nur anders begründen. Die
Linke will, dass Union und FDP ihre Trickserei endlich
sein lassen – und zwar zum Wohle der Betroffenen!

Die Linke fordert deshalb die Bundesregierung auf,
einen Gesetzentwurf vorzulegen, der die Deckelung der
Rehaleistungen in der gesetzlichen Rentenversicherung
umgehend aufhebt und die Leistungen zur Teilhabe am
Bedarf der Betroffenen ausrichtet. Wir wollen, dass
Schluss ist mit der politischen Willkür in der Reha!


Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1713031800

Reha vor Rente – dieser Grundsatz ist sinnvoll. Gute

Rehabilitation ist im Ernstfall die Voraussetzung für die
Möglichkeit, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Sie
ist vor allem wichtig, wenn wir auf die Entwicklungen
schauen, die wir am Arbeitsmarkt in Zukunft zu erwar-
ten haben. Die demografische Entwicklung wird zu einer
steigenden Zahl älterer Beschäftigter führen. Die Ver-
längerung des Erwerbslebens, die wir durch die Herauf-
setzung des Renteneintrittsalters haben werden, trägt
ebenfalls dazu bei. Der Bedarf an Rehabilitation wird
sich erhöhen. Im Antrag der Linksfraktion wird das ja
genau so formuliert.

Die Haushaltsmittel der gesetzlichen Rentenversiche-
rung werden seit 1997 durch den § 220 im SGB VI, den
sogenannten Rehadeckel, begrenzt. Die jährlichen Aus-
gaben werden demnach entsprechend der voraussichtli-
chen Entwicklung der Bruttolohn- und -gehaltssumme je
durchschnittlich beschäftigtem Arbeitnehmer festge-
setzt. Das Rehabudget orientiert sich also an der Lohn-
entwicklung, nicht am Bedarf.

Zwei Drittel der Rehabilitationsausgaben der Deut-
schen Rentenversicherung liegen im Bereich der medizi-
nischen Rehabilitation. Und für diesen Bereich muss
man feststellen, dass die Differenz zwischen der konti-
nuierlich ansteigenden Zahl der Rehabilitationsanträge
und der Zahl der Bewilligungen seit 2006 immer größer
geworden ist. Es werden im Verhältnis also weniger An-
träge bewilligt, auch wenn die Zahl der bewilligten An-
träge insgesamt leicht steigt.

Ganz offensichtlich steht die Rentenversicherung vor
dem Problem, die steigenden Ansprüche an ihre Leistun-
gen im Rahmen ihrer Mittel zu bewältigen. Sie ist also
gezwungen, entweder weniger Anträge zu bewilligen
oder ihre Ausgaben für die einzelnen Rehabilitations-
leistungen zu senken. Es gibt durchaus politisch sinn-
volle Maßnahmen, die auch zu Kostensenkungen führen:
eine Schwerpunktlegung auf ambulante Leistungen oder
indem Leistungen flexibel auf individuelle Fälle abge-
stimmt werden. Nichtsdestotrotz steigt die Bedeutung
der Rehabilitation insgesamt. Rehabilitation wird wich-
tiger und muss entsprechend gesichert werden. Eine
Politik der Ausgliederung, wie sie die Bundesregierung
arbeitsmarktpolitisch faktisch betreibt, ist nicht zielfüh-



gegebene Reden





Markus Kurth


(A) (C)



(D)(B)

rend. Es muss den Menschen auch tatsächlich möglich
sein, entsprechend lange zu arbeiten. Die Rahmenbedin-
gungen sind so zu setzen, dass niemand gezwungen ist,
in Frührente zu gehen, weil es keine Alternativen gibt.

Der politische Wille zur Anhebung des Rehadeckels
ist auf fast allen Seiten vorhanden: Nicht nur die Linke
fordert, die Rehabilitationsleistungen dem Bedarf ent-
sprechend zu gewähren und mit dieser Zielvorstellung
auch die Regelung des § 220 SGB VI zu ändern. Auch
die Bundesregierung hat unter anderem in ihrem Ak-
tionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskon-
vention angekündigt, die Anhebung des Reha-Deckels zu
prüfen. Dass hier etwas geschehen muss, ist wenig kon-
trovers.

Eine Anhebung des Rehadeckels ist sinnvoll, sie reicht
aber nicht aus. Es sind Verfahren zur Ermittlung und Klas-
sifizierung des Rehabedarfs zu entwickeln, um die Lücke
zwischen Anträgen und erfolgreichen Bewilligungen sinn-
voll zu verringern. Die Bundesregierung muss darüber hi-
naus auch sicherstellen, dass entsprechend der Anforde-
rungen, die sich aus dem demografischen Wandel und den
Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt ergeben, Rehabili-
tationsmaßnahmen zur Verfügung stehen.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1713031900

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/6914 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstan-
den? – Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend (13. Ausschuss) zu dem An-
trag der Abgeordneten Dorothee Bär, Markus
Grübel, Michaela Noll, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abge-
ordneten Miriam Gruß, Nicole Bracht-Bendt,
Sibylle Laurischk, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP

Neue Perspektiven für Jungen und Männer

– Drucksachen 17/5494, 17/7088 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Michaela Noll
Stefan Schwartze
Miriam Gruß
Yvonne Ploetz
Till Seiler


Dorothee Mantel (CSU):
Rede ID: ID1713032000

Eine moderne Gleichstellungspolitik muss gezielt die

Unterschiede in den Lebensverläufen von Frauen und
Männern, von Mädchen und Jungen berücksichtigen.

Lange Zeit ist das Ziel der Gleichberechtigung vor-
nehmlich durch frauenpolitische Maßnahmen verfolgt
worden. Aktuelle Entwicklungen haben jedoch gezeigt,
dass sich die Gleichstellungspolitik zusätzlich – dieses
Wort ist wichtig; ich spreche ausdrücklich nicht von
„ausschließlich“! – den Jungen und Männern zuwenden
muss.

In den letzten Jahren sind die Geschlechterrollen in
Bewegung geraten, und viele junge Männer sind auf der
Suche nach Perspektiven jenseits traditioneller Lebens-
entwürfe und stereotyper Erwartungen. Eine moderne
Gleichstellungspolitik muss diesen Entwicklungen Rech-
nung tragen – und entsprechend erweitert werden. Ziel
unserer Gleichstellungspolitik ist dabei aber nicht, be-
stimmte Lebensmodelle vorzuschreiben. Es geht viel-
mehr darum, neue Optionen zu eröffnen und tatsächli-
che Wahlfreiheiten zu gewährleisten.

Besonders wichtig sind in diesem Zusammenhang An-
strengungen im Bildungsbereich. Derzeit werden Jungen
häufig als Bildungsverlierer wahrgenommen – und neh-
men sich teilweise auch selber so wahr. Die Gründe
hierfür sind vielfältig: Nur halb so viele Jungen wie
Mädchen sind beispielsweise zum Zeitpunkt der regulä-
ren Einschulung schulreif. Jungen wiederholen häufiger
eine Klasse als Mädchen und brechen die Schule häufi-
ger ab. Im Lesen erzielen Jungen deutlich geringere
Kompetenzen als Mädchen. Das Risiko eines ungünsti-
gen Bildungsverlaufs scheint insbesondere hoch zu sein
bei Jungen mit Migrationshintergrund und aus bil-
dungsfernen Familien.

Eine ausschließliche Fokussierung auf die eben vor-
getragenen Tatsachen blendet jedoch aus, dass das Leis-
tungsspektrum innerhalb der Gruppe der Jungen sehr
breit ist: Sowohl unter den schlechtesten als auch unter
den besten Schülern eines Jahrgangs finden sich über-
durchschnittlich viele Jungen. Erfolgreiche Jungenpoli-
tik muss daher potenzial- und lösungsorientiert sein.

Kindertageseinrichtungen und Schulen kommt als
Bildungs- und Erziehungseinrichtungen eine entschei-
dende Aufgabe zu. Hier könnten Jungen von der Anwe-
senheit männlicher Pädagogen profitieren. Entspre-
chend müssen diese Tätigkeitsfelder für junge Männer
weiter erschlossen werden. Junge Männer erhalten da-
durch auch zusätzliche berufliche Perspektiven.

Auch in der Schule muss den besonderen Bedürfnis-
sen von Jungen verstärkt Rechnung getragen werden.
Gleiches gilt für die Kinder- und Jugendarbeit, die Ju-
gendsozialarbeit und die Migrationsarbeit.

Zusätzlich bedarf es in Gesellschaft und Wirtschaft
einer Anerkennung und Wertschätzung neuer männli-
cher Lebensentwürfe, die sich jenseits traditioneller
Vorstellungen und stereotyper Erwartungen bewegen.

Damit sind nach meinem Dafürhalten insbesondere
die folgenden Maßnahmen zu ergreifen:

Die Erweiterung des Berufswahlspektrums von Jun-
gen und Männern, insbesondere mit Blick auf pflegeri-
sche Berufe, muss weiter vorangetrieben werden. Wich-
tig sind daneben flexible Arbeitszeitmodelle und
sogenannte Sabbaticals, um auch Vätern zu ermögli-
chen, Zeit mit ihren Kindern zu verbringen. Zielführend
sind in diesem Zusammenhang auch Maßnahmen im
Rahmen des Aktionsprogramms „Perspektive Wieder-
einstieg“.

Dorothee Bär


(A) (C)



(D)(B)

Eines möchte ich abschließend nochmals ausdrück-
lich betonen: Es ist nicht unsere Intention, die Jungen-
förderung zulasten der Förderung von Mädchen und
Frauen zu betreiben – entgegen den Unterstellungen der
Oppositionsparteien. Es geht uns vielmehr darum, bei-
den Geschlechtern Chancen zu geben und sie entspre-
chend ihrer jeweils spezifischen Bedürfnisse zu fördern.


Michaela Tadjadod (CDU):
Rede ID: ID1713032100

„Neue Perspektiven für Jungen und Männer“ – der

Titel unseres Antrags hat viele, als sie ihn zum ersten
Mal gehört haben, sicher überrascht. Denn während
über Förderung von Mädchen und Frauen seit Jahr-
zehnten – zu Recht – diskutiert wird, wurde die Frage,
was wir für Jungen und Männer tun müssen, lange nicht
gestellt, in meinen Augen viel zu lange nicht. Dies wol-
len wir nun mit unserem Antrag ändern.

Viele fragen sich jetzt vielleicht: Warum wollen wir
das ändern? Warum sollten wir Jungen und Männer för-
dern, wenn Frauen noch immer weniger verdienen, in
den Aufsichtsräten und Vorständen der Unternehmen in
der Minderzahl sind und noch immer die Hauptverant-
wortung für Kindererziehung und Haushalt tragen? Da-
rauf lässt sich ganz einfach antworten: weil Handlungs-
bedarf besteht. Dies haben meine Kleine Anfrage aus
dem Jahr 2004 und die Kleine Anfrage der FDP aus dem
Jahr 2008 hinlänglich bewiesen.

Zudem haben Studien belegt, dass die Mädchen die
Jungen in vielen Bereichen abgehängt haben. Zuletzt hat
die 16. Shell-Jugendstudie „Jugend 2010“ gezeigt, dass
Mädchen ihre männlichen Altersgenossen bei der Schul-
bildung überholt haben. Auch machen sie die besseren
Hochschulabschlüsse. Dieser Vorsprung gilt aber nicht
nur für die Bildung, sondern auch für andere Bereiche.
So sind Jungen zum Beispiel stärker von Verhaltensauf-
fälligkeiten betroffen als Mädchen.

An dieser Stelle ist es mir sehr wichtig, nicht falsch
verstanden zu werden. Deshalb möchte ich es hier noch
einmal ganz ausdrücklich betonen: Ich freue mich da-
rüber, dass die Gleichberechtigung so große Fort-
schritte gemacht hat. Ich freue mich über jede junge
Frau, die nach einem hervorragenden Schulabschluss
einen ebenso hervorragenden Hochschulabschluss
macht, der ihr alle beruflichen Möglichkeiten eröffnet.
Und ich würde mir wünschen, dass diese jungen, gut
ausgebildeten und selbstbewussten Frauen die gleichen
beruflichen Chancen hätten wie die meisten Männer,
dass sie sich nicht mehr den Kopf an der Gläsernen De-
cke stoßen oder sich mit weniger Geld zufriedengeben
müssten.

Dass bei den Mädchen und Frauen weiterhin Hand-
lungsbedarf besteht, heißt ja nicht gleichzeitig, dass wir
die Jungen und Männer vergessen dürfen. Unser Ziel ist
es, beiden Geschlechtern gerecht zu werden. Denn beide
haben Förderbedarf, nur eben zu unterschiedlichen Zei-
ten: Frauen später – beim beruflichen Aufstieg und Wie-
dereinstieg –, Männer bzw. Jungen eben früher, nämlich
in den Kindertageseinrichtungen, Schulen und beim
Übergang in den Beruf. Ich denke, dies wird kaum je-
mand bestreiten wollen.
Zu Protokoll
Mir ist es deshalb ein Rätsel, warum unser Antrag
– und das Thema generell – vor allem bei der SPD auf
Ablehnung stößt. Immer wieder wird mehr oder weniger
deutlich unterstellt, dass wir uns mit unserer Jungen-
politik gegen die Mädchen wenden. Diesen Skeptikern
halte ich entgegen, dass sie nicht wahrhaben wollen,
dass sich die Lebenswelten von Jungen und Männern ge-
ändert haben und dass sich Jungen- und Mädchenpolitik
ergänzen muss, um sinnvoll zu sein. Wir wollen kein Ent-
weder-oder, sondern ein Sowohl-als-auch. Denn wie sol-
len junge Menschen Partnerschaften führen und Fami-
lien gründen, wenn sie nicht zueinanderfinden und sich
nicht auf Augenhöhe begegnen können? Ich befürchte,
dies könnte schwierig werden, wenn wir Gleichstel-
lungspolitik weiterhin als Gegeneinander und nicht als
Miteinander begreifen.

Meine Überzeugung, dass wir uns auch den Jungen
und Männern zuwenden müssen, resultiert aber nicht
nur aus der Lektüre von Studien. Ich bin in meinem
Wahlkreis häufig von Eltern und Lehrern angesprochen
worden, die mir von ihren Erfahrungen und Beobach-
tungen berichtet haben. Erst vor einigen Wochen habe
ich mit zwei Lehren gesprochen, die sich zu Jungen-
Coaches haben ausbilden lassen, weil sie in ihrer tag-
täglichen Arbeit gemerkt haben: Es besteht Bedarf an
einer besonderen Arbeit mit Jungen, Bedarf, Jungen bei
der Entwicklung eines positiven männlichen Selbstbil-
des zu begleiten und in ihrem Verantwortungsbewusst-
sein gegenüber sich und anderen zu stärken. Ihr Erfolg
gibt den beiden Lehrern recht.

Sprechen Sie doch auch einmal mit Lehrern und El-
tern von Söhnen! Ich bin überzeugt, dass auch Sie von
diesen die Antwort bekommen werden: Jungen brauchen
eine gesonderte Aufmerksamkeit und eine besondere An-
sprache.

Zudem habe ich Gespräche mit Verbänden und Verei-
nen geführt, die seit Jahren in der Jungenförderung ak-
tiv sind und immer wieder auf einen akuten Handlungs-
bedarf hinweisen. Die Vereine sind übrigens ebenfalls
der Meinung: Hier geht es nicht darum, den Mädchen
und Frauen etwas streitig zu machen, sondern es geht
darum, den Blickwinkel auf die Jungen und Männer zu
erweitern.

Jetzt habe ich zusätzlich Rückendeckung aus Europa
bekommen. Auch die EU hat das Thema „Männer und
Gleichstellung“ aufgegriffen und eine entsprechende,
von Workshops begleitete Studie, in Auftrag gegeben.
Auch auf europäischer Ebene wurde erkannt, dass
Chancengleichheit nur erreicht werden kann, wenn wir
die Männer mit an Bord holen.

Natürlich hängen viele der Befunde, die darauf hin-
weisen, dass die Mädchen die Jungen überholt haben,
nicht nur mit dem „Jungensein“ zusammen. Selbstver-
ständlich spielen die soziale Herkunft und das Vorhan-
densein bzw. Nichtvorhandensein eines Migrationshin-
tergrunds ebenfalls eine große Rolle. Aber das Risiko
eines ungünstigen Bildungsverlaufs scheint höher, wenn
ein Junge einen Migrationshintergrund hat und aus ei-
ner bildungsfernen Familie stammt.



gegebene Reden

Michaela Noll


(A) (C)



(D)(B)

Ich bin deshalb sehr dankbar, dass sich Familien-
ministerin Dr. Kristina Schröder der Förderung von
Jungen verschrieben hat. Das Familienministerium ent-
wickelt im Rahmen seiner Gleichstellungspolitik eine
eigenständige Jungen- und Männerpolitik und setzt
spezielle Projekte für Jungen und Männer um. Exempla-
risch sei hier die Einberufung eines Jungenbeirats ge-
nannt. Aber auch schon unter Familienministerin
Dr. Ursula von der Leyen wurden in der letzten Legisla-
turperiode wichtige Projekte auf den Weg gebracht, wie
zum Beispiel das Projekt „Neue Wege für Jungs“.

Auch mit unserem Antrag verfolgen wir das Ziel, ein-
seitige Geschlechterrollen in Beruf und Familie zu über-
winden und den Jungen auf die Sprünge zu helfen. Hier-
für haben wir 19 Forderungen formuliert, aus der ich
aus aktuellem Anlass eine herausgreifen möchte:

Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung hat vor
einigen Tagen die erste repräsentative Studie zum
Thema Onlinesucht vorgestellt. Diese belegt, dass die
Sucht nach Onlinespielen verstärkt bei Jungen auftritt.
Das ist problematisch, da Untersuchungen gezeigt ha-
ben, dass erhöhter Computerspielekonsum zu gesund-
heitlichen Beeinträchtigungen führen kann und zu einem
gefährlichen Rückzug der Jungen aus der realen in eine
virtuelle Welt. Zudem geht übermäßiger Medienkonsum
oft mit schwächeren Lese- und Sprachkompetenzen ein-
her und wirkt sich negativ auf die schulischen Leistun-
gen aus.

In unserem Antrag fordern wir deshalb die Weiterent-
wicklung von medienpädagogischen Projekten für Jun-
gen, um deren Medienkompetenz zu stärken. Und auch
die pädagogischen Fachkräfte müssen besser geschult
werden, um kompetent auf die Risiken, die von einem
erhöhten Konsum von Onlinespielen ausgehen können,
reagieren zu können.

Männer wollen den Gleichstellungsprozess mitgestal-
ten und eingebunden werden, damit sich auch ihnen
neue Perspektiven und Möglichkeiten eröffnen. Diese
Chance sollten wir ihnen geben. Denn, wie es Kai
Gehring von den Grünen bei der ersten Lesung dieses
Antrags auf den Punkt gebracht hat:

Moderne Gleichstellungspolitik lässt sich nur mit
Frauen und Männern gemeinsam gestalten. Denn
Männer sind Partner für die Gleichstellungspolitik.


Stefan Schwartze (SPD):
Rede ID: ID1713032200

Geschlechterpolitik ist in der Vergangenheit vor al-

lem von Frauen initiiert und getragen worden, und
Frauen haben schon eine Reihe von Verbesserungen für
sich erstritten. Das ist auch gut so. Zunehmend melden
sich heute auch Männer und Väter zu Wort und setzen
sich für ihre Interessen ein. Auch das ist gut so. Frauen
und Männer haben in der Geschlechterpolitik viele ge-
meinsame Ziele. Männliches geschlechterpolitisches
Engagement muss keineswegs automatisch zu feindli-
cher Abgrenzung gegenüber Fraueninteressen oder dem
Feminismus führen.

Es ist nicht zielführend, eine Geschlechterpolitik zu
etablieren, die auf den Geschlechterkampf ausgelegt ist,
Zu Protokoll
die Männer und Frauen gegeneinander ausspielt.
Gleichstellungspolitik muss beide Geschlechter im Blick
haben.

Sozialdemokratische Gleichstellungspolitik war
schon immer darauf ausgerichtet, die Lebensbedingun-
gen eines jeden Kindes und Jugendlichen unabhängig
vom Geschlecht zu verbessern und auf Chancengleich-
heit hinzuwirken. Wir von der SPD-Bundestagsfraktion
wollen Geschlechterstereotype überwinden und nicht
manifestieren.

In dem schwarz-gelben Antrag wird von Jungen als
Bildungsverlierern gesprochen; sie seien bei der regulä-
ren Einschulung häufiger nicht schulreif, sie würden
häufiger die Klasse wiederholen und brächen die Schule
häufiger ab als Mädchen. Dabei hält es die Bildungsfor-
schung für falsch, männliche Schüler pauschal als Ver-
lierer zu betrachten. Sehr differenziert setzt sich mit die-
ser Behauptung die Expertise „Schlaue Mädchen –
dumme Jungen?“ auseinander, die unter Federführung
des Deutschen Jugendinstituts entstand. Kriterien wie
die soziale Schicht oder eine Zuwanderungsgeschichte
haben danach eine größere Bedeutung als die Ge-
schlechtszugehörigkeit.

Die Schlüssel, um die Bildungsbenachteiligung aus-
zugleichen, sind längeres gemeinsames Lernen, Ganz-
tagsschulen und frühe Förderung. Das hilft benachtei-
ligten Jungen und Mädchen gleichermaßen. Das von
Rot-Grün auf den Weg gebrachte Ganztagsschulpro-
gramm war daher immens wichtig. Auch der Ausbau der
Kitas sowohl quantitativ als auch qualitativ ist dabei ein
wichtiger Weg. Unsere Kitas haben als Bildungseinrich-
tungen eine besondere Bedeutung.

Es ist bekannt, dass der Kinderbetreuungsausbau
nicht in dem Maße voranschreitet, wie er sollte. Vielen
Kommunen fehlt schlichtweg das Geld. Doch widmet
sich die Bundesregierung diesem Problem? Beruft sie
einen Krippengipfel ein und überlegt, wie sie den Kom-
munen helfen kann? Nein, davon ist in diesem Antrag
nichts zu finden. Im Gegenteil, die CDU/CSU-Fraktion
hält immer noch an der unsäglichen Idee des Betreu-
ungsgeldes fest.

Was ist das für eine Idee, Geld dafür zu bekommen,
dass eine Leistung nicht in Anspruch genommen wird,
eine Prämie dafür, dass Kinder von guten Angeboten
früher Bildung ferngehalten werden? Für benachteiligte
Jungen und Mädchen bedeutet die Einführung des Be-
treuungsgeldes schlichtweg das Aus für frühkindliche
Bildung. Eine frühe Sprachförderung würde für sie nicht
mehr stattfinden. Zudem stellt das Betreuungsgeld ein
Hindernis für einen raschen Einstieg beziehungsweise
Wiedereinstieg in das Erwerbsleben dar. Die Union ver-
festigt damit alte Rollenverteilungen im Familienalltag.
Es ist wesentlich sinnvoller, die für das Betreuungsgeld
vorgesehenen 2 Milliarden Euro in den Aus- und Aufbau
von Krippen- und Kindergartenplätzen zu investieren.

Aber die Bundesregierung geht noch weiter. Sie
streicht und kürzt im Kinder- und Jugendplan des Bun-
des für 2012 Maßnahmen zur Gleichstellung von Jungen
und Mädchen, zur Integration junger Menschen mit Mi-



gegebene Reden

Stefan Schwartze


(A) (C)



(D)(B)

grationshintergrund und zur sozialen und beruflichen
Integration junger Menschen sowie zur Inklusion junger
Menschen mit Behinderungen. Diese Politik lässt Kin-
der und Jugendliche beiderlei Geschlechts zurück. Und
hier macht die SPD-Bundestagsfraktion nicht mit.

Einzelne Zielrichtungen des Antrags begrüßen wir. So
begrüßen wir zum Beispiel Maßnahmen, die darauf aus-
gerichtet sind, die EU-Zielmarke „20 Prozent Männer
als Erzieher“ zu erreichen. Auch die Handlungsempfeh-
lungen des Gleichstellungsberichts fordern ein ausge-
wogenes Verhältnis zwischen männlichen und weibli-
chen pädagogischen Fachkräften, einschließlich einer
Erhöhung des Anteils männlicher Pädagogen in Kinder-
tagesstätten und in der Grundschule, allerdings klar
verbunden mit der Vermittlung von Kompetenzen einer
geschlechtsbewussten Pädagogik. Das Projekt „MEHR
Männer in Kitas“ lässt jedoch den Aspekt der Vermitt-
lung von Kompetenzen einer geschlechtsbewussten Pä-
dagogik außen vor, es greift daher eigentlich zu kurz.

Auch das Ziel, Männer in ihrer Aufgabe als Väter zu
stärken, teilen wir. Nur wollen wir eine echte Förderung
und nicht nur die Förderung von einzelnen kleinen Vä-
terprojekten, wie im Antrag gefordert. Wir schlagen eine
Stärkung der Partnermonate beim Elterngeld vor. Be-
reits in der Großen Koalition gab es ja die Idee, die
Partnermonate von zwei auf vier auszuweiten.

Diese Forderung findet sich auch in der Koalitions-
vereinbarung von CDU, CSU und FDP wieder. Aber hat
die Bundesregierung hier etwas getan? Hat sie Geld in
die Hand genommen und wirklich etwas verändert?
Nein, Fehlanzeige, gestrichen und ad acta gelegt wegen
Geldmangels! Der Einsatz der Bundesministerin dafür
ist gleich null.

Deshalb lehnt die SPD-Bundestagsfraktion den An-
trag von CDU/CSU und FDP ab.


Marianne Schieder (SPD):
Rede ID: ID1713032300

Wenn man den vorliegenden Antrag der Koalition

liest, könnte man den Eindruck gewinnen, dass Deutsch-
land seit Jahrzehnten vom Matriachat geprägt ist. Für
die Bundesregierung mag das derzeit vielleicht stimmen,
aber sicherlich nicht für die breite Gesellschaft.

Es ist ja schön, dass in der Koalition nun die ge-
schlechtsspezifische Arbeit entdeckt wurde. Doch leider
ist dort noch nicht angekommen, dass beide Geschlech-
ter eine Rolle spielen. Der Antrag zeigt, dass die Bun-
desregierung in puncto Geschlechtergerechtigkeit eher
Rück- statt Fortschritte macht.

Gender Mainstreaming ist seit der UN-Frauenkonfe-
renz in Peking im Jahr 1995 – an der ich teilnehmen
konnte – ein internationales Instrument der Gleichstel-
lung. Als solches wurde es in der EU und ihren Mit-
gliedsländern eingeführt. Laut offizieller Website des
Bundesministeriums für Familien, Senioren, Frauen und
Jugend basiert diese Strategie – ich zitiere – „auf der
Erkenntnis, dass es keine geschlechtsneutrale Wirklich-
keit gibt und Männer und Frauen in sehr unterschiedli-
cher Weise von politischen und administrativen Ent-
scheidungen betroffen sein können. Das Leitprinzip
Zu Protokoll
Geschlechtergerechtigkeit verpflichtet die politischen
Akteure, bei allen Vorhaben die unterschiedlichen Inte-
ressen und Bedürfnisse von Frauen und Männern zu
analysieren und ihre Entscheidungen so zu gestalten,
dass sie zur Förderung einer tatsächlichen Gleichstel-
lung der Geschlechter beitragen.“

Angesichts dieser Aussagen kann ich es nicht verste-
hen, wie dieser Antrag und das Ansinnen im Koalitions-
vertrag von CDU/CSU und FDP zustande kam, jetzt ein-
seitig Jungen- und Männerarbeit zu fördern. Der Antrag
hat sogar eher den Duktus, die Geschlechter zulasten
der Frauen auseinanderzudividieren.

Doch nun zu einigen Details aus dem Antrag. Wie
ernst ist es der Koalition überhaupt mit ihrem Ansinnen?
Die Bundesregierung wird aufgefordert, im Rahmen der
zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel neue Impulse
zu setzen. Wie soll das ohne zusätzliche Mittel gehen?
Oder hofft man darauf, dass an anderer Stelle, am bes-
ten noch bei den Mitteln zur Frauenförderung, gestri-
chen wird?

Mehrfach wird im Antrag gefordert, dass Männer vor
allem in die Arbeitsfelder gebracht werden müssen, in
denen sie bisher unterrepräsentiert sind. Ich frage: Wa-
rum sind sie gerade in den Bereichen der Erziehung un-
terrepräsentiert? Vielleicht weil hier die Bezahlung be-
sonders unattraktiv ist!? Daher sollten wir einmal
darüber diskutieren, warum insbesondere bei Berufen
mit einem hohen Frauenanteil nach wie vor die Bezah-
lung relativ bescheiden ist! Das hat relativ wenig mit
Jungen- und Männerpolitik zu tun.

Es ist zwar nett zu lesen, dass erzieherische und pfle-
gerische Berufe mit Blick auf Weiterqualifizierung und
Durchlässigkeit zwischen den einzelnen Berufen attrak-
tiver ausgestaltet und Rahmenbedingungen verbessert
werden müssen. Doch viel notwendiger brauchen wir
mehr Qualität und bundesweite Standards in der Ausbil-
dung von Erzieherinnen und Erziehern. Darüber hinaus
müssen wir darüber reden, wie die Träger von Kitas, die
Kommunen, überhaupt in die Lage versetzt werden,
mehr Personal für die Kinderbetreuung anzustellen. Nur
wenn es überhaupt Erzieherinnen und Erzieher vor Ort
gibt, können sie auch geschlechtsspezifisch arbeiten.

Wer vorherrschende Rollenmuster durchbrechen will
und mehr Geschlechtergerechtigkeit will, muss bereits
bei der frühkindlichen und schulischen Bildung anset-
zen. Doch hier liegt dank dieser Bundesregierung eini-
ges im Argen.

Die soziale Herkunft spielt noch immer eine zu große
Rolle für den Bildungserfolg, viel mehr, als es das Ge-
schlecht spielt. Ich finde es daher unerhört, dass im Ko-
alitionsantrag Jungen als Bildungsverlierer benannt
werden und man glaubt, durch Ermunterungen die Si-
tuation zu verbessern. Die neueste PISA-Studie zeigt,
dass ein sozial ungünstiges soziales Umfeld in keinem
anderen Land zu so starken Leistungsverlusten bei den
Schülerinnen und Schülern führt wie in Deutschland.
Das ist bildungspolitisch unverantwortlich und zutiefst
ungerecht.



gegebene Reden

Marianne Schieder (Schwandorf)



(A) (C)



(D)(B)

Daher brauchte es ein Zusammenwirken von Bund,
Ländern und Kommunen, die Situation zu verbessern,
statt die Geschlechter auseinanderzudividieren und ver-
meintlich geschlechtsspezifische Appelle an die Bundes-
länder zu richten.

Die Liste der sonderbaren Forderungen aus dem An-
trag ließe sich leider noch eine ganze Weile fortführen.
Doch ich denke, es ist bereits mehr als deutlich gewor-
den, warum dieser Antrag keine Unterstützung verdient.

Aus meiner Sicht ist dieser Antrag lediglich ein Ge-
fallen der Koalition für ihre Frauenministerin, die ent-
gegen ihrer eigentlichen Aufgabe mit der Forderung
nach mehr Jungen- und Männerarbeit Schlagzeilen ma-
chen will. Diesem Ansinnen mit weitreichenden Folgen
für unsere junge Generation dürfen wir nicht entgegen-
kommen. Vielmehr brauchen wir eine echte Verbesse-
rung der geschlechtsspezifischen Arbeit und einen Aus-
bau der Bildung für junge Menschen.

Aus diesem Grund lehnt die SPD-Bundestagsfraktion
den Antrag von CDU/CSU und FDP ab.


Miriam Gruß (FDP):
Rede ID: ID1713032400

Die Welt dreht sich weiter. Waren es früher aus-

schließlich Mädchen und Frauen, die im Mittelpunkt der
Gleichstellungspolitik standen, haben wir jetzt unseren
Fokus erweitert: Eine moderne Gleichstellungspolitik
berücksichtigt auch die spezifischen Bedürfnisse von
Jungen und Männern. Die heutige Gesellschaft fordert
von ihnen heute schließlich teilweise größere Anpas-
sungsprozesse als von Frauen.

Es ist längst überholt, dass wir ein Geschlecht bevor-
zugen und einseitige Förderung fordern. Nicht zuletzt
deshalb reden wir heute über einen Antrag der FDP und
der Union, der sich mit der Gleichstellung von Jungen
und jungen Männern in unserer modernen Gesellschaft
beschäftigt.

Diese Regierung ist die erste, die bei diesem Thema
umfassend aktiv geworden ist. Im Koalitionsvertrag ha-
ben wir uns zum Ziel gesetzt, eine eigenständige Jungen-
und Männerpolitik zu entwickeln und bereits bestehende
Projekte in dieser Richtung fortzuführen.

„MEHR Männer in Kitas“, der „Boys Day“ und die
Unterstützung diverser Väterprojekte sind gute Bei-
spiele dafür, was wir unter einer Gleichstellungspolitik
verstehen, die sich nicht von falschen Rollenklischees
bremsen lässt, sondern ganz ideologiefrei den jeweils
spezifischen Handlungsbedarf bei beiden Geschlechtern
erkennt.

Es geht in dieser Diskussion letztlich um die Frage,
wie wir werden, was wir sind. Warum gibt es beispiels-
weise nur wenige Ingenieurinnen oder Maschinenbaue-
rinnen? Oder warum gibt es so wenige männliche Erzie-
her, Grundschullehrer oder Pfleger?

Ich bin der Überzeugung, dass wir durch eine inten-
sive Förderung und Bildung von klein auf, jenseits von
Rollenklischees, die einzelnen Stärken und Schwächen
der Menschen besser entdecken können. Im Übrigen ist
es auch unter dem Aspekt des drohenden Fachkräfte-
Zu Protokoll
mangels notwendig, möglichst viele Menschen auf mög-
lichst viele Berufsfelder vorzubereiten. Wir können es
uns schlicht nicht mehr leisten, wenn junge Männer auf
der Strecke bleiben.

Bislang galten Jungen häufig als Verlierer in der Bil-
dungspolitik. Laut der PISA-Studie 2009 sind Jungs
beim Lesen deutlich schlechter als Mädchen und müssen
außerdem öfter Klassen wiederholen. Zudem brechen sie
häufiger die Schule ab. Besonders hoch ist das Risiko
bei Jungen mit Migrationshintergrund oder aus bil-
dungsfernen Familien. Im Durchschnitt machen aber
auch 21,6 Prozent weniger Männer das Abitur als
Frauen.

Wir möchten keinen negativen Diskurs über ein „Sor-
genkind Junge“ führen, sondern Stereotype aufbrechen.
Teil unseres Antrags ist deshalb zum Beispiel die Forde-
rung, sich bei den Bundesländern für geeignete Maß-
nahmen zur Verbesserung der Lesekompetenz von Jun-
gen einzusetzen.

Wir wollen junge Männer auch für sogenannte ty-
pisch weibliche Berufe interessieren, beispielsweise als
Pfleger oder Erzieher. Gerade in der frühkindlichen Bil-
dung ist es wichtig, dass Kinder beide Geschlechterrol-
len erleben können. Eine Studie des Statistischen Bun-
desamts zeigt, dass der Anteil von Männern als Erzieher
und Tagesväter mit 3,5 Prozent Anteil zwar sehr gering
ist. Allerdings sind im Jahr 2010 schon 15 400 Männer
mit pädagogischer Betreuung befasst gewesen und da-
mit fast 40 Prozent mehr als in 2007.

Auch in den Schulen muss dieser Bildungsansatz wei-
tergehen, so durch die besondere Förderung der Bedürf-
nisse der Jungen. Nur so kann sich ein Aufbruch von Ste-
reotypen auch in der Gesellschaft fortsetzen,
beispielsweise in der Familie, der Partnerschaft oder
dem Beruf.

Wir als FDP wollen keinen Geschlechterkampf, son-
dern einen Geschlechtertanz! Das ist auch Leitlinie die-
ses Antrags, der die Grundlage für einen weiteren Aus-
bau der Jungen- und Männerpolitik darstellen wird und
für den ich deshalb um breite Zustimmung bitte.


Yvonne Ploetz (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1713032500

Man muss eingestehen: Sie haben schon besorgniser-

regendere Anträge vorgelegt! Im Grundsatz befürwortet
Die Linke eine Jungen- und Männerpolitik, denn jedes
Kind und jede bzw. jeder Jugendliche – egal, welchen
Geschlechtes, welcher Herkunft, welcher Weltauffas-
sung und unabhängig von seiner oder ihrer sexuellen
Identität – muss bestmöglich in seiner Entwicklung ge-
fördert und auf seinem Lebensweg unterstützt werden.
Will die Regierung neue Gruppen in eine Förderung ein-
beziehen, so ist das zunächst einmal zu begrüßen.

Wer Ihren Antrag jedoch im Detail liest, wird einige
Fragezeichen setzen müssen. Wer ihn im Einzelnen stu-
diert, kommt unweigerlich nicht um einige kritische Fra-
gen und Einwände herum. Warum? Jede Politik der För-
derung muss emanzipatorisch sein. Sie sollte bestehende
Machtverhältnisse kritisieren und hinterfragen. Bei ge-
nau diesem Punkt liegt bei Ihrem Antrag die Krux. Denn



gegebene Reden

Yvonne Ploetz


(A) (C)



(D)(B)

dies tut Ihr Antrag nach meiner Einschätzung nicht. Ihr
Antrag darf einerseits nicht dazu führen, dass eine Jun-
genförderung auf Kosten der bestehenden Frauen- und
Mädchenförderung stattfindet. So selbstverständlich
dies sein sollte, so wichtig scheint es mir angesichts ei-
ner Reihe öffentlicher Äußerungen der Ministerin in der
Vergangenheit zu sein, nochmals nachdrücklich auf die-
sen Punkt zu verweisen. Sie darf auch nicht dazu führen,
dass bestimmte Männlichkeits- und Rollenbilder auf
Kosten anderer gefördert werden, dass eben genau jene
Jungen nicht gefördert werden, die einer Unterstützung
bedürften, zum Beispiel weil sie aufgrund ihrer sexuel-
len Neigung öffentlich diskriminiert werden. Ich habe
hier gewisse Befürchtungen – nicht zu Unrecht, wie ich
denke.

Aber zunächst einmal ist festzuhalten, dass Sie in Ih-
rem Antrag eine große Zahl von Forderungen aufstellen,
die meine ausdrückliche Unterstützung verdienen. Sie
wollen zum Beispiel mehr Männer für Erzieherberufe
gewinnen. Dies wird helfen, alte Stereotype in der Ar-
beitswelt zu durchbrechen. Und das ist wirklich gut so.
Sie wollen Männer in ihren Aufgaben als Väter stärken.
Zweifelsohne ist dies ein wichtiger Punkt, der angegan-
gen werden sollte. Sie stellen zudem eine Forderung
nach neuen und weiteren wissenschaftlichen Studien
auf. Es kann nie schaden, zu wissen, was der Patient hat,
bevor man ihn behandelt. Des Weiteren wollen Sie bei
der Elternarbeit verstärkt die Väter einbinden. Es ist
kaum notwendig, zu erwähnen, dass dies überfällig ist.
Und schließlich ist es insgesamt für unsere Gesellschaft
gewinnbringend, wenn eine Politik für junge Menschen
aus vielen unterschiedlichen Perspektiven zusammenge-
führt und gebündelt wird. In all diesen Punkten bin ich
ganz auf Ihrer Seite.

Jedoch ist das nur die eine Seite der Medaille. Die
andere, weniger schöne Seite zeigt sich, wenn man ge-
nauer hinsieht, zwischen den Zeilen liest und sie in den
Kontext Ihrer Wertevorstellung und Weltansicht stellt.
Das erschließt sich, wenn man die vielen Äußerungen
der Bundesfrauenministerin Kristina Schröder heran-
zieht, die wir alle kennen und die dazu geeignet sind, den
Antrag in den Zusammenhang Ihrer politischen Absich-
ten zu stellen.

Frau Schröder, zunächst eine Anmerkung: Man wird
das Gefühl nicht los, dass Sie verzweifelt nach einem
konservativen und öffentlichkeitswirksamen Marken-
kern Ihrer Regierungszeit suchen. Sie glauben schein-
bar, diesen in der Jungenpolitik gefunden zu haben. Ich
hege den Verdacht, dass Sie, die Sie immerhin die Frau-
enministerin sind, mit einem neuen Thema von Ihrer
Blockadehaltung in der Frauenpolitik ablenken wollen.
Immer stärker rücken Sie die Belange von Jungen und
Männern in den Fokus, Sie schreiben sie im Koalitions-
vertrag fest und wenden sich gleichzeitig von der Mäd-
chenpolitik ab. Jungenpolitik muss aber die Mädchen-
politik sinnvoll ergänzen. Sie darf sie nicht – nicht
einmal im Ansatz – verdrängen. Die strukturell veran-
kerte Benachteiligung vieler Mädchen ist nicht zu leug-
nen, und ihre Beseitigung muss unsere zentrale Aufgabe
bleiben. Es sollte also darum gehen, eine zusätzliche
Förderung zu schaffen, ein Miteinander von Mädchen-
Zu Protokoll
und Jungenpolitik auf die Beine zu stellen! Es muss ein
Miteinander und kein Gegeneinander geben! Das kann
ich bei Ihnen aber nicht erkennen.

Zwar deuten Sie die Notwendigkeit eines ergänzen-
den Miteinanders in dem Feststellungsteil Ihres Antrags
an. Die in dem Antrag aufgestellten Forderungen bezie-
hen sich aber nur auf männliche Kinder, Jugendliche
und Erwachsene. Den Andeutungen folgen keine Taten.
Gleichzeitig entziehen Sie in der Förderpraxis heimlich,
still und leise den Mädchenprojekten im Kinder- und Ju-
gendplan Gelder und weisen sie den Jungenprojekten
zu. Die kritische Frauenforschung hat mit Regelmäßig-
keit darauf hingewiesen, dass Frauen und ihre Anliegen
im politischen Prozess nicht voll repräsentiert werden.
Ich bitte Sie, das Klischee der Frau als nicht repräsen-
tiertes Geschlecht, sollte gerade von dem Ministerium,
das sich um Gleichstellung bemühen soll, nicht bedient
werden.

Sehr geehrte Damen und Herren der Regierungsko-
alition, muss ich Sie denn tatsächlich daran erinnern,
dass eine Frauen- und Mädchenförderung immer noch
vordringlich ist, dass sie wirklich weiterhin politisch
ganz weit oben auf der Agenda stehen muss? Muss ich
Sie an all die tief verankerten Benachteiligungen von
Frauen in unserer Gesellschaft erinnern, zum Beispiel
im Bildungssystem oder in der Arbeitswelt, dass pres-
tigeträchtige Berufe immer noch vor allem von Männern
dominiert werden, dass sogenannten Frauenjobs nach
wie vor ein geringer gesellschaftlicher Status zuge-
schrieben wird, dass Frauen weniger verdienen, nur sel-
ten in Aufsichtsräten und auf Chefposten anzutreffen
sind, dass Frauen im Durchschnitt trotz gleicher Bil-
dung als unqualifizierter eingestuft werden, weil die
Frauendomänen des Arbeitsmarktes im gesellschaftli-
chen Wertesystem einen geringeren Status haben?

Solche Statuszuschreibungen erschweren die Auf-
stiegschancen vieler Frauen. Diese Rollenmuster kön-
nen dazu führen, dass Frauen ihre eigenen Fähigkeiten
geringer schätzen. Nach wie vor ist es gang und gäbe,
dass die sogenannten „Old Boys Networks“ Frauen
spätestens in der Mitte ihrer Karriereleiter stoppen.

Ähnliches lässt sich beispielsweise über die Situation
von Mädchen in der Ausbildung sagen: Weibliche Aus-
zubildende bekommen eine geringere Ausbildungsver-
gütung, arbeiten oftmals unter schlechteren Bedingun-
gen, machen regelmäßiger Überstunden, erhalten
seltener Überstundenausgleiche. Ihre Wünsche bezüg-
lich des Urlaubszeitpunkts werden wesentlich seltener
berücksichtigt.

Die Liste an solchen Beispielen könnte ich endlos
verlängern. Sie sind in zahlreichen Studien erforscht
worden und auch einer breiten Öffentlichkeit bekannt.
Sie prägen den Alltag von Mädchen und Frauen in fast
allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. Aber
dennoch gibt es in der BRD bis dato keine umfassende
politische Strategie zur Überwindung dieser Benachtei-
ligungen, sondern nur Flickwerk.

Ein Punkt in Ihrem Antrag hat mich besonders irri-
tiert. Habe ich Sie richtig verstanden, dass Sie die an-



gegebene Reden

Yvonne Ploetz


(A) (C)



(D)(B)

geblich zu hohe Zahl von Frauen in Erziehungs- und Bil-
dungsberufen problematisch finden, da dadurch – ich
zitiere – „positive Vorbilder“ für Jungen fehlen würden,
sogenannte „moderne männliche Rollenvorbilder“, wie
es Ihr Ministerium bezeichnet. Frau Schröder, müssen
nach Ihrer Auffassung Vorbilder für Jungs „echte
Kerle“ sein, wie man es in gewissen Kreisen ausdrückt?
Gibt es nicht ganz verschiedene männliche Rollenbil-
der? Und sind sie nicht alle gleich viel Wert? Können
Frauen nicht für Jungs eine wertvolle Identifikation er-
möglichen? Muss nicht gerade auch Jungen und Män-
nern Geschlechterdemokratie, Gleichbehandlung und
die Vielfalt der Lebensweisen vermittelt werden? Sollte
es nicht gerade auch darum gehen, die Männlichkeit in
traditioneller Form aufzubrechen und alle Lebensfor-
men, gerade auch beispielsweise der Homosexualität, in
einem Projekt, das Jungen fördern will, positiv zu be-
rücksichtigen? Ich denke schon! Ihr Vorschlag weist
aber all diese Lücken und Blindflecken auf.

Frau Schröder hat ihre altmodische Sicht auf Ge-
schlechterrollen in einen „SPIEGEL“-Interview vom
8. November 2010 dargelegt. Dort giftete sie: „Jungs,
die bei alleinerziehenden Müttern aufwachsen, bekom-
men oft, bis sie zwölf Jahre alt sind, weder in der Kita
noch in der Grundschule einen Mann zu Gesicht“. Of-
fensichtlich ein Skandal für sie. Das Zitat von ihr ist
nicht weniger als ein unerträglicher Angriff auf all die
wundervollen Regenbogenfamilien und die vielen allein-
erziehenden Frauen in diesem Land, die sich Tag für Tag
hingebungsvoll und gegen all die widrigen Umstände in
Beruf und Alltag um ihre Kinder kümmern.

Ich halte es des Weiteren nicht für hilfreich, Jungs zu
den sogenannten Sorgenkindern der Bildung zu erklä-
ren. Denn es ist eben nicht so, wie uns die schwarz-gelbe
Regierung weismachen will, dass Jungs per se schlech-
ter in der Schule sind und deshalb hilfebedürftig sind –
ebenso wenig wie angeblich „die“ Mädchen.

Die Verliererinnen und Verlierer des Bildungswesens
in der BRD zu identifizieren, erfordert Differenzierungs-
vermögen. Auf jeden Fall gilt es, ins Auge zu nehmen,
was Thema unzähliger Studien der letzten Jahre war,
nämlich, dass es vor allem sozial benachteiligte und
arme Kinder und Jugendliche sind, die schlechtere
Chancen auf Bildung und späteren beruflichen Erfolg
haben. Da müssten Sie politisch den Hebel ansetzen!
Diesen Punkt im allerletzten Abschnitt ihres Antrags zu
verstecken, dort auszuführen, hier „gegebenenfalls
nachjustieren“ zu wollen, ist unzureichend und wird
dem Problem keinesfalls gerecht, nicht einmal im An-
satz!

In diesem Land, in der reichen BRD, ist mittlerweile
jeder fünfte Jugendliche von Armut bedroht. Es besteht
also ein großer sozial-, jugend- und familienpolitischer
Handlungsbedarf. Dabei sollten wir festhalten: Nur eine
fröhliche und unbelastete Jugend ist eine wirkliche Ju-
gend! Allen jungen Menschen müssen durch den Gesetz-
geber Steine – welcher Art auch immer – aus dem Weg
geräumt werden, damit jeder und jede die Möglichkeit
hat, seine bzw. ihre eigene Identität, ihre Stellung in der
Gesellschaft, ihre ökonomische Eigenständigkeit zu fin-
Zu Protokoll
den, ohne dabei mit Perspektiv- und Chancenlosigkeit
konfrontiert zu werden.

Bitte berücksichtigen Sie unsere Anmerkungen, reden
Sie noch einmal Ihrer Ministerin ins konservative Ge-
wissen, und Sie werden sehen, dass auch die linke Seite
dieses Hauses einen Antrag aus Ihrer Feder mittragen
wird.


Till Seiler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1713032600

Wir Grünen verstehen unter moderner Gleichstel-

lungspolitik eine Politik, die gemeinsam von Männern
und Frauen gemacht wird – und sich an beide Ge-
schlechter richtet. Wenn die Bundesregierung nun ihr
Augenmerk auf die Förderung von Jungen und Männern
richtet, ist das zunächst einmal erfreulich, weil das in
der Vergangenheit tatsächlich zu wenig getan wurde.
Wenn sie dies aber zulasten der Mädchen- und Frauen-
förderung tut, läuft etwas grundfalsch! Beide Bereiche
müssen im Haushalt 2012 ausreichend finanziert wer-
den.

Anders als von der Familienministerin behauptet,
sind nicht die Frauen schuld, dass sie weniger verdienen
als die Männer, weil sie etwa die falschen Fächer studie-
ren oder kein Verhandlungsgeschick besitzen. Von sol-
chen Behauptungen fühlen Frauen sich zu Recht ver-
höhnt. Denn sie sind es, die noch immer einen Großteil
der Familienarbeit schultern – und dafür auf dem
Arbeitsmarkt bestraft werden. Der Feminismus ist kei-
nesfalls überholt. Vielmehr müssen endlich Rahmenbe-
dingungen geschaffen werden, die gleiche Entwick-
lungsmöglichkeiten für beide Geschlechter eröffnen!
Und hier kommen die männlichen Feministen ins Spiel,
zu denen auch ich mich zähle. Wirkliche Gleichstellung
kann nur dann funktionieren, wenn die Geschlechter an
einem Strang ziehen.

Auch Männer möchten mehr Wahlmöglichkeiten und
damit mehr Freiraum für Selbstbestimmung haben.
Auch sie möchten Kinder, Karriere, Engagement und
Freizeit miteinander vereinbaren. Rund 60 Prozent der
Männer mit Kindern unter 18 Jahren wünschen sich eine
Arbeitszeitreduzierung. Hier gibt es noch viel zu tun!
Und hier folgen wir auch einigen grundsätzlichen Ideen
des Antrags der Regierungskoalition.

Es ist richtig, dass schon mit Jungen und Mädchen in
Kindertageseinrichtungen und Schulen Rollenzuschrei-
bungen thematisiert und kritisch hinterfragt werden
müssen. Es müssen Methoden entwickelt werden, mit de-
nen auch Jungen, die in der Tat häufig zu den sogenann-
ten Bildungsverlierern gehören, angemessen gefördert
werden können. Wenn die Familienministerin dann aber
öffentlich vorschlägt, es sollten mehr Diktate mit Fuß-
ballgeschichten geschrieben werden, anstatt sich immer
nur mit Schmetterlingen und Ponys zu beschäftigen,
dann ist das ein Rückschritt in vorfeministische Zeiten
und eine Zementierung von Rollenzuschreibungen. Was
wir brauchen, ist eine individuelle, geschlechtersensible
Förderung jedes Einzelnen. Und gerade keine Förde-
rung „des Jungen“ oder „des Mädchens“ an sich.



gegebene Reden

Till Seiler


(A) (C)



(D)(B)

Um Kindern und Jugendlichen eine optimale Aus-
einandersetzung mit Rollenmodellen zu ermöglichen,
müssen in Kindertageseinrichtungen und Schulen männ-
liche und weibliche Pädagogen gleichermaßen vertreten
sein. Hier können wir Ihrem Antrag folgen. Ohne die
Verankerung von Genderaspekten in der Lehrer- und Er-
zieherausbildung bringt das aber wenig. Lehrer und Er-
zieher müssen darauf vorbereitet werden, Kinder und
Jugendliche geschlechtersensibel zu fördern.

Nicht folgen können wir Ihnen, wenn Sie vorschlagen,
zu prüfen, wie erzieherische und pflegerische Berufe at-
traktiver ausgestaltet und Rahmenbedingungen verbes-
sert werden können. Wieso denn ein Prüfauftrag? Die
Rahmenbedingungen, die notwendig sind, um eine wirk-
liche Gleichstellung der Geschlechter zu erreichen, lie-
gen doch seit Jahren auf der Hand. Packen Sie es an:
Engagieren Sie sich für eine gute Bezahlung der erziehe-
rischen und pflegerischen Berufe, damit sie für Männer
wie für Frauen attraktiver werden! Sorgen Sie darüber
hinaus aber auch für eine flächendeckende, qualitativ
hochwertige Ganztagsbetreuung! Setzen Sie Anreize für
eine paritätische Aufteilung der Elternzeit! Machen Sie
sich für eine Frauenquote in Aufsichtsräten und Vor-
ständen stark! Eine moderne Gleichstellungspolitik
muss Jungen und Mädchen, muss Frauen und Männer
fördern!


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1713032700

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für

Familie, Senioren, Frauen und Jugend empfiehlt in sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7088, den
Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf
Drucksache 17/5494 anzunehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stim-
men von SPD und Linken bei Enthaltung der Grünen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Kipping, Diana Golze, Matthias W. Birkwald,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Existenzsicherung von Stiefkindern im Leis-
tungsbezug des SGB II und des SGB XII ga-
rantieren

– Drucksache 17/7029 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend


Dr. Peter Tauber (CDU):
Rede ID: ID1713032800

Der vorliegende Antrag von der Fraktion Die Linke

auf Drucksache 17/7029 liest sich ganz flott, aber schon
auf den ersten Blick zeigt sich, dass die politische Stoß-
richtung Ihres Antrages untragbar ist.

Sie fordern allen Ernstes eine Regelung im SGB II
und SGB XII, nach der Einkommen und Vermögen eines
neuen Partners des Elternteils bei der Bedarfsermitt-
lung nicht zu berücksichtigen sind. Mit einer solchen Re-
Zu Protokoll
gelung untergraben Sie die Konstruktion von Arbeitslo-
sengeld II und des Sozialgeldes, um so einen weiteren
Schritt bei der Einführung eines bedingungslosen
Grundeinkommens zu gehen. Diesen Schritt werden wir
nicht mit Ihnen gehen und lehnen Ihren Antrag daher ab.

Menschen, die in sogenannten Patchworkfamilien mit
Kindern zusammenleben, bilden keine bloße Wohnge-
meinschaft. Der Entschluss, „zusammenzuziehen“, fällt
nicht vom Himmel und ist in der Regel wohl überlegt.
Dieses „Zusammenziehen“ begründet kein einfaches
„Zusammenwohnen“, sondern ein „Zusammenleben“!
Diese Einstandsgemeinschaft bildet die sogenannte Be-
darfsgemeinschaft. Sie führen es selber in Ihrem Antrag
auf, dass das das Bundessozialgericht in seiner Ent-
scheidung vom 13. November 2008 (B 14 AS 2/08) die
bestehende Regelung als verfassungskonform einschätzt
und feststellt, dass der Gesetzgeber typisierend unter-
stellen darf, dass der neue Partner auch die Verantwor-
tung für die Kinder mit übernehme.

Sie thematisieren anschließend zwei Probleme: ers-
tens die Bereitschaft und Fähigkeit des neuen Partners,
diese Verantwortung zu übernehmen, und zweitens die
Frage, ob eine finanzielle Unterstützung tatsächlich
stattfindet. Ich frage mich ja schon, in welcher Welt Sie
leben und welches Menschenbild Sie vor Augen haben.
Wenn der neue Partner – und ich vermisse in Ihrem An-
trag die Formulierung der „neuen Partnerin“, aber das
nur am Rande – die finanzielle Fähigkeit nicht besitzt, so
stellt sich das Problem nicht, da in diesem Fall alle Mit-
glieder der Bedarfsgemeinschaft leistungsberechtigt
sind.

Was die Frage der Bereitschaft betrifft, so möchte ich
gerne eine Gegenfrage in den Raum stellen: Würden Sie
mit einem Menschen zusammenleben wollen, der mit Ih-
nen zwar Tisch und Bett teilt, Ihnen aber klar zu verste-
hen gibt, dass er Ihre Kinder nicht „durchfüttern“ wird?
Mir käme das nicht in den Sinn. Und die Frage, ob eine
finanzielle Unterstützung tatsächlich stattfindet, kann
nicht Ihr Ernst sein. Gerade im Sinne einer solidari-
schen und menschlichen Gesellschaft tun wir gut daran,
Menschen eine solche Unterlassung nicht zu unterstel-
len.

Die Fälle, in den die neue Partnerin oder der neue
Partner den Kindern die Unterstützung in der Familie
verwehrt, dürfen nicht als Regelfall dargestellt werden,
da dies sicher nicht der Regelfall ist. Wie wollen Sie so
etwas feststellen? Generalverdächtigungen bringen uns
nicht weiter. Und wir als Parlament sollten nicht in die
Familien hineinregieren. Menschen nicht zu bevormun-
den, schreiben Sie sich doch immer auf die Fahne, wenn
es Ihnen gerade passt.

Kam nicht aus Ihren Reihen die massive Kritik an den
damals diskutierten Bildungsgutscheinen im Zuge der
Debatte um das Bildungs- und Teilhabepaket? Die Gut-
scheinlösung würde die Arbeitslosengeld-II-Empfänger
bevormunden. Nach dem Sportwettenurteil des Landge-
richts Köln wetterte die Kollegin Lötzsch auf dem
Theodor-Heuss-Platz in Bremerhaven: „Wenn Men-
schen, die Hartz IV beziehen, sich entscheiden, einen
Teil ihres Geldes für Sportwetten auszugeben, so ist das



gegebene Reden

Dr. Peter Tauber


(A) (C)



(D)(B)

ihr gutes Recht. Wer arm ist, darf nicht noch bevormun-
det werden.“

Viel entschiedener abzulehnen ist die Art und Weise,
mit der Ihr Vorschlag die sogenannten Patchworkfami-
lien privilegieren würde. Eine Nichtberücksichtigung
des Einkommens und Vermögens des neuen Partners ei-
nes Elternteils in einer Bedarfsgemeinschaft würde die
nichteheliche Patchworkfamilie finanziell wesentlich
besser stellen als eine Kernfamilie oder eine eheliche
Stieffamilie im Leistungsbezug des SGB II und SGB XII.
In diesem Zusammenhang möchte ich Sie an § 20
SGB XII erinnern. Er besagt, dass Personen, die in ehe-
ähnlicher oder lebenspartnerschaftsähnlicher Gemein-
schaft leben, hinsichtlich der Voraussetzungen sowie des
Umfangs der Sozialhilfe nicht besser gestellt werden
dürfen als Ehegatten. Das bedeutet unter anderem, dass
Einkommen und Vermögen des Partners in gleichem
Umfang zu berücksichtigen sind wie Einkommen und
Vermögen eines Ehegatten.

Vor der Änderung im SGB-II-Fortentwicklungsgesetz
wurden verheiratete Partner gegenüber unverheirateten
Partnern schlechter gestellt. Mit der Änderung der Gro-
ßen Koalition wurde daher klargestellt, dass – auch ent-
sprechend der ursprünglichen Absicht des Gesetzgebers –
Einkommen innerhalb der Bedarfsgemeinschaft in bei-
den Fallgestaltungen auf den Bedarf eines nicht leibli-
chen Kindes anzurechnen sind. Damit würde die
Schlechterstellung von Ehen gegenüber nichtehelichen
Partnerschaften aufgelöst.

Das Bundesverfassungsgericht wird über die vorlie-
gende Verfassungsbeschwerde (1 BvR 1083/09) in ge-
wohnter Art und Weise entscheiden.

Der Antrag der Fraktion Die Linke ist rückwärtsge-
wandt und daher abzulehnen.


Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1713032900

Mit Ihrem Antrag „Existenzsicherung von Stiefkin-

dern im Leistungsbezug des SGB II und des SGB XII ga-
rantieren“ fordern Sie ein Gesetz, durch das eine Rege-
lung in das SGB II und SGB XII eingeführt werden soll,
wonach Einkommen und Vermögen der neuen Partner
des Elternteils bei der Bedarfsermittlung des Kindes
nicht zu berücksichtigen sind.

Hierbei verkennen Sie jedoch schlichtweg, dass das
Bundessozialgericht in seinem Urteil vom 13. November
2008 ausdrücklich die bestehenden gesetzlichen Rege-
lungen bestätigt und keine verfassungsrechtlichen Be-
denken sieht.

Oder möchten Sie allen Ernstes, liebe Kolleginnen
und Kollegen der Linken, die Entscheidung des Bundes-
sozialgerichts als oberstes Bundesgericht der Sozialge-
richtsgerichtsbarkeit infrage stellen? Das kann doch
nun wirklich nicht Ihr Ernst sein!

Bei den seit Inkrafttretens des § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II
in der Fassung des Fortentwicklungsgesetzes bestehen-
den gesetzlichen Regelungen des SGB II und SGB XII
sind bei Personen, die mit einem Elternteil in einer Be-
darfsgemeinschaft leben und ihren Lebensunterhalt
Zu Protokoll
nicht aus eigenem Einkommen oder Vermögen sichern
können, auch Einkommen und Vermögen der Eltern oder
des Elternteils und dessen in Bedarfsgemeinschaft le-
bender Partnerin oder lebenden Partners zu berücksich-
tigen.

Dieser Regelung liegt der Gedanke zugrunde, dass
Personen, die miteinander in einem Haushalt leben, ja
„aus einem Topf“ wirtschaften und in jeder Lebenslage
füreinander einstehen. Daher ist es auch sachgerecht,
Vermögen und Einkommen dieser Personen – unabhän-
gig von der rechtlichen Konstruktion der Partner-
schaft – zu berücksichtigen.

Dies sieht auch das Bundessozialgericht so; denn die
Wahl der Lebensform „eheähnliche Gemeinschaft“ darf
gegenüber der Lebensform „Ehe“ nicht zum Nachteil
der Allgemeinheit gereichen.

Auch Ihr Vorwurf, meine sehr geehrten Damen und
Herren von der Linken, der Rechtsanspruch des Kindes
auf Gewährung eines Existenzminimums gegen den
Staat sei nicht hinreichend gewahrt, geht ins Leere.

So ist es zwar richtig, dass sich das Kind nach der ge-
setzlichen Regelung des § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II das
Einkommen einer Person „entgegenhalten“ lassen
muss, gegen die es aber keinen direkten Anspruch auf
Unterhalt hat.

Allerdings sieht das Bundessozialgericht den Rechts-
anspruch des Kindes auf Gewährung des Existenzmini-
mums gegen den Staat, Art. 1 GG i. V. m. Art. 20 Abs. 1
GG, als hinreichend gewahrt, da das Kind einen Unter-
haltsanspruch gegen die Mutter bzw. den Vater aus der
sogenannten Notgemeinschaft nach § 1603 Abs. 2 BGB
hat, der auch ohne Berücksichtigung einer Selbstbe-
haltsgrenze zu erfüllen ist.

Abschließend bleibt somit festzuhalten, dass die Kon-
struktion der Bedarfsgemeinschaft im SGB II und
SGB XII, die sowohl für verheiratete als auch nichtver-
heiratete Paare gilt, absolut sachgerecht ist.

Hätten Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Lin-
ken, das Urteil des Bundessozialgerichts aufmerksam
gelesen, dann hätten auch Sie festgestellt, dass Ihr An-
trag dahingehend wenig zielführend ist.


Angelika Krüger-Leißner (SPD):
Rede ID: ID1713033000

Der Antrag der Fraktion Die Linke, den wir heute be-

raten, wirft schwierige Rechtsfragen auf, und so leicht
wie die Antragsteller kann man es sich nicht machen.

Es geht um die Verfassungskonformität der Regelun-
gen im SGB II und im SGB XII, die die Einkommens- und
Vermögensanrechnung vorsehen, speziell bei Kindern in
sogenannten Patchworkfamilien.

Wir sprechen hier insbesondere von der Neufassung
des § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II durch das zum 1. August
2006 in Kraft getretene Gesetz zur Fortentwicklung der
Grundsicherung für Arbeitsuchende, das Fortentwick-
lungsgesetz.

So sieht § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II heute vor, dass bei
unverheirateten Kindern, die mit ihren Eltern oder ei-



gegebene Reden

Angelika Krüger-Leißner


(A) (C)



(D)(B)

nem Elternteil in einer Bedarfsgemeinschaft leben und
die ihren Lebensunterhalt nicht aus eigenem Einkommen
oder Vermögen sichern können, auch das Einkommen
und Vermögen der Eltern oder des Elternteils und des-
sen in Bedarfsgemeinschaft lebender Partnerin oder le-
benden Partners zu berücksichtigen sind. Gerade Letz-
teres stößt bei Ihnen, verehrte Kolleginnen und Kollegen
der Linken, auf verfassungsrechtliche Bedenken.

Richtig ist insoweit, dass das hilfebedürftige Kind in
einer Patchworkfamilie keine einklagbaren Unterhalts-
ansprüche gegenüber der neuen Partnerin oder dem
neuen Partner der leiblichen Mutter oder des leiblichen
Vaters hat. Sie fordern deshalb mit Ihrem Antrag unter
Berufung auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts
vom 9. Februar 2010 zu den Hartz-IV-Regelsätzen eine
Neuregelung für das SGB II und das SGB XII, nach der
Einkommen und Vermögen der neuen Partnerin oder des
neuen Partners des Elternteils bei der Bedarfsermitt-
lung des Kindes nicht zu berücksichtigen sind.

Zum Hintergrund verweisen Sie auf die Feststellun-
gen des Bundesverfassungsgerichts in der oben genann-
ten Entscheidung, wonach – ich zitiere –: „ein Hilfebe-
dürftiger nicht auf freiwillige Leistungen des Staates
oder Dritter verwiesen werden darf, deren Erbringung
nicht durch ein subjektives Recht des Hilfebedürftigen
gewährleistet ist“.

Sie sprechen in Ihrem Antrag davon, dass die gene-
relle Unterstellung einer Unterstützung durch den mit
dem Elternteil neu zusammenlebenden Partner einen
verfassungsrechtlich unzulässigen Verweis auf freiwil-
lige Leistungen Dritter darstelle.

Ich möchte im Folgenden darauf mit drei Anmerkun-
gen näher eingehen:

Erstens. Es ist mir und meiner Fraktion durchaus be-
wusst, dass unter Umständen tatsächlich infolge des an-
gesprochenen Urteils des Bundesverfassungsgerichts
für den speziellen Bereich der Einkommens- und Vermö-
gensanrechnung bei Kindern in einer sogenannten
Patchworkfamilie eine Änderung der Rechtslage einge-
treten sein kann. Die bisherige Bedarfsermittlung unter
Berücksichtigung des Einkommens und des Vermögens
der neuen Partnerin oder des neuen Partners des leibli-
chen Elternteils könnte sich als nicht verfassungskon-
form erweisen. Dann wäre der Gesetzgeber verpflichtet,
zu handeln. Die bisherigen Regelungen im SGB II und
im SGB XII hätten keinen Fortbestand, und wir bräuch-
ten eine gesetzliche Neuregelung.

Ausschließen können wir das nicht. Jedoch ist es zur-
zeit keineswegs sicher, ob die von der Linken monierten
Rechtsnormen einer Überprüfung durch das Bundesver-
fassungsgericht tatsächlich nicht standhalten.

Immerhin – und daran möchte ich in diesem Zusam-
menhang erinnern – standen seinerzeit nicht die hier an-
gesprochenen Einzelnormen im SGB II und SGB XII auf
dem Prüfstand, sondern es ging bei der zitierten Ent-
scheidung des Bundesverfassungsgerichts im Kern um
die generelle Herleitung und Ermittlung der Regelsätze.
Dazu hat das Gericht umfassend ausgeführt. Es ist auch
unstreitig, dass es mit seiner Entscheidung das Grund-
Zu Protokoll
recht auf Gewährleistung des Existenzminimums be-
gründet hat. Aber zu den hier maßgeblichen Regelungen
hat sich das Gericht explizit nicht geäußert – also auch
deren Verfassungswidrigkeit nicht festgestellt.

Ich weiß, dass Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen
der Linken, das anders sehen. Ihre Auffassung ist aber
das Ergebnis einer Auslegung des Bundesverfassungs-
gerichtsurteils, die natürlich in diesem Sinne zulässig,
jedoch nicht zwingend ist. Man kann das durchaus auch
anders werten – insbesondere, weil sich das Gericht
eben nicht mit dem konkreten Sachverhalt der Einkom-
mens- und Vermögensanrechnung bei Kindern in Patch-
workfamilien auseinanderzusetzen hatte.

Insofern halte ich das mit Ihrem Antrag verfolgte An-
liegen für verfrüht – wobei mir Ihre Intention schon
durchaus klar ist: Die Grundsicherung für Arbeit-
suchende ist Ihnen ja seit eh und je ein Dorn im Auge. Es
ist ja kein Geheimnis, dass Sie das SGB II am liebsten in
Gänze wieder abschaffen würden. Da das nicht funktio-
niert, stellen Sie nun einzelne Vorschriften auf den Prüf-
stand. Das ist legitim. Aber Sie handeln damit im vorlie-
genden Fall aus meiner Sicht eindeutig vorschnell.

Ich möchte Ihnen dazu meine Zweifel näher erläu-
tern.

Zweitens. Sie sagen, es sei nicht verfassungskonform,
wenn von Gesetzes wegen unterstellt wird, dass jemand,
der mit einer SGB-II-leistungsberechtigten Person mit
Kindern zusammenzieht, eine Bereitschaft zur Finanzie-
rung des nicht leiblichen Kindes hat. Ich frage Sie: Ist
das wirklich so realitätsfern? Ist das Zusammenziehen
nicht auch ein Ausdruck dessen, künftig füreinander und
die Kinder dieser Bedarfsgemeinschaft einstehen zu
wollen – natürlich nicht im unterhaltsrechtlichen Sinne,
aber eben doch durch die faktische gemeinsame Lebens-
führung innerhalb eines Haushaltes? Ist der neue Part-
ner des leiblichen Elternteils aufgrund von Einkommen
und Vermögen in der Lage, Lebenshaltungskosten in
größerem Umfang zu übernehmen, kommt das im Ergeb-
nis auch dem nicht leiblichen Kind zugute. Das können
wir an dieser Stelle nicht ausblenden.

Drittens. Aber auch vor dem Hintergrund des Urteils
des Bundessozialgerichts, BSG, vom 13. November 2008
habe ich meine Zweifel daran, ob wir es nach dem von
Ihnen zitierten Urteil des Bundesverfassungsgerichts
wirklich mit einer neuen Rechtslage zu tun haben. Das
BSG hat doch explizit die von Ihnen angesprochene
Vorschrift des § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II zu prüfen gehabt
– und zwar in einem Falle einer sogenannten Patch-
workfamilie.

Viertens. Es kam dabei – worauf Sie ja in Ihrem An-
trag auch völlig zutreffend hinweisen – zu einer unmiss-
verständlichen Bewertung der Regelung: Sie wurde als
verfassungskonform angesehen!

Das BSG hat dargelegt, dass es 2006 der Neufassung
des § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II bedurfte, da in der Vergan-
genheit mit dem Bestehen einer Bedarfsgemeinschaft
noch nicht feststand, zwischen welchen Personen eine
Einkommens- und Vermögensanrechnung stattfindet.
Erst die Neufassung hat Klarheit geschaffen, dass eine



gegebene Reden

Angelika Krüger-Leißner


(A) (C)



(D)(B)

Berücksichtigung von Einkommen und Vermögen nicht
lediglich bei dem leiblichen Kind und dem Partner, son-
dern auch bei dessen Kind, also dem nicht leiblichen,
stattfinden soll. Ebendiese Regelung hat das BSG für
verfassungsgemäß erachtet. Es hat insbesondere – ent-
gegen Ihrer Ansicht, liebe Kolleginnen und Kollegen der
Linken – darin keine Verletzung des Gebots zur Siche-
rung des Existenzminimums gesehen. Der Gesetzgeber
darf danach im Rahmen eines ihm zuzubilligenden Ge-
staltungsspielraums – ich zitiere :

bei der Gewährung von Sozialleistungen unabhän-
gig von bestehenden bürgerlich-rechtlichen Unter-
haltspflichten die Annahme von Hilfebedürftigkeit
davon abhängig machen, ob sich für den Einzelnen
typisierend aus dem Zusammenleben mit anderen
Personen Vorteile ergeben, die die Gewährung
staatlicher Hilfe nicht oder nur noch in einge-
schränktem Umfang gerechtfertigt erscheinen las-
sen.

Ich finde diese Argumentation des Gerichts schlüssig
und nachvollziehbar. Wenn von einer Bedarfsgemein-
schaft im Sinne des SGB II auszugehen ist, darf bei Kin-
dern Einkommen und Vermögen des neuen Partners des
leiblichen Elternteils angerechnet werden.

Wir können vor dem Hintergrund dieses Urteils des
Bundessozialgerichts derzeit nicht von einer verfas-
sungswidrigen Gesetzeslage ausgehen. Sollte das Bun-
desverfassungsgericht im Hinblick auf die anhängige
Verfassungsbeschwerde eines betroffenen Kindes aller-
dings zu einer anderen Beurteilung als das Bundesso-
zialgericht kommen und § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II für
verfassungswidrig erklären, dann besteht für den Ge-
setzgeber tatsächlich Handlungsbedarf.

Einstweilen halten wir den nicht für gegeben. Ihr An-
trag ist voreilig. Es gilt zunächst den Ausgang des Be-
schwerdeverfahrens abzuwarten. Dann erst haben wir
endgültig Klarheit, ob die Regelung verfassungskonform
ist oder nicht.


Pascal Kober (FDP):
Rede ID: ID1713033100

Der Antrag der Linken zur Existenzsicherung von

Stiefkindern im Leistungsbezug des SGB II und SGB XII
zeigt sehr deutlich, wie die Kolleginnen und Kollegen
der Linken arbeiten. Sie stellen Behauptungen auf, die
die Bevölkerung bewusst verunsichern, die bewusst
skandalisieren und die bewusst die Politik in Verruf
bringen sollen. All dies tun sie wider besseres Wissen.
Dieses Muster ihres Verständnisses von parlamentari-
scher Arbeit wiederholt sich immer wieder bei den un-
terschiedlichsten Themen, im Sozialbereich allerdings
mit einem besonderen Schwerpunkt.

Ich möchte dies belegen, indem ich erst einmal aus
dem Antrag zitiere. Dort heißt es auf Seite 2:

Damit wird gegen das Grundrecht des Kindes auf
ein menschenwürdiges Existenzminimum verstoßen.
Diese verfassungswidrige Gesetzeslage ist schnellst-
möglich zu korrigieren.
Zu Protokoll
Dem möchte ich folgendes Zitat gegenüberstellen:

Die zur Anwendung kommende Regelung ist verfas-
sungsgemäß. …

Das Gebot zur Sicherung des Existenzminimums
aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozial-
staatsgebot des Art. 20 Abs. 1 GG wird durch die
zur Anwendung kommende Regelung nicht verletzt.

Sie erkennen den offensichtlichen Widerspruch zwi-
schen der Aussage aus dem Antrag der Linken und dem
zweiten Zitat. Letzteres Zitat ist aus einem Urteil des
Bundessozialgerichts vom 13. November 2008, in dem
es um die Berücksichtigung des Einkommens des Part-
ners in der Bedarfsgemeinschaft zugunsten der nicht
leiblichen Kinder ab dem 1. August 2008 geht.

Es geht also genau um den Sachverhalt, von dem der
Antrag der Linken handelt. Die Einschätzung des höchs-
ten deutschen Sozialgerichts ist eine vollkommen andere
als die der Linken. Daher halte ich ihre Behauptungen
für unredlich und schädigend. Ich bin froh, dass in
Deutschland Gerichte über die Verfassungsmäßigkeit
von Gesetzen entscheiden und nicht die Politik der Lin-
ken.

Die bestehende Regelung, dass das Einkommen von
in einer Bedarfsgemeinschaft zusammenlebenden Er-
wachsenen auch für nicht leibliche Kinder angerechnet
wird, ist am 1. Juni 2006 im Deutschen Bundestag durch
das Gesetz zur Fortentwicklung der Grundsicherung für
Arbeitsuchende mit den Stimmen von SPD und CDU/
CSU beschlossen worden. Die FDP hatte damals gegen
das Gesetz gestimmt, was aber nicht an dieser Einzelbe-
stimmung lag, sondern an der grundlegend falschen
Ausrichtung des damaligen Gesetzes. Diese spezielle
Einzelfalländerung des damaligen Gesetzes halte ich für
durchaus nachvollziehbar und sinnvoll.

Die Kolleginnen und Kollegen der Linken stellen die
Behauptung auf, dass „die derzeitigen sozialrechtlichen
Regelungen massive Hürden für neue Partnerschaften
und Familiengründungen darstellen.“ Sie müssen aber
auch einmal weiterdenken: Eine Regelung, die erst dann
das Einkommen des neuen Elternteils zur Anrechnung
brächte, wenn die beiden Partner verheiratet wären,
würde massive Hürden für die Schließung einer Ehe
schaffen. Nun mag in Ihrem Weltbild die Ehe keine be-
sondere Bedeutung haben; ich halte sie aber weiterhin
für schützenswert.

Es geht doch vielmehr um die Frage, ab wann Men-
schen sozialrechtlich füreinander einstehen und welche
Rolle dabei die Kinder spielen. Wer mit einem Partner
und dessen Kindern zusammenzieht, übernimmt Verant-
wortung für diese. Daher ist es nur folgerichtig, dass
dies auch sozialrechtlich so bewertet wird.

Maßgeblich ist für uns immer das Einkommen der Be-
darfsgemeinschaft. Ganz unabhängig davon, welcher
Teil der Bedarfsgemeinschaft welches Einkommen ein-
bringt, wird dann geprüft, ob die Bedarfsgemeinschaft
leistungsberechtigt im Sinne des SGB II ist.

Die Konsequenz des Antrags der Linken wäre, dass
wir die Bedarfsgemeinschaft wieder auseinanderneh-



gegebene Reden

Pascal Kober


(A) (C)



(D)(B)

men und die jeweiligen Elternteile mit ihrem jeweiligen
Einkommen berücksichtigen müssten. Dies lehnt die
FDP ab.


Katja Kipping (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1713033200

Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Ent-

scheidung zu den Hartz-IV-Regelsätzen festgestellt:
„Ein Hilfebedürftiger darf nicht auf freiwillige Leistun-
gen des Staates oder Dritter verwiesen werden, deren
Erbringung nicht durch ein subjektives Recht des Hilfe-

(BVerfG 1 BvL 1/09 vom 9. Februar 2010, Absatznummer 136)

ges Kind in einer Patchworkfamilie hat keine einklagba-
ren Rechte gegenüber der neuen Partnerin oder dem
neuen Partner der leiblichen Mutter oder des leiblichen
Vaters. Insofern stellt die generelle Unterstellung einer
Unterstützung durch den Stiefelternteil einen verfas-
sungsrechtlich unzulässigen Verweis auf „freiwillige
Leistungen“ Dritter dar. Das nicht leibliche Kind ginge
in einem Rechtsstreit leer aus, weil es gar keinen Rechts-
anspruch auf Leistungen von dem Stiefelternteil hat.
Auch die denkbare Alternative eines Auszugs steht dem
unter 25 Jahre alten Nachwuchs aufgrund der rechtli-
chen Einschränkungen nur bedingt offen. Damit wird
gegen das Grundrecht des Kindes auf ein menschenwür-
diges Existenzminimum verstoßen. Diese verfassungs-
widrige Gesetzeslage ist schnellstmöglich zu korrigie-
ren.

Hartz IV stigmatisiert, diskriminiert, es verletzt
grundlegende Grundrechte bei der Gewährung der
Existenz- und Teilhabesicherung. Hartz IV legt Men-
schen Unterhaltsverpflichtungen auf, die jeder zivil-
rechtlichen Grundlage entbehren. Dies ist ein unhaltba-
rer Zustand. Wenn Menschen keine unterhalts-
rechtlichen Verpflichtungen eingegangen sind, so darf
durch das Sozialrecht nicht das Gegenteil unterstellt und
erzwungen werden. Gegen dieses Prinzip verstößt die
Konstruktion der Bedarfsgemeinschaft im Zweiten Buch
Sozialgesetzbuch, SGB II. Durch das SGB-II-Fortent-
wicklungsgesetz von 2006 wird festgeschrieben, dass
Kinder in Patchworkfamilien zur Bedarfsgemeinschaft
gehören. Seitdem gilt sowohl für verheiratete als auch
für nicht verheiratete Paare: Die Anrechnung von Ein-
kommen und Vermögen findet grundsätzlich und immer
statt. Es bleibt unberücksichtigt, ob und inwieweit eine
finanzielle Unterstützung tatsächlich stattfindet.

Etwas anders gelagert ist die Situation im SGB XII.
Hier wird im Unterschied zum SGB II eine Bedarfsde-
ckung des soziokulturellen Existenzminimums durch die
Partnerin bzw. den Partner des leiblichen Elternteils un-
ter Berücksichtigung von Freibeträgen ebenfalls unter-
stellt, allerdings widerlegbar. Diese sozialrechtliche Un-
terstellung ist in der Praxis aber nur schwer
zurückzuweisen. Stellen Sie sich vor, ein Kind soll vor
Gericht aussagen, dass der verdienende Partner seiner
Mutter, zum Beispiel sein Stiefvater, nicht ausreichend
Geld für alle gibt, speziell für das nicht leibliche Kind
selbst.

Fakt ist: Mit den sozialrechtlichen Konstruktionen im
SGB II und im SGB XII kann die Existenzsicherung der
Zu Protokoll
Kinder in Patchworkfamilien nicht garantiert werden,
weder die Existenzsicherung des nicht leiblichen Kindes
einer Mutter oder eines Vaters noch die Existenzsiche-
rung der leiblichen Kinder einer Mutter oder eines Va-
ters, weil die ausgezahlten Transferleistungen in der Be-
darfs- bzw. Einsatzgemeinschaft nun für alle Kinder in
der Patchworkfamilie reichen müssen.

Das Bundessozialgericht, BSG, hat in einer Entschei-
dung vom 13. November 2008 (B 14 AS 2/08) die Rege-
lung zwar als verfassungskonform eingeschätzt, der Ge-
setzgeber dürfe typisierend unterstellen, dass der neue
Partner auch die Verantwortung für die Kinder mit
übernehme. Die Frage, ob aufseiten des neuen Partners
eine solche Bereitschaft und Fähigkeit besteht, hat das
BSG ebenso wenig als verfassungsrechtlich problema-
tisch angesehen wie die Frage, ob eine finanzielle Un-
terstützung tatsächlich stattfindet. Diese Argumentation
ist jedoch nicht überzeugend. Die entscheidende Frage,
nämlich, wie die Existenzsicherung des Kindes garan-
tiert werden kann, wird durch das Bundessozialgericht
nicht befriedigend beantwortet.

Aktuell liegt die Verfassungsbeschwerde eines betrof-
fenen Kindes beim Bundesverfassungsgericht zur Ent-
scheidung vor (1 BvR 1083/09). Der Gesetzgeber sollte
sich nicht seiner verfassungsrechtlichen Pflicht zur Ge-
währleistung des Existenzminimums entziehen und auf
das Urteil warten. Es liegt in der Hand des Bundesge-
setzgebers, die Sicherungslücken zu schließen und ver-
fassungskonforme Regelungen zu schaffen. Dies sollte
umgehend geschehen.

Auch jenseits der verfassungsrechtlichen Bewertung
ist ein dringender Handlungsbedarf gegeben. Denn die
derzeitigen sozialrechtlichen Regelungen stellen mas-
sive Hürden für neue Partnerschaften und Familien-
gründungen dar. Neuerliche Partnerschaften und Fami-
liengründungen werden für Leistungsberechtigte mit
Kindern faktisch mit Leistungsentzug sanktioniert.
Diese unhaltbare Rechtslage ignoriert den sozialen
Wandel hin zu vermehrten Patchworkfamilien. Auch im
Sinne einer menschlichen und solidarischen Gesell-
schaft sind die Barrieren und Hürden für die Gründung
neuer Partnerschaften und Familien abzubauen.

Die Fraktion Die Linke beantragt aus genannten
Gründen, das Grundrecht auf Gewährleistung des Exis-
tenzminimums von Kindern in Patchworkfamilien ge-
setzlich zu garantieren. Diese Garantie gilt unabhängig
von der Frage, ob das neue Paar verheiratet ist. Zu die-
sem Zweck soll eine Regelung im SGB II und im SGB XII
eingeführt werden, nach der Einkommen und Vermögen
der neuen Partnerin oder des neuen Partners des El-
ternteils bei der Bedarfsermittlung des nicht leiblichen
Kindes nicht zu berücksichtigen sind.


Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1713033300

Die Fraktion Die Linke bringt mit dem vorliegenden

Antrag eine Forderung in den Deutschen Bundestag ein,
die wir von Bündnis 90/Die Grünen nur unterstützen
können. Schon in der vergangenen Wahlperiode haben

(Drucksache 16/9490)




gegebene Reden





Markus Kurth


(A) (C)



(D)(B)

dass minderjährige bzw. unter 25-jährige unverheiratete
Kinder von in einer gemeinsamen Wohnung lebenden
Stiefeltern bzw. stiefelternähnlichen Personen finanziell
abhängig werden. Eine solche Regelung stigmatisiert
die betroffenen Kinder. Wir fordern weiterhin, wie schon
in unserem Antrag vom 4. April 2006 „Hartz IV weiter-
entwickeln – Existenzsichernd, individuell, passgenau“

(Drucksache 16/1124), dass in eheähnlichen Gemein-

schaften Lebensgefährtinnen und Lebensgefährten nicht
gezwungen werden dürfen, ihr Einkommen für den Be-
darf der Kinder der Partnerinnen und Partner einzuset-
zen, wenn es nicht die gemeinsamen sind. Auch wenn ein
Ehepartner Kinder in die Ehe einbringt, darf dies nicht
zu einem sozialrechtlichen Unterhaltsanspruch führen,
der über den zivilrechtlichen Anspruch hinausgeht.

Die mit den Stimmen der schwarz-roten Regierungs-
koalition beschlossene und zum 1. August 2006 in Kraft
getretene Novellierung des § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II re-
gelte ausdrücklich, dass auf den Bedarf von mit einem
Elternteil in Bedarfsgemeinschaft lebenden unverheira-
teten Kindern auch Einkommen und Vermögen des mit
dem Elternteil in Bedarfsgemeinschaft lebenden Part-
ners anzurechnen ist. Eine solche Regelung ist nicht nur
unwirtschaftlich und unmenschlich, weil Partner daran
gehindert werden, zusammen in eine Wohnung zu zie-
hen. Eine solche Regelung ist auch verfassungsrechtlich
problematisch. Wieder einmal könnte das Bundesverfas-
sungsgericht, BVerfG, eine Regelung für nicht vereinbar
mit dem Grundgesetz erklären. Eine entsprechende Ver-
fassungsbeschwerde ist bereits beim BVerfG anhängig.

Darüber hinaus ist die Regelung aus rechtssystemati-
schen Gründen abzulehnen. Eine Gleichstellung von Le-
bensgemeinschaften mit Ehen im Sozialrecht steht nicht
im Einklang mit den Regelungen im Zivilrecht. Wenn die
Union in ihrer Begründung zur Ablehnung des Antrags
der Linksfraktion ausführt, „das SGB II gehe davon aus,
dass die Menschen in einer Bedarfsgemeinschaft fürein-
ander einstünden und zwar unabhängig von der ge-
nauen Familienkonstellation“ (Drucksache 16/11232),
muss sie auch den ehrlichen Schritt gehen und zu einer
wirklichen Gleichbehandlung der Rechte und Pflichten
im Zivilrecht beitragen.

Auch die FDP äußerte in der vergangenen Wahl-
periode verfassungsrechtliche Bedenken an, „da Part-
ner eines Elternteils nunmehr für die Stiefkinder wie für
eigene Kinder aufkommen müssten, obwohl sie zivil-

(Drucksache 16/11232)

Antrag der Linksfraktion mit dem Umstand, dass bislang
keine präzise Vorstellung von dem zu korrigierenden
Missstand vorliege. Die Bundesregierung müsse erst
einmal Fakten liefern, bevor der Deutsche Bundestag
Entscheidungen treffen könne. Die jetzt beginnende par-
lamentarische Auseinandersetzung im Arbeits- und So-
zialausschuss wird zeigen, ob die FDP in ihren nunmehr
zwei Regierungsjahren entsprechend geliefert hat.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1713033400

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/7029 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Dann ist das so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Opti-
mierung der Geldwäscheprävention

– Drucksache 17/6804 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss


Peter Aumer (CSU):
Rede ID: ID1713033500

Neben den großen positiven Errungenschaften bietet

das Internet leider auch Kriminellen mit seinen schein-
bar unbegrenzten Möglichkeiten immer neue Tatgele-
genheiten. Eine Tathandlung ist der Missbrauch von
elektronischen Zahlungsmitteln, um hierdurch „Geld zu
waschen“.

Für das Jahr 2010 liegen aufgrund neuer Erfassungs-
möglichkeiten erstmals Zahlen zur Internetkriminalität
in der Polizeilichen Kriminalstatistik vor.

Allein in Bayern sind 22 965 Fälle von Internetkrimi-
nalität bekannt geworden. In 507 Fällen wurde das In-
ternet als Tatmittel zur Geldwäsche genutzt.

Die gesetzlichen Grundlagen gegen Geldwäsche und
Terrorismusfinanzierung in Deutschland werden maß-
geblich von Standards im internationalen Kontext be-
stimmt. Neben den Richtlinien des Rates und des Euro-
päischen Parlaments sind dies als Motor der
internationalen Geldwäschebekämpfung die Empfehlun-
gen der Financial Action Task Force on Money Launde-
ring, FATF. Die FATF ist ein zwischenstaatliches Gre-
mium, das mit eigenem Budget und Personal bei der
Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung, OECD, in Paris angesiedelt ist. Deutsch-
land ist als eines der Gründungsmitglieder der FATF ak-
tiv an der Erarbeitung und Weiterentwicklung der inter-
nationalen Standards zur Bekämpfung von Geldwäsche
und Terrorismusfinanzierung beteiligt und hat sich stets
zur nationalen Umsetzung der FATF-Empfehlungen be-
kannt. Die 36 Mitgliedstaaten der FATF haben sich ver-
pflichtet, diese Standards in nationales Recht umzuset-
zen und deren Umsetzung in regelmäßigen Abständen
von der FATF überprüfen zu lassen.

Von der FATF wurden im Deutschlandbericht vom
19. Februar 2010 Defizite im deutschen Rechtssystem
bei der Bekämpfung von Geldwäsche und Terrorismusfi-
nanzierung identifiziert, die nach ausführlicher Prüfung
und Diskussion in der Bundesregierung mit diesem Ge-
setzentwurf beseitigt werden sollen. Über die Fort-
schritte, die im Prüfungsbericht konstatierten Mängel
abzustellen, muss Deutschland im Februar 2012 an die
FATF berichten. Um weitere reputationsschädliche Re-
aktionen seitens der FATF zu vermeiden, ist es daher er-
forderlich, dass Deutschland seine gesetzlichen Rege-
lungen gegen Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung,
soweit diese nicht mit dem FATF-Standard vereinbar

Peter Aumer


(A) (C)



(D)(B)

sind, bis Januar 2012 anpasst; das Gleiche gilt für die
Implementierungspraxis.

Die wesentlichen Monita der FATF betreffen das
Geldwäschegesetz, GwG, und die dort geregelten prä-
ventiv wirkenden Sorgfalts- und Organisationspflichten
mit aufsichtsrechtlicher Ausrichtung. Mit diesen Pflich-
ten sollen die Geldwäscherisiken der verpflichteten Un-
ternehmen minimiert und dadurch die Integrität, Repu-
tation und Stabilität des Wirtschaftsstandorts
Deutschland sichergestellt werden.

Zudem werden die geldwäscherechtlichen Vorschrif-
ten im Kreditwesengesetz, KWG, Versicherungsauf-
sichtsgesetz, VAG, in der Abgabenordnung, AO, sowie
der Prüfungsberichtsverordnung, PrüfungsberichtsVO,
angepasst, wobei es sich überwiegend um redaktionelle
Folgeänderungen handelt.

Die christlich-liberale Koalition ist seit zwei Jahren
darum bemüht, Bürokratie abzubauen. Um sicherzuge-
hen, dass mit diesem Gesetz nicht das Gegenteil pas-
siert, werden wir wegen der genauen Anpassung die
öffentliche Anhörung der Sachverständigen am
19. Oktober 2011 abwarten. Nach der Anhörung werden
wir im Finanzausschuss die letztliche gesetzliche Rege-
lung beraten und beschließen.


Martin Gerster (SPD):
Rede ID: ID1713033600

Bereits zum dritten Mal in dieser Legislaturperiode

beraten wir heute einen Gesetzentwurf der Bundesregie-
rung, in dem das Thema Geldwäscheprävention eine
Rolle spielt. Deutschland steht auf diesem Feld interna-
tional in der Kritik – insbesondere seit der verheerenden
Beurteilung durch die bei der OECD angesiedelten Fi-
nancial Action Task Force on Money Laundering, FATF,
vom Februar 2010. Bislang hat Schwarz-Gelb die Pro-
blematik eher als unliebsamen Appendix behandelt. So
wurden sowohl dem Gesetz zur Umsetzung der Zweiten
E-Geld-Richtlinie als auch dem sogenannten Schwarz-
geldbekämpfungsgesetz mehr oder weniger umfangrei-
che Regelungen beigefügt, die sich einzelne Teile der
FATF-Kritik angenommen haben. Ich meine aber, das
Thema ist zu wichtig, um es in Form von Stückwerk ab-
zuhandeln, und habe dies in den zurückliegenden Geset-
zesberatungen immer wieder kritisiert.

Insofern ist es zunächst einmal erfreulich, dass der
vorliegende Gesetzentwurf endlich auch die zentralen
Punkte der FATF-Kritik angehen will, die nicht im auf-
sichts- und strafrechtlichen Bereich liegen. Immer wie-
der wurden wir in den Ausschussberatungen von Herrn
Staatssekretär Koschyk auf einen kommenden „großen
Wurf“ vertröstet. Mit Blick auf die zur Beratung anste-
hende Initiative scheint jedoch die Sorge berechtigt,
dass auch der weiteste Wurf am Ziel vorbeigehen kann.

Grundsätzlich kann an der Notwendigkeit, auf diesem
Gebiet am Ball zu bleiben, kein Zweifel bestehen. Das
zeigen die Zahlen, die das BKA und die dort angesie-
delte Zentralstelle für Verdachtsanzeigen, FIU, vor
knapp zwei Wochen veröffentlich haben. Mit rund
11 000 Verdachtsanzeigen wurde 2010 ein absoluter
Höchststand erreicht, seit das Gesetz 1993 in Kraft ge-
Zu Protokoll
treten ist. Das ist ein Anstieg um 22 Prozent innerhalb
eines Jahres.

Dahinter steht einerseits die sicherlich wünschens-
werte Entwicklung zu mehr Sensibilität im Umgang mit
der Thematik. Gleichzeitig zeigen die Zahlen auch, dass
in vielen Branchen nach wie vor zu wenig darauf geach-
tet wird, ob ihre Kunden und Geschäftspartner mögli-
cherweise versuchen, illegal erworbenes Vermögen in
den legalen Geldkreislauf einzubringen und seine Her-
kunft zu verschleiern.

Deshalb halte ich es für richtig, die im Geldwäsche-
gesetz dargelegten Sorgfaltspflichten in weiteren Wirt-
schaftszweigen zu verankern, Meldepflichten zu ergän-
zen und Bußgeldregelungen zu verschärfen, wo gegen
die entsprechenden Pflichten verstoßen wird. Speziell im
Nichtfinanzsektor und im Bereich der freien Berufe
wurde Geldwäschebekämpfung bislang zu wenig ernst
genommen. Auch Immobilienmakler, Steuer- und
Rechtsberater müssen zur Kenntnis nehmen, dass es
keine lässliche Verfehlung ist, in ihrem Arbeitsfeld ge-
genüber Geldwäsche die Augen zu verschließen. Und
gerade im Bereich der Spielbanken ist es sicherlich sinn-
voll, strengere Regeln einzuziehen, um zu verhindern,
dass Verbrecher den Spieltisch als Waschbrett für die
Gelder der organisierten Kriminalität missbrauchen.
Wo der Gesetzentwurf maßvolle Verschärfungen vor-
sieht und mehr Sensibilität für die Gesamtproblematik
Geldwäsche einfordert, ist man – so meine ich – auf ei-
nem zielführenden Weg.

An anderen Punkten schießt der Entwurf jedoch mög-
licherweise über das Ziel hinaus. Da werden wir sehr
genau prüfen müssen, ob die gemachten Vorschläge
wirklich einen Beitrag zur Kriminalitätsbekämpfung
darstellen oder letztendlich nur dem Bürokratieaufbau
dienen. Wie immer, wenn es um Identifizierungspflichten
und Datenabgleich geht, sind zudem datenschutzrechtli-
che Aspekte im Auge zu behalten. Erste Stellungnahmen
von Datenschützern lassen vermuten, dass der Gesetz-
entwurf in seiner derzeitigen Form an einigen Stellen zu
großen Problemen führen könnte. So sollen Vertriebs-
stellen für bestimmte Prepaid-Produkte zukünftig dazu
verpflichtet werden, bei jedem Kauf – unabhängig von
der Höhe der erworbenen Guthaben – die Identität des
Käufers zu verifizieren. Da es in der Praxis um kleine
und kleinste Beträge gehen dürfte, die nur schwerlich
zur Geldwäsche in großem Stil instrumentalisierbar sein
dürften, ist dies eine eher fragwürdige Maßnahme.

Denn einmal ganz unabhängig davon, dass dies für
bestimmte Geschäftsmodelle im E-Geld-Bereich mit
massiven Nachteilen verbunden wäre: Stehen hier Auf-
wand und Ertrag tatsächlich noch im richtigen Verhält-
nis? So wichtig es auch im Bereich des E-Geldes ist,
Geldwäsche zu verhindern, müssen wir doch prüfen, ob
hier nicht das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wird.
Die Bundesregierung selbst hatte sich noch im Gesetz
zur Umsetzung der Zweiten E-Geld-Richtlinie dazu be-
kannt, „Marktzutrittsschranken zu beseitigen und die
Aufnahme und Ausübung der Ausgabe von E-Geld zu er-
leichtern“. Diesem Ziel dürften die vorgesehenen Be-



gegebene Reden

Martin Gerster


(A) (C)



(D)(B)

schränkungen im E-Geld-Zahlungsverkehr diametral
entgegenwirken.

Ähnlich schwierig erscheint mir die Idee der Bundes-
regierung, sämtlichen Unternehmen mit mehr als zehn
Mitarbeitern regulär die Bestellung eines Geldwäsche-
beauftragten vorzuschreiben. Zwar sollen großzügig
ausgelegte Ausnahmeregelungen dafür sorgen, dass
letzten Endes lediglich rund 1 000 Unternehmen tat-
sächlich aktiv werden müssen. Aber der Normenkon-
trollrat hat hier bereits Zweifel angemeldet, ob die fakti-
schen Auswirkungen der Regelung nicht weit über die
Schätzungen des Entwurfs hinausgehen.

Schließlich wird auch zu hinterfragen sein, wie pra-
xistauglich die im Gesetzestext vorgesehenen erweiter-
ten Pflichten im Umgang mit sogenannten politisch ex-
ponierten Personen – PEP – und zur Identifizierung von
„Strohmannkonstruktionen“ zugunsten von „wirtschaft-
lich Berechtigten“ im Hintergrund sind. So wünschens-
wert es ist, hier kriminelle Strukturen aufzudecken, so
schwierig könnte sich die Anwendung der Vorgaben im
Geschäftsalltag der erweiterten Verpflichtetenkreise ge-
stalten. Auch hier ist zu begrüßen, dass der Normenkon-
trollrat in seiner Stellungnahme eine rasche Evaluation
der Gesetzespraxis anregt.

Grundsätzlich gilt: Wir müssen in Sachen Geldwä-
scheprävention klare Kante zeigen, und der vorliegende
Gesetzentwurf geht in vielen Punkten in die richtige
Richtung. Hinter die Anforderungen, die uns die FATF
ins Stammbuch geschrieben hat, dürfen wir nicht zu-
rückfallen. Es drängt sich jedoch der Eindruck auf, dass
der Entwurf in einzelnen Punkten ohne Not über die er-
forderlichen Grenzen hinausgeht.

Insofern meinen wir, dass das geplante Gesetz zur
Optimierung der Geldwäscheprävention noch optimie-
rungsbedürftig ist. Wir werden uns nach der Anhörung
ein genaueres Bild machen, wie die vorhandenen Spiel-
räume für Verbesserungen am besten zu nutzen sind.


Björn Sänger (FDP):
Rede ID: ID1713033700

Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf schließt die

christlich-liberale Koalition Lücken in der Verfolgung
von Geldwäsche. Als normaler rechtschaffener Bürger
hat man gar keine Vorstellung, auf was für Ideen die
Herrschaften, die Geldwäsche betreiben wollen, alles
kommen. Das fängt schon mit der Definition an, was
Geldwäsche eigentlich ist. Eine Legaldefinition im
Strafgesetzbuch gibt es nicht, aber es sei wohl ein Vor-
gang, der darauf abziele, Vorhandensein, Herkunft oder
Bestimmung von Vermögenswerten zu verschleiern, die
aus illegalen Geschäften stammen, um sie dann als
rechtmäßige Einkünfte erscheinen zu lassen. Da hat man
als Laie grob eine Vorstellung, dass jemand unter dubi-
osen Umständen an eine Menge Bargeld gekommen ist,
dieses zur Bank bringt und dort auf ein Konto einzahlt.
Doch so simpel ist es bei Weitem nicht. Da es inzwischen
entsprechende Monitoringsysteme gibt, haben diese Kri-
minellen wirklich kreative Ideen, wie sie die Herkunft ih-
rer Gelder verschleiern.
Zu Protokoll
Und das sind unglaubliche Summen, um die es da
geht: Allein in Deutschland werden jährlich circa 30 bis
100 Milliarden Euro an kriminellen Geldern gewaschen.
Weltweit geht es nach Schätzungen des IWF sogar um
jährlich circa 590 bis 1 500 Milliarden Euro.

Um dies international einzudämmen, wurde die Fi-
nancial Action Task Force on Money Laundering, FATF,
gegründet. Diese bei der OECD angesiedelte Organisa-
tion, deren Gründungsmitglied Deutschland ist, entwi-
ckelt Standards, überprüft deren Einhaltung und spricht
dazu Empfehlungen aus, zu deren Einhaltung sich die
36 Mitgliedsländer verpflichtet haben.

Nun hat die FATF Deutschland Missstände beschei-
nigt, die mit dem vorliegenden Gesetzentwurf beseitigt
werden. Es bestehen wohl Defizite in Bezug auf die Be-
aufsichtigung von Unternehmen wie Immobilienmak-
lern, Versicherungsvermittlern, Juwelieren, Finanzun-
ternehmern, Spielbanken sowie Personen, die gewerb-
lich mit Gütern handeln. Die Bundesregierung hat mit
dem Gesetzentwurf einen Maßnahmenkatalog vorgelegt,
um diese Defizite zu bekämpfen.

Beim ersten Gedanken bin ich dann beruhigt über
Schlupflöcher, die geschlossen werden. Dann kommen
mir aber Zweifel, ob alle Maßnahmen wirklich praktika-
bel und zielführend sind. Wir dürfen nicht ein bürokrati-
sches Monster schaffen, das nur Organisationsaufwand
und Kosten produziert und bei weitem nicht im richtigen
Verhältnis von Ertrag und Ergebnis steht.

Auch bekomme ich als Liberaler Bauchschmerzen,
wenn Datenmengen irgendwo angehäuft werden, deren
Sinnhaftigkeit zu bezweifeln ist. Das betrifft zum einen
neue Pflichten bei Bareinzahlungen und zum anderen
auch Prepaid-Kreditkarten, die nicht von Banken ausge-
geben werden. Bei Letzterem ist auch fraglich, ob das ir-
gendwie realistisch funktionieren kann, dass zum Bei-
spiel in einer Tankstelle oder in einem Supermarkt
künftig die Daten seitens der Kassenmitarbeiter erhoben
werden, wie es der Gesetzentwurf derzeit vorsieht. Hier
wird man eine Modifizierung vornehmen müssen, wenn
man vermeiden möchte, dass diese Produkte aus dem
Markt gedrängt werden.

Andererseits besteht schon die Pflicht zur Datener-
fassung, wenn Banken diese Karten ausgeben. Diese
Differenzierung erscheint dann auch nicht ganz sachge-
recht, denn: same business, same rules. Das werden wir
uns sehr genau anschauen. Eine Prämisse ist dabei: Das
anonyme Bezahlen im Internet muss weiterhin möglich
sein.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist der Geldwäschebe-
auftragte, den jedes Unternehmen, das mit Gütern han-
delt, ab einer gewissen Größe künftig haben soll, um den
Empfehlungen der FATF zu folgen. Doch macht das
Sinn? Jedes Unternehmen? Egal, welcher Branche? Hat
der Geldwäschebeauftragte dann arbeitsrechtlich be-
sonderen Schutz? An dieser Stelle müssen wir uns auch
noch umfassend Gedanken machen, wie wir hier eine
Lösung finden.

Gedanken mache ich mir außerdem über den Termi-
nus „hindeuten“. Also, im Falle des Vorliegens von Tat-



gegebene Reden

Björn Sänger


(A) (C)



(D)(B)

sachen, die darauf hindeuten, dass es sich bei Vermö-
genswerten, die mit einer Transaktion oder Geschäfts-
beziehung im Zusammenhang stehen, um den Gegen-
stand einer Straftat nach § 261 StGB handelt, soll der
Verdacht schon gemeldet werden. Hindeuten, wie kann
man das genauer bestimmen? Gehen wir da nach dem
Bauchgefühl eines Mitarbeiters? Wie schule ich zu-
nächst den Mitarbeiter und erzähle ihm, er solle nach
seinem Bauchgefühl gehen? Schaffen wir da wirklich
Rechtssicherheit oder Unsicherheiten in der Anwen-
dung?

Mein Bauchgefühl sagt mir, dass wir uns das, neben
vielen anderen Punkten, sehr genau anschauen müssen.
Das Gesetz wird aber in jedem Fall eine liberale Hand-
schrift bekommen.


Richard Pitterle (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1713033800

Man sollte meinen, dass Geldwäsche so kompliziert

ist, dass sich nur einige wenige, die ihre gesamte krimi-
nelle Energie darauf verschwenden wollen, damit befas-
sen. Leider hat mich die Recherche für diesen Gesetzent-
wurf eines Besseren belehrt. Ein Handy reicht schon für
anonyme Geldtransfers. Der Geldwäscher lädt sich ei-
nen beliebig hohen Betrag auf seine Prepaid-SIM-Karte.
Dann kann er diese Summe per SMS an einen Kontakt in
irgendeinem Land überweisen. Der Empfänger kann
sich dann das Geld von einer Bank, einem Laden oder
einem Händler mit einem Code auszahlen lassen – im
Jemen, in Pakistan oder wo auch immer er ist. Der
Geldfluss selbst hinterlässt keine Spuren.

Nicht erst seit dem 11. September sprechen wir von
den Gefahren der Geldwäsche und Terrorfinanzierung.
Deutschland ist seit ihrer Gründung im Jahr 1989 Mit-
glied der Financial Action Task Force, kurz FATF, dem
wichtigsten internationalen Gremium zur Bekämpfung
dieser Gefahren. Unter deutscher Präsidentschaft wur-
den 2003 sogar Standards zur Bekämpfung der Geldwä-
sche grundlegend überarbeitet.

Der Blick unter den eigenen Teppich aber offenbart
Interessantes: Im vorliegenden Gesetzentwurf heißt es
– ich zitiere –:

Die geänderten Informations- und Aufzeichnungs-
pflichten … bestanden bereits nach dem Geld-
wäschegesetz vom 25. Oktober 1993 bzw. nach dem
Geldwäschebekämpfungsergänzungsgesetz vom
13. August 2008.

Wenn sie schon bestehen, warum brauchen wir dann
das vorliegende Gesetz?

Im Text heißt es weiter: Die einschlägigen gesetzli-
chen Regelungen sind bisher von den nach Landesrecht
zuständigen Stellen weitgehend nicht umgesetzt worden.
– Jetzt wird es klar. Was macht also das vorliegende Ge-
setz? Es entzieht die Verantwortung für die Umsetzung
dem Innenministerium und dem Wirtschaftsministerium
und schiebt sie dem Finanzministerium zu. Da fragt man
sich: Wer hat diese Untätigkeit der beiden Ministerien
zu verantworten? Wir wissen, dass es nicht an den fleißi-
gen Beamtinnen und Beamten in den Ministerien liegt,
wenn nichts oder zu wenig passiert ist. Der Fisch stinkt
Zu Protokoll
immer vom Kopf. Offensichtlich fehlte es am politischen
Willen und Anleitung durch die Spitzen.

Es ist schlicht peinlich, das Deutschland als Grün-
dungsmitglied der FATF sich anhören muss, dass es
Rechtsstandards nicht umsetzen kann, ja dass es fast auf
der schwarzen Liste der OECD gelandet wäre. Auf die-
ser Liste landen nur jene Länder, die als Risiko für das
internationale Finanzsystem eingestuft werden.
Deutschland ist also wegen der Unfähigkeit des Innen-
ministeriums und des Wirtschaftsministeriums interna-
tional als Beinahe-Risiko für das internationale Finanz-
system bekannt. Geldwäscheexperten gehen davon aus,
dass in Deutschland zwischen 40 und 60 Milliarden
Euro – ich wiederhole: 40 bis 60 Milliarden Euro – kri-
minelle Gelder gewaschen werden. Selbst vor der EU-
Kommission hat sich Deutschland schon zwei Vertrags-
verletzungsverfahren eingehandelt. Von wegen deut-
sches Vorzeigemodell!

Wenn Deutschland sich einen Rechtsstaat nennen
will, dann müssen Gesetze ohne Ausnahme umgesetzt
werden. Dass die Verantwortung für Geldwäscheprä-
vention dem Finanzministerium übergeben wird, unter-
stützen wir. Aber dass die Untätigkeit des Innenministe-
riums und des Wirtschaftsministeriums folgenlos bleibt,
ist absolut inakzeptabel. Anstatt ständig einen Teil der
Opposition, die Linke, zu bespitzeln, hätte das Innenmi-
nisterium sich auf die konsequente Bekämpfung der
Geldwäsche konzentrieren sollen.

Hoffen wir, dass das Finanzministerium das erreicht,
woran Innenministerien und Wirtschaftsministerien ge-
scheitert sind. Wenn im Februar kommenden Jahres die
FATF-Prüfer wieder nach Deutschland kommen, werden
wir die Ergebnisse ja sehen.


Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1713033900

Der heute in den Bundestag eingebrachte Entwurf ei-

nes Gesetzes zur Optimierung der Geldwäschepräven-
tion ist ein gutes Stück Fleißarbeit. Viele Kritikpunkte
der Financial Action Task Force, FATF, die Deutschland
bisher als äußerst günstigen Standort für Geldwäsche
charakterisiert, werden darin angegangen – allerdings
erst zehn Jahre nach Entwicklung der Prüfkriterien. Die
Zahl der Verdachtsmeldungen im Nichtfinanzbereich ist
weiterhin eklatant niedrig. Erhebliche Mängel stellte die
FATF auch bei der Identifizierung der wirtschaftlich Be-
rechtigten und der laxen Handhabung der Sorgfalts-
pflichten fest.

Die deshalb im Gesetzentwurf vorgenommenen Kon-
kretisierungen sind gut und richtig und werden von uns
unterstützt. Dennoch würde ich darauf wetten, dass das
Thema trotz dieser Novelle bald erneut auf die Tages-
ordnung kommt. Beim Wetten ändert sich schon der
Blickwinkel auf die Thematik: Wettbüros, Spielkasinos,
Spielautomaten gehören genauso wie Immobilien- und
Goldhandel zu den sensiblen Bereichen der Wirtschaft,
in denen Geldwäsche stattfindet. Während es aus Sicht
der Bundesregierung richtig ist, den Forderungskatalog
der FATF abzuarbeiten, dürfte der Gesetzentwurf aus
Sicht eines Geldwäschers wenig bedrohlich erscheinen.
Zwar werden einige Sicherheitslücken geschlossen, ein



gegebene Reden

Dr. Gerhard Schick


(A) (C)



(D)(B)

wirklicher Hebel gegen Geldwäsche wird jedoch nicht
eingesetzt – ein gleichmäßiges Niveau der Geldwäsche-
prävention über die verschiedenen möglichen Wege und
Formen der Geldwäsche wird nicht erreicht. Das Ver-
ständnis von Geldwäscheprävention, wie es aus dem Ge-
setzentwurf hervorgeht, bleibt deshalb das einer Aufklä-
rungskampagne für die sensiblen Branchen mit einigen
Sanktionsmöglichkeiten, falls die betroffenen Unterneh-
merinnen und Unternehmer einer Bewusstseinsbildung
für verdächtige Geschäftspraktiken ihrer Kundinnen und
Kunden nicht nachkommen. Ein solches Bewusstsein ist
zwar nötig und wünschenswert, solange es nicht in ein
Denunziantentum ausartet, es löst aber fundamentale
Probleme nicht.

In Deutschland beträgt das Geldwäschevolumen
Schätzungen zufolge jährlich einen höheren zweistelli-
gen Milliardenbetrag. Diese illegal erwirtschafteten
Gelder sind Teil transnational organisierter Kriminali-
tät; dahinter können Drogen-, Waffen- und Menschen-
handel stehen. Sie sind ein Sicherheitsrisiko, festigen
kriminelle Strukturen, verweben sich mit dem legalen
Wirtschaftskreislauf und führen dort auch noch zu Wett-
bewerbsverzerrungen.

Nehmen wir ein Beispiel, das sicher viele schon be-
obachtet haben: Eine alteingesessene, gut laufende
Kneipe verschwindet auf einmal aus dem Straßenbild,
und an ihre Stelle tritt ein neues Lokal ohne Kunden. Bei
auslaufendem Pachtvertrag wurde der bisherige Betrei-
ber von einem Konkurrenten verdrängt, der kein origi-
näres Interesse an Gastronomie hat, aber ganz andere
Preise zu zahlen imstande ist, weil er durch noch zu wa-
schende Einkünfte rentabler „wirtschaften“ kann als je-
der ehrliche Unternehmer. Geldwäsche ist – das wird in
einem solchen Beispiel deutlich – nicht ein Randphäno-
men in zweifelhaften Milieus, sondern kann zum wirt-
schaftlichen Problem für jedermann werden.

Geldwäsche ist ein kreatives Geschäft. Es sind mitt-
lerweile Fälle bekannt, bei denen populäre Onlinespiele
als Plattformen für Geldwäsche genutzt wurden. Die
Nutzung des Internets bietet zahlreiche neue Möglich-
keiten der „Geldkonvertierung“; die legendären Wasch-
salons Al Capones sind längst Geschichte.

Es gilt daher, jetzt und in Zukunft viele Abwägungen
zu treffen, um weder eine Überwachungshysterie noch
rechtsfreie Räume entstehen zu lassen. Die Antwort auf
einen möglichen Missbrauch von Zahlungsströmen und
-möglichkeiten darf nicht einfach „mehr Datensamme-
lei“ heißen, was angesichts der Erfahrungen der letzten
Jahre zu befürchten ist. Ein Wust von teils föderalen und
meist branchenspezifischen Aufsichtsinstitutionen, die
zwar den ehrlichen Unternehmen viele Lasten aufbrum-
men, aber keinem systematischen und koordinierten An-
satz der Geldwäscheprävention folgen, wird bei Geld-
wäschern wenig Aufruhr verursachen.

So ist eine weitere Erfahrung der letzten Jahre, dass
zahlreiche Defizite beim Vollzug in den Bundesländern
bestehen. Das gilt zum einen für die Steuerfahndung.
Die Ausstattung, vor allem mit Personal, bei der Steuer-
fahndung ist dürftig, Geldwäsche geht aber oft mit der
eben erwähnten Steuerhinterziehung einher. Das gilt
Zu Protokoll
aber auch ganz konkret bei der Umsetzung der spezifi-
schen Geldwäschenormen. Hier sei an das Vertragsver-
letzungsverfahren der EU-Kommission gegen Deutsch-
land Anfang des Jahres erinnert. Einige Bundesländer
hatten nach drei Jahren nicht einmal die Benennung von
Aufsichtsbehörden umgesetzt – vom Unterschied zwi-
schen einer formal benannten und einer real funktionie-
renden Aufsicht ganz zu schweigen.

Wenn die Bundesregierung willens ist, Geldwäsche
als Problem ernst zu nehmen, wenn tatsächlich ein höhe-
rer Anteil an Geldwäscheaktivitäten enttarnt werden
soll, dann braucht es eine Verständigung, wo und wie
das nötige Personal für Aufsicht, Ermittlung und Vollzug
eingesetzt werden soll. Es braucht eine konsequente
Bund-Länder-Strategie. Bei dieser Gelegenheit muss
gleichzeitig die Architektur der Aufsicht auf den Prüf-
stand. Ein aktuelles Beispiel ist das kürzlich beschlos-
sene Glücksspielgesetz in Schleswig Holstein. Es be-
trifft, wie gesagt, einen für Geldwäsche sensiblen
Bereich und verfolgt eine verfehlte Liberalisierungsstra-
tegie. Da Glücksspiel heutzutage verstärkt im Internet
stattfindet, da Schleswig-Holstein dadurch zum deut-
schen Las Vegas werden und Kunden über die eigenen
Landesgrenzen hinaus anziehen könnte, hat die Fehlent-
scheidung eines einzelnen Bundeslandes Auswirkungen
für alle Länder.

Mit der Gesetzesnovelle sind die Bundesministerien
für Finanzen, Wirtschaft, Inneres und Justiz für die Prä-
vention zuständig. Das entspricht durchaus der Materie,
macht jedoch deutlich, dass die Koordination auf Bun-
desebene bereits aufwendig ist. Dies mag auch erklären,
warum eine nachvollziehbare Strategie Deutschlands
bei der Bekämpfung der Geldwäsche bisher ausbleibt.
Das beim BMF geplante Expertengremium zum Thema
ist zwar ein Lichtblick in der Gesetzesbegründung, so-
fern wir erwarten können, dass die zahlreichen Stimmen
aus Fachkreisen dort ernst genommen werden.

Kürzlich fand eine Geldwäschetagung von Organisa-
tionen wie dem Bund Deutscher Kriminalbeamter, der
Deutschen Steuer-Gewerkschaft, dem Bund der Richter
und Staatsanwälte und der Deutschen Zoll- und Finanz-
gewerkschaft statt. Der Vergleich der dort diskutierten
Probleme mit dem jetzigen Gesetzentwurf offenbart,
dass die Bundesregierung von einer politischen Agenda
gegen Geldwäsche weit entfernt ist. Nicht zuletzt wird
deutlich, dass angesichts der Summen und der Struktu-
ren, um die es geht, die Sanktionen manchmal zu gering
sind. Im nun anstehenden Gesetzgebungsverfahren wer-
den wir uns deshalb unter anderem dafür starkmachen,
den Bußgeldrahmen für besonders schwere Verstöße zu
erhöhen. Dies entspricht nicht nur den Monita der FATF,
sondern auch den Empfehlungen des Bundesrates.

H
Hartmut Koschyk (CSU):
Rede ID: ID1713034000


Für die Integrität des Wirtschaftsstandorts Deutsch-
land ist es von großer Bedeutung, Geldwäsche und Ter-
rorismusfinanzierung wirksam zu verhindern. Um dieses
Ziel zu erreichen, hat die Bundesregierung den Entwurf



gegebene Reden





Parl. Staatssekretär Hartmut Koschyk


(A) (C)



(D)(B)

für ein Gesetz zur Optimierung der Geldwäschepräven-
tion vorgelegt.

Dabei wollen wir nicht nur die nationalen Maßnah-
men wirksamer ausgestalten, sondern zugleich auch die
einschlägigen internationalen Standards sowie die
Dritte EU-Geldwäscherichtlinie vollständig umsetzen.
Dies ist aus zwei Gründen dringend angezeigt:

Zum einen hat die Financial Action Task Force on
Money Laundering, abgekürzt FATF, nach intensiver
Evaluierung in ihrem Prüfbericht vom Februar 2010
Defizite im deutschen Rechtssystem bei der Verhinde-
rung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung fest-
gestellt. Die dort im deutschen Rechtssystem gesehenen
Defizite bestehen insbesondere bei der geldwäsche-
rechtlichen Regulierung sogenannter Nichtfinanzunter-
nehmen, das heißt der Gewerbeunternehmen wie zum
Beispiel Versicherungsvermittler, Immobilienmakler
oder Spielbanken im Zuständigkeitsbereich der Bundes-
länder. Deutschland ist als Gründungsmitglied der
FATF verpflichtet, die international maßgeblichen
FATF-Empfehlungen zur Prävention von Geldwäsche
und Terrorismusfinanzierung einzuhalten. Die Bundes-
regierung möchte die konstatierten Mängel innerhalb
der gesetzten Zeitvorgabe beheben. Deutschland muss
im Februar 2012 über seine Fortschritte an die FATF
berichten. Von diesem Ergebnis wird es abhängen, ob
Deutschland mit weiteren Maßnahmen der FATF rech-
nen muss.

Zum anderen hat die Europäische Kommission Män-
gel im Zusammenhang mit der nationalen Umsetzung
der europarechtlich verbindlichen Dritten Geldwäsche-
richtlinie aufgezeigt.

Seien Sie versichert: Die Bundesregierung hat die
von der FATF und der Europäischen Kommission gerüg-
ten Mängel bei den geldwäscherechtlichen Vorschriften
genau analysiert und die Möglichkeiten, ihnen zu begeg-
nen, sorgfältig geprüft und abgewogen. Viel ist bereits
umgesetzt. Soweit die festgestellten Defizite den Bereich
der Kredit-, Finanzdienstleistungs- und Zahlungsinsti-
tute, Versicherungsunternehmen sowie die Kompetenzen
der für den Nichtfinanzsektor zuständigen Aufsichtsbe-
hörden betreffen, wurden diese bereits durch das Gesetz
zur Umsetzung der Zweiten E-Geld-Richtlinie vom
1. März 2011 und das sogenannte OGAW-IV-Umset-
zungsgesetz vom 22. Juni 2011 beseitigt.

Der Entwurf für ein Gesetz zur Optimierung der
Geldwäscheprävention stellt mit einem Paket von Maß-
nahmen zur Behebung der noch verbliebenen Defizite
einen ganz wesentlichen Baustein dar. Mit den Maßnah-
men des Gesetzes wird niemand unter Generalverdacht
gestellt. Es geht nicht zuletzt um die Einhaltung der Ver-
pflichtungen Deutschlands international und auf euro-
päischer Ebene. Wir sollten uns international in die
Reihe der im guten Sinne beispielgebenden Länder ein-
reihen. Dazu gehören wir zurzeit nicht in allen Berei-
chen. Die Minimierung von Geldwäscherisiken liegt
schließlich mit Blick auf potenzielle Reputationsschäden
– für den Einzelnen wie für den Wirtschaftsstandort
Deutschland insgesamt – auch im Eigeninteresse der
verpflichteten Unternehmen.
Selbstverständlich ist dabei darauf Wert zu legen, un-
sere mittelständischen Unternehmen in der praktischen
Ausgestaltung der Regelungen nicht ungebührlich büro-
kratisch zu belasten. Gerade diese Frage wird im Rah-
men der jetzt beginnenden parlamentarischen Beratun-
gen zu diskutieren sein.

Ich bitte um Unterstützung für diesen Gesetzentwurf.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1713034100

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-

wurfs auf Drucksache 17/6804 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Auch hier
sind Sie einverstanden. – Dann wird das so gemacht.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 27 auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Beherbergungsstatistikge-
setzes und des Handelsstatistikgesetzes

– Drucksache 17/6851 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-

(9. Ausschuss)


– Drucksache 17/7200 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Martin Lindner (Berlin)



Dr. Matthias Zimmer (CDU):
Rede ID: ID1713034200

Mit dem uns vorliegenden Gesetzentwurf sind drei

wesentliche Regelungsschwerpunkte verbunden. Das
Beherbergungsstatistikgesetz, das Handelsstatistikge-
setz und last but not least die Aufhebung von Vorschrif-
ten zum Verfahren des elektronischen Entgeltnachwei-
ses; kurz: ELENA.

Ich meine, die Regelungen zum Beherbergungsstatis-
tikgesetz und zum Handelsstatistikgesetz sind weniger
kontrovers diskutiert in diesem Haus als das ELENA-
Verfahren. Das Beherbergungsstatistikgesetz wird euro-
parechtlich harmonisiert, und darüber hinaus geht es
um Entbürokratisierung. Betriebe und statistische Ämter
werden entlastet.

Ebenso wird das Handelsstatistikgesetz novelliert.
Die Wirtschaft wird mit dem Gesetz in den Bereichen
Kfz- und Großhandel durch die Einführung sogenannter
Mixmodelle von statistischen Berichtspflichten entlastet.
Im Kfz-Handel wird mit den vorgeschlagenen Mixmo-
dellen der Erhebungsumfang der Primärerhebung von
derzeit 5 700 Unternehmen auf etwa 2 800 gesenkt.
Auch im Großhandel wird der Erhebungsumfang um
etwa die Hälfte gesenkt – von 11 000 auf etwa 5 500.

Bei kleinen und mittleren Unternehmen unterhalb der
Abschneidegrenzen haben die Mixmodelle eine vollstän-
dige Entlastung zur Folge, da die erforderlichen Anga-
ben aus Verwaltungsdaten gewonnen werden. Die Ab-
schneidegrenzen liegen im Kfz-Handel bei 10 Millionen
Euro Jahresumsatz oder 100 Beschäftigten und im
Großhandel bei 20 Millionen Euro Jahresumsatz oder
100 Beschäftigten. Wir entlasten damit kleine und mit-

Dr. Matthias Zimmer


(A) (C)



(D)(B)

telständische Betriebe, bei Sicherung der notwendigen
Qualität der statistischen Erhebung.

Nun komme ich auf ein häufig in unterschiedlichster
Weise diskutiertes Thema. Von Verteufelung bis Heils-
bringung hat man ELENA schon alles nachgesagt. Das
Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie und
das Bundesministerium für Arbeit und Soziales haben
sich nach eingehender Überprüfung des ELENA-Verfah-
rens darauf verständigt, das Verfahren schnellstmöglich
einzustellen. Ich zitiere aus der gemeinsamen Pressemit-
teilung:

Grund ist die fehlende Verbreitung der qualifizier-
ten elektronischen Signatur. Umfassende Untersu-
chungen haben jetzt gezeigt, dass sich dieser Si-
cherheitsstandard, der für das ELENA-Verfahren
datenschutzrechtlich zwingend geboten ist, trotz al-
ler Bemühungen in absehbarer Zeit nicht flächen-
deckend verbreiten wird. Hiervon hängt aber der
Erfolg des ELENA-Verfahrens ab.

Dies ist zwar nicht die erfreulichste Entwicklung,
zeigt aber ein verantwortungsvolles Umgehen mit dem
Thema seitens der involvierten Ministerien. Die Opposi-
tion mag es kaum glauben, aber verantwortungsvolles
Regierungshandeln umfasst auch die Überprüfung vor-
handener oder eingeführter Instrumente.

Zum weiteren Verfahren ist Folgendes zu sagen: Die
Bundesregierung wird dafür Sorge tragen, dass die bis-
her gespeicherten Daten unverzüglich gelöscht und die
Arbeitgeber von den bestehenden elektronischen Melde-
pflichten entlastet werden. Es ist der Bundesregierung
ein wichtiges Anliegen, Lösungen aufzuzeigen, die die
bisher getätigten Investitionen der Wirtschaft aufgrei-
fen. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales
wird ein Konzept erarbeiten, mit dem die bereits beste-
hende Infrastruktur des ELENA-Verfahrens und das
erworbene Know-how für ein einfacheres und unbüro-
kratisches Meldeverfahren in der Sozialversicherung
genutzt werden können.

Dies ist auch zwingend nötig, denn die Einstellung
von ELENA ist nicht die Aufgabe einer sehr guten und
den Unternehmen zugutekommenden Idee, denn die Un-
ternehmen haben erheblich in die Meldetechnik im Rah-
men des ELENA-Verfahrens investiert. Die Datenstelle
der Träger der Rentenversicherung und die Informa-
tionstechnische Servicestelle der gesetzlichen Kranken-
versicherung sowie die Bundesagentur für Arbeit haben
beim Aufbau und in der Meldephase des ELENA-Verfah-
rens hervorragende Arbeit geleistet und ein umfangrei-
ches Know-how erworben. Die Bundesregierung will im
Rahmen eines neuen Projekts – auch unter dem Ge-
sichtspunkt des Bürokratieabbaus – sicherstellen, dass
die getätigten Investitionen nicht vergeblich waren und
das erworbene Wissen nutzbringend eingesetzt werden
kann. Vor allem ist der Einsparungseffekt für die Unter-
nehmen nicht zu vernachlässigen, denn mit dem ELENA-
Verfahren können die Unternehmen jährlich rund
90 Millionen Euro einsparen.

Als Fazit kann man festhalten: Nach verantwortungs-
voller Prüfung eines eingeführten Instrumentes und der
Zu Protokoll
zwischenzeitlichen Einstellung wird ELENA weiterent-
wickelt und unseren Unternehmen zugutekommen. Dies
wäre ein guter Grund, dass die Opposition konstruktiv
mitarbeitet.


Doris Barnett (SPD):
Rede ID: ID1713034300

Vor 16 Jahren hat der Deutsche Bundestag die

Enquete-Kommission „Zukunft der Medien in Wirtschaft
und Gesellschaft – Deutschlands Weg in die Informa-
tionsgesellschaft“ eingesetzt. In fast vierjähriger Arbeit
haben wir alle Aspekte des Themas ausgeleuchtet, ohne
I-Phones, I-Pads, Facebook usw. auch nur ansatzweise
zu erahnen. Aber was wir damals zu wissen glaubten,
liest sich auf Seite 187 im Band 9 des 1998 vorgestellten
Schlussberichts wie folgt: „Mit der Einführung der digi-
talen Signatur, der elektronischen Unterschrift und einer
verbesserten Sicherheitstechnik können in absehbarer
Zukunft zunehmend mehr Anträge und Bescheide über
das Netz abgewickelt werden. Beim Wohnungswechsel
wird dann der mehrfache Gang zur Meldebehörde über-
flüssig.“

In der Tat haben wir damals einen Blick in die Zu-
kunft gewagt, wobei wir schon die eine oder andere
Stellschraube kannten, zum Beispiel die digitale Signa-
tur.

2001 haben wir das Gesetz für elektronische Signatu-
ren eingeführt. In 2002 wurde die Job-Card-Initiative,
der Vorläufer von ELENA, gestartet. In NRW wurde die-
ses System sogar in „echt“ getestet; das Ergebnis war
positiv. Anfang 2009 wurde ELENA dann endgültig be-
schlossen und trat am 1. Januar 2010 in Kraft und Ar-
beitsministerin von der Leyen verkündete zuversichtlich:
„ELENA entlastet Arbeitnehmer.“

Und jetzt – drei Monate vor erstmaliger Anwendung,
heißt es: Kill ELENA! Damit katapultiert diese Bundes-
regierung unser Land zurück – nicht ganz in die Stein-
zeit, aber zumindest ins 20. Jahrhundert! Selbst das
kleine Estland mit seinen 1,3 Millionen Einwohnern ist
weit fortschrittlicher als wir. In Deutschland erfunden
und entwickelt, verstolpern wir unsere eigenen Innova-
tionen. Und wir sollen attraktiv sein für Computerspe-
zialisten? Wenn die das hier erleben, dann glauben die
sich doch in einem Kostümfilm nach dem Motto: So
schön waren die 80er des letzten Jahrhunderts.

Und warum das alles? Wegen Datenschutz? Nein, der
spielt keine Rolle mehr, weil erkannt wurde, dass er den
Anforderungen des BVerfG entspricht, ja sogar darüber
hinaus geht, was andere wieder als Problem hinstellen.

Jetzt ist es die fehlende Verbreitung der qualifizierten
elektronischen Signatur. Dabei haben wir erst seit zehn
Jahren ein Signaturgesetz, das genau für Anwendungen
wie ELENA geschaffen wurde. 2007 wurde die Grund-
satzentscheidung für ELENA im Bundeskabinett getrof-
fen. Aber weder die Minister Glos, von Guttenberg,
Brüderle oder Rösler haben irgendwelche Anstrengun-
gen unternommen, um dieses Authentifizierungsmerk-
mal unter die Menschen zu bringen. Dabei waren die
Minister doch sonst in Sachen Öffentlichkeitsarbeit nie
zögerlich.



gegebene Reden

Doris Barnett


(A) (C)



(D)(B)

Wie leicht hätte man diese elektronische Signatur an
einer anderen Karte mit anbringen können! Jetzt argu-
mentiert diese Regierung, dass man sie mit dem neuen
Personalausweis verbinden könnte in Form eines elek-
tronischen Identitätsnachweises. Aber bis jeder einen
solchen hätte, schrieben wir nicht nur das Jahr 2020,
sondern die Justizministerin hatte schon im Vorfeld ihre
Bedenken angemeldet, weil nicht der gleich hohe Schutz
wie bei der qualifizierten elektronischen Signatur er-
reicht würde. Also auch diese Idee für die Katz.

Vom Fleck gekommen ist diese Regierung keinen Mil-
limeter. Aber Kosten hat sie erzeugt bei den Betrieben,
Unternehmen und Verwaltungen – und das in dreistelli-
gem Millionenbereich. Ob da jemand „Schadenersatz“
ruft oder ob eine Art „ELENA II“ kommt, bei der Vor-
handenes verwendet wird? Wieder Fehlanzeige. Die
Bundesregierung hat derzeit keine konkreten Pläne für
die künftige Nutzung der für ELENA geschaffenen
Infrastruktur, aber Hauptsache, das Ding ist wegge-
hauen! Ich nenne ein solches Verhalten plan-, ziel- und
kopflos – einer Bundesregierung eigentlich unwürdig.

Der Presse war zu entnehmen, dass man ein „projekt-
orientiertes Meldeverfahren in der Sozialversicherung“
beschlossen hätte, zunächst als „Forschungsprojekt“!
Nicht nur, dass das wieder ein paar Jährchen Zeit kostet:
Was wollen Sie denn noch zusätzlich erforschen! Es gibt
doch Studien, Gutachten, Erfahrungsberichte zuhauf.

Innovation, meine Damen und Herren von der Regie-
rungsseite, sieht anders aus. Dafür muss man das Wort
nicht nur schreiben können, sondern auch handeln. Und
handeln tun Sie, aber wie: Weil es das Wirtschaftsminis-
terium nicht bringt, soll es jetzt das Arbeitsministerium
richten.

Und ganz nebenbei haben Sie mit dem „Aus“ für
ELENA dafür gesorgt, dass die Steuerberater die nächs-
ten Jahre noch auf ihre Kosten kommen mit dem Ausstel-
len von Papierbescheiden, gell!

Aber eines sollten Sie sich merken: Das Vertrauen,
das Sie durch Ihre Verhaltensweise bei Betrieben, Unter-
nehmen und den Menschen in einem so sensiblen Be-
reich zerstört haben, das können Sie nicht durch einen
Ressortwechsel wiederherstellen. ELENA funktioniert
– man muss es nur wollen –, aber Sie wollen nicht! Und
wir wollen Ihr Abschaltgesetz nicht!


Hans-Joachim Hacker (SPD):
Rede ID: ID1713034400

Ich freue mich, dass ich als tourismuspolitischer

Sprecher meiner Fraktion die Gelegenheit habe, die
Auswirkungen des vorliegenden Gesetzentwurfes auf
den Deutschlandtourismus darstellen zu können.

Wie man der Presse entnehmen konnte, boomt der
Deutschlandtourismus wie nie zuvor. Deutschland ist
das beliebteste Reiseziel der Deutschen. Im Vergleich zu
2009 ist letztes Jahr die Zahl der Übernachtungen inlän-
discher Reisender um 2 Prozent auf erstmals mehr als
320 Millionen gestiegen, und dies trotz der Finanz- und
Wirtschaftskrise. Auch mit 60 Millionen Übernachtun-
gen Reisender aus dem Ausland haben wir einen histori-
schen Höchststand erreicht.
Zu Protokoll
Die Übernachtungen in Städten mit mehr als 100 000
Einwohnern nahmen im Vergleich zum Vorjahr um
9 Prozent zu. Deutschland liegt auf Platz eins bei den
Übernachtungen europaweit. Die Städte Berlin, Mün-
chen, Hamburg und Frankfurt liegen in der Statistik un-
ter den 15 Städten mit den meisten Übernachtungen auf
unserem Kontinent. Knapp 356 Millionen Übernachtun-
gen wurden 2010 in gewerblichen Betrieben über 9 Bet-
ten gezählt. Hinzu kommen 87 Millionen Übernachtun-
gen in Privatunterkünften und 24,4 Millionen auf
Campingplätzen. Dies wird belegt durch den Sparkas-
sen-Tourismusbarometer 2010.

Das Statistische Bundesamt befragt momentan bei
der Monatserhebung im Tourismus ausschließlich Be-
triebe, die 9 und mehr Schlafgelegenheiten anbieten, das
heißt mehr als 8 Gäste gleichzeitig unterbringen kön-
nen. Campingplätze müssen bisher mindestens 3 Stell-
plätze zur Verfügung stellen, um mit ihren Angaben Ein-
gang in die Statistik zu finden.

Das soll sich nach dem Willen der Bundesregierung
ändern. Die einheitliche Abschneidegrenze, die die um-
zusetzende EU-Richtlinie vorgibt, liegt bei 10 und mehr
Betten und 10 und mehr Stellplätzen bei Campingplät-
zen. Keiner hindert uns daran, die statistische Erfassung
in Deutschland auf dem bisherigen Niveau zu belassen.
Bei dieser Forderung ist sich die SPD-Bundestagsfrak-
tion einig mit Empfehlungen aus der Tourismusbranche.
Ich beziehe mich hier insbesondere auf die dem Touris-
musausschuss vorliegenden Stellungnahmen des Deut-
schen Tourismusverbandes und des Bundesverbandes
der Campingwirtschaft in Deutschland.

Die vorgesehene Erhöhung der Abschneidegrenze
stößt aufgrund der spezifischen kleinst- und kleinbe-
trieblichen Strukturen, insbesondere im ländlichen
Raum, auf verständliche Proteste aus der Branche. Eine
interne Analyse des Bundesverbandes der Campingwirt-
schaft in Deutschland lässt darauf schließen, dass nach
der geplanten Erhöhung der Abschneidegrenze im Teil-
markt „Wohnmobilstellplätze“ rund 1,5 bis 2 Millionen
Touristikübernachtungen künftig nicht mehr durch die
amtliche Statistik erfasst würden. Das Übernachtungs-
angebot auf Wohnmobilstellplätzen ist inzwischen we-
sentlicher Bestandteil des deutschen Campingangebotes
und sollte daher weiter in die amtliche Statistik einflie-
ßen.

Der Deutsche Tourismusverband weist darauf hin,
dass entsprechend den Angaben des Statistischen Bun-
desamtes in Deutschland insgesamt nahezu 660 Millio-
nen private und geschäftliche Übernachtungen getätigt
werden. Dies sind 280 Millionen Übernachtungen mehr,
als die bisherige amtliche Beherbergungsstatistik mit
Angaben über mehr als 8 Betten ausweist.

In den letzten Jahren ist im Tourismusausschuss und
von den Verbänden sowie im Übrigen auch von der Bun-
desregierung das Zahlenwerk über den Tourismus in
Deutschland hinterfragt wurden. Wir waren uns einig,
dass die Zielgenauigkeit der statistischen Angaben er-
höht werden muss, um für die Entscheidungen im Be-
reich der touristischen Infrastruktur eine qualifizierte
Grundlage zu schaffen. Das liegt im Interesse der Tou-



gegebene Reden

Hans-Joachim Hacker


(A) (C)



(D)(B)

rismusbranche aber auch der Kommunen und der Län-
der.

Die Aussagekraft der Beherbergungsstatistik wird
dagegen nach dem Gesetzentwurf der Bundesregierung
verwässert. Das wird auch nicht durch die angebliche
Reduzierung von Bürokratiekosten im Umfang von
89 000 Euro jährlich ausgeglichen, deren Betrag sich
jedoch durch zusätzliche Befragungen um 40 000 Euro
jährlich reduziert.

Die Bundesregierung argumentiert in ihren Gesetz-
entwurf mit der Verpflichtung des Statistischen Bundes-
amtes zur Lieferpflicht von Tourismusdaten an das Sta-
tistische Amt der Europäischen Union. Ich hatte bereits
darauf hingewiesen, das einer differenzierten Erhebung
von statistischen Angaben nichts im Wege steht und wir
trotzdem die Berichtspflicht gegenüber der Europäi-
schen Union erfüllen können.

Im Übrigen weise ich darauf hin, dass Deutschland
mit durchschnittlich 48 Schlafgelegenheiten deutlich
kleinere Beherbergungseinheiten als andere EU-Länder
wie zum Beispiel Frankreich mit 70 Betten pro Betrieb
hat.

Die Beherbergungsbranche benötigt umfassende
Zahlen, um sich auf Strukturveränderungen einstellen zu
können. Und die Politik benötigt ebenfalls aussagefähi-
ges und somit belastbares statistisches Zahlenmaterial.
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung wird diesem
Erfordernis aus Sicht der Tourismuspolitik nicht ge-
recht.

Wir stimmen gegen den Gesetzentwurf, weil es keiner
Änderung der Beherbergungsstatistik bezüglich der Ab-
schneidegrenze bedarf, sondern wir eine Qualifizierung
der Statistikangaben benötigen.


Gisela Piltz (FDP):
Rede ID: ID1713034500

Mit der Änderung des Beherbergungsstatistikgesetzes

und des Handelsstatistikgesetzes wird das Ziel von Bü-
rokratieabbau für kleine und mittlere Unternehmen ver-
folgt. Mit der Umsetzung einer neuen Verordnung der
Europäischen Union ist für das Beherbergungsgewerbe
insgesamt eine Entlastung von Bürokratielasten verbun-
den, da in Zukunft nur noch Betriebe, die mindestens
zehn Gäste gleichzeitig aufnehmen können, zur Abliefe-
rung von statistischen Daten verpflichtet sind. Für
diesen vom Mittelstand geprägten Wirtschaftsbereich
bedeutet dies eine große Erleichterung, die wir sehr be-
grüßen. Durch die Änderung der statistischen Berichts-
pflichten zur Handelsstatistik im Kfz- und Großhandel
werden weniger Datenerhebungen erforderlich, da die
Zahl der berichtspflichtigen Unternehmen erheblich ge-
senkt wird. Das kommt den kleinen und mittleren Unter-
nehmen zugute, die uns besonders am Herzen liegen.
Gerade den Mittelstand von Bürokratielasten zu be-
freien, ist dieser Koalition ein wichtiges Anliegen, das
mit dem vorliegenden Gesetzentwurf vorangetrieben
wird.

Es gibt aber noch mehr Erfreuliches zu sagen; denn
durch den Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen ist
ein weiterer Aspekt in dieses Gesetzgebungsverfahren
Zu Protokoll
gekommen. Auf Drucksache 15/2315 erklärte die dama-
lige rot-grüne Bundesregierung: „Ziel des Projektes
JobCard ist … der Einstieg in die zentrale Speicherung
von Arbeitnehmerdaten zur Entbürokratisierung der
Verwaltung.“ Am 15. März 2010 erklärte die Partei
Bündnis 90/Die Grünen in einer Pressemitteilung: „Seit
dem 1. Januar 2010 werden in Deutschland Informatio-
nen über Arbeitnehmer/innen wie zum Beispiel Einkom-
mensnachweise zentral elektronisch gesammelt. … Wir
lehnen diese massenhafte und unbestimmte Datensamm-
lung ab. Statt Datensparsamkeit gibt es neue Daten-
berge.“ Vielleicht sollte man den Grünen zu ihrer
– wenngleich späten – Einsicht gratulieren.

Aber man darf nicht vergessen: Erfunden hat das Da-
tenmonster ELENA Rot-Grün. Man darf auch nicht
übersehen: Die Grünen reden gerne über Bürgerrechte;
aber wenn sie regieren, dann sieht es doch ganz anders
aus. In Baden-Württemberg steht in Ihrem Koalitions-
vertrag, dass sie die Vorratsdatenspeicherung wieder
einführen wollen. In der Zeit der rot-grünen Bundesre-
gierung hatten Sie keine Not damit, sich für eine „zen-
trale Speicherung“ aller Arbeitnehmerdaten einzuset-
zen.

In der erwähnten Pressemitteilung haben die Grünen
aufgefordert, sich der Verfassungsbeschwerde gegen das
ELENA-Verfahren anzuschließen. Die Verfassungsbe-
schwerde verfolgt – richtigerweise – die Aufhebung des
Gesetzes, das von den Beschwerdeführern für verfas-
sungswidrig gehalten wird. Mit dem heute zu beschlie-
ßenden Gesetz erübrigt sich die Verfassungsbeschwerde
zum Glück. Wir warten nicht darauf, dass Karlsruhe un-
sere Arbeit macht. Wir machen sie lieber selbst – und
haben nach gründlicher Prüfung entschieden, ein Ge-
setz, das wir für falsch halten, aufzuheben. Dass es den
Grünen aber dann doch nicht darum geht, jetzt schnell
und im parlamentarischen Verfahren das zu erreichen,
was sie vorgeblich wollen, hat sich gestern im Wirt-
schaftsausschuss gezeigt: Da haben Sie nämlich ver-
sucht, das Verfahren zu verlangsamen und zu verzögern.
Da müssen Sie sich schon mal entscheiden, was sie wol-
len. Wenn es Ihnen ernst ist mit Datenschutz, wenn Sie
wirklich meinen, was Sie sagen, dann müssen Sie heute
für die Aufhebung des ELENA-Verfahrens stimmen. Ihr
Stimmverhalten heute ist der Lackmustest für Ihre Poli-
tik.

Die schwarz-gelbe Bundesregierung und die Fraktio-
nen von CDU/CSU und FDP haben sich für das Richtige
entschieden: Sie haben die Einsicht, dass die von den
Grünen erfundene „zentrale Datenspeicherung“ der
falsche Weg ist, umgesetzt und die konsequente Ent-
scheidung getroffen: die Aufhebung des ELENA-Verfah-
rens. Das ist nicht nur für den Datenschutz eine gute
Nachricht, sondern auch für die kleinen und mittleren
Unternehmen, die von unnötiger Datensammelwut be-
freit werden. Es ist zugleich eine gute Nachricht für die
Kommunen. Die kommunalen Spitzenverbände hatten
errechnet, dass das verfehlte Verfahren die Kommunen
mit zusätzlichen 236 Millionen Euro allein in den Berei-
chen Arbeitsagenturen, Elterngeld und Wohngeld belas-
ten würde. Die kommunalen Spitzenverbände stellten
fest, dass das geplante ELENA-Verfahren sogar zu einer



gegebene Reden

Gisela Piltz


(A) (C)



(D)(B)

zusätzlichen Bürokratiebelastung für die Bürgerinnen
und Bürger führen würde, obwohl das Verfahren eigent-
lich auf das Gegenteil zielen sollte.

Wir schauen gleichzeitig in die Zukunft: Es ist zu be-
grüßen, dass die Bundesregierung beschlossen hat, die
Erfahrungen des ELENA-Verfahrens zu nutzen, um künf-
tig vernünftige Lösungen für E-Government zu finden.
Dabei hat sie eines klipp und klar und unzweifelhaft
deutlich gemacht und ihn ihrem Eckpunktepapier auch
beschlossen: Eine zentrale Datenspeicherung wird es
dabei nicht mehr geben.

Der Stopp für das ELENA-Verfahren ist kein Rück-
schritt in die Bürokratiesteinzeit, sondern die Chance,
jetzt ein vernünftigeres und unbürokratisches Verfahren
zu entwickeln. Die bereits gewonnenen Erfahrungen in
den Unternehmen bezüglich sicherer elektronischer Da-
tenübermittlung können und müssen hierbei ebenso ein-
bezogen werden wie die neueren Entwicklungen im Be-
reich der elektronischen Datenverarbeitung insgesamt.
Insbesondere muss berücksichtigt werden, wie elektroni-
sche Verfahren für die Bürgerinnen und Bürger einfach,
praktikabel und unbürokratisch ausgestaltet werden
können, ohne dabei Datenschutz und Datensicherheit
aus den Augen zu verlieren. Die FDP-Bundestagsfrak-
tion wird die Bundesregierung tatkräftig darin unterstüt-
zen, Lösungen zu finden, die für Unternehmen, Bürge-
rinnen und Bürger wie auch die Kommunen tragfähig
und zukunftsgerichtet neue Medien für Entbürokratisie-
rung nutzbar machen.

Sprichwörtlich heißt es: Das Gegenteil von „gut ge-
macht“ ist „gut gemeint“. Was dabei nämlich herausge-
kommen ist, dass Rot-Grün es „gut gemeint“ hat, sieht
man beim ELENA-Verfahren. Wir hingegen machen es
gut. Das ist der Unterschied zwischen Ihnen und uns.
Das ist der Unterschied für die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer, deren Daten jetzt nicht mehr anlasslos
zentral gespeichert werden, für die Kommunen, deren
Haushalte nicht mit sinnlosen Millionenbeträgen für
mehr Bürokratie belastet werden, für die kleinen und
mittleren Unternehmen, die nicht mehr ohne Anlass Da-
ten ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erheben und
übermitteln müssen. Das ist der Unterschied für die
Menschen in Deutschland.


Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1713034600

Das Beherbergungsstatistikgesetz ist eigentlich keine

große Sache. Es regelt die Auskunftspflichten der Unter-
nehmen für die Tourismusstatistik. Eine neue EU-Ver-
ordnung verpflichtet alle Mitgliedstaaten der Europäi-
schen Union zu weiteren statistischen Angaben, und das
Gesetz wird nunmehr entsprechend geändert.

Für Betriebe der Hotellerie mit mehr als 25 Zimmern
werden zusätzlich Angaben zur Zimmerauslastung erho-
ben. Die von der EU verlangten Änderungen der Beher-
bergungsstatistik sind sinnvoll. Größere Unternehmen
müssen gehaltvollere Informationen liefern, während
gleichzeitig kleinere Unternehmen von Berichtspflichten
entlastet werden. So weit so gut.
Zu Protokoll
Wir hätten zustimmen können, wenn Sie nicht einen
bedeutenden Punkt einfach übergangen hätten: Deutsch-
land hat – übrigens wie auch die EU – die UN-Behinder-
tenrechtskonvention ratifiziert. Sie ist in Deutschland
seit dem 26. März 2009 geltendes Recht! Die Förderung
des barrierefreien Tourismus ist – nicht nur für die Linke
und die Behindertenbewegung – eine zentrale Zielstel-
lung in der Tourismuspolitik. Dies wird unter anderem in
den tourismuspolitischen Leitlinien der Bundesregie-
rung und der Koalitionsvereinbarung deutlich.

Wir wissen, unter anderem dank des Beherbergungs-
statistikgesetzes, ziemlich genau, wie viele Gästezimmer
und -betten es in unserem Land gibt. Es fehlen jedoch bis
heute Angaben darüber, wie viele barrierefreie Unter-
künfte zur Verfügung stehen. Ich weiß aus eigenem Erle-
ben sehr gut, wie schwer es ist, ein rollstuhlgerechtes
Hotelzimmer zu finden. Wie oft muss ich nach einer Ver-
anstaltung noch einmal in ein Auto steigen, weil die Ho-
tels am Veranstaltungsort kein barrierefreies Zimmer für
mich haben. Das beginnt in Altenberg im Erzgebirge,
geht über Bremen, Nürtingen bis nach Zarrentin und Zit-
tau.

Wenn wir daran etwas – auch mit Blick auf die
Verpflichtungen aus der UN-Behindertenrechtskonven-
tion, insbesondere auf die Präambel sowie die Art. 9, 20
und 30 – zielgerichtet ändern wollen, brauchen wir ge-
nauere Informationen über den Istzustand.

Das können wir mit dem jetzt zur Abstimmung vorlie-
genden Änderungsantrag der Linken leicht erreichen. Es
geht um die Einfügung von zwei Worten und schon wis-
sen wir künftig anhand der geforderten Meldung über
die Zahl von barrierefreien Gästebetten und Gästezim-
mern, wo wir hinsichtlich der Barrierefreiheit in
Beherbergungseinrichtungen stehen. Der damit verbun-
dene Mehraufwand ist – auch mit Blick auf Art. 31 „Sta-
tistik und Datensammlung“ der UN-Behindertenrechts-
konvention – mehr als gerechtfertigt.

Leider haben die anderen Fraktionen unseren Ände-
rungsantrag in den Fachausschüssen mit den kurioses-
ten Begründungen abgelehnt, und ich nehme an, dass
dies auch in der folgenden Abstimmung so sein wird.
Dies zeigt wieder einmal, wie ernst die Bekenntnisse zur
Förderung des barrierefreien Tourismus zu nehmen
sind. Es ist – das sage ich auch als selbst Betroffener und
Vorsitzender des Allgemeinen Behindertenverbandes in
Deutschland „Für Selbstbestimmung und Würde“ – für
dieses Hohe Haus einfach nur beschämend.

Nun noch einige Bemerkungen zum Handelsstatistik-
gesetz: In den Bereichen Kfz- und Großhandel sollen bei
den monatlichen Erhebungen Mixmodelle eingeführt
werden, bei denen die Angaben aus zwei unterschiedli-
chen Quellen stammen: aus Primärerhebungen und aus
Verwaltungsregistern. Diese Mixmodelle entlasten die
Betriebe, sichern jedoch vermutlich die notwendige
Qualität und Zuverlässigkeit der Daten.

Primärerhebungen mit Daten aus Verwaltungsregis-
tern zu kombinieren, ist sinnvoll. Die Zahl der zu befra-
genden Unternehmen kann gesenkt werden. Eine Hal-
bierung der Zahl auskunftspflichtiger Unternehmen geht



gegebene Reden





Dr. Ilja Seifert


(A) (C)



(D)(B)

allerdings zu weit. Es wäre besser, die Zahl der berich-
tenden Unternehmen zunächst behutsam zu senken.
Denn welche Datenqualität das neue Mixmodell liefert,
ist noch ungewiss.

Vollkommen lächerlich haben Sie sich aber gemacht,
als sie die Abwicklung ihres gescheiterten ELENA-Pro-
jekts zur elektronischen Übermittlung von Einkommens-
nachweisen einfach an die beiden anderen Entwürfe
drangehängt haben. Sie wollten sich die Peinlichkeit er-
sparen, das noch einmal im Scheinwerfer der Öffentlich-
keit tun zu müssen. Das ist ja verständlich, aber es ent-
spricht dennoch nicht den parlamentarischen Sitten.

Die Linke lehnt aus den genannten Gründen den Ge-
setzentwurf ab.


Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1713034700

Seit der gestrigen Sitzung des Wirtschaftsausschusses

hat das Beherbergungsgesetz erheblich an Brisanz ge-
wonnen. Union und FDP haben dem an sich recht harm-
losen Statistikänderungsgesetz die Einstellung des hoch-
umstrittenen ELENA-Verfahrens angehängt. Ein Ende
mit Schrecken ist in aller Regel besser als ein Schrecken
ohne Ende. Allerdings kommt diese Einsicht von
Schwarz-Gelb fast zwei Jahre zu spät. Gestartet ist
ELENA Anfang des Jahres 2010. Schnell war klar, dass
der eigentlich gute Ansatz, die Unternehmen von Millio-
nen von Papierbescheinigungen zu befreien, zu einem
Bürokratiemonster mutiert. Die Kosten des Verfahrens
explodierten, und die Verunsicherung bei Unternehmen
und Bürgern wuchs. Spätestens seit dem Urteil des Bun-
desverfassungsgerichts zur Vorratsdatenspeicherung im
März 2010 war für jeden, der sehen wollte, glasklar,
dass ELENA auch datenschutztechnisch völlig aus dem
Ruder gelaufen ist.

Wir Grünen haben die Regierung damals aufgefor-
dert, genau das zu tun, was sie jetzt endlich tut, nämlich
die elektronischen Meldepflichten der Arbeitgeber auf-
zuheben und die bereits erfassten Datensätze zu löschen.
Union und FDP haben das damals leider abgelehnt, sie
brauchten weitere eineinhalb Jahre, um sich das Schei-
tern ihres elektronischen Meldeverfahrens einzugeste-
hen. Das ist Politikunfähigkeit auf dem Rücken von
2 Millionen vor allem kleinen und mittleren Unterneh-
men. Diese haben Monat für Monat die gesetzlich gefor-
derten Meldepflichten erfüllen müssen. Mittlerweile sta-
peln sich 700 Millionen Datensätze bei der zentralen
Sammelstelle – ein Aufwand von mehreren 100 Millio-
nen Euro für die Wirtschaft, der den Unternehmen kein
bisschen Bürokratieabbau gebracht hat. Auch wenn
ELENA noch von der Großen Koalition beschlossen
worden war: Die Verantwortung für die ineffiziente Da-
tenflut über viele Monate liegt bei Union und FDP. Das
Vertrauen der Unternehmen in den Willen und die Fä-
higkeit der schwarz-gelben Regierung zum Bürokratie-
abbau ist schwer beschädigt.

Offenbar ist das auch den Koalitionären klar, und
vermutlich wurde das Aus für ELENA deshalb heimlich,
still und leise in der parlamentarischen Sommerpause
verkündet. Peinlich ist auch das jetzige Verfahren:
Union und FDP bringen die ELENA-Beendigung per
Koalitionsantrag am Normenkontrollrat vorbei in den
Bundestag ein. Im Wirtschaftsauschuss wurde dann ges-
tern auch noch der Antrag von uns Grünen, den Nor-
menkontrollrat doch noch hinzuzuziehen, niederge-
stimmt. Das ist ganz schlechter Politikstil. Wir werden
den Gesetzentwurf aus diesem Grund komplett ableh-
nen.

Die erweiterten Möglichkeiten zur Überprüfung von
Bürokratiekosten durch den Normenkontrollrat sind da-
mit gleich im ersten Praxistest von der Koalition blo-
ckiert worden. Die Koalition hintertreibt ohne Not die
von ihr selbst geschaffenen Möglichkeiten. Um die De-
batte über ihr gescheitertes Projekt zu vermeiden, nut-
zen Union und FDP ein Schlupfloch und schwächen die
Glaubwürdigkeit bezüglich des Bürokratieabbaus wei-
ter. Offenbar ist der Wille nach mehr Transparenz in der
Koalition ein reines Lippenbekenntnis.

Ich würde es sehr begrüßen, wenn der Normenkon-
trollrat trotz der Absage der Koalition seine Möglich-
keit nutzt, die bürokratischen Belastungen durch das
ELENA-Aus für die Unternehmen und die Verwaltung
festzustellen und wir Abgeordnete das Ergebnis auch er-
fahren würden.

Wichtiger noch ist aber der Blick nach vorne. Die Un-
ternehmen haben viele Millionen Euro in Aufbau und
Pflege der ELENA-Strukturen investieren müssen. Das
darf nicht umsonst gewesen sein. Die Bundesregierung
muss nun umgehend zukunftsfähige und unbürokratische
Meldestrukturen aufbauen, die auch den hohen daten-
schutzrechtlichen Anforderungen gerecht werden. Ange-
kündigt ist jetzt, dass das Bundesministerium für Arbeit
und Soziales federführend ein einfaches und unbürokra-
tisches Meldeverfahren für die Sozialversicherungen er-
arbeiten soll, das die getätigten Investitionen in der
Wirtschaft aufgreift und keine Massenspeicherung von
Daten vorsieht. Allerdings steckt dieses Projekt noch in
den Kinderschuhen. Es gibt noch nicht einmal einen
Zeitplan. Ich hoffe sehr, dass der seit Monaten geführte
Zuständigkeitsstreit mit dem Wirtschaftsministerium
hier nicht weitergeht, sondern dass wir den Unterneh-
men endlich den versprochenen Bürokratieabbau er-
möglichen können.

Noch einmal zurück zur Beherbergungsstatistik: Bar-
rierefreie Beherbergungsmöglichkeiten besser zu erfas-
sen, ist ein sehr sinnvoller Vorschlag der Linksfraktion,
der von Bundesregierung und Bundesrat eingehend ge-
prüft werden sollte. Bevor wir eine solche Forderung de-
tailliert ins Gesetz schreiben, sollten wir aber genau
überlegen, wie die Meldungen ausgestaltet sein müssen,
damit sie auch wirklich aussagekräftig sind. Außerdem
brauchen wir eine Abschätzung des Verwaltungsauf-
wands. Die Länder ächzen ohnehin schon unter dem zu-
sätzlichen Aufwand, ohne von der Bundesregierung un-
terstützt zu werden. Wir werden uns deshalb bei der
Abstimmung über den Antrag der Linksfraktion enthal-
ten.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1713034800

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für

Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Be-





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)


schlussempfehlung auf Drucksache 17/7200, den Gesetz-
entwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/6851 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Hierzu liegt ein Än-
derungsantrag der Linken auf Drucksache 17/7221 vor,
über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für diesen
Änderungsantrag? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –
Der Änderungsantrag ist bei Zustimmung der Linken und
bei Enthaltung von SPD und Grünen mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen abgelehnt.

Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Ge-
setzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposi-
tionsfraktionen angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist mit gleichem Stimmenverhältnis angenommen.

Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 30. September 2011,
9 Uhr, ein.

Die Sitzung ist geschlossen.