Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 9855
(A) (C)
(D)(B)
Es war richtig, dass wir von der Möglichkeit einer
schrittweisen Anpassung unseres Arbeitsmarktes an dieSchaaf, Anton SPD 27.01.2011
Einzig Deutschland und Österreich haben den größt-
möglichen Spielraum der EU-Verträge ausgenutzt und
machen derzeit noch die Grenzen dicht für Polen, Tsche-
chen, Slowaken, Ungarn und Balten.
Dr. Ramsauer, Peter CDU/CSU 27.01.2011
Remmers, Ingrid DIE LINKE 27.01.2011
Anlage 1
Liste der entschuldi
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Aschenberg-Dugnus,
Christine
FDP 27.01.2011
Bosbach, Wolfgang CDU/CSU 27.01.2011
Brüderle, Rainer FDP 27.01.2011
Bülow, Marco SPD 27.01.2011
Connemann, Gitta CDU/CSU 27.01.2011
Friedhoff, Paul K. FDP 27.01.2011
Fritz, Erich G. CDU/CSU 27.01.2011*
Gehrcke, Wolfgang DIE LINKE 27.01.2011
Gleicke, Iris SPD 27.01.2011
Groth, Annette DIE LINKE 27.01.2011*
Gruß, Miriam FDP 27.01.2011
Höger, Inge DIE LINKE 27.01.2011
Kindler, Sven-
Christian
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
27.01.2011
Dr. Koschorrek, Rolf CDU/CSU 27.01.2011
Kuhn, Fritz BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
27.01.2011
Merkel (Berlin), Petra SPD 27.01.2011
Möhring, Cornelia DIE LINKE 27.01.2011
Nietan, Dietmar SPD 27.01.2011
Nink, Manfred SPD 27.01.2011
Nord, Thomas DIE LINKE 27.01.2011
Dr. von Notz,
Konstantin
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
27.01.2011
Piltz, Gisela FDP 27.01.2011
Anlagen zum Stenografischen Bericht
gten Abgeordneten
* für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver-
sammlung des Europarates
Anlage 2
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Faire Mobilität und
soziale Sicherung – Voraussetzungen für die Ar-
beitnehmerfreizügigkeit ab 1. Mai 2011 schaffen
(Tagesordnungspunkt 12)
Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU): Am 1. Mai
2004 sind der Europäischen Union zehn neue Länder
beigetreten. Am 1. Januar 2007 traten mit Bulgarien und
Rumänien zwei weitere neue Staaten der Union bei. Je-
dem der 15 „alten“ EU-Staaten wurde die Möglichkeit
eingeräumt, von einer Beschränkung der Arbeitnehmer-
freizügigkeit für die neuen Mitgliedsländer Gebrauch zu
machen, außer in Bezug auf Malta und Zypern. Um der
Notwendigkeit einer schrittweisen Anpassung der natio-
nalen Arbeitsmärkte nachzukommen, hat man sich dabei
auf ein flexibles 2+3+2-Modell geeinigt. Das heißt, je-
des EU-Mitglied konnte im eigenen Ermessen entschei-
den, wie schnell eine komplette Öffnung des nationalen
Arbeitsmarktes erfolgen soll.
Scholz, Olaf SPD 27.01.2011
Schwanitz, Rolf SPD 27.01.2011
Storjohann, Gero CDU/CSU 27.01.2011
Süßmair, Alexander DIE LINKE 27.01.2011
Tressel, Markus BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
27.01.2011
Trittin, Jürgen BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
27.01.2011
Dr. Uhl, Hans-Peter CDU/CSU 27.01.2011
Werner, Katrin DIE LINKE 27.01.2011*
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
9856 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011
(A) (C)
(D)(B)
veränderten Bedingungen einer EU-27 Gebrauch ge-
macht haben. Damit haben wir vermieden, dass es vor
dem Hintergrund der Finanz- und Wirtschaftskrise unnö-
tigerweise zu einer Überforderung unseres Arbeitsmark-
tes und zu überhasteten Maßnahmen mit unvorhersehba-
ren Folgen kam.
Nun sind es nur noch wenige Monate, dann fallen für
rund 70 Millionen Einwohner in acht mittel- und osteu-
ropäischen Mitgliedsländern der Europäischen Union
die letzten Zugangsbarrieren zu Europas Arbeitsmärk-
ten. Am 30. April 2011, sieben Jahre nach der größten
EU-Erweiterungsrunde, läuft auch die ultimative Frist
aus.
Heute, sechs Jahre nach der EU-Erweiterung, zeigt
sich – so schreibt es die Frankfurter Allgemeine Zeitung
in einem Artikel vom 31. Dezember 2010 –, dass die Sor-
gen überzogen waren und man heute im Dreiländereck
von Deutschland, Polen und Tschechien vor der Öffnung
des Arbeitsmarktes entspannt miteinander umgeht.
Verständlicherweise gibt es bei uns in Deutschland
vor dieser Öffnung des Arbeitsmarktes große Sorgen
und Ängste. Auch in Polen gibt es erhebliche Bedenken,
und zwar vor einem Fachkräfteverlust, da Polen selbst
an einer schrumpfenden Erwerbsbevölkerung leidet. Ge-
naue belastbare Aussagen zu den Auswirkungen der Ar-
beitnehmerfreizügigkeit ab 1. Mai 2011 gibt es nicht. Je-
doch wird von den meisten Experten kein „Ansturm“
oder eine „Massenwanderung“ auf unseren Arbeitsmarkt
erwartet. So geht die Kommission in ihrem Bericht aus
dem Jahre 2008 von geringen Auswirkungen der Wande-
rungsbewegungen auf Löhne und Beschäftigung der ein-
heimischen Arbeitskräfte der EU-15-Länder durch die
zehn neuen Mitgliedstaaten aus. Langfristig sei die Ar-
beitsmigration aus Osteuropa im Großen und Ganzen
neutral für die Arbeitsmärkte.
Der Chef der Bundesagentur für Arbeit, Herr Weise,
hat gestern in der Sitzung des Ausschusses für Arbeit
und Soziales noch einmal betont, dass er keine große
Gefahr für den gesamtdeutschen Arbeitsmarkt sehe. Er
erwarte, dass etwa 100 000 bis 150 000 Personen pro
Jahr zuwandern. Für Deutschland bestehen auch große
Chancen, wenn es gelinge, eine „Willkommens-Kultur“
zu schaffen, so Weise weiter. Negative Auswirkungen
könnte es, wenn überhaupt, dann nur in sensiblen Berei-
chen wie in der Zeitarbeit geben. Deshalb setzen wir uns
als Unionsfraktion seit längerem für einen branchenspe-
zifischen Mindestlohn in der Zeitarbeit ein. Hier gibt es
auch zwischen den Arbeitgebern und den Gewerkschaf-
ten eine erfreuliche Einigkeit.
Einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn,
wie ihn die SPD-Fraktion in ihrem vorliegenden Antrag
fordert, lehnen wir jedoch entschieden ab. Wir haben
viele solche Mindestlohndebatten geführt, zuletzt vor
Weihnachten auf Initiative der Fraktion Die Linke. Un-
sere Argumente, insbesondere die Gefahr des Verlustes
vieler Arbeitsplätze, haben sich nicht verändert. So
warnt der Bundesverband der Zeitarbeit aktuell vor einer
zu strengen Lohnregulierung und sieht mehrere Zehntau-
send Arbeitsplätze in Gefahr. Wir wollen Beschäftigung
erhalten und nicht ins Ausland verlagern.
Auch die Forderung der SPD-Fraktion nach Auf-
nahme der sozialen Fortschrittsklausel ins Primärrecht
haben wir bereits im Ausschuss für die Angelegenheiten
der Europäischen Union aus guten Gründen abgelehnt.
Zum einen ist die soziale Dimension des EU-Vertrags-
systems bereits deutlich ausgeweitet worden. Zum ande-
ren ist soziale Politik in erster Linie eine nationale Auf-
gabe und fällt damit nicht in die Zuständigkeit der
Europäischen Union. Darüber hinaus würde durch solch
eine soziale Fortschrittsklausel die Leistungsfähigkeit
und Dynamik des marktwirtschaftlichen Systems erheb-
lich gemindert.
Ich bin zuversichtlich, dass wir in den Verhandlungen
im Rahmen der Hartz-IV-Reform am 6. Februar 2011
noch eine Einigung mit der Opposition über eine Lohn-
untergrenze in der Zeitarbeit erzielen werden. Anderer-
seits darf dies nicht dazu führen, dass sämtliche sozial-
politischen Wünsche aus den letzten 15 Jahren dabei
umgesetzt werden.
Ich wünsche mir, dass wir der Öffnung unseres Ar-
beitsmarktes nach dem 1. Mai 2011 genauso gelassen
entgegensehen, wie es Deutsche, Polen und Tschechen
im Dreiländereck tun.
Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Ausgangs-
punkt der Arbeitnehmerfreizügigkeit, über die wir heute
reden, ist der Fall des Eisernen Vorhangs vor inzwischen
mehr als 20 Jahren. Viele Millionen Menschen haben
diese Freiheit gewollt und für sie gekämpft. So waren
die Menschen in Ostdeutschland nicht mehr bereit, sich
mit Mauer, Stacheldraht und Schießbefehl abzufinden.
Auch in anderen Ländern Osteuropas eroberten sich mu-
tige Menschen ihre Freiheit. Es war nur folgerichtig,
dass diese Länder Aufnahme in die Europäische Union
gefunden haben.
Die Freizügigkeit für die Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmer in diesem Europa wurde unter anderem we-
gen der in den vergangenen Jahren schwierigen Lage auf
dem Arbeitsmarkt von der deutschen Bundesregierung
auf den nach dem Beitrittsvertrag letztmöglichen Zeit-
punkt hinausgeschoben, und dieser letztmögliche Zeit-
punkt ist der 1. Mai 2011.
Die neue Bewegungsfreiheit ist ein hohes Gut, das
nach unserer Überzeugung nicht für politische Stim-
mungsmache herhalten darf. Wir wollen nicht, dass an-
stelle von Mauern Gräben zwischen den Menschen ent-
stehen.
Auch die SPD hat sich lange an diesen Grundsatz ge-
halten. Jetzt ist der Niedergang der Sozialdemokratie of-
fenbar so weit fortgeschritten, dass es um eines ver-
meintlichen politischen Profits willen opportun er-
scheint, mit den Ängsten der Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer zu spielen.
Ich kann Ihnen aber versichern: Bei der christlich-li-
beralen Koalition ist das Thema Arbeitnehmerfreizügig-
keit in den besten Händen – und das nicht erst seit heute.
So hat sich die CDU/CSU-Bundestagsfraktion bereits
im Juni 2010 in einer von der Arbeitnehmergruppe initi-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 9857
(A) (C)
(D)(B)
ierten Fachtagung mit den Auswirkungen der bevor-
stehenden vollen Arbeitnehmerfreizügigkeit zu Polen,
Tschechien und sechs weiteren mittel- und osteuropäi-
schen EU-Mitgliedstaaten befasst. Damals hat Professor
Herbert Brücker vom Institut für Arbeitsmarkt- und Be-
rufsforschung in Nürnberg in einem vielbeachteten Re-
ferat insgesamt positive Effekte und punktuelle, poli-
tisch beherrschbare Risiken prognostiziert.
Die Union hat sich in ihrer Politik an diesem Szenario
orientiert. Wir sehen offen und optimistisch dem Wegfall
der Beschäftigungshürden entgegen und handeln zu-
gleich gezielt, wo sich Probleme anbahnen könnten. Es
geht dabei nicht darum, neue Hürden oder gar Mauern
für die Freizügigkeit aufzubauen. Es geht allein darum,
ganz im Sinne sozialmarktwirtschaftlicher Prinzipien
wettbewerbsverzerrende Effekte auszuschalten. Diese
könnten sich aufgrund des noch vorhandenen Lohngefäl-
les innerhalb der EU ergeben und sich in manchen Bran-
chen zulasten derjenigen Betriebe, die ortsangemessene
Löhne bezahlen, und ihrer Beschäftigten auswirken.
Wir haben mit Nachdruck darauf hingewirkt, dass es
zu einem Mindestlohn in der Pflege kommt. Weitere ta-
rifliche Mindestlöhne hat die Bundesregierung außer-
dem unter anderem im Gebäudereinigerhandwerk und in
der Abfallwirtschaft für allgemeinverbindlich erklärt.
Ich bin sehr zuversichtlich, dass es darüber hinaus in
Kürze zu allgemeinverbindlichen tariflichen Mindest-
löhnen im Wach- und Sicherheitsgewerbe und in der
Zeitarbeit kommen wird. Gerade die Arbeitnehmer-
gruppe hatte übrigens frühzeitig auf die Notwendigkeit
einer Lohnuntergrenze in der Zeitarbeit hingewiesen, da-
mit nicht Arbeitskräfte zu den tariflichen Konditionen
von Ländern mit niedrigerem Lohnniveau nach Deutsch-
land entliehen werden können.
Damit wird es zum 1. Mai 2011 in den besonders an-
fälligen Branchen des Dienstleistungssektors Lohnunter-
grenzen geben, die Lohndumping aufgrund des Wegfalls
der Beschäftigungsschranken verhindern.
Ich möchte in diesem Zusammenhang ausdrücklich
betonen: Die Tarifvertragsparteien in den jeweiligen
Branchen sind ihrer Verantwortung gerecht geworden
und haben mit ihrer konstruktiven Haltung einen ent-
scheidenden Beitrag hierzu geleistet. Vor diesem Hinter-
grund müssen sie die SPD-Forderung nach einem staatli-
chen Mindestlohn allerdings als Ohrfeige empfinden.
Wir wissen: Hinter der Arbeitswanderung stehen auch
persönliche Schicksale. Die wirksame Verhinderung von
Lohndumping ist auch eine wichtige Voraussetzung da-
für, dass Arbeitskräfte aus unseren Nachbarländern hier
als Kollegen und nicht als Konkurrenten gesehen wer-
den. Wir werden überdies auch eine konsequente Über-
wachung durch die zuständigen Stellen sicherstellen,
dass die im Zuge der Arbeitnehmerfreizügigkeit zuwan-
dernden Arbeitskräfte zu rechtmäßigen Bedingungen be-
schäftigt und nicht ausgebeutet werden.
Die Arbeitnehmergruppe hat sich im Übrigen auch in
politischen Gesprächen in Polen unter anderem mit Re-
gierungs-, Gewerkschafts und Kirchenvertretern im ver-
gangenen Sommer über die dortige Bewertung der Situa-
tion von polnischen Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmern in Deutschland und ihre Erwartungen infor-
miert.
Zum Schluss meiner Rede möchte ich auf den eben
bereits erwähnten Professor Brücker zurückkommen.
Dieser rechnet auch damit, dass vom Wegfall der
Beschäftigungsschranken Wachstumsimpulse ausgehen
werden. Hierzu lautet unsere Botschaft: Wir wollen, dass
Europa gemeinsam wächst.
Josip Juratovic (SPD): Mit der Arbeitnehmerfrei-
zügigkeit für die mittel- und osteuropäischen Staaten ab
1. Mai 2011 rückt Europa ein Stück näher zusammen.
Damit ist die europäische Integration für alle Menschen
auch in ihrem täglichen Leben spürbar. Das ist ein wich-
tiger Beitrag für die Identifikation mit unserem gemein-
samen Europa.
Die Bundesagentur für Arbeit geht davon aus, dass ab
dem 1. Mai 2011 zwischen 100 000 und 150 000 Men-
schen nach Deutschland kommen, um bei uns hier zu ar-
beiten. Diese Zuwanderung ist für unseren wirtschaftli-
chen Erfolg in der Zukunft sehr wichtig; denn dieser
hängt von der Fachkräfteentwicklung ab. Natürlich ist es
unsere prioritäre Aufgabe, zunächst einmal die Men-
schen in unserem Land zu Fachkräften auszubilden.
Aber man muss realistisch sein: Das reicht nicht aus, und
wir brauchen Zuwanderung. Derzeit wandern jedoch
mehr Menschen aus Deutschland aus, als Menschen zu
uns kommen. Es gibt viele Studien, die belegen, wie
wichtig eine Zuwanderung von hochqualifizierten Fach-
kräften ist und dass dadurch Arbeitsplätze gesichert wer-
den.
Allerdings: Die entscheidende Frage dabei ist, ob
hochqualifizierte Fachkräfte oder niedrigqualifizierte Ar-
beitnehmer zu uns kommen. Damit wir für hochqualifi-
zierte Arbeitnehmer attraktiv sind, brauchen wir eine
Willkommenskultur. Diese Willkommenskultur ist von
unserer Gesellschaft abhängig, aber auch von unserem
politischen Handeln. Wenn die Arbeitnehmer aus diesen
Staaten zu den jetzigen gesetzlichen Bedingungen zu uns
kommen, sind sie gezwungen, zu schlechten Bedingun-
gen und Niedrigstlöhnen zu arbeiten. Ich habe bereits im
Dezember hier am Rednerpult davon gesprochen, dass
der polnische Arbeitgeberpräsident von Löhnen für pol-
nische Leiharbeiter zwischen 2 und 5 Euro ausgeht. Bei
derartigen Löhnen kommen keine Hochqualifizierten zu
uns, sondern nur Niedrigqualifizierte. Wir müssen unsere
Löhne und Arbeitsbedingungen verbessern, damit es für
Hochqualifizierte attraktiv ist, bei uns zu arbeiten.
Wir wissen alle, welche Arbeitsbedingungen und
Löhne ab dem 1. Mai 2011 in unserem Land drohen.
Und trotzdem tun die Kolleginnen und Kollegen von
Union und FDP nichts dagegen. Die Bundesregierung
schaut nur zu, was passiert, ohne politisch zu handeln.
Durch ihr Zögern gefährden sie den sozialen Frieden in
Deutschland und in der gesamten Europäischen Union.
Die Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP
werden möglicherweise argumentieren, dass sie ja im
Vermittlungsausschuss neuerdings für einen Mindest-
9858 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011
(A) (C)
(D)(B)
lohn in der Leiharbeit eintreten und damit schon etwas
tun auch für die Arbeitnehmer in der EU. Ich freue mich
darüber, dass sie nach Jahren der politischen Nachhilfe
durch die SPD endlich die Realität in der Leiharbeit er-
kannt und sich unserem stetigen Druck gebeugt haben.
Aber ein Mindestlohn nur für die Leiharbeit reicht nicht
aus, um die Arbeitnehmerfreizügigkeit vorzubereiten.
Deswegen legen wir als SPD-Fraktion heute einen de-
taillierten Antrag vor, was alles bis zum 1. Mai gesche-
hen muss.
Zuallererst brauchen wir einen flächendeckenden ge-
setzlichen Mindestlohn. Weiterhin brauchen wir eine Re-
gelung, wie die Einhaltung von Mindestlöhnen und Ar-
beitsbedingungen wirksam kontrolliert werden kann.
Dazu brauchen wir mehr Personal bei der Finanzkon-
trolle Schwarzarbeit. Das haben mir zahlreiche Mitarbei-
ter des Zolls bestätigt. Zudem muss die Nachweispflicht
der Arbeitgeber angepasst werden, damit Vor-Ort-Kon-
trollen wirksam durchgeführt werden können. Wir müs-
sen Scheinselbstständigkeit wirksam bekämpfen. Ich kenne
Berichte, dass unter einer Firmenadresse 30 vermeintlich
Selbstständige gemeldet sind. Diesen Missbrauch müs-
sen wir verhindern.
Wir brauchen eine Generalunternehmerhaftung ähn-
lich der Regelung im Baugewerbe. Wenn ein Unterneh-
men nicht den vereinbarten Mindestlohn und die Sozial-
versicherungsbeiträge zahlt, muss auch der Auftraggeber
des Unternehmens haften.
Auch im Bereich der Mitbestimmung brauchen wir
Änderungen. Bei Entsendungen muss der Betriebsrat be-
teiligt werden. Besonders Entlohnung und Arbeitsbedin-
gungen müssen gemeinsam festgelegt werden. Die ent-
sandten Arbeitnehmer müssen zudem auch Rechte im
Betrieb erhalten. Was wir bisher viel zu wenig diskutiert
haben, ist die Beratung von entsandten Arbeitnehmern.
Hier in Berlin gibt es eine erfolgreiche Beratungsstelle,
um entsandte Arbeitnehmer über ihre Rechte zu infor-
mieren. Eine solche Beratung muss zur Regel werden;
denn nur wenn die Arbeitnehmer um ihre Rechte wissen,
können sie Missbrauch erkennen und anzeigen. Als je-
mand, der 22 Jahre Betriebserfahrung hat, stehe ich in
regem Austausch mit den Arbeitnehmern und Arbeitge-
bern. Das Thema Arbeitnehmerfreizügigkeit ist für
meine ehemaligen Kolleginnen und Kollegen sehr wich-
tig. Sie haben Angst und wissen nicht, welche Auswir-
kungen Europa für sie haben wird.
Wir alle reden immer von Vertrauen in Europa. Ver-
trauen bei den Menschen schaffen wir nicht, wenn wir in
Europa lediglich über Bankenrettung reden. Vertrauen in
Europa schaffen wir nur, wenn wir auch soziale Sicher-
heit für die Menschen schaffen. Dazu müssen wir Lohn-
dumping und schlechte Arbeitsbedingungen verhindern.
Die europäischen Arbeitnehmer dürfen nicht gegen-
einander ausgespielt werden, wer von ihnen zu den nied-
rigsten Löhnen und den schlechtesten Bedingungen ar-
beiten muss. Davor haben viele Arbeitnehmer in der
ganzen EU Angst.
Nehmen wir gemeinsam den Menschen diese Angst
vor dem Gegeneinander-Ausspielen. Die Kolleginnen
und Kollegen von Union und FDP fordere ich auf, nicht
nur einen Mindestlohn für die Leiharbeit zu schaffen,
sondern auch einen flächendeckenden gesetzlichen Min-
destlohn für alle Arbeitnehmer und gemeinsam mit uns
die wichtigen und konkreten Forderungen aus unserem
Antrag umzusetzen. Machen wir Deutschland durch faire
Arbeitsbedingungen für hochqualifizierte Fachkräfte at-
traktiv. Das nützt nicht nur den Arbeitnehmern, sondern
auch der Wirtschaft. So schaffen wir sowohl wirtschaftli-
chen Erfolg als auch sozialen Frieden in Europa.
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Ab dem 1. Mai 2011
gewährt Deutschland Freizügigkeit für Arbeitnehmer
aus den Staaten Mittel- und Osteuropas, die 2004 der
Europäischen Union beigetreten waren. Wir Liberale
freuen uns auf diesen weiteren Schritt hin auf ein verein-
tes Europa.
Auf jeden Fall ist es kein Datum, das man zur Panik-
mache nutzen sollte. Die FDP-Bundestagsfraktion sieht
in dieser Entwicklung vor allem die Chancen und nicht
irgendwelche Gefahren. Die Öffnung unseres Arbeits-
marktes wird eine weitere Bereicherung für unsere Ge-
sellschaft bringen, wie jeder Schritt des vereinten Euro-
pas es bisher getan hat.
Bisher hat noch kein Forschungsinstitut seriös voraus-
sagen können, wie viele Menschen aus Polen, Ungarn,
Estland, Lettland, Litauen, Zypern, Malta, Tschechien,
der Slowakei oder Slowenien ab Mai 2011 wirklich zur
Arbeit nach Deutschland kommen werden. Deshalb ist es
unserer Auffassung nach unredlich, mit Untergangssze-
narien Ängste vor der Öffnung unserer Grenzen zu unse-
ren Nachbarn zu schüren.
Das IAB jedenfalls hat in einem Kurzbericht festge-
stellt, dass „eine Öffnung der Arbeitsmärkte ... für die
Zuwanderung aus den Beitrittsländern in Deutschland
langfristig positive Effekte haben“ wird – IAB Kurz-
bericht 9/2009.
Daher finde ich es schon bedenklich, wenn Verbands-
vertreter etwa der Zeitarbeitsbranche mit Blick auf die
Freizügigkeit in Gesprächen erklären, schon 1 000 neue
Arbeitnehmer auf dem Zeitarbeitsmarkt, die zu niedrige-
ren Löhnen als den tariflichen Mindestlöhnen arbeiten,
würden die Zeitarbeitsbranche wieder in Verruf bringen,
und von daher sei eine Aufnahme in das Arbeitnehmer-
Entsendegesetz notwendig.
Die Gründe für die Belastung des Ansehens der Zeit-
arbeitsbranche im letzten Jahr waren nach unserer Auffas-
sung jedenfalls eher hausgemacht, und sie sind mit einem
Mindestlohn nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz
wohl auch nicht beseitigt. Wir Liberale sorgen uns um die
Zukunft der Zeitarbeit in Deutschland; denn sie hat wie
keine andere dafür gesorgt, dass gerade Arbeitslose und
speziell Langzeitarbeitslose eine neue Beschäftigung
finden.
Auch wir glauben, dass im Bereich der Zeitarbeit ge-
setzliche Korrekturen nötig sind. Deshalb hat die FDP-
Bundestagsfraktion schon im Sommer 2010 eine Stär-
kung des sogenannten Equal-Pay-Grundsatzes gefordert.
Eine faire Entlohnung ist Voraussetzung für die gesell-
schaftliche Akzeptanz und damit entscheidend für den
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 9859
(A) (C)
(D)(B)
zukünftigen Bestand der Zeitarbeit als einem der wich-
tigsten arbeitsmarktpolitischen Instrumente. Es muss
klar sein: Zeitarbeit dient der flexiblen Reaktion auf
Auftragsschwankungen, ist aber kein Mittel zur Erset-
zung von Stammbelegschaften oder für Lohndifferenzie-
rung nach unten. Ich möchte auch darauf hinweisen, dass
nach dem geltenden Recht der Grundsatz des Equal Pay
bereits heute als Regelfall vorgesehen ist, während die
Möglichkeit der Abweichung durch Tarifvertrag den
Ausnahmefall darstellt. In der Praxis ist es in den letzten
Jahren tatsächlich aber zu einer Umkehrung des Regel-
Ausnahme-Verhältnisses gekommen.
Als jemand, der selbst mittelständischer Unternehmer
ist, sage ich Ihnen sehr deutlich: Ich kann niemandem er-
klären und ich halte es auch nicht für richtig, dass nach
dem heute geltenden Recht ein Zeitarbeiter ohne jede
zeitliche Befristung anders entlohnt werden kann als ein
Mitarbeiter der Stammbelegschaft, welcher genau die
gleichen Tätigkeiten ausführt.
Mittlerweile sind auch die anderen im Bundestag ver-
tretenen Parteien von der Wichtigkeit dieses Themas
überzeugt. Daher sind wir momentan in Verhandlungen
im Vermittlungsausschuss, um über mögliche Modifizie-
rungen der Abweichungserlaubnis vom Equal-Pay-
Grundsatz zu diskutieren. Konkret geht es darum, wie
lange die Bezahlung von Zeitarbeitern von der der
Stammbelegschaft abweichen darf.
In diesem Zusammenhang möchte ich klar feststellen:
Sehr kurze Fristen gefährden das Arbeitgebermodell, das
wir aktuell bei der Zeitarbeit in Deutschland haben. Ich
halte dieses aber für ein gutes Modell. Im Gegensatz zu
vielen unserer europäischen Nachbarn ist in Deutschland
der ganz überwiegende Teil der Zeitarbeiter bei den Zeit-
arbeitsunternehmen sozialversicherungspflichtig und un-
befristet eingestellt. Für diese Arbeitnehmer führen die
Unternehmen entsprechend auch Sozialversicherungsbei-
träge ab. Wir treten für eine längere Frist ein, damit Be-
schäftigungschancen für Menschen mit geringerer Qua-
lifikation gewahrt bleiben und die Zeitarbeit nach dem
Arbeitgebermodell auch künftig möglich ist.
Zum Schluss möchte ich noch kurz auf die Forderung
der SPD, einen flächendeckenden gesetzlichen Mindest-
lohn einzuführen, eingehen. Es wird Sie wenig überra-
schen, dass meine Fraktion einen flächendeckenden ge-
setzlichen Mindestlohn nach wie vor ablehnt. Liebe
Kolleginnen und Kollegen der SPD, mit einem flächen-
deckenden gesetzlichen Mindestlohn gefährden bzw.
vernichten Sie viele Arbeitsplätze, insbesondere Arbeits-
plätze für Geringqualifizierte. Sie verbauen damit vielen
Menschen eine Chance, die aus langer Arbeitslosigkeit
heraus den Weg auf den ersten Arbeitsmarkt gefunden
haben. Das ist keine vernünftige Arbeitsmarktpolitik.
Diesen Weg gehen wir nicht mit!
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass der An-
trag nicht viel Neues gebracht hat. Viele der SPD-Forde-
rungen führen zu einer Abschottung des deutschen Ar-
beitsmarktes. Aber die Grundidee von Europa ist freier
Handels- und Wirtschaftsverkehr zwischen den Mit-
gliedstaaten. Daher lehnen wir den Antrag ab.
Jutta Krellmann (DIE LINKE): Der Countdown
läuft. Noch 93 Tage bis zur vollen Arbeitnehmerfreizü-
gigkeit in Europa. Ab dem 1. Mai 2011 können Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmer aus acht mittel- und ost-
europäischen Staaten wie zum Beispiel Litauen oder
Polen ohne Hindernisse in Deutschland arbeiten. Europa
wächst weiter zusammen – Das ist echt toll. Allerdings
wird es nur funktionieren, wenn dieser Prozess gründlich
vorbereitet ist. Und das ist nicht der Fall.
Der deutsche Arbeitsmarkt ist geprägt durch die soge-
nannten „Selbstheilungskräfte des Marktes“. Die Folgen
sind bekannt: Prekäre Beschäftigungsformen wie Leih-
arbeit oder Minijobs haben zugenommen, die sozialversi-
cherungspflichtige Beschäftigung nimmt ab. Die Bundes-
regierung ermöglicht es den Arbeitgebern, im Rahmen
der bestehenden Gesetze, versteht sich, völlig legal
Löhne zu drücken und Arbeitsbedingungen zu verschär-
fen. Das betrifft dann, um es einmal klipp und klar zu sa-
gen, sowohl die Altenpflegerin aus Warschau als auch
den Gebäudereiniger aus Hannover.
90 Prozent der Arbeitgeber werden jede Möglichkeit
nutzen, um niedrige Löhne zu zahlen. Wenn sie es nicht
tun, wären sie ja auch doof. Machen Sie sich nichts vor,
dagegen gibt es nur ein Rezept: Der flächendeckende ge-
setzliche Mindestlohn muss her.
Aber anstatt ein umfassendes Konzept auf die Beine
zu stellen, diskutieren CDU und FDP nur kleinteilige
Scheinlösungen wie den unsäglichen Mindestlohn in der
Leiharbeit. Damit zementieren Sie aber Ungerechtigkei-
ten und Schieflagen auf dem Arbeitsmarkt. Leiharbeit
braucht Equal Pay, gleichen Lohn für gleiche Arbeit.
Wenn das nicht geht, gehört Leiharbeit abgeschafft, ohne
Wenn und Aber.
Andere Länder in der EU haben den Wert des gesetz-
lichen Mindestlohns schon längst erkannt: Von den
27 Staaten haben 20 einen gesetzlichen Mindestlohn; die
Hälfte davon hat ihn in den letzten sechs Monaten sogar
angehoben. Anders in Deutschland, wo Lohnkostensen-
kung und Kaputtsparen über allem stehen, setzen diese
Länder auf die Stärkung der Binnennachfrage und eine
soziale Absicherung ihrer Arbeitnehmer. Wir Linken ra-
ten dieser Bundesregierung, dem Beispiel dieser Staaten
zu folgen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, es ist
ja nicht verboten, dazuzulernen. Der Antrag ist nicht
schlecht. Allerdings haben Sie durch die Agenda 2010
die massive Ausweitung von prekärer Beschäftigung, al-
lem voran der Leiharbeit, zu verantworten. Damit haben
Sie überhaupt erst den Grundstein für diese heutige
schwierige Situation gelegt. Ich hoffe, dass Sie jetzt Ver-
antwortung übernehmen und alles dafür tun, diese Ent-
wicklung zu stoppen. Seien Sie konsequent und fallen
Sie beispielsweise bei den Verhandlungen im Bundesrat
jetzt nicht um. Sorgen Sie dafür, dass der gesetzliche
Mindestlohn endlich eingeführt wird und Leiharbeit und
Ausbeutung der Vergangenheit angehören. Wenn man
den Mund spitzt, muss man auch pfeifen.
Die Linke bleibt dabei: Wir brauchen einen Mindest-
lohn auch hierzulande, und wir brauchen die Gleichbe-
9860 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011
(A) (C)
(D)(B)
handlung aller Beschäftigten. Equal Pay bedeutet die
gleiche Bezahlung für die gleiche Arbeit ab dem ersten
Tag und am gleichen Ort. Deshalb wird meine Fraktion
am 24. Februar an dem Aktionstag der Gewerkschaften
teilnehmen und für einen Mindestlohn und Equal Pay in
der Leiharbeit auf die Straße gehen.
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Ab dem 1. Mai 2011 gilt es: Dann hat sich entschieden,
ob sich Deutschland in Europa einen Namen als Lohn-
drücker machen will oder ob Deutschland ein Motor des
sozialen Fortschritts für Europa wird. Ich fürchte, das
Erste wird der Fall sein. Denn diese Bundesregierung
unternimmt nichts, um vor der vollen Freizügigkeit or-
dentliche Rahmenbedingungen zu setzen.
Die lassen sich auf eine einfache Formel bringen:
„Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort“. Um
dafür die Grundlage zu schaffen, bedarf es hierzulande
vor allem einer Maßnahme: der Einführung eines gesetz-
lichen Mindestlohns. Das ist längst überfällig. Mit dem
Mindestlohn können wir nicht nur im Hinblick auf die
Freizügigkeit, sondern auch bei vielen anderen Proble-
men eine Menge erreichen.
Wir werden Ihnen in der kommenden Plenarwoche ei-
nen ausgearbeiteten Gesetzentwurf für einen Mindest-
lohn vorlegen, mit dem alles ganz schnell gehen kann.
Voraussetzung ist allerdings, dass Union und FDP end-
lich das kleine Karo ablegen und den Mut aufbringen,
eine flächendeckende Lösung auf den Weg zu bringen.
Ein Mindestlohn ist auch deswegen dringend notwen-
dig, weil die Bundesagentur für Arbeit vor allem damit
rechnet, dass insbesondere An- und Ungelernte ab dem
Mai die Öffnung der deutschen Grenzen nutzen werden.
Wer der Ausbreitung von Lohn- und Sozialdumping und
des Niedriglohnsektors in Deutschland nicht tatenlos zu-
sehen will, muss an dieser Stelle eine Grenze einziehen.
Europäische Angelegenheiten kann aber nicht jeder
Nationalstaat für sich lösen. Für ein soziales Europa sind
deshalb verbindliche und allgemeingültige soziale und
arbeitsrechtliche Mindeststandards wichtige Eckpfeiler,
und hier gibt es zum einen Klarstellungsbedarf, zum an-
deren Verbesserungsnotwendigkeiten.
Die entsprechenden Stichworte wurden genannt:
Wirtschaftliche Freiheiten dürfen nicht zulasten von Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmern gehen.
Daher brauchen wir die Klarstellung, dass die Entsen-
derichtlinie Mindest- und nicht Maximalstandards fest-
legt sowie eine verbindlich geltende soziale Fortschritts-
klausel.
Darum muss die Flexibilität auf den europäischen Ar-
beitsmärkten mit sozialer Sicherheit einhergehen und
durch Mindestarbeitsbedingungen die gleichen Voraus-
setzungen für Beschäftige und Unternehmen in den Mit-
gliedstaaten schaffen.
Daher muss die bestehende Grauzone für Schein-
selbstständigkeit aufgeklärt werden.
Das alles sind auch notwendigen Voraussetzungen für
fairen Wettbewerb. Ich erwarte von der Bundesregie-
rung, dass sie sich auch in sozialen Fragen in Europa
lautstark zu Wort meldet und nicht immer nur Verbesse-
rungen verhindert.
Ich bin überzeugt davon: Die Frage der Standards
wird am Ende auch die Fachkräftefrage entscheiden. Da
ist bei uns eine Menge schiefgelaufen. Die letzten Jahre
waren für Deutschland verlorene Jahre beim Wettbewerb
um die besten Hände und Köpfe.
Doch es gibt immer noch zu viele, die daraus nicht
gelernt haben. Jüngstes Beispiel dafür bietet die CDU/
CSU. Die hat gerade eine neue Strategie verkündet:
„Junge Europäer anwerben“. Anfangen wollen sie damit
in Spanien. Wenn die Europäer kämen, dann müsste man
sich nicht der ganzen Welt öffnen, so lautet ihr Argu-
ment. Da empfehle ich aber mal einen Blick auf die Fak-
ten:
Die Europäer, die sie anwerben wollen, die könnten
schon längst kommen, die aus Spanien ebenso wie die
aus Portugal, aus Italien usw. Aber wissen Sie, was? Die
wollen gar nicht kommen, weil die Konditionen hier ein-
fach nicht stimmen. Die Bertelsmann-Stiftung hat es uns
doch schwarz auf weiß präsentiert: Gerade im Bereich
Hochqualifizierter verliert Deutschland im Vergleich mit
den anderen EU-15. Deutschland ist unter den herr-
schenden Bedingungen nicht attraktiv.
So kann es nicht weitergehen. Wir brauchen gute
Standards, die für alle gelten, und – um es mal mit Bun-
despräsident Wulff zu sagen – wir müssen weltoffen, fle-
xibel, modern und zukunftszugewandt sein, wenn wir im
Wettbewerb um die klügsten und besten Köpfe bestehen
wollen. Vor allem in Sachen Weltoffenheit können hier
sicherlich noch ein paar Leute etwas dazulernen.
Anlage 3
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: 150 Jahre diplomati-
sche Beziehungen zwischen Deutschland und
Japan (Tagesordnungspunkt 13)
Jürgen Klimke (CDU/CSU): Die freundschaftliche
Verbundenheit zwischen den Menschen in Deutschland
und Japan hat die wechselvolle Geschichte der vergan-
genen 150 Jahre überdauert. Die von Beginn an große
Vielseitigkeit des Austauschs ist auch heute von beein-
druckender Dichte und Lebendigkeit.
Dieser Austausch begann bereits vor 150 Jahren mit
dem modernen Bildmedium. Die heute schon für die ge-
meinsamen Beziehungen prägende Eulenburg-Mission
brachte bereits damals einen Schatz mit nach Hause: die
ersten Fotos aus einem mysteriösen, abgeschotteten
Land, das man in Europa nur aus Erzählungen kannte.
Nach Schätzungen des britischen Fotografiehistorikers
Sebastian Dobson wurden auf der Mission 1 400 Fotos
gemacht. Gerade erst und pünktlich zu unseren Feierlich-
keiten wurde der gesamte Schatz von ihm geborgen und
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 9861
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vorgestellt. Als Freund Japans schlägt mir das Herz beim
Betrachten der Bilder höher, geben die Fotos doch einen
umfangreichen Einblick in die damals schon beeindru-
ckende kulturelle Vielfalt in allen Bereichen des Lebens
und allen Regionen des Landes. Zu entdecken gibt es Fo-
tos aus einem Teehaus in Oomori, Hafenimpressionen aus
Yokohama oder Werke, ganz in Sepia gehalten, von Häu-
sern, Landschaften, Samurai und Würdenträgern, man
sieht aber auch das einfache Volk beim Verrichten von
Arbeiten.
Die Entdeckung der Fotos belegt, welchen Schatz
Deutschland und Japan seit ihrer ersten Begegnung im-
mer gepflegt und aufgebaut haben. Trotz ihrer kulturel-
len Fremdheit haben es beide Nationen geschafft, eine
Freundschaft zu entwickeln, die auf gegenseitigem
Respekt gründet, Interesse an den Unterschieden entwi-
ckelt und gemeinsame Werte wie die Einhaltung der
Menschenrechte propagiert. Einfach gesagt, Japan und
Deutschland haben in der globalen Weltgemeinschaft
eine einmalige stabile Freundschaft.
Diese Stabilität beschränkt sich nicht nur auf die ei-
gens dafür geschaffenen Institutionen wie beispielsweise
das Japanisch-Deutsche Zentrum in Berlin oder das Deut-
sche Institut für Japanstudien in Tokio. Über 50 deutsch-
japanische Gesellschaften in Deutschland und ebenso
viele japanisch-deutsche Gesellschaften in Japan bilden
ein dichtes Netz menschlicher Kontakte in allen Berei-
chen des Lebens. Dies wird durch zahlreiche Partner-
schaften zwischen Kommunen, Schulen, Universitäten,
wissenschaftlichen Institutionen und Kultureinrichtun-
gen verstärkt.
Auch eine so alte und gute Freundschaft wie die zwi-
schen unseren Ländern will weiter gepflegt werden. Be-
sonders der Jugend in unseren Ländern kommt hier eine
große Aufgabe zu, das Erbe der Verbundenheit weiterzu-
tragen. Ich möchte hier die Chance nutzen, einer breite-
ren Öffentlichkeit und besonders der jungen Generation
wichtige Veranstaltungsreihen vorzustellen.
Im Rahmen der SchulKinoWochen, einem Sonderpro-
gramm mit japanischen Filmen an deutschen Schulen,
das jährlich stattfindet, wird das Kino zum Klassenzim-
mer. Bundesweit wird Schulen ein vielfältiges Programm
aus Filmen, zu denen Begleitmaterial vorliegt, und Son-
derveranstaltungen angeboten. In diesem Jahr soll ein
Sonderprogramm im Rahmen der SchulKinoWochen mit
japanischen Filmen Schulklassen über das Verständnis
der besonderen Dimension der deutsch-japanischen
Freundschaft hinaus ein grundsätzliches Interesse an ja-
panischer Filmkultur vermitteln.
Im Rahmen unserer Hochschulpartnerschaften wer-
den wir von Mai bis August 2011 die Japanwochen an
allen deutschen Hochschulen durchführen.
Gleichzeitig veranstalten unsere beiden Länder, koor-
diniert von der deutsch-japanischen Gesellschaft, für
junge und junggebliebene Menschen einen Manga-Wett-
bewerb: eine Kunstform Japans des 21. Jahrhunderts und
ein kultureller Beitrag dieser Nation, der Deutschlands
Jugend inspiriert.
Ein zentraler Bestandteil unserer Freundschaft ist auch
der jahrhundertelange vertrauensvolle wirtschaftliche Aus-
tausch zwischen unseren Ländern. Meine Heimatstadt
Hamburg ist zum Beispiel ein besonders wichtiger Stand-
ort für die japanische Wirtschaft in Deutschland. Rund
100 Unternehmen, darunter 25 Europa- und 35 Deutsch-
landzentralen, sind in Hamburg beheimatet. Diese ge-
ballte deutsch-japanische Wirtschaftskraft gibt es kaum
woanders auf der Welt. 6 000 Mitarbeiter sind in den Un-
ternehmen beschäftigt. Spannend ist, dass Hamburg un-
seren heutigen Feierlichkeiten bereits seiner Zeit voraus
war. Bereits 1859, und damit zwei Jahre vor dem Ab-
schluss des japanisch-preußischen Freundschafts- und
Handelsvertrages, wurde in Nagasaki das spätere Ham-
burger Handelshaus C. Illies & Co. gegründet. Seitdem
haben sich die Beziehungen zwischen Hamburg und Ja-
pan prächtig entwickelt. Im Besonderen möchte ich auch
die Städtepartnerschaft Hamburgs mit Osaka sowie die
Hafenpartnerschaft zwischen Hamburg und Yokohama
betonen. Seit 1989 und 1992 verbindet die Städte eine
nachhaltige Freundschaft.
Natürlich stehen wir auch auf der politischen Ebene
vor neuen weltpolitischen Herausforderungen. Deutsch-
land und Japan sind jedoch aus meiner Sicht gut dabei,
diese Herausforderungen aktiv und gemeinsam anzuneh-
men. Der fraktionsübergreifende Antrag nimmt diese
Herausforderungen in all ihren Facetten auf.
Ich möchte aber die Chance nutzen, drei wichtige As-
pekte des künftigen gemeinsamen politischen Weges un-
serer beiden Länder für die CDU/CSU-Fraktion heraus-
zustellen: Die Wahrung der Schöpfung, also Umwelt- und
Ressourcenschutz, die Entwicklung einer gemeinsamen
Entwicklungspolitik sowie die Weiterentwicklung einer
weltweiten belastbaren Sicherheitsarchitektur müssen die
Stützpfeiler unserer gemeinsamen Interessen sein. Deutsch-
land und Japan sind gerade in diesen drei Sektoren der
Politik innovativ, Weltmarktführer der Ideen und erhöhen
durch eine enge Abstimmung die Durchlagkraft in den je-
weiligen internationalen Gremien wie den G 20, den Ver-
einten Nationen oder den jeweiligen UN-Umweltfolge-
konferenzen.
Zum Abschluss meiner Rede möchte ich dem Bot-
schafter Japans für seine Bemühungen danken, das Jahr
der gemeinsamen Feierlichkeiten so hervorragend entwi-
ckelt zu haben. Besonders hat mich gleich der Beginn fas-
ziniert. Zur offiziellen Eröffnung durfte ich letzte Woche
im Haus der Kulturen der Welt meiner ersten Nō-Theater-
aufführung beiwohnen. Ein beeindruckender Einblick in
die fremde Kultur Japans, der mich gefangen hat. Ge-
nauso gefangen hat wie die bezaubernde Musik zahlrei-
cher deutscher Komponisten, die es bis heute in die Her-
zen der Menschen in Japan geschafft hat.
Thomas Silberhorn (CDU/CSU): Im Deutschen
Bundestag befassen wir uns ausführlich mit nahezu je-
dem Krisenherd dieser Erde. Umso wichtiger ist es, auch
den guten Beziehungen zu unseren wichtigsten Partnern
ausreichend Zeit zu widmen. 150 Jahre diplomatische
Beziehungen zwischen Deutschland und Japan bieten
Gelegenheit, auf unsere gemeinsame Geschichte zurück-
9862 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011
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zuschauen und die Perspektiven unserer Partnerschaft zu
beleuchten.
Nach ersten, bis ins 17. Jahrhundert zurückreichenden
Kontakten von Wissenschaftlern wurden mit dem Han-
dels-, Schifffahrts- und Freundschaftsvertrag, den das
damalige Preußen mit Japan fast auf den Tag genau vor
150 Jahren – am 24. Januar 1861 – schloss, offizielle Be-
ziehungen aufgenommen. Nur zehn Jahre nach der Ver-
tragsunterzeichnung kam es in beiden Ländern zur Grün-
dung des Nationalstaats. Diese historische Koinzidenz
kann als ein Symbol für vielfach parallele Entwicklun-
gen in Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft be-
trachtet werden.
Zu unserer gemeinsamen Geschichte im 20. Jahrhun-
dert zählt die unheilvolle Allianz im Zweiten Weltkrieg.
Dass nach dieser politischen und moralischen Katastro-
phe die Errichtung stabiler freiheitlicher Demokratien
und marktwirtschaftlicher Ordnungen gelungen ist, stellt
zweifellos die glücklichste Wendung in der wechselvol-
len Geschichte unserer Länder dar.
Nach Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehun-
gen im Jahr 1955 haben sich die Bundesrepublik
Deutschland und Japan zu einer tragfähigen Wertege-
meinschaft entwickelt, die sich durch ein hohes Maß an
Übereinstimmung in den drängendsten außen- wie in-
nenpolitischen Fragen unserer Zeit auszeichnet. Darin
liegt ein gewaltiges Potenzial für den Ausbau unserer
Beziehungen.
In diesem Zusammenhang ist von Bedeutung, dass
unser Blick nach Asien nicht allein auf China beschränkt
bleibt. Zwar erschiene diese Versuchung angesichts des
dortigen immensen Wachstumstempos verständlich. Un-
sere Möglichkeiten reichen jedoch weiter. Die deutsche
Außenpolitik steht deshalb vor der Aufgabe, konstruk-
tive Beziehungen zu China zu pflegen und zugleich die
enge Partnerschaft mit Japan zu intensivieren.
Deutschland und Japan verbindet eine Fülle gemein-
samer Interessen. Insbesondere die bilateralen Wirt-
schaftsbeziehungen bieten vielfältige Möglichkeiten für
eine stärkere Zusammenarbeit. So war der deutsche
Handel mit Japan von der weltweiten Wirtschafts- und
Finanzkrise besonders stark betroffen: 2009 gingen die
Exporte um 17 Prozent im Vergleich zum Vorjahr zu-
rück, die Importe um 25 Prozent. Wenngleich es 2010
wieder aufwärtsging, besteht hier nach wie vor Aufhol-
bedarf, den es zum beiderseitigen Vorteil zu nutzen gilt.
Die Voraussetzungen dafür sind gut: Deutschland wie
Japan sind gewachsene Industriestaaten, die für freien
Handel und gegen protektionistische Tendenzen eintre-
ten. Große Chancen bieten sich namentlich in Zukunfts-
branchen wie der Umwelttechnik oder der Medizintechnik.
Der Abschluss eines Freihandelsabkommens zwischen
der EU und Japan könnte wichtige Impulse geben. Es ist
zu wünschen, dass der im Frühjahr 2011 anstehende
EU-Japan-Gipfel einen Fahrplan dafür festlegt.
Japan ist ein wertvoller Partner in der internationalen
Sicherheitspolitik und im Dialog mit der NATO eng in
die transatlantische Sicherheitsarchitektur eingebunden.
Bei der internationalen Friedenssicherung leistet Japan
aktive Beiträge, was im Hinblick auf seine außenpoliti-
sche Ausrichtung, die auf reine Selbstverteidigung be-
schränkt ist, hoch anzurechnen ist. So beteiligt sich Ja-
pan an der UN-Mission auf den Golan-Höhen und an der
UN-geführten Mission im Sudan. Deutschland und Ja-
pan beteiligen sich an der Stabilisierung und am Wieder-
aufbau Afghanistans – Deutschland im Rahmen von
ISAF und der zivilen Hilfe, Japan als einer der wichtigs-
ten Geldgeber bei der Polizeiausbildung. Vom Beitrag
Japans auf dem Gebiet der Friedenssicherung zeugen des
Weiteren die gemeinsamen Anstrengungen beim Kampf
gegen Piraterie sowie Überlegungen zur Beteiligung Ja-
pans an EU-Missionen.
Deutschland und Japan gehören zu den Stützen der in-
ternationalen Gemeinschaft gegen die Verbreitung von
Atomwaffen. Dabei kommt Japan angesichts seiner Ge-
schichte auf diesem Gebiet große moralische Autorität
zu. Japan unterstützt den Kurs der E3+3 bei den Ver-
handlungen über das iranische Atomprogramm. Trotz ei-
gener wirtschaftlicher Interessen im Iran hat Japan ein
umfangreiches, über geltende UN-Resolutionen hinaus-
gehendes Sanktionspaket gegen den Iran verkündet. Im
Hinblick auf Nordkorea, von dessen Atomprogramm Ja-
pan unmittelbar betroffen ist, beteiligt sich Japan als
Mitglied der „Sechsergruppe“ an den internationalen
Verhandlungen. Deutschland wie Japan fordern Nordko-
rea mit Nachdruck zum Verzicht auf Atomwaffen auf.
Beide Länder sind entschiedene Unterstützer der Ver-
einten Nationen, die einen wesentlichen Eckpfeiler ihrer
Außenpolitik darstellen. Dies kommt nicht zuletzt darin
zum Ausdruck, dass nach den USA Japan zweitgrößter
und Deutschland drittgrößter Beitragszahler der Verein-
ten Nationen sind. Gemeinsam müssen wir uns weiterhin
für eine Reform des UN-Sicherheitsrats einsetzen, der in
seiner jetzigen Zusammensetzung die Nachkriegsord-
nung widerspiegelt. Deutschland und Japan sind bereit,
globale Mitverantwortung durch eine prominentere
Rolle in den Vereinten Nationen zu übernehmen und da-
ran mitzuwirken, die Relevanz der Vereinten Nationen
unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts zu bewah-
ren.
Deutschland und Japan stehen vor ganz ähnlichen He-
rausforderungen und müssen auf Zukunftsfragen, die
über die Entwicklung und den Wohlstand beider Länder
entscheiden werden, gemeinsame Antworten finden. Es
liegt im beiderseitigen Interesse, darüber in einen engen
Dialog zu treten und voneinander zu lernen.
Als etablierte Industriestaaten müssen Deutschland
und Japan ihrer Verantwortung für künftige Generationen
gerecht werden und wirtschaftliches Wachstum mit um-
weltverträglichem und nachhaltigem Wirtschaften in
Einklang bringen. Beide Länder haben gezeigt, dass sie
bereit sind, eine Führungsrolle in der Klimapolitik zu
übernehmen. Deutschland war treibende Kraft bei der
Formulierung der Klimaschutzziele der Europäischen
Union. Auch Japan hat sich zu konkreten Reduktionszie-
len bekannt, die ähnlich ambitioniert sind wie die euro-
päischen. Für seine engagierte Rolle bei den internationa-
len Klimaverhandlungen unter dem Dach der Vereinten
Nationen, zuletzt in Cancún, verdient Japan unsere aus-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 9863
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drückliche Anerkennung. Dort war es ein maßgeblicher
Verhandlungserfolg Japans, dass die bislang strikte Tren-
nung zwischen Industrie- und Entwicklungsländern beim
Klimaschutz gelockert werden konnte und nun auch letz-
tere angehalten sind, einen wirksamen Beitrag zum
Kampf gegen die Erderwärmung zu leisten.
Auch die demografische Entwicklung stellt Deutsch-
land und Japan vor große Herausforderungen. In beiden
Ländern nimmt das Durchschnittsalter der Gesellschaft
auf absehbare Zeit zu: Eine geringere Zahl von Jüngeren
steht für den Arbeitsmarkt zur Verfügung. Mehr ältere
Menschen erhalten länger als bisher staatliche Unterstüt-
zung. Die Folgen dieser Entwicklung für die wirtschaft-
liche Dynamik und die sozialen Sicherungssysteme sind
bekannt. Sowohl für Japan als auch für Deutschland
wird deren Bewältigung zu einer der zentralen Fragen in
diesem Jahrhundert werden. Der Umstand, dass es eine
Pflegeversicherung neben Luxemburg nur in Deutsch-
land und Japan gibt, macht deutlich, dass wir diese He-
rausforderung gemeinsam angehen können. Gemein-
same Lösungsansätze können zum Modell dafür werden,
wie Staaten in der ganzen Welt mit gesellschaftlichen
Alterungsprozessen und einem Bevölkerungsrückgang
umgehen sollten.
Die gemeinsamen Interessen und die gemeinsamen
Herausforderungen zeigen vor allem eines: Deutschland
und Japan sind natürliche Partner im 21. Jahrhundert.
Unsere Partnerschaft in Verantwortung birgt enormes
Potenzial, von dem nicht nur beide Seiten profitieren
können, sondern das Chancen auf eine Bewältigung der
globalen Zukunftsfragen eröffnet.
Die Feierlichkeiten zum 150. Jubiläum diplomatischer
Beziehungen sind daher ein geeigneter Anlass, den Aus-
tausch zwischen unseren Ländern zu vertiefen. Neben
den intensiven Kontakten auf Regierungsebene und dem
Austausch zwischen zivilgesellschaftlichen Akteuren ist
dabei auch die parlamentarische Zusammenarbeit von
Bedeutung, die die Fachausschüsse und die Mitglieder
der deutsch-japanischen Parlamentariergruppe leisten. Es
liegt auch an uns, die Verantwortungspartnerschaft zwi-
schen Deutschland und Japan weiter mit Leben zu füllen.
Dr. Rolf Mützenich (SPD): In diesem Jahr begehen
wir ein Jubiläum. Die deutsch-japanischen diplomati-
schen Beziehungen jähren sich zum 150. Mal. Dieses Er-
eignis wollen wir in diesem Jahr durch eine Vielzahl von
politischen, wissenschaftlichen und kulturellen Veran-
staltungen in Japan und Deutschland feiern und begehen.
In der deutsch-japanischen Parlamentariergruppe haben
wir in den vergangenen Wochen den Ihnen heute zur Ab-
stimmung vorliegenden Antrag erarbeitet. Dafür möchte
ich mich bei allen Fraktionen bedanken.
Das bilaterale Verhältnis Deutschlands zu Japan ist tra-
ditionell vertrauensvoll und freundschaftlich. Die ge-
meinsame Verpflichtung, zur Lösung globaler Herausfor-
derungen und zur Sicherung von Frieden und Stabilität in
regionalen Krisenherden beizutragen, lässt Deutschland
und Japan zu natürlichen Partnern für das 21. Jahrhundert
werden. Dieser Verantwortung können Deutschland und
Japan gerecht werden, wenn sie ausgehend vom soliden
Fundament der deutsch-japanischen Partnerschaft und
gegründet auf einer breiten, vertrauensvollen Zusammen-
arbeit insbesondere auf den Gebieten der Wissenschaft,
der Kultur und des wirtschaftlichen Austauschs neue Ini-
tiativen entwickeln.
Gemeinsam verfolgen Deutschland und Japan ihre In-
teressen bei zentralen Zukunftsthemen wie Global Go-
vernance, der Reform des UN-Sicherheitsrates sowie
Abrüstung und Nichtverbreitung. Helmut Schmidt hat in
seiner Rede vor dem Japanisch-Deutschen Zentrum in
Berlin im Oktober 2010 dazu bemerkt:
Wegen unserer beiderseitigen Beteiligung am Nicht-
verbreitungsvertrag für atomare Waffen und wegen
unseres beiderseitigen Verzichts sind wir beide …
legitimiert zu Initiativen auf dem Feld der atomaren
Rüstungsbegrenzung und der atomaren Abrüstung.
Die enge Abstimmung über gemeinsame Positionen
beim Klimaschutz und weitere gemeinsame Schritte zur
Friedenssicherung wie zum Beispiel in Afghanistan und
Zentralasien vertiefen die vertrauensvolle Zusammenar-
beit und leisten einen Beitrag zur Gestaltung des Globa-
lisierungsprozesses. In besonderem Maß gilt dies auch
im Hinblick auf eine intensivere Kooperation im Rah-
men der gemeinsamen Entwicklungszusammenarbeit so-
wie zukünftigen trilateralen Entwicklungspartnerschaf-
ten. Gemeinsame Anstrengungen beim Anti-Piraterie-
Einsatz und Überlegungen zur japanischen Beteiligung
an GSVP-Missionen weisen auf das Zukunftspotenzial
der deutsch-japanischen Verantwortungspartnerschaft.
Deutschland und Japan verfügen beide über wettbe-
werbsfähige, exportorientierte Volkswirtschaften. Freier
Welthandel, weiterer Abbau von Handelshemmnissen
und freie Wechselkurse liegen in unserem gemeinsamen
Interesse, nicht zuletzt auch, um noch besser aus dem
Potenzial der europäisch-japanischen Wirtschaftsbezie-
hungen schöpfen zu können. Im G-8-/G-20-Kontext sind
beide Länder verantwortlich für die nachhaltige Auf-
rechterhaltung dieses Systems und tragen durch Um-
weltschutz und Unterstützung weniger entwickelter Län-
der dazu bei. Zugleich müssen sich beide Länder den
Herausforderungen stellen, ihr Wirtschaftssystem nach-
haltiger zu gestalten. Ähnlich gelagerte strukturelle He-
rausforderungen wie Rohstoffarmut und demografische
Entwicklung zwingen uns, hierauf nicht nur politische
und wirtschaftliche, sondern auch wissenschaftliche
Antworten zu suchen.
Der wissenschaftliche Austausch spielt demzufolge
eine wichtige Rolle in den bilateralen Beziehungen. Dies
gilt vor allem für die deutschen und japanischen Univer-
sitäten. Der kulturelle Austausch ist intensiv und vielsei-
tig. In der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre kam es zu ei-
nem rasanten Wachstum des bilateralen Handels wie auch
zu einer Wiederaufnahme des kulturellen und wissen-
schaftlichen Austauschs. 1969 wurde das Japanische Kul-
turinstitut in Köln gegründet, 1974 das Rahmenabkom-
men zum Wissenschaftsaustausch zwischen Japan und
Deutschland unterzeichnet. 1985 wurde das Japanisch-
Deutsche Zentrum Berlin, JDZB, und 1988 das Deutsche
Institut für Japanstudien, DIJ, in Tokyo gegründet. Die
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Zahl der japanologischen Lehrstühle verdoppelte sich
während der 1980er-Jahre fast.
Überzeugt, dass der jungen Generation bei der Gestal-
tung des Verhältnisses beider Länder und der Vertrauens-
bildung zwischen ihnen eine herausgehobene Bedeutung
zukommt, und in dem Wissen, dass die junge Generation
die solide Partnerschaft zu einer lebendigen Beziehung
macht, regt der Deutsche Bundestag die Schaffung eines
Koordinators für den Jugendaustausch an. Dieser soll für
eine stärkere Wahrnehmung bereits bestehender Aus-
tauschprogramme unter der Jugend beider Länder wer-
ben und das Interesse am Erlernen der jeweiligen Spra-
che wachhalten und fördern.
Zur Förderung der bilateralen Beziehungen und im
Hinblick auf die internationale parlamentarische Zusam-
menarbeit strebt der Deutsche Bundestag eine Auswei-
tung der Kontakte und des Erfahrungsaustausches mit
dem japanischen Parlament an. Diesem Ziel soll durch
die Vergabe von Stipendien im Jubiläumsjahr 2011 be-
sondere Sichtbarkeit verliehen werden. Zudem wird eine
Delegation der deutsch-japanischen Parlamentarier-
gruppe Ende März nach Japan reisen und eine Delega-
tion des Auswärtigen Ausschusses plant ebenfalls eine
Reise in der ersten Hälfte dieses Jahres.
Als Fazit lässt sich festhalten: Gemeinsame Werte wie
Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und freiheitliche
Demokratie, aber auch marktwirtschaftliche Ordnung
sind ein starkes Bindeglied. Zu Beginn des 21. Jahrhun-
derts sind die japanisch-deutschen Beziehungen unkom-
plizierter denn je. Durch eine Vielzahl gemeinsamer In-
teressen und gemeinsamer Verpflichtung zu globaler
Verantwortung sind Japan und Deutschland natürliche
Partner und Freunde für das neue Jahrhundert. 150 Jahre
deutsch-japanischer Beziehungen sind eine bemerkens-
werte Erfolgsgeschichte, die beide Partner fortschreiben
wollen und werden.
Dr. Bijan Djir-Sarai (FDP): Wer heutzutage in der
schönen Stadt Düsseldorf unterwegs ist, versteht rasch,
warum die nordrhein-westfälische Landeshauptstadt
manchmal auch liebevoll „Klein-Tokio am Rhein“ ge-
nannt wird. Japanische Geschäftsleute, Japanerinnen und
Japaner beim Einkaufen beleben das Bild der Stadt. An
den Wochenenden sieht man viele junge japanische Fa-
milien mit kleinen Kindern.
Tatsächlich wohnen nirgendwo in Deutschland so
viele Japaner wie in Düsseldorf und Umgebung. Die
dortige japanische Gemeinde ist – nach London und Pa-
ris – die drittgrößte Europas. Das ist schön, und auf diese
kulturelle Bereicherung sind wir sehr stolz.
Heute blicken wir auf 150 Jahre diplomatische Bezie-
hungen zwischen Japan und Deutschland zurück. Den
24. Januar 1861 feiern wir als Ausgangspunkt der offi-
ziellen Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern.
Dieses Datum gibt uns den Anlass, die gemeinsame Ent-
wicklung Revue passieren zu lassen.
Aus diesem Grunde bringen wir heute hier im Deut-
schen Bundestag einen gemeinsamen Antrag aller demo-
kratischen Fraktionen ein.
Japan und Deutschland sind für die Herausforderun-
gen des 21. Jahrhunderts nahezu natürliche Partner. Wir
haben eine gemeinsame Verpflichtung. Davon konnte
ich mich auch bei meinem Besuch vergangene Woche
bei seiner Exzellenz Botschafter Shinyo überzeugen.
Gemeinsam müssen wir beitragen zur Lösung globa-
ler Herausforderungen und zur Sicherung von Frieden
und Stabilität in regionalen Krisenherden. Dieser Verant-
wortung können und wollen wir gerecht werden.
Daher machen wir uns Gedanken über neue Initiati-
ven, entwickelt auf dem soliden Fundament unserer
Partnerschaft, gegründet auf einer breiten vertrauensvol-
len Zusammenarbeit.
Besonders am Herzen liegt mir die gemeinsame Ver-
folgung von Interessen in den zentralen außen- und si-
cherheitspolitischen Zukunftsthemen. Nur beispielhaft
möchte ich hier ansprechen: die weltweite Abrüstung,
den Klimaschutz, die Friedenssicherung wie in Afgha-
nistan oder Zentralasien, die gemeinsame Entwicklungs-
zusammenarbeit, eine Reform des Sicherheitsrates der
Vereinten Nationen. Denn im Interesse aller Mitglieder
der Vereinten Nationen sollte die Zusammensetzung des
Sicherheitsrats an die geänderte Weltpolitik angepasst
werden. Die Zusammensetzung des Gremiums muss die
Bedeutung der einzelnen Mitgliedsländer angemessen
widerspiegeln. Nur so können die Handlungsfähigkeit
und die Legitimation des Sicherheitsrates langfristig ge-
währleistet werden. Es gibt keine Rechtfertigung mehr
dafür, dass Länder wie Japan und Deutschland, aber
auch Brasilien und Indien keinen ständigen Sitz in dem
Gremium haben.
Bei all diesen Themen sehen wir großes Zukunfts-
potenzial der deutsch-japanischen Verantwortungspart-
nerschaft. Denn heute sind die japanisch-deutschen Be-
ziehungen frei von Problemen und traditionell zutiefst
freundschaftlich und vertrauensvoll. In unseren beiden
Ländern gibt es großes Interesse an der Kultur des ande-
ren Landes. Gemeinsame Werte wie Menschenrechte,
Rechtsstaatlichkeit, freiheitliche Demokratie und markt-
wirtschaftliche Ordnung verbinden uns.
Auch die wirtschaftlichen Beziehungen sind rege.
Das Handelsvolumen wuchs vor allem seit den 60er-Jah-
ren des letzten Jahrhunderts. Die Zahl der gegenseitigen
Besuche stieg stark an, nicht zuletzt, weil 1961 erstmalig
Direktflugverbindungen eingerichtet wurden. Mit den
80er-Jahren wurden dann wissenschaftliche und kultu-
relle Austauschprogramme intensiver gefördert und neue
Institutionen mit diesem Ziel gegründet.
In der heutigen Zeit ist es unsere Aufgabe, die guten
bilateralen Beziehungen weiter zu vertiefen. Dazu regen
wir an, auch die internationale parlamentarische Zusam-
menarbeit durch die Ausweitung der Kontakte mit dem
japanischen Parlament weiter voranzuführen.
In dem Wissen, dass die junge Generation die Part-
nerschaft lebendig fortführen muss, regt der Deutsche
Bundestag an, einen Koordinator für den Jugendaus-
tausch zu schaffen. Es ist eine besonders wertvolle Auf-
gabe, unter der Jugend beider Länder das gegenseitige
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 9865
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kulturelle Interesse wachzuhalten und das Erlernen der
jeweiligen Sprache zu fördern.
So sind wir uns in diesem Hause alle einig, dass es
gut ist, dieses Jubiläum unserer diplomatischen Bezie-
hungen zu feiern. 150 Jahre deutsch-japanische Bezie-
hungen sind eine echte Erfolgsgeschichte. Beide Partner
wollen und werden sie fortschreiben.
Für die FDP-Fraktion begrüße ich es, dass es zu die-
sem Anlass in ganz Deutschland zahlreiche Veranstal-
tungen, Konzerte, Ausstellungen und Vorträge geben
wird – von der öffentlichen Hand und auch vielen priva-
ten Vereinen organisiert. Einige davon werde ich in mei-
nem Wahlkreis und der unmittelbaren Umgebung Düs-
seldorfs mit großer Freude besuchen.
Gerade die Japan-Woche und den traditionellen Ja-
pan-Tag in Düsseldorf kann ich Ihnen als Höhepunkt der
Feierlichkeiten in NRW nur ans Herz legen.
Stefan Liebich (DIE LINKE): Die Beziehungen zwi-
schen Deutschland und Japan sind wichtig, haben eine
lange Geschichte, und sie bleiben für die Zukunft be-
deutsam. Gut, dass wir uns die Zeit nehmen, darüber zu
sprechen. Der von Ihnen vorgelegte Antrag ist aus unse-
rer Sicht zwar nicht zustimmungsfähig, aber so schlimm,
dass wir ihn ablehnen, ist er auch nicht. Die Gründe da-
für werde ich Ihnen kurz darstellen.
Formal verweise ich nur kurz darauf, dass es langsam
lächerlich ist, dass Sie hier im Hause selbst zu solch ge-
nerellen Fragen weiter so kleinlich vorgehen und uns als
einzige Fraktion nicht in breit fraktionsübergreifend an-
gelegte Anträge einbeziehen.
Eine zweite Vorbemerkung: Es ist leider symptoma-
tisch, dass bei Ihren historischen Betrachtungen für die
Zeit der deutschen Teilung nur der westdeutsche Blick
zählt. Aber, Sie werden staunen, auch zwischen der
DDR und Japan gab es gute bilaterale Beziehungen, vor
allem im kulturellen Bereich. Das war durchaus ein Mo-
dell für friedliche Koexistenz und damit auch eine wert-
volle Erfahrung für heutige Beziehungen zwischen Staa-
ten mit sehr unterschiedlichen Wertesystemen.
Für uns sind internationale Beziehungen, der Aus-
tausch zwischen Regierungen, Parlamenten, Unterneh-
mern, Vereinen – also zwischen Menschen – wichtige
Beiträge für gegenseitiges Verständnis, friedliches Mit-
einander, Kooperation zum gegenseitigen Nutzen und
zum gemeinsamen Herangehen an globale Probleme.
Das ist die eigentliche Außenpolitik. Gut, dass wir heute
einmal darüber reden und einen guten Anlass dafür ha-
ben. Das ist doch besser als Mandatsverlängerungen bei
der Bundeswehr.
Die Tradition der Beziehungen zwischen den wichti-
gen Industrienationen Deutschland und Japan ist lang.
Das Thema ist gleichwohl aktuell. Wir teilen viele in ih-
rem Antrag benannte Anliegen. Wir unterstützen hier die
Stichworte Klima, Abrüstung, aber auch Kulturnetz-
werke und Jugendaustausch.
Ihr Antrag enthält jedoch trotz einiger Verbesserun-
gen im Vergleich zur Entwurfsfassung immer noch zu
hinterfragende Aussagen. Das Lob der Marktwirtschaft
und des freien Welthandels wird leider gerade nicht
durch die Adjektive sozial oder fair ergänzt.
Helmut Schmidt hat kürzlich in seinem beachtens-
werten Vortrag zum 25-jährigen Jubiläum des Deutsch-
Japanischen Zentrums hier in Berlin darauf verwiesen,
dass nicht alle Staaten über die Exportorientierung der
beiden Staaten begeistert sind. Recht hat er.
Sie verweisen auf die Zusammenarbeit bei der Re-
form des Sicherheitsrates der UNO und meinen sicher
das Drängen beider Regierungen nach einem ständigen
Sitz. Hier schließe ich mich auch Helmut Schmidt an,
der mit etwas mehr Realitätssinn genau das als voreilig,
wenn nicht unnötig bezeichnete.
Stichwort Friedenspolitik: Sie vergessen, dass Deutsch-
land mit seiner Politik der militärischen Zurückhaltung
lange Zeit ebenso gut gefahren ist wie Japan mit seiner
Friedensverpflichtung ohne Einsatzarmee in seiner Ver-
fassung. Beides wurde und wird leider zunehmend aufge-
ben. Stattdessen benennen Sie Beispiele militärischer Zu-
sammenarbeit. Das ist nicht unsere Prioritätensetzung.
Schließlich: Es ist insgesamt schon sehr verwunder-
lich, die 150 Jahre deutsch-japanischer Beziehungen am
Schluss des Antrags umstandslos als Erfolgsgeschichte
zu bezeichnen. Immerhin gehört zu diesen Jahren auch
der Zweite Weltkrieg mit Millionen Opfern. Sie weisen
darauf selbst hin, wenn auch kurz und konsequenzlos. In
der Wahrnehmung der Nachbarn Japans und Deutsch-
lands bleibt dieses dunkle Kapitel weiterhin höchst
aktuell.
Abschließend: Deutschland und Japan sollten ihre
Partnerschaft nutzen, um als regionale Akteure und als
UNO-Mitglieder mit relevantem und zugleich begrenz-
tem Einfluss für Stabilität und Frieden zu sorgen. In die-
ser Frage sind wir uns dann ja vielleicht einig.
Dr. Frithjof Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): 150 Jahre sind ein bedeutender Zeitraum, auch
wenn ich anmerken möchte, dass die darin implizierte
Rechtsvorgängerschaft Preußens für das Deutsche Reich
durchaus diskussionswürdig ist. Deutschland und Japan
haben im Laufe der letzten 150 Jahre viel voneinander
gelernt. Die erste japanische Verfassung war von deut-
schem Recht inspiriert, die deutsche Wirtschaft hat viel
von der japanischen Fertigungstechnologie gelernt. Ja-
panische Kunst und Kultur hat eine faszinierende Attrak-
tivität, auch und gerade in den vergangenen zwei Jahr-
zehnten.
Ein Rückblick auf die lange Partnerschaft Deutsch-
lands und Japans darf allerdings von den düsteren Kapi-
teln der gemeinsamen Geschichte nicht schweigen. Sie
sind Mahnung an eine bessere Zukunft. Beide Länder
brachten im letzten Jahrhundert unermessliches Leid
über Millionen Menschen. Beide führten schreckliche
Aggressions- und Eroberungskriege mit verheerenden
Folgen. Daraus erwächst eine besondere Verantwortung:
die Verantwortung, gerade in der Zeit, wo die Zeitzeugen
dieser schrecklichen Taten verstummen, die Erinnerung
wach zu halten, und die Verantwortung, Aussöhnung
9866 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011
(A) (C)
(D)(B)
und Verständigung mit denen zu suchen, die von den
schrecklichen Taten unserer Länder betroffen waren.
Auch unter Freunden gibt es Fragen, über die keine
Einigkeit herrscht. Erlauben Sie mir, deshalb zwei
Punkte anzusprechen: vor allem die Tatsache, dass in Ja-
pan die Todesstrafe noch immer vollstreckt wird, aber
auch den Walfang, den Japan noch immer betreibt. Ich
würde mir hier dringend wünschen, dass unsere japani-
schen Partner ihre Politik ändern.
Deutschland und Japan stehen heute vor großen ge-
meinsamen Herausforderungen. Die vielleicht größte ist,
in den nächsten Jahrzehnten die ökologische Transfor-
mation unserer Wirtschaftssysteme zu bewältigen. Wir
sollten diese Herausforderungen gemeinsam bewältigen
und so unsere Partnerschaft festigen und weiter aus-
bauen. Es ist der japanische Ort Kioto, der bis heute für
die Hoffnung steht, dass der menschengemachte Klima-
wandel auch begrenzt werden kann.
Nehmen wir daher das Beispiel der Ressourceneffi-
zienz: Deutschland könnte und sollte sich da ein Beispiel
an der japanischen Ressourcenpolitik nehmen. Japan be-
treibt eine sehr ambitionierte, sozusagen grüne Industrie-
politik. Mit dem Top-Runner-Programm hat Japan ein
wegweisendes Instrument zur Förderung der Energie-
effizienz entwickelt. Hier gemeinsam eine Vorreiterrolle
einzunehmen, das wäre ein konkretes Vorhaben für die
nächste Etappe unserer Partnerschaft.
Heute geht es international um nicht weniger als die
gemeinsame Arbeit an den Menschheitsherausforderun-
gen Abrüstung, Klimawandel und die Gestaltung eines
effektiven Multilateralismus. Japan und Deutschland
können hier gemeinsam vieles bewegen.
Anlage 4
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Die Agrarwissen-
schaften in Deutschland auf höhere Anforde-
rungen ausrichten (Tagesordnungspunkt 14)
Dr. Max Lehmer (CDU/CSU): Die Bedeutung der
Agrarwissenschaft wächst stetig. Sie nimmt heute eine
Schlüsselrolle bei der Bewältigung der drei zentralen
globalen Herausforderungen ein:
Erstens. Ernährungssicherung der Weltbevölkerung.
Zweitens. Energiesicherung – und stoffliche Nutzung –:
als Ersatz der erdölbasierten Versorgung hin zu einer
pflanzlich basierten Deckung des globalen Energiebe-
darfs an Kohlenwasserstoff-Verbindungen.
Drittens. Ökologie, Klimaschutz und Biodiversität:
Reduktion klimarelevanter Emissionen der Landwirt-
schaft.
Die erste grüne Revolution im 19. Jahrhundert – ich
nenne die Namen Justus von Liebig, Gregor Mendel und
Albrecht Thaer – hat es durch die Entwicklung der
Grundlagen der Mineraldüngung, die Verbesserung der
Agrartechnik und den Züchtungsfortschritt geschafft, die
pessimistischen Prognosen vom Wechsel zwischen Hun-
ger und Überbevölkerung der Ökonomen Malthus und
Ricardo zu widerlegen. Die Systematisierung und Tech-
nisierung der Landwirtschaft sind eine Erfolgsge-
schichte. Die heutigen Aufgaben sind nichts weiter als
deren Fortführung für die Sicherung der Zukunft.
Im Hinblick auf die genannten Herausforderungen ist
die Pflanze – und ihr Bedarf an Standraum – der zentrale
Organismus: als Ernährungs-, Futter- und Energieträger.
In allen drei Bereichen muss die Agrarforschung
wichtige Schwerpunkte setzen:
Erstens. Optimierung der Pflanzenernährung: Durch
die Erfindung des Stickstoffdüngers in der Mitte des
letzten Jahrhunderts sind massive Produktivitätssteige-
rungen in der Landwirtschaft möglich geworden. Man
spricht auch von der zweiten grünen Revolution.
Zweitens. Reduzierung von Schäden im Wachstum
der Pflanzen durch biotische und abiotische Faktoren –
Schädlinge, Trockenheit, Versalzung, Wassermangel.
40 bis 45 Prozent des weltweiten Ertrags der Landwirte
geht durch Schädlinge und Pflanzenkrankheiten verlo-
ren. Insbesondere in den Entwicklungsländern sind die
Ernteverluste hoch. Es fehlt an Know-how und Infra-
struktur in allen wichtigen Bereichen: bei der Erzeu-
gung, dem Transport, der Lagerung und der Verarbei-
tung. Der Mangel an Agrarforschungssystemen und
damit auch fachlicher Qualifikation verschärft diese Pro-
bleme noch bzw. verhindert deren Minderung oder gar
Lösung. Viele Entwicklungsländer liegen in Klimazo-
nen, die vom Klimawandel besonders stark betroffen
sein werden. Eine Anpassung des Ackerbaus an den Kli-
mawandel ist unter den heutigen Bedingungen in diesen
Ländern nahezu ausgeschlossen. Agrarforschung vor Ort
muss regionalspezifische Lösungsansätze erarbeiten.
Drittens. Genetische Leistungsfähigkeit der Pflanzen
ist die Grundlage für wichtige Eigenschaften wie Ertrag,
Qualität, Nährstoffzusammensetzung, Energiedichte etc.
Die Nutzung der Pflanze als Energieträger bekommt zu-
nehmend Bedeutung als Ersatz für die endlichen fossilen
Energieträger. Ihre positive CO2-Bilanz ist ein bedeuten-
der Aspekt im Hinblick auf den Klimaschutz. Die Bun-
desregierung setzt mit ihrem Energiekonzept auf eine
Zukunft mit regenerativen Energien. Bis 2050 soll über
die Hälfte der Energieversorgung in Deutschland aus re-
generativen Energien gewonnen werden. Das wird nur
mit einem hohen Anteil an Bioenergie zu schaffen sein.
Die Potenziale der Pflanzen müssen wir hierfür noch
stärker nutzen. Dafür müssen aber deutschlandweit alle
beteiligten Einrichtungen – ob universitär oder außeruni-
versitär – zusammenarbeiten.
Aber Pflanzen brauchen Anbaufläche und Standraum.
Die verfügbare Anbaufläche auf der Erde ist jedoch be-
grenzt. Lediglich 11 Prozent der Erdoberfläche ist als
Boden nutzbar. Seriöse wissenschaftliche Prognosen ge-
hen davon aus, dass sich die Fläche pro Erdenbürger bis
2050 halbieren wird. FAO: 9 bis 10,5 Milliarden Men-
schen in 2050, Absenkung von 0,4 Hektar auf 0,2 Hektar
Fläche pro Mensch.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 9867
(A) (C)
(D)(B)
Das heißt: Die Art und die Form der Landnutzung
werden entscheidend sein. Die zentrale Frage wird sein:
Wie schaffen wir es, die Effizienz auf der Fläche zu stei-
gern und dabei die Nachhaltigkeitskriterien einzuhalten.
Diese Kriterien müssen wissenschaftlich definiert und
belegt werden.
Die wesentlichen Zielsetzungen hinsichtlich der Res-
sourcenschonung sind unter anderem: Erhalt der Bio-
diversität, Senkung des Wasserverbrauchs, Luftreinhal-
tung, Bodenschutz – Humusbilanz, Erosionsschutz,
Bodenfruchtbarkeit –, Energieeffizienz.
Aufgrund der zunehmend limitierenden Faktoren
stellt sich die Frage: Wie viele Ressourcen verbraucht
ein Produktionsverfahren? Die Agrarwissenschaft muss
also dasjenige Verfahren identifizieren, welches unter
den vorgenannten Bedingungen die größte Effizienz
bzw. Produktivität aufweist. Es werden wohl die Verfah-
ren zum Einsatz kommen müssen, die unter den jeweili-
gen regionalen Bedingungen den geringsten Bedarf an
Ressourcen pro erzeugter Einheit haben.
Die Agrarforschung muss diese Fragen ergebnisoffen
und ideologiefrei untersuchen. Die Resultate müssen re-
produzierbar sein und als Grundlage für die anstehenden
politischen Entscheidungen dienen.
Mit der „Nationalen Forschungsstrategie Bioökono-
mie 2030“, die im November letzten Jahres auf den Weg
gebracht wurde, nimmt Deutschland eine internationale
Vorreiterrolle hin zu einer biobasierten Wirtschaft ein.
Die Forderungen im Koalitionsvertrag, eine internatio-
nal wettbewerbsfähige Strategie zu einer wissensbasier-
ten Bioökonomie zu schaffen, werden damit eingelöst.
Mehr als 2,4 Milliarden Euro stellt die Bundesregierung
für Forschung, Entwicklung und Innovation zur Verfü-
gung.
Die Pflanzenforschung des BMBF und des BMELV
nehmen in der Nationalen Forschungsstrategie Bioöko-
nomie eine zentrale Rolle ein. Die Projekte GABI-
GRAIN, FraGenomic und GABI-CELLWALL können
schon auf erste Erfolge bezüglich der genetischen Kon-
trolle von Merkmalen, der stofflichen Zusammenset-
zung, der Standfestigkeit und der energetischen Verwen-
dung von Nutzpflanzen verweisen.
Ebenfalls im November 2010 wurde die DAFA ins
Leben gerufen, die Deutsche Agrarforschungsallianz.
Sie soll den deutschen Forschungseinrichtungen im Be-
reich von Land- und Forstwirtschaft, ländlichen Räu-
men, Ernährung und angrenzenden Disziplinen als un-
terstützende Plattform dienen und wird es ihnen
ermöglichen, ihre Vielfalt und Expertise zu bündeln und
sich zu unterschiedlichen Forschungsschwerpunkten
auszutauschen.
Zudem will die Deutsche Agrarforschungsallianz errei-
chen, dass die Sichtbarkeit dieser Forschungsthemen und
das Umsetzungspotenzial durch deutsche Forschungsein-
richtungen gestärkt werden, um deren Berücksichtigung
bei Planungen und Ausschreibungen in nationalen, euro-
päischen und internationalen Forschungsprogrammen zu
verbessern. Dazu soll die Deutsche Agrarforschungs-
allianz auch mit den Gebern von Forschungsfördermit-
teln in Deutschland und auf europäischer Ebene zusam-
menarbeiten, um möglichst an der Entstehung und
thematischen Ausgestaltung von Förderprogrammen be-
teiligt zu werden.
Sie sehen, wie viel die Regierungskoalition schon
jetzt auf den Weg gebracht hat. BMELV und BMBF ste-
hen in enger Kooperation. Die Arbeitsgruppe ELV der
CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist bestens aufgestellt.
Wenn auch der Antrag der Linken brauchbare Ansätze
enthält – das will ich gerne zugestehen –, neue Ansätze
bringt dieser nicht.
Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD): Die gegenwärtige
Ausrichtung der deutschen Agrarwissenschaften in
Deutschland und die zukünftigen Herausforderungen an
diesen Forschungsbereich sind Themen, die wir in die-
sem Haus nicht oft genug diskutieren können. Die Agrar-
wissenschaften beschäftigen sich mit den Kernthemen
und den Grundlagen unseres Lebens.
Als Politiker informiere ich mich deshalb genau. Ich
will wissen, woran geforscht wird und welche Entwick-
lungslinien die Agrarwissenschaftler sehen. Ich will wis-
sen, welche Anforderungen sie an die Politik haben und
wo wir gegebenenfalls korrigierend eingreifen müssen.
Für die SPD ist diese Debatte auch deshalb wichtig, weil
wir einen vollständig anderen Ansatz als die von Lob-
byisten getriebenen schwarz-gelben Koalitionäre haben.
Ich möchte das im Folgenden verdeutlichen:
Erstens. Deutschland hat eine internationale Verant-
wortung im Bereich der Agrarforschung. Die steigende
Weltbevölkerung, die Bekämpfung des Hungers, die Flä-
chen- und Ressourcenknappheit können nur gemeinsam
von der Weltgemeinschaft angegangen werden. Wir ha-
ben das große Thema Klimawandel auf der Agenda und
benötigen Antworten in Bezug auf die zunehmende Flä-
chenkonkurrenz zwischen der Nahrungsmittelerzeu-
gung und der Biomasseproduktion für energetische und
stoffliche Zwecke. Gleichzeitig müssen wir mehr da-
rüber erfahren, wie wir die genetischen Ressourcen bes-
ser schützen und erhalten können. Eine ausschließliche
Fixierung auf nationale Ressourcen und Fragestellungen
verkennt, dass die Welt sehr klein geworden ist. Ich sehe
jedoch die Gefahr, dass wir mit der bisherigen Ausrich-
tung und der Ausstattung unsere Agrarforschungsland-
schaft auf die oben genannten Herausforderungen nicht
ausreichend vorbereitet sind.
Zweitens. Die Agrarwissenschaften sind Systemwis-
senschaften, die neben den ökonomischen Faktoren im-
mer auch die ökologischen und sozialen Faktoren berück-
sichtigen müssen. Ich bezweifle, dass die von der
Bundesregierung favorisierte Hightech-Strategie im Rah-
men der Bioökonomieforschung diesem Anspruch ge-
recht wird.
Drittens. Ich höre immer wieder von den Exzel-
lenzwettbewerben, die die deutsche Forschung voran-
treiben sollen. Dieser Ansatz kann ganz sicherlich zu
mehr Wettbewerb unter den Forschungseinrichtungen
führen. Aber greift dieser Ansatz gerade in den Agrar-
wissenschaften nicht viel zu kurz? Es kann doch nicht
9868 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011
(A) (C)
(D)(B)
darum gehen, diejenigen Lehrstühle kurzfristig mit Geld
auszustatten, die die meisten Publikationen in internatio-
nalen Journalen aufweisen. Das Charakteristikum agrar-
wissenschaftlicher Forschung ist und bleibt die Problem-
und Handlungsorientierung. Es muss darum gehen, For-
schungseinrichtungen so auszustatten, dass sie beispiels-
weise langfristig und praxisorientiert Anbaumethoden
und -verfahren testen und erforschen können. Es kann
doch nicht sein, dass wir es zulassen, dass die Bundes-
länder aus finanziellen Gründen ihre Staatsgüter oder
Domänen abstoßen und das in den Böden gespeicherte
Wissen vergeuden. Ein Finanzierungsansatz, der kurz-
fristig und unkoordiniert öffentliche Mittel in eine un-
überschaubare Anzahl von Projekten pumpt und dann
schnelle Ergebnisse fordert, ist für die praktischen
Agrarwissenschaften der Tod.
Viertens. Die nationale und internationale Agrarfor-
schung sind traditionell eng mit der Entwicklungspolitik
verbunden. Das sollte auch so bleiben. Welchen Stellen-
wert die Politik für die Entwicklung der ländlichen
Räume in den unterentwickelten Staaten für die Bundes-
regierung hat, zeigen die Besetzung des zuständigen
Ministeriums und die fortschreitende Militarisierung der
deutschen Entwicklungspolitik, die die Mitarbeiter des
Hauses bemängeln. Für mich ist das der völlig falsche
Weg – ein Weg, der Deutschland viel internationale Re-
putation kostet, ein Weg, der zu mehr Unsicherheiten bei
unseren internationalen Partnern führen wird, ein Weg,
der am Ende eben nicht den Menschen vor Ort dient,
sondern der Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen
unserer exportorientierten Wirtschaft. Diese soll gerne
unterstützt werden, aber bitte nicht mit Geldern, die für
die Ärmsten der Armen gedacht sind.
Ich will, dass die Forschungsergebnisse deutscher
Agrarwissenschaftlerinnen und Agrarwissenschaftler ei-
nen substanziellen Beitrag dazu leisten, dass sich die
Menschen in den ländlichen Regionen dauerhaft selbst
versorgen können. Die Ursachen für die Fehlentwicklun-
gen sind mannigfaltig und variieren zudem von Land zu
Land. Aber auch die Lösungsansätze sind vielfältig. Die
Mehrheit der Menschen in den ländlichen Regionen wird
nicht dadurch satt, dass wir den Menschen Hightechsaat-
gut schicken. Sie wird dadurch satt, dass wir ihnen das
Know-how an die Hand geben, das sie befähigt, die Pro-
duktivität vor Ort zu erhöhen, und zwar angepasst an die
lokalen und regionalen Bedürfnisse. Es wird dadurch er-
reicht, dass wir in Deutschland beispielsweise unsere
Tropen- und Subtropenforschung vor dem kompletten
Untergang retten.
Wir können aber auch gerne in Europa bleiben und
werden erkennen, dass sich die Anforderungen an die
Agrarwissenschaften nicht nur auf die direkte ökonomi-
sche Verwertbarkeit der Ergebnisse beschränken. Die in-
haltlichen Herausforderungen im Agrar- und Ernährungs-
bereich haben sich gerade in Europa erheblich verändert.
Aspekte der Produktqualität und -sicherheit von Lebens-
mitteln sind in den Vordergrund gerückt. Wir sind damit
konfrontiert, dass die Produktionsprozesse bei Nahrungs-
mitteln in der Öffentlichkeit stärker hinterfragt werden.
Landschaftsökologen sind gefordert, die langfristigen
Folgen der gegenwärtigen landwirtschaftlichen Nutzung
auf die Boden- und Wasserhaushalte zu erforschen. Poli-
tikalternativen müssen wir mit Unterstützung der Agrar-
ökonomen regelmäßig auf ihre potenziellen Auswirkun-
gen hin überprüfen. Die tiergerechte Ausgestaltung von
Tierhaltungssystemen bewegt die Konsumenten. Wir
brauchen hier praxistaugliche Alternativvorschläge, wie
wir die Haltungsbedingungen für unsere Nutztiere wei-
terentwickeln können. Die Forschung im ökologischen
Landbau muss intensiviert werden, um offene Fragen, ge-
rade im Bereich der Tierhaltung, zu beantworten.
An die genannten nationalen und internationalen He-
rausforderungen muss die Agrarforschung strukturell an-
gepasst werden. Diese Leistung hat der Bund mit dem
Gesetz zur Neuordnung der Ressortforschung im Ge-
schäftsbereich des Bundesministeriums für Ernährung,
Landwirtschaft und Verbraucherschutz bereits 2007 er-
bracht. Perspektivisch werden wir nicht unbedingt mehr
öffentliche Gelder für diesen Bereich zur Verfügung ha-
ben. Ein einfaches „Weiter-so“ mit weniger Ressourcen
kann aber es nicht geben. Jetzt geht es darum, die inhalt-
lichen Hausaufgaben zu machen. Und da sind auch die
Länder gefordert.
Ich appelliere an die Verantwortlichen im BMELV
und in den Ländern, eine gemeinsame und koordinierte
Forschungskonzeption für die Agrarwissenschaften zu
entwickeln. In dieser Konzeption müssen sowohl die
wirtschaftlichen als auch die ökologischen und die sozia-
len Fragestellungen der Land-, Forst- und Ernährungs-
wirtschaft berücksichtigt werden. Fürs Erste werden wir
uns enthalten.
René Röspel (SPD): Als Durchschnittsverbraucher
vergisst man schnell, aus was unser täglich Brot, Wurst,
Käse eigentlich gemacht ist. Schweine oder Ähren ken-
nen die meisten Deutschen nur aus dem Fernsehen oder
vom Urlaub auf dem Bauernhof. Doch seit einigen Jah-
ren interessieren sich Verbraucherinnen und Verbrau-
cher, leider auch aufgrund von Nahrungsmittelskanda-
len, wieder vermehrt für ihr Essen. Das zeigt sich unter
anderem in der stärkeren Nachfrage nach regionalen und
ökologisch produzierten Nahrungsmitteln. Das merken
auch die Bauern. Im Jahr 2009 stieg in Deutschland die
Anzahl der ökologisch bewirtschafteten Betriebe auf
über 21 000 und damit um 6,2 Prozent gegenüber dem
Vorjahr.
Heutige landwirtschaftliche Betriebe produzieren
aber nicht mehr nur Nahrung. Verstärkt wird auf nach-
wachsende Rohstoffe zum Beispiel für die chemische In-
dustrie gesetzt. Nicht verschweigen darf man bei diesem
Trend aber auch, dass es mittlerweile weltweit eine Kon-
kurrenz zwischen der Produktion von Nahrungsmitteln
und nachwachsenden Rohstoffen gibt. Wenn aufgrund
dessen weltweit die Preise für Grundnahrungsmittel stei-
gen, dann läuft etwas in die falsche Richtung. Umso
wichtiger ist deshalb die Suche nach gesunden, ressour-
censparenden und nachhaltigen landwirtschaftlichen
Produkten. Hierbei kann die Wissenschaft helfen und da-
bei insbesondere die Agrarforschung. Auf diesem Feld
beschäftigen sich Wissenschaftlerinnen und Wissen-
schaftler mit so spannenden Themen wie Gartenbau,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 9869
(A) (C)
(D)(B)
Weinbau, Forst- und Holzwirtschaft, Fischerei, Veteri-
närmedizin bzw. mit Teilen der Umwelt- und Geowis-
senschaften. Bei Themen wie Verteilungsgerechtigkeit
und der Bekämpfung des weltweiten Hungers sind aber
auch Sozial- und Geisteswissenschaftler gefragt und un-
verzichtbar.
Nun zu dem Antrag: Grundsätzlich ist diese Initiative
der Linken zu begrüßen. Auch einige der Analysen bzw.
Forderungen der Linken sind richtig, so zum Beispiel
der Ruf nach einer stärkeren Koordinierung der Agrar-
forschung zwischen Bund und Ländern. Auch die Forde-
rung nach mehr Interdisziplinarität, Kooperation, Parti-
zipation sowie einer bedarfsgerechten finanziellen und
personellen Aufstockung der wissenschaftlichen Res-
sourcen für die künftige Forschungspolitik teile ich. Den
Bioökonomierat sehe ich ebenfalls kritisch. Das beginnt
bereits bei der Auswahl der Mitglieder, von denen mir zu
viele industrienah sind, während ausgewiesene Experten
auf dem Gebiet der Sozialwissenschaften, des Rechts
oder der Ethik gänzlich fehlen. Die Empfehlungen des
Rates sind dann auch dementsprechend. Da wird zum
Beispiel eine „grundlegende Technikoffenheit“ gefor-
dert, also unter anderem für die Grüne Gentechnik. An-
sätze für eine Umstellung auf eine nachhaltige ökologi-
sche Landwirtschaft sucht man in den Empfehlungen
hingegen vergebens.
Bei aller berechtigten Kritik am Bioökonomierat
sollte man diese aber nicht pauschal auf die Deutsche
Agrarforschungsallianz DAFA übertragen. Nach aktuel-
ler Satzung der DAFA dürfen, anders als beim Bioöko-
nomierat, Vertreter der Industrie überhaupt nicht Mit-
glied werden. Nur öffentliche Forschungseinrichtungen,
zum Beispiel Universitäten, oder Teile öffentlicher For-
schungseinrichtungen, zum Beispiel Fakultäten oder In-
stitute, sind als Mitglieder erlaubt. Auch hat die DAFA
gerade erst mit ihrer Arbeit begonnen. Berichte liegen
also noch gar nicht vor. Eine Vorverurteilung der DAFA,
wie es die Linke mit ihrem Antrag hier tut, lehnen wir
als SPD deshalb ab.
Darüber hinaus findet man in diesem Antrag leider
wenig inhaltliche Ziele. Für die SPD, so haben es die
agrarpolitischen Sprecher der SPD noch einmal bekräf-
tigt, ist es hingegen wichtig, dass Wissenschaft, For-
schung und Beratung insbesondere darauf ausgerichtet
werden, die Effizienz der ressourcenschonenden ökolo-
gischen Anbausysteme zu erhöhen. Solche klaren Posi-
tionen findet man in dem Antrag der Linken leider nicht.
In Zeiten, in denen die Bundesregierung überlegt, die so-
wieso schon mageren Zuschüsse für den ökologischen
Landbau, inklusive der Forschungsförderung, zu kürzen,
wäre eine klarere Positionierung notwendiger denn je.
Insofern freue ich mich schon auf die gemeinsame Dis-
kussion in den Ausschüssen.
Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Wir sind uns
weitgehend einig, dass die Herausforderungen der Welt-
ernährung, des Klimawandels und des Erhalts der Biodi-
versität nur durch eine verstärkte Agrarforschung bewäl-
tigt werden können. Das Gutachten des Bioökonomierates
2010 hat vier erste Empfehlungen erarbeitet, die wertvolle
Impulse für eine Weiterentwicklung der Agrarforschung
ergeben. Es ist schade, dass die Linke diese Ansätze un-
berücksichtigt lässt und stattdessen ihren alten Antrag
aus dem Mai 2009 aufwärmt und streckt.
Die vom Wissenschaftsrat im Jahr 2006 geforderten
tiefgreifenden Reformen der Agrarwissenschaften wur-
den von der letzten Bundesregierung und den Ländern
nur unbefriedigend umgesetzt. Die Ressortforschung
darf nach unserer Vorstellung nicht isoliert betrachtet
werden, sondern muss im Zusammenhang mit den Uni-
versitäten und Fachhochschulen, den Leibniz-, Max-
Planck-, Fraunhofer-Instituten und den Instituten der
Helmholtz-Gemeinschaft betrachtet werden. Aufgrund
der hochkomplexen Fragestellungen brauchen wir Wis-
senschaftscluster, in denen verschiedene, in einem Be-
reich tätige Institute eingebunden sind. Dadurch können
Synergieeffekte erzielt werden, und gleichzeitig wird die
Arbeit aller Forschungseinrichtungen gestärkt.
Angesichts knapper Mittel, die für die Forschung zur
Verfügung stehen, dürfen Forschungseinrichtungen nicht
als Infrastrukturmaßnahmen beliebig in der Landschaft
verteilt werden. Die räumliche Nähe zu anderen For-
schungseinrichtungen muss gegeben sein. Nur so kann
die Wissenschaftsinfrastruktur optimal genutzt, kann ein
intensiver Fachaustausch organisiert werden. Wissen-
schaftliche Exzellenz und Fortschritt leben vom Aus-
tausch von Ideen, Konzepten und Gedanken.
Es gibt gute Beispiele im benachbarten Ausland, wie
Agrarforschung effizient organisiert werden kann. Eine
Konzentration von Grundlagenforschung, Anwendungs-
projekten und Lehre in breit aufgestellten Universitäts-
einrichtungen ermöglicht dort einen hocheffizienten Ein-
satz öffentlicher Mittel. Der bei uns eingeschlagene Weg
muss in diese Richtung intensiviert und fortgesetzt wer-
den. Gemeinsame Berufung von Professoren durch Fa-
kultäten und Ressortforschung, verstärkte Drittmittelein-
werbung und bessere, höherwertige wissenschaftliche
Veröffentlichungen zeigen, dass viele Institute der Res-
sortforschung auf dem richtigen Weg sind. Dies darf
aber kein Feigenblatt für einzelne Institute sein, sich mit
esoterischer Forschung und wenig überzeugenden Leis-
tungen zu profilieren.
Neben Gedankenaustausch und Kooperation war und
ist Wissenschaft aber auch immer ein Wettstreit der
Ideen, ein ständiges Hin und Her von Konzepten und
Theorien. Auch dieser Aspekt muss bedacht werden,
wenn wir die Agrarwissenschaften in Deutschland vo-
ranbringen wollen. Im Antrag der Linken kann ich ihn
nicht entdecken. Überhaupt werden die Fortschritte mo-
derner Agrarforschung, der Biotechnologie und Inge-
nieurswissenschaften völlig zu Unrecht schlechtge-
macht. Der vielzitierte sogenannte Weltagrarbericht
liefert einige interessante Anregungen, wie Teilziele der
Millenniumsvereinbarung erreicht werden können; aber
der Bericht ist mit seinen Folgerungen einseitig ideolo-
gisch ausgerichtet und greift zu kurz. Als solide Grund-
lage für Regierungshandeln ist er nicht geeignet. Unsere
Wissensgesellschaft kann es sich weder leisten, mo-
dernste Entwicklungen wie die Gentechnik zu verteu-
9870 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011
(A) (C)
(D)(B)
feln, noch sollten wir ökologische oder traditionelle
Techniken außer Acht lassen.
Zur Bewältigung der kommenden Herausforderungen
sind vielfältige Fortschritte nötig. Wir müssen helfen,
die riesige Anzahl an Hungernden weiter zu verringern.
Hierzu müssen Anbautechniken, Saatgut und Wissen
von Millionen Landwirten weltweit verbessert werden.
Dafür müssen Erntemethoden anpasst und Nachernte-
verluste verringert werden. Gleichzeitig sind regionale
Wirtschaftskreise zu stärken und nachhaltige Landwirt-
schaft zu fördern.
Darüber hinaus spielt die Land- und auch die Forstwirt-
schaft eine wichtige Rolle beim Umwelt- und Klima-
schutz. Wir müssen zukünftig die schädlichen Emissionen
verringern, Biodiversität stärken und eine kohlenstoff-
dioxidarme Gesellschaft aufbauen. Insbesondere die Be-
lastung von Böden und Wassersystemen durch hohe
Nitratkonzentrationen stellt ein großes Problem dar. Die
Agrarwissenschaften werden eine entscheidende Rolle
bei der Suche nach Lösungen spielen. Der Anbau von
Energiepflanzen, nachhaltige Bewirtschaftung oder eine
verbesserte stoffliche Nutzung nachwachsender Roh-
stoffe sind Schlüsseltechnologien in Deutschland und
weltweit. Die Bundesregierung hat aus dem hochinteres-
santen Bioökonomiegutachten bereits die ersten richti-
gen Schlüsse gezogen. Nur Investitionen in diese Zu-
kunftstechnologien helfen den Menschen und kommen
dem Innovationsstandort Deutschland zugute.
Wir müssen die Weichen stellen, um Landwirtschaft,
Forstwirtschaft und Ernährungswissenschaften in
Deutschland zur internationalen Spitze zu machen. Das
nützt uns und unseren Kindern und ist unabdingbar,
wenn wir auf die weltweiten Herausforderungen durch
Bevölkerungswachstum, Klimawandel und Ressourcen-
verbrauch erfolgreich reagieren wollen.
Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Die Linke
hatte bereits in der vergangenen Wahlperiode, im Mai
2009, einen Antrag zur Stärkung der Agrarwissenschaf-
ten gestellt. In der parlamentarischen Debatte zu diesem
Antrag war deutlich geworden, dass sich alle Fraktionen
bei diesem Anliegen einig waren, wenn auch die Vorstel-
lungen über die notwendigen Schritte bis dorthin strittig
blieben.
Passiert ist seitdem wenig Substanzielles, sodass wir
mit dem Antrag heute die Diskussion wieder beleben
und zielführend voranbringen wollen.
Der dringende Handlungsbedarf liegt eigentlich auf
der Hand. Die Anforderungen an die Agrarwissenschaft
sind in den vergangenen Jahren eher noch gestiegen. Es
geht um Vermeidung von oder Anpassung an den Klima-
wandel, um nachhaltige Strategien zur Sicherung der
Welternährung, ressourcenschonende Landnutzungskon-
zepte, neue Anbaukulturen, besseren Tierschutz oder da-
rum, dass durch die globalen Personen- und Handels-
ströme die Gesundheitsrisiken gestiegen sind, sowohl
für Menschen als auch Nutztiere. Überall steht die Land-
wirtschaft vor völlig neuen Herausforderungen, die nur
mit wissenschaftlicher Unterstützung gemeistert werden
können.
Darüber hinaus steht ein Generationswechsel in den
Betrieben an, und die Rahmenbedingungen erfordern
immer besser ausgebildete Landwirtinnen und Land-
wirte. Also muss sich auch die Aus- und Weiterbildung
an diesen Herausforderungen neu ausrichten. Insbeson-
dere Frauen sollten gezielter für das landwirtschaftliche
Studium geworben werden.
Aber statt die Agrarwissenschaften zu stärken, gilt
noch immer die Aussage des Wissenschaftsrates von
2006, dass auch in Deutschland eine „Erosion der insti-
tutionellen Grundlagen stattfindet und vielerorts diese
Entwicklungen als krisenhaft erkannt werden“. Das ist
gerade in unserem Land blamabel, denn Deutschland gilt
als Wiege der Agrarwissenschaften. Es muss also drin-
gend etwas passieren. Aktuell werden zwei sehr unter-
schiedliche Konzepte diskutiert, an denen die Entwick-
lung der Agrarwissenschaften ausgerichtet werden
könnte.
Auf der einen Seite steht die Bioökonomiestrategie,
die die Bundesregierung jüngst aufgelegt hat. Aus Sicht
der Linken ist ihre überdeutliche Orientierung auf rein
wirtschaftliche Interessen zu kritisieren. Die Landwirt-
schaft wird vor allem als Rohstofflieferant definiert.
Dieses Denken reiht sich ein in die Strategie der Lebens-
mittelkonzerne, den gesamten Produktionsprozess
beherrschen zu können. Selbst die Trennlinie zu Arznei-
mitteln wird verwischt. Die personelle Zusammenset-
zung des Bioökonomierats jedenfalls lässt viel Raum für
Zweifel an der Gemeinwohlorientierung. Dennoch gibt
es in der Bioökonomiestrategie auch Ansätze, die wis-
senschaftlich durchaus interessant sind. Aufgabe der
Politik wäre es, ihre Nutzung für die gesamte Gesell-
schaft zu sichern.
Auf der anderen Seite steht der Weltagrarbericht, der
als Ergebnis eines umfangreichen Diskussionsprozesses
von 400 internationalen Expertinnen und Experten ent-
stand und sehr differenziert Ideen entwickelt aus einer
Synthese zwischen modernen wissenschaftlichen Er-
kenntnissen und tradiertem Wissen. Er ist auf die Inte-
ressen der gesellschaftlichen Akteurinnen und Akteure
in den Regionen ausgerichtet und sucht nach Konzepten,
die regionales Handeln im Interesse einer eigenständigen
Versorgung mit gesunden Lebensmitteln ermöglicht und
fördert.
Die Linke hat die große Bedeutung des Weltagrarbe-
richts immer betont und die Bundesregierung aufgefor-
dert, ihn zu unterzeichnen und seine Fortschreibung
finanziell zu unterstützen. Wir sind davon überzeugt,
dass er die Bedeutung des Weltklimaberichts erlangen
kann, der unterdessen zum Handlungsrahmen für die in-
ternationale Politik geworden ist. Aus den konservativen
Reihen wird genau dieses Konzept der Selbstermächti-
gung bekämpft und denunziert, ja als gefährlich bezeich-
net. Sicher, gefährlich ist es, aber nur für ein System,
dessen Selbstverständnis es ist, Menschen in Abhängig-
keit zu halten.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 9871
(A) (C)
(D)(B)
Es ist ein völlig anderes gesellschaftspolitisches Ver-
ständnis, das hinter den beiden Konzepten steht. Für die
Linke ist klar, dass eine nachhaltige Landwirtschaft so-
ziale, ökologische und ökonomische Funktionen im Inte-
resse der gesamten Gesellschaft erfüllen muss. Bei die-
sem Ziel muss die Agrarwissenschaft unterstützend tätig
sein. Dazu braucht es eine klare strategische Ausrich-
tung, koordinierte Strukturen und eine bedarfsgerechte
finanzielle und personelle Ausstattung von Lehre und
Forschung. Das BMELV könnte dabei beispielgebend
vorangehen. Aber das Gegenteil ist der Fall. In der mi-
nisteriumseigenen Agrarressortforschung wurden 1996
und 2007 Standortschließungs- und Personalabbaukon-
zepte im Bundestag mehrheitlich beschlossen. Sie wer-
den schrittweise umgesetzt, ohne eine Analyse der Fol-
gen dieser aus unserer Sicht falschen politischen
Entscheidungen vorzulegen.
Diese ist überfällig, und wir fordern sie heute erneut
ein. Bis zu einer abschließenden Bewertung müssen wei-
tere Standortschließungen ausgesetzt werden. Es müssen
in jedem Einzelfall alle Möglichkeiten geprüft werden,
eine Standortschließung zu vermeiden und frei werdende
Stellen wieder zu besetzen. Das sind wir den engagiert
arbeitenden Beschäftigten in diesem Bereich schuldig.
Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Noch
nie standen die Agrarwissenschaften vor so großen He-
rausforderungen wie heute. Klimawandel, Raubbau an
Wäldern und Ausbeutung der Meere, Rückgang der Ar-
tenvielfalt, Bienensterben, Verseuchung von Böden und
Wasser durch Pestizide und Bodenerosion gefährden die
elementaren Lebensgrundlagen und ihre Nutzung. Welt-
weit steigt die Zahl der Hungernden, heute bereits auf
über eine Milliarde Menschen. Gleichzeitig leiden bei
uns immer mehr Menschen, besonders Kinder und Ju-
gendliche, unter Fehlernährung und ernährungsbeding-
ten Krankheiten wie Diabetes, Adipositas, Allergien
oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Die Weltgesund-
heitsorganisation, WHO, spricht in diesem Kontext öf-
fentlich von einer „Epidemie“.
Für diese Herausforderungen muss die Agrarfor-
schung moderne, multisystemare Antworten entwickeln:
zum Beispiel innovative Fruchtfolgekonzepte im Rah-
men einer Eiweißstrategie oder Erhöhung der Wasser-
speicherungs- und -rückhaltekapazität der Böden durch
nachhaltigen Humusaufbau und intelligente Bewei-
dungssysteme. Wir brauchen gute Forschung in der Tier-
und Pflanzenzucht, um nachhaltige und artgerechte Tier-
haltung und Pflanzenbau ohne Unmengen an Dünger
und Pestiziden betreiben zu können, Forschung in der
Tierseuchenbekämpfung oder umweltgerechten und
ökologischen Pflanzenschutz, Nahrungsmittelverarbei-
tung ohne Zusatzstoffe und Geschmacksverstärker, Ver-
packungen ohne hormonell wirksame Bestandteile wie
Bisphenyl A. Überall mangelt es an Forschung, die den
modernen Interessen der Verbraucher, der Umwelt und
dem Tierschutz gerecht wird.
Die Bundesregierung setzt dagegen ihre Forschungs-
schwerpunkte einseitig auf Konzepte des vorigen Jahr-
hunderts wie Produktionssteigerungen im Fleisch- oder
Milchsektor oder den Ausbau der Agro-Gentechnik. Für
die nationale Bioökonomiestrategie sind 2,4 Milliarden
Euro vorgesehen, der Großteil für die Gentechnikfor-
schung – eine völlig einseitige Ausrichtung an den Inte-
ressen einiger Konzerne. Diese unverantwortliche und
überhaupt nicht „wissenschaftsbasierte“ Schwerpunkt-
setzung blendet die Frage von Nutzen und Risiken der
Gentechnikforschung völlig aus. Im letzten Sommer ver-
ließen die Umweltverbände unter Protest den „Runden
Tisch Pflanzengenetik“, weil das BMBF ihre konkreten
Anforderungen an eine wissenschaftlich seriöse Risiko-
forschung, zum Beispiel zur Verbreitung von Transge-
nen über Bestäuberinsekten oder zu Test- und Bewer-
tungsmethoden für die Beurteilung der Sicherheit von
Genpflanzen, mit unwissenschaftlichen Behauptungen
beiseiteschob.
Nicht akzeptabel ist die Einflussnahme des Bioöko-
nomierates auf die politischen Entscheidungen. Dieses
mit 2 Millionen Euro aus Steuermitteln finanzierte Gre-
mium ist de facto eine staatlich bezahlte Lobbyplattform
für Agro-Gentechnikproduzenten wie BASF oder KWS.
Bereits 2008 haben wir mit einer Studie auf die höchst
bedenkliche Verflechtung zwischen öffentlichen For-
schungseinrichtungen und der Gentechnikindustrie auf-
merksam gemacht. In einem aktuellen Dokumentarfilm
– „Verkaufte Wahrheit“ – werden die Abhängigkeit der
Forschung und die Diskriminierung unabhängiger For-
schung weiter belegt.
Trotz Milliardeninvestitionen in Exzellenzinitiativen
geht der Personalabbau in der Ressortagrarforschung
weiter. Seit 1996 wurde die Zahl der Stellen in der Res-
sortforschung des BMELV fast halbiert: von 3 600 auf
unter 2 000. Dabei wäre ein Ausbau dieser Agrarfor-
schung gerade jetzt von entscheidender Bedeutung.
Statt dass weiter Milliarden in der riskanten und nutz-
losen Agro-Gentechnikforschung verpulvert werden,
fordern wir den Stopp der Entwicklungsforschung für
die Agro-Gentechnik. Die dadurch eingesparten Mittel
müssen für die Unterstützung der Agrarressortforschung
in den Zukunftsbereichen Ökolandbau, Ernährungs- und
Verbraucherforschung und für den Ausbau der unterfi-
nanzierten Bereiche wie zum Beispiel der Gartenbaufor-
schung eingesetzt werden.
Eine moderne Agrarforschung muss in nationalen und
internationalen Netzwerken arbeiten. Deshalb begrüßen
wir die Gründung der Deutschen Agrarforschungsalli-
anz, DAFA, und fordern die Bundesregierung auf, diese
neue Initiative beim Aufbau von Netzwerken weiter zu
fördern. Das von den Linken vorgeschlagene For-
schungsvernetzungsamt ist ein zu bürokratischer Ansatz,
um diesem Anliegen gerecht zu werden.
Anlage 5
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Schwule, lesbische
und transsexuelle Jugendliche stärken (Tages-
ordnungspunkt 15)
Dr. Peter Tauber (CDU/CSU): Chancengleichheit
ist aus Sicht der CDU für alle Menschen in unserem
Land, gleich welchen Alters oder welcher sexueller
9872 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011
(A) (C)
(D)(B)
Orientierung, der Ausgangspunkt für das gesellschaftli-
che Zusammenleben und den Zusammenhalt. Nicht ohne
Grund hat die Bundesregierung in ihrem Koalitionsver-
trag deshalb vereinbart, bestehende Benachteiligungen
in allen Lebensbereichen, sei es Politik, Wirtschaft oder
Gesellschaft, weiter abzubauen.
Ich gebe den Antragstellern von Bündnis 90/Die Grü-
nen Recht: Es muss eine Kultur der Vielfalt entstehen,
allerdings ohne den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu
verlieren. Aus diesem Grund ist es wichtig, besonders
den Jugendlichen und jungen Erwachsenen ein Umfeld
zu ermöglichen, in dem sie selbstbestimmt ihre sexuelle
Orientierung leben können.
Betrachtet man die Situation von homosexuellen und
transsexuellen Jugendlichen heute, so gibt sich ein nicht
eindeutiges Bild. Nach wie vor sind diese Gruppen Be-
nachteiligungen ausgesetzt. Vieles läuft dabei auch im
subtilen Bereich, was einer systematischen und quantifi-
zierbaren Bestandsaufnahme verschlossen bleibt.
Aber es befindet sich auch ein ganz zentraler Satz im
Antrag von Bündnis 90/Die Grünen, nämlich „Vieles hat
sich zum Positiven entwickelt“. Dieser Satz ist wichtig.
Ich denke, wir sollten bei dieser Debatte die Situation
der Schwulen, Lesben und Transsexuellen in Deutsch-
land nicht schlechter machen als sie tatsächlich ist. Denn
eines ist auch klar: Insgesamt leben Lesben und Schwule
heute so frei und selbstbestimmt wie nie zuvor in der
Geschichte unseres Landes. In breiten Teilen unserer Be-
völkerung herrschen heutzutage Toleranz und Respekt.
Es ist in den zurückliegenden Jahren viel erreicht
worden, insbesondere wenn man betrachtet, wo wir her-
kommen. Bis 1969 war in der Bundesrepublik mit § 175
StGB Recht aus dem Dritten Reich gegen Homosexuelle
in Kraft, und es drohte damit für sexuelle Kontakte zwi-
schen Männern Freiheitsentzug. Und erst 1990 strich die
Weltgesundheitsorganisation WHO Homosexualität von
der Liste psychischen Krankheiten – am 17. Mai 1990.
Dieser Tag wird seither weltweit als „Internationaler Tag
gegen Homophobie“ begangen.
Die Diskriminierung liegt eben nicht lange zurück.
Umso schöner ist es zu sehen, dass Homosexuelle heute
immer ungestörter ihren individuellen Lebensentwurf
ausleben können. Dies ist ein Erfolg, ohne Zweifel. Aber
eine vollständig diskriminierungsfreie Republik erfor-
dert einen Mentalitätswechsel bei vielen Personen, der
realistischer Weise nicht von heute auf morgen gesche-
hen wird.
Ich stimme zu, dass insbesondere im Bereich der Ho-
mosexuellenfeindlichkeit unter Menschen mit zumeist
muslimischem Migrationshintergrund noch kein rundum
zufriedenstellender Zustand erreicht ist. Jugendliche mit
Migrationshintergrund – vor allem aus muslimischen
Ländern – haben es nach wie vor deutlich schwerer, sich
zu ihrer sexuellen Orientierung zu bekennen. Auf Ak-
zeptanzprobleme stoßen sie gerade in ihrer eigenen Fa-
milie. Das Problem ist dabei eher nicht die mangelnde
Integration der Jugendlichen, sondern der Eltern. Darum
gilt es, gerade in diesem Bereich klar zu machen, dass
die Diskriminierung von Menschen mit einer anderen se-
xuellen Orientierung nicht akzeptiert werden kann. Die-
sen Aspekt vergessen Bündnis 90/Die Grünen in ihrem
Antrag vollständig.
Ich bin daher an dieser Stelle sehr froh, dass die Bun-
desregierung in diesem Bereich bereits fördernd tätig ist.
So unterstützte das Bundesministerium für Familie, Se-
nioren, Frauen und Jugend verschiedene Projekte des
Bundesverbandes der Eltern, Freunde und Angehörigen
von Homosexuellen e.V.: das Elternseminar „Diskrimi-
nierung durch Sprache“, die Teilnahme des Verbandes
am Evangelischen Kirchentag 2009 und das Bundesel-
terntreffen. Weiterhin wurde das Projekt des Familien-
und Sozialvereins des Lesben- und Schwulenverbandes
„Kultursensible Aufklärung zum Thema Homosexualität
für Familien mit Migrationshintergrund“ unterstützt. Im
Rahmen des Kinder- und Jugendplans als zentralem För-
derinstrument des Bundes in der Kinder- und Jugend-
hilfe können auch Projekte/Initiativen von Migranten-
organisationen finanziell unterstützt werden, soweit die
Anforderungen nach den Richtlinien zum KJP erfüllt
sind. Dies ist in unseren Augen bereits sehr viel wert.
Ich möchte an dieser Stelle noch einmal betonen, dass
die christlich-liberale Koalition bei ihren jugendpoliti-
schen Bemühungen die Unterschiedlichkeit von Jugend-
lichen anerkennt und berücksichtigt. Über das Förder-
instrument des Kinder- und Jugendplans des Bundes
unterstützt sie unterschiedliche Angebote zum Beispiel
für lesbische und schwule Jugendliche. Eine detaillierte
Aufstellung des Engagements seitens des BMFSFJ ist
den Fraktionen ja bereits vor einiger Zeit im Rahmen ei-
ner parlamentarischen Anfrage der Grünen zugegangen.
In diesem Zusammenhang davon zu sprechen, die Re-
gierung würde mit Ignoranz und Desinteresse diesen Ju-
gendlichen gegenüberstehen, wie die Grünen in ihrem
Antrag schreiben, halten wir für vermessen und nicht
nachvollziehbar.
Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung
zum Beispiel adressiert lesbische, schwule und bi-
sexuelle Jugendliche zum Themenbereich „Sexualauf-
klärung“ und „Aidsprävention“. Die Broschüre „Hetero-
sexuell? Homosexuell? Sexuelle Orientierung und
Coming-out“ informiert spezifisch zum Coming-out und
spricht damit sowohl Jugendliche als auch ihre Eltern an.
Es gibt darüber hinaus eine Reihe an guten und erfolgrei-
chen Initiativen, die bundesweit bereits einiges erreicht
haben.
Besonders die Arbeit der Verbände trägt dazu bei,
dass die Benachteiligung gleichgeschlechtlich orientier-
ter Jugendlicher abgebaut und ein Klima gegenseitiger
Anerkennung und Wertschätzung gefördert wird. Die
Bundesregierung unterstützt diese Arbeit, die mehr
Kenntnis und Verständnis in der Bevölkerung über
gleichgeschlechtliche Lebensweisen schafft. Das bun-
desweit agierende Jugendnetzwerk Lambda e. V. wird
seit 1990 regelmäßig aus Mitteln des Kinder- und Ju-
gendplans gefördert. Es erhält seitdem sowohl projekt-
bezogene Zuwendungen als auch regelmäßige Förder-
mittel aus verschiedenen Programmen des KJP. Dieses
Beispiel steht Pate für die vielen weiteren Aktivitäten in
diesem Bereich.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 9873
(A) (C)
(D)(B)
Eine Chancengleichheit unabhängig von sexueller
Orientierung voranzutreiben, ist unser Ziel und soll auf
verschiedenen Ebenen und in den unterschiedlichsten
Gremien vorangetrieben werden. Um die Jugendlichen
zu unterstützen und die Gesellschaft dafür weiter zu sen-
sibilisieren, muss auch in Zukunft einiges unternommen
werden. Dies kann jedoch der Bund bei weitem nicht al-
leine vorantreiben. Gerade um an Schulen und anderen
öffentlichen Einrichtungen nachhaltig eine Sensibilisie-
rung in Gang zu bringen, kommt es vor allem auf das
Engagement der Länder an. Für Programme im Kultur-
bereich haben weiterhin die Länder die Hoheitsrechte.
Diese Kulturhoheit ist im Grundgesetz sogar als „Kern-
stück der Eigenstaatlichkeit der Länder“ verankert.
Demnach fallen Fragen zur praktischen Gewährleistung
von Diskriminierungsfreiheit für lesbische und schwule
Jugendliche und zu deren Akzeptanz an Bildungsein-
richtungen nicht in den Zuständigkeitsbereich der Bun-
desregierung.
Viele der in dem vorliegenden Antrag gemachten For-
derungen, auch wenn sie teilweise richtig sein mögen,
richten sich leider an den falschen Adressaten. Dies ist
auch einer der Hauptkritikpunkte am Antrag von Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Insgesamt können wir dem Antrag von Bündnis 90/
Die Grünen in der vorliegenden Form nicht zustimmen,
wenngleich wir bei einigen Aspekten des Antrags sicher-
lich eine ähnliche Sichtweise haben.
Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU): Der
Antrag von Bündnis 90/Die Grünen geht im Grundsatz
in die richtige Richtung. Aber anzumerken ist, dass in
der heutigen Zeit, in der sich die Gesellschaft zum Glück
und endlich gewandelt und weiterentwickelt hat, die ver-
schiedenen Arten der Sexualität stärker akzeptiert und
toleriert werden und die Diskriminierung von gleichge-
schlechtlich orientierten Menschen deutlich abgenom-
men hat. Trotzdem ist es ständige Aufgabe der Politik,
diesen Prozess der Antidiskriminierung von schwulen,
lesbischen oder transsexuellen Jugendlichen weiter zu
begleiten.
Tut ein Antrag, wie ihn Bündnis 90/Die Grünen hier
stellen, not? Denn Ihre Forderung aus dem Antrag „Les-
ben, Schwule und Transsexuelle müssen endlich als
selbstverständlicher Teil unserer vielfältigen Gesell-
schaft vollständig anerkannt werden“ ist richtig, aber
doch auch größtenteils bereits Realität. Und das nicht
nur bei Personen, die im Licht der Öffentlichkeit stehen.
Jugendliche sind bereits selbstbewusst. Bündnis 90/
Die Grünen stellen die Jugendlichen in Deutschland in
ihrem Antrag so dar, als ob sie nicht selbstständig oder
selbstbewusst genug sind, um sich auch über ihre
sexuelle Orientierung bewusst zu sein und diese auch
nach außen zu vertreten. Doch meiner Meinung ist das
zu einseitig: Jugendliche sind nämlich selbstbewusster,
als sie hier im Antrag von Bündnis 90/Die Grünen dar-
gestellt werden.
Shell-Studie 2010: Ich bin eher der Ansicht, dass wir
Jugendliche dabei unterstützen sollten, ihre eigenen
Werte und Vorstellungen und damit auch ihr Selbstbe-
wusstsein noch mehr zu verwirklichen, als sie dies ohne-
hin bereits tun. Aus der Shell-Studie 2010 wird deutlich,
dass über zwei Drittel der Jugendlichen in Deutschland
optimistisch in die eigene persönliche Zukunft blicken.
Ich denke, dass tun sie auch zu Recht. Hinzu kommt die
Tatsache, dass nur 18 Prozent der Jugendlichen skep-
tisch bzw. zweifelnd der Sinnhaftigkeit von grundlegen-
den moralischen Regeln und Normen gegenüberstehen –
und dazu gehört selbstverständlich auch die sexuelle
Selbstbestimmung.
Das bedeutet, dass eine positive Lebenseinstellung
und genaue Wertvorstellungen für Jugendliche wichtig
sind. Dies ist auch in der Frage ihrer sexuellen Ausrich-
tung wichtig, und wir sollten insbesondere in dieser sehr
intimen und persönlichen Frage den Jugendlichen viel
mehr Vertrauen schenken.
Rund 95 Prozent der Jugendlichen finden es laut der
Shell-Studie 2010 von Bedeutung, dass sie Menschen
um sich herum haben, denen man vertrauen und denen
man sich anvertrauen kann. Dies meint insbesondere die
Familie und die Gruppe der Gleichaltrigen. Wer sich an
seine eigene Jugend erinnert, der weiß, dass auf der ei-
nen Seite die eigenen Eltern als Vorbilder dienen, aber
auf der anderen Seite auch die Freunde, die einen in der
Adoleszenz und später prägen. Darauf gilt es aufzu-
bauen. Ein intaktes persönliches Umfeld ist wichtiger
und effektiver für die Jugendlichen, die sich auch für ein
öffentliches Bekenntnis zu ihrer gleichgeschlechtlichen
sexuellen Orientierung entscheiden.
Möglichkeiten staatlichen Handelns: Dafür zu sorgen,
dass Jugendliche in einem Umfeld aufwachsen, in dem
sie ihre positive Lebenseinstellung er- und ausleben kön-
nen und ihre individuelle Persönlichkeitsentwicklung
voranschreitet, das ist die Aufgabe der Politik. Der Bund
schafft hier gemeinsam mit den Ländern gute Rahmen-
bedingungen: eine gute Schulbildung, verbunden mit ei-
ner Perspektive für ein geordnetes und erfolgreiches Be-
rufsleben, sowie eine gute Familienpolitik für die Eltern
und Jugendlichen selbst. Dort bringt der Bund sich ein.
Und auch hier zeigt die Shell-Studie 2010, dass 70 Pro-
zent der Jugendlichen der Aussage: „Eigentlich ist es
sinnlos, sich Ziele für sein Leben zu setzen, weil heute
alles so unsicher ist“, widersprechen. Optimismus,
Selbstbestimmung und Eigenhandeln sind auch Stär-
kungselemente bei der Sexualität.
„Tabuisierung oder Desinteresse“ von bzw. an gleich-
geschlechtlich orientierten Jugendlichen, wie sie im An-
trag von Bündnis 90/Die Grünen dem Bund vorgeworfen
werden, sehe ich hierbei nicht. Sowohl die Bundeszentrale
für gesundheitliche Aufklärung als auch die Bundeszen-
trale für politische Bildung engagieren sich, genauso wie
das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und
Jugend, im Rahmen des Kinder- und Jugendplans.
Darüber hinaus sehe ich nicht viele Möglichkeiten
staatlichen Handelns vonseiten des Bundes. Wenn es
notwendig ist, haben die Länder und Kommunen vor
Ort, auch in Zusammenarbeit mit ehrenamtlichen Trä-
gern, bessere und direktere Möglichkeiten. Subsidiarität
hat sich bewährt, und grundsätzlich sind für alle Fragen
9874 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011
(A) (C)
(D)(B)
der Kulturpolitik und Kulturverwaltung – insbesondere
für die Bereiche Schulwesen, Hochschule und Erwach-
senenbildung/Weiterbildung – nach der im Grundgesetz
festgeschriebenen Kompetenzverteilung die Länder zu-
ständig.
Insoweit ist die Botschaft Ihres Antrages richtig, al-
lerdings können wir uns dem Antrag in dieser Form so
nicht anschließen.
Christel Humme (SPD): „Du schwule Sau!“ – diese
Beschimpfung gehört heute zu den am meisten ge-
brauchten Beschimpfungen auf deutschen Schulhöfen.
Eine besorgniserregend hohe Homophobie gerade unter
Jugendlichen belegt auch eine Studie des Kieler Sozial-
psychologen Professor Simon. Er befragte rund
1 300 Schülerinnen und Schüler von Berliner Gymna-
sien und Gesamtschulen nach ihrer Einstellung zur Ho-
mosexualität. Demnach findet jeder Zweite der Befrag-
ten im Alter zwischen 14 und 20 Jahren es abstoßend,
wenn sich Männer in der Öffentlichkeit küssen. Der Wi-
derstand der jungen Menschen mit Migrationshinter-
grund lag noch über den Aversionen der befragten Deut-
schen.
Oft bleibt es in der Schule jedoch nicht bei Beschimp-
fungen und verbalen Erniedrigungen. Mädchen und Jun-
gen werden gemobbt, von der Klassengemeinschaft aus-
geschlossen oder sogar tätlich angegriffen. Die Folgen
sind Verzweiflung, ein panisches Versteckspiel, das ei-
gene Anderssein zu verbergen, und die Angst, „enttarnt“
zu werden. Manche können diesem Druck auf Dauer
nicht standhalten und sehen für sich keine Perspektive
mehr. Die Selbstmordrate unter schwulen Jugendlichen
liegt bis zu viermal höher als bei ihren heterosexuellen
Altersgenossen.
Gerade unter Jugendlichen halten sich hartnäckig
Vorurteile gegen homosexuell Lebende und Liebende,
die viele von uns längst überwunden glaubten. Daher
überrascht es nicht, dass unter diesen Bedingungen für
viele lesbische, schwule oder transsexuelle Jugendliche
ein Coming-out nicht vorstellbar ist. Gerade hier müssen
wir ansetzen, um schon in der Schule erlebbar zu ma-
chen, was in unserer demokratischen und solidarischen
Gesellschaft selbstverständlich sein muss: ohne Angst
selbstbewusst anders als die Mehrheit leben zu können.
Dazu brauchen wir Bildungseinrichtungen, die nicht
nur bestmögliche Förderung für alle bieten, sondern in
denen für Lehrende und Lernende ein diskriminierungs-
freier Raum garantiert ist. Grundlage dafür ist ein ganz-
heitlicher Bildungsansatz, der die Normalität und die
Vielfalt menschlichen Zusammenlebens von Kindesbei-
nen an vermittelt. Wir Sozialdemokratinnen und Sozial-
demokraten fordern selbstverständlichen Respekt und
Akzeptanz. Wir stehen für eine bunte Gesellschaft, in
der Vielfalt als Bereicherung wahrgenommen wird.
Rot-Grün hat in Regierungsverantwortung vieles vo-
ranbringen können. Ich nenne hier nur das Lebenspart-
nerschaftsgesetz, mit dem schwule und lesbische Paare
ihrer Beziehung endlich einen rechtlichen Rahmen ge-
ben konnten, oder das sehr gute rot-grüne Antidiskrimi-
nierungsgesetz, das leider durch die Bundestagswahl
2005 nicht mehr in Kraft treten konnte. Die SPD konnte
in der Großen Koalition gegen erhebliche Widerstände
der Union einen Großteil des Gesetzes als AGG durch-
setzen. Noch sind leider nicht alle rechtlichen Benachtei-
ligungen beseitigt. Dennoch haben wir als Gesetzgeber
hier wichtige Signale in die Gesellschaft setzen können,
um auch die Rechte von Lesben, Schwulen, bi- und
transsexuellen Menschen zu stärken.
Neue Familienformen sind entstanden: „Regenbogen-
familien“, in denen sich statt Vater und Mutter eben zwei
Mamis oder zwei Papas liebevoll und fürsorglich um
ihre Kinder kümmern, werden immer selbstverständli-
cher.
Diese gesellschaftlichen Veränderungen müssen stär-
ker als bisher in der Schule vermittelt werden. Dieser Ort
für gemeinsames Lernen hat eine besondere Aufgabe.
Hier müssen wir stärker die Chancen nutzen, die selbst-
verständliche Akzeptanz von gesellschaftlicher Vielfalt
durch gegenseitiges Erleben und Kennenlernen in den
Köpfen der jungen Menschen zu verankern.
Was ist zu tun? Wir müssen durch aufeinander abge-
stimmte Präventionsstrategien dafür sorgen, dass gleich-
geschlechtlich liebende Jugendliche nicht länger mit Ab-
lehnung und Hass konfrontiert werden. An jeder Schule
müssen kompetente und qualifizierte Ansprechpartnerin-
nen und Ansprechpartner für Lernende und Lehrer zur
Verfügung stehen.
Jugendliche benötigen darüber hinaus bundesweit flä-
chendeckende Beratungsstellen, in denen sie konkrete
Hilfe und Unterstützung bekommen können. In Groß-
städten ist bereits eine entsprechende Infrastruktur vor-
handen, doch gerade in ländlichen Regionen fehlt den
jungen Männern und Frauen oft noch eine kompetente
Vertrauensperson in ihrer Nähe. Das Internet ist hier eine
zusätzliche wichtige Anlaufstelle. So bietet beispiels-
weise die Bundeszentrale für politische Bildung und
auch die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung
zu den Themen Sexualität und Geschlechterrollen um-
fangreiche Informationen. Im Bereich Öffentlichkeits-
arbeit und Beratung kann auch die Antidiskriminie-
rungsstelle des Bundes Wichtiges leisten, indem sie die
Vernetzung der Akteure vor Ort weiter voranbringt und
den Ausbau einer guten flächendeckenden Beratungs-
struktur unterstützt.
Wir brauchen verbindliche Rahmenrichtlinien in allen
Bundesländern, damit die bestehende Vielfalt von sexu-
ellen Identitäten positiv dargestellt wird. Dazu brauchen
wir mehr Lehrinnen und Lehrer, die sich diesem Thema
unverkrampft und ohne rot zu werden widmen. In die-
sem Zusammenhang ist auch beim Thema Weiterbildung
bzw. im Lehramtsstudium sicherlich eine stärkere Sensi-
bilisierung sinnvoll. Hier sind die Bundesländer in der
Verantwortung, ihre jeweiligen Richtlinien kritisch zu
überprüfen. Auch in vielen Schulbüchern und anderen
Medien hat die gleichberechtigte Darstellung verschie-
dener Formen von Sexualität noch nicht den Stellenwert,
der ihr gebührt. Das Thema darf sich weder im Unter-
richt noch in Lehrmaterialien ausschließlich auf Gesund-
heitsaufklärung und HIV/Aids beschränken.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 9875
(A) (C)
(D)(B)
Vor allem aber muss es uns gelingen, die Schülerin-
nen und Schüler selbst für das Thema zu sensibilisieren
und ihnen Respekt sich selbst und anderen gegenüber zu
vermitteln. Eine Möglichkeit ist, durch entsprechende
Jugendwettbewerbe, verstärkt auf kreative Umsetzung
des Themas unter der Zielgruppe selbst zu setzen. Mein
Bundesland NRW geht hier mit dem Projekt „Schule
ohne Homophobie – Schule der Vielfalt“ den richtigen
Weg. Ich freue mich daher sehr, dass die rot-grüne Lan-
desregierung in NRW die Bekämpfung von Homophobie
ausdrücklich als eine Querschnittsaufgabe sieht und im
Landesjugendplan speziell die besondere Unterstützung
von lesbischen, schwulen, bi- und transsexuellen Ju-
gendlichen bei der Entwicklung ihrer sexuellen Identität
in Schule und Jugendhilfe gesichert hat.
Doch nicht nur die Länder sind bei der Bekämpfung
von Homophobie in der Verantwortung. Auch die
schwarz-gelbe Bundesregierung, die sich ja laut eigener
Aussage für „Chancengerechtigkeit unabhängig von der
individuellen sexuellen Orientierung“ einsetzt, steht hier
in der Pflicht. Im nationalen Integrationsplan muss das
Thema Akzeptanz von Trans-, Bi- und Homosexualität
endlich verankert werden.
Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokratinnen
unterstützen den vorliegenden Antrag der Grünen. Wir
setzen uns auch in Zukunft für eine solidarische und freie
Gesellschaft ein, in der gelebte Vielfalt – Diversity – zur
Selbstverständlichkeit wird.
Stefan Schwartze (SPD): Wir diskutieren heute den
Antrag von Bündnis 90/Die Grünen, der zum Ziel hat,
schwule, lesbische und transsexuelle Jugendliche zu
stärken. Das ist ein wichtiges Anliegen und verdient un-
sere volle Unterstützung.
Schwule, lesbische und transsexuelle Jugendliche ha-
ben es in unserer Gesellschaft schwer. Oft sind sie sich
ihrer sexuellen Orientierung noch nicht sicher und wer-
den gehänselt, gemobbt und drangsaliert, oder sie wer-
den sogar Opfer von Gewalt. Diese Jugendlichen müs-
sen vor Diskriminierung wirksamer geschützt werden.
Es ist bedrückend, dass laut einer Studie der Berliner
Senatsverwaltung für Schule, Jugend und Sport von
1999 18 Prozent der schwulen oder lesbischen Jugendli-
chen bereits einen oder mehrere Selbstmordversuche
hinter sich hatten, mehr als die Hälfte hatte bereits an
Selbstmord gedacht. Das Selbstmordrisiko ist damit bei
gleichgeschlechtlich orientierten Jugendlichen viermal
höher als bei Jugendlichen mit heterosexueller Orientie-
rung. Die Jugendlichen brauchen Ansprechpartnerinnen
und Ansprechpartner, die beraten und helfen können.
Insbesondere brauchen wir aber Programme, die die Ak-
zeptanz von homosexuellen Jugendlichen stärken.
Welche Instrumente dafür eingesetzt werden können,
soll in einer breit angelegten bundesweiten wissenschaft-
lichen Studie zur Lebenssituation homosexueller Ju-
gendlicher untersucht werden. Hierzu liegt bereits ein
Beschluss des Bundestages vor, den wir als SPD-Bun-
destagsfraktion auch schon damals unterstützt haben.
Leider ist die Umsetzung in der Großen Koalition mit
Frau von der Leyen nicht möglich gewesen. Diese Stu-
die ist wichtig, um Erkenntnisse über die Lebenssitua-
tion von homosexuellen Jugendlichen zu erhalten, um
daraus Handlungsempfehlungen für die Bundesregie-
rung abzuleiten.
Ohnehin sind die Gelder, die für schwule und lesbi-
sche Jugendliche im Kinder- und Jugendplan ausgege-
ben werden, verschwindend gering. Im Kinder- und Ju-
gendplan von 2009 waren es lediglich 200 000 Euro, die
die Bundesregierung für diese Zielgruppe ausgegeben
hat. Ganze 186 Millionen Euro stehen der Bundesregie-
rung insgesamt für den Kinder- und Jugendplan zur Ver-
fügung.
Insbesondere die Beratung von schwulen, lesbischen
und transsexuellen Jugendlichen muss ausgebaut wer-
den. Wir brauchen eine Förderung der schwul-lesbischen
Jugendarbeit und einen systematischen Ausbau entspre-
chender Angebote im Kinder- und Jugendplan. Auch der
vorgeschlagene „Jugendwettbewerb gegen Homophobie
und für Vielfalt“ kann dafür ein Instrument sein.
Viele Maßnahmen, die wir brauchen, um der Diskri-
minierung von schwulen, lesbischen und transsexuellen
Jugendlichen entgegenzuwirken, fallen leider in den
Aufgabenbereich der Länder. Hier müssen wir alle an ei-
nem Strang ziehen, auch die Länder müssen ihren Bei-
trag leisten. Wir brauchen ein Aufbrechen heteronormer
Familien- und Wertvorstellungen in Schul- und Sachbü-
chern. Wir brauchen eine verbesserte Aus- und Fortbil-
dung von Lehrkräften zu diesen Themen. Wir brauchen
verbesserte Schulungen von Lehrkräften im Umgang mit
homo- und transsexuellen Jugendlichen sowie die Schu-
lung von Vorgehensweise zum Umgang mit diskriminie-
renden Situationen und diskriminierendem Verhalten
von Schülerinnen und Schülern.
Es steht außer Frage, dass noch immer Lesben,
Schwule, Bisexuelle, Transgender, transsexuelle und in-
tersexuelle Menschen in Deutschland diskriminiert wer-
den. Sie sind in unserer Gesellschaft auch heute noch
Anfeindungen, gewaltsamen Übergriffen und Benachtei-
ligungen ausgesetzt. Viele Gesetze haben zwar die recht-
liche Situation inzwischen deutlich verbessert, aber ein
ausdrückliches Verbot der Diskriminierung aufgrund der
sexuellen Identität im Grundgesetz würde endlich eine
klare Maßgabe für die Gesetzgebung schaffen.
Wir brauchen ein öffentliches und deutliches Be-
kenntnis, dass Gesichtspunkte der sexuellen Identität
eine ungleiche Behandlung unter keinen Umständen
rechtfertigen können. Dafür brauchen wir eine Änderung
des Art. 3 Abs. 3 Satz 1. SPD, Bündnis 90/Die Grünen
und die Linken haben hierzu jeweils Gesetzentwürfe in
den Bundestag eingebracht, die noch nicht entschieden
sind. In dieser Frage müssen wir endlich vorankommen,
und es ist absolut unverständlich, warum die schwarz-
gelbe Koalition in dieser Frage so zögerlich ist, zumal
wir in der EU-Grundrechtecharta seit 2009 den Diskri-
minierungsschutz für Lesben, Schwule und Transgender
verankert haben.
9876 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011
(A) (C)
(D)(B)
Florian Bernschneider (FDP): Die Fraktion der
FDP begrüßt, dass sich das Hohe Haus auf Basis der vor-
liegenden Initiative mit der Lebenssituation von schwu-
len, lesbischen und transsexuellen Jugendlichen befasst.
Wir tun dies auch vor dem Hintergrund, dass sich die
von CDU, CSU und FDP getragene Regierung in
Gleichstellungsfragen von Homosexuellen im Vergleich
zu ihren Vorgängerregierungen überhaupt nicht zu ver-
stecken braucht. Stichworte sind hier beispielsweise die
Gleichstellung von eingetragenen Lebenspartnerschaften
mit der Ehe in den Bereichen BAföG, Grunderwerb- und
Erbschaftsteuer, Beamten-, Soldaten- und Richterrecht,
die wir umgesetzt haben. Auch sollte nicht vergessen
werden, dass die Liberalen nach einer zehn Jahre dau-
ernden, unwürdigen Hängepartie, die unter Rot-Grün be-
gann und sich unter Schwarz-Rot fortsetzte, dafür ge-
sorgt haben, dass die Magnus-Hirschfeld-Stiftung in
diesem Jahr das notwendige Startkapital erhält, damit sie
endlich ihre Arbeit aufnehmen kann.
Was ich ausdrücklich nicht begrüße, ist der völlig un-
angemessene und parteipolitisch motivierte Ton, der in
dem vorliegenden Antrag angeschlagen wird. Wenn ich
in dem Antrag lese, dass die Antwort der Bundesregie-
rung auf die Kleine Anfrage „Lesbische und schwule Ju-
gendliche“ der Grünen die Ignoranz und das Desinte-
resse dieser Regierung an den Jugendlichen und ihren
Sorgen zutage gefördert habe, ist dies eine üble Unter-
stellung. Die Grünen schießen hier vor lauter Profilie-
rungswut völlig über das Ziel hinaus.
Die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine An-
frage von Bündnis 90/Die Grünen ist ein Beleg für die
vielschichtige Jugendpolitik dieser Koalition. Die Trä-
gervielfalt geht vom Deutschen Sportbund über das Ju-
gendnetzwerk Lambda – der LesBiSchwule Jugendver-
band in Deutschland, den Bundesverband der Eltern,
Freunde und Angehörigen von Homosexuellen e.V. bis
hin zum Familien- und Sozialverein des Lesben- und
Schwulenverbandes LSVD. Die Förderung von Projek-
ten, Programmen und Institutionen, die sich für die
Gleichstellung und Unterstützung von homosexuellen,
lesbischen und transsexuellen Jugendlichen einsetzen,
ist schon lange ein ganz selbstverständlicher Bestandteil
der Förderstruktur im Kinder- und Jugendplan des Bun-
des.
Es ist genau zu prüfen, inwieweit ein weiterer Ausbau
dieser Programme sinnvoll erscheint. Ja, die Grünen ha-
ben recht, schwule und lesbische Jugendliche unter-
scheiden sich durch ihre sexuelle Identität von hetero-
sexuellen Jugendlichen. Die Herausforderungen, die sie
während des Heranwachsens meistern müssen, sind
enorm. Nicht selten erleben sie Ausgrenzung oder sogar
antihomosexuelle Gewalt. Sie müssen in Teilen der Ge-
sellschaft, aber oft auch bei Familie und Freunden stär-
ker um Akzeptanz kämpfen. Hier benötigen sie Aner-
kennung und Unterstützung. Dafür setzen sich die
Liberalen seit Jahren mit Nachdruck ein.
Es ist insbesondere meiner Fraktion zu verdanken,
dass der Deutsche Bundestag das Stiftungskapital für die
Magnus-Hirschfeld-Stiftung bewilligt hat. Die Stiftung
wird sich unter anderem gegen Ausgrenzung und Gewalt
gegenüber Lesben und Schwulen wenden und durch Bil-
dung und Forschung gesellschaftlicher Diskriminierung
entgegenwirken. Was die künftige Arbeit der Stiftung
angeht, sind wir Liberale der Meinung, dass die Fortbil-
dung und damit die Sensibilisierung von Multiplikatoren
in der Schul- und Jugendarbeit eine wichtige Aufgabe
der Stiftung sein sollte.
Darüber hinaus hat das BMFSFJ Studien zur Situa-
tion von homosexuellen Jugendlichen in Auftrag gege-
ben und dabei auch die Belange von Schwulen und Les-
ben mit Migrationshintergrund besonders berücksichtigt.
Dabei stellte sich heraus, dass sich schwule und lesbi-
sche Jugendliche mit Migrationshintergrund in der deut-
schen Gesellschaft anerkannt fühlen, während sie in ih-
ren Migrationscommunities mit Ablehnung konfrontiert
werden. Die Integration der Familien wird damit zum
entscheidenden Faktor für einen offeneren Umgang mit
der sexuellen Identität der Kinder. Hier ist die christlich-
liberale Koalition aktiv geworden und hat beispielsweise
die stark nachgefragten Integrationskurse des Bundes
finanziell besser ausgestattet. Auch im Bereich des ge-
rade von den Grünen so stark kritisierten Freiwilligen-
dienstekonzeptes und in der nationalen Engagementstra-
tegie nimmt das Thema Integration breiten Raum ein.
Und das nicht ohne Grund: Die erfolgreiche Integration
von Zugewanderten wird mit Blick auf den Fachkräfte-
mangel und den demografischen Wandel in unserem
Land eine der politischen Mammutaufgaben der nächs-
ten Jahre, wenn nicht Jahrzehnte sein.
Die Grünen weisen in ihrem Antrag darauf hin, dass
die Suizidrate bei schwulen und lesbischen Jugendlichen
weitaus höher liegt als bei heterosexuellen. Ich möchte
hier deutlich sagen, dass ich als jugendpolitischer Spre-
cher der FDP-Bundestagsfraktion diese Zahlen sehr
ernst nehme. Wir brauchen in diesem Zusammenhang
Aufklärung und gegebenenfalls Strategien, um gefähr-
dete Jugendliche, die keinen Halt in der Familie oder im
Freundeskreis finden, zu unterstützen. Gleichzeitig soll-
ten wir zur Kenntnis nehmen, dass sich die Zahl der
Suizide bei Jugendlichen insgesamt seit den 1980er-Jah-
ren mehr als halbiert hat. Dies zeigt, dass sich Jugendli-
che in Deutschland in der schwierigen Phase des Heran-
wachsens heutzutage besser unterstützt und akzeptiert
fühlen als noch vor 20 Jahren.
In einer freiheitlichen und modernen Gesellschaft ha-
ben Diskriminierungen von homosexuellen Jugendli-
chen wie auch Diskriminierungen anderer Gruppen kei-
nen Platz. Sie sind Teil unserer Gesellschaft und
verdienen es deshalb auch, als solcher behandelt zu wer-
den. Spezielle Förderprogramme und -maßnahmen müs-
sen aber in ein Gesamtkonzept eingebunden sein. Viele
der Forderungen im Antrag von Bündnis 90/Die Grünen
fallen in den Zuständigkeitsbereich der Länder – gerade
im Bereich der Schulen. Wir müssen die Länder für ihre
Zuständigkeiten, die sie wollen, dann auch in die Verant-
wortung nehmen. Die FDP hat zum Beispiel zwischen
2005 und 2010 in NRW dafür gesorgt, dass trotz harter
Sparpolitik Fördermittel für die schwul-lesbische Selbst-
hilfe erhalten blieben. Daraus wurde unter anderem das
Schulaufklärungsprojekt SchLAu NRW finanziert, das
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 9877
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Vorbild sein kann für andere Bundesländer. Nicht jede
sinnvolle Förderung kann und muss also vom Bund ge-
leistet werden.
Die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen selbst hat
zuletzt in einem Antrag den Flickenteppich an Modell-
programmen, der im Bereich der Kinder- und Jugend-
politik im Zuständigkeitsbereich des Bundesfamilien-
ministeriums existiert, kritisiert. Ich würde es ausdrücklich
begrüßen, wenn sie solchen lichten Momenten der Ein-
sicht auch entsprechende parlamentarische Taten folgen
lassen würde. Stattdessen kritisiert sie, zusammen mit
den anderen Oppositionsfraktionen, die Bundesregie-
rung dafür, dass sie spart. Im gleichen Atemzug fordert
sie mit Blick auf die Generationengerechtigkeit lautstark
ausgeglichene Haushalte, was sie selbstverständlich
nicht davon abhält, in der Öffentlichkeit vollmundige
Versprechungen über höhere Sozialausgaben, Bürgerver-
sicherungen mit Sorglosgarantie und Ähnliches zu ver-
breiten. Und dann setzt sie dem Ganzen die Krone auf,
indem sie ohne Gegenfinanzierungsvorschläge Anträge
ins Parlament einbringt, in denen ihr nichts Besseres ein-
fällt, als immer wieder neue Modellprojekte und -pro-
gramme und damit Ausgaben zu fordern. Zu der Frage,
wo eigentlich die finanziellen Mittel für ihre Wünsche
herkommen sollen, schweigt sie. Das scheint mittler-
weile zu ihrer politischen Methode zu werden.
In NRW können wir gerade beobachten, wie genera-
tionengerecht die rot-dunkelrot-grüne Politik daher-
kommt. Es würde der Debatte und den Anträgen von
Bündnis 90/Die Grünen sicherlich guttun, wenn die Grü-
nen sich weniger auf ihre Außendarstellung konzen-
trieren und mehr um die politische Sacharbeit kümmern
würden.
Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Der vorliegende
sehr gute Antrag findet die volle Unterstützung der Frak-
tion Die Linke. Denn die Situation von lesbischen,
schwulen, transsexuellen, transgender und intersexuellen
Jugendlichen erfordert ein engagiertes Handeln. Das
Wort „schwul“ ist das gebräuchlichste Schimpfwort an
deutschen Schulen. Mobbing sowie psychische und phy-
sische Schläge haben Betroffene zu erleiden. Junge
Menschen, die sich in der Findungsphase ihrer sexuellen
oder geschlechtlichen Identität befinden, stehen oftmals
schutzlos und allein da. Viele leiden unter Depressionen.
Einige begehen einen Suizidversuch. Nach einer Studie
der Berliner Landesantidiskriminierungsstelle weisen
homosexuelle Jugendliche ein sechsfach höheres Selbst-
mordrisiko auf; dies bestätigte die Bundesregierung im
Jahr 2006.
Die vom Bundestag 2005 beschlossene Studie zur Si-
tuation homosexueller Jugendlicher fehlt. Ich fordere die
Bundesregierung auf, einen konkreten Zeitplan zur Um-
setzung der Studie vorzulegen. Eine Studie wird die kon-
krete Situation analysieren und Defizite aufzeigen, ins-
besondere die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis.
Vieles steht auf Papier. Aber Papier ist bekanntlich ge-
duldig. Nehmen wir die Rahmenlehrpläne für den Unter-
richt vieler Bundesländer. Häufig wird die Förderung der
sexuellen Vielfalt explizit benannt. Doch umgesetzt wird
dies nur selten.
Wie können wir von Lehrerinnen und Lehrern eine
Umsetzung einfordern, wenn sich viele von ihnen selbst
nicht trauen, sich zu ihrer Homosexualität zu bekennen?
Lehrerinnen und Lehrer haben ebenso wie Schülerinnen
und Schüler Mobbing durch das Kollegium und von
Schülerinnen und Schülern zu befürchten.
Das umfangreiche Maßnahmenpaket der Initiative
„Berlin steht ein für Selbstbestimmung und Akzeptanz
sexueller Vielfalt“ des rot-roten Berliner Senats zielt auf
konkrete Veränderungen im Bildungsbereich und der
Verwaltung. Nehmen wir die Schule: Hier werden mit
Informationsveranstaltungen und Fortbildungen Lehre-
rinnen und Lehrer in Leitungsfunktion sensibilisiert und
die Leiterinnen und Leiter der Ausbildungsseminare der
Referendare werden mit Modulen zur sexuellen Vielfalt
ausgestattet. Hier werden Grundsteine zum Diskriminie-
rungsschutz an Schulen gelegt und die Akzeptanz der se-
xuellen Vielfalt dauerhaft gestärkt.
Wir fordern konsequente und schnelle Maßnahmen
der Bundesregierung auch und gerade im Bildungsbe-
reich durch eine enge Zusammenarbeit mit den Bundes-
ländern. Von Berlin werden sie dabei die Unterstützung
erhalten, um Maßnahmen zur Stärkung der sexuellen
und geschlechtlichen Vielfalt zu entwickeln.
Im Oktober 2010 schreckten die Suizide von schwu-
len Schülern in den USA auf. Auch sie wurden gemobbt,
drangsaliert und waren Schlägen ausgesetzt. Dies führte
zu tiefer Bestürzung und rüttelte den Präsidenten auf.
Präsident Obama mahnte die Akzeptanz von homo-
sexuellen Schülerinnen und Schülern an – ein einmaliger
Vorgang in den USA, dem aber keine konkreten Maß-
nahmen der Regierung folgten. Ich hoffe, dass die Bun-
desregierung mutiger ist und mit Unterstützung des Par-
laments die geforderten Maßnahmen umsetzt.
Die Ausgrenzung von lesbischen, schwulen, transse-
xuellen, transgender und intersexuellen Jugendlichen ist
nicht hinnehmbar. Liebe verdient Respekt und Vielfalt,
ist eine Bereicherung.
Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir
wollen schwule, lesbische und transsexuelle Jugendliche
stärken und unterstützen. Ich wünsche mir von dieser
Bundestagsdebatte das starke Signal, dass Anderssein
nicht verkehrt ist und gleichgeschlechtliche Liebe die-
selbe Wertschätzung wie heterosexuelle verdient. Wir
haben die Vision einer Gesellschaft, in der schwule und
lesbische Jugendliche ohne Sorge vor Homophobie und
Diskriminierung verschieden sein können. Sie müssen
endlich als selbstverständlicher Teil unserer vielfältigen
Gesellschaft anerkannt werden. In ihrem Alltag und Le-
bensumfeld – in Familie, Schule, Beruf und Freizeit so-
wie bei rechtlichen Regelungen – sind Lesben, Schwule
und Transsexuelle noch immer nicht allerorts akzeptiert
und vollständig gleichgestellt. Diese Benachteiligung
hat besonders negative Auswirkungen auf die junge Ge-
neration; und das muss sich endlich ändern. Jeder und
jede Jugendliche hat unabhängig von der sexuellen Iden-
9878 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011
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tität ein Recht auf beste Bedingungen des Aufwachsens
und zur Persönlichkeitsentwicklung. Gerade für junge
Lesben und Schwule sind gleiche Teilhabe sowie die
Sichtbarkeit und der Respekt vielfältiger Lebensformen
unerlässlich. Schwule und lesbische Jugendliche müssen
überall selbstbestimmt sowie angst- und diskriminie-
rungsfrei leben können.
Vieles hat sich in den vergangenen Jahren und Jahr-
zehnten zum Positiven entwickelt; die Situation hierzu-
lande wird besser. Bei meinem Coming-out Mitte der
90er-Jahre habe ich von der zunehmenden gesellschaftli-
chen Liberalisierung und den Erfolgen der schwul-lesbi-
schen Emanzipations- und Bürgerrechtsbewegung profi-
tieren können. Und trotzdem war das Coming-out auch
für mich kein leichter, sondern ein bisweilen belastender
und krisenhafter Prozess. Das hat sich für die junge Ge-
neration auch im Jahr 2011 kaum geändert. Trotz gesell-
schaftlicher und politischer Fortschritte bestehen in Tei-
len der Gesellschaft weiter Vorurteile gegenüber
gleichgeschlechtlichen Jugendlichen: Sie werden kon-
frontiert mit Unverständnis, Unwissenheit bis hin zu
Ablehnung und Ausgrenzung. Nach wie vor sind viele
Eltern ebenso überfordert wie die Schule oder Jugend-
einrichtung. „Schwule Sau“ darf nicht länger Schimpf-
wort Nummer eins auf den Schulhöfen bleiben. Zwar
gibt es in vielen Städten schwul-lesbische Einrichtungen
oder sogar Jugendzentren. Vielerorts, besonders in länd-
lichen Räumen, fehlen Jugendlichen aber noch immer
kompetente Anlaufstellen, die sie bei ihrem Coming-out
unterstützen, oder Freizeitangebote, bei denen sie
Gleichaltrige treffen und kennenlernen können.
Alarmierend ist, dass Suizidversuche bei homo-
sexuellen Jugendlichen siebenmal häufiger auftreten als
bei heterosexuellen. Skandalös ist, dass angesichts dieser
von ihr selbst bestätigten Daten schon die Vorgänger-
regierung bei Antworten auf grüne Anfragen „keinen
Handlungsbedarf“ sah und dem derzeitigen Jugend-
ministerium diese Daten nicht einmal mehr bekannt
sind, wie die Antwort auf unsere letzte Kleine Anfrage
zu diesem Thema belegt. Wie würde sich wohl Frau
Schröder als Mutter einer 15-jährigen lesbischen Tochter
oder eines 17-jährigen schwulen Sohns bei einer solch
empörenden Ignoranz einer Bundesregierung gegenüber
dem Wohlergehen ihres Kindes fühlen? Sie sollte einen
Moment darüber nachdenken und als Jugendministerin
mit uns gemeinsam klare politische Konsequenzen da-
raus ziehen. Es geht um immerhin fünf bis zehn Prozent
der Jugendlichen, die lesbisch oder schwul sind, deren
Familien und Freundeskreise. Deren Belange dürfen
nicht länger unbeachtet bleiben, Handeln ist überfällig.
Wir brauchen dringend einen gemeinsamen und um-
fassenden Handlungs- und Aktionsplan von Bund und
Ländern, um homosexuelle Jugendliche zu stärken:
Wir fordern die Regierung auf, endlich den Bundestags-
beschluss von 2005 umzusetzen und eine breit angelegte
bundesweite wissenschaftliche Studie zur Lebenssituation
lesbischer und schwuler Jugendlicher durchzuführen.
Diese Studie muss nicht nur ein fundiertes aktuelles Ge-
samtbild, sondern unter anderem auch Handlungsemp-
fehlungen zur Überwindung homosexuellenfeindlicher
Einstellungen beinhalten. Wenigstens darauf müssten
wir uns doch fraktionsübergreifend verständigen kön-
nen.
Wir fordern das Bundesjugendministerium auf, ein
umfangreiches Paket an Präventionsmaßnahmen zu ent-
wickeln, um die dramatisch hohen Zahlen von Mobbing,
Gewalt und Suizidversuchen homosexueller sowie trans-
sexueller Jugendlicher zu senken und damit ihr Recht
auf Gesundheit und Wohlergehen zu garantieren. Wir
fordern eine stärkere Förderung schwul-lesbischer Ju-
gendarbeit, eine feste Verankerung im Kinder- und Ju-
gendplan des Bundes sowie den systematischen Ausbau
zielgruppengerechter Angebote.
Wir erwarten von der Bundesregierung, dass sie ge-
meinsam mit den Ländern ein Maßnahmenpaket zur
Stärkung lesbischer, schwuler und transsexueller Ju-
gendlicher in Bildungs- und Jugendeinrichtungen auf
den Weg bringt. Dabei muss sie bei den Ländern unter
anderem darauf hinwirken, Schulmaterialien für die
positive Darstellung von Vielfalt der Familien, Partner-
schaften und Lebensweisen zu öffnen.
Daneben sollte das Bundesfamilienministerium ge-
meinsam mit der Bundeszentrale für politische Bildung,
der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung so-
wie schwul-lesbischen Jugend- und Bürgerrechtsverbän-
den weitere Informationsmaterialien für Jugendliche und
Erwachsene initiieren.
Die Jugend- und die Bildungsministerin sollten bei
den Bundesländern dafür eintreten, dass Lehrpläne in
den Schulen um Themen wie die Vielfalt sexueller Iden-
titäten und Lebensweisen, die Geschichte und Men-
schenrechtslage Homosexueller erweitert werden. Da-
rüber hinaus braucht es flächendeckend Handreichungen
für Lehrerinnen und Lehrer mit pädagogisch-didakti-
schen Unterrichtsmaterialien, Aus- und Weiterbildungs-
programme für Lehrkräfte und Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter der Kinder- und Jugendhilfe zu Themen wie
sexuelle Vielfalt – Diversity – und Identität, Coming-out
und Prävention von Homo- und Transphobie.
Auch der nationale Integrationsplan ist um interkultu-
relle Angebote zu den Themen sexuelle Vielfalt und
Selbstbestimmung sowie Homo- und Transphobie zu er-
weitern, um gezielte Angebote für homosexuelle Ju-
gendliche mit Einwanderungsgeschichte und ihre Eltern
zu initiieren. Hilfreich wären zudem ein „Jugendwettbe-
werb gegen Homophobie und für Vielfalt“ und eine bun-
desweite Informations- und Akzeptanzkampagne, um
eine breitere Öffentlichkeit für das Thema zu sensibili-
sieren.
Das alles sind wirksame Maßnahmen, die wir der Re-
gierung und allen Fraktionen vorschlagen und wofür wir
um Ihre Unterstützung werben. Um die Situation homo-
sexueller Jugendlicher zu verbessern und ihnen gleiche
Entfaltungsmöglichkeiten zu eröffnen, braucht es end-
lich beherztes Handeln statt Tabuisierung oder Desinte-
resse!
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 87. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011 9879
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Anlage 6
Neuabdruck der Antwort
des Staatsministers Bernd Neumann auf die Frage des Ab-
geordneten Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/4493, Frage 59):
Mit welcher konkreten Begründung verweigern Bundes-
kanzleramt und Bundesnachrichtendienst, BND, der Journa-
listin G. W. weiter trotz der anderslautenden Entscheidung des
Bundesverwaltungsgerichts die Einsicht in Akten, die beim
BND mit Erkenntnissen zu dem NS-Kriegsverbrecher Adolf
Eichmann vorhanden sind, und welche schützenswerten Inte-
ressen stehen nach Auffassung der Bundesregierung der Ein-
sichtnahme in diese Akten entgegen angesichts der Tatsache,
dass die Vorgänge seit mehr als 50 Jahren abgeschlossen sind
und einen NS-Verbrecher betreffen?
Seit 2009 klagt eine Journalistin auf Einsicht in
Unterlagen des Bundesnachrichtendienstes zu Adolf
Eichmann. In einer Zwischenentscheidung hatte das
Bundesverwaltungsgericht im April 2010 die in einer
ersten Sperrerklärung des Bundeskanzleramtes geltend
gemachten Geheimhaltungsgründe nur für teilweise be-
rechtigt erklärt. Vor allem wurde eine stärkere Zuord-
nung der Einzelgründe für eine Sperrung zu den einzel-
nen Aktenbestandteilen gefordert. Das
Bundesverwaltungsgericht führte aus, dass das Bundes-
kanzleramt aber nicht gehindert sei, im Rahmen seines
Ermessens unter Abwägung zwischen dem historischen
Aufklärungsinteresse und fortbestehenden Geheimhal-
tungsinteressen eine erneute Sperrerklärung abzugeben.
Der Bundesnachrichtendienst und das Bundeskanz-
leramt haben die streitgegenständlichen Unterlagen so-
dann anhand der Entscheidung des Bundesverwaltungs-
gerichts nochmals sorgfältig geprüft.
Das Bundeskanzleramt hat daraufhin im August 2010
eine erneute, nach Aktenteilen differenzierte Sperrerklä-
rung abgegeben. Ein großer Teil der Unterlagen ist so-
gar, was Frau Staatsministerin Böhmer in der Frage-
stunde der vergangenen Woche bereits erläutert hatte,
ungeschwärzt vorgelegt worden. Ein Teil der Akten ist
gemäß den gesetzlich vorgesehenen und vom Bundes-
verwaltungsgericht anerkannten Sperrgründen nicht
– beziehungsweise mit lediglich punktuellen Schwär-
zungen – vorgelegt worden.
Maßgebliche, auch vom Bundesverwaltungsgericht in
seinem angeführten Beschluss grundsätzlich anerkannte
Sperrgründe sind der Schutz noch lebender – wenn viel-
leicht auch betagter – damaliger Informanten, der Schutz
personenbezogener Daten Dritter sowie der Schutz von
Beziehungen zu ausländischen Partnerbehörden, insbe-
sondere Nachrichtendiensten.
Sowohl das Bundeskanzleramt als auch der Bundes-
nachrichtendienst müssen bei ihrer Entscheidung be-
rücksichtigen, dass es neben dem legitimen Interesse an
Klärung historischer Fakten auch Rechte und Interessen
Dritter gibt, die in den Abwägungsprozess – so sehen es
unsere Gesetze vor – einfließen müssen.
87. Sitzung
Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2011
Inhalt:
Redetext
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Anlage 1
Anlage 2
Anlage 3
Anlage 4
Anlage 5
Anlage 6